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German Pages 334 Year 2015
Claudia Graband Klugheit bei Kant
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
Band 185
Claudia Graband
Klugheit bei Kant
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.
ISBN 978-3-11-043779-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042825-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042832-2 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Noémie, für Louise
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Sommersemester 2014 von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaften der LudwigMaximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Veröffentlichung an einigen Stellen vor allem stilistisch leicht überarbeitet, ist inhaltlich jedoch unverändert geblieben. Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater, Prof. Dr. Thomas Buchheim, der die Arbeit über die gesamte Zeit ihres Entstehens überaus engagiert unterstützt hat. Ohne seine konstruktiven Anregungen und steten Ermutigungen wäre sie nicht zustande gekommen. Ebenso danke ich Prof. Dr. Günter Zöller sowie Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl, die sich bereit erklärt haben, die beiden weiteren Gutachten zu verfassen. Bei den Herausgebern des Verlages möchte ich mich für die Aufnahme des Buches in die Reihe der „Kantstudien Ergänzungshefte“ bedanken sowie bei Dr. Gertrud Grünkorn und Johanna Wange für die freundliche Betreuung. Patrick Kain hat mir freundlicherweise den Text seiner Dissertation sowie seine bis dato erschienenen Beiträge zur Verfügung gestellt – danke dafür. Mein persönlicher Dank gilt Jörg Noller für die vielen philosophischen Diskussionen nicht nur über Kant, Isabel Canet für geduldiges Korrekturlesen und Mirela Ivanceanu für ihr außergewöhnliches Coaching. Am meisten habe ich Jean-Pierre Ostertag zu danken, der mir den Freiraum gegeben hat, an diesem Projekt zu arbeiten – ohne seine Geduld und ohne die Zeit und Ruhe, die er mir gelassen hat, indem er zahlreiche Wochenenden und Ferien allein mit den Kindern verbracht hat, hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Merci. Berlin, im August 2015
Inhalt Einleitung
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Klugheit und Geschicklichkeit 13 . Der Wille als Kausalität: Kants Begriff der Praxis 13 14 .. Der Wille als Vermögen, nach Begriffen zu handeln .. Handeln nach allgemeinen Regeln oder Gesetzen 19 . Hypothetische Imperative 25 .. Regeln der Geschicklichkeit 31 34 .. Ratschläge der Klugheit . Praktische Grundsätze, Prinzipien und Maximen in KpV 43 .. Praktische Prinzipien und Grundsätze 44 49 .. Ratschläge der Klugheit und Maximen Theorie der Klugheit? 57 57 . Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft .. Technisch-praktische Sätze als Korollarien zur theoretischen Philosophie 57 67 .. Geschicklichkeit und Disziplin als letzter Zweck der Natur . Privatklugheit und Weltklugheit 71 .. Pragmatisches Wissen – Theorie der Klugheit 72 .. Der systematische Ort der pragmatischen Anthropologie 79 Die . . .. .. .. . .. .. .. ..
85 Idee der Glückseligkeit Ein hedonistischer Glücksbegriff? 85 Die ästhetische Idee des Schönen 93 Innere Zweckmäßigkeit als Vollkommenheit in der Idee der Schönheit 94 Idee und Ideal der Schönheit: ästhetische Vernunftidee vs. 100 ästhetische Normalidee Genie und die Regeln der Kunst 107 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit 111 Die Parallele von Ästhetik und Praxis 112 Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit als ästhetische Normalidee 114 Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit als Vernunftidee 121 Ästhetische Vernunftidee der Glückseligkeit: starke Wertungen im Sinne Taylors 126
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Inhalt
Urteile der Klugheit 131 132 . Wahrnehmungsurteile . Ästhetische Urteile 143 . Empirisch-praktische Urteile der Klugheit 150 .. Der Zustand des Subjekts: Empfindung und Gefühl 151 154 .. Das Verhältnis der Wahrnehmungen untereinander .. Der Bezug auf die Erkenntnisvermögen 155 158 .. Der sprachliche Ausdruck empirisch-praktischer Urteile . Die Bildung praktischer Urteile durch die Kategorien der Freiheit 159 160 .. Gegenstand und Anwendung der Kategorien der Freiheit .. Das „Mannigfaltige der Begehrungen“ 165 .. Praktische Erkenntnis und Typik der praktischen Urteilskraft 166 .. Der Übergang von sinnlich bedingten zu moralisch bestimmten 173 Kategorien Reflexion und Charakter als Denkungsart 180 . Urteilskraft als Reflexion und Talent 180 .. Reflexion: das Verhältnis von bestimmender und reflektierender Urteilskraft 183 .. Klugheit als Verhältnisbestimmung der Erkenntnisvermögen 188 untereinander .. Kants Klugheit und Aristoteles’ phronesis 194 199 . Klugheit und Charakter .. Temperament und Charakter 201 .. Charakter als Denkungsart 208 .. Originalität der Denkungsart 214 .. Klugheit und Verschlagenheit 216 Staatsklugheit und Recht 218 . Recht und Politik 219 .. Die Rolle der Politik im Rechtsstaat 220 .. Der Zusammenhang von Politik und Moral 223 . Politik und Staatsklugheit als „ausübende Rechtslehre“ . Das Prinzip der Publizität 239 Klugheit und Moral 248 . Vollkommene und unvollkommene ethische Pflichten . Klugheit und der Spielraum der Urteilskraft 255 .. Spielraum der unvollkommenen Pflichten 256
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Inhalt
.. .. . . . .. .. .. Schluss Siglen
Spielraum der weiten Pflichten 258 259 Spielraum der vollkommenen Pflichten Kasuistik und kasuistische Fragen 263 Klugheit und das Paradox des Regelfolgens 268 Erlaubnisgesetze und Prinzip der Publizität in der 272 Tugendlehre Erlaubnisgesetze in der Tugendlehre 272 279 Das Prinzip der Publizität Die Typik der praktischen Urteilskraft 283 293 300
Literaturverzeichnis
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Personenverzeichnis
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Sachregister
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Einleitung Klugheit zeichnet sich gegenüber Geschicklichkeit dadurch aus, dass sie nicht nur die Mittel zu einem gegebenen Zweck, sondern diesen selbst bestimmt, zumindest aber mitbestimmt. Das ist bereits die Auffassung der Antike, die in dieser Weise techné und poiesis von der eigentlichen praxis zu unterscheiden wusste (z. B. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch VI, 1039b – 1040b). Um das Handeln des Einzelnen in der unübersichtlichen Welt dessen zu orientieren, was jeweils auch anders sein kann, inmitten kontingenter, im Gegensatz zu nach theoretisch einseh- und erkennbaren Gesetzen bestimmten Umständen, und um das Leben als Ganzes zu einem glücklichen und gelungenen Leben machen zu können, braucht es demnach mehr als nur die Kenntnis lehr- und vermittelbaren Wissens. Das wusste auch Kant, der seine Anthropologie in pragmatischer Rücksicht verfasst und damit letztlich (wenn auch nicht explizit) auf Klugheit hin auslegt, d. h. im Hinblick darauf, was der Mensch aus dem in ihr enthaltenen Wissen für seine eigenen Zwecke nutzbar zu machen imstande sein würde (vgl. Schwaiger 2002, 158 f.). Und dennoch stuft Kant diesen klassischen Begriff in seinen veröffentlichten Schriften beinahe zur Bedeutungslosigkeit herab. Während sein vorkritisches Werk und insbesondere seine Vorlesungen zur Anthropologie mit ihrer Dreiteilung der Praxis Klugheit eine Mittelstellung zwischen Geschicklichkeit und Sittlichkeit zuweisen, geht Kant ab der Grundlegung zu einer Zweiteilung über. Klugheit tritt nach und nach gegenüber Geschicklichkeit und Moral in den Hintergrund. Dies lässt sich unter anderem an der Unterscheidung des kategorischen von den sogenannten hypothetischen Imperativen ablesen: Letztere umfassen Kant zufolge sowohl „Regeln der Geschicklichkeit“ als auch „Rathschläge der Klugheit“. Sie heißen „hypothetisch“, weil sie auf einen (hypothetisch) angenommenen, in der Erfahrung gegebenen Zweck gerichtet sind. Ihre Aufgabe besteht darin, diesen Zweck mit den geeigneten Mitteln zu erreichen, und sie selbst sind durch dieses in der Erfahrung gegebene Objekt bestimmt. Im Unterschied zum kategorischen Imperativ gehören die hypothetischen Imperative damit in den Bereich dessen, was Kant in der Kritik der praktischen Vernunft als die „empirisch bedingte“ bzw. die „empirisch beschränkte“ praktische Vernunft“ nennt (KpV 5:15.24– 26). Bereits hier droht Klugheit den ihr eigenen praktischen Charakter als Zweckbestimmungskompetenz zu verlieren.Wie auch Geschicklichkeit tritt sie als Wahl der richtigen Mittel zu einem in der Erfahrung gegebenen Zweck auf. Denn von der Geschicklichkeit unterscheidet sie sich nunmehr lediglich durch die Art dieses Zwecks, die Glückseligkeit. Und selbst diese Besonderheit gegenüber der Geschicklichkeit hebt Kant spätestens dann auf, wenn er den Unterschied zwi-
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schen der sogenannten „Weltklugheit“ als „Geschicklichkeit eines Menschen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen“ und der „Privatklugheit“ als „Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen“ (GMS 4:416.30 – 34) verwischt: Privatklugheit tritt zugunsten der Weltklugheit in den Hintergrund. Dies zeigt sich auch in der Kritik der Urteilskraft, wo die Zweiteilung des Praktischen dann ihren Höhepunkt erreicht. Dort unterscheidet Kant moralisch-praktische und technisch-praktische Regeln (d. i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Art Geschicklichkeit auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben) […] (KdU 5:172.23 – 25).
Zugleich aber versteht Kant diese technisch-praktischen Regeln als „Corollarien zur theoretischen Philosophie“ (KdU 5:172.23 – 27), insofern sie dazu dienen, Objekte hervorzubringen und dafür auf Bedingungen der Natur und somit auf deren Prinzipien zurückgreifen müssen. Er führt hier die strikte Unterscheidung einer „Gesetzgebung durch Naturbegriffe“, die „durch den Verstand geschieht“ und theoretisch ist und einer solchen „durch den Freiheitsbegriff“, die „von der Vernunft“ geschieht und praktisch ist (KdU 5:174.32– 35) konsequent zu Ende. Die bereits in GMS als eine Form der Geschicklichkeit aufgefassten Regeln der Klugheit werden nunmehr gänzlich aus dem eigentlichen Bereich des Praktischen, der Willensbestimmung durch Prinzipien, verbannt, welche ausschließlich der reinen praktischen Vernunft vorbehalten bleibt. Sind aber Geschicklichkeit und Klugheit als eine Unterform derselben aus dem Reich des Moralisch-Praktischen ausgeschlossen, so müssen sie aufgrund der strikten Dichotomie zwischen Natur und Freiheit dem Reich der Natur zugeschlagen werden. Zuständig für dieses ist der Verstand bzw. die theoretische Vernunft. Die Koppelung des Moralgesetzes als einzigem Ausdruck der praktischen Vernunft als praktischer Vernunft und die damit verbundene Ausgliederung dessen, was bis dahin noch als rechtmäßiger Teil der menschlichen Praxis gelten durfte, führt gleich mehrere Schwierigkeiten mit sich, die sich allesamt auf den Begriff der Klugheit auswirken: Zum einen lässt ein so verstandener Begriff des Praktischen keinen Spielraum mehr für solche Handlungen, die gerade nicht als durch das Moralgesetz gewirkt, aber dennoch als Handlungen verstanden werden sollen. Der ganze Bereich des Empirisch-Praktischen, auf den sich die KpV noch explizit bezieht, wird spätestens mit KdU in die theoretische Vernunft verschoben und verliert damit seinen eigentlich praktischen Wesenszug.Wir können daher mit Brandt konstatieren, dass die Klugheit „in der Zweiweltenlehre heimatlos“ werden muss, denn sie zählt
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als solche erstens nicht zur Moral und bleibt also aus der noumenalen Freiheit ausgeschlossen, und sie kann zweitens auch nicht zur Sinnenwelt gehören, denn diese unterliegt der formalen Struktur der Zeit (Brandt 2005, 127; ähnlich Aubenque 2007, 201– 205).
Kluge Handlungen, insofern sie auf Erfahrung beruhen und damit empirisch bedingt sind, werden nicht mehr als solche verständlich, da sie einerseits nicht durch Freiheit gewirkt sind, andererseits aber als mechanische Wirkungen aufgrund von Naturbedingungen nicht mehr als menschliche Handlungen aufgefasst werden können. Wer einen Weg aus diesem oben beschriebenen Dilemma aufzeigen will, muss nachweisen, dass sich Klugheit bei Kant zwischen beiden Welten bewegt, insbesondere aber vor dem Hintergrund einer konsequent auf Moral aufbauenden Freiheitslehre, inwiefern sie sich in das Reich der Sinnenwelt einzufügen vermag. Ein weiteres Problem, das sich aus diesen „weitreichenden Verschiebungen im Begriff des Praktischen“ (Schwaiger 1999, 174) ergibt, bezieht sich auf den Begriff des Zwecks selbst und die Bestimmung des Willens durch Zwecke. Entsprechend dem gerade explizierten Zusammenhang erfolgt Zweckbestimmung entweder aus Freiheit und damit moralisch durch den Menschen, oder aber sie wird durch die Natur vorgegeben und damit gerade nicht durch den Menschen bestimmt. Damit aber wird nicht mehr verständlich, inwiefern überhaupt vom Zweck der Glückseligkeit gesprochen werden kann. Denn ein Zweck ist auch laut Kant gerade dasjenige,was der Mensch sich selbst zu einem solchen macht, indem er ihn in die Bestimmung seines Willens aufnimmt (vgl. MdS 6:381.6 – 9). In welchem Sinne also kann überhaupt von einer empirisch bedingten Bestimmung des Willens durch den naturgegebenen Zweck der Glückseligkeit gesprochen werden? Schließlich stellt sich vor diesem Hintergrund der Aufteilung von theoretischer und praktischer Vernunft, von technisch-praktischen und moralisch-praktischen Fähigkeiten die Frage, welche Rolle der Vernunft selbst im Rahmen der empirisch bedingten Handlungen und damit auch bei der Bestimmung der Klugheit zukommt. Wenn Kant schreibt, „die Beurtheilung des Verhältnisses von Mitteln zu Zwecken gehört allerdings zur Vernunft“ (KpV 5:58.34 f.), so scheint damit auf den ersten Blick eine lediglich administrierende Tätigkeit gemeint zu sein. Vernunft tritt hier zunächst in einem „regulativen Gebrauch“ auf, der die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dien[t], wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die G l ü c k s e l i g k e i t , und die Zusammenstimmung der Mittel, um dazu zu gelangen […] (KrV A 800/B 828).
Die Tätigkeit einer empirisch bedingten praktischen Vernunft beschränkt sich damit auf die technisch-praktische Auffindung und Harmonisierung von Mitteln zum
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Zweck der Glückseligkeit, welcher selbst „von den Sinnen empfohlen[ ]“ wird (KrV A 800/B 828). In welchem Sinn kann überhaupt von empirisch-praktischer Vernunft gesprochen werden, wenn empirisch-praktische Vernunft als nichts anderes als ein um die technische Perspektive erweiterter Verstandesgebrauch zu sein ist? Kants systematische Zurückdrängung lässt sich indes nachvollziehen, wenn man sie innerhalb des philosophiegeschichtlichen Rahmens liest, in welchem sie entstanden ist. So nimmt für den Empiristen Hume, gegen den Kant sich bekanntermaßen und nicht nur in seinen praktischen Schriften explizit wendet (vgl. KpV 5:13.6 ff.), die Vernunft im Rahmen des menschlichen Handelns eben diese administrierende Rolle ein. Für Hume ist die Vernunft das Vermögen der Erkenntnis, jedoch nur der Erkenntnis wirklicher Gegenstände oder Tatsachen. Gefühle, Neigungen und Affekte hingegen können nicht Gegenstand einer solchen „Erkenntnis von Wahrheit oder Irrtum“ sein. Daher hat Vernunft auch keinen Einfluss auf sie. Ihre Aufgabe beschränkt sich darauf, Gefühle, Neigungen oder Affekte lediglich im Hinblick auf „ihre Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung entweder mit den wirklichen Beziehungen der Vorstellungen oder mit dem wirklichen Dasein und den Tatsachen“ zu beurteilen (Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III, 534). Der Beitrag der Vernunft zur Erkenntnis von Sittlichkeit oder Unsittlichkeit kann daher nur von zweierlei Art sein: Entweder sie [die Vernunft, C.G.] ruft einen Affekt ins Dasein, indem sie uns über die Existenz eines seiner Natur entsprechenden Gegenstandes belehrt; oder sie zeigt uns die Mittel, irgendeinen Affekt zu betätigen, indem sie den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen aufdeckt. Dies sind die einzigen Arten von Urteilen, die unsere Handlungen begleiten können, und von denen man in gewissem Sinne sagen kann, dass sie dieselben erzeugen (Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III, 535).
In Kantischer Terminologie ausgedrückt: Vernunft administriert die Neigungen und zeigt geeignete Mittel auf, diese zu befriedigen. Für Hume kann der Ursprung von Sittlichkeit und Unsittlichkeit daher nur im Gefühl, nicht aber in der Vernunft liegen. Sittlichkeit und Unsittlichkeit lassen sich Hume zufolge nur aufgrund eines besonderen (moralischen) Gefühls erkennen, welches mit einer besonderen Art von Lust oder Unlust einhergeht. Die Besonderheit dieses Gefühls besteht darin, dass „[u]nsere innere Zustimmung […] jedesmal in der unmittelbaren Lust, die sie uns gewähren, eingeschlossen [ist].“ (Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch III, 549) Es stimmt darin mit den „Urteilen über alle Arten der Schönheit, über die Annehmlichkeit der Geschmäcke und sonstigen Empfindungen“ überein (Hume, Traktat, 549). Als Kriterium für das auf diese Art erkannte Sittliche und Unsittliche dient Hume das Nützliche, das er auch als den „öffentlichen Nutzen“ oder auch „die wahren Interessen der Menschheit“ bezeichnet (Hume, Prinzipien der Moral, 98 f.).
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Will Kant in Abgrenzung dazu eine ausschließlich auf die reine Vernunft zurückgehende Moralphilosophie begründen, so muss er alle empirischen Elemente aus dieser fernhalten. Daher ist es das erklärte Ziel der KpV zu zeigen, „daß reine Vernunft praktisch sein könne“ sowie, „daß sie allein und nicht die empirisch-beschränkte unbedingterweise praktisch ist“ (KpV 5:15.24– 26). Sie hat „die Obliegenheit, die empirisch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhalten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund allein abgeben zu wollen.“ (KpV 5:16.4– 6) Der Begriff der Klugheit mit ihrer Bestimmung empirisch bedingter Zwecke im Rahmen der Glückseligkeitslehre kann da, so wird bereits an dieser Stelle ersichtlich, nur stören. Denn er bezieht sich auf eben das, was Kant durch reine praktische Vernunft eingeschränkt haben möchte: die Bestimmung des Willens durch empirisch bedingte, aber dennoch auf Vernunft basierende Prinzipien. Würde Kant eine über die „Administration der Neigungen“ hinausgehende Vernunfttätigkeit bei der Konstitution von Handlungen zulassen, die es ermöglichen würde, auch empirisch bedingtes Handeln vernünftig zu steuern, so würde er seinem Widersacher Hume das Wort reden. Er würde seine eigene Gegenkonzeption einer reinen praktischen Vernunft als allein gesetzgebender und damit Normen begründender Instanz schwächen. Diese aber stellt sein Instrument par excellence dar, um den Empirismus zu entwaffnen und eine rationalistische Begründung sittlicher Normen zu rechtfertigen. In dieser seiner Abkehr vom Empirismus Humescher Prägung schießt Kant dann gewissermaßen ein wenig über das Ziel hinaus, indem er die empirisch bedingte praktische Vernunft nicht nur, wie angekündigt, in ihre Schranken verweist und abwertet, sondern ihr sogar zunächst und scheinbar jeglichen Vernunftcharakter abspricht. Die vorliegende Untersuchung nimmt ihren Ausgang von dieser unbefriedigenden Sachlage. Sie versucht aufzuzeigen, dass und inwiefern Kant seinen eigenen systematischen Rahmen zu sprengen droht, indem er die hier einleitend zunächst nur skizzenhaft dargestellten Verschiebungen vornimmt. Sie unternimmt den Versuch einer systematischen Rekonstruktion und damit auch der Verortung des Begriffs der Klugheit innerhalb eben dieses Systems. Es soll der Nachweis erbracht werden, dass es auch unter den Prämissen einer unbedingt gebietenden praktischen Vernunft nicht unmöglich ist, zwischen dem geschickten Auffinden von Mitteln zu beliebigen Zwecken und der moralischen Bestimmung ebensolcher, einen Raum zu öffnen, in welchem Klugheit den Willen auf der Grundlage von Gefühl und dennoch nach Maßgabe der Vernunft zu bestimmen vermag. Dies kann geschehen, indem der assertorische Zweck, auf den sich Klugheit richtet – die Glückseligkeit – noch einmal neu in den Blick genommen wird. Denn Kant verfügt grundsätzlich über ein doppeltes Verständnis der Glückseligkeit: Auf
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der einen Seite (und zumeist) versteht er sie als die „Summe aller Neigungen“ (KdU 5:442.30) bzw. die „Summe der Befriedigung aller [Neigungen]“ (GMS 4:399.12). Glückseligkeit ist damit von vornherein auf das Gefühl der Lust und Unlust, auf angenehme und unangenehme Empfindungen bezogen. Und eine Klugheit, die lediglich darauf aus ist, angenehme Zustände herbeizuführen, ist tatsächlich nicht viel mehr als eine besondere Art der Geschicklichkeit, selbst wenn diese als Geschicklichkeit im Umgang mit anderen Menschen um diesen interpersonalen Aspekt erweitert wird. Auf der anderen Seite aber, und diesen Aspekt gilt es systematisch herauszuarbeiten und zu entfalten, ist Glückseligkeit auch für Kant mehr als nur ein „beliebiger“ vorgegebener Zweck. Vielmehr muss sie zugleich als zutiefst unbestimmt verstanden werden. Im Gegensatz zu allen möglichen, mit theoretisch begründbaren Mitteln herbeiführbaren Zwecken ist Glückseligkeit grundsätzlich nicht angebbar, da niemand mit Bestimmtheit „und mit sich selbst einstimmig sagen“ kann, „was er eigentlich wünsche und wolle […].“ (GMS 4:418.4) Damit aber ist sie als Zweck weniger ein klar umrissener Begriff, als vielmehr eine „Idee“, in der sich „alle Neigungen zu einer Summe vereinigen.“ (GMS 4:399.8 – 10) Und da sich der Mensch „von der Summe der Befriedigung aller [Neigungen, C.G.] keinen bestimmten Begriff machen“ kann (GMS 4:399.12 f.), nennt Kant sie auch eine „schwankende Idee“ (GMS 4:399.16). Mit dem Begriff einer Idee, welche zugleich unbestimmt bleiben muss, sind wir jedoch an die ästhetische Idee der Schönheit verwiesen, welche Kant ebenso als unbestimmt vorstellt, insofern das in ihr Ausgedrückte grundsätzlich „unnennbar“ bleiben muss (vgl. z. B. KdU 5:430.19 – 23 und 5:430.33 – 36). Kann aber der Bogen geschlagen werden zur Ästhetik, so sind wir mit der auf Glückseligkeit abzielenden Klugheit auf das für das Gefühl (der Lust und Unlust) zuständige Vermögen der Urteilskraft verwiesen. Im hier thematisierten Zusammenhang der empirisch durch das Gefühl zumindest mitbestimmten Handlungen und Vernunft wird sich Urteilskraft mit ihrer Reflexion auf das Verhältnis der Gemütsvermögen als diejenige Kompetenz erweisen, die es erlaubt, auch im Rahmen des kantischen kritischen Systems eine Klugheit zu denken, welche nicht nur auf die Mittel, sondern auch und zuallererst auf die Bestimmung von Zwecken bezogen ist. Erst vor dem Hintergrund dieser Rekonstruktion des Begriffs der Klugheit aus ihrem ästhetischen Zusammenhang heraus wird dann auch die Rolle der so ebenfalls neu bestimmbaren empirisch-praktischen Vernunft verständlich. Für die damit einhergehenden Lösungsvorschläge ist dabei allerdings eine wesentliche methodische Einschränkung vorzunehmen: Soll unter den skizzierten Bedingungen ein Verständnis von so etwas wie vernünftigem empirisch bedingtem Handeln und damit auch von Klugheit entwickelt werden, so muss von der Frage nach der Freiheit abgesehen werden. Denn eine Abhandlung über Klugheit
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bei Kant, die sich dieser Frage verschreiben wollte, wäre keine Abhandlung über Klugheit, sondern über das Problem der Freiheit und drohte, sich in den Aporien der Kantischen Freiheitslehre zu verlieren (vgl. Brandt 2005, 131). Empirisch bestimmte Handlungen werden sich zwar im Rahmen dieser Untersuchung durchaus als Handlungen erweisen lassen. Es wird dabei jedoch explizit nicht um die Frage gehen können, ob und gegebenenfalls in welchem Maße sie dann auch als frei anzusehen sind – eine Antwort auf diese schwierige Frage kann lediglich an manchen Stellen gestreift werden. Eine weitere methodische Einschränkung dieser Arbeit besteht in der Fokussierung auf Kants veröffentlichtes Werk der kritischen Periode. Aus meiner Sicht liegt hierin der besondere Reiz einer Rekonstruktion der Klugheit, denn wie von Schwaiger detailliert aufzeigt, verfügte Kant vor Veröffentlichung der GMS über einen dreiteiligen Praxisbegriff, in dem Klugheit eine wesentliche Rolle einnimmt. Die Schwierigkeiten im Begriff der Klugheit ergeben sich erst mit Ausarbeitung seiner kritischen Moralphilosophie (vgl. Schwaiger 1999). Reflexionen und Vorlesungsnachschriften, die erste Einleitung zur KdU, sowie die von Jäsche herausgegebene Mitschrift der Logik und die Pädagogik werden daher nur vereinzelt und zur Erläuterung und Untermauerung der aus dem veröffentlichten Werk heraus erarbeiteten Thesen herangezogen. Angesichts der von Kant selbst in den Vordergrund gerückten latenten Bedeutungslosigkeit der Klugheit ist es nicht verwunderlich, dass dieser Begriff bislang nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erhalten hat. Der Kantforschung darf mit Recht eine gewisse „Klugheitsvergessenheit“ (Schwaiger 2002, 148) attestiert werden, die seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zum Trotz bis heute nachwirkt. Die bis dato vorliegende Forschungsliteratur bleibt nach wie vor überschaubar und widmet sich lediglich einzelnen Aspekten der Klugheit, eine umfassende Monographie zum Thema steht bislang aus. Die bereits erwähnte Habilitationsschrift von Schwaiger stellt meines Wissens die ausführlichste Untersuchung des Themenkomplexes dar. Sie zeichnet die Entwicklung der Trias Geschicklichkeit, Klugheit, Weisheit/Sittlichkeit bis 1785 anhand der zu dem Zeitpunkt gerade edierten Vorlesungsnachschriften nach (vgl. Schwaiger 1999). Ferner steht ein Teil der Untersuchungen, die sich Kants Begriff der Klugheit widmen, im Kontext aktueller Debatten zur Klugheit. In diesem Rahmen wird Kant, als einer der prominentesten Vertreter der Philosophie der Neuzeit, zumeist als Beispiel für deren auf Geschicklichkeit reduzierten Klugheitsbegriff herangezogen. Kersting 2005, Scherzberg et al. 2008, Fidora et al. 2013, Hariman 2003 sowie Luckner 2005a und 2005b sowie Den Uyl 1991 gehören zu diesen Interpreten. Sie betonen, Klugheit in der Neuzeit löse sich, im Unterschied zur antiken und mittelalterlichen Klugheit, die das Wissen um das gute Leben mit dessen
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Ausdruck im Handeln zu verbinden wusste, vom Bewusstsein eines nach ethischmoralischen Maßstäben zu führenden und daher auch an diesen orientierten Lebens. Als richtungweisend werden beispielhaft Machiavelli und Hobbes angeführt, von denen der Erste für eine von moralischen Betrachtungen und Voraussetzungen abgetrennte politische, der Zweite für eine am Standard der nutzenorientierten, instrumentellen Rationalität orientierte Klugheit eintritt. Beiden Konzeptionen gemeinsam ist die Privatisierung der menschlichen Interessen sowie die damit verbundene Reduktion der Klugheit auf eine diesen Interessen dienende Geschicklichkeit. Damit aber, so die Einschätzung der Autoren, ginge der Klugheit ihr wichtigstes Element verloren oder verschiebe sich doch zumindest signifikant: der Maßstab, an dem sich eine Orientierung im Handeln auszurichten habe. Mit der Neuzeit sei der Klugheit „die Dimension der Lebensführung auch unter moralischen Gesichtspunkten“ abhanden gekommen (Luckner 2005b, 250). In Anlehnung an Höffes Ausdruck der „Depotenzierung der Urteilskraft“ (Höffe 1990, 541 und 2001, 63) kann von einer sich bis in die zeitgenössischen Tendenzen der Rationalisierung allen Handelns fortsetzenden Depotenzierung der Klugheit gesprochen werden. Auf den ersten Blick mögen diese Einschätzungen des neuzeitlichen Klugheitsbegriffs die oben skizzierte Auffassung der Kantischen Klugheit bestätigen. Wie vor ihm Machiavelli und Hobbes scheint Kant den Gedanken der privaten Interessenvertretung und Nutzenmaximierung aufzunehmen und ihn von einer unabhängig davon aus rein moralischen Motiven praktisch werdenden Vernunft abzusetzen. Den Uyl zieht daher den Schluss: „It was Kant who dealt the virtue of prudence its death blow. And it is a blow from which prudence has never recovered.“ (Den Uyl 1991, 143) Auch Kants Begriff der Glückseligkeit, zunächst konzipiert als“ summatives Glücksverständnis“ (Luckner 2008, 11, vgl. Luckner 2005a, 34 und 54– 58 sowie Luckner 2005b, 249) und als solches in strikter Opposition zur Moral stehend, scheint dem Vorschub zu leisten: So verstanden ist Klugheit nichts anderes als das „Prinzip des Egoismus“ (Luckner 1999, 329). Indem er Klugheit mit Eigeninteresse identifiziere, trenne Kant Klugheit und Ethik vollständig voneinander (vgl. Luckner 1999, 150). Und Kersting folgert: „Die autonomiestolze Vernunft des Moralgesetzes inferiorisiert die Klugheit, erblickt in ihr nur die verächtliche Interessenverwalterin eines heteronomen Lebens.“ (Kersting 2005, 10) Brandt sieht als Alternative zu einer der Sinnenwelt zugeschlagenen Klugheit lediglich ihre Rolle als ausführendes „Organ der Moral“ (Brandt 2005, 130), dem jedoch keine eigene praktische Rolle zukommt. Dieser recht verbreiteten Auffassung einer durch Kant auf Geschicklichkeit reduzierten oder aber der Moral anhängenden Klugheit wird bisweilen unter Rückgriff auf Kants Konzept einer Idee der Glückseligkeit zu begegnen versucht.
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So ist Kain zufolge dem Menschen wohl das Streben nach Glückseligkeit in die Wiege gelegt, nicht aber auch die Bestimmung dessen, was genau darunter zu verstehen sei. Indem nun Vernunft all die natürlichen Bestrebungen harmonisiere und systematisiere, bestimme sie zugleich den Inhalt der Glückseligkeit. In diesem Sinne sei dann auch der von der Natur aufgegebene Zweck vom Menschen mithilfe seiner Vernunft gemacht und könne widerspruchsfrei als Zweck verstanden werden (vgl. Kain 2001, bes. 244– 246). Jedoch ist damit noch nicht angegeben, wie diese Zwecke harmonisiert und systematisch zusammen gebracht und damit überhaupt erst als durch Vernunft bestimmte Zwecke verstanden werden können im Unterschied zu bloß gegebenen, natürlich-sinnlichen Neigungen. Es bleibt die Frage zu beantworten: Mithilfe welcher „begrifflichen Instrumente“ (Brandt 2005, 127) harmonisiert und systematisiert Vernunft empirische Zwecke? Kain verweist zu Recht auf die dafür notwendige Tätigkeit der Einbildungskraft, denn Kant selbst stellt fest: Glückseligkeit ist „nicht ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft“ (GMS 4:418.36; vgl. Kain 1999, 83 – 87). Dem an Kant ergehenden Vorwurf eines „psychologischen Hedonismus“ (Reath 2006, 33) kann demnach nur dann begegnet werden, wenn Glückseligkeit nicht als bereits feststehender Zustand eines angenehmen Lebens, sondern als selbst gestalteter Prozess aufgefasst wird. Es ist zu zeigen, ob und wenn ja, inwiefern Kant dies als eine Tätigkeit der Vernunft im Sinn gehabt haben könnte (vgl. Reath 2006 und Flikschuh 2002 sowie Höwing 2013a). Auch Fischer greift diesen interpretativen Ansatz eines durch den Menschen selbst gestalteten, weil grundsätzlich unbestimmten Glücksbegriffs auf. Ähnlich wie Kain stellt er die Glückseligkeit bei Kant nicht nur als unbestimmten Begriff, sondern sogar als ästhetische Idee und damit als ein Produkt von Einbildungskraft und Verstand dar (vgl. Fischer 2003, 57 ff.). Gewonnen ist damit die Einbettung der Glückseligkeit in denjenigen Zusammenhang, aus dem sie Kant zufolge entsteht: ins Gefühl und damit in die Natur. Zu erklären bleibt der Übergang von einer im Gefühl durch Mitwirken der Einbildungskraft gebildeten und daher ästhetischen Idee zum Handeln und das heißt: zur Bestimmung des Willens. Im Zusammenhang mit den hypothetischen Imperativen lässt sich dieser Übergang darstellen im Sinne der Befolgung einer vernünftig gegebenen Regel. Jedoch ist entgegen einem ersten Anschein gar nicht so eindeutig, um welche Regeln es sich handeln könnte. Sind es diejenigen Vorstellungen von Zweck-MittelVerhältnissen, die durch theoretische Vernunft eingesehen werden können? Dann hätten Regeln der Klugheit und Regeln der Geschicklichkeit den gleichen Status. Oder sind es, wie Fischer vorschlägt, Überlegungen über die Wahrscheinlichkeit, mit der ein vorgestellter Gegenstand das Subjekt entsprechend seiner entworfenen Idee glücklich macht? Das Kriterium für Klugheit läge damit in einer Abschätzung über die kausale Wirkung eines Gegenstandes, der zuvor als Element der Glück-
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seligkeit identifiziert wurde, auf den eigenen Zustand, das eigene Gefühl. Auch hier bestünde Klugheit letztlich in der Vorwegnahme theoretisch einseh-, mindestens abschätzbarer Kausalverhältnisse, entweder zwischen den Gegenständen untereinander oder zwischen den Gegenständen und dem Gefühl.Wie aber lassen sich solche Zustandsveränderungen als mitteilbar vorstellen? Denn letztlich, so wird sich zeigen, kommen wir damit nicht über das hinaus,was Kant als subjektive Wahrnehmungsurteile beschreibt. Neben diesen sich explizit auf den Begriff der Klugheit beziehenden Autoren sind auch diejenigen zu nennen, die sich nicht damit zufrieden geben mögen, dass empirisch-praktische Vernunft in Gänze ins Reich der mechanischen Naturbetrachtung verbannt sein soll. Im Gegensatz zu Interpreten wie Timmermann (2006) oder Bojanowski (2006), welche die Bestimmung von Zwecken überhaupt auf eine Tätigkeit der reinen praktischen Vernunft und damit auf moralische Zwecke begrenzt sehen, sind insbesondere im angelsächsischen Raum zahlreiche Entwürfe zu einem Verständnis des Zusammenhangs von Gefühl, in Form von Neigungen, und Vernunft entstanden (vgl. z. B. Grenberg 2001). Sie verfolgen das Ziel, empirisch-praktische Vernunft gegenüber der reinen praktischen Vernunft zu rechtfertigen. So spricht beispielsweise Allison der empirisch bedingten Vernunft als instrumenteller Vernünftigkeit („rationality“) ein eigenes Gebiet und eine eigene Logik unabhängig von moralischen Betrachtungen zu (vgl. Allison 1990, 114; vgl. 126 und 135). Die Bestimmung des Willens durch nicht-moralische Gründe wird damit als dennoch auf Vernunft basierend gedacht (vgl. zur praktischen Vernunft allgemein auch Willaschek 1992). Und auch die Ansätze von Flikschuh 2002, Herman 1993, Johnson 2002, Korsgaard 1996 oder O’Neill 1989 – um nur einige zu nennen – nehmen sich der Verteidigung der empirisch-praktischen Tätigkeit der Vernunft an. Ist mit diesen Arbeiten zweifelsohne ein vielversprechender Weg zu einer „Rehabilitierung“ von Kants Begriff einer empirisch-praktischen Vernunft im Allgemeinen und von der Klugheit im Besonderen beschritten, so scheinen die vorgestellten Lösungsansätze insbesondere in Bezug auf die Klugheit dennoch nicht befriedigend. Bei näherer Betrachtung, so wird die Untersuchung zeigen, kommt das Element der Vernunft, das eine empirische Zweckbestimmung zulässt, nur schwer in den Blick. Zu sehr ist Kant bemüht, im Interesse einer reinen praktischen Vernunft diese ihre empirisch-praktische Tätigkeit einzuschränken. Wollen wir in Kants Begriff der Klugheit eine Alternative zum neuzeitlichen Verständnis einer bloß instrumentellen Rationalität finden, die über eine kluge Voraussicht auf mögliche zukünftige angenehme Zustände (und damit eine besondere Art von Geschicklichkeit) hinausreicht, so muss der Blick statt auf die Wahl zwischen bestehenden Möglichkeiten des Handelns im Rekurs auf im Gefühl liegende Gründe auf die aktive Herausbildung von Entscheidungskriterien durch
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das Subjekt selbst gelenkt werden. Dies im Rahmen einer detaillierten Analyse des Klugheitsbegriffs bei Kant zu leisten, ist wesentliches Ziel dieser Arbeit. Die Untersuchung gliedert sich in sieben Kapitel. Die ersten beiden Kapitel haben die Entwicklung derjenigen Problematik zum Gegenstand, aufgrund welcher es Kant so schwer fällt, Klugheit als eine den Willen durch empirisch bedingte Zwecke bestimmende Fähigkeit zu fassen. Ich beginne mit einer Rekapitulation des kantischen Verständnisses der Willensbestimmung nach Prinzipien. Anhand einer genauen Aufschlüsselung derjenigen Regeln und Prinzipien, die für Kant sowohl in GMS als auch in KpV das (empirisch bedingte) Handeln bestimmen, lassen sich die Regeln (Ratschläge) der Klugheit als diejenigen subjektiven Prinzipien (Maximen) identifizieren, nach denen ein jedes Subjekt, so es denn im eigentlich praktischen Sinne handelt, immer schon seinen Willen bestimmt (Kapitel 1). Anschließend erläutere ich das zur Herausbildung von Regeln der Klugheit gehörende Wissen als ein pragmatisch angelegtes und daher grundsätzlich sich von jeder anderen Theorie unterscheidendes Wissen, welches Kant dem theoretischen Bereich der Philosophie zuordnet und lege die damit verbundene Schwierigkeit einer systematischen Verortung der Klugheit dar (Kapitel 2). Vor dem Hintergrund dieser Problemlage erfolgt zunächst die Rekonstruktion der Glückseligkeit als ästhetische Idee, welche zur Herausbildung von Regeln der Klugheit benötigt wird. Dies geschieht in Analogie zur ästhetischen Idee des Schönen als Produkt von Einbildungskraft und Verstand. Die Rekonstruktion wird zeigen, dass mit dieser ästhetischen Idee der Glückseligkeit (anders als Fischer (2003) dies annimmt) zugleich über die bloße Akkumulation von Empfindungen und somit über ein rein hedonistisches („summatives“) Glücksverständnis hinausgegangen werden kann (Kapitel 3). Sodann soll der Versuch unternommen werden, diesen regelbildenden Prozess in das Herzstück der praktischen Vernunft, die Urteils- und Kategorienlehre, einzuordnen. Die bislang nur anhand einer Analogie erfolgte Rekonstruktion der Glückseligkeit und damit auch der Bildung von Regeln der Klugheit soll sich als gültig erweisen, indem sie in den systematischen Rahmen der kantischen praktischen Philosophie eingefügt wird. Damit wird dann auch ihr systematischer Stellenwert deutlich. Es wird sich zeigen, dass Glückseligkeit als eine nicht nur auf das Gefühl der Lust und Unlust bezogene, sondern zugleich mit „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ (KrV A 868/B 840) abgeglichene Idee durch Anwendung der Kategorien der Freiheit zu Prinzipien und durch Anwendung der Typik der praktischen Urteilskraft zu einer praktischen Erkenntnis bzw. Beurteilung führen kann (Kapitel 4). Damit zeigt sich dann auch die Bedeutung der Urteilskraft für die Klugheit: Auch bei Kant ist Klugheit im Wesentlichen praktische Urteilskraft (Kapitel 5.1).
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Dabei kommt es jedoch ganz wesentlich auf den Bezugspunkt ihrer Reflexion an. Wir werden ihn finden in Kants Verständnis vom Charakter als Denkungsart, genauer: als erweiterte, an der Perspektive des anderen ausgerichtete Denkungsart, welche in unmittelbarer Verbindung zur kategorialen Herausbildung der willensbestimmenden Regeln (auch der Klugheit) in Form einer Willensgesinnung steht (Kapitel 5.2). Damit ist die Rekonstruktion des Begriffs der Klugheit in seiner aus dem Gefühl entspringenden, aber dennoch sich als mitteilbar erweisenden regelgenerierenden Funktion abgeschlossen. Die beiden letzten Kapitel ziehen auf dieser Grundlage die notwendigen Schlüsse für das Verhältnis der Klugheit zum Recht (Kapitel 6) und zur Moral (Kapitel 7). In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Kapitel 1 bis 5 lässt sich Klugheit als konkrete, an der Erfahrung ausgerichtete Ausübung derjenigen Prinzipien darstellen, die durch die Lehre von Recht und Moral vorausgesetzt werden, wobei der Bezug auf diejenigen „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“ entscheidend ist, die Kant bereits in KrV als Teil der ganzen Bestimmung des Menschen angibt (KrV A 868/B 840). Die vorliegende Untersuchung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kants Werk eine „mehr entworfene als ausgeführte Klugheitslehre“ (Hinske 1989, 144) enthält. Dennoch soll sie dazu beitragen, diesen Entwurf ein Stück weit zu konkretisieren und die Modalitäten ihrer Ausführbarkeit darzulegen, indem der Blick auf einige nicht nur inhaltliche, sondern auch strukturelle Merkmale der Klugheit gerichtet wird. Die Grundkonstante der praktischen Philosophie Kants insgesamt, derzufolge er in Abwehr des Empirismus alle empirischen Elemente aus der praktischen Philosophie zu entfernen sucht, scheint dabei in jedem Kapitel in je eigener Weise auf. Sie bringt die Spannung zwischen einem in der Tradition verankerten Verständnis von Klugheit und dem auf von allem Empirischen abstrahierenden System der kantischen Vernunftkritik zum Ausdruck. Insbesondere anhand der Analyse der drei Urteilsformen – theoretisch, ästhetisch, praktisch – und den ihnen entgegenstehenden empirischen Versionen (vgl. Kapitel 4.1 und 4.2) wird deutlich, in welches Spannungsfeld – um nicht zu sagen: in welche Widersprüche – Kants Begriff der Praxis gerät, indem er konsequent das rein Vernünftige vom Empirisch-Bestimmenden abtrennt.Wo nur objektive Erkenntnis zählt, sei es theoretische oder praktische, respektive reine Urteile, denen weder Reiz noch Rührung noch ein intellektueller Begriff beigemischt werden dürfen, da bleibt kein (systematischer) Platz für all das, was das alltägliche Handeln jeweils bestimmt: für die Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Orientierungslosigkeiten, die das Leben prägen, und denen, so weiß auch Kant, allein mit Moral nicht beizukommen ist.
1 Klugheit und Geschicklichkeit Das Feld der menschlichen Praxis stellt sich für Kant nicht nur als der Bereich menschlichen Handelns, sondern auch und in erster Linie als Ausdruck der Willensbestimmung dar. Soll der Begriff der Klugheit innerhalb dieser Praxis verortet werden, so muss zwischen zwei Arten der Willensbestimmung unterschieden werden (1.1): Zum einen kann der Wille selbst kausal wirksam werden und anhand der eigenen Handlungen Dinge in der Sinnenwelt verändern. Er bestimmt sich damit selbst zum Handeln. Und zum anderen kann die Bestimmung des Willens sich auf dasjenige richten, wodurch er zum Handeln bestimmt wird. Diese Differenzierung erweist sich als entscheidend, wenn es darum geht, Regeln der Klugheit von Regeln der Geschicklichkeit im Rahmen der hypothetischen Imperative zu trennen (1.2). Es gilt die Frage zu beantworten: Bestimmt Klugheit nur Mittel oder auch Zwecke? Wir werden sehen, dass Kant die Rede von den Imperativen ab KpV weitgehend fallenlässt. Hier unterscheidet er nur noch zwischen zwei Prinzipien: dem der (eigenen) Glückseligkeit und dem der Sittlichkeit, sowie in KdU zwischen technisch-praktischen und moralisch-praktischen Sätzen (vgl. Kapitel 2). Einmal die Prinzipien der Willensbestimmung untersucht, wird abschließend das Verhältnis der in diesem Zusammenhang relevanten subjektiven Prinzipien, die auch den objektiven der Sittlichkeit zugrunde liegen, und den Ratschlägen der Klugheit beleuchtet, insofern beide zunächst auf Glückseligkeit und damit auf die Orientierung in der Erfahrung ausgerichtet sind (1.3).
1.1 Der Wille als Kausalität: Kants Begriff der Praxis Während Kant den Begriff „Handlung“ in einem recht allgemeinen Sinn gebraucht, der das „Verhältnis von Ursache und Wirkung“ überhaupt betrifft,¹ zeichnet sich das Handeln, das auf ein Begehrungsvermögen zurückzuführen ist, dadurch aus, dass es auf Vorstellungen bezogen ist und somit selbst und bewusst wirkt, anstatt blinden Trieben, Impulsen oder dem Instinkt folgen zu müssen. In diesem Sinne ist der Wille ein arbitrium liberum. ² Der Mensch kann damit absichtlich Ziele und Zwecke verfolgen, die er selbst wählt, d. h. bestimmt. Es ist
Siehe dazu Gerhardt 1986. Er zeigt, dass Kant das Wort „Handlung“ in eben jenem allgemeinen Sinn verwendet, mit dem ein „Verhältnis von Ursache und Wirkung“ beschrieben wird und das sich gerade nicht auf menschliche, absichtliche Handlungen beschränkt (vgl. Gerhardt 1986, bes. 102 f.). Zur Unterscheidung von arbitrium liberum und arbitrium brutum siehe KrV A 802/B 830.
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daher entscheidend, auf welche Weise Menschen durch ihr Begehrungsvermögen Einfluss auf ihre Begierden nehmen, d. h. wie sie mit Hilfe der praktischen Vernunft ihr Handeln zu steuern vermögen. Soll Klugheit nun als ein Fall von praktischer, wenn auch empirisch-praktischer,Vernunft verstanden werden können, so muss die Vermittlung der Handlung mit einer ihr zugrundeliegenden Begierde (Empfindung, Gefühl) durch eine Form der praktischen Vernunft erklärt werden können. Zu zeigen ist, dass Kants Willensbegriff sowohl eine Bestimmung des Willens zur Geschicklichkeit als auch eine zur Klugheit umfasst, sodass letztere nicht auf erste reduziert zu werden braucht. Die möglichen Arten der Willensbestimmung sind für Kant: die Fähigkeit, nach Begriffen zu handeln bzw. zu wirken (1.1.1) sowie, das Begehrungsvermögen nach der Vorstellung von Gesetzen, Prinzipien oder Grundsätzen zu bestimmen (1.1.2). Ich werde dafür argumentieren, dass mit 1.1.1 zunächst auf die Struktur des Willens überhaupt verwiesen ist, wie sie für jedes Handeln in Anspruch genommen wird, insofern dieses sich immer schon auf die Verfolgung von Zwecken richtet. Damit ist 1.1.1 zunächst der Geschicklichkeit zuzuordnen, während 1.1.2 nicht in erster Linie auf die Verfolgung beliebiger Zwecke abzielt, sondern auf die Bestimmung dieser Zwecke, die dann gemäß 1.1.1 durch konkretes Handeln umgesetzt werden sollen.
1.1.1 Der Wille als Vermögen, nach Begriffen zu handeln Um zu verstehen, wie eine empirische Bestimmung des Willens möglich ist und worin die Schwierigkeiten dabei bestehen, wenden wir uns zunächst dem Begriff des Willens selbst zu. Kant zufolge ist der Wille eine Form des Begehrungsvermögens. Bereits in der Kritik der praktischen Vernunft beschreibt Kant das Begehrungsvermögen folgendermaßen: Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist d a s Ve r m ö g e n desselben, d u r c h s e i n e Vo r s t e l l u n g e n U r s a c h e v o n d e r W i r k l i c h k e i t d e r G e g e n s t ä n d e d i e s e r Vo r s t e l l u n g e n z u s e i n (KpV 5:9.19 – 22, vgl. MdS 6:315.6 f.).
Jedes Lebewesen, das über ein Begehrungsvermögen verfügt, bestimmt dieses aufgrund von Vorstellungen dazu, die Wirklichkeit dieser Vorstellungen auch hervorzubringen. In diesem Sinne kommt ein Begehrungsvermögen auch Tieren zu, denn es ist noch nichts gesagt über die Art und Natur dieser Vorstellungen (vgl. Höwing 2013b, 26 – 28). Für den Menschen als vernünftiges Lebewesen gilt daher zusätzlich, dass er nicht nur nach irgendwelchen vagen Vorstellungen (ohne
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Bewusstsein),³ sondern nach Begriffen zu wirken imstande ist. Damit stimmt die Definition des Willens mit derjenigen der Kritik der Urteilskraft überein: „Der Wille, als Begehrungsvermögen, ist nämlich eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt, nämlich diejenige, welche nach Begriffen wirkt“ (KdU 5:172.4– 6). Und: „Das Begehrungsvermögen, sofern es nur durch Begriffe, d.i. der Vorstellung eines Zwecks gemäß zu handeln, bestimmbar ist, würde der Wille sein.“ (KdU 5:220.15 – 17)⁴ All diese Bestimmungen zusammen ergeben das Verständnis eines Willens, der nach Zwecken handelnd wirkt, wodurch der Mensch sich von anderen Lebewesen unterscheidet.⁵ Da „durch Begriffe zu handeln“ bzw. „nach Begriffen zu wirken“ gleichgesetzt werden kann mit „der Vorstellung eines Zwecks gemäß“ zu handeln, und da der Wille zugleich ein Vermögen der Zwecke ist (vgl. KpV 5:58.36 – 59.2), so ist zunächst zu klären, was ein Zweck ist und wie es möglich ist, der Vorstellung eines solchen gemäß zu handeln. Dafür bietet sich ein Blick auf Paragraph 10 der KdU an (5:219.30 – 220.31), der „[v]on der Zweckmäßigkeit überhaupt“ handelt. Er enthält eine allgemeine Definition dessen, was Kant unter Zweckmäßigkeit überhaupt versteht, ist zunächst also gar nicht gebunden an eine bestimmte Art von Zwecken (ästhetische, praktische oder Naturzwecke). Kant definiert den transzendentalen Begriff des Zwecks sowie der Zweckmäßigkeit, indem er angibt, „was ein Zweck sei“ unabhängig von allen empirischen Bestimmungen des Gefühls der Lust oder Unlust: [S]o ist Zweck der Gegenstand eines B e g r i f f s , sofern dieser als die Ursache von jenem (der reale Grund seiner Möglichkeit) angesehen wird; und die Causalität eines B e g r i f f s in
Es ist an dieser Stelle hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass Kant „Vorstellung“ in einem allgemeinen Sinne verwendet. So stellt er z. B. in KrV A 320/B 376 f. eine „Stufenleiter der Ideen“ auf, aus der hervorgeht, dass Ideen zur allgemeinen Gattung der Vorstellungen gehören. Diese können dann solche sein, die von Bewusstsein begleitet werden (perceptio), welche sich wiederum entweder auf den Zustand des Subjekts beziehen und daher subjektiv sind und Empfindungen heißen (sensatio), während objektive Vorstellungen mit Bewusstsein (cognitio) zu Erkenntnis führen (vgl. Kapitel 4.1). Vgl. MdS 6:213.14– 17: „Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objecte angetroffen wird, heißt ein Vermögen n a c h B e l i e b e n z u t h u n o d e r z u l a s s e n .“ Zu diesem Vermögen, „nach Belieben zu thun oder zu lassen“ siehe zuletzt Höwing 2013b, 37– 42. Horn vertritt in diesem Sinn überzeugend die Auffassung, Kant verwende bereits in GMS und KpV einen teleologischen Willensbegriff in Platonischer und Aristotelischer Tradition, den er jedoch in Bezug auf den moralischen Anspruch umkehre, insofern der Bestimmung des Willens auf eine Materie (sein Telos) hin die Bestimmung durch die Form (des Moralgesetzes) vorangehen müsse (vgl. Horn 2011, 47– 52). Zu Parallelen zwischen Kant und Aristoteles in KdU vgl. Löw 1980 sowie Kapitel 5.1.3.
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Ansehung seines O b j e c t s ist die Zweckmäßigkeit (forma finalis). Wo also nicht etwa bloß die Erkenntniß von einem Gegenstande, sondern der Gegenstand selbst (die Form oder Existenz desselben) als Wirkung nur als durch einen Begriff von der letztern möglich gedacht wird, da denkt man sich einen Zweck. Die Vorstellung der Wirkung ist hier der Bestimmungsgrund ihrer Ursache und geht vor der letztern vorher (KdU 5:220.1– 9).
Ein Gegenstand wird demnach zu einem Zweck, indem jemand einen Begriff von ihm hat, der wiederum die Existenz dieses Gegenstandes verursacht und ihn damit als Wirkung dieser Ursache (Begriff des Gegenstandes) hervorruft. Damit wird der Begriff des Gegenstandes als Ursache dieses Gegenstandes zum realen Grund der Möglichkeit dieses Gegenstandes, der wiederum Wirkung dieser Ursache ist. Ein solcher Gegenstand heißt dann Zweck. Mit Cramer kann man sagen, dass die Art, wie ein Gegenstand als Wirkung einer Ursache zu denken ist, „in die Funktion eines Moments der Ursache für diese Wirkung“ einrückt (Cramer 1974, 177). Die Vorstellung (Begriff), die jemand von dem Gegenstand hat, geht in seine eigene Kausalität ein, die darin besteht, mithilfe dieser Vorstellung den Gegenstand hervorzubringen. Zweckmäßigkeit ist somit diejenige Art von Kausalität, die eine solche Ursache-Wirkungs-Verbindung aufweist.⁶ Insofern der Begriff eines Gegenstandes diesen Gegenstand als Zweck hervorbringt, also verursacht, kann die Verursachung (Kausalität) selbst Zweckmäßigkeit heißen. Zweckmäßigkeit wird damit zu einer Form der Kausalität, die nicht im mechanischen Sinne der Verursachung eines Gegenstandes durch kausal bestimmte Gesetze zu verstehen ist, sondern als eine Beziehung zwischen der Vorstellung eines Gegenstandes (seiner Form oder seiner Existenz) und der aus dieser Vorstellung hervorgehenden Wirkung, dem Gegenstand (seiner Existenz) selbst, der damit zu einem Zweck wird. Zweckmäßigkeit ist damit, im Unterschied zu den Wirkursachen der Natur, eine Kausalität nach Endursachen, eine vom Zweck (vom Ende, der forma finalis) her gedachte Verursachung. Wenn Kant den Willen als das Vermögen bezeichnet, nach der Vorstellung von Gegenständen, also nach Begriffen zu handeln, ist dieser damit zugleich das Vermögen der Zwecke, insofern die Verursachung eines Gegenstandes durch seine Vorstellung auf diese Weise den Gegenstand als Zweck hervorbringt, also im Sinne einer Hervorbringung und Verursachung von Zwecken.⁷ Der Wille ist damit selbst Vgl. Kants Ausführungen zum Naturzweck in KdU 5:370 ff. (§ 64). Klingner spricht in diesem Sinn von der Konstitution des Zwecks durch technische Vernunft, die im Hinblick auf die Hervorbringung des Zwecks einen ihr eigenen Gegenstandsbereich konstituiere (vgl. Klingner 2012, 259, auch 282 und 285). Er stellt die technische Vernunft als „spezifische Bestimmtheit des Verstandes“ (Klingner 2012, 282) dar und sieht die (inhaltliche) Bestimmung der Zwecke als Frage der Anthropologie an: „Die vorgelegten Bemerkungen zu einer möglichen metaphysischen Konstruktion des Zweckbegriffs finden ihren Abschluss somit in der Angabe einer
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„eine der Naturursachen“, aber eben eine solche, die aufgrund von Begriffen wirkt und damit Zwecke hervorbringt.⁸ Kant unterscheidet daher bezüglich der Bestimmbarkeit des Willens durch Begriffe das physisch Mögliche vom praktisch Möglichen: Dinge, die physisch möglich oder notwendig sind, werden durch Ursachen bewirkt, deren Kausalität durch Mechanismus (leblose Materie) oder Instinkt (Tiere) bestimmt wird (vgl. KdU 5:172.7– 11). Die praktische Möglichkeit bzw. Notwendigkeit hingegen verweist auf einen Willen. Der Mensch unterscheidet sich damit von allen anderen Naturursachen durch seine Fähigkeit, nach Begriffen zu handeln und nicht nur nach Gesetzen zu wirken, wobei sein Handeln damit zugleich als ein Wirken innerhalb der Natur verstanden werden kann. Damit entwickelt Kant in der KdU seine frühere Auffassung der KpV weiter. Dort versteht er die Kausalität des Willens als eine durch Vorstellungen bestimmte „psychologische Causalität“ und grenzt sie ab gegen eine solche, die durch körperliche Bewegungen mechanisch Handlungen hervorbringt. Diese „psychologische Causalität“ (KpV 5:96.29) wird nach solchen Vorstellungen bestimmt, die „den Grund ihrer Existenz doch in der Zeit, nämlich dem v o r i g e n Z u s t a n d e haben, dieser aber wieder in einem vorhergehenden etc.“ (KpV 5:96.26 – 28). Diese psychologischen und nicht mechanischen Vorstellungen betreffen als Bestimmungsgründe der Kausalität (des Willens) daher dennoch das Dasein des Wesens in der Zeit, dessen Handlungen demnach zwar „nach veranlassenden Umständen erzeugte Begierden und mithin nach unserem eigenen Belieben bewirkte Handlungen sind“ (KpV 5:96.13 – 15). Sie lassen damit aber keine t r a n s c e n d e n t a l e F r e i h e i t ü b r i g […], welche als Unabhängigkeit von allem Empirischen und also von der Natur überhaupt gedacht werden muß, sie mag nun als Ge-
(internen) Differenzierung der technisch-praktischen Vernunft in bloß technisch-praktische und pragmatische Vernunft, mithin in der Unterscheidung zwischen ’Kunst’ und ’Wohlfahrt’. Da diese Differenzierung lediglich eine anthropologische ist, kann die ’pragmatische Zwecklehre’ kein Bestandteil mehr der metaphysischen Konstruktion des Zweckbegriffs, mithin einer Theorie technischer Vernunft als spezifischer philosophischer Erkenntnis sein.“ (Klingner 2012, 290 f.) Klingner zufolge gründet pragmatische damit in technischer Vernunft als Form des Verstandes. Ich halte Klingners Ausführungen für zutreffend, insofern sie die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit technischer Vernunft (und damit auch technisch-praktischer Vernunft) angeben. Die vorliegende Arbeit knüpft gewissermaßen daran an und versucht diejenigen empirischen Bestimmungen zu erfassen, die für diese interne Differenzierung der technischen Vernunft von Bedeutung sind, um dann auch von technisch-praktischer Vernunft sprechen zu können. Mertens spricht folgerichtig von einer „begrifflichen Kausalität“, die in der Tradition als Technik bezeichnet worden sei. Sie bemerkt zu Recht, der Begriff selbst trete bei Kant erst im Opus postumum auf, auch wenn sich der Sachverhalt bereits in GMS sowie im ersten Kapitel der ersten Einleitung zur KdU finde (vgl. Mertens 1975, 116).
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genstand des inneren Sinnes blos in der Zeit, oder auch äußeren Sinne im Raume und der Zeit zugleich betrachtet werden […] (KpV 5:96.37– 97.4).
Die durch die Kausalität der Endursachen erweiterte Darstellung der Natur in KdU erlaubt es Kant nun, eben solche Handlungen, die durch Vorstellungen von Gegenständen bewirkt werden, die in der Zeit existieren, dem Naturmechanismus und seiner Notwendigkeit gewissermaßen zu „entreißen“ und als eigene Form der Kausalität, nämlich der der Endursachen, zu qualifizieren. Das Verständnis des Willens als „Naturvermögen“ (KdU 5:172.30) bringt es mit sich, dass in der Bestimmung des Begehrungsvermögens durch Begriffe und damit zur Hervorbringung von Zwecken zwei Dinge enthalten sind: Erstens das Wirken des Willens als Naturursache, d. h. sein Tätigwerden in Form einer Verursachung von Gegenständen (der Sinnenwelt), die durch dieses sein Wirken zugleich als Zwecke konstituiert werden. Zweitens aber muss in einer solchen Willensbestimmung die Festlegung auf hervorzubringende (zu verfolgende) Zwecke mitgedacht werden (können).⁹ Und in eben diesem Sinne unterscheidet sich das menschliche Begehrungsvermögen von dem anderer Lebewesen, indem es nach Begriffen wirkend aufgefasst wird, nicht nur nach allgemeinen Vorstellungen. Mit anderen Worten: Auch Tiere können aufgrund bestimmter Vorstellungen (von Gegenständen) handelnd wirken und „tätig“ werden. Was Kant unter „Begriffen“ versteht, muss daher über solche allgemeinen, ebenfalls Handlungen kausal verursachende Vorstellungen hinausgehen. Das bedeutet, dass zwischen der Verwirklichung von Zwecken und ihrer Bestimmung nach Begriffen ein Unterschied besteht. Und es bedeutet auch, dass die Bestimmung des Willens durch Begriffe nicht nur das Hervorbringen konkreter Gegenstände in der Sinnenwelt meint, sondern zugleich dieser Gegenstände als Zwecke, und zwar entweder empirischer oder moralischer Zwecke. Nur so wird
Höwing unterscheidet zwei Aspekte des Vermögens nach Belieben zu tun oder zu lassen (VBTL) in MdS 6:213.14– 17, die verschiedenen Arten von Rationalität entsprächen: Entweder könnten die Gegenstände, nach denen ein Wesen, das über VBTL verfügt, auch durch Begriffe vorgestellt werden, oder es wende „bei seinem Begehren schon Regeln der technisch-praktischen oder auch der moralisch-praktischen Vernunft“ an (Höwing 2013b, 37). Auch Höwing erklärt das „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ ausgehend vom Zweckbegriff (vgl. Höwing 2013b, 38). Allerdings definiert er es anschließend auf doppelte Weise: „sofern es (a) erkennen kann, was es begehrt, und (b) aus dieser Erkenntnis hypothetische Imperative ableiten kann, die bestimmen, welche Handlungsalternative es wählen soll, um den begehrten Gegenstand zu realisieren.“ (Höwing 2013b, 41) Folglich ordnet Höwing der Willkür und ihren technisch-praktischen Sätzen die Fähigkeit, Handlungsalternativen zu bestimmen zu, während dem Willen und damit dem kategorischen Imperativ die Bestimmung der möglichen Absichten vorbehalten bleibt (vgl. Höwing 2013b, 40).
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verständlich, wie nach ein und derselben Definition des Willens nicht nur empirisch bestimmtes, sondern auch Handeln aus Freiheit möglich sein soll.Wäre mit dem Willen als „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ ausschließlich der Teil des empirischen Handelns bezeichnet, der die Geschicklichkeit, konkrete Handlungen umzusetzen umfasst (d. h. Handlungen, insofern sie innerhalb der Sinnenwelt erscheinen), so wäre nicht mehr ersichtlich, wie der Wille sich überhaupt seine Zwecke (empirische oder moralische) bestimmt, die dann erst durch die Vorstellung von Gegenständen zu verwirklichen sind. Auf diese Weise wäre weder empirisch bedingtes Handeln, noch Handeln durch den Freiheitsbegriff erklärt. Kants vorgelegte Definition des Willens nach Begriffen muss also in irgend einer Weise die Möglichkeit von Zweckbestimmung überhaupt und somit Handeln nach der Vorstellung von Prinzipien enthalten, sonst wäre es bloßes Handeln nach Vorstellungen (von Gegenständen).
1.1.2 Handeln nach allgemeinen Regeln oder Gesetzen Ich ziehe hierfür nun drei Textstellen heran, die in der Kantforschung nach wie vor viel diskutiert werden: (i) Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, d e r Vo r s t e l l u n g g e w i s s e r G e s e t z e g e m ä ß sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein. Nun ist das, was dem Willen zum objectiven Grunde seiner Selbstbestimmung dient, der Z w e c k , und dieser, wenn er durch bloße Vernunft gegeben wird, muß für alle vernünftige Wesen gleich gelten (GMS 4:427.19 – 24, kursiv C.G.). (ii) Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, n a c h d e r Vo r s t e l l u n g der Gesetze, d.i. nach Principien, zu handeln, oder einen W i l l e n . Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Ve r n u n f t erfordert wird, so ist der Wille nichts anders als praktische Vernunft (GMS 4:412.26 – 30). (iii) Der Wille ist das Vermögen der Subjekte, „ihre Causalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin so fern sie der Handlungen nach Grundsätzen, folglich auch nach praktischen Principien a priori (…) fähig sind.“ (KpV 5:32.11– 15)¹⁰
Scarano weist darauf hin, dass im nun zu erörternden Verständnis des Willens im Sinne von (iii) der Unterschied zu anderen, vernunftlosen Wesen liege, welche ebenfalls ein Begehrungsvermögen hätten, das sie durch ihre Vorstellungen bestimmen könnten. Nur vernünftige bzw. vernunftbegabte Wesen seien hingegen in der Lage, nach der Vorstellung von Regeln oder Gesetzen ihr Begehrungsvermögen zu bestimmen, das deshalb auch Wille genannt werde (vgl. Scarano 2002, 120). Zimmermann vertritt die Auffassung, beim Menschen trete alles Begehren als vernünftiges auf in dem Sinne, dass es immer durch Vernunft geleitet sei (vgl. Zimmermann 2011, 191 f.).
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Insbesondere die zweite Variante ist umstritten. Laberge gibt einen Überblick über die zu dem Zeitpunkt bereits gemachten Vorschläge und stellt folgende Möglichkeiten für die Interpretation von „nach der Vorstellung von Gesetzen, d.i. Principien“ vor: a) das moralische Gesetz (Duncan 1957), b) Naturgesetze (Cramer 1974), c) objektive Prinzipien, d. h. entweder a) oder b) (Haegerstroem 1902 und Vorländer 1906) oder d) Maximen (Paton 1962 und Bittner 1974). Er selbst kommt zu dem Schluss, dass „n a c h d e r Vo r s t e l l u n g v o n P r i n c i p i e n“ in jeder dieser vorgestellten Bedeutungen verwendet werden kann, ihm zufolge können sowohl objektive als auch subjektive Prinzipien als auch Maximen darunter verstanden werden (vgl. Laberge 1989, 90 f.). Dem hinzuzufügen wären e) die von Willaschek vermuteten „psychologischen Gesetze“, die soeben bereits anklangen.¹¹ Aufgrund der soeben vorgestellten kausalen Wirksamkeit des Willens, der nicht durch die bloße Vorstellung von Gegenständen, sondern nach Begriffen und damit handelnd wirksam wird, folgt, dass Kant sich in der (im Vergleich zu GMS und KpV späteren) KdU mit der „Vorstellung von Begriffen“ auf eben diese „Vorstellung von Gesetzen“, bzw. der „Vorstellung gewisser Gesetze gemäß“ bzw. die „Vorstellung von Regeln“ bezieht oder vielmehr beziehen muss. Denn nicht anders als durch Regeln (um die Formulierung allgemein zu halten) können Begriffe vorgestellt werden.¹² Nicht anders als im Rückgriff auf Regeln können also auch Zwecke bestimmt und erst anschließend verfolgt werden. Die Bestimmung des Willens durch die Vorstellung von Begriffen muss somit die Vorstellung der die Vorstellungen von Gegenständen als Zwecke hervorbringenden Regeln beinhalten.¹³
Willaschek meint im Gegensatz zu Cramer, es handle sich nicht um Naturgesetze, sondern um „psychologische Gesetze“ (Willaschek 1992, 83, vgl. dazu auch KpV 5:28.4 ff.). Er ordnet damit zugleich die von Kant in GMS angesprochene empirische Seelenlehre, den zweiten Teil der Naturlehre, diesen psychologischen Gesetzen des Begehrungsvermögens zu, von denen Kant auch in KpV 5:9.20 spricht, und denen er, so darf ergänzt werden, in KpV 5:26.27– 33 den Charakter von streng mechanischen Naturgesetzen abspricht, insofern sie explizit subjektive praktische Prinzipien darstellen. Begriffe sind das Ergebnis einer Synthesis verschiedener Vorstellungen, und der Verstand gebraucht sie, um zu urteilen. Eine Synthesis aber, so wird in Kapitel 4 noch deutlicher, beruht immer auf einer Regel, nach welcher die Vorstellungen verknüpft werden (Vgl. z. B. KrVA 68/B 93). Dass Kant zudem von praktischen Gesetzen durchaus nicht ausschließlich im Sinne von moralischen Gesetzen spricht, zeigt sich z. B. in KrV A 806/B 834, wo es heißt: „Das praktische Gesetz aus dem Bewegungsgrunde der Glückseligkeit nenne ich pragmatisch (Klugheitsregel) […].“
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Dass mit solchen Regeln, wie Bittner annimmt, Maximen gemeint sein müssen, wird sich im Laufe dieses Kapitels bestätigen.¹⁴ Denn Kant ist durchaus nicht der Meinung, der Wille werde ausschließlich durch die Vorstellung von Gesetzen im strengen Sinn von objektiven, notwendigen, allgemeingültigen Gesetzen (Natur- oder Moralgesetzen) bestimmt. Alle drei Zitate zeigen, dass er die vorgestellten „Gesetze“ ebenfalls sowohl als Prinzipien, als auch als Grundsätze oder Regeln bezeichnet. Wie im nächsten Abschnitt anlässlich der Diskussion um die hypothetischen Imperative gezeigt werden soll, ist Kants Ausdrucksweise keineswegs immer einheitlich.¹⁵ Spricht er einerseits von Gesetzen, so zeigt der Zusatz „d.i. Principien“ an, dass auch Gesetze als Prinzipien fungieren, sodass dieselbe Funktion auch von subjektiven Prinzipien ausgeübt werden kann.¹⁶ In Textstelle (i) schreibt er ausdrücklich „wenn er [der Zweck, C.G.] durch bloße Vernunft gegeben wird“ (kursiv C.G.), was impliziert, dass er auch durch anderes als bloße Vernunft gegeben sein kann. Und auch in Zitat (iii) nennt Kant ausdrücklich nicht Gesetze an erster Stelle, durch deren Vorstellung der Wille bestimmt werde, sondern Regeln. Und er präzisiert, nach der Vorstellung von Regeln handeln zu können, heiße, „der Handlungen nach Grundsätzen“ fähig zu sein. Diese Grundsätze könnten dann auch praktische Prinzipien a priori sein, womit nichts anderes als das Moralgesetz gemeint ist. Das bedeutet, dass für Kant der Wille durch die Vorstellung von allgemeinen Grundsätzen zum Handeln bestimmt wird. Wenn diese Grundsätze auch in der Form von praktischen Prinzipien a priori auftreten können sollen, heißt das jedoch, dass es sich dabei keinesfalls um Naturgesetze handeln kann. Es ergibt sich daraus folgendes Bild: Der Wille ist das Vermögen (vernünftiger Wesen), sich zum Handeln zu bestimmen, indem diese Wesen sich für ihr Handeln bestimmte Gesetze, Prinzipien bzw. Regeln vorstellen.¹⁷ Zitat (i) zufolge können damit durchaus auch Naturgesetze gemeint sein, die etwas über die Kausalverknüpfungen der Gegenstände untereinander und damit über die Wirkungsmög-
Auch Recki verweist beispielsweise auf die Plausibilität, dass mit den Prinzipien der Textstelle (ii) Grundsätze, d. h. Maximen gemeint seien (vgl. 2001, 227 f. (Fn.)). Auf Kants uneinheitliche Verwendungsweise von „Regel“ weist z. B. Mayer hin. Es seien damit sowohl sprachliche als auch Naturgesetze, Regeln des Verstandes sowohl als auch Prinzipien oder Handlungsvorschriften gemeint (vgl. Mayer 2006, 347, Fn. 6). Vgl. dagegen die deutliche Abgrenzung in GMS 4:420.3 – 5: „So viel ist indessen vorläufig einzusehen: daß der kategorische Imperativ allein als ein praktisches Gesetz laute, die übrigen [Imperative, C.G.] insgesammt zwar P r i n c i p i e n des Willens, aber nicht Gesetze heißen können […].“ Vgl. in diesem Sinn auch Horn 2011, 40. Allerdings klassifiziert er die bloß subjektive Regel als „unzulänglich“ – was, wie deutlich werden wird, bloß für die explizit moralische Perspektive in einer moralisch relevanten Situation zutrifft.
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1 Klugheit und Geschicklichkeit
lichkeiten des Willens in Bezug auf die Hervorbringung der Existenz solcher Gegenstände aussagen. Allerdings ist dies nur dann plausibel, wenn man zugesteht, dass je unterschiedliche Arten der Bestimmung des Willens gemeint sind, von denen diejenige, die sich auf den Willen als Kausalität bezieht, darauf angewiesen ist, dass ihr eine Bestimmung durch Prinzipien vorausgeht. Nur unter dieser Voraussetzung kann angenommen werden, dass sowohl auf die Bestimmung des Willens durch solche „Gesetze, d.i. Principien“, als auch auf die Ausführung der Handlungen nach der Vorstellung solcher „Gesetze, d.i. Principien“ Bezug genommen wird und damit in Laberges Sinn alle Interpretationsmöglichkeiten offen stehen. Damit würde deutlich, dass ein Subjekt sowohl seinen Willen nach der Vorstellung von Prinzipien bestimmt, die entweder objektiv (für alle anderen vernünftigen Wesen gültig) oder subjektiv (nur als für es selbst gültig angesehen) sind, als auch die Wahl seiner Handlungen an der Vorstellung von Gesetzen (als Kenntnis über natürliche Kausalverhältnisse) ausrichtet. Wären hingegen mit den willensbestimmenden Prinzipien ausschließlich solche Naturgesetze gemeint, deren objektive Kausalwirkung (zwecks Bewirkung eines Objekts in der Sinnenwelt) wir (theoretisch) erkennen können, so wäre ein solches zweckrationales Handeln nur darauf ausgerichtet, die zur Hervorbringung des Gegenstandes (Zwecks) notwendigen Mittel zu bestimmen, was zwar durchaus Sache der Vernunft (oder besser: der technischen Vernunft, also des Verstandes) ist, insofern hierfür ein Wissen um die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse der Gegenstände vonnöten ist (vgl. KpV 5:58.34 f.). Dieses Wissen lässt aber zugleich noch keine Aussage darüber zu, welcher Zweck einem anderen vorgezogen werden sollte, denn es betrifft nur die (physische) Möglichkeit der Gegenstände (Zwecke) oder, um mit Kant zu sprechen: „die Naturbedingungen (des praktischen Vermögens) der Ausführung seiner Absicht“ (KpV 5:66.5 f.). Das eigentlich praktische Moment des Handelns liegt jedoch in der Bestimmung des Willens durch einen Zweck, d. h. im Sinne eines genitivus subjectivus, derzufolge der Wille sich auf die ihn bestimmende Regel (und nicht auf das durch diese Regel als Zweck vorgestellte Objekt) bezieht. Ich folge hier Bittner, der zwischen der Willensbestimmung im Sinne eines genitivus sujectivus und der Willensbestimmung im Sinne eines genitivus objectivus unterscheidet, um auf die Zweideutigkeit des kantischen Ausdrucks hinzuweisen. Dabei versteht er unter einem genitivus objectivus eine Regel, unter welcher der Wille faktisch steht (er ist selbst das Objekt der Regel), während der genitivus subjectivus anzeige, dass die Regel des Wollens selbst gewollt sei: der Wille bestimmt als Subjekt selbst eine Regel, durch die er sich bestimmen will (vgl. Bittner 1974, 496, Fn. 4). Wie sich im Laufe der Untersuchung bestätigen wird, ist gerade auch für die Klugheit dieses reflexive, auf die Beurteilung der eigenen willensbestimmenden Regel bezogene
1.1 Der Wille als Kausalität: Kants Begriff der Praxis
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Moment von größter Bedeutung.¹⁸ Eine solche Willensbestimmung erfolgt, so sahen wir, ebenso wie die Bestimmung der Handlung, durch Rückgriff auf (die Vorstellung von) Regeln, die in diesem Fall Grundsätze heißen und (im Falle moralischen Handelns) praktische Prinzipien a priori sein können. Als solche sind sie dann aber nichts anderes als Maximen (vgl. Kapitel 1.3.1 und 1.3.2). Ähnlich sieht es mit Zitat (ii) aus: Das vernünftige Wesen handelt „nach der Vorstellung von Gesetzen, d.i. nach Principien“. Es wird etwas ausgesagt darüber, wie der Wille durch eine Handlung Gegenstände hervorbringt. Hierzu ist es erforderlich, dass er über entsprechendes Wissen verfügt, das es ihm ermöglicht, seine Handlung so auszurichten, dass sie auch tatsächlich den vorgestellten Gegenstand bewirkt. In diesem Sinne liest Cramer die Stelle (vgl. Cramer 1974, bes. 170 – 173.), und so passt sie auch zu Variante (i). Damit ist dann aber, das sieht auch Cramer,wiederum nichts gesagt darüber,wie der Wille zu seiner Bestimmung kommt, d. h. was ihn dazu bringt, diesen Zweck zu verfolgen. Denn die Vorstellungen von (Natur‐) Gesetzen, die für die Hervorbringung von Gegenständen durch den Willen als Kausalität benötigt werden, bestimmen eben nicht den Gegenstand selbst als Zweck, sondern sie bringen ihn nur als solchen hervor. Das setzt voraus, dass er nach bestimmten Kriterien (Regeln) überhaupt zu einem (möglichen) Zweck bestimmt wurde.¹⁹ Auf diese Art der Bestimmung, nämlich die Bestimmung des Willens zum Handeln im Gegensatz zur Bestimmung des Handelns selbst, geht am deutlichsten Variante (iii) ein. Hier heißt es explizit, dass der Wille durch Vorstellungen bestimmt wird, aber durch solche, die weder nur einen konkreten Gegenstand zum Inhalt haben, noch ein Naturgesetz. Zum Handeln wird der Wille durch die Vorstellung von Grundsätzen bestimmt, die angeben, welche Zwecke überhaupt bestimmt werden sollen. Das hier vorgestellte Verständnis des Willens steht damit in Übereinstimmung mit Kants Definition von „Praxis“ im Gemeinspruch. Hier führt er den Unterschied zwischen Theorie und Praxis an:
Anders als Bittner versteht Zimmermann die Willensbestimmung im Sinne eines genitivus subjectivus im Hinblick auf die Ausführung, d. h. auf die Verwirklichung eines ihm bestimmten Objekts (das Objekt des Willens). Die Willensbestimmung im Sinne eines genitivus objectivus versteht er dagegen als die Tatsache, dass Vernunft dem Willen ein Objekt bestimme: der Wille selbst wird ein Objekt (der Vernunft), das (durch diese) bestimmt wird bzw. werden soll (vgl. Zimmermann 2011, 105 ff., ähnlich Horn 2011, 38 ff.). Wike scheint genau das Gegenteil anzunehmen, wenn sie schreibt: „[E]nds do act as determining grounds of the will.Whenever there are ends present, they act in a way to ground the will’s principles. Sometimes ends are arbitrarily chosen, sensible objects and serve as the sole ground of hypothetical principles.“ (Wike 1994, 81) Ich versuche dagegen zu verdeutlichen, dass Zwecke nach Prinzipien zu bestimmen sind und gerade nicht selbst schon ein Prinzip der Willensbestimmung enthalten.
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1 Klugheit und Geschicklichkeit
Man nennt einen Inbegriff selbst von praktischen Regeln alsdann T h e o r i e , wenn diese Regeln als Principien in einer gewissen Allgemeinheit gedacht werden, und dabei von einer Menge Bedingungen abstrahirt wird, die doch auf ihre Ausübung nothwendig Einfluß haben. Umgekehrt heißt nicht jede Hantierung, sondern nur diejenige Bewirkung eines Zwecks P r a x i s , welche als Befolgung gewisser im Allgemeinen vorgestellten Principien des Verfahrens gedacht wird (Gemeinspruch 8:275.1– 7).
Für Kants Verständnis von Theorie gilt damit: Jede Theorie, die diesen Namen verdient, stellt allgemeine Regeln vor, deren Gültigkeit auch unabhängig bzw. in Abstraktion von den Bedingungen ihrer Ausübung gegeben ist, selbst wenn diese Bedingungen Einfluss auf ihre Ausübung haben sollten. Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie über „gewiße Principien“ verfügt (Gemeinspruch 8:276.5). In Bezug auf die Praxis besagt diese Stelle, dass sie sich nicht auf den ganzen Bereich menschlichen Handelns erstreckt, sondern nur auf solche Handlungen, welche als „Bewirkung eines Zwecks“ durch die Befolgung allgemein vorgestellter Prinzipien gedacht werden. Praxis in einem engeren Sinne ist damit auf das Handeln nach allgemeinen Prinzipien gerichtet. Dieser Auffassung zufolge ist es für das Handeln, das Kant unter dem Begriff der Praxis zusammenfasst, nötig, dass ihm ein bestimmtes „Ensemble“ an Prinzipien oder allgemeinen Regeln zugrunde liegt, die als solche wiederum eine Theorie bilden. Das Handeln vernünftiger Wesen ist damit nicht bloßes Hervorbringen einzelner Gegenstände, wie sie zufällig gerade so erscheinen, sondern es leitet sich ab von einer allgemeineren Vorstellung, die sich das vernünftige Wesen davon macht, wodurch sein Handeln „prinzipiell“ bestimmt sein soll.²⁰ Woher dann die für die jeweilige Praxis gültige „Theorie“ hergenommen wird, ist eine andere Frage. Henrich hat darauf verwiesen, dass Kant im Gemeinspruch zwischen einem Verhältnis von Theorie und Praxis als Anwendung theoretischer Prinzipien auf das Handeln und einem Verhältnis von Theorie und Praxis als Verhältnis von Prinzipien zu Prinzipien unterscheidet. Im ersten Fall ginge es darum, theoretisch erkennbare Prinzipien auf Handlungen, im zweiten, als wahr (oder richtig) erkannte praktische Prinzipien auf den Willen anzuwenden (vgl. Henrich 1967, 185). Mit anderen Worten: Theorie kann sich zur Praxis so verhalten, dass z. B. ein theoretischer Satz über einen Sachverhalt durch konkrete Handlungen umgesetzt werden kann. Oder unter Theorie kann eine bestimmte Menge von (in diesem Fall: moralischen) Prinzipien verstanden werden, welche auf diejenigen Prinzipien angewendet werden sollen, nach welchen der Mensch seinen Willen ohnehin und jenseits des an ihn ergehenden moralischen Anspruchs bestimmt. In diesem Fall
In Bezug auf reine praktische Vernunft vgl. in diesem Sinne auch KpV 5:125.16–19 und 5:55.11–15.
1.2 Hypothetische Imperative
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geht es nicht darum, theoretisch fassbares Wissen durch entsprechende Handlungen richtig anzuwenden und damit bestimmte Ziele zu erreichen.Vielmehr geht es darum, objektive Prinzipien (die „Theorie“, in diesem Fall: die Moral) auf die subjektiven Prinzipien des eigenen Willens anzuwenden. Diese Unterscheidung wird sich als maßgeblich herausstellen für den Begriff der Klugheit. Denn einerseits scheint Kant empirisch bestimmtes Handeln dem ersten Verhältnis von Theorie und Praxis zuzuordnen, zum anderen aber muss er auf empirisch zu bildende Maximen als Willensbestimmungen zurückgreifen, womit jedoch der zweite Zusammenhang von Theorie und Praxis bezeichnet ist. Die Frage lautet also, welchem der beiden Verhältnisse Klugheit bzw. empirisch bedingtes Handeln überhaupt unterliegt. Bezeichnet Klugheit nur eine bestimmte Art, bereits bestimmte Zwecke in die Tat umzusetzen? Dann wäre sie als Geschicklichkeit hinreichend umschrieben, sie verfügte über keinerlei Kompetenz, selbst Zwecke anhand von (subjektiven) Prinzipien zu bestimmen. Es stellte sich die Frage, woher diese Zwecke kommen und wer (oder was) sie dem Willen bestimmt. Oder bezieht sich Klugheit auch auf die Bestimmung von Zwecken, und zwar in erster Linie solchen, die, im Unterschied zu moralischen Zwecken, empirisch zu fassen sind? Und wie müssten dann die anzuwendenden „Regeln der Klugheit“ aussehen? Um dies herauszufinden, werden wir uns im Folgenden die hypothetischen Imperative anschauen, die Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten erläutert. Hier behandelt er auch am ausführlichsten den Begriff der Klugheit.
1.2 Hypothetische Imperative Mit der Einteilung der Imperative in GMS 4:414 ff. bringt Kant eine jahrelange Entwicklung seiner praktischen Philosophie zu ihrem Höhepunkt, indem er die bereits in vorkritischer Zeit ausgearbeitete Dreiteilung der Imperative in sein System der Moralphilosophie einfügt.²¹ Zugleich ist seine Lehre von der Unterscheidung der hypothetischen Imperative von dem kategorischen nach wie vor
Schwaiger weist darauf hin, dass Kant erst im Anthropologiekolleg die Unterscheidung zwischen geschicktem und klugem Handeln einführt. Kant gelange von einer Zweiteilung des menschlichen Handelns, die zwischen der problematischen Notwendigkeit der Mittel und der gesetzlichen Notwendigkeit der Zwecke unterscheidet, in den Bemerkungen zu einer Dreiteilung, die die Notwendigkeit der Mittel ihrerseits in zugrunde liegende mögliche und tatsächlich vorhandene Handlungsziele unterteile (Schwaiger 1999, 25). In der Grundlegung erreiche Kants Einteilung der Imperative dann ihre kanonische Form (Schwaiger 1999, 17; siehe auch UDG 2:298.4– 31).
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1 Klugheit und Geschicklichkeit
lebhaften Diskussionen ausgesetzt. Dies liegt unter anderem daran, dass Kants Begründung der Normativität hypothetischer Imperative nicht einfach nachzuvollziehen ist, da er sie als praktische Sätze auffasst, die er analytisch aus dem Willen ableiten zu können meint.²² Was also ist überhaupt ein Imperativ? Imperative sind Gebote, etwas zu tun, was wir nicht immer schon aus uns heraus automatisch und vernünftigerweise tun. Es gibt sie überall dort, wo ein Wille nicht immer schon mit den Geboten der Vernunft identisch ist, und zwar unabhängig davon, ob es sich um moralische oder, modern gesprochen, um bloß zweckrationale Gebote handelt. Ein heiliger Wille (z. B. der Wille Gottes) unterliegt keinen Imperativen, weil er sie schlicht und ergreifend nicht benötigt, da sein Wille immer schon übereinstimmt mit dem, was Vernunft gebietet. Imperative beziehen sich somit auf den „pathologisch-afficirten Willen eines vernünftigen Wesens“ (KpV 5:19.17). Kant definiert folgendermaßen: „Die Vorstellung eines objectiven Princips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ (GMS 4:413.9 – 11) Imperative sind daher Formeln, das Verhältnis objectiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjectiven Unvollkommenheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des menschlichen Willens, auszudrücken (GMS 4:414.8 – 11).
Alle Imperative verweisen damit auf eine Handlung, die für das wollende Subjekt gut²³ ist, die aber aus zwei Gründen nicht automatisch von ihm ausgeführt wird: entweder, weil das Subjekt gar nicht weiß, dass die Handlung gut ist, oder aber, weil die Maxime, durch die das Subjekt seinen Willen bestimmt, nicht mit „den objectiven Principien einer praktischen Vernunft“ (GMS 4:414.30 f.) übereinstimmt. Ein Imperativ wird demnach immer dann nötig, wenn das Subjekt, das bereits über eine Absicht (einen Zweck) verfügt, nicht die Mittel kennt, anwendet
Aufgrund der Parallele zur Bezeichnung der theoretischen Urteile wird bisweilen angenommen, dass es sich bei den analytisch-praktischen Sätzen, die hypothetische Imperative sein sollen, um zumindest ungefähre Entsprechungen der theoretischen Urteile handelt, insofern sie ähnlich diesen etwas als enthalten in einem Begriff vorstellen (vgl. z. B. KrV A 75 f./B 101). Stange zieht daraus den Schluss, dass es sich deshalb nicht um Imperative handeln könne (vgl. Stange 1900, 239 f.). Patzig macht auf einige Probleme aufmerksam, die sich für analytisch-praktische Sätze aus einer strikten Parallelisierung ergeben (vgl. Patzig 1966, 244 f.). Und Hinske weist auf eine neue Zweiteilung in GMS entlang der Unterscheidung analytisch-synthetisch anhand der Urteilslehre hin, bemerkt aber, diese würde sofort wieder zu einer Dreiteilung in problematische, assertorische, apodiktische Imperative erweitert (vgl. Hinske 1980, 110 – 113). Weiter unten werden wir sehen, dass Kant hier genau die beiden Fälle von „gut“ unterscheidet, die er auch in KdU anführt: gut als nützlich vs. gut als an sich gut (vgl. Kapitel 3.2.1 und 4.3).
1.2 Hypothetische Imperative
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oder anwenden will, die es anwenden muss bzw. sollte, um durch eine entsprechende Handlung diese Absicht zu verwirklichen. Und er wird genau dann nötig, wenn die subjektive Maxime, nach der ein vernünftiges Lebewesen seinen Willen durch die Wahl eines zu verfolgenden Zwecks nicht mit denjenigen objektiven Prinzipien übereinstimmt, die die praktische Vernunft ihm für die Wahl des Zweckes vorschlägt bzw. vorschreibt.²⁴ In MdS präzisiert Kant: Der Imperativ ist eine praktische Regel, wodurch die an sich zufällige Handlung nothwendig g e m a c h t wird. Er unterscheidet sich darin von einem praktischen Gesetze, daß dieses zwar die Nothwendigkeit einer Handlung vorstellig macht, aber ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob diese an sich schon dem handelnden Subjecte (etwa einem heiligen Wesen) i n n e r l i c h nothwendig beiwohne, oder (wie dem Menschen) zufällig sei; denn wo das erstere ist, da findet kein Imperativ statt. Also ist der Imperativ eine Regel, deren Vorstellung die subjectiv=zufällige Handlung nothwendig m a c h t ; mithin das Subject als ein solches, was zur Übereinstimmung mit dieser Regel g e n ö t i g t (necessitirt) werden muß, vorstellt (MdS 6:222.5 – 15).
Hypothetische Imperative stellen nun „die praktische Nothwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem, was man will (oder doch möglich ist, daß man es wolle), zu gelangen vor.“ (GMS 4:414.13 – 15) Sie erhalten ihre Bezeichnung, die sie von dem kategorischen Imperativ unterscheidet, von der Bedingung, der Hypothese her, unter der sie stehen, nämlich dass überhaupt etwas gewollt wird (assertorische Imperative der Klugheit) oder zumindest gewollt werden könnte (problematische Imperative der Geschicklichkeit). Sie stehen unter der hypothetischen Voraussetzung einer wirklichen bzw. möglichen Absicht. Kant klassifiziert die hypothetischen Imperative als analytische Sätze, da sie sich aufgrund der Bedingung, dass etwas gewollt wird, notwendig ergäben. Im Gegensatz zu einem synthetischen praktischen Satz leiten sie sich aus etwas bereits Gewolltem ab. Der kategorische Imperativ dagegen ist ein synthetischer Satz a priori, da er den Willen mit dem nicht schon in seinem Begriff enthaltenen Moralgesetz zu verknüpfen hat. Er bezieht sich auf etwas, das überhaupt erst gewollt werden soll.Während die durch hypothetische Imperative gebotenen Handlungen sich aus einem den Willen bereits bestimmenden Gegenstand (Vorstellung) als
Vgl. GMS 4:413.18 – 21: „Praktisch g u t ist aber, was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft mithin nicht aus subjectiven Ursachen, sondern objectiv, d.i. aus Gründen die für jedes vernünftige Wesen als ein solches gültig sind, den Willen bestimmt.“ Imperative gründen also ausschließlich in objektiven Prinzipien (der Vernunft) und nicht in subjektiven. Da es diese aber auch geben kann (siehe oben), folgt bereits an dieser Stelle, dass nur die Wahl der Mittel, also die Bestimmung des Willens zur Handlung, nicht aber zu Zwecken durch hypothetische Imperative geboten werden kann (vgl. dazu ausführlich Kapitel 1.2.2).
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1 Klugheit und Geschicklichkeit
(möglichem) Zweck ergeben, müssen kategorische Imperative diesen Bezug zum Gegenstand erst herstellen, was ihren synthetischen Charakter begründet. Hypothetische Imperative gebieten damit Mittel zu gewollten Zwecken, der kategorische hingegen einen Zweck. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass von Klugheit nur dann sinnvoll gesprochen werden kann, wenn die Rede von Imperativen der Klugheit fallen gelassen wird. Denn um zu zeigen, wie ein Imperativ der Geschicklichkeit möglich sei, bedarf es Kant zufolge „wohl keiner besondern Erörterung“ (GMS 4:417: 7 f.): Wer den Zweck will, will (so fern die Vernunft auf seine Handlungen entscheidenden Einfluß hat) auch das dazu unentbehrlich nothwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objects als meiner Wirkung wird schon meine Causalität als handelnde Ursache, d.i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff nothwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zwecks heraus […] (GMS 4:417.8 – 15).
Nimmt man das Zitat inklusive der Klammer, der sogenannten „Sofern-Klausel“, ernst, so liegt die Normativität der Imperative im Vernunftmoment des Menschen: Nur insofern er seiner Vernunft Einfluss auf sein Begehren gestattet bzw. gestatten will, folgt daraus die Aufforderung, bestimmte Mittel zu den gewählten Zwecken zu verfolgen. Was hier imperativisch geboten werden kann, ist die Aufforderung, der Vernunft überhaupt Einfluss zu gestatten, und dieser Einfluss der Vernunft lässt sich als die allen Imperativen zugrunde liegende gemeinsame Wurzel ausmachen.²⁵ Einem ersten Interpretationsansatz zufolge leitet sich daher die Normativität der hypothetischen Imperative, also ihre Berechtigung als Imperative aus der Forderung her, vernünftig zu handeln, d. h. der Vernunft „entscheidenden Einfluss“ auf das Handeln zu gestatten. Entsprechend muss der Begründung der Normativität dieser Imperative ein Hypothetischer Imperativ vorgeschaltet werden, der jedem vernunftbegabten, endlichen Wesen gebietet, sich den Ansprüchen seiner Vernunft gemäß zu verhalten. Thesen dieser Art vertreten z. B. Korsgaard (1997), G. Seel (1989), Hill (1973 und 1989) und Wood (1999).
Diese Auffassung vertritt Pollok mit seiner Spezifizierung der menschlichen Rationalität in Pollok 2007. Vgl. auch Höffe 2012, 138. Staeges Auffassung zufolge ermöglicht der hypothetische Imperativ den Übergang vom Wünschen zum Wollen. Sie vertritt die Auffassung, der hypothetische Imperativ beziehe sich auf denjenigen, der behaupte, etwas wollen zu wünschen, jedoch das, was er zu tun für notwendig halte, um das zu erreichen, was er erreichen zu wollen wünscht, nicht tut. Er ließe den entscheidenden Einfluss der Vernunft auf sein Handeln vermissen, sei also unvernünftig. Diese Art Unvernünftigkeit zu verhindern obliege dem hypothetischen Imperativ (vgl. Staege 2002, 56, siehe auch Fischer 2003, 88).
1.2 Hypothetische Imperative
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Vertreter einer weiteren Interpretationslinie weisen hingegen darauf hin, dass hypothetische Imperative (die einzelnen Sätze, die die Handlungsregeln angeben sollen) unter dieser Voraussetzung keine analytischen Sätze mehr seien, da sie auf einer außerhalb des Willens selbst stehenden Forderung beruhten: Ist die „Quelle der Normativität“ (Höffe 2012, 138, vgl. auch Pollok 2007, 58, Fn. 3) in der „Sofern-Klausel“ und damit in etwas begründet, das beim Wollenden nicht immer schon vorausgesetzt werden kann, erfolgt die Ableitung der hypothetischen Imperative nicht analytisch, sondern aufgrund von etwas, das ihnen vorausgeht und ist damit synthetisch. Die Autoren dieser zweiten Gruppe versuchen daher, die Normativität der hypothetischen Imperative aus dem Begriff des Wollens selbst und nicht aus einer ihm vorgeschalteten Voraussetzung abzuleiten und sprechen dementsprechend auch nicht von dem Hypothetischen Imperativ. Damit erübrigt sich jedoch die Frage nach seiner Normativität, da sich der Wille als bereits vernünftig begehrender erweisen muss. Ein Imperativ ist in diesem Fall nicht mehr nötig. Denn das vorausgesetzte Verständnis von „einen Zweck wollen“ ist dann bereits ein vernünftiges Wollen in dem Sinne, dass der in der „Sofern-Klausel“ genannten Vernunft bereits der geforderte Einfluss zugestanden wurde, indem die Mittel mit dem gewollten Zweck mitgewollt und ergriffen werden.²⁶ Die „SofernKlausel“ verliert damit ihren Sinn. Zur Gruppe dieser Interpreten gehören bei-
So schließt z. B. G. Seel seine Erörterungen der verschiedenen Möglichkeiten, hypothetische Imperative aus dem Wollen abzuleiten mit der Erkenntnis, sie seien entweder als theoretische Sätze, oder aber der Wille sei als rationales Begehrungsvermögen aufzufassen. In jedem Fall misslinge es Kant jedoch, sie analytisch aus dem Willen herzuleiten (vgl. G. Seel 1989, 166). Er plädiert für die zweite Variante, aber unter der Annahme, das Begehrungsvermögen sei nicht notwendigerweise vernünftig bestimmt, sondern es seien lediglich die Regeln bekannt, ohne deshalb auch automatisch befolgt zu werden (vgl. G. Seel 1989, 167). Daraus folgt für Seel, dass dem rationalen Begehrungsvermögen zur Begründung hypothetischer praktischer Sätze ein synthetisch-praktischer Satz beigegeben werden müsse, der als „Sollensoperator“ fungieren kann. Diesen formuliert er folgendermaßen: „Endliche vernünftige Wesen sollen sich bei ihrer Willensbildung von der Vernunft bestimmen lassen.“ Dabei bedeutet „Sich von der Vernunft bestimmen lassen“: „Ein vernünftiges Wesen lässt sich bei seiner Willensbildung von der Vernunft leiten gdw es jede Realrepugnanz der Willensrichtungen sowohl seiner eigenen unter einander als auch derselben mit denjenigen aller übrigen vernünftigen Wesen zu vermeiden sucht.“ Auf diese Weise ließe sich dann aus dem ersten Teil die Formel des hypothetischen Imperativs (als technisch-praktische Vernunft) und aus dem zweiten Teil der kategorische Imperativ ableiten (G. Seel, 1989, 168). Ähnlich argumentiert Pollok, der jedoch noch einen Schritt weiter geht, indem er „die gemeinsame Wurzel der Imperative“ in der Endlichkeit des Menschen sieht, d. h. in der Tatsache, dass er genau zwischen bloßem instinktivem Begehren und einem göttlichen (heiligen) Willen stehe (vgl. Pollok 2007, 72 ff.). Aus all diesen an sich schlüssigen und zutreffenden Ausführungen geht jedoch keineswegs hervor, wie der Einfluss der Vernunft im Fall der Imperative der Klugheit aussehen könnte – wie in den beiden nächsten Abschnitten deutlicher werden wird.
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1 Klugheit und Geschicklichkeit
spielsweise Cramer (1974), Bittner (1980), Schroeder (2005) und Steigleder (2001).²⁷ Ludwig zeigt, dass es insgesamt keinen Sinn ergibt, im Zusammenhang mit hypothetischen Imperativen überhaupt von analytisch-praktischen Sätzen zu sprechen. Die Unterscheidung analytisch/synthetisch käme nur für kategorische Sätze in Frage (Ludwig 1999, 115). S. Lee schlägt alternativ vor, den Gegensatz analytisch-praktisch vs. synthetisch-praktisch auf Kants Kennzeichnung analytischer Urteile zurückzuführen, insofern diese etwas grundsätzlich unbestimmt ließen, während synthetische Urteile die Aufgabe hätten, etwas zu bestimmen. Lee verweist u. a. auf die Kategorien der Freiheit, in denen Kant von den „noch unbestimmten“ zu den moralisch bestimmten Kategorien übergehe (S. Lee 2008, 235). Bei den Ratschlägen der Klugheit im Gegensatz zu hypothetischen Imperativen der Geschicklichkeit handelt es sich jedoch gerade nicht um analytische, sondern, wie noch gezeigt werden soll, im Kern um synthetische Urteile a posteriori (vgl. Kapitel 1.2.2). Lees Aussage: „hypothetical imperatives are regarded as analytic propositions because they leave whether there is a motivating ground“ (S. Lee 2008, 236 f.) lässt sich also nicht im angegebenen Sinn auf Ratschläge der Klugheit anwenden. Das Dilemma der hypothetischen Imperative besteht somit darin, dass sie entweder hypothetische Imperative, aber keine analytischen Sätze sind, oder aber die „Sofern-Klausel“ sich nicht halten lässt, da das Wollen bereits als vernünftiges aufzufassen ist. Im Fortgang der Untersuchung wird sich jedoch zeigen, dass die in diesem Rahmen zu verhandelnden pragmatischen Imperative der Klugheit im Grunde gar keine analytischen Sätze sind und sein können, da sie nicht, wie die hypothetischen Imperative der Geschicklichkeit, eine Handlung, sondern, ähnlich dem kategorischen Imperativ, eine Maxime „gebieten“, sich also nicht auf die Verfolgung bereits bestimmter Zwecke, sondern auf deren nähere Bestimmung beziehen. In den nächsten Abschnitten wird nun zunächst dargestellt, inwiefern sich die Imperative der Geschicklichkeit (sieht man vom dargestellten Dilemma einmal ab) tatsächlich als Imperative im Sinne einer objektiven Forderung der Vernunft auffassen lassen (1.2.1). Im Anschluss daran kann dann die Frage nach der normativen Begründung der Imperative der Klugheit beantwortet werden (1.2.2).
Cramer betont, gerade die Sofern-Klausel („sofern Vernunft entscheidenden Einfluss auf seine Handlungen hat“) ließe sich damit nicht halten, denn der Wille sei ja bereits vernünftiges Begehren (vgl. Cramer 1974, 194). Zur Kritik am Ansatz des Hypothetischen Imperatives siehe auch Steigleder 2001, 120 f.
1.2 Hypothetische Imperative
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1.2.1 Regeln der Geschicklichkeit Die beiden möglichen Arten hypothetischer Imperative unterscheiden sich durch den Modus der zugrunde gelegten Absicht: Diese kann entweder nur problematisch angenommen oder als wirklich vorausgesetzt werden. Sie beziehen sich damit entweder auf die Ausführung eines vorliegenden, also bereits bestimmten Zwecks mittels einer Handlung (Imperative der Geschicklichkeit), oder aber auf die Bestimmung des Willens durch Prinzipien einer praktischen Vernunft, welche erst die Wahl eines Zwecks ermöglichen (Imperative der Klugheit). Nun führt Kant die oben dargestellte Herleitung der hypothetischen Imperative aus einem solchen Satz zunächst nur für die Imperative der Geschicklichkeit an. Für sie gilt, dass sie in Bezug auf ein Gewolltes eine Handlung als Mittel zu dessen Umsetzung gebieten, und sie sind in diesem Sinne auf das Begehrungsvermögen nach Begriffen gerichtet, das durch die Vorstellung der Gegenstände des Wollens Ursache von der Wirklichkeit derselben zu werden vermag. Versteht man die Imperative der Geschicklichkeit als in diesem Sinn auf die Ausführung beliebiger Zwecke durch konkrete Handlungen bezogen, so ergibt sich ihre Notwendigkeit (Normativität) aus einer Forderung der Vernunft sowie in Bezug auf die ihnen je zugrunde liegende Theorie, die in die Praxis umgesetzt werden soll. Imperative der Geschicklichkeit beruhen insofern auf der Forderung der Vernunft nach Konsistenz, also Widerspruchslosigkeit. Wie G. Seel und Pollok betonen, macht Vernunft auf diese Weise ihren Einfluss auf das menschliche Handeln geltend. Im Fall der praktischen Vernunft läge der Widerspruch dann tatsächlich in der Behauptung, etwas zu wollen, aber nicht die dazu nötigen Mitteln zu ergreifen, um es in die Tat umzusetzen. In diesem Fall könnte nicht von Wollen, sondern allenfalls von Wünschen gesprochen werden. Was also besagen Imperative der Geschicklichkeit genau? Hypothetische Imperative gelten hypothetisch unter der Annahme, dass ein Zweck verwirklicht werden soll oder zumindest verwirklicht werden könnte. Kant nimmt seine Unterteilung deshalb entsprechend der unterschiedlichen Art des Gegebenseins dieses Zwecks vor, d. h. nach seiner modalen Beschaffenheit. Während Imperative der Klugheit auf einen wirklichen Zweck gerichtet sind, stellt Kant die Imperative der Geschicklichkeit als problematische Imperative vor, die sich auf die Verwirklichung beliebiger Zwecke beziehen und deren Handlungen dann durch diesen Zweck bedingt sind: Man kann sich das, was nur durch Kräfte irgend eines vernünftigen Wesens möglich ist, auch für irgend einen Willen als mögliche Absicht denken, und daher sind der Principien der Handlung, so fern diese als praktisch nothwendig vorgestellt wird, um irgend eine dadurch zu bewirkende mögliche Absicht zu erreichen, in der That unendlich viel. Alle Wissenschaften
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1 Klugheit und Geschicklichkeit
haben irgend einen praktischen Theil, der aus Aufgaben besteht, daß irgend ein Zweck für uns möglich sei, und aus Imperativen, wie er erreicht werden könne. Diese können daher überhaupt Imperativen der Geschicklichkeit heißen (GMS 4:415.6 – 14).
Auf das alltägliche menschliche Handeln übertragen bedeutet das, dass wir uns alles, was wir durch unsere eigenen Kräfte, also durch unser Tun und Handeln (in einem wie von Gerhardt vorgeschlagenen weiten Sinn) erreichen können, auch als Absicht (Zweck) unseres Handelns denken können. Da wir unendlich viele Dinge tun können, und da jede absichtliche, auf einen Zweck gerichtete Handlung einem sie anleitenden Prinzip folgt, das die Handlung praktisch notwendig macht, gibt es auch unendlich viele solcher Prinzipien, die unsere auf Zwecke ausgerichteten Handlungen anleiten. Unter der Voraussetzung, dass sich jemand eine bestimmte Aufgabe zum Ziel gesetzt hat, wie zum Beispiel „die Auflösung aller Probleme der Geometrie und Mechanik“ (KpV 5:11.11 f.), gelten für ihn die entsprechenden Regeln der Geschicklichkeit. Diese treten in Form von Imperativen auf, da das Vorhaben, eine bestimmte Aufgabe zu lösen oder einen bestimmten Zweck zu verwirklichen, beim Menschen nicht automatisch schon damit verbunden ist, dass sofort die geeigneten Maßnahmen ergriffen werden, denn der menschliche Wille ist ein unvollkommener Wille, „der nicht darum etwas thut, weil ihm vorgestellt wird, daß es zu thun gut sei.“ (GMS 4:413.17 f.) Damit gibt es nach Kant für alle Wissenschaften (als Theorie) einen praktischen Teil, der sich auf die Ausübung oder Anwendung der in der Theorie (Wissenschaft) aufgestellten Gesetze bezieht. In dem von Kant anschließend aufgeführten Beispiel eines Arztes und eines Giftmischers, die ihre „Patienten“ heilen bzw. töten wollen, ist die Medizin (Pflanzenkunde) die Wissenschaft, und ihre Aufgabe besteht darin, dass der Arzt/Giftmischer eine Absicht fassen kann, die er mithilfe ihrer (der Wissenschaft) theoretischen Gesetze erreichen kann. Diese Gesetze enthalten wiederum entsprechende Imperative (Handlungsanweisungen, Regeln), wie diese Absicht zu erreichen sei. Jede Wissenschaft enthält in sich also die Möglichkeit, ihre theoretischen Prinzipien in einer konkreten Situation anzuwenden, wenn man sich einen mit diesen Prinzipien erreichbaren Zweck zur Absicht macht (vgl. Log 9:87.13 – 16). Regeln der Geschicklichkeit sind damit die praktische Formulierung derjenigen theoretischen Prinzipien, die die Verwirklichung des Zwecks ermöglichen und machen diese dadurch zu technisch-praktischen Prinzipien. In diesem Sinn sind Regeln der Geschicklichkeit sowohl unterschieden von als auch bezogen auf solche der Klugheit, welche im Gegenzug überhaupt erst einen (empirischen) Zweck zu bestimmen haben. Und auch andersherum gilt: Regeln der Klugheit erfordern anschließend solche der Geschicklichkeit, um die Zwecke durch Handlungen umzusetzen (und in genau diesem Sinne können sie dann auch
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Regeln der Geschicklichkeit enthalten).²⁸ So heißt es in einer Anmerkung zum zweiten Lehrsatz der KpV: Principien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten aufzufinden) enthalten, alsdann sind es aber bloß theoretische Principien (z. B. wie derjenige, der gerne Brot essen möchte, sich eine Mühle auszudenken habe) (KpV 5:25.37– 26.2).
Und Kant erläutert in einer Fußnote: Sätze, welche in der Mathematik oder Naturehre p r a k t i s c h genannt werden, sollten eigentlich t e c h n i s c h heißen. Denn um die Willensbestimmung ist es diesen Lehren gar nicht zu thun; sie zeigen nur das Mannigfaltige der möglichen Handlung an, welches eine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichend ist, und sind also eben so theoretisch als alle Sätze, welche die Verknüpfung der Ursache mit einer Wirkung aussagen. Wem nun die letztere beliebt, der muß sich auch gefallen lassen, die erstere zu sein (KpV 5:26.34– 40, vgl. KpV 5:31.2– 5).
Theoretische Prinzipien sind demnach technisch in dem Sinne, dass sie sich auf eine Willensbestimmung beziehen können und dann angeben, welche Handlungen möglich sind. Sie selbst beziehen sich aber noch gar nicht auf irgendeinen Willen in dem Sinne, dass sie selbst nicht die Bedingungen angeben, unter denen der Wille zu dem möglichen Zweck bestimmt wird, d. h. der Akt der Bestimmung ist bereits vollzogen, wenn sie zum Einsatz kommen. Als technischpraktische Regeln geben sie an, welche Handlungen (als Mittel) zu ergreifen sind, um den bestimmten Zweck hervorzubringen. Das Mittel nicht zu ergreifen, würde dem Begriff des Wollens widersprechen, sodass der Betreffende entweder nicht sinnvoll davon sprechen könnte, den Gegenstand zu wollen (vielmehr wünschte er ihn nur), oder aber er müsste so konsequent sein und den Zweck fallen lassen. Praktisch in diesem weiten, technisch-praktischen Sinn ist somit alles,was sich auf einen Willen bezieht, der Absichten verfolgen und durch seine Handlungen konkrete Erfolge erzielen kann.²⁹ Der damit verbundene Begriff der Praxis ist dementsprechend der oben zuerst genannte: die Anwendung theoretischer Prinzipien auf Handlungen. Die Verschiebung dieser technisch-praktischen Sätze in die theoretische Philosophie,von der in Kapitel 2.1.1 die Rede sein wird, ist somit bereits hier angelegt. Offen bleiben muss hingegen, auf welche Weise ein solch „beliebiger“ Zweck bestimmt wird, bzw. aus welchen Gründen er begehrt und vernünftigerweise
In diesem Sinne vgl. z. B. Fischer 2003, 88 und Schwartz 2008, 384. Vgl. zu diesem grundsätzlichen Sinn von „praktisch“ Torralba 2009, 34 f.
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verfolgt werden sollte. Imperative oder Regeln der Geschicklichkeit geben darüber keine Auskunft. Vielmehr ist der Wert (oder Inhalt) des den Imperativen der Geschicklichkeit zugrundeliegenden Zwecks für diesen ganz gleichgültig, es kommt nur auf die technisch korrekte Anwendung des (Ursache-Wirkungs‐) Prinzips qua Vorstellung an: Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur was man thun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu tödten, sind in sofern von gleichem Werth, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken (GMS 4:415.14– 19).
Es darf daher mit gutem Recht gefragt werden: Wie kommen hypothetische Imperative zu ihrer Hypothese? ³⁰
1.2.2 Ratschläge der Klugheit Im Unterschied zu Regeln und Imperativen der Geschicklichkeit beziehen sich Ratschläge der Klugheit³¹ nicht auf alle möglichen und beliebigen Zwecke, die der Mensch verwirklichen kann. Vielmehr beziehen sie sich auf solche Handlungen, die einen ganz bestimmten, allen Menschen wirklich vorgegebenen Zweck verfolgen, nämlich die „Absicht auf Glückseligkeit“ (GMS 4:415.33). Kant nennt diese Imperative daher „assertorisch=praktisch“ (GMS 4:415.1) und „pragmatisch (zur Wohlfahrt [gehörig]“) (GMS 4:417.1). Die Bezeichnung „assertorisch“ wird wie-
Bojanowski betont, der Ausdruck „hypothetische Imperative“ sei „die Kurzform von ’hypothetisch-gebietende Imperative’.“ (Bojanowski 2006, 39 mit Verweis auf Ludwig 1999, 106 f.) Er erläutert: „Was hier vorausgesetzt wird, ist ein bestimmter Wille. Das Gebot, das dieser Imperativ ausspricht, ist nur unter der Voraussetzung (Hypothese) eines bestimmten Willens eine gültige Handlungsvorschrift, d. h. nur unter dieser Voraussetzung überhaupt geboten.“ (Bojanowski 2006, 39) Sie sind insofern unproblematisch, da sie Handlungsanweisungen geben, „wie wir die von uns selbst gewollten Zwecke erfolgreich verwirklichen.“ (Bojanowski 2006, 211) Insbesondere vor dem Hintergrund dieser letzten Aussage sollten wir uns darin bestärkt fühlen, nach der Bestimmung dieses Willens zu fragen,welche „von uns selbst gewollte Zwecke“ so selbstverständlich voraussetzen. Hinske weist darauf hin, dass die Termini „Rathschläge“ und „Anrathungen“ bei Kant in GMS und KpV erstmals auftauchen, es sich also offensichtlich um relativ neue Begriffe handle (vgl. Hinske 1989, 140).
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derum mit Bezug auf seine theoretische Urteilslehre verständlich, da eine wirkliche Absicht zugrunde gelegt wird:³² Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem endlichen Dasein ist […] ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem […] (KpV 5:25.12– 17).
Nun unterscheidet sich dieser zugrunde gelegte Zweck nicht nur dadurch, dass er wirklich bei allen Menschen vorhanden ist, sondern auch dadurch, dass er gänzlich unbestimmt bleiben muss. Damit sind jedoch zwei Merkmale gegeben, die beide zusammen die normative Gültigkeit der Imperative der Klugheit in Frage stellen: erstens die natürliche Gegebenheit des Zwecks selbst und zweitens die Unbestimmtheit des Glücksbegriffs sowie des dazu gehörenden Wissens. Mit anderen Worten: Der Zweck der Glückseligkeit ist dem Menschen qua seiner Natur mitgegeben, ihn verfolgt er immer schon natürlicherweise. Damit aber scheint der Zweck bereits bestimmt zu sein, da er als bei allen Menschen vorhanden vorausgesetzt werden muss, und „Imperative“ der Klugheit hätten „nur noch“ die zu seiner Erreichung nötigen Mittel aufzufinden. Nimmt man die natürliche Gegebenheit des Zwecks „Glückseligkeit“ hin, so erscheint es also zunächst plausibel, Klugheit als die Geschicklichkeit in der Wahl der richtigen Mittel zu diesem Zweck und damit als Weltklugheit (näher durch Kant definiert als die Kunst im Umgang mit anderen Menschen angesichts der eigenen Absichten, vgl. Kapitel 2.2) aufzufassen. Es ergibt sich aus dieser Annahme jedoch erstens die Frage, wie ein Zweck, den jeder Mensch notwendig durch seine Natur schon hat, zusätzlich noch geboten werden können sollte. Und zweitens kollidiert dieses Verständnis mit Kants Verständnis eines Zwecks, insofern dieser etwas vorstellt, das sich der Mensch nur selbst machen, das er jedoch nicht aufgezwungen bekommen, den er folglich auch nicht einfach nur haben kann:³³ Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber e i n e n Z w e c k z u h a b e n von anderen gezwungen werden, sondern ich kann nur selbst m i r etwas zum Zweck m a c h e n (MdS 6:381.6 – 9).
Schwaiger weist darauf hin, dass Kant, noch vor der Anbindung der Klugheit an den ihr eigenen, besonderen Zweck der Glückseligkeit, in den achtziger Jahren zwischen Geschicklichkeit und Klugheit unterscheide, indem er die erste als auf Sachen, die zweite als auf den Menschen gerichtet auffasse (vgl. Schwaiger 2002, 155, siehe auch Hinske 1980, 112). Auf dieses Problem ist bereits verschiedentlich hingewiesen worden, so z. B. von Kain 2001, 242– 246, Korsgaard 1998, 57 f. und Johnson 2002.
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Nun könnte es sich zum einen bei dem gebotenen Zweck der Glückseligkeit um ein Gebot der Vernunft handeln (wie ein Imperativ es eigentlich erfordert, siehe den „Sofern-Einschub“). Was aber gebietet Vernunft damit genau? Die eigene Glückseligkeit zu verfolgen? Das ist ja bereits durch die Natur gegeben. Zwar scheint Kant z. B. im Rahmen der unvollkommenen Pflicht des Menschen gegen sich selbst „in Entwickelung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit, d.i. in pragmatischer Absicht“ (MdS 6:444.14– 16) darauf hinzuweisen. Jedoch meint er damit explizit nicht, die eigene Glückseligkeit zu verfolgen, sondern höchstens, die eigenen Fertigkeiten zu Erlangung auch der Glückseligkeit zu entwickeln.Von einem hypothetischen Imperativ der Klugheit kann in diesem Sinne nicht die Rede sein. Wike führt daher zu Recht an, dass Glückseligkeit für Kant lediglich den Status einer indirekten Pflicht einnehmen könne, insofern dadurch andere, moralische Zwecke befördert würden (so z. B. in GMS 4:399.3 – 7 und 23 – 26 sowie in ähnlichem Wortlaut in MdS 6:388.17– 30). Kant betont, es sei durchaus sinnvoll, „Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel“ als „große Versuchungen zu Übertretung seiner Pflicht“ zu bekämpfen, allerdings bestünde die entsprechende Pflicht dann gerade nicht in der Verfolgung der eigenen Glückseligkeit, sondern diese sei nur indirekt gegeben, als Abwehr der „Versuchung zu Lastern“ (vgl.Wike 1994, 86 und 89 ff. sowie Kain 2001, 244 ff. und 2003, 248 ff. und KpV 5:93.15 – 19). In allen diesen Fällen ist die indirekte Pflicht, seine Glückseligkeit zu befördern, lediglich Mittel zu anderen Zwecken. Genau genommen spricht Kant davon, einem „nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit“ im Namen der Vernunft nachzukommen und sich (auch) um die eigene Glückseligkeit, das eigene Wohlergehen zu kümmern (vgl. KpV 5:61.24– 29).³⁴ Diese Forderung entspricht gewissermaßen der „gemeinsamen Wurzel aller Imperative“ (Pollok), der Vernunft entscheidenden Einfluss zu gestatten, es bleibt jedoch unklar, woher genau sie kommt. Abgesehen von diesem Problem könnte man diese Forderung auch im Sinne eines einzigen Hypothetischen Imperativs auffassen, zu einem einmal bestimmten Zweck die notwendigen Mittel aufzusuchen. Diese Lesart legt Kain nahe. Er sieht das „Gebot der Vernunft“ angesichts der Glückseligkeit darin begründet, dass der Mensch nun einmal diesen Zweck habe, und dass es daher auch vernünftig sei, die entsprechenden Mittel zur Erreichung dieses Zwecks zu ergreifen, d. h. die dazu gehörenden Zwecke zu bestimmen (Kain 2001, 244). Ähnlich spricht auch Höwing von einer „rationale[n] Interpretation der eigenen Bedürftigkeit“ (Höwing 2013a, 185). Geboten wird somit nicht, einen Zweck zu verfolgen, sondern diesen, als Folge der Forderung nach Konsistenz, mithilfe der Vernunft näher zu bestimmen.
Ich komme weiter unten noch einmal auf diese Stelle und ihre Bedeutung für unseren Zusammenhang zurück, vgl. Kapitel 4.4.1).
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Es macht sich hier die Besonderheit des assertorischen Zwecks der Glückseligkeit bemerkbar, denn seine grundsätzliche Unbestimmtheit führt dazu, dass man zwar von der genannten Konsistenzforderung der Vernunft (dem Hypothetischen Imperativ), nicht aber von hypothetischen Imperativen der Klugheit im Plural sprechen kann. Kant stellt fest, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser [der Glückseligkeit, C.G.] zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle (GMS 4:418.2– 4).
Dies sei so, weil „alle Elemente“ der Glückseligkeit aus der Erfahrung stammen, man also nur durch Erfahrung lernen kann, was einen glücklich macht und dies nicht bestimmt, „nach irgend einem Grundsatze mit völliger Gewissheit“ schon im Voraus weiß. Der Zweck selbst kann nur durch Erfahrung erworben oder herausgebildet, nicht aber a priori durch Vernunft eingesehen werden. Damit geht die Tatsache einher, dass die auch pragmatisch genannten Imperative der Klugheit auf kein a priori erkennbares Wissen zurückgreifen können.³⁵ Auch wenn es auf den ersten Blick so aussieht, können sie also keinesfalls wie andere hypothetische Imperative behandelt werden, kann Glückseligkeit eben nicht als ein beliebiger Zweck aufgefasst werden. In Bezug auf Klugheit als Mittelfindung zum assertorischen Zweck der Glückseligkeit scheidet damit das Kriterium, das zur Rechtfertigung der Normativität der Imperative der Geschicklichkeit angeführt wurde – die Voraussetzung eines objektiv durch Vernunft einsehbaren Wissens – gleich in doppelter Hinsicht aus: nämlich sowohl in Bezug auf die Zweck- als auch auf die Mittelbestimmung. Kant schließt konsequenterweise: Man kann also nicht nach bestimmten Principien handeln, um glücklich zu sein, sondern nur nach empirischen Rathschlägen, z. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung u.s.w., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern. Hieraus folgt, daß die Imperativen der Klugheit, genau zu reden, gar nicht gebieten, d.i. Handlungen objectiv als praktisch=n o t h w e n d i g darstellen können, daß sie eher für Anrathungen (consilia) als Gebote (praecepta) der Vernunft zu halten sind, daß die Aufgabe: sicher und allgemein zu bestimmen, welche Handlung die Glückseligkeit eines vernünftigen Wesens befördern werde, völlig unauflöslich, mithin kein Imperativ in
Höffe bezeichnet diese Kantische Kritik des Glücksbegriffs als „wissenschaftstheoretischen Einwand“ (vgl. Höffe 2006, 301). Ihm zufolge ist für Aristoteles, nicht aber für Kant, der Begriff des Glücks ganz und gar bestimmt. Und dennoch kennzeichnet Höffe auch den aristotelischen Glücksbegriff als mit einem Rest von Unbestimmtheit behaftet: „Deshalb ist der Glücksbegriff, obwohl wohlbestimmt, nur ein Grundriss- bzw. typô(i)-Begriff.“ (Höffe 2006, 303) In welchem Sinne dies durchaus auch auf Kant zutrifft, wird sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen.
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Ansehung derselben möglich sei, der im strengsten Verstande geböte, das zu thun, was glücklich macht […] (GMS 4:418.24– 35, kursiv C.G.).
In diesem Sinne betont Kant auch in KpV, subjektive praktische Prinzipien seien selbst unter der Voraussetzung, dass ihr Zweck für jeden der gleiche sei (also dass Glückseligkeit für jeden das gleiche bedeute) nicht objektiv (und damit auch keiner Nötigung – sprich: keines Imperatives) fähig, da sie sich ja immer noch auf jedes einzelne Subjekt beziehen würden. Der für alle gleiche Zweck wäre trotzdem nicht für alle derselbe, weil er jedem einzelnen Subjekt zugrunde gelegt werden müsste, anstatt dass er für alle Subjekte im allgemeinen und notwendig gelten könnte: Denn der Wille Aller hat alsdann nicht ein und dasselbe Object, sondern ein jeder hat das seinige (sein eigenes Wohlbefinden), welches sich zwar zufälligerweise auch mit anderer ihren Absichten, die sie gleichfalls auf sich selbst richten, vertragen kann, aber lange nicht zum Gesetze hinreichend ist, weil die Ausnahmen, die man gelegentlich zu machen befugt ist, endlos sind und gar nicht bestimmt in eine allgemeine Regel befaßt werden können (KpV 5:28.12– 17).
Es gibt also gar keine Imperative der Klugheit, sondern nur entsprechende Ratschläge: Denn nur das G e s e t z führt den Begriff einer u n b e d i n g t e n und zwar objectiven und mithin allgemein gültigen N o t h w e n d i g k e i t bei sich, und Gebote sind Gesetze, denen gehorcht, d.i. auch wider Neigung Folge geleistet, werden muß. Die R a t h g e b u n g enthält zwar Nothwendigkeit, die aber bloß unter subjectiver zufälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes zu seiner Glückseligkeit zähle, gelten kann […] (GMS 4:416.20 – 26).
Auch in Bezug auf die kommenden Ausführungen ist zu betonen, dass Ratschläge der Klugheit nur so aussehen, als drücke sich in ihnen eine normative Forderung aus.Tatsächlich geben sie zunächst lediglich an, wie ein Subjekt handelt, nicht wie es nach irgendeiner Norm handeln soll, denn was ihnen zugrunde liegt, ist etwas, das ihm durch seine Natur aufgegeben ist: das Streben nach Glückseligkeit. In diesem Sinn heißt es auch im Gemeinspruch 8:288.18 – 20: Denn Vo r s c h r i f t e n , wie man sich glücklich machen, wenigstens seinen Nachtheil verhüten könne, sind keine G e b o t e . Sie binden niemanden schlechterdings
und machen bei Nichtbefolgung nicht verwerflich oder strafbar. Die Übel, die aus einer solchen „falschen“ Handlung folgen, sind nicht als Strafen anzusehen,
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denn sie treffen nur den freien, aber gesetzwidrigen Willen; Natur aber und Neigung können der Freiheit nicht Gesetze geben (Gemeinspruch 8:288.24– 26).³⁶
Im Unterschied dazu habe die praktische Philosophie zum Gegenstand, was geschehen soll, nicht aber die Gründe dessen, was geschieht (vgl. GMS 4:427.1 ff.). Schwartz verweist daher ganz richtig auf eine in der Tradition der Antike bis hin zu Wolff und Baumgarten vertretene „eudämonistische Klugheitslehre“, von der sich Kant (ich ergänze: in Bezug auf seine Ethik) absetzen wolle (Schwartz 2008, 382). Wer einen bestimmten, der Glückseligkeit dienenden Zweck dann nicht verfolgen will, brauche ihn nur nicht zu seiner eigenen Glückseligkeit zu zählen und könne ihn wieder fallen lassen (Schwartz 2008, 383), was wiederum die normative Kraft des Imperativs mindert.³⁷ Die von Kant selbst in Anschlag gebrachte Schlussfolgerung für die Ratschläge der Klugheit wird jedoch in der Forschung meines Erachtens insgesamt weder ernst genug genommen noch in ihrer Tragweite erkannt. G. Seel hält sie gar für überraschend und „es für unmöglich, auf dieser Basis der Texte in diesem Punkt eine konsistente Lehrmeinung zu etablieren.“ (G. Seel 1989, 157.) Murphy schließt gar, Klugheit sei für Kant nicht nur amoralisch, sondern vor allem auch ohne Prinzipien („unprincipled“), denn ohne eine klare Vorstellung davon, was Glückseligkeit ausmacht, sei kein vernünftiges Handeln möglich (Murphy 2001, 265 und 271 ff.).³⁸ Anders sehen dies z. B. Sullivan 1989, 35 ff. und Wood 1999, 68.
Nakhnikian erkennt die darin begründete Schwierigkeit der Klugheitsimperative und sieht, dass sie keine Forderungen der Vernunft sind, insofern der Begriff der Glückseligkeit unbestimmt sei (Nakhnikian 1992, 46). Glückseligkeit könne damit kein technischer Zweck („technical end“: Nakhnikian 1992, 47) sein. Im Gegensatz zu technischen Imperativen verfügten Imperative der Klugheit über gar keine Notwendigkeit. Nakhnikian meint allerdings, Kant irre sich: Es könne durchaus Imperative der Klugheit geben, da man sehr wohl notwendige Bedingungen a priori ausfindig machen könne, um Glückseligkeit effizient zu verfolgen (Nakhnikian 1992, 47), wie z. B. die Notwendigkeit, überhaupt Fähigkeiten zu erwerben („acquiring skills“: Nakhnikian 1992, 48). Er übersieht, dass eine solche Forderung für Kant zu den moralischen Pflichten gehört, die er in MdS vorstellt (mehr dazu in Kapitel 7). In meinem Sinne auch: Aubenque 2007, 198. Auf diese Implikation der „escapability“ hypothetischer Imperative weist Kain hin (vgl. Kain 1999, 50). Vgl. auch Ludwig 1999, 121 sowie dazu Esser 2004, 237, Fn. 22. Basierend auf einem „product of blind fortune“ (Murphy 2001, 272) könne „prudential reason“ keine „reliable standards for us to judge our own happiness“ erstellen, „we seek the next best thing: to reassure ourselves that we are at least happier than others.“ (Murphy 2001, 273) Einziges Kriterium sei daher der Vergleich mit anderen. Wie der jedoch aussehen sollte, wenn auch von anderen nicht bekannt werden kann, auf welche Weise sie glücklich sind oder werden können, ist nicht recht einzusehen und ebenso wenig, wie überhaupt von „prudential reason“ gesprochen werden kann, welche Murphy zufolge dennoch in der Lage sein soll, „to show us a way to satisfy them [die Neigungen, C.G.] selectively“ (Murphy 2001, 272).
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Hinske bemerkt mit Bezug auf die Ratschläge der Klugheit: „[D]ie sachliche Rechtfertigung aber folgt nicht der Hauptschiene der Argumentation.“ (Hinske 1989, 144) Zumeist wird jedoch versucht, die normative Gültigkeit auch der pragmatischen Imperative im Rückgriff auf Kants Ausführungen zu begründen. So sieht beispielsweise Höffe in den drei Arten von Imperativen drei Stufen der Verwirklichung von praktischer Vernunft (vgl. z. B. Höffe 2001, 55 und 2012, 138 f.; ähnlich Pollok 2007, wie bereits dargelegt). An Höffes Ausführungen wird jedoch deutlich, dass (anders als für die Imperative der Geschicklichkeit) vollkommen offen bleiben muss, wie genau sich der Anteil der Vernunft an den pragmatischen „Imperativen“ und damit ihre nötigende Kraft ausdrückt. Und auch Wood muss im Rahmen seiner Untersuchung der drei Formen praktischer Rationalität letztlich zugestehen, dass Kants Konzept der Klugheit keine kohärente Rechtfertigung ihrer Vernünftigkeit zulässt. Er kommt zu dem Schluss: Kant’s account of prudential reason seems conspicuously confused, and the confusions, occasioned by his haste to aline it with instrumental reason under the heading of a hypothetical imperative, lead him to distort the nature of prudential reason (Wood 2013, 76).³⁹
Hier zeigt sich, wie in der Einleitung bereits beschrieben, dass Kant diese Form der praktischen Vernunft durchaus als ernst zu nehmende Konkurrenz zur reinen praktischen Vernunft sieht, welche ihm zufolge doch allein der Moral fähig sein soll. Und zugleich zeigt das Zitat, weshalb Geschicklichkeit, obgleich ebenfalls empirisch bedingt, hierbei keine Schwierigkeiten bereitet und ihre Normativität somit auch problemlos dargestellt werden kann. Denn hier geht es nicht um das der reinen praktischen Vernunft ureigene Feld der Willensbestimmung, sondern, wie gezeigt, lediglich um Fragen der Ausführung bereits anderweitig bestimmter Zwecke. Das Praktische im eigentlichen, willensbestimmenden Sinn wird von Geschicklichkeit nicht berührt. Kants eigene Darstellung der drei Imperativformen und sein Schlussstatement zu den hypothetischen Imperativen der Klugheit haben nun bislang eher dazu geführt, dass dabei der Konjunktiv überlesen wurde: Dieser Imperativ der Klugheit würde indessen, wenn man annimmt, die Mittel zur Glückseligkeit ließen sich sicher angeben, ein analytisch=praktischer Satz sein; denn er ist vom
Wood führt die Verwirrung auf drei verschiedene Ansätze in der Deutung der Glückseligkeit zurück, die er „actuality claim“, „totality claim“ und „indeterminacy claim“ nennt (Wood 2013, 69 f.). Aus letzterem folge, dass es eigentlich keine Imperative der Klugheit geben könne, und dennoch scheine Kant mit dem ersten Ansatz zu beginnen, dass Glückseligkeit ein wirklicher Zweck der Menschen sei. Die vorliegende Arbeit versucht, alle drei Ansätze zu vereinigen.
1.2 Hypothetische Imperative
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Imperativ der Geschicklichkeit nur darin unterschieden, daß bei diesem der Zweck bloß möglich, bei jenem aber gegeben ist; da beide aber bloß die Mittel zu demjenigen gebieten, von dem man voraussetzt, daß man es als Zweck wollte: so ist der Imperativ, der das Wollen der Mittel für den, der den Zweck will, gebietet, in beiden Fällen analytisch (GMS 4:419.3 – 10, kursiv C.G.).
Mit anderen Worten:Vorausgesetzt, es gäbe eine Theorie des Menschen und seiner Glückseligkeit, so könnte man auch alle zur Glückseligkeit nötigen Mittel angeben, und die Aufforderung, diese zu ergreifen, wäre ebenso imperativisch und analytisch wie die auf alle beliebigen Zwecke bezogenen Imperative. Kant schließt in seiner unnachahmlich lapidaren Art, die Möglichkeit eines solchen Imperativs sei unter dieser Voraussetzung denn „auch keine Schwierigkeit“ (GMS 4:419.3 – 11). Auch sie stellen „die praktische Notwendigkeit der Handlung als Mittel zur Beförderung der Glückseligkeit vor“ (GMS 4:415.34 f.). Hier liegt, wie bereits angedeutet, eine Gemeinsamkeit der „Imperative“ der Klugheit mit denen der Moral: Beide sind synthetische Sätze – die der Moral sind synthetische Sätze a priori, die der Klugheit synthetische Sätze a posteriori. Denn auch sie leiten sich keineswegs analytisch aus dem Begriff des Wollens ab, da sich die durch den Imperativ zu benennenden Mittel gerade nicht aus dem Wollen des Zwecks „Glückseligkeit“ ergeben, insofern dieses Wollen zutiefst unbestimmt ist. Das Synthetische bezieht sich dabei im Fall des kategorischen Imperativs auf die Diskrepanz zwischen tatsächlichem und a priori gebotenem Wollen, im Fall des „Imperativs“ der Klugheit auf die Diskrepanz zwischen tatsächlichem Wollen und daraufhin „gebotenem“, empirisch bedingtem Wollen. Y. Lee weist in diesem Sinn darauf hin, sowohl kategorische als auch pragmatische Imperative träten bisweilen in der gleichen Gestalt auf. Denn insofern der Nebensatz des hypothetischen Imperativs der Klugheit laute „wenn du glücklich werden willst“, dies aber zugleich als für jeden gültig vorgestellt würde, seien wie auch für die kategorischen Imperative nicht selten „allein die Hauptsätze gegeben“ (Y. Lee 2011, 112, Fn. 25). Genau genommen kann Kant also lediglich zwei Arten von Imperativen nachweisen: Imperative der Geschicklichkeit und Imperative der Moral, die beide in objektiven Prinzipien der Vernunft gründen. Die ersten, insofern sie ein „Ensemble“ von Prinzipien vorstellen, das Aufschluss gibt über die Kausalverhältnisse in der Natur. Das (theoretische) Wissen um diese ermöglicht ein technisches Verständnis der Theorie, die sich durch Bezug auf den Willen anwenden lässt und dadurch (technisch‐) praktisch werden kann. Insofern beziehen sich Regeln der Geschicklichkeit auf objektive Prinzipien, die durch Vernunft erkennbar sind, und der Wille (das Subjekt) kann durch hypothetische Imperative zu ihrer Anwendung aufgefordert werden (vgl. Bubner 1982, 143). Die zweiten gründen bekannterweise
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in dem a priori gebietenden und durch Vernunft unmittelbar einsehbaren Moralgesetz. Es ergibt sich nun die Möglichkeit, sich einen bereits natürlicherweise gegebenen Zweck zugleich selbst zu setzen. Mit Kain kann man unterscheiden zwischen dem von der Sinnlichkeit aufgegebenen, aber unbestimmten Zweck, der Absicht auf Glückseligkeit und der damit verbundenen Konkretisierung der Zwecke, die durch Einbildungskraft und Verstand zu erfolgen habe. Auf diese Weise könne durchaus davon gesprochen werden, dass sich der Mensch seine empirischen Zwecke unter dem Titel der Glückseligkeit selber macht (vgl. Kain 1999, 83 – 87 sowie Kain 2001, 244– 246). In diesem Fall liegt der Ursprung der Ratschläge der Klugheit dann eben nicht in der Vernunft, sondern in der Sinnlichkeit.⁴⁰ Der Wille wird durch Zwecke bestimmt, die der Mensch sich selbst setzt, allerdings unter dem Prinzip der Glückseligkeit, nicht unter einem Prinzip der Vernunft. Kant stellt Glückseligkeit in diesem Sinne als den obersten Zweck vor, in den alle anderen vereinigt werden müssten (vgl. KrV A 800/B 828). Diese Interpretation lässt jedoch wiederum offen, welchen Anteil Vernunft an der empirischen Willensbestimmung hat und haben kann, sofern der Ursprung der Ratschläge der Klugheit gerade nicht in der Vernunft, sondern in der Sinnlichkeit liegt. Es ist, mit anderen Worten, noch immer nicht zu sehen, inwieweit es überhaupt empirisch-praktische Vernunft geben könnte. Timmermann leugnet daher auch jegliche empirisch bedingte praktische Vernunfttätigkeit bei Kant. Einzig die Bestimmung moralischer Zwecke sei Sache der Vernunft, empirisch-praktische Vernunft sei strikt instrumentell, denn Glückseligkeit bleibe in der Natur und mit der Sinnlichkeit eng verbunden: Freedom requires laws of reason; but there is no imperative addressed to the choice of nonmoral ends. There are no non-moral standards in the light of which we could revise them. […] There is no room for positive freely chosen ends other than moral ends in Kantian psychology (Timmermann 2006, 82).
Selbst im Rahmen der moralischen Willensbestimmung gilt: [T]here is no suggestion that satisfying our inclinations is a particularly valuable thing. Reason’s role is instrumental (Timmermann 2006, 84).
So auch Cramer 1974, 181 ff.
1.3 Praktische Grundsätze, Prinzipien und Maximen in KpV
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Und an anderer Stelle formuliert er: „Kantian ‚rational nature‘ is not a capacity.“ (Timmermann 2008, 428)⁴¹ Kain dagegen sieht die Aufgabe der (empirisch‐) praktischen Vernunft als Klugheit im Harmonisieren und Systematisieren der Neigungen (vgl. Kain 2001, 244). Und tatsächlich verweist bereits die Erwähnung des Prinzips der Glückseligkeit auf einen Akt der Vernunft, insofern Kant sie als das Vermögen der Prinzipien bezeichnet. Bloße Sinnlichkeit ist zur Prinzipienbildung nicht fähig.⁴²
1.3 Praktische Grundsätze, Prinzipien und Maximen in KpV Um den von Timmermann vorgebrachten Einwänden zu begegnen, soll zunächst der Blick auf Kants Definitionen von subjektiven Prinzipien in KpV gerichtet werden, um besser zu verstehen, wie Ratschläge der Klugheit zustande kommen können, die, auch wenn sie keine Imperative sind, das Handeln nach Regeln der Geschicklichkeit durch Angabe der erforderlichen Hypothese orientieren. Wir wenden uns daher zunächst den Grundbegriffen der KpV, den Grundsätzen, Prinzipien, praktischen Vorschriften und Regeln zu, insofern sie zu den subjektiven Bestimmungen des Willens gehören, und zu deren Gunsten Kant die Lehre von den hypothetischen Imperativen weitestgehend aufgibt (1.3.1). Das führt uns zu der abschließend zu diskutierenden These, dass Ratschläge der Klugheit letztlich nichts anderes als Maximen sind (1.3.2).
Timmermann begegnet damit insbesondere Korgaards These, die er als die Standard-Lesart von Kants Werttheorie im angelsächsischen Raum bezeichnet: „we confer value on to the objects of our rational choices; and in this we conceive of ourselves as possessing a special status as endsinourselves. ’To choose something is to take it to be worth pursuing; and when we choose things because they are important to us we are in effect taking ourselves to be important.’ Humanity or rational nature is therefore declared the source of the value of the objects of choice.“ (Timmermann 2006, 70, er zitiert Korsgaard 1996, IX). Argumente gegen diese Lesart bringt auch Ginsborg vor. Sie verweist auf eine „Freiheit der Urteilskraft“, welche die „freie Wahl“ nicht-moralischer Zwecke bestimme, insofern ihnen ein unbestimmter, durch Urteilskraft zu bestimmender Begriff zugrunde liege (Ginsborg 1998, 20 f.). In diesem Sinn argumentiert auch die vorliegende Arbeit, ohne jedoch so weit gehen zu wollen, dem damit verbundenen Akt des Urteilens eine eigene Art von Freiheit zuzusprechen (vgl. Kapitel 3 – 5). Vgl. KpV 5:60.16 – 19: „wie er [der Wille, C.G.] denn durch das Object und dessen Vorstellung niemals unmittelbar bestimmt wird, sondern ein Vermögen ist, sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung (dadurch ein Object wirklich werden kann) zu machen.“ Ähnlich schätzt Höffe die Sachlage ein (vgl. z. B. Höffe 2005, 305).
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1.3.1 Praktische Prinzipien und Grundsätze Angesichts der massiven Schwierigkeiten, denen Kants Lehre von den hypothetischen Imperativen ausgesetzt ist, scheint es nicht verwunderlich, dass er sie in KpV weitestgehend wieder hat fallenlassen.⁴³ Unterstreicht Kant in der Grundlegung unterschiedliche Grade der Nötigung der Imperative, so legt er in KpV den Akzent auf die unterschiedlichen Prinzipien, welche Handlungen zugrunde liegen können, mit dem Ziel zu zeigen, dass nur das Moralgesetz, das Prinzip der Sittlichkeit, unbedingt gelten könne. Im Vergleich zur Grundlegung fällt auf, dass hier nicht mehr von einer Dreiteilung zwischen Geschicklichkeit, Klugheit und Sittlichkeit die Rede ist, sondern dass vielmehr dem Prinzip der Sittlichkeit das Prinzip der Glückseligkeit gegenübergestellt wird, deren Vorschriften wiederum Regeln der Geschicklichkeit enthalten können (z. B. KpV 5:25 f., vgl. Kapitel 1.2.1).⁴⁴ Nun besagen der erste und der zweite Lehrsatz der KpV: L e h r s a t z I . Alle praktische Principien, die ein O b j e c t (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund des Willens voraussetzen, sind insgesammt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben (KpV 5:21.14– 16). L e h r s a t z I I . Alle materiale praktische Principien sind, als solche, insgesammt von einer und derselben Art und gehören unter das allgemeine Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit (KpV 5:22.6 – 8).
Demzufolge müssten mit den „materialen praktischen Principien“ Ratschläge der Klugheit gemeint sein, da diese sich auf Glückseligkeit beziehen. Zudem scheint es daneben keine weiteren Prinzipien des Handelns zu geben, sodass alle empirisch bedingten Handlungen als zur Klugheit bzw. zum ihr zugrunde liegenden Prinzip der Glückseligkeit gerechnet werden müssen. Klugheit umfasst somit zunächst den ganzen Bereich der empirisch-praktischen Vernunft. Sie und das ihr zugrunde liegende Prinzip der Glückseligkeit sind das orientierende Moment der empirischpraktischen Vernunft. Es stellt sich damit zum einen die Frage, wie diese „ma-
Bittner folgert gar, dass aufgrund der Unverständlichkeit des inhaltlichen Kriteriums der Unterscheidung zwischen den hypothetischen Imperativen und dem kategorischem Imperativ auch seine auf dieser Lehre basierende Ethik unverständlich bleiben müsse: „man weiß nicht, wovon unter diesen Bedingungen die Rede ist.“ (Bittner 1980, 225) Zumindest was die hypothetischen Imperative angeht, ist dem ausdrücklich zuzustimmen. Auch Brandt meint, in KpV werde „nicht mehr von hypothetischen Imperativen der Klugheit gesprochen, deren ’du sollst’ Freiheit voraussetzt, sondern bescheidener von ’Maximen der Klugheit’“ (Brandt 2004, 374). Zu Kants Aufgabe der Dreiteilung (Geschicklichkeit, Klugheit, Sittlichkeit) innerhalb der praktischen Philosophie zugunsten einer Zweiteilung (Geschicklichkeit und Moral) vgl. Schwaiger 1999, 172 ff.
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terialen praktischen Prinzipien“ gebildet werden, d. h. welcher Prozess der Willensbildung der durch sie möglichen Zweckbestimmung zugrunde liegt (vgl. Kapitel 3). Und zum anderen ist nicht sogleich ersichtlich, wie sie zu dem als allgemein vorgestellten Prinzip der Glückseligkeit stehen, genauer: was an diesem als allgemein angesehen werden kann. Kant definiert das Prinzip der Selbstliebe als Prinzip, sich die Glückseligkeit „zum höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu machen“ (KpV 5:22.20). Alle sonstigen materialen praktischen Prinzipien setzen den Bestimmungsgrund der Willkür in der Lust oder Unlust, sofern sie aus eines Gegenstandes Wirkung zu erwarten ist und sind dem Prinzip der Glückseligkeit untergeordnet. Das Prinzip der Selbstliebe wäre damit insofern allgemein, als es die Bestimmung der Willkür durch Glückseligkeit als höchsten Bestimmungsgrund „vorschreibt“, es bestimmt Glückseligkeit als Zweck, sodass alle weiteren Bestimmungen unter materialen Prinzipien nur noch auf die Wahl der richtigen Mittel zu diesem Zweck abzielen. Diese Lesart wird gestützt durch Kants Definition der „Materie des Begehrungsvermögens“ als „Gegenstand, dessen Wirklichkeit begehrt wird.“ (KpV 5:21.17 f.) Die Materie des Begehrungsvermögens wäre also nichts anderes als der Zweck, der verwirklicht werden soll, und für diese Verwirklichung ist wiederum Geschicklichkeit zuständig. Damit hätte Kant die in GMS entworfene Aufteilung von Zweckbestimmung und Mittelwahl beibehalten: Das Prinzip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit bestimmt Glückseligkeit als höchsten Zweck (Bestimmungsgrund der Willkür), die materialen praktischen Prinzipien geben an, durch welche weiteren Zwecke (insofern also: Mittel) dieser Zweck verwirklicht werden soll. Nach dem Vorangegangenen kann genau dies aber nicht gemeint sein, denn dann hätten solche Vorschriften nicht bloß subjektiven Charakter, sondern könnten problemlos als objektive Imperative vorgestellt werden. Um zu verstehen, wie Kant sich die „Organisation“ der empirisch-praktischen Vernunft denkt, gilt es daher herauszufinden, wie genau unter dem Prinzip der Selbstliebe und unter Rückgriff auf Glückseligkeit solche materialen Prinzipien überhaupt zu ermitteln sind. Reath zufolge dient das Prinzip der Glückseligkeit in seiner Funktion als allgemeines Prinzip als Kriterium dafür,was als Grund für ein bestimmtes Handeln gelten und d. h.: welcher Wert bestimmten Zwecken beigemessen werden kann (vgl. Reath 2006, 45). Er versteht Kants Lehrsatz II deshalb nicht so, dass alle Handlungen unter dem Prinzip der Glückseligkeit von derselben Art seien. Vielmehr beruhten sie auf Entscheidungen, denen eine gemeinsame Struktur zugrunde liegt, insofern sie diesem Prinzip zufolge getroffen werden (Reath 2006, 47 f.). Das allgemeine Prinzip der Glückseligkeit lasse sich, so Reath, auf dreifache Weise charakterisieren: Es sei i) ein allgemeines Handlungsprinzip, das besagt, dass die Handlungen eines Subjekts sich an dem größtmöglichen Zustand der Zufrieden-
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heit ausrichten sollen, ii) ein Kriterium der Bewertung, das es erlaubt, Handlungen und Zwecke zu bewerten und damit Prioritäten zu setzen im Rahmen ihrer Konsistenz mit anderen Begehrungen und Zielen, und das damit zur allgemeinen Zufriedenheit beitrage. Und es bestimme iii), was jemand unter der größtmöglichen Zufriedenheit verstehe. Reath fasst zusammen: „it is a principle of choice that commits you to a certain kind of procedure for evaluating desires and ends, and deliberating about courses of action.“ (Reath 2006, 48) Die Funktion eines allgemeinen Prinzips besteht demnach darin, anzugeben, was als Kriterium der Bewertung gelten kann, d. h. das Prinzip muss eine Regel an die Hand geben, der die einzelnen Gegenstände in der Erfahrung als Fälle dieser Regel subsumiert werden können. Strukturell unterscheiden sich die beiden Prinzipien dann entsprechend dem ihnen zugehörigen Begriff: der Glückseligkeit oder der Moral. Im einen Fall folgt ein Handeln, das sich an den Geboten der reinen Vernunft orientiert und diesen alle anderen Handlungsgründe unterordnet. Im anderen Fall folgt ein Handeln, das sich am Zustand der eigenen Glückseligkeit orientiert, indem es seine Begehrungen auf diesen hin ordnet, wobei Moralität (die Form der Maxime und die Frage, ob sie zum allgemeinen Gesetz taugen könnte) außen vor bleibt bzw. diesen Überlegungen untergeordnet wird. Das Prinzip der Glückseligkeit ist demnach insofern allgemein, als es die Wahl der Zwecke orientiert, ihnen ein allgemeines Kriterium voranstellt, das sich am Begriff der Glückseligkeit ausrichtet. Was es hingegen aufgrund dieser seiner Allgemeinheit aussagt, liegt dann begründet im Begriff, in der „Theorie“, die diesem Prinzip zugrunde liegt. (Dass das Prinzip der Sittlichkeit nicht mit demselben Problem konfrontiert ist, liegt auf der Hand: Sein Inhalt ist die bloße Form.) Anders als Reath meine ich daher, dass die inhaltliche Bestimmung dessen, was jeder unter Glückseligkeit zu verstehen habe (iii), nicht ebenfalls als Funktion (Aufgabe) des allgemeinen Prinzips der Glückseligkeit aufzufassen ist. Vielmehr kann dies nur durch eine entsprechende Theorie, ein bestimmtes Wissen, eben durch Erfahrung ausgemacht werden und drückt sich in dem dem Prinzip der Glückseligkeit zugrunde liegenden Begriff der Glückseligkeit aus. Das Prinzip selbst kann darüber nichts sagen. Darin liegt der Unterschied zwischen Prinzip und Begriff: Während das erste auf eine Struktur verweist, muss der zweite in der Lage sein, inhaltliche Aussagen zu treffen, zumindest sofern es sich, wie bei der Glückseligkeit, um einen empirischen Begriff handelt. Die einzelnen materialen Prinzipien lassen sich zwar strukturell am Prinzip der Glückseligkeit orientieren, inhaltlich aber müssen sie auf den Begriff der Glückseligkeit zurückgreifen können. Entsprechend den oben angestellten Überlegungen gilt auch hier, dass die Bestimmung des Willens durch Begriffe an Prinzipien gekoppelt sein muss, durch welche dem Willen ein Zweck bestimmt werden kann (vgl. Kapitel 1.1.1). Die Allgemeinheit des Prinzips der Glückseligkeit muss daher in beiden Elementen zu
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finden sein: sowohl im strukturierenden Prinzip als auch im inhaltlich orientierenden Begriff. Es ist nun notwendig, Kants Definitionen zu erfassen und mit seinen in den vorherigen beiden Abschnitten dieses Kapitels (1.2.1 und 1.2.2) behandelten Ausführungen zu Klugheit und Geschicklichkeit zu vergleichen. Kant geht es im ersten Teil der KpV darum, das Verhältnis von Grundsätzen, Maximen, Regeln und praktischen Gesetzen näher zu bestimmen. Ich stütze mich auf folgende Erklärung: Praktische G r u n d s ä t z e sind Sätze, welche eine allgemeine Bestimmung des Willens enthalten, die mehrere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjectiv, oder M a x i m e n , wenn die Bedingung nur als für den Willen des Subjects gültig von ihm angesehen wird; objectiv aber oder praktische G e s e t z e , wenn jene als objectiv, d.i. für den Willen jedes vernünftigen Wesens gültig, erkannt wird (KpV 5:19.7– 12).
Wir treffen hier wieder auf das bereits Ausgeführte: Praktische Grundsätze enthalten eine allgemeine Willensbestimmung, sie geben also an, nach welchen Zwecken das Subjekt handeln will. Sie haben sodann „mehrere praktische Regeln unter sich“, was bedeutet, dass diese praktischen Regeln den ihnen übergeordneten praktischen Grundsätzen gemäß den Willen zum konkreten Handeln bestimmen. Und tatsächlich: „Die praktische Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt.“ (KpV 5:20.6 – 8) Praktische Regeln schreiben Handlungen vor, mit denen Absichten (Gegenstände als Zwecke) hervorgebracht werden sollen. Insofern für eine solche Handlungsregel gewusst werden muss, wie Zwecke durch Handlungen bewirkt werden können, ist dazu auch Vernunft nötig, welcher, so Kant etwas weiter im Text, „die Beurtheilung des Verhältnisses der Mittel zu Zwecken“ zukommt (KpV 5:58.34 f.).⁴⁵ Kant führt sodann aus, dass, insofern beim Menschen Vernunft nicht immer schon den Willen bestimmt, die praktische Regel zugleich ein Sollen ausdrückt, also als Imperativ auftreten kann. Insofern ein Imperativ eine objektiv gültige Nötigung durch die Vernunft ausdrückt, ist er von Maximen als subjektiven praktischen Grundsätzen unterschieden. Nun können Kant zufolge Imperative entweder die Bedingungen des Willens („der Kausalität des vernünftigen Wesens“) in Bezug auf die beabsichtigte Wirkung („in Ansehung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben“) bestimmen, oder aber den Willen, unabhängig Ähnlich scheint Fricke den Unterschied zwischen praktischen Regeln und praktischen Grundsätzen (Maximen) zu fassen, indem erstere „die Bedingungen ihrer Anwendung in einer Handlungssituation spezifischer an[geben]“: „Maximen und praktische Regeln verhalten sich zueinander wie mehr oder weniger allgemeine Begriffe.“ (Fricke 2008, 127)
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davon, ob er „zur Wirkung hinreichend“ ist oder nicht (KpV 5:20.14– 17). Und nun folgt die bereits bekannte Aufteilung: „Die erste würden hypothetische Imperative sein und bloße Vorschriften der Geschicklichkeit enthalten; die zweiten würden dagegen kategorisch und allein praktische Gesetze sein.“ (KpV 5:20.17– 20, kursiv C.G.) Regeln der Geschicklichkeit richten sich als Imperative auf konkrete Handlungen zu bereits bestimmten Zwecken, kategorische Imperative schreiben eine Willensbestimmung durch Zwecke vor. Daraus nun schließt Kant: „Maximen sind also zwar G r u n d s ä t z e , aber nicht I m p e r a t i v e n .“ (KpV 5:20.20) Mit anderen Worten: Maximen als praktische Grundsätze sind keine Imperative und daher auch von den Regeln der Geschicklichkeit unterschieden, die sie bloß unter sich versammeln (enthalten). Praktische Regeln dagegen sind Handlungsvorschriften, keine Vorschriften zur Annahme oder Bestimmung eines Zwecks.⁴⁶ Maximen haben damit den gleichen Status, den wir oben den Regeln oder Ratschlägen der Klugheit zuordnen konnten: Sie gelten nur subjektiv und können nicht geboten oder objektiv vorgeschrieben werden, und sie unterscheiden sich dadurch von Imperativen. Maximen sind keine objektiven Regeln der Vernunft, weil sie sich selbst (wie der kategorische Imperativ) auf die Willensbestimmung (und damit auf die Bestimmung von Zwecken) und nicht auf die Wahl der konkreten Handlung beziehen, allerdings im Unterschied zu letzteren unter Rückgriff auf die Erfahrung. Sie sind aber auch keine Handlungsvorschriften oder praktischen Regeln, denn sie beziehen sich auf die Bestimmung eines Zwecks und noch nicht auf seine Verfolgung.⁴⁷
Aus diesem Grund halte ich im Unterschied zu Thurnherr das angeführte Zitat zur praktischen Regel als Produkt der Vernunft nicht schon für einen Nachweis, dass Maximen „ihren Ursprung in der Vernunft“ haben, insofern sie, so Thurnherr, „ihrer Gattung nach zu den Grundsätzen resp. Regeln“ gehörten (Thurnherr 1994, 38). Da er nicht die Folge des Zitats („weil sie Handlung als Mittel zur Wirkung als Absicht vorschreibt“) mitberücksichtigt und außerdem keinen Unterschied sieht zwischen Handlungsregeln und praktischen Regeln (Maximen) der Willensbestimmung, kann er den hier nur für technisch-praktische Regeln der Geschicklichkeit sich erweisenden Schluss auf die Maximen übertragen. Meines Erachtens muss es zunächst als überaus unklar gelten, ob und wenn ja, in welchem Maße und in welcher Weise überhaupt (praktische) Vernunft an der Bildung von Maximen als Regeln zur Bestimmung empirischer Zwecke, also von Ratschlägen der Klugheit, beteiligt ist. Im hier vorgestellten Sinne unterscheidet Habermas zwischen technischen Strategien, die er dem „pragmatischen Diskurs“ (Habermas 1991, 108) zuordnet, Ratschlägen, die dem ethischexistentiellen Diskurs über „die richtige Orientierung im Leben“ (Habermas 1991, 107) angehören, während eine „Verständigung über die gerechte Lösung eines Konflikts im Bereich normenregulierten Handelns“ dem „moralisch-praktischen Diskurs“ vorbehalten bleibt (Habermas 1991, 107). Er nimmt damit eine Trennung von Pragmatik und Ratschlägen und damit von pragmatischer Ausrichtung des Handelns und Klugheit vor, die hier nicht übernommen werden soll. Wie noch weiter auszuführen sein wird, beschränkt sich das Pragmatische bei Kant gerade nicht auf die
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Dass die Bestimmung des Willens zu einer Handlung und die Bestimmung des Willens durch eine Regel, die einen Zweck festlegt, auch in KpV noch etwas durcheinander geraten, jedoch beide Bestand haben, zeigt die soeben herangezogene Anmerkung zum einführenden § 1 des Grundsatzkapitels der KpV. Kant betont hier anhand eines Beispiels („Arbeite und spare in der Jugend, wenn du im Alter nicht darben willst“, vgl. KpV 5:20.29 f.), der Wille werde auf ein Anderes seiner selbst verwiesen, nämlich auf das Begehren, im Alter nicht zu darben, also einen durch das Subjekt festgelegten Zweck. Da dieses Begehren jedem selbst überlassen bleiben müsse, könne es nicht objektiv und mit Notwendigkeit geboten werden, sodass die praktischen Vorschriften, die sich aus der Annahme dieses subjektiv gewählten Zwecks ergeben, nur durch einen subjektiv bedingten Imperativ, also auch nur durch eine subjektive Notwendigkeit ausdrücken ließen. Da er aber gern die praktische Vorschrift als Imperativ verstanden haben möchte, betont Kant, die Vernunft lege in diese ihre Vorschrift zwar auch Notwendigkeit (denn ohne das wäre sie kein Imperativ), aber diese ist nur subjektiv bedingt, und man kann sie nicht in allen Subjekten in gleichem Grade voraussetzen (KpV 5:20.37– 40; vgl. GMS 4:416.20 – 26).
Nun hatte er jedoch ein paar Zeilen zuvor präzisiert, dass Maximen als praktische Grundsätze gerade keine Imperative seien (KpV 5:20.20), und so muss man für dieses Beispiel schließen, dass es sich bei den praktischen Vorschriften entweder um Imperative (der Geschicklichkeit) handelt, die deshalb subjektiv bedingt sind, weil sie die (pragmatisch-kluge) Bestimmung eines Zwecks voraussetzen, oder aber dass der Begriff „Imperativ“ hier fehl am Platze ist.
1.3.2 Ratschläge der Klugheit und Maximen Was Kant genau unter einer Maxime verstanden haben mag, wird noch immer diskutiert.⁴⁸ Unstrittig ist, dass Kant Maximen als subjektive praktische Grundsätze des Willens (vgl. KpV 5:19.16) für eine einzelne Person auffasst, die in konkreten Situationen handelt bzw. handeln will, soll oder muss (vgl. Grenberg 2001,
Geschicklichkeit, sondern erstreckt sich auf Klugheit – das dann aber durchaus im von Habermas vorgestellten ethischen Sinn als auf das Ganze einer Lebensführung bezogen. Dies heben z. B. Fricke 2008, 125 und Brewer 2002, 539 hervor. Für einen Überblick über die Verwendungsweisen des Begriffs „Maxime“ bei Kant vgl. die Aufzählungen der unterschiedlichen Beispiele und Definitionen Kants bei Bittner 1974, 485, Thurnherr 1994, 32– 36, sowie bei Schwartz 2006, 148 f.
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175). Wie McCarty zusammenfassend darstellt, werden Maximen in der Kant-Literatur zumeist als Träger der Gründe für das Handeln und damit als dessen vernünftige Rechtfertigungen angesehen (vgl. McCarty 2006, 65 und Brewer 2002, 542– 544). Bittners und Höffes Untersuchungen brächten dagegen Maximen als allgemeine Lebensregeln in den Blick, insofern Kant den Begriff der Tradition entnehme und sie als auf Erfahrung basierende Regeln auffasse (vgl. Bittner 1974, 497, Fn. 10, Höffe, 2012, 121 sowie den begriffsgeschichtlichen Exkurs bei Thurnherr 1994, 27– 30).⁴⁹ Dabei spielt die Frage nach dem Allgemeinheitsgrad einer Maxime eine wichtige Rolle, sollen Maximen größere Einheiten des Lebens in einem Entwurf zusammenfassen. So unterscheidet beispielsweise Thurnherr zwischen der Bildung (Bestimmung) von Maximen als „eine[m] von der Vernunft zuhanden der Willkür für die Ausübung von deren Vermögen entwickelten Grundsatz“ (Thurnherr 2001, 86) und ihrer Annehmung bzw. Anerkennung (vgl. Thurnherr 2001, 87 sowie etwas ausführlicher Thurnherr 1994, 101– 132). Für die Bestimmung der Maxime greift er im Wesentlichen auf Reflexionen Kants zur Anthropologie zurück und fasst sie daher als einen Entwurf des gesunden Menschenverstandes auf, welcher als eine Art „ästhetische Urteilskraft auf dem praktischen Feld“ fungiere. Der gesunde Menschenverstand habe durch Reflexion möglichst sämtliche relevanten Ansprüche der Neigungen und Gegebenheiten der Außenwelt sowie das mittels der Stimme des Gewissens vertretene Interesse der Vernunft in der subjektiven Zweckmäßigkeit eines Handlungsentwurfes miteinander zu vermitteln und aufeinander abzustimmen […] (Thurnherr 2001, 87).
Diese Zweckmäßigkeit werde „am Ende in Form einer Maxime“ vorgestellt. Die Annehmung der Maxime erfolge dann entweder unter dem Gesichtspunkt der Klugheit in Form von Weltklugheit und Privatklugheit, welchen zufolge die Maxime als problematisch-praktisches bzw. assertorisch-praktisches Prinzip anerkannt würden, oder unter dem Gesichtspunkt der Sittlichkeit „über einen Test der Verallgemeinerbarkeit“ als apodiktisch-praktisches Prinzip (Thurnherr 2001, 91).⁵⁰ Ähnlich wie Bittner meint Thurnherr, das Subjekt beanspruche mit seiner Darüber, aus welcher Tradition oder von wem Kant seinen Maximenbegriff übernimmt, gehen die Meinungen auseinander, die einen verweisen auf Wolff (McCarty 2006, 67 f.), die anderen auf Rousseau (Albrecht 1994, 134), andere betonen die „Vielzahl der greifbaren Quellen“, aufgrund welcher Kant seinen eigenen Begriff der Maxime habe entwickeln können (Thurnherr 2001, 85). Dabei scheint mir aufgrund der im Vorangegangenen angestellten Überlegungen Thurnherrs Zuordnung von Weltklugheit zu beliebigen Zwecken und Privatklugheit zum Zweck der Glückseligkeit nicht zuzutreffen, da auch Weltklugheit auf einen Aspekt des assertorischen Zwecks der Glückseligkeit ausgerichtet ist, während Geschicklichkeit mit ihren problematisch-praktischen
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Maxime Allgemeingültigkeit, indem es sie als allgemeingültigen Entwurf, als Gesetzesvorschlag ansehe (vgl. Thurnherr 1994, 129 f.).⁵¹ Und auch Reath führt nuancierend aus, Neigungen würden Einfluss auf den Willen nehmen, indem der Handelnde seine Maxime – entsprechend der gemeinen Menschenvernunft – mitteile und sie damit vor anderen rechtfertige: [O]ne chooses to act on an incentive of any kind by regarding it as providing a sufficient reason for action, where that is a reason with normative force from the standpoint of others, not just that of the agent (Reath 2006, 18 f.).
Bloß subjektiv geltende Handlungsgründe (Maximen) müssten demnach so betrachtet werden, als ob sie objektiv gültig wären, um Einfluss auf den Willen nehmen zu können (vgl. Reath 2006, 20 f.). Der Fortgang dieser Untersuchung wird zeigen, in welchem Sinn Thurnherr in die richtige Richtung gedacht hat und inwieweit Reath Recht zu geben ist. Mit der Forderung nach einer gewissen Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit der Maxime steht zugleich die Frage in Zusammenhang, ob bzw. in welchem Sinn alles Handeln nach Maximen zu erfolgen hat, d. h. ob es auch solche Handlungen geben kann, die nicht nach Maximen erfolgen. Hierauf wie auch auf die Art bzw. den Grad ihrer Allgemeinheit wird zurückzukommen sein (vgl. Kapitel 4.4 und 5.2).⁵² Auf der Grundlage dieser neueren Ansätze zur Interpretation des Begriffs der Maxime wurde zur Verteidigung Kants gegen den Vorwurf des ethischen Rigorismus seine Konzeption der praktischen Philosophie als Maximenethik ins Feld geführt.⁵³ Zugleich überrascht es vor diesem Hintergrund auch nicht, dass Fischer
Prinzipien im allgemeinen Sinn für die beliebigen Zwecke zuständig ist, wie auch die von Thurnherr herangezogene Stelle aus GMS 4:415 nahelegt. Siehe auch Bittner 1974, 492: „[I]n der Maxime mache ich mir ein Gesetz.“ Vgl. Albrecht 1994, 140 f. sowie 144 f.; ähnlich Fricke 2008, 125 f. O’Neill betont beispielsweise, alles Handeln sei als nach Maximen erfolgend zu betrachten, da jedes Handeln prinzipiell auch auf seine Moralität hin überprüfbar sein sollte (vgl. O’Neill 1989, 151). In diesem Sinn auch Brewer 2002, 543. Auf die Rolle der Maximen als Maior im praktischen Syllogismus der Wolffschen Schule und ihrer damit einhergehenden Allgemeinheit weist z. B. McCarty 2006, 68 hin. Vgl. z. B. Höffe 2007, 192 und Höffe 2012, 121 ff., Esser 2004, 280 f., Brewer 2002, 566 ff. sowie Thurnherr 2001, 84. O’Neill verteidigt Kants Ethik als Tugendethik auf der Basis eines entsprechenden Verständnisses von Maximen (vgl. O’Neill 1989, 154). Vgl. dazu auch Louden 1986, 479 – 482 mit Kritik an O’Neills Interpretation der Kantischen Maxime. Im Rückgriff auf Loudens These sieht Den Uyl in Kants Konzeption der Pflichten gegen sich selbst eine Herausforderung für seinen Begriff der Klugheit, den er zuvor als Ende einer langen Tradition von Tugendethik dargestellt hat (vgl. Den Uyl 1991, 151 ff.).
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folgert: „Maximen sind pragmatische Grundsätze.“ (Fischer 2003, 80) Damit ist er, soweit ich sehe, der einzige, der mehr oder weniger die auch hier nahegelegte Konsequenz zieht und eine Identität von Maximen und Ratschlägen der Klugheit annimmt.⁵⁴ Selbst Thurnherrs Rekonstruktion der praktischen Maximen erfolgt unter der ethischen Fragestellung einer Bestimmung (und Anerkennung) von Maximen als apodiktische Gesetze, weshalb er auch in diesem bloß subjektiven Stadium ihre Gesetzesförmigkeit nachzuweisen sucht. Da er zudem die Bildung der Maximen als eine ästhetische Funktion der Urteilskraft von ihrer Anerkennung entweder im Hinblick auf Klugheit oder auf Sittlichkeit unterscheidet, kommt die Funktion der Maximen als das Handeln überhaupt orientierend (und d. h. auch in Bezug auf Glückseligkeit) nicht in den Blick, und er kann den Bezug der Maximen als subjektive Grundsätze zur Klugheit nicht herstellen. Wie weiter unten deutlich werden wird, erschließt sich dieser Bezug genau dann, wenn die Unterscheidung zwischen Klugheit und Sittlichkeit bereits im Zuge der Bildung der Maximen (als reflektierende Funktion der Urteilskraft) getroffen wird (vgl. Kapitel 3). Schwartz sieht die Nähe von Ratschlägen und Maximen und schließt, wie auch oben ausgeführt wurde, in die Ratschläge der Klugheit Regeln der Geschicklichkeit mit ein: „Ein Ratschlag der Klugheit muss durch Überlegungen der Geschicklichkeit ergänzt werden, um zur Maxime zu werden.“ (Schwartz 2008, 384)⁵⁵ Sie folgert daraus allerdings, Maximen seien „übernommene praktische Vorschriften oder aber übernommene praktische Gesetze“, da Kant solche Imperative, in die Überlegungen der Geschicklichkeit und Überlegungen der Klugheit eingehen […], in der Zweiten Kritik häufig ‚praktische Vorschriften‘“ nenne (Schwartz 2008, 385, vgl. auch Stange 1900, 239). Die Frage ist, woher solche praktischen Vorschriften kommen sollten, die dann erst in eine zu bildende Maxime übernommen werden.Wie auszuführen sein wird, scheint es angemessener, Ratschläge der Klugheit mit Maximen zu identifizieren, die auf eine bestimmte Art und Weise gebildet werden, und zwar nicht auf von ihnen noch einmal unterschiedene Vorschriften hin. Ebenso wenig bedeutet die Berücksichtigung von naturdeterministischen Kausalzusammenhängen, wie sie auch für die Regeln der Geschicklichkeit herangezogen werden, eine konstituierende Integration der letzteren in die Bildung von Ratschlägen der Klugheit, auch wenn Kant selbst davon spricht, praktische Grundsätze könnten Handlungsregeln enthalten. Meines Erachtens ist dies so zu verstehen, dass auf einen
Albrecht weist dies gar ausdrücklich als Fehldeutung Bubners zurück. Er betont, Bubner setze fälschlicherweise „Klugheitslehre“ und „Theorie der Maximen“ gleich (vgl. Albrecht 1994, 136 mit Bezug auf Bubner 1982, 187, Anm. 57). Vgl. Fischer, der allerdings andersherum formuliert: „Ein jeder problematischer Imperativ beinhaltet zumindest einen Ratschlag der Klugheit.“ (Fischer 2003, 88)
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Ratschlag der Klugheit (einen praktischen Grundsatz als Maxime) die Annahme einer Regel der Geschicklichkeit folgen muss, um den durch sie bestimmten Zweck in die Tat umzusetzen. Maximen können also eher als Lebensregeln verstanden werden, in denen sich „die subjektive Vorstellung eines guten Lebens“ (Bittner 1974, 489)⁵⁶ ausdrückt und weniger als konkrete Vorschriften für einzelne Handlungen oder als bloße Vorsätze, von denen abzuweichen jede beliebige dazwischen kommende Neigung rechtfertigen würde. Diese Erkenntnis scheint mir nun unmittelbar dahin zu führen, dass Maximen gerade in diesem ihrem subjektiven Sinn zunächst auf die Glückseligkeit in Bezug auf das ganze Leben des Subjekts bezogen auftreten und gebildet werden.⁵⁷ Maximen sind in eben diesem Sinn die orientierenden Einheiten des praktischen Lebens, auf denen dann erst die Moralität und Sittlichkeit (des Charakters, der Gesinnung) aufsetzen kann, denn sie bilden die Grundlage dieser Gesinnung.⁵⁸ Maximen sind damit diejenigen praktischen Grundsätze, nach denen jeder Mensch handelt (nicht handeln soll), wobei mit „Handeln“ wiederum nicht „jede Hantierung“ gemeint ist, sondern ein Handeln, das bereits den Anspruch in sich trägt, allgemeineren Grundsätzen zu folgen und nicht in jeder Situation neu zu entscheiden, wie gehandelt werden könnte: M a x i m e ist das subjective Princip zu handeln und muß vom o b j e c t i v e n P r i n z i p , nämlich dem praktischen Gesetze, unterschieden werden. Jene enthält die praktische Regel, die die Vernunft den Bedingungen des Subjects gemäß (öfters der Unwissenheit oder auch den Neigungen desselben) bestimmt, und ist also der Grundsatz, nach welchem das Subject h a n d e l t ; das Gesetz aber ist das objective Princip, gültig für jedes vernünftige Wesen, und der Grundsatz, nach dem es h a n d e l n s o l l , d.i. ein Imperativ (GMS 4:420.36 – 421.30).
Einzelne Handlungen sind also immer als Fälle allgemeinerer Grundsätze zu verstehen, insofern sich der Zweck, der durch eine Handlung mittels einer praktischen Regel verwirklicht oder hervorgebracht wird, aus einem solchen Grundsatz ableiten lässt. Und auch in der Logik versteht Kant unter Maxime „das innere Er folgert: „In diesem Sinn der Maxime als Lebensregel liegt ihre gesuchte Allgemeinheit.“ (Bittner 1974, 489) Indirekt stützt Höffe diese Lesart auch, indem er Kants Begriff der Maxime als auf „das Setzen und Verfolgen von Zwecken“ bezogen versteht (Höffe 1979, 88; vgl. auch Bubner 1982, 175 ff. und 185 ff.) Köhl lässt sich ebenfalls in diesem Sinne lesen, allerdings schätzt er Maximen als für die moralische Beurteilung letztlich unnötig ein, da es genüge, sich auf die konkreten Handlungsabsichten in der jeweiligen Situation zu stützen (vgl. Köhl 1990, 47 ff.). Fischer meint, das moralische Kriterium müsse „nicht unvermittelt auf Handlungen, sondern auf pragmatische Handlungsregeln angewendet werden.“ (Fischer 2003, 71 f.), in diesem Sinn auch Albrecht 1994, 131.
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Princip der Wahl unter verschiedenen Zwecken“ (Log 9:24.31), was de facto bedeutet, einen Zweck als solchen zu bestimmen. Gäbe es nun gar keine objektiven praktischen Gesetze, die jeder Mensch in diese seine subjektive Maxime aufnehmen könnte und sollte, und die er auf diese Weise zu den seinen machen würde, so wären alle praktischen Grundsätze nur Maximen, das ganze menschliche Leben würde nur durch subjektive Grundsätze, also Maximen, angeleitet. Kant ist deshalb daran gelegen zu verdeutlichen, dass Grundsätze, die dem Begehrungsvermögen einen subjektiven Bestimmungsgrund zugrunde legen, niemals zu praktischen Gesetzen werden können und weist in diesem Sinne eine auf Maximen basierende Klugheitslehre als für Moral unzureichend zurück. Er erläutert dies anhand des entscheidenden Kriteriums für die Gültigkeit eines Gesetzes: dass es a priori, allgemein bzw. universell und mit Notwendigkeit für alle Fälle gilt, auf die es angewendet wird. Dies aber, so Kant, ist nicht der Fall bei subjektiven praktischen Grundsätzen. Der einzige alternative Weg jedoch, subjektive Grundsätze als Gesetze aufzufassen, wäre der, sie als physisch notwendig, also nach Naturgesetzen der Kausalität zu verstehen, sodass jede Neigung mit Notwendigkeit eine bestimmte Handlung verursachen würde, wie das Gähnen einsetzt, wenn man andere Gähnen sieht. Dies aber, räumt Kant ein, sei ja bei subjektiven Grundsätzen nicht der Fall. Zudem lassen sich bei ihnen nicht, wie bei den Naturgesetzen, die Erscheinungen unter allgemeine objektiv und a priori erkennbare Regeln subsumieren, denn bei blos subjectiven praktischen Principien wird das ausdrücklich zur Bedingung gemacht, daß ihnen nicht objective, sondern subjective Bedingungen der Willkür zum Grunde liegen müssten, mithin daß sie jederzeit nur als bloße Maximen, niemals aber als praktische Gesetze vorstellig gemacht werden dürfen (KpV 5:26.27– 31, kursiv C.G.).⁵⁹
Hierin liegt daher auch ein schönes Argument dafür, dass Kant das Handeln nach subjektiven Grundsätzen oder Prinzipien eben nicht als nach naturkausalen Ursache-Wirkungs-Verhältnissen ablaufend versteht, sondern, wie oben bereits angeführt, als ein Wirken des Subjekts, das auf eine besondere Art und Weise geschieht, nämlich nach Vorstellungen, selbst wenn diese in der Zeit stattfinden. Sie taugen deshalb nicht einmal zu Naturgesetzen (vgl. MAN 4:467 sowie Kapitel 2.2). Könnte nun reine Vernunft, unabhängig von allen sinnlichen Neigungen, nicht praktisch werden, also nicht unmittelbar den Willen bestimmen, so müsste gelten:
Zu diesem Argument und seiner Bedeutung für das Verständnis praktischer Gesetze vgl. Willaschek 1995, 534– 536.
1.3 Praktische Grundsätze, Prinzipien und Maximen in KpV
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Man würde eher behaupten können, daß es gar keine praktische Gesetze gebe, sondern nur Anrathungen zum Behuf unserer Begierden, als daß blos subjective Principien zum Range praktischer Gesetze erhoben würden […] (KpV 5:26.18 – 21).
Wie auch die Ratschläge der Klugheit sind Maximen durch ihren subjektiven Charakter, ihre Gültigkeit nur für das Subjekt und die damit einhergehende fehlende Normativität gekennzeichnet. Und so spricht Kant denn auch bisweilen von „Maximen der Klugheit“ bzw. der „Maxime der Selbstliebe“, die bloß anrät (KpV 5:36.25). Bezeichnen Maximen und Ratschläge der Klugheit also dasselbe, so bestätigt sich die oben aufgestellte These: dass sich Klugheit im Unterschied zur Geschicklichkeit nicht auf die Verwirklichung konkreter Handlungen, sondern auf die Bestimmung des Willens durch Prinzipien bezieht. Und die in GMS 4:412.27 f. genannte Definition des Willens, „n a c h d e r Vo r s t e l l u n g der Gesetze, d.i. nach Principien, zu handeln“ bezieht sich damit ebenso auf Maximen, wie sie Klugheit im Unterschied zur Geschicklichkeit einschließt. In diesem Sinne ist menschliches Handeln, so es auf das Leben im Ganzen bezogen ist, immer schon als ein solches definiert, das einzelne unter allgemeinere (nicht schon: streng allgemeine) Fälle subsumiert.⁶⁰ Maximen beziehen sich, mit Bubner gesprochen, auf solche Regeln, die Ordnung in das gegebene Mannigfaltige bringen, es gewissermaßen gleichförmig machen (Bubner 1982, 182). Sie sind insofern als diejenigen Handlungsregeln aufzufassen, nach denen ein Subjekt tatsächlich handelt (vgl. Bubner 1982, 185). Da sie auf materiale Bestimmungsgründe des Subjekts gerichtet sind, unterliegen sie immer einem Interesse (vgl. Bubner 1982, 187). Die von Bittner (und Höffe) ins Feld geführte Rede von Maximen als Lebensregeln wird demnach erst vor dem Hintergrund eines angemessenen Verständnisses des Begriffs der Glückseligkeit ersichtlich. Und diese Maximen werden sich, anders als Allison mit O’Neill annimmt (vgl. Allison 1990,92, O’Neill 1989, 152), als durchaus veränderlich erweisen, allerdings nicht im trivialen Sinn bloßer Beliebigkeit. Denn wären sie nicht veränderbar, so würden und müssten sie sich nicht von den moralischen Gesetzen unterscheiden. Sie müssen allerdings als Lebensregeln verstanden werden in dem Sinne, dass sie das Handeln in konkreten Situationen orientieren, indem sie diese auf den Zusammenhang mit dem ganzen Leben beziehen. Nicht sind sie als Lebensregeln im Sinne von allgemeinen Aphorismen aufzufassen, die dann noch einmal auf jeweils einzelne Situationen bezogen werden.
Das besagt auch der von Thurnherr aus den Reflexionen zur Anthropologie herangezogene „Überschlag im Ganzen“ des „gesunden Verstandes“ als Empfindung (zitiert nach Thurnherr 2001, 90).
56
1 Klugheit und Geschicklichkeit
Wir wissen nun, worauf sich Klugheit richtet: nämlich auf den gegebenen Zweck der Glückseligkeit. Und wir wissen auch, womit sie dies tut: nämlich mithilfe von praktischen Grundsätzen, die als Maximen alias Ratschlägen der Klugheit identifiziert werden konnten. Wir wissen aber noch nicht, in welcher Weise dies geschieht und wie das Verhältnis der einzelnen Maximen zum allgemeinen Prinzip der Glückseligkeit oder Selbstliebe zu denken ist. Diese Frage nach ihrer konkreten Entstehung als subjektive Grundsätze aus dem Subjekt heraus sowie seinen „Bedingungen gemäß“ (vgl. GMS 4:421.26) hat im übrigen auch die Literatur zum Begriff der Maxime überwiegend ausgeblendet (vgl. Brewer 2002, 539). Der in den folgenden Kapiteln vorgestellte Vorschlag einer Rekonstruktion des Begriffs der Klugheit bei Kant stellt daher zugleich einen Vorschlag zum Verständnis und zur Bildung von Maximen überhaupt dar. Was eine Maxime ist, wie sie gebildet wird und worin ihre Subjektivität besteht, lässt sich nicht unabhängig davon verstehen, was nach Kant Handeln unter der Voraussetzung einer Vorstellung von Glückseligkeit bedeutet. Genauer wird sich zeigen, dass die beispielsweise von O’Neill einer Maxime zugrunde gelegten Intentionen („underlying principles“) oder die von Allison als Gegenvorschlag dazu formulierten „background conditions“ (O’Neill 1989, 151, vgl. Allison 1990, 94) in etwas begründet liegen, das von der Kantforschung in Bezug auf das Verständnis der empirisch-praktischen Vernunft bislang weitestgehend ignoriert wird: in einer Idee der Glückseligkeit, die der Mensch sich selbst entwirft.
2 Theorie der Klugheit? Anhand der beiden moralphilosophischen Grundlegungsschriften GMS und KpV konnte ermittelt werden, dass sich Klugheit auf subjektive Prinzipien stützt, die Kant auch praktische Grundsätze oder Maximen nennt. Sie gehören als solche zur praktischen Philosophie, insofern sie das menschliche Handeln überhaupt strukturieren und damit auch die Grundlage für moralisches Handeln abgeben: Die subjektiven Maximen, die sich das Subjekt zunächst im Hinblick auf seine eigene Glückseligkeit entwirft, können sich zudem als Träger einer moralischen Gesinnung erweisen. Zugleich wurde deutlich, dass diese Maximen oder Ratschläge der Klugheit, sofern sie im Begriff bzw. im Prinzip der Glückseligkeit gründen, der Sinnlichkeit angehören, da das Streben nach Glückseligkeit jedem Menschen von Natur aus gegeben ist. Es musste jedoch bislang unklar bleiben, in welchem Sinn es sich beim Entwurf und der Bildung der zunächst nur subjektiven Maximen um ein praktisches Vermögen handelt, um empirisch-praktische Vernunft. Erschwerend kommt nun hinzu, dass Kant in KdU die zuvor als hypothetische Imperative gekennzeichneten praktischen Regeln unter dem Titel „technisch-praktische Vorschriften bzw. Regeln“ der theoretischen Philosophie zuordnet. Dieses Kapitel geht dem weiter nach, und zwar im Hinblick auf die Frage nach einer möglichen empirischen Zweckbestimmung innerhalb einer solchen „technisch-praktischen Theorie“ (2.1) sowie mit Bezug auf das einer solchen Theorie möglicherweise zugrundeliegende (pragmatische) Wissen (2.2), mit dem Ziel einer systematischen Verortung der Klugheit bei Kant.
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft Kants konsequente Ausklammerung des nun Technisch-Praktischen aus der eigentlich praktischen Philosophie bedarf an sich der Klärung (2.1.1), lädt sodann aber ein, innerhalb seiner teleologischen Betrachtungen das Verhältnis von Geschicklichkeit und Klugheit, von Zweckverfolgung und Zweckbestimmung aus anderer, nämlich historisch-teleologischer Perspektive in den Blick zu nehmen (2.1.2).
2.1.1 Technisch-praktische Sätze als Korollarien zur theoretischen Philosophie Philosophie enthält für Kant „Principien der Vernunfterkenntnis der Dinge […] durch Begriffe“ und lässt sich dementsprechend in einen theoretischen und einen
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2 Theorie der Klugheit?
praktischen Teil untergliedern (KdU 5:171.4– 7). Die Begriffe, die der Vernunft ihr jeweiliges Objekt, ihren Gegenstand „anweisen“ (KdU 5:171.9), müssen deshalb ebenfalls spezifisch verschieden sein, soll eine solche Einteilung überhaupt Sinn haben. Bekanntlich gibt es für Kant genau zwei Begriffe der Vernunfterkenntnis, „die eben so viel verschiedene Principien der Möglichkeit ihrer Gegenstände zulassen: nämlich die Naturbegriffe und de[n] Freiheitsbegriff.“ (KdU 5:171.13 – 15) Beide führen eine ihnen je eigene Gesetzgebung bei sich und begründen entsprechend zwei ganz unterschiedliche Teile der Philosophie: (theoretische) Naturphilosophie und (praktische) Moralphilosophie (vgl. KdU 5:171.20 – 22). Kant präzisiert: Die Gesetzgebung durch Naturbegriffe geschieht durch den Verstand und ist theoretisch. Die Gesetzgebung durch den Freiheitsbegriff geschieht von der Vernunft und ist bloß praktisch. Nur allein im Praktischen kann die Vernunft gesetzgebend sein; in Ansehung des theoretischen Erkenntnisses (der Natur) kann sie nur (als gesetzkundig vermittelst des Verstandes) aus gegebenen Gesetzen durch Schlüsse Folgerungen ziehen, die doch immer nur bei der Natur stehen bleiben. Umgekehrt aber, wo Regeln praktisch sind, ist die Vernunft nicht darum sofort g e s e t z g e b e n d , weil sie auch technisch = praktisch sein können (KdU 5:174.32– 175.4).
Kant möchte nun einem „Mißbrauch“ vorbeugen, der seiner Meinung nach „mit diesen Ausdrücken zur Eintheilung der verschiedenen Principien und mit ihnen auch der Philosophie geherrscht“ habe (KdU 5:171.24– 26). Denn innerhalb des Praktisch-Möglichen müsse noch einmal zwischen dem Praktischen nach Naturbegriffen und dem Praktischen nach dem Freiheitsbegriff unterschieden werden, denn der Wille könne sowohl nach einem Naturbegriff, als auch nach einem Freiheitsbegriff bestimmt werden.⁶¹ Sind die Begriffe, nach denen der Wille bestimmt wird, Naturbegriffe, so sind die Prinzipien, die sich daraus für den Handelnden ergeben, technisch-praktisch, ist es aber der Freiheitsbegriff, der den Willen bestimmt, so sind die Prinzipien moralisch-praktisch. Es gilt jetzt: […] weil es in der Eintheilung einer Vernunftwissenschaft gänzlich auf diejenige Verschiedenheit der Gegenstände ankommt, deren Erkenntniß verschiedener Principien bedarf, so
Torralba sieht das Praktisch-Mögliche als auf die Regeln der Geschicklichkeit und das Praktisch-Notwendige auf die Regeln der Klugheit verweisend. Die Unterscheidung von praktisch-technischen und praktisch-moralischen Prinzipien sei begrifflich gesehen der Definition des Praktisch-Möglichen und des Praktisch-Notwendigen nachgelagert, sodass die erste Unterscheidung auf den Bereich des Praktisch-Technischen eingeschränkt werden müsse, während der Begriff des Praktisch-Moralischen der praktisch-transzendentalen Freiheit vorbehalten bleibe (vgl. Torralba 2009, 163 ff.). Im Rückgriff auf die obige Erläuterung scheint es mir jedoch evident, dass Kant das Praktisch-Mögliche auf den aus Naturbegriffen, das Praktisch-Notwendige hingegen auf den aus dem Freiheitsbegriff bestimmten Willen bezieht (vgl. Kapitel 1.1.1).
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft
59
werden die ersteren zur theoretischen Philosophie (als Naturlehre) gehörend, die andern aber ganz allein den zweiten Theil, nämlich (als Sittenlehre) die praktische Philosophie, ausmachen. Alle technisch = praktische Regeln (d.i. die der Kunst und Geschicklichkeit überhaupt, oder auch der Klugheit, als einer Geschicklichkeit, auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben), so fern ihre Principien auf Begriffen beruhen, müssen nur als Corollarien⁶² zur theoretischen Philosophie gezählt werden (KdU 5:172.17– 27).⁶³
Technisch-praktische Sätze sind aber (in KpV und dem Verständnis der GMS zufolge), wie wir sahen, zunächst in Form von Regeln der Geschicklichkeit praktische Vorschriften, welche eine konkrete Handlungsanweisung enthalten und sich auf einen bereits bestimmten Zweck beziehen. Sie lassen sich identifizieren als diejenigen Bestimmungen des Willens als Naturursache, die auf die Ausführung bestimmter Zwecke gerichtet sind. Klugheit, als empirische Zwecklehre, die im Sinne der Privatklugheit alle möglichen natürlichen Zwecke zu dem einen der Glückseligkeit vereinigt, kommt hier also gar nicht vor.Vernunft wird ausdrücklich als auf diesem Gebiet nicht gesetzgebend betrachtet (KdU 5:175.4). Wie Kant selbst betont, ist Klugheit ausschließlich als Weltklugheit zu verstehen, also die „Geschicklichkeit, auf Menschen und ihren Willen Einfluß zu haben“. Insofern diese ihre Prinzipien nun auf Begriffen (der Natur) beruhen, gehören sie zur theoretischen Philosophie, denn sie beziehen sich auf die „Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen“. Wurde oben bereits angedeutet, dass Kant zwischen seinem vor- und seinem nachkritischen Werk von einer Dreiteilung der Imperative zu einer Zweiteilung der praktischen Sätze übergeht, so scheint diese Bewegung mit der Kritik der Urteilskraft abgeschlossen zu sein. Technisch-praktische Sätze sind insofern Korollarien zur theoretischen Philosophie, als die Prinzipien der praktischen Vorschriften „gleich gänzlich aus der theoretischen Erkenntniß der Natur hergenommen wären (als technisch-praktische Regeln)“ (KdU 5:173.29 – 31). Das Prinzip, das dem Willen die Zwecke bestimmt, ist dem Naturbegriff entlehnt und damit sinnlich bedingt. Zwar unterscheidet Kant zwischen der Bestimmung des Willens und der Ausführung der Handlung, zwischen den Prinzipien, die einen Zweck zu bestimmen erlauben und den praktischen Vorschriften, die daraus für das Han-
Zum Begriff „Corollarien“ vgl. die Jäsche-Logik: „Corollarien sind unmittelbare Folgen aus einem der vorhergehenden Sätze.“ (Log 9:112.19 – 21) Auch an anderen Stellen verwendet Kant den Begriff im Sinne eines Schlusses, der aus etwas anderem gezogen werden kann (vgl. Log 9:145.25; Neuer Lehrbegriff 2:19.26). Entsprechend leiten sich technisch-praktische Sätze „als unmittelbare Folgen“ oder Schlüsse aus einem zuvor bestimmten Naturbegriff (von denen es ja explizit nicht nur einen gibt) her. Die gleiche Einteilung findet sich in MdS 6:217.28 – 218.8, wo Kant zudem explizit auf die Einteilung der KdU verweist.
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2 Theorie der Klugheit?
deln folgen (und die durch Vernunft abgeleitet werden müssen). Praktische Philosophie jedoch als ein ebensolcher „Inbegriff praktischer Vorschriften“ (KdU 5:173.26), der eine Zweckbestimmung erlaubt, kann nur als eigener Teil der Philosophie neben dem theoretischen bestehen, weil und wenn ihr Princip […] auf dem Übersinnlichen, welches der Freiheitsbegriff allein durch formale Gesetze kennbar macht, beruht, und sie also moralisch = praktisch, d.i. nicht bloß Vorschriften und Regeln in dieser oder jener Absicht, sondern ohne vorhergehende Bezugnehmung auf Zwecke und Absichten Gesetze sind (KdU 5:173.31– 36).
Damit beschränkt sich der Bereich der praktischen Philosophie auf diejenigen Prinzipien, die aus dem Freiheitsbegriff folgen. Da der Freiheitsbegriff das Gesetz der Moral mit sich führt und Freiheit durch die (praktische) Befolgung des Moralgesetzes in Willensgesinnungen wirklich wird, können nur die sich daran anschließenden moralisch-praktischen Sätze zum praktischen Teil der Philosophie gehören. Was genau Kant zu den Korollarien praktischer Vorschriften als Anhang zu Prinzipien der theoretischen Philosophie zählt, erfahren wir in der Fortführung des Textes. Kant nennt zwei Beispiele für Wissenschaften sowie die praktische Anwendung ihrer Prinzipien und vergleicht mit ihnen die reine praktische Philosophie, um zu zeigen, dass solche technisch-praktischen Sätze nie zur Wissenschaft selbst als ihr praktischer Teil gehören können. So seien die „Auflösung der Probleme der reinen Geometrie“ oder „die Feldmeßkunst“ (KdU 5:172.37– 173.1) keineswegs als besonderer Teil der Geometrie anzusehen, und auch die mechanische oder chemische Kunst der Experimente oder Beobachtungen seien keineswegs ein praktischer Teil der Naturlehre. Auf die gleiche Weise, so führt Kant aus, könnten die Haus =, Land =, Staatswirtschaft, die Kunst des Umganges, die Vorschrift der Diätetik, selbst nicht die allgemeine Glückseligkeitslehre, sogar nicht einmal die Bezähmung der Neigungen und Bändigung der Affecten zum Behuf der letzteren zur praktischen Philosophie gezählt werden oder die letzteren wohl gar den zweiten Theil der Philosophie überhaupt ausmachen; weil sie insgesammt nur Regeln der Geschicklichkeit, die mithin nur technisch = praktisch sind, enthalten, um eine Wirkung hervorzubringen, die nach Naturbegriffen der Ursachen und Wirkungen möglich ist, welche, da sie zur theoretischen Philosophie gehören, jenen Vorschriften als bloßen Corollarien aus derselben (der Naturwissenschaft) unterworfen sind und also keine Stelle in einer besonderen Philosophie, die praktische genannt, verlangen können (KdU 5:173.5 – 17, kursiv C.G.).
Und in der ersten Einleitung fügt er der Aufzählung der Wissenschaften, die man gemeinhin zur praktischen Philosophie zählen zu können glaubte, polemisch hinzu: „Warum nicht gar alle Gewerbe und Künste?“ Interessanterweise wird
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft
61
neben „Staatswirtschaft“ auch „Staatsklugheit“ genannt (EE KdU 20:195.27) – und Glückseligkeit explizit als eigene Lehre dazu gezählt. In beiden Fällen steckt Kant den Rahmen dessen ab, was er meint, zu einer empirisch- (technisch‐) praktischen Philosophie zählen zu können. Glückseligkeit ist einer von vielen beliebigen Zwecken, zu denen die Mittel aufzufinden technisch-praktische Sätze als Regeln der Geschicklichkeit hinreichend sind. Aubenque sieht daher in dieser Abspaltung des Empirisch-Praktischen vom Moralisch-Praktischen den Kernpunkt von Kants praktischer Philosophie und merkt an: „Um zu bekämpfen, was er einen ‚sehr nachteiligen Missverstand‘ nennt, tut Kant nicht weniger, als die praktische Philosophie ihres gesamten traditionellen Inhalts zu entleeren“ (Aubenque 2007, 195).⁶⁴ Dies freilich trifft dann zu, wenn man Ethik und praktische Philosophie gleichsetzt, wie Kant selbst es mit seinem Programm einer Darlegung der Möglichkeit reiner praktischer Vernunft tut. Jenseits dieser Schlussfolgerung behält Kant den Begriff der „traditionellen“ praktischen Philosophie durchaus bei – er wertet sie bloß ab, indem er sie als Teil der Naturlehre auffasst.⁶⁵ Bestätigt wird dieser Befund durch Kants Rede von einer „Technik der Natur“ in Analogie zur menschlichen praktischen Zwecktätigkeit sowie zur Kunst: Technisch-praktische Sätze werden überwiegend im Sinne einer Ausübung von Theorie, nicht aber als „für sich bestehender Theil irgend einer Art von Anweisung“ (EE KdU 20:200.4, kursiv C.G.) aufgefasst, wobei ich in diesem Hinweis auf eine „Anweisung“ eben diejenige Bestimmung des Willens durch Prinzipien sehe, welche für ein angemessenes Verständnis von Klugheit von Bedeutung ist. Eine Ausnahme bildet lediglich Kants Definition „Von der Kunst überhaupt“ in § 43 der
Mertens gesteht Kant zu, die Problematik dieser Einteilung erkannt zu haben. Er bemerke aus diesem Grunde, dass auch die zum technisch-praktischen Bereich gehörenden Imperative der Geschicklichkeit noch einer moralischen Überprüfung bedürften. Dies zeige sich an Kants Bemerkung, Eltern müssten ihren Kindern nicht nur die Geschicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu Zwecken beibringen, sondern auch „das Urteil über den Wert der Dinge, die sie sich etwa zu Zwecken machen möchten“ (GMS 4:415.26 f.). Er ergänze damit seine vorangehende Anmerkung, es ginge bei Imperativen der Geschicklichkeit nicht darum, ob der Zweck vernünftig sei (vgl. Mertens 1975, 49 ff.).Vgl. auch Becks Bemerkung, die Frage nach den „empirisch bedingten Regeln einer praktischen Vernunft“ sei unbeantwortbar: „Die Antwort wäre zu voluminös, als dass man mit ihr zu Ende kommen könnte: Sie würde alle praktischen Künste, alle angewandten Wissenschaften und alle Erkenntnis vom Lauf der Welt einschließen.“ (Beck 1995, 83) Vgl. Himmelmann 2003, 29 ff.: Sie sieht Kants Neuordnung zwischen theoretischer und praktischer Philosophie für eine unbefriedigende Antwort auf die Probleme mit seinem Glücksbegriff, welchen er dem Bereich der Natur zuschlägt. Sie urteilt, er kehre damit hinter (in vorkritischer Zeit) bereits gewonnene Einsichten zurück, denen zufolge das Glücksstreben eben nicht nur bloße Mittelverfolgung, sondern wesentlich auch Zielbestimmung sei.
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2 Theorie der Klugheit?
KdU. Dort kennzeichnet er Kunst anhand von drei Merkmalen: Sie sei 1. ein Produkt der freien Willkür des Menschen unter Zugrundelegung von Vernunft (im Unterschied zum Wirken der Natur), 2. ein Können, das über die bloße Geschicklichkeit der Ausführung hinausgehe und 3. eine angenehme Tätigkeit im Unterschied zur Lohnkunst (vgl. KdU 5:303.5 – 304.25). Dabei weist das erste Merkmal darauf hin, dass es für menschliche Handlungen, im Gegensatz zu den übrigen Verwendungsweisen von Kunst (als Technik), doch mehr bedarf, als nur der Geschicklichkeit, sie auszuführen: nämlich einer Art von „Anweisung“. Manche Interpreten fassen denn auch hypothetische Imperative als theoretische Sätze auf, die Kant zu Recht in die theoretische Philosophie geschoben habe (z. B. Stange 1900, 240 und Moritz 1960, 52). Andere Autoren halten die hypothetischen Imperative dagegen für genuin praktische Sätze, die als solche auch normative Kraft hätten, unangesehen ihrer theoretischen Formulierung. Sie halten Kants späte Charakterisierung der hypothetischen Imperative dementsprechend für nicht stichhaltig (vgl. Bojanowski 2008, 28) für „trivial“ (Cramer 1972, 196), für eine Rückkehr Kants zu seiner vorkritischen Auffassung (vgl. Pollok 1997, 67 f., Fn. 25)⁶⁶ oder gar die hypothetischen Imperative insgesamt für unerheblich für Kants praktische Philosophie (vgl. Paton 1962, 163). Dagegen weist Schwaiger auf die „tiefgreifenden Verschiebungen im Begriff des Praktischen hin, die sich hinter dieser semantischen Berichtigung verbergen“ (Schwaiger 1999, 174). Nussbaum sieht in eben dieser Verschiebung, die er als eine Neudefinition des Willens deutet, den Versuch Kants verborgen, die Einbettung des höchsten Gutes und damit der Freiheit (Moral) innerhalb der Natur zu garantieren (vgl. Nussbaum 1996). Ihm zufolge erlaubt es der Begriff des Willens als Naturursache (wie in Kapitel 1.1.1 und 1.1.2 dargestellt), empirisch bedingte Handlungen wie Naturzwecke zu behandeln. Damit würden sie aus der Beobachterperspektive aufgrund der teleologisch reflektierenden Urteilskraft nicht nur mechanisch durch Naturkausalität, sondern auch nach einer causa finalis erklärbar. Dies wiederum ermögliche es Kant, so Nussbaum, letztlich auch die aus Freiheit verursachten Handlungen, insofern auch sie den Willen als Naturursache bestimmen, als in der Natur und in sie
Pollok weist darauf hin, dass Kant nur in dieser Hinsicht (der Zuordnung der technischpraktischen Sätze) zu seiner vorkritischen Auffassung zurückkehre: „Die hypothetischen Imperative haben also das genuine Interesse Kants verloren, weil sie seiner neuen Ansicht nach nicht zum Kernbestand der praktischen Philosophie gehören, insofern sie die Richtigkeit der Handlung, d. h. die Klugheit oder Geschicklichkeit, nur gemessen an Standards der „Selbstliebe“ (KpV 5:22) betreffen.“ (Pollok 2007, 68) Inwieweit diese Einschätzung zutrifft, muss zunächst dahingestellt bleiben, sicher ist aber, dass es für ein angemessenes Verständnis dieser Zuordnung unabdingbar ist, diese „Standards der Selbstliebe“ näher zu definieren.
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft
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hineinwirkend aufzufassen. Auf diese Weise werde eine Verwirklichung des höchsten Gutes innerhalb der Naturordnung denkbar. Die Einführung der technisch-praktischen Sätze sowie ihre Zuordnung zur theoretischen Philosophie ist somit tatsächlich alles andere als „trivial“ zu nennen. Jedoch ist zwar mit der von Nussbaum vorgeschlagenen Deutung erklärt, inwiefern die praktischen Vorschriften, die sich aus empirischen Zwecken ergeben, zur Natur gehören und auch, inwiefern sie praktisch (nämlich technischpraktisch) sind. Beschränkt sich aber dieses ihr „Praktisch-Sein“ auf die technische Anwendung von aus der Natur entlehnten Prinzipien (also auf die Ausübung einer Theorie durch konkrete Handlungen, auf Geschicklichkeit), so bleibt offen, inwiefern es noch eine genuin praktische Willensbestimmung durch Zwecke geben kann, die in der Natur liegen, d. h. inwiefern von einer empirischen Zwecksetzung durch den Menschen die Rede sein kann. Es bedarf demnach der Klärung, ob bzw. wo die Klugheit als Fähigkeit zur Bestimmung des Willens durch nichtmoralische Zwecke anzusiedeln ist (was Gegenstand dieses Abschnitts ist) und wie sie erfolgt (was Gegenstand des nächsten Kapitels sein wird). Ich werde (weiterhin) die These vertreten, dass zur technisch-praktischen Auffassung der Prinzipien der Willensbestimmung innerhalb der theoretischen Philosophie (und damit der teleologischen Naturbetrachtung) eine Erklärung hinzutreten muss, wie es zu solchen dann auch teleologisch erklärbaren Handlungen kommt. Es wird sich zeigen, soviel sei an dieser Stelle vorgegriffen, dass zur teleologischen Erklärung einer Verfolgung empirischer Zwecke eine ästhetische Beschreibung der Generierung von willensbestimmenden Prinzipien (Maximen) hinzukommen muss, damit empirisch bedingte Handlungen nicht nur aus der Beobachterperspektive erklärbar, sondern auch als aus der Akteursperspektive steuerbar verstanden werden können. Indem Kant Klugheit als die Geschicklichkeit vorstellt, auf andere Menschen und ihren Willen Einfluss zu haben (als Weltklugheit), scheint er indes die Möglichkeit nach der empirischen Zweckbestimmung wieder auszuklammern. Gehen wir also weiter im Text. Als erstes präzisiert Kant mit Bezug auf die technischpraktischen Sätze: Denn sie betreffen nur die Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen, wozu nicht allein die Mittel, die in der Natur dazu anzutreffen sind, sondern selbst der Wille (als Begehrungs =, mithin als Naturvermögen) gehört, sofern er durch Triebfedern der Natur jenen Regeln gemäß bestimmt werden kann (KdU 5:172.27– 31, kursiv C.G.).
Zu der Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen gehört demnach zweierlei: erstens die Mittel, die die Natur (qua ihrer kausalen Ursache-Wirkungs-Verhältnisse) bereit stellt, und zweitens der Wille als Begehrungsvermögen, insofern er
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2 Theorie der Klugheit?
„durch Triebfedern der Natur“ bestimmt werden kann. Dies hat „jenen [technischpraktischen] Regeln gemäß“ zu geschehen. Nehmen wir an, dass mit „gemäß“ gerade nicht „durch“ gemeint ist, dass Kant also keine Bestimmung des Willens durch technisch-praktische Regeln der Geschicklichkeit, sondern eine Bestimmung ihnen gemäß meint, so darf zumindest gefolgert werden, dass an dieser Stelle die Möglichkeit einer empirischen Zweckbestimmung durch den Menschen, wenn auch aufgrund sinnlicher Triebfedern (der Natur) nicht ausgeschlossen werden muss.⁶⁷ Diese Sicht wird bestätigt durch zwei Passagen in der Metaphysik der Sitten, die zeigen, dass Kant trotz seiner Fokussierung auf die moralische Willensbestimmung eine empirische Zweckbestimmung mitbedacht hat: Z w e c k ist ein G e g e n s t a n d der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird.⁶⁸ Eine jede Handlung hat also ihren Zweck und, da niemand einen Zweck haben kann, ohne sich den Gegenstand seiner Willkür s e l b s t zum Zweck zu machen, so ist es ein Akt der F r e i h e i t des handelnden Subjects, nicht eine Wirkung der N a t u r, irgend einen Zweck der Handlungen zu haben. Weil aber dieser Akt, der einen Zweck bestimmt, ein praktisches Princip ist, welches nicht die Mittel (mithin nicht bedingt) sondern den Zweck selbst (folglich unbedingt) gebietet, so ist es ein kategorischer Imperativ, der einen P f l i c h t b e g r i f f mit dem eines Zweckes überhaupt verbindet (MdS 6:384.33 – 385.9.; kursiv C.G.).
Zwei Bemerkungen sind zu diesem Zitat zu machen. Zum einen verbindet Kant sowohl mit moralischen als auch mit nicht-moralischen Handlungen einen Zweck, da sich jede Handlung auf eine Vorstellung von einem hervorzubringenden Gegenstand bezieht. Zugleich wird in diesem Satz die (notwendige) Wirkung der Natur dem Akt der Freiheit entgegengesetzt, durch welchen sich jedes Subjekt seine Zwecke selbst setzt bzw. macht: Nicht die Natur gibt den Zweck notwendig vor, sondern das Subjekt bestimmt selbst, durch welche Vorstellung es seinen Willen bestimmen und eine entsprechende Handlung hervorbringen will. Die Gegenüberstellung Natur – Freiheit ist demnach nicht dadurch gekennzeichnet, dass die Natur notwendig wirkt, und die Wirkungen aus Freiheit immer schon moralisch sind oder sein müssen. Vielmehr macht sich das Subjekt selbst den Zweck, indem es nach der Vorstellung eines Gegenstandes handelt, sodass der
Diesen Sinn von „gemäß“ finden wir neben der bereits in Kapitel 1.1 erörterten Bestimmung des Willens auch im Rahmen der Kategorien der Freiheit wieder, wo es heißt, sie würden „den Kategorien des Verstandes gemäß“ (KpV 5:65.20 f.) angewendet, also gerade nicht durch diese. Vgl. auch kurz vorher: „Z w e c k ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung diesen Gegenstand hervorzubringen bestimmt wird.“ (MdS 6:381.4– 6)
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft
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Unterschied eigentlich nur in der (empirischen oder moralischen) Natur (Herkunft) des Zweckes liegen kann. Und zum anderen identifiziert Kant hier den Akt der Bestimmung von Zwecken nicht von vornherein mit Moral. Kant nennt ihn ein praktisches Prinzip, das nicht die Mittel, sondern den Zweck gebietet. Genau dies aber war ja unsere Vermutung anlässlich der Ratschläge der Klugheit gewesen: dass sie nicht Mittel, sondern Zwecke bestimmen. Sogleich aber verbaut sich Kant durch das Wörtchen „weil“ diesen zunächst eingeschlagenen Weg wieder, indem er das praktische Prinzip auf ein solches einschränkt, das „unbedingt gebietet“ und damit nur noch in Form eines kategorischen Imperativs und nicht mehr unter einer empirischen Voraussetzung und somit als subjektives Prinzip oder Maxime auftreten kann. Dass Kant jedoch durchaus nicht im Sinn hatte, die Bestimmung empirischer Zwecke ganz einem Wirken der Natur zu überlassen, zeigt der übernächste Absatz: Hier ist also nicht von Zwecken, die der Mensch sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur m a c h t , sondern von Gegenständen der freien Willkür unter ihren Gesetzen die Rede, welche er sich zum Zweck m a c h e n s o l l . Man kann jene die technische (subjective), eigentlich pragmatische, die Regel der Klugheit in der Wahl seiner Zwecke enthaltende: diese aber muß man die moralische (objective) Zwecklehre nennen; welche Unterscheidung hier doch überflüssig ist,weil die Sittenlehre sich schon durch ihren Begriff von der Naturlehre (hier der Anthropologie) deutlich absondert, als welche letztere auf empirischen Principien beruhet, dagegen die moralische Zwecklehre, die von Pflichten handelt, auf a priori in der reinen praktischen Vernunft gegebenen Principien beruht (MdS 6:385.19 – 29).
Kant erkennt also explizit an, dass es Zwecke gibt, die sich der Mensch selbst, wenn auch „nach sinnlichen Antrieben seiner Natur“ macht (man könnte vielleicht auch sagen: sinnlichen Antrieben seiner Natur gemäß). Diese Zweckbestimmung ist im Gegensatz zur durch die Vernunft aufgetragenen Bestimmung der moralischen Zwecke (die zugleich Pflichten sind, wie er in MdS ausführt) eine solche, die wirklich stattfindet. Sie kann also gar nicht durch Imperative geboten werden, weil sie, wie im vorigen Kapitel bereits herausgestellt wurde, das tatsächliche, faktische Handeln des Menschen betrifft. Und hier präzisiert Kant nun auch, dass es sich bei der empirischen Bestimmung von Zwecken tatsächlich um Klugheit handelt, die ebenfalls nach Regeln (praktischen Prinzipien) erfolgt. Er kennzeichnet die subjektiven technischen Regeln als eigentlich pragmatische, und zwar insofern sie ihrem Wesen nach eben nicht solche Regeln sind, die auf die Verwirklichung (Hervorbringung) eines Gegenstandes (Zweckes) abzielen, sondern überhaupt erst angeben, was ein möglicher Zweck sein kann. Sogleich ordnet er auch diese empirische Zwecklehre mit ihren pragmatischen Regeln der Naturlehre in Gestalt der Anthropologie zu, um sie von der reinen praktischen Zwecklehre abzugrenzen.
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2 Theorie der Klugheit?
Sowohl die Betrachtung von Kants Definitionen des Willens, als auch seine Analyse der hypothetischen Imperative und die Verschiebung der letzten als technisch-praktische Sätze in die theoretische Philosophie zeigen, dass Kant dazu tendiert, Klugheit, und damit verbunden die Bestimmung empirischer Zwecke durch Maximen, zusammen mit den sogenannten Regeln der Geschicklichkeit abzuhandeln. Dabei bezeichnet diese jedoch lediglich eine Bestimmung zum Handeln gemäß der Vorstellung technischer (theoretischer) Prinzipien, nicht jedoch eine Bestimmung des Willens durch empirisch-praktische Regeln. Und dennoch hat sich gezeigt, dass Kant eine solche Zweckbestimmung nicht fremd ist. Dies konnte zudem belegt werden durch seine klare (De‐) Klassifizierung der „Imperative“ der Klugheit als bloße Ratschläge und damit als subjektive praktische Prinzipien. Eine wesentliche Frage musste indessen offen bleiben: Es scheint nämlich die Verschiebung im Verständnis des Praktischen auch zu einer Verzerrung derjenigen Leistungen zu führen, die ursprünglich zwischen theoretischer und praktischer Vernunft aufgeteilt waren. War bis dahin theoretische Vernunft für Gegenstandserkenntnis zuständig und praktische Vernunft für die Willensbestimmung, so müssen wir uns offensichtlich eines Besseren belehren lassen. Zur theoretischen Vernunft scheint nunmehr auch die praktische Leistung zu gehören, den Willen zum Handeln zu bestimmen. Dabei wissen wir noch nicht einmal, ob sich diese Leistung tatsächlich sowohl auf die Bestimmung bzw. Ableitung der Handlungen durch die „Beurtheilung des Verhältnisses der Mittel zu Zwecken“ (KpV 5:58.34 f.), als auch auf die Bestimmung der Zwecke selbst erstreckt. Denn wir wissen nur, dass die Möglichkeit der Dinge nach Naturbegriffen, auf die sich technisch-praktische Sätze beziehen, auch die Bestimmung des Willens durch Triebfedern der Natur diesen Regeln gemäß enthält (vgl. KdU 5:172.27 ff.). Ist also Vernunft überhaupt aktiv bei der Bestimmung oder Auswahl dieser „Triebfedern der Natur“, oder beschränkt sich ihre Aufgabe, wie schon in GMS (4:441.18) anklang, auf die „Administration der Neigungen“ durch die Auffindung der geeigneten Mittel zu ihrer Befriedigung (was Kant dann „Glückseligkeit“ nennt)? Und wenn dem so ist: Auf welche Weise und nach welchen Kriterien administriert sie dann die Neigungen? Mit anderen Worten und noch einmal: Gibt es überhaupt so etwas wie eine empirisch-praktische Vernunft, auf die sich die KpV bezieht? Genauso gut könnten wir an dieser Stelle anstatt von „technisch-praktisch“ von „theoretisch-praktisch“ sprechen, da es sich zumindest bei den der Vernunft entnommenen Handlungsregeln um auf Handlungen angewendete, im Kern aber theoretisch erkennbare Ursache-Wirkungs-Verhältnisse handelt. Hutter versteht das theoretische Interesse denn auch als ein in Wahrheit praktisches, als technisch-praktisches Interesse, „dem alles zum Mittel für den einzigen Zweck der Selbsterhaltung wird.“ (Hutter 2003, 178) Technisch-praktische Vernunft
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft
67
ist somit keine praktische, sondern „theoretische Vernunft (zu fremden Zwecken).“ (Hutter 2003, 150)⁶⁹ Und Brandt stellt die „Herauslösung der hypothetischen Imperative aus dem Gebiet der praktischen Philosophie und deren Zuweisung zur theoretischen“ (Brandt 1994, 180) gar in einen größeren Rahmen von „Kompetenzverschiebungen“ zwischen Vernunft,Verstand und Urteilskraft in Kants Entwicklung der Vernunftkritik. Er zieht den Schluss, es ändere sich folglich auch das Verhältnis von Kritik und Transzendentalphilosophie im ganzen; die systematischen Beziehungen von 1781 sind 1790 unmöglich geworden. Das kritische Unternehmen überschreitet jetzt die Grenze der theoretischen Philosophie und damit der Transzendentalphilosophie […] (Brandt 1994, 181; vgl. Brandt 2007a, 393 ff.).
Kants Weiterentwicklung seines philosophischen Systems droht spätestens in KdU den Rahmen der zuvor gesteckten Grenzen zwischen theoretischer und praktischer Philosophie zu sprengen. Auch daran ist die Schwierigkeit seines kritischen Unterfangens abzulesen, das Empirische im praktischen Zusammenhang systematisch zugunsten einer reinen praktischen, moralisch wirkenden Vernunft zurückzudrängen. Welcher Anteil an der empirischen Willensbestimmung entfällt also auf die Vernunft, und wie kann sich diese in den Rahmen der theoretischen Philosophie als Naturlehre einfügen, ohne gänzlich auf ihren praktischen Charakter verzichten zu müssen? Und: (Wie) Kann man vor dieser Folie sinnvoll von Klugheit als einer praktischen Fähigkeit des Menschen sprechen?
2.1.2 Geschicklichkeit und Disziplin als letzter Zweck der Natur Dass Kant zwischen Geschicklichkeit und Klugheit, d. h. zwischen Zweckverfolgung und Zweckbestimmung innerhalb der Natur unterscheidet, zeigt sich auch in § 83 der Kritik der teleologischen Urteilskraft anlässlich der Frage nach dem letzten Zweck der Natur, dem Beitrag der Natur zum Endzweck der Schöpfung. Nachdem Glückseligkeit als ein solcher ausgeschieden ist, da sie als höchster und einziger Zweck des Menschen diesen bloß zu einem „Glied in der Kette der Naturzwecke“ machen würde, identifiziert Kant als möglichen letzten Zweck der Natur die „formale, subjective Bedingung“ der Tauglichkeit (KdU 5:431.23 f.). Er versteht sie auch als „Tauglichkeit und Geschicklichkeit zu allerlei Zwecken, wozu die Natur
Im Rahmen seiner Betrachtung des Zusammenhangs der drei Kritiken liest Hutter meines Erachtens die empirisch-praktische Vernunft von vornherein aus dieser technisch-praktischen Perspektive der KdU und sieht insofern keine neue Verortung des Empirisch-Praktischen gegenüber den praktischen Grundlegungsschriften.
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2 Theorie der Klugheit?
(äußerlich und innerlich) von ihm gebraucht werden könne.“ (KdU 5:430.2– 4) Diesen Zweck nennt Kant die „Cultur des Menschen“ (KdU 5:430.5), sie ist die Fähigkeit, sich selbst überhaupt Zwecke zu setzen und (unabhängig von der Natur in seiner Zweckbestimmung) die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen als Mittel zu gebrauchen […] (KdU 5:431.24– 26).
Nun könnte man versucht sein zu meinen, Geschicklichkeit in der Verfolgung der eigenen Zwecke unter dem Titel der Glückseligkeit werde hier als Kultur aufgefasst und könne als solcher letzter Zweck der Natur sein. Dies aber trifft nicht zu. Denn Kant schränkt den Begriff der Tauglichkeit noch weiter ein, indem er unterscheidet zwischen einer Kultur der Geschicklichkeit und einer Kultur der Disziplin. Erstere sei zwar „die vornehmste subjektive Bedingung der Tauglichkeit zur Beförderung der Zwecke überhaupt“ (KdU 5:431.36 f.), sie sei jedoch „nicht hinreichend den W i l l e n in der Bestimmung und Wahl seiner Zwecke zu befördern, welche doch zum ganzen Umfange eine Tauglichkeit zu Zwecken wesentlich gehört.“ (KdU 5:432.1– 3.) Das aber bedeutet: Geschicklichkeit allein genügt nicht, um den Willen zu Zwecken zu bestimmen, sie befördert bloß deren Umsetzung. Die Rede von den „Maximen seiner freien Zwecke überhaupt“ weist bereits darauf hin. Die „Cultur der Zucht (Disciplin)“ (KdU 5:432.4) hingegen besteht in der Befreiung des Willens von dem Despotism der Begierden, wodurch wir, an gewisse Naturdinge geheftet, unfähig gemacht werden, selbst zu wählen, indem wir uns die Triebe zu Fesseln dienen lassen, die uns die Natur nur statt Leitfäden beigegeben hat, um die Bestimmung der Thierheit in uns nicht zu vernachlässigen, oder gar zu verletzen, indes wir doch frei genug sind, sie anzuziehen oder nachzulassen, zu verlängern oder zu verkürzen, nachdem es die Zwecke der Vernunft erfordern (KdU 5:432.5 – 12).
Zu fragen ist selbstverständlich, an welche Zwecke der Vernunft Kant in diesem Zusammenhang denkt, ob es sich lediglich um moralische, oder auch um solche handeln kann, die sich auf den einen der Glückseligkeit beziehen? Wir werden darauf zurückkommen. Zur Beförderung der Kultur der Geschicklichkeit nun bedient sich die Natur der vielfältigsten Mittel, von denen die Ungleichheit der Menschen untereinander sowie Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht nur einige sind, um sie in den Schoß einer „b ü r g e r l i c h e n G e s e l l s c h a f t “ als derjenigen Form des Zusammenlebens zu treiben, in der laut Kant „die größte Entwickelung der Naturanlagen“
2.1 Technisch-praktische Sätze in der Kritik der Urteilskraft
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geschieht (KdU 5:432.28 – 33).⁷⁰ Die Beförderung der Kultur der Disziplin der Neigungen hingegen ist zu verstehen als ein „zweckmäßiges Streben der Natur zu einer Ausbildung, welche uns höherer Zwecke, als die Natur selbst liefern kann, empfänglich macht“ (KdU 5:433.20 f.). Dies erreicht sie über die Verfeinerung des Geschmacks bis zur Idealisierung desselben. Zwar sei der „Luxus der Wissenschaften“ Nahrung für die Eitelkeit und als solcher ein Übel. Zugleich aber liegt Kant zufolge hier der Zweck der Natur darin, durch diese (die Eitelkeit) den Menschen von der Rohigkeit seiner Natur, der Neigung des Genusses zu entfernen „und der Entwickelung der Menschheit Platz zu machen.“ (KdU 5:433.30) Insofern führt der Weg zur Disziplin der Neigungen auch über den Begriff vom Schönen: Schöne Kunst und Wissenschaften, die durch eine Lust, die sich allgemein mittheilen läßt, und durch Geschliffenheit und Verfeinerung für die Gesellschaft, wenn gleich den Menschen nicht sittlich besser, doch gesittet machen, gewinnen der Thyrannei des Sinnenhanges sehr viel ab und bereiten dadurch den Menschen zu einer Herrschaft vor, in welcher die Vernunft allein Gewalt haben soll […] (KdU 5:433.30 – 36).
In diesem Sinne stärken solche Übel „zugleich die Kräfte der Seele“, um ihnen nicht zu unterliegen und lassen uns damit „eine Tauglichkeit zu höheren Zwecken, die in uns verborgen liegen, fühlen“ (KdU 5:434.1– 3). Höhere Zwecke aber, so werden wir noch sehen, sind noch nicht die höchsten, moralischen der reinen Vernunft, sodass auch dieser Prozess der menschlichen Entwicklung auf sein ganzes Vermögen, sich Zwecke überhaupt zu setzen, bezogen werden darf. Dieses eindrucksvolle Bild der menschlichen Schlechtigkeiten und ihrer Ausnutzung durch die Natur, um den Menschen doch noch zum letzten Zweck hinzutreiben, enthält eine Einsicht in Kants Vorstellungen über das empirisch bestimmte menschliche Verhalten. Denn einerseits nutzt die Natur mit der Kultur der Geschicklichkeit (aus der Perspektive der Natur) diejenigen Anlagen im Menschen, die ihn, unangesehen aller moralischen Gebote, auch zur Verwirklichung der eigenen Glückseligkeit treiben, um die Neigungen einzuschränken. In diesem Sinne verwendet Natur die Glückseligkeit als Mittel zur Erreichung ihres letzten Zwecks. Andererseits aber hält sie mit der Kultur der Disziplin, d. h. den Wissenschaften und Künsten, ein Werkzeug bereit, das es dem Menschen erlaubt, durch eigene Tätigkeit seine lasterhaften Anlagen und Neigungen zu disziplinieren und durch eine „Verfeinerung“ der Sitten an eine „Herrschaft der Vernunft“ heranzuführen. Kants Ausführungen zum Charakter der Gattung in der Anthropologie weisen ebenfalls in diese Richtung. Dort heißt es:
Hier liegt das gleiche historische Argument für den Ausgang des Menschen aus dem Natur- in den Rechtszustand vor, das Kant im dritten Abschnitt des Gemeinspruchs anführt (vgl. Kapitel 6.1).
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2 Theorie der Klugheit?
daß er einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfectioniren, wodurch er als mit Ve r n u n f t f ä h i g k e i t begabtes Thier (animal rationabile) aus sich selbst ein v e r n ü n f t i g e s Thier (animal rationale) machen kann; – wo er dann: erstlich sich selbst und seine Art e r h ä l t , zweitens sie übt, belehrt und für die häusliche Gesellschaft e r z i e h t , drittens sie als ein systematisches (nach Vernunftprincipien geordnetes), für die Gesellschaft gehöriges Ganze r e g i e r t […] (Anth 7:321.31– 322.3).
Die sich daran anschließenden Erläuterungen verdeutlichen, dass die mittlere Anlage, die pragmatische, sich auf die gerade beschriebene Zivilisierung und Kultivierung des Menschen bezieht. Klugheit beschränkt sich somit nicht auf den geschickten Umgang mit Menschen, sondern sie trägt der Tatsache Rechnung, dass diese sich immer schon in Gesellschaft befinden und an den erzwungenen sozialen Kontexten (auch sittlich) wachsen können (vgl. RGV 6:26 – 28). In diesem Sinn ist auch jene Bemerkung Kants aus RGV zu lesen, die sich mit der Selbstliebe beschäftigt: So sind die hier genannten „Anlagen für die Menschheit“ bezogen auf eine v e r g l e i c h e n d e Selbstliebe (wozu Vernunft erfordert wird) […] sich nämlich nur in Vergleichung mit andern als glücklich oder unglücklich zu beurtheilen. Von ihr rührt die Neigung her, sich i n d e r M e i n u n g A n d e r e r e i n e n We r t h z u v e r s c h a f f e n (RGV 6:27.4– 9).
Kant nennt die hieraus entspringenden Laster solche der Kultur, da sie nicht der Natur selbst entsprängen, sondern „als Vorbauungsmittel“ (RGV 6:27.18 f.) des Menschen, d. h. als eine Art Sicherheitsmaßnahme gegenüber anderen, also „als Triebfeder zur Cultur“ (RGV 6:27.20 f.) betrachtet werden müssten. Kant zufolge ist demnach Vernunft erforderlich, um den eigenen Zustand mit dem anderer Menschen in Bezug auf die Fähigkeit, glücklich zu sein, zu vergleichen. Die vergleichende Selbstliebe und die damit zusammenhängende Klugheit gehören somit zur Natur. Und dennoch ist letztere mit der Vernunft verknüpft, denn (Kant führt dies nicht aus) um sich auf diese Weise mit anderen vergleichen zu können, muss sowohl der eigene Zustand als glücklicher so gestaltet sein, dass er sich anderen mitteilen lässt, und muss dieses vor allem auch für die anderen gelten. Ohne allgemeine Begriffe, die über bloße Wahrnehmungsurteile im Sinne von „x ist mir angenehm“, „y ist mir unangenehm“, „der Zustand z ist für mich ein glücklicher“ hinausgehen, wäre ein solcher Vergleich nämlich gar nicht möglich. Wie solche erweiterten Urteile möglich sind, wird noch zu untersuchen sein (vgl. Kapitel 3 und 4). Wir können schließen: Die Fähigkeit des Menschen, sich überhaupt Zwecke zu setzen, ist eine „Zutat“ der Natur, die ihn, insbesondere in Form der Kultur der
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
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Disziplin, durch Wissenschaften und Künste befähigt, über seine neigungsbestimmte Natur und die darauf beruhenden empirischen Zwecke hinauszugehen. Die Möglichkeit zur Verwirklichung des Endzwecks der Schöpfung hat damit eine Wurzel in der Natur, die auf diesen vorbereitet. Es darf deshalb davon gesprochen werden, dass auch bei Kant in gewissem Maße Freiheit „natürlich eingebettet“⁷¹ ist, indem auch die Natur ihren Beitrag leistet zur Verwirklichung der (moralischen) Freiheit. Bevor im nächsten Kapitel eine Rekonstruktion einer solchen Zwecksetzungskompetenz und damit eines Begriffs der Klugheit im Rahmen der natürlichen Gegebenheiten des Menschen in Angriff genommen wird, soll zunächst der Blick auf das pragmatische Wissen gerichtet werden, das für die Bildung von Maximen heranzuziehen ist und das sich im Rahmen der Anthropologie auch für die Bestimmung der Klugheit als fruchtbar erweist.
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit Das erste Kapitel hatte darauf verwiesen, dass der den Ratschlägen der Klugheit zugrundeliegende Begriff der Glückseligkeit ein unbestimmter ist und sein muss, sodass ihm keine Theorie und kein objektives Wissen zukommen können. Daher wurde bereits dort auf den Begriff des Pragmatischen und damit der Weltklugheit verwiesen. Unter Weltklugheit versteht Kant die Fähigkeit, andere Menschen zur Umsetzung der eigenen Zwecke und Absichten geschickt zu gebrauchen. Und er unterscheidet sie von der Privatklugheit, die diese Absichten überhaupt erst festlegt und Zwecke zu einem Ganzen zusammenfügt. Wie aber ist das Wissen beschaffen, auf das der Mensch zurückgreift, wenn er sich weltklug verhält, also Weltklugheit im Sinne einer Geschicklichkeit ausübt, „die eigenen Absichten an den Mann zu bringen“?⁷² Mit der Frage nach der Art dieses Wissens hängt dann auch diejenige nach seiner systematischen Verortung zusammen. Denn wie gerade deutlich wurde, verbannt Kant alle klassischen praktischen Wissenschaften aus der praktischen Philosophie und ordnet sie der Naturlehre und damit der theoretischen Philosophie zu. Gleichzeitig aber spricht er einer solchen „Theorie“ der Klugheit ihre Objektivität ab, insofern es bloß um eine Art approximatives Wissen gehen kann,
Zur „natürlichen Einbettung unserer Handlungsfreiheit“ vgl. Buchheim 2001 sowie Kapitel 5.1.2. Vgl. Päd 9:455.24 f.: „Klugheit ist das Vermögen, seine Geschicklichkeit an den Mann zu bringen.“ Und Päd 9:486.14– 16: „Was die Weltklugheit betrifft: so besteht sie in der Kunst, unsere Geschicklichkeit an den Mann zu bringen, d. h. wie man die Menschen zu seiner Absicht gebrauchen kann.“
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2 Theorie der Klugheit?
das sich mit den wandelbaren Dingen des Lebens befasst, die eben immer auch anders sein können, als sie sind. Im Folgenden sollen deshalb Kants Begriff des Pragmatischen in Verbindung mit der Klugheit behandelt werden (2.2.1) und anschließend vor diesem Hintergrund die Schwierigkeit der systematischen Verortung von Klugheit zur Sprache kommen (2.2.2).
2.2.1 Pragmatisches Wissen – Theorie der Klugheit Bereits in GMS ordnet Kant den Imperativen der Klugheit den Begriff des Pragmatischen bei, indem er sie „pragmatische Imperative“ (GMS 4:416.28 – 417.1) nennt. Er gibt in diesem Zusammenhang selbst eine Deutung: Mich deucht, die eigentliche Bedeutung des Worts p r a g m a t i s c h könne so am genauesten bestimmt werden. Denn pragmatisch werden die S a n c t i o n e n genannt, welche eigentlich nicht aus dem Recht der Staaten als nothwendige Gesetze, sondern aus der Vo r s o r g e für die allgemeine Wohlfahrt fließen. Pragmatisch ist eine G e s c h i c h t e abgefaßt, wenn sie k l u g macht, d.i. die Welt belehrt, wie sie ihren Vortheil besser, oder wenigstens eben so gut als die Vorwelt besorgen könne (GMS 4:417.32– 37).
Das Wort „pragmatisch“ verweist damit auf ein Wissen, das dazu dient, die Wohlfahrt, das Wohlergehen des Einzelnen oder auch einer Gruppe von Menschen zu verfolgen und zu sichern. Schmidt versteht in diesem Sinne die pragmatische Anthropologie als eine Geschicklichkeit wie jede andere auch, um die eigenen Absichten zu erreichen. Die pragmatische Anlage diene dazu, andere geschickt zu den eigenen Absichten zu gebrauchen (vgl. Schmidt 2007, 174 sowie Anth 7:322.15 f.) Wie wir bereits sahen, ist dies jedoch nicht ganz zutreffend, denn jede andere Geschicklichkeit kann sich auf eine Theorie berufen, die über Prinzipien a priori verfügt, und die daher zum vollständigen und richtigen Gebrauch erkannt und erlernt werden kann. Für die zu Privat- und Weltklugheit erforderliche Weltkenntnis gilt dies aber gerade nicht. Lediglich die Bezeichnung verweist auf eine Verwandtschaft zur Geschicklichkeit. Als „die Geschicklichkeit eines Menschen, auf andere Einfluß zu haben, um sie zu seinen Absichten zu gebrauchen“ (GMS 4:416.32 f.), ist Weltklugheit eine besondere Art der Geschicklichkeit, andere Menschen als Mittel zur Erreichung der eigenen Absichten einzusetzen. Privatklugheit dagegen ist „die Einsicht, alle diese Absichten zu seinem eigenen daurenden Vortheil zu vereinigen.“ (GMS 4:416.33 f.) Sie ist damit eigentlich diejenige, worauf selbst der Werth der erstern zurückgeführt wird und wer in der erstern Art klug ist, nicht aber in der zweiten, von dem könnte man besser sagen: er ist gescheut und verschlagen, im Ganzen aber doch unklug (GMS 4:416.34– 37).
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
73
Damit ist gemeint, dass Privatklugheit, auch wenn sie sich nur auf den eigenen Vorteil bezieht, zugleich auf ein allgemeineres Verständnis dessen gerichtet ist, was unter diesem eigenen Vorteil zu verstehen ist. Und dieser wiederum, so sahen wir gerade, liegt in der pragmatischen Kenntnis der Welt, insofern sie uns lehrt, diesen eigenen Vorteil „zu besorgen“.Wer nur andere Menschen zum eigenen Vorteil zu gebrauchen versteht, diesen aber nicht „klug“ zu definieren weiß, ist letzten Endes doch unklug – wie auch derjenige unklug ist, der in den Gebrauch des anderen zu den eigenen Absichten nicht dessen jeweilige Absichten mit einrechnet, wie wir noch sehen werden (vgl. Kapitel 5.2.5). Sowohl Welt-, als auch Privatklugheit bedürfen daher der Weltkenntnis, um sinnvoll eingesetzt werden zu können. Es kommt also nicht nur auf die Geschicklichkeit, also die Mittel zur Klugheit an, sondern ebenfalls auf die Festlegung der damit zu erreichenden Absichten. Statt sie als bloße Geschicklichkeit in dem Sinne zu verstehen, andere Menschen als Mittel zur Verwirklichung der eigenen Zwecke „zu benutzen“ (also so, wie der kategorische Imperativ es ausdrücklich verbietet, jedenfalls sofern dies ausschließlich geschieht),⁷³ lässt sich Weltklugheit als Klugheit im Umgang mit Menschen so fassen, dass zur klugen Zweckbestimmung und -verfolgung immer auch die Kenntnis des Menschen überhaupt (seiner selbst ebenso wie der anderen) nötig ist. Denn diese drohen stets, das eigene Handeln zu durchkreuzen (siehe auch Schwaiger 2002, 155). Je besser sich jemand mit den Menschen und ihrer inneren und äußeren Beschaffenheit auskennt (sich selbst eingerechnet), desto erfolgreicher wird er darin sein, seine Vorstellungen von Glück so zu entwerfen und umzusetzen, dass sie tatsächlich zum eigenen Wohlergehen beitragen.⁷⁴ Was also versteht Kant unter pragmatisch? Sind Klugheit und pragmatische Anthropologie identisch, und bezeichnet Klugheit das (ganze) pragmatische Wissen um den Menschen?⁷⁵ Kant selbst hatte die pragmatische Klugheitslehre in
In eben diesem Sinn interpretiert Luckner Kant: Seiner Auffassung nach besteht Klugheit für Kant lediglich darin, andere geschickt zum eigenen Vorteil zu manipulieren (vgl. Luckner 1999, 329). Dass der Umgang mit anderen Menschen auch einen gewissen Umgang mit sich selbst voraussetzt und impliziert, übersieht meines Erachtens Hinske, indem er Kant eine begriffliche Verschiebung weg von der Weltklugheit hin zum Selbstbezug des Menschen zuschreibt. Dies weise auf Schwankungen im Begriff des Pragmatischen hin, welche exemplarisch seien für die Anthropologie als eine „Disziplin, deren Territorium nur unsicher abgesteckt“ sei, und welche „die Grenzen einer Disziplin zu sprengen sucht und auf Totalität aus ist.“ (Hinske 1966, 425 f.) Zur Schwierigkeit, überhaupt angeben zu können, was Kant unter „Anthropologie“ versteht vgl. Jacobs 2003, 111 sowie die Diskussion im Sammelband Kain/Jacobs 2003, dem die hier aufgeführten Verweise im Wesentlichen entnommen sind. Vgl. auch Wood 1999, 203: „The scope of pragmatic anthropology is broader than that of practical anthropology, since it seeks knowledge of
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2 Theorie der Klugheit?
die Anthropologie verwiesen, wie wir oben sahen (vgl. MdS 6:385.19 – 29). Die Ansichten gehen zunächst darüber auseinander, ob auch Geschicklichkeit dazu gehört (vgl. Wood 1999, 204 f. sowie Frierson 2003, 52 f.), ob somit das ganze praktische Vermögen des Menschen gemeint ist (vgl. Louden 2000, 69 f.) sowie, ob auch die Moral in einer solchen pragmatischen Anthropologie ihren Platz findet (so v. a. Frierson 2003, 52, Louden 2000, 70 und Stark 2003, 21).⁷⁶ Einig sind sich die Interpreten weitestgehend darin, dass das „Pragmatische“ in Kants pragmatischer Anthropologie zwar auf unterschiedliche Weise vertreten ist, dass aber Weltklugheit als Geschicklichkeit im Umgang mit anderen Menschen ein wesentliches Element derselben ausmacht. Jacobs ist gar der Auffassung Kant habe seine Anthropologie explizit als auf die Verwirklichung der eigenen Glückseligkeit gerichtete Klugheitslehre konzipiert (vgl. Jacobs 2003, 117 und 127). Für unsere Zwecke sind im Rückgriff auf diese Diskussion folgende Aspekte festzuhalten: (1) Da das Handeln des Menschen zunächst an der Glückseligkeit ausgerichtet ist, bezieht sich das in einer pragmatischen Anthropologie vorgestellte Wissen im Sinne von Weltkenntnis auf die Privatklugheit angesichts der Zweckbestimmung und auf die Weltklugheit angesichts der Mittelbestimmung. Weltklugheit ist insofern eine besondere Form der Geschicklichkeit. (2) In diesem Sinne betrifft die pragmatische Anthropologie dasjenige Wissen vom Menschen, das ihn überhaupt im Handeln zu orientieren vermag, sofern er selbst aktiv an der Gestaltung dieses Handelns beteiligt ist. Die pragmatische Anthropologie ist damit auf das sinnlich Bedingte am Menschen gerichtet, was er selbst, insofern er auch frei in einem moralischen Sinn handeln kann, zur Steuerung seines Handelns nach Maximen einsetzen kann. Sie enthält das empirische Wissen, das nötig ist, um die subjektiven Maximen in der gewünschten Weise zu bestimmen: geschickt, klug, weise. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht befähigt den Menschen dazu, „die Wahrnehmungen über das, was dem Gedächtnis hinderlich oder beförderlich“ ist zu benutzen, „um es zu erweitern oder gewandt zu machen“ (Anth 7:119.22.24). Sie enthält die „Erkenntniß des Menschen als Weltbürgers“ (Anth 7:120.5). Wie Kant im Ästhetischen zwischen Geschmack und Genie unterhuman nature in light of all the uses we may choose to make of this knowledge, and not only for its moral use.“ Brandt 1997, XLVI widerspricht dieser Auffassung und betont: „Die pragmatische Anthropologie ist in keiner ihrer Entwicklungsphasen identisch mit derjenigen Anthropologie, die Kant wiederholt als Komplementärstück seiner Morallehre nach 1770 vorsieht. Die pragmatische Anthropologie entsteht durch eine zweifache Ausgliederung; zuerst wird die empirische Psychologie aus dem Metaphysik-Korpus entfernt und für sich dargestellt (1772/73), danach wird sie aus den eigentlichen Schuldisziplinen ausgegliedert und zu einer akademischen Lehre gemacht, die zwischen Schule und Welt vermittelt.Weltkenntnis als solche hat aber keine originäre Bindung an die Moralphilosophie.“ Vgl. auch Brandt 2003, 85 und 92.
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
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scheidet (vgl. Kapitel 4), unterscheidet er hier „die Welt kennen“ von „Welt haben“: „indem der Eine nur das Spiel versteht, dem er zugesehen hat, der Andere aber mitgespielt hat.“ (Anth 7:120.9 – 11) (3) Eine solche Anthropologie kann dann nicht auch moralisches Wissen um den Menschen in Form eines Wissens um den kategorischen Imperativ oder andere apriorische Prinzipien enthalten. Diese sind Gegenstand der reinen praktischen Philosophie. Pragmatische Anthropologie kann höchstens in dem Sinne auch moralisch sein, dass das Pragmatische immer auch auf das moralische Handeln bezogen werden kann, wie die Klugheit auch eine moralische Dimension einschließt.⁷⁷ Mit Frierson könnte man annehmen, dass das pragmatische Wissen um den Menschen auch der Anwendung des Moralgesetzes dienlich ist, insofern der Mensch erfährt, welche Neigungen, Eigenschaften und Fähigkeiten ihm den Eingang des Moralgesetzes in seine Willensbestimmung erleichtern könnten (vgl. Frierson 2003, 48 f.). (4) Zur vollständigen Bestimmung des pragmatischen Wissens gehört dann auch, dass es zielgerichtet auf die jeweils zu verfolgenden Zwecke angewendet werden kann. D.h. es handelt sich um ein Wissen, das es dem Subjekt ermöglicht, zwischen einer Handlung, die nur aus Neigung erfolgt, einer solchen, die der Verwirklichung seiner Vorstellungen von Glückseligkeit dient, und einer solchen zu unterscheiden, die moralischen Ansprüchen zu genügen hat. Nicht nur ist es nämlich von Bedeutung zu wissen, was der eigenen Glückseligkeit nützlich ist und wie sie umzusetzen ist. Auch aus pragmatischer (nicht nur aus moralischer) Perspektive ist es ebenso wichtig zu erkennen, wann es eines bloß subjektiven Grundsatzes zur Bestimmung der Glückseligkeit bedarf und wann ein moralischer gefragt ist (vgl. Kapitel 7). Insgesamt besteht das Wissen der pragmatischen Anthropologie in einem Orientierungs- oder „Grundrisswissen“ (Höffe) jenseits aller apodiktischer Gewissheit über das, was denn nun objektiv nach Standards der reinen Vernunft getan werden soll. Dabei ist das „soll“ gerade nicht im eminent moralischen Sinn zu verstehen. Vielmehr ergibt es sich aus dem allgemein handlungsleitenden Charakter der Maximen, welche allem menschlichen Handeln zugrunde liegen (vgl. Höffe 2008, 101– 180).⁷⁸ Vielleicht liegt es gerade an diesem nicht-wissen-
Vgl. hierzu Brandt 1997, XLVI. Louden widerspricht dem, indem er die implizite Präsenz des kategorischen Imperativs in Kants anthropologischen Schriften aufzuzeigen versucht, wie z. B. in Anth 7:293.7,wo Kant von Prinzipien spreche, die für jeden gelten würden (vgl. Louden 2000, 77 und 203, Fn.). Indessen kann und muss im Rahmen dieser Arbeit der Frage nicht nachgegangen werden, ob die Anthropologie auch moralische Elemente enthält und in welchem Sinn genau sie dies dann ggf. als pragmatische Anthropologie tut. Auf eine solche Orientierungsfunktion verweist schon Kaulbach, der die Orientierung als genuine Leistung der „pragmatischen“ Vernunft sieht und die er ebenfalls explizit der pragmatischen
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2 Theorie der Klugheit?
schaftlichen Status des pragmatischen Wissens, dass Kant keine Methode angeben zu müssen meint, wie Schmidt vor allem in Bezug auf die anthropologische Charakteristik bemängelt (vgl. Schmidt 2007, 171 ff.). Denn ein Wissen, das sich sowieso nicht streng wissenschaftlich fundieren lässt, muss in seiner Exposition dann auch nicht methodologisch gerechtfertigt werden. Es kann sich nur als „Charakteristik“, als empirische Wahrnehmung dessen darstellen, was den Menschen als Teil der allgemeinen Gattung Mensch auszeichnet. In diesem Sinne darf Kants pragmatische Anthropologie als eine Klugheitslehre aufgefasst werden – allerdings nicht in dem auf bloße Glückseligkeit im Sinne eines angenehmen Zustandes bezogene, sondern in einem noch zu explizierenden erweiterten Sinn einer auch die bereits angeklungenen höheren Zwecke der Vernunft miteinbeziehenden Klugheit. Beruht nun jede eigentliche Wissenschaft, die Anspruch auf apodiktische Erkenntnis erhebt, auf universellen Prinzipien oder Gesetzen, so stellt sich die Frage nach dem Allgemeinheitsgrad solcher sich aus dem pragmatisch-anthropologischen Wissen ergebenden Prinzipien. Denn die Regeln, die der Beurteilung (und der Konstitution) der Gegenstände einer pragmatischen Anthropologie und einer Klugheitslehre dienen, verfügen über keine Allgemeinheit in dem strengen, universalen und notwendigen Sinn wie die Regeln einer eigentlichen Wissenschaft. Vielmehr ist ihr Merkmal gerade jene Generalität, die sich auf eine beobachtbare Regelmäßigkeit bezieht, welche aber nicht a priori vorausgesetzt werden kann (oder müsste). Daher ist ihr zugleich der wissenschaftliche Charakter und somit auch die Gültigkeit im Rahmen einer philosophischen Betrachtung abzusprechen. In diesem Sinn stellt Kant bereits in MdS fest, in Bezug auf die Glückseligkeitslehre sei es, im Gegensatz zur Lehre der Sittlichkeit, ganz „ungereimt […], sich nach Prinzipien a priori umzusehen“. Denn:
Anthropologie zuordnet (Kaulbach 1966, 61). Er sieht zudem einen unmittelbaren Zusammenhang zu Husserls „Lebenswelt“ (vgl. Kapitel 4.1.4). Kaulbach weist darauf hin, dass es gerade der nicht auf „Verwissenschaftlichung“ gerichtete Aspekt der in der orientierenden, nicht theoretisch-erkennenden Weltkenntnis angedeuteten Lebenswelt sei, der Kants anthropologisch-pragmatischen Ansatz kennzeichne (Kaulbach 1966, 73 f.; siehe auch Luckner 2005a, 36– 39). Kritisch zu Kaulbachs Verständnis der Pragmatik als Landkarten-Wissen äußert sich Cohen mit dem Hinweis, er verwechsle das Ziel mit dem Weg: Anthropologie gebe nicht das Ziel vor, sondern weise den Weg dorthin (Cohen 2009, 107 f.). Sie vergleicht sie deshalb lieber mit einem Satelliten-Navigationssystem, dem das Ziel schon vorgegeben ist: „if ethics is the compass that points to our moral destination, anthropology is the navigation system that shows us the path that leads to it.“ (Cohen 2009, 108) Ihr Vorwurf dürfte darauf beruhen, dass sie das Ziel von vornherein als moralisches auffasst, während Kaulbach die Unbestimmtheit auch in der Zweckbestimmung berücksichtigt, welcher abzuhelfen eine der Aufgaben des entsprechenden pragmatischen Wissens ist.
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
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Nur die Erfahrung kann lehren, was uns Freude bringe. Die natürlichen Triebe zur Nahrung, zum Geschlecht, zur Ruhe, zur Bewegung und (bei der Entwickelung unserer Naturanlagen) die Triebe zu Ehre, zur Erweiterung unserer Erkenntniß u. d. gl., können allein und einem jeden nur auf seine besondere Art zu erkennen geben, worin er jene Freude zu s e t z e n , eben dieselbe kann ihm auch die Mittel lehren, wodurch er sie zu s u c h e n habe. Alles scheinbare Vernünfteln a priori ist hier im Grunde nichts als durch Induction zur Allgemeinheit erhobene Erfahrung, welche Allgemeinheit […] noch dazu so kümmerlich ist, daß man einem jeden unendlich viel Ausnahmen erlauben muß, um jene Wahl seiner Lebensweise seiner besondern Neigung uns einer Empfänglichkeit für die Vergnügen anzupassen und am Ende doch nur durch seinen oder anderer ihren Schaden klug zu werden (MdS 6:215.30 – 216.6).
Die Belehrung des Menschen über „Gesetze“ der Glückseligkeit würden aus der Beobachtung seiner selbst und der Thierheit in ihm, […] aus der Wahrnehmung des Weltlaufs geschöpft, von dem, was geschieht und wie gehandelt wird […] (MdS 6:216.10 – 12).
Und dennoch weisen die formulierten Regeln des pragmatischen Gebrauchs dieses Wissens eine gewisse (All‐) Gemeinheit oder Generalität auf.Worauf beruht aber diese Generalität? Empirische Regeln, die, wie Regeln der Klugheit, durch Induktion gewonnen werden, können nur komparative Allgemeinheit, also extensive Anwendbarkeit hervorbringen.⁷⁹ Damit unterscheidet Kant zwischen strenger Allgemeinheit und Allgemeinheit durch Erfahrung (vgl. KrV B 3 und A 91/ B 123), welche für die meisten Fälle gilt, nicht aber für alle. Im Gegensatz zur strengen Allgemeinheit gelten solche Regeln zwar ausnahmslos, enthalten aber die Möglichkeit von Ausnahmen.⁸⁰ Kant hat hiermit Formen der Verallgemeinerung im Auge, die auf alle Menschen anwendbar sein sollen. Dabei zeigen seine Beispiele der Aneignung von Weltkenntnis, dass er Beobachtung auf unterschiedlichen Ebenen ansetzt: Introspektion, um sich selbst zu erkennen, Kenntnis anderer und Kenntnis aller Menschen, d. h. des Menschen überhaupt. Wie Kant schon in KrV bemerkt, sind Urteile, die auf dem inneren Sinn beruhen, zwar empirisch, können aber, so Frierson, dennoch eine bestimmte Art von Allgemeinheit haben.⁸¹ Dabei besteht die nachvollziehbare Schwierigkeit darin,
Die folgenden Ausführungen beruhen auf Frierson 2003, 38 ff. Frierson verweist auf KdU 5:213.8 ff. Dort spricht Kant von einer komparativen Allgemeinheit, welche generale im Unterschied zu universalen Regeln enthält, insofern sie sich auf Annehmlichkeiten beziehen. Interessanterweise erwähnt Frierson jedoch nicht jene Bemerkung Kants, auf der Selbstliebe beruhende Regeln seien nur generell, nicht aber universell gültig, d. h. ihre generelle Gültigkeit stelle sich als eine solche dar, insofern sie am häufigsten zuträfen (vgl. KpV 5:36.16). Vgl. Frierson 2003, 41: „Inner sense is generically human, and when one observes the structure of one’s cognition, feelings, and desires, one observes a structure that is likely to be shared by
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2 Theorie der Klugheit?
von sich selbst auf alle anderen zu schließen, auch weil die Bedingungen von Zeit und Ort zu Gewohnheiten führen, die die Selbstbeobachtung verfälschen (gewissermaßen eine zweite Natur bilden) und somit das Urteil erschweren. Dies zeigt sich an der Selbstbeobachtung ebenso wie an der Beobachtung anderer sowie an der Interaktion der eigenen Landsleute (vgl. Anth 7:120.16 – 21). Gewohnheiten führen dazu, dass an einem selbst und an anderen nicht das wahrgenommen wird, was allen Menschen gemeinsam ist, sodass letztlich von einem selbst auf andere geschlossen wird. Daher hält Kant es für notwendig, die eigenen Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen, um sich in seinen Urteilen möglichst wenig zu irren. So stellt denn auch die Lektüre (Theater, Novellen, Geschichten, Biographien) Kants liebste äußere Quelle für die Anthropologie dar.⁸² Mit anderen Worten: Nur die stetige Erweiterung der Weltkenntnis kann zur Perfektionierung des pragmatischen Zugangs zur Welt führen, die empirische Allgemeinheit lässt sich aber nie in universelle und strenge Allgemeinheit transformieren. Insofern der innere Sinn, der subjektive Zustand, der Bezug auch auf das Gefühl immer eine Rolle spielen, bleibt sie doch immer nur generell. Im Gegensatz zum technischen Wissen einer Theorie, die die Möglichkeit konkreter Handlungen in sich fasst und diese damit als geschickte Mittel zum beabsichtigten Zweck klassifiziert, gibt das pragmatische Wissen also Auskunft darüber, was klug macht und dem Menschen zeigt, wie er seinem eigenen Wohlergehen am besten dient. Weltklugheit im angegebenen Sinn und abgekoppelt von der Privatklugheit ist dann tatsächlich nichts anderes als eine Form der Geschicklichkeit, insofern sie zu Handlungen anleitet, die mit bestimmten Mitteln (nämlich Menschen) die eigenen Absichten verfolgt. Erst Privatklugheit gibt an, wie sich diese Absichten überhaupt bestimmen lassen und wie sich infolgedessen Weltklugheit als Geschicklichkeit im Dienste der Privatklugheit anwenden lässt. Diesem Verständnis zufolge enthält Privatklugheit Weltklugheit, setzt Geschicklichkeit Klugheit voraus. Pragmatisches Wissen, das klug macht, ist somit insgesamt auf die Bestimmung von Zwecken, nicht (nur) auf die Wahl der entsprechenden Mittel gerichtet.
others. […] Unless one has a reason to doubt that others have in common a structure in the context of which they experience themselves, one can explore that structure within oneself as a means of discerning general truths about humanity. In particular, the investigation of inner sense gives one the means of understanding the motives, desires, and other aspects of inner experience that underlie the actions of others.“ Frierson betont, Kant halte dennoch fest, „that interaction with and observations of many people do not guarantee that one’s anthropological judgments will be true. People can always make mistakes.“ (Frierson 2003, 45)
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
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Aus der soeben vorgestellten Zuordnung der Klugheit zum pragmatischen Wissen über die Welt und dabei insbesondere über den Menschen, sei es über sich selbst, sei es über die anderen, muss nun die Frage nach der systematischen Verortung der Klugheit in Kants System folgen. Denn wenn Klugheit einerseits auf keiner objektiven Theorie mit einem klar umrissenen und durch Vernunft einsehbaren Wissen beruht, zugleich aber auch nicht als eine besondere Art praktischer Theorie innerhalb der praktischen Philosophie zählen darf – welcher systematische Ort bleibt ihr dann? Aufgrund der bisherigen Ausführungen stellt sich diese Frage zunächst als diejenige nach dem systematischen Ort der pragmatischen Anthropologie.
2.2.2 Der systematische Ort der pragmatischen Anthropologie In der Kritik der Urteilskraft heißt es: Eine jede Wissenschaft muß in der Encyklopädie aller Wissenschaften ihre bestimmte Stelle haben. Ist es eine philosophische Wissenschaft, so muß ihr ihre Stelle in dem theoretischen oder praktischen Theil derselben und, hat sie ihren Platz im ersteren, entweder in der Naturlehre so fern sie das, was Gegenstand der Erfahrung sein kann, erwägt (folglich der Körperlehre, der Seelenlehre und allgemeinen Weltwissenschaft), oder in der Gotteslehre (von dem Urgrunde der Welt als Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung angewiesen werden (KdU 5:416.6 – 13).
Demnach gehört dasjenige Wissen, welches Kant als pragmatisches (oder anthropologisches Wissen in pragmatischer Rücksicht) kennzeichnet, unzweifelhaft in die Lehre der Gegenstände der Erfahrung innerhalb der theoretischen Philosophie. Da aber Klugheit, wie noch näher auszuführen sein wird, nicht auf Prinzipien a priori beruht, sondern mit der Beurteilung des Verhältnisses von empirischen Prinzipien zu anderen empirischen Prinzipien oder aber deren Verhältnis zu den Erkenntnisvermögen zu tun hat, kommt ihr innerhalb der (reinen) Philosophie kein Gebiet zu, auf dem sie (a priori und gesetzgebend) tätig wäre. Als einziges Betätigungsgebiet bleibt ihr die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. ⁸³
Brandt konstatiert, es gebe aufgrund des unbestimmten, nur am Horizont aufscheinenden Glücksziels „ein weites Klugheitsfeld im privaten und öffentlichen Handeln, das Kant in seiner ‚pragmatischen Anthropologie‘ durchleuchtet; sie ist eine empirische Klugheitslehre, die wegen ihrer Fundierung in der Natur des Menschen, also der bloßen Erfahrung, nicht zur eigentlichen kritischen Philosophie als einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen gehört.“ (Brandt 2004, 359; siehe auch Brandt 1997, XLVII, sowie zur systematischen Ausklammerung der Anthropologie aus der Transzendentalphilosophie Klingner 2012, 51 f.)
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2 Theorie der Klugheit?
Aus diesem Grunde aber muss Klugheit, zusammen mit der Anthropologie, aus der eigentlichen Philosophie als Wissenschaft herausfallen.⁸⁴ Ein Blick auf Kants Einteilungen und Zusammensetzung der Philosophie verdeutlicht die Schwierigkeit, das Empirisch-Praktische mitsamt seinem anthropologischen Wissen zu verorten: So unterscheidet er in KrV zwischen einer empirischen und einer rationalen Erkenntnis im weiteren Sinne, wobei sich die erste aufteilt in Naturlehre (Philosophie im weiten Sinne) und Anthropologie, während mit rationaler Erkenntnis im weiten Sinne Philosophie, das obere Erkenntnisvermögen sowie eine Metaphysik im weiten Sinne gemeint sind (KrV A 841 f./B 869 f.). Diese Metaphysik im weiten Sinne unterteilt sich dann wiederum in Metaphysik der Natur und die von allen empirischen Elementen gereinigte Metaphysik der Sitten als reine Moral, ohne Zugrundelegung von Anthropologie, also empirischen Bedingungen. Die Metaphysik der Natur (zu deren Systematik die Verstandeskategorien den Leitfaden abgeben, siehe MAN 4:473.35 – 476.6) besteht dann aus Ontologie, rationaler Physiologie, rationaler Kosmologie sowie rationaler Theologie, wobei die Lehre vom Menschen zur rationalen immanenten (im Gegensatz zur transzendenten) Physiologie zu zählen hätte. Diese immanente Physiologie bezeichnet Kant auch als rationale Physiologie im engen Sinne oder als Naturlehre und teilt sie wiederum in zwei Teile ein: erstens in die rationale Physik als Lehre von der körperlichen Natur (äußerer Sinn) und zweitens in die rationale Psychologie als Lehre von der denkenden Natur (innerer Sinn). Obwohl also auch der rationale Teil der Metaphysik der Natur eine „Naturlehre“ und darin eine Lehre vom inneren Sinn (rationale Psychologie) enthält, dürfte deutlich sein, dass die das pragmatische Wissen vom Menschen betreffende empirische Seelenlehre aufgrund eben dieser empirischen Bedingungen zur empirischen Erkenntnis und dort zur Anthropologie zu rechnen, nicht aber als rationale Seelenlehre aufzufassen ist.⁸⁵ Damit fällt sie von vornherein aus der Metaphysik heraus. Sie gehört diesem Verständnis zufolge zwar zur Erkenntnis im weiteren Sinne, nicht aber zur Philosophie im weiteren Sinne.⁸⁶ Denn schon an anderer Stelle unterscheidet Kant die empirische Seelenlehre von der rationalen,
Hinske stellt daher fest, die pragmatisch verfasste Anthropologie zahle für ihre Eigenständigkeit einen hohen Preis, denn sie müsse der Moralphilosophie untergeordnet bleiben, weil sie aus sich heraus nicht mehr in der Lage sei, die Frage nach dem Menschen zu beantworten (vgl. Hinske 1980, 102). Allerdings rechnet Kant sie dennoch auch weiterhin zum inneren Sinn, wie auch in den folgenden Kapiteln immer wieder aufscheinen wird. Zur damit zusammenhängenden Unterscheidung zwischen zwei Bedeutungen des inneren Sinnes siehe Kapitel 3.3.2 sowie Kapitel 4.1. Vgl. Tonellis Erläuterungen zur Verortung bzw. zum Verschwinden der Logik innerhalb Kants Einteilungen der Philosophie (Tonelli 1994, 303 ff., sowie seine Übersicht 326 ff.).
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
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welche gerade von allem empirischen Gehalt befreit bleiben muss: In GMS beispielsweise weist Kant auf diesen „zweiten Teil der Naturlehre“ hin, der klar von der praktischen Philosophie zu trennen sei und die Untersuchung der Gründe zum Gegenstand habe, warum etwas gefällt oder mißfällt, wie das Vergnügen der bloßen Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber durch Mitwirkung der Vernunft Maximen entspringen […] (GMS 4:427.5 – 12).⁸⁷
Und dennoch zählt Kant in GMS (4:387 f.) die empirische Metaphysik der Sitten als praktische Anthropologie zum System der Philosophie überhaupt, und zwar zur reinen Philosophie (aus Prinzipien a priori im Gegensatz zur empirischen aus Gründen der Erfahrung), sodass sie als Metaphysik der Natur der rationalen Metaphysik der Sitten (also der Moral) gegenübersteht. In MdS dann folgt die bereits erwähnte, auf die Einteilung der KdU zurückgreifende Zuordnung der technisch-praktischen Vorschriften zur theoretischen Philosophie (vgl. MdS 6:217.28 – 218.8). Wenn ich recht sehe, so stimmen diese Einteilungen insofern überein, als Kant die empirische Seelenlehre (selbst Teil einer pragmatischen Anthropologie) als Naturlehre einstuft und somit zur Metaphysik der Natur zählt. Eine Wandlung scheint an der Stelle zu erfolgen, an der er die praktischen Vorschriften, die durch empirischen Gehalt (Materie) bestimmt sind, als technisch bezeichnet und der Natur zuordnet. Ein Blick in die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft verdeutlicht, dass die empirische Seelenlehre, auf die sich Klugheit zweifelsohne zu stützen hat, insofern für kluge Urteile immer auch ein bestimmtes Wissen um das Funktionieren der menschlichen Seelenzustände und seine Gefühle vonnöten ist, nicht zu einer strengen Wissenschaft werden kann. Kant beginnt seine Ausführungen mit einer Präzision des Begriffs der Natur: Diese kann formal verstanden werden und bezeichnet insofern „das erste, innere Prinzip alles dessen […], was zum Dasein eines Dinges gehört“ (MAN 4:467.2– 3). In diesem Sinne kann es so vielerlei Naturwissenschaften geben, als es specifisch verschiedene Dinge giebt, deren jedes sein eigenthümliches inneres Princip der zu seinem Dasein gehörigen Bestimmungen enthalten muß (MAN 4:467.4– 7).
Vgl. KrV A 342/B 400 sowie die ähnliche Unterscheidung zur Abgrenzung von allgemeiner reiner und angewandter Logik in KrV A 52 f./B 77 f.
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2 Theorie der Klugheit?
In materieller Bedeutung dagegen ist Natur „der Inbegriff aller Dinge, so fern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das Ganze aller Erscheinungen, d.i. die Sinnenwelt mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objecte, verstanden wird.“ (MAN 4:467.8 – 12) In dieser letzten Bedeutung hat die Natur „nach der Hauptverschiedenheit unserer Sinne zwei Haupttheile“ (MAN 4:467.13): die Gegenstände der äußeren Sinne, auf die sich die Körperlehre (ausgedehnte Natur) bezieht und die Gegenstände des inneren Sinnes, auf die sich die Seelenlehre (denkende Natur) bezieht. Als System muss eine solche Lehre von der Natur „ein nach Principien geordnetes Ganze der Erkenntniß“ (MAN 4:467.18 f.) abgeben. Kant teilt daher die Naturlehre ein in eine h i s t o r i s c h e N a t u r l e h r e , welche nichts als systematisch geordnete Facta der Naturdinge enthält (und wiederum aus N a t u r b e s c h r e i b u n g , als einem Classensystem derselben nach Ähnlichkeiten, und N a t u r g e s c h i c h t e , als einer systematischen Darstellung derselben in verschiedenen Zeiten und Örtern, bestehen würde), und Naturwissenschaft […] (MAN 4:468.7– 13).
Die Naturwissenschaft wiederum unterteilt er in eigentliche und uneigentliche Naturwissenschaft, wobei „die erste ihren Gegenstand gänzlich nach Principien a priori, die zweite nach Erfahrungsgesetzen behandelt“ (MAN 4:468.14– 16): E i g e n t l i c h e Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit a p o d i k t i s c h ist; Erkenntniß, die blos empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes W i s s e n . Dasjenige Ganze der Erkenntniß, was systematisch ist, kann schon darum W i s s e n s c h a f t heißen und, wenn die Verknüpfung der Erkenntniß in diesem System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, sogar r a t i o n a l e Wissenschaft.Wenn aber diese Gründe oder Principien in ihr,wie z. B. in der Chemie, doch zuletzt blos empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch die Vernunft erklärt werden, blos Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer N o t h w e n d i g k e i t bei sich (sind nicht apodiktisch = gewiß), und alsdann verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chemie sollte daher eher systematische Kunst als Wissenschaft heißen (MAN 4:468.17– 29).
Nun muss aber, was für die Chemie gilt, erst recht für die Seelenlehre gelten: Noch weiter, als selbst Chemie muß empirische Seelenlehre jederzeit von dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben […]. Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und, als solche, so viel möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d.i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden […] (MAN 4.471.11– 13 und 29 – 32).
Nach den obigen Ausführungen heißt das, dass die empirische Seelenlehre nicht einmal zur uneigentlichen Naturwissenschaft zählt (wie z. B. die Chemie), die ihren Gegenstand „nach Erfahrungsgesetzen behandelt“, sondern lediglich als
2.2 Privatklugheit und Weltklugheit
83
eine historische Naturlehre bzw. Naturbeschreibung angesehen werden kann, weshalb sie denn auch nicht in den MAN behandelt wird (siehe auch Wood 2003, 46). Dies ist allein schon aus dem Grunde einsichtig, weil die Seelenlehre zunächst auf Wahrnehmungsurteilen beruht, auf welche die Verstandeskategorien gerade nicht angewendet werden können (vgl. Kapitel 4.1).⁸⁸ Der Vergleich mit der Chemie ist aber noch in anderer Hinsicht aufschlussreich, denn wir haben es auch bei der empirischen Seelenlehre, insofern sie auf die „Gesetzmäßigkeiten“ unseres Handelns bezogen ist, mit einer Art Kunst (wenn auch nicht einer systematischen) und in gewisser Weise auch mit einer Art Experimentallehre zu tun, selbst wenn Kant dies keineswegs so sieht oder sehen will (vgl. MdS 6:217.32 ff.). Schon in KpV zieht Kant die Chemie als Vergleich mit der hier sogenannten eigentlichen Wissenschaft heran, um das Verhältnis zwischen empirisch-praktischer und reiner praktischer Vernunft zu erläutern (vgl. KpV 5:26.23 – 27). Und in den MAN erläutert Kant, dass in einer Naturlehre nur so viel Wissenschaft anzutreffen sei, als Mathematik (Konstruktion der Begriffe von a priori gegebenen Anschauungen) in ihr enthalten sei. Dies sei aber gerade für Chemie nicht der Fall, sodass sie „nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre“ sein könne (vgl. MAN 4:470.13 – 471.10). Die Chemie gehört für Kant zwar offensichtlich der Naturlehre an, lässt sich jedoch, zumindest dem Erkenntnisstand seiner Zeit entsprechend, nicht in wissenschaftlichen Standards messen. Eben diese Tatsache macht sie für Kant zum geeigneten Vergleichsobjekt für die ebenfalls unbestimmte (und vermutlich nicht bestimmbare) „Wissenschaft“ von der Glückseligkeit und d. h. auch: der Klugheitslehre. Können also auch empirisch-praktische Prinzipien in Form der unserem allgemeinen Handeln immer schon zugrunde liegenden Maximen als eine Form der Kunst betrachtet werden (vgl. Kapitel 3), so lassen sie sich auch als in das Naturgeschehen integriert vorstellen. Klugheit als empirische Zweckbestimmung erscheint in dieser Hinsicht als eine Form der Kunst, eine besondere „Technik der Natur“ in Bezug auf das Ganze des menschlichen, sinnlich bestimmten Lebens. Diese jedoch konnte Wenn Kant daher in der ersten Kritik schreibt: „In Ansehung des empirischen Charakters giebt es also keine Freiheit, und nach diesem können wir doch allein den Menschen betrachten, wenn wir lediglich beobachten und, wie es in der Anthropologie geschieht, von seinen Handlungen die bewegenden Ursachen physiologisch erforschen wollen.“ (KrV A 550/B 578) – so scheint sich sein Standpunkt zumindest dahingehend präzisiert (wenn nicht gewandelt) zu haben, dass er nun, aus Sicht der Anthropologie, eine solche physiologische Betrachtung des Menschen in Bezug auf sein Handeln für unangemessen hält. Wolff bescheinigt Kant in diesem Sinne „two minds on the subject“ und folgert, „the science of psychology can make no scientific distinction between rational action and irrational behavior. That […] is in Kant’s philosophy a distinction which divides the phenomenal from the noumenal, and hence it can play no positive role in a science of the phenomenal.“ (Wolff 1986, 24)
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2 Theorie der Klugheit?
bisher nur in Bezug auf die Zweckverfolgung dargelegt werden, wie die bereits angeführten Stellen zum Verhältnis von Technik und Kunst belegen. Als Theorie ist die Klugheitslehre inklusive einer empirischen Seelenlehre und d. h.Welt- und Menschenkenntnis den hier angestellten Überlegungen zufolge eine historische Naturlehre bzw. -beschreibung. Sie durfte in KrV noch übergangsweise der Metaphysik zugerechnet werden, solange eine eigene Anthropologie nicht ausgearbeitet war. Ob die Anthropologie von 1798 diese ausgearbeitete Anthropologie darstellt, darf dahingestellt bleiben, ihr Ort ist allemal außerhalb der Transzendentalphilosophie und ihr Gegenstand letztlich, wie auch die Chemie, einer der Kunst: Zweitens: wo bleibt denn die e m p i r i s c h e P s y c h o l o g i e […]? Ich antworte: sie kommt dahin, wo die eigentliche (empirische) Naturlehre hingestellt werden muß, nämlich auf die Seite der a n g e w a n d t e n Philosophie, zu welcher die reine Philosophie die Principien a priori enthält, die also mit jener zwar verbunden, aber nicht vermischt werden muß. Also muß empirische Psychologie aus der Metaphysik gänzlich verbannt sein, und ist schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen. Gleichwohl wird man ihr nach dem Schulgebrauch doch noch immer (obzwar nur als Episode) ein Plätzchen darin verstatten müssen und zwar aus ökonomischen Bewegursachen, weil sie noch nicht so reich ist, daß sie allein ein Studium ausmachen, und doch zu wichtig, als daß man sie ganz ausstoßen, oder anderwärts anheften sollte, wo sie noch weniger Verwandtschaft, als in der Metaphysik antreffen dürfte. Es ist also bloß ein so lange aufgenommener Fremdling, dem man auf einige Zeit einen Aufenthalt vergönnt, bis er in einer ausführlichen Anthropologie (dem Pendant zu der empirischen Naturlehre) seine eigene Behausung wird beziehen können (KrV A 848 f./B 876 f.).
Ihr Nutzen dagegen stellt sich für Kant wie folgt dar: Metaphysik also sowohl der Natur, als der Sitten, vornehmlich die Kritik der sich auf eigenen Flügeln wagenden Vernunft, welche v o r ü b e n d (propädeutisch) vorhergeht, machen eigentlich allein dasjenige aus, was wir im ächten Verstande Philosophie nennen können. Diese bezieht alles auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst und keine Verirrungen verstattet. Mathematik, Naturwissenschaft, selbst die empirische Kenntniß des Menschen haben einen hohen Werth als Mittel größtenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu nothwendigen und wesentlichen Zwecken der Menschheit, aber alsdann nur durch Vermittelung einer Vernunfterkenntniß aus bloßen Begriffen, die, man mag sie benennen, wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist (KrV A 850/B 878, kursiv C.G.).
Mit diesem Nutzen der empirischen Naturlehre für „nothwendige und wesentliche Zwecke“ aber ist ein Stichwort gefallen, das den Fortgang der Betrachtungen zu Kants Begriff der Klugheit wesentlich mitbestimmen wird.
3 Die Idee der Glückseligkeit Basieren das Wissen um die richtigen (vorteilhaften) Absichten (Privatklugheit) und das Wissen für ihre geschickte Umsetzung in Bezug auf andere Menschen (Weltklugheit) auf bloßer, nicht-philosophisch erfassbarer Naturlehre, und soll Klugheit als Lehre von der Zweckbestimmung aufgefasst werden, die mehr anzugeben weiß als (ungewisse) Mittel zu einem unbestimmten Ziel, so muss es gelingen, ein Verfahren zu identifizieren oder zu entwickeln, das es erlaubt, den der Privatklugheit zugrunde liegenden Begriff der Glückseligkeit näher zu bestimmen. Und es muss sodann erklärt werden können, wie sich aus ihm „Anweisungen“ zur Bildung von Maximen ergeben. Nur so kann die Verbindung zwischen einer in der Naturlehre liegenden „Theorie“ und dem praktischen Vermögen des Menschen als Teil der Philosophie hergestellt und Klugheit bestimmt werden. Glückseligkeit müsste sich als ein Begriff erweisen, der die Herleitung einer Art Anweisung aus einem „Ensemble von Prinzipien“ erlaubte, und das heißt: Maximen zu bilden. Nach diesen müsste der Mensch dann in der Lage sein, sein Leben als ein gelungenes Ganzes zu konzipieren und sein Handeln zu orientieren, auch wenn es sich um ein mit den philosophischen (und wissenschaftlichen) Mitteln Kants nicht mehr greifbares Wissen handelt. Im Anschluss an einige vorbereitende Betrachtungen zum Begriff der Glückseligkeit (3.1) werde ich diese Aufgabe zu lösen versuchen, indem ich im Rückgriff auf die zunächst kurz vorzustellende ästhetische Idee des Schönen (3.2) Glückseligkeit als eine ästhetische Idee und damit als Produkt von Einbildungskraft und Verstand rekonstruiere (3.3).
3.1 Ein hedonistischer Glücksbegriff? Grundsätzlich verfügt Kant über zwei verschiedene Konzeptionen von Glückseligkeit, von denen er eine zu bevorzugen scheint. Zunächst und zumeist fasst Kant Glückseligkeit auf als eine Menge empirischer Vorstellungen, die durch Assoziation von Empfindungen zustande kommen. In diesem Sinne bezeichnet Kant Glückseligkeit als die „Summe aller Neigungen“ (KdU 5:442.30), die „Summe der Befriedigung aller [Neigungen]“ (GMS 4:399.12), die Befriedigung der „Bedürfnisse[ ] und Neigungen“ (GMS 4:405.7), die „Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein“ (KpV 5:25.14), die „größtmögliche und daurende Befriedigung“ der Neigungen (KpV 5:147.2), die Summe der Zwecke, die sich dem Menschen anbieten mögen (Gemeinspruch 8:283.9 f.), die „Befriedigung aller unserer Neigungen (so wohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und
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3 Die Idee der Glückseligkeit
auch protensive, der Dauer nach)“ (KrV A 806/B 834), als das, „was man genießt (de[n] natürlichen Zweck der Summe aller Neigungen“ (KdU 5:434.25 f.), aber auch als die Befriedigung aller Neigungen, die zuvor „in ein erträgliches System gebracht werden können“ (KpV 5:73.9 f.). Diese auf Neigungen basierende Vorstellung vom Glück als einem möglichst angenehmen Zustand scheint bei Kant vorzuherrschen und hat ihm den Vorwurf eingehandelt, er vertrete, wie Reath es ausdrückt, einen psychologischen Hedonismus bzw. eine hedonistische Psychologie (vgl. Reath 2006, 33).⁸⁸ Dieser Spielform des Hedonismus zufolge gibt es neben dem Moralprinzip und den durch es bestimmten Gegenständen der reinen praktischen Vernunft nur einen einzigen Gegenstand des Willens und damit des nicht-moralischen Handelns: das Gefühl der Lust und Unlust angesichts eines (begehrten) Objekts. Höwing stellt die Position der Vertreter des „psychologischen Hedonismus“ folgendermaßen dar:⁸⁹ Zum einen meinten sie, nach Kant liege dem Begehren nicht eine unmittelbare faktische Lust zugrunde, sondern nur die Erinnerung an eine solche, da sich das Begehren auf das Gefühl der Lust selbst als Gegenstand richte. Und zum anderen könnten damit alle Gegenstände sinnlicher Lust nur als Mittel zur Lustmaximierung verstanden, nicht aber als Zwecke selbst begehrt werden. Einziger empirischer Zweck an sich oder „intrinsischer Wert“ (Höwing 2013a, 140) sei für den psychologischen Hedonismus das Gefühl der Lust oder Unlust bzw. die Maximierung der Annehmlichkeiten oder Reduzierung/Vermeidung von Schmerzen. Tatsächlich tritt dies besonders eindrücklich überall dort zutage, wo Kant das Gute und Böse vom Angenehmen und Unangenehmen (Wohl und Übel) abgrenzt. So z. B. in KpV, wo er betont, letztere ließen sich „durch bloße Empfindung, welche sich auf einzelne Subjekte und deren Empfänglichkeit einschränkt“ bestimmen, während die ersten „jederzeit durch Vernunft, mithin durch Begriffe, die sich allgemein mittheilen lassen“ beurteilt werden müssten (KpV 5:58.26 f.).Wollte man nun gut nennen, was mit der Empfindung des Angenehmen verbunden ist, so müsste man „g u t nennen, was ein M i t t e l zum Angenehmen, und B ö s e s , was Ursache der Unannehmlichkeit und des Schmerzes ist“ (KpV 5:58.32– 34). Da nun aber die mit einer solchen Mittelbestimmung und dem auf diese Weise bestimmten Begriff des Guten verbundenen praktischen Maximen (sic!) „nie etwas für sich selbst, sondern immer nur i r g e n d w o z u Gutes zum Gegenstand des Willens enthalten“, so würde das Gute
Reath spricht auch von einem „hedonistic view of non-moral motives and choice.“ (Reath 2006, 33) Er gibt einen guten Überblick über die Diskussion, weshalb diese hier auch nicht en détail ausgeführt werden muss (vgl. Höwing 2013a, 139 ff. und 156 ff.).
3.1 Ein hedonistischer Glücksbegriff?
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jederzeit blos das Nützliche sein, und das, wozu es nutzt, müßte allemal außerhalb des Willens in der Empfindung liegen (KpV 5:59.4– 7).
Kant schließt den Gedanken ab: Wenn diese nun, als angenehme Empfindung, vom Begriffe des Guten unterschieden werden müßte, so würde es überall nichts unmittelbar Gutes geben, sondern das Gute nur in den Mitteln zu etwas anderm, nämlich irgend einer Annehmlichkeit, gesucht werden müssen (KpV 5:59.7– 11).
Dies ist einer der Hauptkritikpunkte Kants gegenüber Humes Empirismus, wie schon ein kurzer Blick in dessen Untersuchung über die Prinzipien der Moral zeigt. Zu Beginn des neunten Abschnitts heißt es dort zum Beispiel: Alles, was irgendwie wertvoll ist, reiht sich so selbstverständlich in die Unterteilung nützlich oder angenehm ein, in das utile oder das dulce, dass man sich nur schwer vorstellen kann, warum wir überhaupt noch weitersuchen oder diese Frage zum Gegenstand eingehender Forschung und Untersuchung machen sollten (Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, 196).
In Opposition zum einzig der Vernunft entspringenden Moralgesetz setzt Kant daher letztlich Glückseligkeit mit dem Gefühl des Angenehmen gleich, die „Summe aller Neigungen“ scheint sich ausschließlich in einem solchen Gefühl auszudrücken. Es ist noch einmal hervorzuheben, dass mangels einer objektiven Theorie über das, was jedem angenehm ist, diese Mittel auch nicht, wie bei Regeln der Geschicklichkeit, objektiv durch Vernunft eingesehen werden können. Legt man einen solchen Glücksbegriff zugrunde, so ist die Versuchung groß, Kant als „Dominanztheoretiker des Glücks“ zu betrachten, dem die „eigentliche“ Klugheit abhanden gekommen ist. Das als angenehmer Zustand definierte Glück dominiert alle möglichen darunter zu fassenden Zwecke und macht sie dadurch zu bloßen Mitteln. Wie im ersten Kapitel dargelegt, kann eine solche Klugheit nichts anderes als eine Form der Geschicklichkeit sein. Deshalb kann Luckner betonen, dass zwar sowohl die antiken Lehren (Platon, Aristoteles), als auch der Kantische Klugheitsbegriff auf dem Glück (der Glückseligkeit) als intrinsischem Ziel beruhten, d. h. sowohl für die einen als auch für die anderen Glück ein um seiner selbst willen erstrebtes Gut sei. Während jedoch der Dominanztheorie zufolge das Glück als höchstes Ziel menschlichen Strebens angesehen werde, dem sich alle anderen Ziele unterordnen ließen, verstünden die Vertreter der Inklusivtheorie die das Glück hervorbringenden Handlungen nicht als Mittel zu diesem außerhalb ihrer selbst liegenden Ziel, sondern als integralen Bestandteil desselben. Das Glücksstreben erscheine daher nicht, wie bei Kant, als „zusätzliche Motivationsquelle
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3 Die Idee der Glückseligkeit
neben z. B. den moralisch-praktischen Vernunfterwägungen“ (Luckner 2005a, 55). Luckner ordnet also Philosophen wie Kant, Hobbes und Machiavelli der Dominanztheorie zu, während Platon und Aristoteles als klassische Vertreter der Inklusivtheorie gelten könnten. Vorteil dieser letzteren Theorien sei, dass in ihnen die Klugheit aufgewertet würde „um die „Dimension […], die ihr in der Neuzeit abhanden gekommen ist: die der Lebensführung auch unter moralischen Gesichtspunkten.“ (Luckner 2005b, 250)⁹⁰ Dieser „hedonistischen Lesart“ zufolge besteht nun die einzige Möglichkeit, so etwas wie empirische Zwecke zu bestimmen, um sich für oder gegen einzelne Handlungen zu entscheiden, darin, sie daraufhin zu überprüfen, in welchem Verhältnis sie auf das Subjekt und seinen sinnlichen Zustand stehen. Solche Kriterien aber beruhen dann nicht auf einem Rationalitäts- oder vernünftigen Begründungsanspruch, sondern eher auf der Tatsache, dass empirische Zwecke wesentlich verbunden sind mit dem Zustand der Person und ihrem Gefühl. Ein Kriterium für nicht-moralische Handlungen wird nach dieser Interpretation daher auf das Verhältnis des möglichen Zwecks (des begehrten Objekts) zum Gefühl achten müssen.⁹¹ Wie Kant selbst ausführt, können die möglichen Zwecke als Begehrungen daraufhin beurteilt werden, in welchem Grad sie den Zustand des Subjekts affizieren werden (vgl. KpV 5:23.19). Sie lassen sich ordnen nach den Kriterien der Extensität, Intensität und Protensivität. Da im Fall nicht-moralischer Handlungen Kant zufolge die Willensbestimmung „auf dem Gefühle der Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit“ beruht, die jemand „aus irgend einer Ursache erwartet“ (KpV 5:23.29 – 31), so gilt: „Nur wie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wiederholt diese Annehmlichkeit sei, daran liegt es ihm, um sich zur Wahl zu entschließen.“ (KpV 5:23.32 f.) Und auch in seiner „[a]llgemeine[n] Anmerkung zur Exposition der ästhetischen reflectirenden Urtheile“ (KdU 5:266.18 – 19) unterscheidet Kant zwischen dem Angenehmen, dem Schönen, dem Erhabenen und dem Schlechthin-Guten. Dabei bezeichnet er das Angenehme, insofern es „Triebfeder der Begierden“ ist, als „durchgängig von einerlei Art, woher es auch
Höffe dagegen ist der Auffassung, Aristoteles trenne nicht zwischen Dominanz des Glücks als Glückswürdigkeit und Inklusivität des Glücks als tatsächlichem Genuss, während Kant diese Trennung durchführe, beide (Dominanz und Inklusivität) aber mit dem höchsten Gut wieder zusammenführe. Er versteht das höchste Gut bei Kant als supremum bonum, d. h. im Sinne einer Dominanz, dagegen das höchste Gut als summum bonum im Sinne der Inklusivität (vgl. Höffe 2012, 171 f.). Er beruft sich mit seiner Unterscheidung auf Hardie 1968, der diese im Kontext seiner Deutung der Aristotelischen Ethik eingeführt hat. Eine Analyse des höchsten Gutes bei Kant würde im Rahmen dieser Arbeit indes zu weit führen. Vgl. auch Fischer 2003, 67 ff. sowie Kapitel 3.3.2.
3.1 Ein hedonistischer Glücksbegriff?
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kommen“ mag und wie unterschiedlich auch die ihm zugrunde liegenden Vorstellungen sein mögen (KdU 5:266.23 – 26). Aus diesem Grunde sei ihr Einfluss auf das Gemüt auch nur quantitativ zu messen, nämlich nach der „Menge der Reize (zugleich und nacheinander)“ (KdU 5:266.27) sowie nach der „Masse der angenehmen Empfindung“ (KdU 5:266.28). In dem Moment, wo eine Vorstellung die Willkür bestimme, indem dadurch zugleich „ein Gefühl einer Lust im Subjecte“ vorausgesetzt werde (KpV 5:23.8), hänge sie „von der Beschaffenheit des inneren Sinnes“ ab (KpV 5:23.9) und unterscheide sich von anderen Vorstellungen nur dem Grade nach: Denn [w]ie würde man sonst zwischen zwei der Vorstellungsart nach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründen eine Vergleichung der G r ö ß e nach anstellen können, um den, der am meisten das Begehrungsvermögen afficirt, vorzuziehen? (KpV 5:23.19 – 22)
Höwing nimmt nun Kant gegen diesen Vorwurf des Hedonismus nicht-moralischer Handlungen in Schutz, indem er dem den Willen bestimmenden Gefühl eine „evaluative Funktion“ oder „evaluative Wahrnehmung“ zuschreibt. Insbesondere Kants Auffassung aus der KdU, das Angenehme gefalle unmittelbar, widerspreche dieser Deutung.⁹² Vielmehr erfülle sinnliche Lust selbst die Funktion einer „evaluativen Wahrnehmung“ dem Subjekt generell angenehmer Empfindungen (Lustzustände), die uns dazu befähige, die Gegenstände der sinnlichen Lust zu identifizieren (Höwing 2013a, 140): Um von einer logisch einzelnen Begierde zu einer praktischen Vorschrift zu kommen, müssen wir folglich die Wertschätzung, derer wir uns in der Lust an einem Gegenstand unmittelbar bewusst werden, von einer allgemeinen Beschreibung des angenehmen Gegenstandes abhängig machen (Höwing 2013a, 168).
Er nennt dies „evaluative Reflexion“.⁹³ Die Feststellung „Dieses K ist angenehm“ sei damit ein spezieller Fall der allgemeinen Evaluation, derzufolge Ks generell Auch Paton sieht die Schwierigkeiten in der Definition der Glückseligkeit als umfassenden Zweck. Er merkt an, es sei „absurd anzunehmen, dass das einzige Objekt, das wir begehren, und der einzige Zweck, den wir erstreben, fortdauerndes Vergnügen und die Vermeidung von Schmerz sei. Das Prinzip vernünftiger Selbstliebe [welche er eine Seite zuvor als praktische Vernunft oder Klugheit bezeichnet, C.G.] ist nicht so sehr ein Prinzip, die Mittel zu fortdauerndem Wohlgefühl zu gebrauchen, als eher ein Prinzip, unsere Zwecke,von denen das Wohlgefühl nur einer ist, zu einem einzigen, umfassenden Ganzen zu ergänzen.“ (Paton 1962, 95) Wie dieses Prinzip dann aber handlungsanweisend wirken könnte, gibt er nicht an. Ähnlich unterscheidet Grenberg zwischen einem Interesse als Beurteilung der Einstellung zu einem Objekt und dem Zweck als der Beurteilung des Objektes als „gut“. Beide Arten von praktischen Urteilen seien eng miteinander verbunden, könnten nicht unabhängig voneinander
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3 Die Idee der Glückseligkeit
angenehm seien (Höwing 2013a, 168 f.). Auf diese Weise könnten wir auf eine Art Generalisierung unserer Lust an Gegenständen derselben Art zurückgreifen und sie auf die Zukunft übertragen (annehmen, Gegenstände derselben Art seien uns generell angenehm), sodass die Entscheidung auf der faktisch erfahrenen Lust beruhe und nicht auf einer Lusterwartung, die selbst wiederum auf ein Begehren zurückgehe. Denn dieses könne erst aus einer faktischen Lust entstehen, nicht aber aus einer Lusterwartung. Damit liege der Grund des Begehrens in der sinnlichen Lust selbst, die uns die Gegenstände als an sich, als unmittelbar angenehm vorstelle und nicht in Bezug auf weitere Zwecke. Höwing kann damit dem Einwand der hedonistischen Psychologie begegnen, insofern er zeigt, dass Lust nicht als einzig möglicher um seiner selbst gewählter nicht-moralischer Zweck auftritt, sondern solche Zwecke sich erst aus dem Gefühl der Lust und Unlust heraus ergeben. Wie ich nun zeigen möchte, ist jedoch nicht viel gewonnen mit einer solchen „evaluativen Funktion des Gefühls“, wenn es um die Bestimmung empirischer Zwecke geht, welche nach einer Regel (Maxime) gewählt werden und auf die sich der Begriff der Klugheit als Klugheit zu stützen hat. Höwing selbst beruft sich darauf, dass es Vernunft brauche, um die Verwirklichung der Zwecke zu beurteilen (vgl. Höwing 2013a, 185 ff.).⁹⁴ Wie wir oben
auftreten und gäben gemeinsam eine „rational evaluation“ ab, „which raises the agent out of a merely sensuous desiring state into the more rational state of valuing something“ (Grenberg 2001, 169). Herman verbindet in ähnlichem Sinn Gefühl (desire) und Vernunft miteinander, indem sie die menschliche Entwicklung als „reason-responsive“ auffasst, sodass von einem Potential zur Vernünftigkeit („potential for rationality“) gesprochen werden könne. Die Prinzipien der Vernünftigkeit (rationality) drückten sich deskriptiv in unserem Tätigsein und unserer Entwicklung aus und seien daher zugleich in einem reflexiven Sinn normativ (Herman 1996, 42). Moralisches Lernen könne damit als „a matter of refinement of judgment“ (Herman 1996, 43) verstanden werden, und Neigungen und Begehren hätten selbst eine Geschichte, eine Entwicklung hin zur Entfaltung des Potentials der Vernünftigkeit. Erst auf diese Weise könnten dann Triebfedern überhaupt – und damit auch die moralische – als Wirkung der Vernunft, als vernünftiges Motiv des Handelns angesehen werden (vgl. Herman 1996, 48 ff.). Ähnlich wie Reath und unter Verweis auf ihn führt Flikschuh ins Feld, ein praktisches Interesse entstehe durch die Bildung vernünftiger Gründe für das Begehren, indem die Vorstellung einer gefallenden Vorstellung als möglichem Objekt des Begehrens durch Anwendung der reinen Verstandeskategorien (und damit durch einen Akt der produktiven Einbildungskraft) zu einem solchen möglichen Objekt würden. Zu diesem praktischen Interesse müssten dann noch evaluative Fähigkeiten („evaluative capacities“) hinzutreten, d. h. die Beurteilung, ob das Objekt auch zu verwirklichen ist oder nicht. Obwohl die Beurteilung eines Begehrens („desire evaluation“) in Übereinstimmung mit hypothetischen Imperativen in diesem Sinne zwar vernünftig, aber objektorientiert sei, könne instrumentelles Handeln nicht als ganz und gar sinnenabhängig aufgefasst werden (vgl. Flikschuh 2002, 200 – 204).
3.1 Ein hedonistischer Glücksbegriff?
91
sahen, kann das Wissen um die Kausalzusammenhänge möglicher Zwecke durchaus als Kriterium herangezogen werden, wenn es um die Entscheidung für den einen oder anderen Zweck geht: Zwecke können (und sollen) so gesetzt werden, dass sie sich in eine widerspruchsfreie und in sich konsistent bestehende Ordnung bringen lassen, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen in Bezug auf die Kenntnis über die Durchführbarkeit der verfolgten Zwecke, zum anderen auf eine gewisse Konsistenz dieser Zwecke untereinander, sodass die Durchführbarkeit nicht gefährdet ist, aber auch, dass sich in ihrer Begründung (den sie bestimmenden Maximen) kein Widerspruch ergibt. Das Gebot der Widerspruchsfreiheit – in Analogie zur durch den kategorischen Imperativ geforderten Widerspruchsfreiheit der Maximen – lautet dann entsprechend einem Hypothetischen Imperativ: „Handle vernünftig“ oder „Sei vernünftig“ oder „Gewähre deiner Vernunft entscheidenden Einfluss auf deine Handlungen“. Wie wir sahen, ist eine solche Konsistenzforderung jedoch nicht hinreichend für die Beurteilung der Kriterien klugen, also auf Glückseligkeit bezogenen Handelns, ist damit das eigentliche Merkmal der Klugheit noch nicht erfasst: das Handeln mittels subjektiver Maximen und gemäß vernünftig nachvollziehbarer Kriterien zu orientieren. Um den eigentlichen Kern der Klugheit erfassen zu können, müssen wir uns vielmehr auf dasjenige stützen, was Kant selbst schon in GMS zu ihrer Unterscheidung von Geschicklichkeit vorgebracht hat: Dort bezeichnet er die dem Menschen gegebene „Neigung zur Glückseligkeit“ als „Idee“, in der sich „alle Neigungen zu einer Summe vereinigen.“ (GMS 4:399.8 – 10) Da der Mensch sich „von der Summe der Befriedigung aller [Neigungen, C.G.] keinen bestimmten Begriff machen“ könne (GMS 4:399.12 f.), nennt Kant sie auch eine „schwankende Idee“ (GMS 4:399.16). An anderer Stelle betont er, es handle sich bei dem Begriff der Glückseligkeit nicht um „ein Ideal der Vernunft, sondern der Einbildungskraft“ (GMS 4:418.36 f., vgl. KdU V, 430.6 ff.). So heißt es bereits in KrV: Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist.⁹⁵ Wenn die Bedingungen der Ausübung unserer freien Willkür aber empirisch sind, so kann die Vernunft dabei keinen anderen als regulativen Gebrauch haben, und nur die Einheit empirischer Gesetze zu bewirken dienen, wie z. B. in der Lehre der Klugheit die Vereinigung aller Zwecke, die uns von unseren Neigungen aufgegeben sind, in den einigen, die G l ü c k s e l i g k e i t , und die Zusammenstim-
Aus in der Einleitung dargelegten Gründen gehe ich auf diese Beziehung zwischen Freiheit und Begriff des Praktischen hier nicht weiter ein. Bojanowski bemerkt zu dieser Passage, Kant sei sich zwar schon zu diesem Zeitpunkt „über die unterschiedliche Herkunft und den daraus resultierenden unterschiedlichen Geltungsstatus von moralischem und pragmatischem Gesetz im Klaren“, habe daraus jedoch noch nicht „alle Konsequenzen für seinen Freiheitsbegriff gezogen.“ (Bojanowski 2006, 198)
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3 Die Idee der Glückseligkeit
mung der Mittel, um dazu zu gelangen, das ganze Geschäfte der Vernunft ausmacht, die um deswillen keine andere als p r a g m a t i s c h e Gesetze des freien Verhaltens, zu Erreichung der uns von den Sinnen empfohlenen Zwecke, und also keine reine Gesetze, völlig a priori bestimmt, liefern kann (KrV A 800/B 828).
Und in der Religionsschrift stellt Kant fest: Natürliche Neigungen sind, a n s i c h s e l b s t b e t r a c h t e t , g u t , d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt K l u g h e i t (RGV 6:58.1– 7).
Um von Glückseligkeit als Begriff (und Prinzip) sprechen zu können, bedarf es also der Klugheit, und diese stellt Kant explizit als Vernunfttätigkeit vor. Damit sind wir direkt verwiesen auf die bereits angesprochene Zähmung der Leidenschaften bzw. Neigungen als Teil der Kultur der Disziplin (vgl. Kapitel 2.2.2). Hier nun folgt die Präzision und Bestätigung des Vermuteten: Dies erfolgt durch Klugheit. Bestehen also Glück und Glückseligkeit zum einen aus bloßen Neigungen, so müssen diese doch durch eine Tätigkeit des Menschen geordnet und unter einem Begriff zusammengehalten werden. Es muss sich folglich um mehr handeln als um eine bloße Summe von miteinander assoziierten und auf einen Zustand bezogenen angenehmen Empfindungen, wenn durch diese (unter einer solchen Idee der Glückseligkeit) das Handeln angeleitet werden soll, und zwar, wie zum Ende des ersten Kapitels deutlich wurde, durch diejenigen subjektiven Grundsätze, die Kant als Maximen bezeichnet. So offensichtlich hier ein alternativer Glücksbegriff vorliegt, der eine Antwort auf die Frage nach der Klugheit zu versprechen scheint, so wenig sind dennoch bisher die Konsequenzen en détail untersucht worden, die daraus folgen (eine Ausnahme bilden Fischer 2003 und Kain 1999, auf deren Interpretation ich weiter unten eingehen werde). Und so wenig hat auch Kant selbst eine solche Klugheitslehre ausgearbeitet (vgl. Hinske 1989, 144). Was also haben wir uns unter einem Ideal der Einbildungskraft vorzustellen? Wie kommt das Ideal zustande, wie entwirft es sich der Mensch, und wie hat man sich den diesem Entwurf entspringenden Inhalt zu denken? Was folgt daraus für die Regeln der Klugheit, die sich ja im Rückgriff darauf erst angeben lassen? Zuletzt: Wie verhält sich ein solcher Begriff von Glückseligkeit und Klugheit zu demjenigen, der mit Glückseligkeit als einem bloß angenehmen Zustand verbunden sein soll? Im Folgenden soll aus dem Verständnis der Glückseligkeit als Idee (bzw. Ideal) eine Art „Theorie des Glücks“ bzw. der Bestimmung empirischer Zwecke herge-
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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leitet werden. Zu diesem Zweck bietet es sich an, Glückseligkeit als ästhetische Idee zu rekonstruieren. Ich werde zunächst erläutern, was Kant unter der ästhetischen Idee des Schönen versteht und gehe auf seine Unterscheidung zwischen ästhetischer Normalidee und Idee bzw. Ideal der Schönheit ein (3.2). Das Verhältnis zwischen beiden Arten von ästhetischen Ideen wird sich als aufschlussreich für die Frage nach der „ästhetischen“ Idee der Glückseligkeit und ihrem Verhältnis zur Klugheit erweisen (3.3). Erst unter diesen Voraussetzungen wird verständlich, inwieweit es auch für Kant eine Bestimmung empirischer Zwecke geben kann, die nicht als bloße Mittel zu einem als angenehm definierten Zustand aufgefasst werden müssen, sondern im Gegenteil selbst zur Herausbildung dieser Idee der Glückseligkeit beitragen.
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen Unter einer Idee versteht Kant „einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann.“ (KrV A 327/ B 383) Die sich aus der „Form der Vernunftschlüsse“ ergebenden Begriffe sind reine Vernunftbegriffe oder „t r a n s c e n d e n t a l e I d e e n“ (KrV A 321/B 378). Denn in ihrem transzendentalen Gebrauch bezieht sich die Vernunft auf die absolute Totalität im Gebrauche der Verstandesbegriffe […] und sucht die synthetische Einheit, welche in der Kategorie gedacht wird, bis zum Schlechthin=Unbedingten hinauszuführen (KrV A 326/B 383).
Mit dem transzendentalen Vernunftbegriff „von der T o t a l i t ä t d e r B e d i n g u n g e n zu einem Bedingten“ (KrV A 322/B 379) zielt sie darauf ab, die Richtung auf eine gewisse Einheit vorzuschreiben, von der der Verstand keinen Begriff hat, und die darauf hinausgeht, alle Verstandeshandlungen, in Ansehung eines jeden Gegenstandes, in ein a b s o l u t e s G a n z e s zusammen zu fassen (KrV A 326 f./B 383).
Der „Nutzen“ dieser transzendentalen Ideen oder reinen Vernunftbegriffe besteht Kant zufolge daher genau darin, den Verstand in die Richtung zu bringen, darin sein Gebrauch, indem er aufs äußerste erweitert, zugleich mit sich selbst durchgehends einstimmig gemacht wird (KrV A 323/B 380).
Wenn Kant von einer Idee der Glückseligkeit spricht, so kann damit deshalb keine transzendentale Vernunftidee gemeint sein, denn diese sind unabhängig von jeder Erfahrung zu bilden, während es ja gerade Merkmal der Glückseligkeit
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3 Die Idee der Glückseligkeit
ist, dass sie alle ihre Elemente der Erfahrung entnimmt.⁹⁶ Wollen wir sie als Begriff bzw. Idee darstellen, so müssen wir auf eine andere Art von Ideen zurückgreifen – und da bleiben nur die ästhetischen Ideen. Um zu verstehen, was Kant unter einer ästhetischen Idee verstanden haben könnte und inwiefern sie als Modell für die Bildung der Idee der Glückseligkeit (und damit auch der Bestimmung der ihr zugehörigen empirischen Zwecke) in Frage kommt, soll im Folgenden zunächst erläutert werden, wodurch sich das an einer solchen Idee orientierte ästhetische Urteil von einem reinen Geschmacksurteil unterscheidet (3.2.1). Anschließend werden wir die ästhetische Idee als ein Produkt von Einbildungskraft und Verstand betrachten (3.2.2). Sodann ist aufzudecken, dass das Subjekt wesentlich auf Genie und Geschmack zurückgreift, um das Ideal der Schönheit zur Darstellung zu bringen und hierzu entsprechende Regeln der Kunst erfindet, die die eigentliche Nachfolge in der Darstellung des Schönen begründen (3.2.3).
3.2.1 Innere Zweckmäßigkeit als Vollkommenheit in der Idee der Schönheit Um zu verstehen, was es mit einer Idee der Schönheit und sodann mit einer Idee der Glückseligkeit auf sich hat und wie sie sich in Kants Konzeption der Erkenntniskräfte und Urteilsformen einfügt, wenden wir uns kurz seinem Verständnis eines reinen Geschmacksurteils überhaupt zu. Die Eigentümlichkeit eines solchen besteht darin, dass es „die allgemeine Mittheilungsfähigkeit des Gemüthszustandes in der gegebenen Vorstellung“ ist, „welche als subjective Bedingung des Geschmacksurtheils demselben zum Grunde liegen und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muß.“ (KdU 5:217.8 – 11) Da aber eigentlich nur dasjenige allgemein mitgeteilt werden kann, was „Erkenntniß und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntniß gehört“ (KdU 5:217.12 f.) ist, folgert Kant, ein solcher subjektiver Bestimmungsgrund, soll er dennoch allgemein mitteilbar sein, könne kein anderer als der Gemüthszustand sein, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zu einander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf E r k e n n t n i ß ü b e r h a u p t beziehen.“ (KdU 5:217.18 – 20)
Kant erläutert weiter: Die Erkenntnißkräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnißregel
Vgl. die bereits erwähnte „Stufenleiter“ zur Klärung des Begriffs „Idee“ in KrV A 320/B 376 f.
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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einschränkt. Also muß der Gemüthszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt sein. Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntniß werde, E i n b i l d u n g s k r a f t für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung und Ve r s t a n d für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt. Dieser Zustand eines f r e i e n S p i e l s der Erkenntnißvermögen bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, muß sich allgemein mittheilen lassen: weil Erkenntniß als Bestimmung des Objects, womit gegebene Vorstellungen (in welchem Subjecte es auch sei) zusammen stimmen sollen, die einzige Vorstellungsart ist, die für jedermann gilt (KdU 5:217.21– 30).
Das reine Geschmacksurteil, das einen wahrgenommenen Gegenstand als schön beurteilt, trifft demnach eine Aussage über diesen Gegenstand im Rekurs auf einen Gemütszustand, in welchen jeder Mensch sich hineinversetzen kann, da alle Menschen mit denselben Erkenntnisvermögen ausgestattet sind. Indem solch ein Gemütszustand allen angesonnen werden kann, wird auch das beim „freien Zusammenspiel“ dieser Erkenntniskräfte erzeugte Gefühl der Lust (oder Unlust) nachvollziehbar: „Die Lust, die wir fühlen, muthen wir jedem andern im Geschmacksurtheile als nothwendig zu“ (KdU 5:218.19 f.). Das reine Geschmacksurteil hat also als Bestimmungsgrund lediglich „das Gefühl (des innern Sinnes) jener Einhelligkeit im Spiele der Gemüthskräfte […], sofern sie nur empfunden werden kann.“ (KdU 5:228.29 – 31) Die Beurteilung eines Gegenstandes als schön erfolgt damit nicht direkt über die Empfindung dieses Gegenstandes als schön, sondern dadurch, dass das Subjekt seine Erkenntniskräfte in einer Weise zusammenspielen lässt, die ein Gefühl der Lust an der Angemessenheit dieser Erkenntniskräfte für ihre Aufgabe (die Erkenntnis) erzeugt. In den Worten Brandts: „Das Spiel der Erkenntniskräfte gewährleistet die gesuchte Mitteilbarkeit, ohne objektive Erkenntnis zu stiften“ (Brandt 2007a, 414). Im Gegensatz zu solchen reinen ästhetischen Urteilen, die sich auf Gegenstände beziehen, ohne die Beurteilung mit dem Begriff des Gegenstandes zu vermischen, sind Urteile, die sich auf eine ästhetische Idee beziehen, grundsätzlich keine reinen Geschmacksurteile. Das reine Geschmacksurteil über das Schöne kann jedoch auf zwei Arten „verunreinigt“ werden: So wie nun die Verbindung des Angenehmen (der Empfindung) mit der Schönheit, die eigentlich nur die Form betrifft, die Reinigkeit des Geschmacksurtheils verhinderte: so thut die Verbindung des Guten (wozu nämlich das Mannigfaltige dem Dinge selbst nach seinem Zwecke gut ist) mit der Schönheit der Reinigkeit desselben Abbruch (KdU 5:230.9 – 13).
Das reine Geschmacksurteil kann somit verunreinigt werden, indem es mit „Reiz und Rührung“ (KdU 5:224.3) vermischt wird, auf das Angenehme und Unangenehme abzielt und damit ein sinnliches Wohlgefallen am Gegenstand erzeugt (vgl.
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3 Die Idee der Glückseligkeit
Kapitel 4.2). Es kann aber auch dadurch verunreinigt werden, dass es mit einem intellektuellen Wohlgefallen verbunden wird „an dem Mannigfaltigen in einem Dinge in Beziehung auf den innern Zweck, der seine Möglichkeit bestimmt“, d. h. mit einem „auf einem Begriffe begründete[n] Wohlgefallen“ (KdU 5:224.21– 23). In beiden Fällen ist das Geschmacksurteil nicht mehr rein, aber während es im ersten Fall eigentlich zum Sinnengeschmack gezählt werden muss, handelt es sich im zweiten Fall bloß um ein Urteil über eine anhängende im Unterschied zu einer freien Schönheit. Dass Kant in diesem Sinne dem Naturschönen den „Vorzug vor dem Kunstschönen“ (KdU 5:299.32) gibt, räumt er selber ein, hält er doch das mit ersterem verbundene „u n m i t t e l b a r e [ ] I n t e r e s s e an der Schönheit der Natur“ für „ein Kennzeichen einer guten Seele“ (KdU 5:298.33 – 35), welches „mit der geläuterten und gründlichen Denkungsart aller Menschen“ übereinstimme, „die ihr sittliches Gefühl cultiviert haben.“ (KdU 5:299.34– 36) Kant erläutert den Unterschied zwischen freier und anhängender Schönheit folgendermaßen: Die erstere setzt keinen Begriff von dem voraus, was der Gegenstand sein soll; die zweite setzt einen solchen und die Vollkommenheit des Gegenstandes nach demselben voraus (KdU 5:229.11– 14).
Anschließend führt er Beispiele für beide Arten von Schönheit an: Blumen, viele (aber nicht alle!) Vögel, „eine Menge Schalthiere des Meeres“ (KdU 5:229.25), desweiteren „Zeichnungen à la grecque, das Laubwerk zu Einfassungen oder auf Papiertapeten“ (KdU 5:229.28 f.), aber auch Phantasien in der Musik und überhaupt alle Musik ohne Text gehören allesamt zu den freien Schönheiten. Sie bedeuten „für sich nichts: sie stellen nichts vor, kein Object unter einem bestimmten Begriffe, und sind freie Schönheiten.“ (KdU 5:229.29 – 31) Adhärierende Schönheit aber kommt Urteilen über die Schönheit eines Menschen (und unter dieser Art die eines Mannes oder Weibes oder Kindes), die Schönheit eines Pferdes, eines Gebäudes (als Kirche, Palast, Arsenal oder Gartenhaus)
zu. Sie „setzt einen Begriff vom Zwecke voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll, mithin einen Begriff seiner Vollkommenheit“ (KdU 5:230.4– 8).⁹⁷
Zur Abgrenzung des reinen Geschmacksurteils gegen andere Urteilsformen vgl. Recki 2006, 154 ff. Sie unterscheidet zwischen der Abgrenzung der anhängenden gegen die freie Schönheit und der Abgrenzung des sinnlich Angenehmen gegen das Schöne (Recki 2006, 161), wobei die Annehmlichkeit des Genusses „im markanten Gegensatz zum Universalismus des interesselosen Wohlgefallens auf das private Interesse der Sinnlichkeit bezogen wird.“ (Recki 2006, 161) Recki argumentiert meines Erachtens zu Recht dafür, dass das reine Geschmacksurteil sich durchaus mit
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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Nun ist es von Bedeutung, auf welche Weise diese Zweckmäßigkeit verstanden wird, die ausschlaggebend ist für die Beurteilung dieser Gegenstände (bzw. Lebewesen) als schön. Denn das reine Geschmacksurteil einer freien Schönheit ist einzig und allein gerichtet auf die subjective Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüthe des Anschauenden […], welche wohl eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes im Subject und in diesem eine Behaglichkeit desselben eine gegebene Form in die Einbildungskraft aufzufassen, aber keine Vollkommenheit irgend eines Objects, das hier durch keinen Begriff eines Zwecks gedacht wird, angiebt (KdU 5:227.29 – 34).
Eine anhängende Schönheit hingegen bezieht sich offensichtlich auf die betrachteten Objekte (wenn auch in ihrem Verhältnis auf das betrachtende Subjekt), sodass die Schönheit auch nur in Bezug auf eine solche objektive Zweckmäßigkeit beurteilt werden kann. Diese aber teilt Kant ein in die äußere der Nützlichkeit und die innere der Vollkommenheit des Gegenstandes (vgl. KdU 5:226.31 f.). Die erste schließt Kant für die ästhetische Beurteilung sofort aus, denn ein Wohlgefallen an einem Gegenstand, insofern er nützlich ist, ist kein „unmittelbares Wohlgefallen“ mehr, was aber die „wesentliche Bedingung des Urtheils über Schönheit ist.“ (KdU 5:227.1 f.) Die zweite dagegen, die innere Zweckmäßigkeit als Vollkommenheit, sieht er durchaus in einem bestimmten Verhältnis zum Geschmacksurteil über das Schöne. Kant prüft nun, ob Schönheit mit dem Begriff der Vollkommenheit identisch ist und fährt fort: Die objective Zweckmäßigkeit zu beurtheilen, bedürfen wir jederzeit den Begriff eines Zwecks und (wenn jene Zweckmäßigkeit nicht eine äußere (Nützlichkeit), sondern eine innere sein soll) den Begriff eines innern Zwecks, der den Grund der innern Möglichkeit des Gegenstandes enthalte (KdU 5:227.10 – 13).
Zweck überhaupt aber ist dasjenige, „dessen B e g r i f f als der Grund der Möglichkeit des Gegenstandes selbst angesehen werden kann“ (KdU 5:227.14 f., vgl. Kapitel 1.1.1). Innere Zweckmäßigkeit hingegen soll den inneren Grund des Gegenstandes angeben, d. h. er soll aussagen, „was das Ding sein solle“ (KdU 5:230.7). Der Begriff des Dinges bestimmt somit, was der Gegenstand sein soll bzw. wie und als welcher er hervorzubringen ist. Vollkommenheit als objektive Zweckmäßigkeit ist dann gegeben, wenn das Mannigfaltige zu diesem Begriff zusammenstimmt. Eine Kirche wird demnach nur dann als schön beurteilt, wenn sie als schöne Kirche erscheint, d. h. ihre Schönheit ist nicht unabhängig von der
anderen, empirischen Formen des ästhetischen Urteils verträgt, d. h. dass es diese nicht grundsätzlich ausschließt (vgl. Recki 2006, 164).
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3 Die Idee der Glückseligkeit
Tatsache, dass es sich um eine Kirche und nicht um ein Schwimmbad handelt. Dabei gibt der Begriff selbst „die Regel der Verbindung desselben an ihm“ (KdU 5:227.19). D.h. der Begriff enthält die Regel, nach der das Mannigfaltige zu diesem Begriff als vollkommenem Begriff, also als Zweck, zusammenzufügen ist. Die innere Zweckmäßigkeit setzt als Vollkommenheit „einen Begriff vom Zweck voraus, welcher bestimmt, was das Ding sein soll“, und der Gegenstand wird demnach nicht daraufhin beurteilt, was er ist (dies ist die Erkenntnis des Gegenstandes), sondern daraufhin, was er sein soll. Nur wenn die (in der Kunst dargestellte) Kirche also dem entspricht, was eine Kirche als Kirche ausmacht, sie also in ihren wesentlichen Merkmalen mit dem übereinstimmt, was der Mensch unter dem Begriff einer Kirche zusammenfasst, kann sie auch als schöne Kirche beurteilt werden. Kant nennt diese Vollkommenheit die „q u a l i t a t i v e Vollkommenheit“ und unterscheidet sie von der quantitativen, die die Vollständigkeit eines Gegenstandes im Sinne eines „Größenbegriff[s] (der Allheit)“ bezeichnet. Der quantitativen Vollkommenheit geht die qualitative voraus, insofern diese zuerst bestimmt, „was das Ding sein soll“, und wonach dann erst quantitativ beurteilt werden kann, ob alle dazu erforderlichen und dazugehörigen Elemente vorhanden sind (KdU 5:227.20 – 24). Indem auf diese Weise das ästhetische Wohlgefallen mit der Vorstellung eines Zwecks als Vollkommenheit in einem Begriff, also mit dem intellektuellen Wohlgefallen, verbunden wird, wird der Geschmack fixiert und ist insofern nicht mehr frei. Hingegen können ihm nun „in Ansehung gewisser zweckmäßig bestimmten Objecte Regeln vorgeschrieben werden“ (KdU 5:230.32 f.). Zugleich handelt es sich dabei dann nicht um Regeln des Geschmacks, sondern um solche der Vereinbarung des Geschmacks mit der Vernunft, d. i. des Schönen mit dem Guten, durch welche jenes zum Instrument der Absicht in Ansehung der letztern brauchbar wird, um diejenige Gemüthsstimmung, die sich selbst erhält und von subjectiver allgemeiner Gültigkeit ist, derjenigen Denkungsart unterzulegen, die nur durch mühsamen Vorsatz erhalten werden kann, aber objectiv allgemein gültig ist (KdU 5:230.34– 231.3).
Interessant daran ist vor allem die Feststellung, dass es sich weder um Regeln des Geschmacks, noch um Regeln der Vernunft, sondern um solche handelt, die beide miteinander zu vereinbaren trachten. Es wird noch zu untersuchen sein, was dies in unserem Zusammenhang mit der Klugheit zu bedeuten hat (vgl. Kapitel 7.5.2). Angesichts der im nächsten Abschnitt anstehenden Übertragung dieser Gedanken zur ästhetischen Idee auf die Idee der Glückseligkeit, drängt sich zudem die Frage auf, ob dieser Begriff der Vollkommenheit als objektive Zweckmäßigkeit auch für empirische Zwecke gilt oder ob er sich nur auf das Gute als Sittlich-Gutes bezieht. Können empirische Zwecke objektiv zweckmäßig sein in dem Sinne, dass für etwas Empirisches angegeben werden kann, was für ein Ding es sein soll?
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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Mertens weist auf diese Uneinheitlichkeit im Begriff der Vollkommenheit hin, da Kant zum einen Vollkommenheit formal-quantitativ (ontologisch oder transzendental, von theoretischen Gegenständen in Bezug auf die Kategorien der Allheit bzw. Totalität), zum anderen material-qualitativ als „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem auf einen Begriff als Zweck“ fassen würde (vgl. Mertens 1975, 141 f.). Dieses letztere Verständnis von Vollkommenheit gelte in zweifacher Hinsicht: Erstens [i]st es ein Zweck im pragmatischen Sinn, also die Tauglichkeit oder Zulänglichkeit eines Dinges zu beliebigen Zwecken, oder im moralischen Sinn, d. h. die Zulänglichkeit eines Dinges für den reinen Vernunftzweck schlechthin, so gilt die Vollkommenheit von der Existenz des Gegenstandes und ist eine Eigenschaft, die durchaus subjektiv von Lust begleitet ist (Mertens 1975, 142).
Zweitens handelt es sich Mertens zufolge in Bezug auf die menschliche Technik als Zweck um eine „potenzierte formale“ Vollkommenheit (Mertens 1975, 142). Und zum ersten Aspekt macht sie in einer Fußnote die für unseren Zusammenhang entscheidende Anmerkung: Es ist nach Kants Formulierung nicht recht klar, ob mit dem praktischen Zweck nur der moralische gemeint ist, denn diesem als innerem ist eigentlich das Prädikat ‚vollkommen‘ vorbehalten. Vollkommen ist nur das schlechthin Gute. Der Gedanke, dass an einem Ding mancherlei Vollkommenheit sein kann und dass der Zweck Lust an der Existenz des Gegenstandes voraussetzt, muss so interpretiert werden, dass es sich um einen beliebigen Zweck handelt, den Kant sonst (KdU § 15) äußere Nützlichkeit nennt und von der inneren Vollkommenheit unterscheidet (Mertens 1975, 142).
Wenn Kant also vom „mühsamen Vorsatz“ spricht, so meint er zweifelsohne die sittlichen Vorsätze, die für den sinnlich affizierten Menschen nur mühsam zu erreichen und umzusetzen sind und stellt eine Verbindung her zwischen dem Sittlich-Guten und dem Schönen. Soll jedoch auch von empirischen Zwecken die Rede sein können, so muss es auch durch einen „fixierten“ Begriff der Schönheit „verunreinigte“ Geschmacksurteile in Bezug auf empirische Ideen oder Begriffe geben. Anders als Mertens meint, sind damit dann eben nicht beliebige Zwecke, sondern solche gemeint, die einer erst ästhetisch zu bestimmenden Idee der Glückseligkeit angehören. Aufgrund dieser wenigen Bemerkungen wurde somit deutlich, dass es auch bei Kant Ansätze zu einem Verständnis des Guten im Sinne einer Zweckmäßigkeit gibt, d. h. in einem „moralneutralen“ Sinn, demzufolge Dinge als gut ausgezeichnet werden können, sofern sie einer zuvor gebildeten Idee bzw. einem zugrunde gelegten Begriff von dem Ding entsprechen, wie es sein soll.
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3 Die Idee der Glückseligkeit
3.2.2 Idee und Ideal der Schönheit: ästhetische Vernunftidee vs. ästhetische Normalidee Ist von einer Idee der Schönheit oder des Schönen die Rede, so wird im ästhetischen Urteil ausgedrückt, ob der beurteilte Gegenstand mit dieser Idee übereinstimmt und gibt es insofern auch einen Begriff davon, wie dieser Gegenstand in Bezug auf diese Idee zu sein hat. In § 17 der Kritik der ästhetischen Urteilskraft beschäftigt sich Kant daher mit dem „Ideal der Schönheit“ und unterscheidet es von der Idee: „Idee bedeutet eigentlich einen Vernunftbegriff und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens.“ (KdU 5:232.16 f.) Während die Idee der Vernunft entspringt, ist ein Ideal eine Vorstellung von einem Einzelnen, das dieser Idee in der Darstellung nahe zu kommen versucht. Da der Urteilende nicht auf (objektive) Begriffe zurückgreifen kann, um etwas als schön zu beurteilen, stellt sich die Idee der Schönheit als ein Ideal der Einbildungkraft dar: „eben darum weil es nicht auf Begriffen, sondern auf der Darstellung beruht; das Vermögen der Darstellung aber ist die Einbildungskraft.“ (KdU 5:232.23 – 25) Zugleich muss sich für Kant alle Beurteilung von Gegenständen als schönen Gegenständen an der Idee der Schönheit orientieren. Sie ist deren Maßstab, gewissermaßen ihr Ideal als eine Art Urbild des Geschmacks, welches freilich auf der unbestimmten Idee der Vernunft von einem Maximum beruht, aber doch nicht durch Begriffe, sondern nur in einzelner Darstellung kann vorgestellt werden […] (KdU 5:232.18 – 20).
Als schön kann nur beurteilt werden, was unabhängig davon, was für ein Ding es ist, als schön wahrgenommen und beurteilt wird. Deshalb sind nur einzelne Dinge schön, die in sich dann die Idee der Schönheit darstellen. Bei derjenigen Schönheit, von der man sich eine Idee macht, kann es sich damit nicht um eine vage Schönheit handeln, wie sie dem reinen Geschmacksurteil zugrunde liegt. Idee und Ideal des Schönen verweisen immer auf eine „durch einen Begriff von objectiver Zweckmäßigkeit fixierte Schönheit“ (KdU 5:232.29 f.), die dem Objekt eines „zum Theil intellectuierten Geschmacksurteils“ (KdU 5:232.31) angehört. Idee und Ideal des Schönen stehen somit in Verbindung mit dem Begriff von einer Zweckmäßigkeit (als Vollkommenheit). Denn in welcher Art von Gründen der Beurtheilung ein Ideal statt finden soll, da muß irgend eine Idee der Vernunft nach bestimmten Begriffen zum Grunde liegen, die a priori den Zweck bestimmt, worauf die innere Möglichkeit des Gegenstandes beruht (KdU 5:233.1– 4).
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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Wie aber gelangt man zu einem solchen Ideal der Schönheit bzw. des Schönen? Kant zufolge ist dies auf zwei Weisen möglich: empirisch oder intellektuell. Der empirische Weg führt zu dem, was Kant „ästhetische Normalidee“ nennt, auf dem intellektuellen Weg zum Ideal der Schönheit ist man verwiesen an eine „ästhetische Vernunftidee“. Dabei scheint es Kant selbst nicht aufgefallen zu sein, dass er sich mit der Bezeichnung einer „ästhetischen Vernunftidee“ seinen eigenen Angaben zufolge in einen Widerspruch begibt, insofern er ästhetische Ideen als Pendant zu Vernunftideen auffasst (vgl. Kapitel 3.2.3). Um nun ein Ideal der Schönheit darzustellen, das auf eine Vernunftidee Bezug nimmt, braucht es die „reinen Ideen der Vernunft“, d. h. der Sittlichkeit, plus eine „große Macht der Einbildungskraft“, d. h. die Fähigkeit, diese Ideen an einzelnen Gegenständen (z. B. der Kunst, in Form von Gemälden, Romanen, Musik etc.) darzustellen. Man findet es nur an demjenigen Wesen, das der Moral fähig ist: dem Menschen.⁹⁸ Das Ideal der Schönheit, das auf einer Vernunftidee beruht, ist demnach die Darstellung und der Ausdruck des Sittlich-Guten am Menschen: Der sichtbare Ausdruck sittlicher Ideen, die den Menschen innerlich beherrschen, kann zwar nur aus der Erfahrung genommen werden; aber ihre Verbindung mit allem dem, was unsere Vernunft mit dem Sittlich-Guten verknüpft, die Seelengüte, oder Reinigkeit (…) in körperlicher Äußerung (als Wirkung des Innern) gleichsam sichtbar zu machen: dazu gehören reine Ideen der Vernunft und große Macht der Einbildungskraft in demjenigen vereinigt, welcher sie nur beurtheilen, vielmehr noch, wer sie darstellen will (KdU 5:235.17– 25).
Dem Ideal der Schönheit liegt daher eine Vernunftidee zugrunde, welche die Zwecke der Menschheit, sofern sie nicht sinnlich vorgestellt werden können, zum Princip der Beurtheilung seiner Gestalt macht, durch welche als ihre Wirkung in der Erscheinung sich jene offenbaren (KdU 5:233.22– 25).
Dinge, die gefallen, ohne dass dieses Wohlgefallen mit ihrem Begriff verknüpft wäre (z. B. Blumen oder eine schöne Aussicht), verweisen auf kein Ideal des Schönen. Sie gefallen unmittelbar, ohne einen (zugleich der Erkenntnis dienenden, theoretischen) Begriff. Selbst Dinge, die als schön beurteilt werden, insofern sie bestimmte Gegenstände vorstellen, wie ein Haus oder ein Baum, sind eigentlich ohne Ideal:
Recki weist darauf hin, dass die Grundlegung der Ästhetik in einem eigenen Prinzip als der Ursprung der modernen Ästhetik angesehen werden könne, wohingegen das Schöne als Ideal der Einbildungskraft wieder in die Nähe der klassischen Antike rücke; „das höchste der Gefühle“ sei nicht angesichts von Kunstwerken möglich, sondern im Anblick der menschlichen Gestalt (vgl. Recki 2006, 148).
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3 Die Idee der Glückseligkeit
Ein Ideal schöner Blumen, eines schönen Ameublements, einer schönen Aussicht läßt sich nicht denken. Aber auch von einer bestimmten Zwecken anhängenden Schönheit, z. B. einem schönen Wohnhause, einem schönen Baume, schönen Garten u.s.w. läßt sich kein Ideal vorstellen; vermuthlich weil die Zwecke durch ihren Begriff nicht genug bestimmt und fixiert sind, folglich die Zweckmäßigkeit beinahe so frei ist, als bei der v a g e n Schönheit (KdU 5:233.4– 10).
Schönheit, soll sie denn auf einer Idee beruhen und sich als Ideal ausdrücken lassen, muss sich von dem Zweck herleiten lassen, den dieser Gegenstand mit sich führt. Dieser Zweck wird dem Gegenstand durch die Vernunft a priori bestimmt. D.h. Vernunft gibt an, was der Zweck eines Dinges ist, und auf diesem „beruht die innere Möglichkeit des Gegenstandes“ (KdU 5:233.4) – was übereinstimmt mit den bisherigen Ergebnissen, insofern auch empirische Zweckbestimmung mit einer Vernunfttätigkeit verbunden ist. Nur wissen wir immer noch nicht genau, auf welche Weise. Aus dieser Idee von der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes leitet sich für Kant erst die Möglichkeit eines Ideals der Schönheit her. Da Vernunft den meisten Dingen in ihrer Umgebung jedoch nicht a priori ihren Zweck zuweisen kann (es ist nicht durch Vernunft a priori einsehbar, wozu beispielsweise ein Haus da sein soll (dies ergibt sich erst unter bestimmten empirischen Bedingungen), so folgt, dass einzig der Mensch eines Ideals fähig ist, denn nur dem Menschen kann die Vernunft seine Zwecke a priori bestimmen, d. h. seine „innere Möglichkeit“ angeben.⁹⁹ Daher ist eine solche Idee der Vernunft in ihrer Darstellung auf dasjenige beschränkt, „was den Zweck seiner Existenz selbst in sich hat“, also den Menschen, der sich durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußern Wahrnehmung hernehmen muß, doch mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammenhalten und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch ästhetisch beurtheilen kann (KdU 5:233.10 – 15, kursiv C.G.).
Kant vergleicht dieses Ideal der Schönheit dann mit dem Ideal der Vollkommenheit, welches ebenfalls nur der Mensch als „die Menschheit in seiner Person, als Intelligenz“ in sich trägt (KdU 5:233.16 f.).Von allen anderen Dingen in der Welt kann es kein Ideal geben, sie müssen unmittelbar, als Natur, gefallen. Man kann sich keinen „idealen Hund“, kein „ideales Pferd“ oder gar „ideale Blumen“ denken. Damit verweist ein Ideal der Schönheit immer auf eine Idee, die sich der
Man darf daraus schließen, dass wir es hier ausschließlich mit der Kunstschönheit zu tun haben im Unterschied von der Naturschönheit, welch letztere allein eines reinen, unverfälschten Urteils fähig ist. Alle Kunstschönheit beruht damit auf einer Intellektuierung und damit „Verunreinigung“ des Geschmacksurteils.
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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Mensch von sich und seinesgleichen bildet, insofern er selbst (in eingeschränkter Weise auch seine Produkte, Kunstwerke) sich durch Zwecke bestimmen kann. Daraus wird ersichtlich, weshalb Kant von „Gründen der Beurtheilung ein[es] Ideal[s]“ spricht und hierzu auf eine Idee der Vernunft verweist. Es wird gerne und zu Recht darauf verwiesen, dass sich die ästhetische Idee, wie Kant sie an dieser Stelle vorstellt, vorzüglich dazu eignet, als Darstellung bloß moralischer Ideen verstanden zu werden, die der reinen Vernunft entspringen. Auf dieser von Kant selbst nahegelegten Interpretation (vgl. KdU 5:235.17 und 314.6 – 8) beruht die Analogie von Schönheit und Sittlichkeit (vgl. KdU 5:353.13 – 354.17), wie sie z. B. von Recki in den Vordergrund gerückt worden ist (vgl. Recki 2001). Zugleich legt Kant nahe, dass die Einschränkung des Ideals der Schönheit auf die Darstellung des Menschen darauf beruht, dass er sich, so ist noch einmal zu wiederholen, durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußern Wahrnehmung hernehmen muß, doch mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammenhalten und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch ästhetisch beurtheilen kann (KdU 5:233.11– 15, kursiv C.G.).
Das aber besagt nichts anderes, als dass es die Fähigkeit des Menschen ist, sich überhaupt Zwecke setzen zu können, die ihn eines Ideals der Schönheit, also der Darstellung der Idee der Schönheit, fähig macht. Diese Zwecke können aus der Wahrnehmung entnommen, oder aber durch die Vernunft selbst bestimmt werden, wobei Kant im ersten Fall einschränkend hinzufügt, dass solche Zwecke, die aus der Wahrnehmung genommen werden, „mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ zusammen gehalten werden müssen. Die Übereinstimmung solcher wenn auch aus der Wahrnehmung entnommenen Zwecke mit „jenen“, d. h. mit denen der Vernunft, ist dann zugleich ästhetisch beurteilbar. Wie bereits zum Ende des vorigen Kapitels anklang, ist diese Erläuterung von Bedeutung für die später folgenden Ausführungen zur Idee der Glückseligkeit und den darauf aufbauenden Begriff der Klugheit. Denn dadurch, dass Kant hier die Möglichkeit einschließt, auch solche Zwecke ästhetisch zu beurteilen, die sich erst aus der äußeren Wahrnehmung, und das heißt, aus der Erfahrung und Empfindung ergeben, eröffnet er die Möglichkeit, eine Parallele zur ästhetischen Idee der Glückseligkeit zu ziehen, welche notwendig auf Erfahrung bezogen ist. Ohne diesen Verweis auf Zwecke, die der Wahrnehmung entnommen werden und dennoch ästhetisch beurteilt werden können, gäbe es wiederum nur eine, wie nun folgt, ästhetische Normalidee, die ganz auf empirischen Beobachtungen fußt und eine Darstellung rein moralischer Ideen. Erstere aber, so werden wir später sehen, befindet sich auf dem Niveau einer Idee der Glückseligkeit als „Summe aller
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3 Die Idee der Glückseligkeit
Neigungen“, sodass für die Klugheit und ihre empirische Zweckbestimmung wiederum kein eigener Platz zwischen bloßer Sinnlichkeit und Moral bliebe.¹⁰⁰ Das auf einer Vernunftidee beruhende Ideal der Schönheit ist also nur ein Teil der ästhetischen Idee. Zu dieser gehört ein zweites Stück, und zwar dasjenige, das sich auf eine Idee der Schönheit bezieht, die nur empirisch zu ermitteln ist. Kant nennt diese Idee die „Normalidee des Schönen“ oder die „ästhetische Normalidee“. Die Einbildungskraft schafft sie „durch einen dynamischen Effekt, der aus der vielfältigen Auffassung solcher Gestalten auf das Organ des innern Sinnes entspringt.“ (KdU 5:234.23 f.) Die ästhetische Normalidee bildet aus der Erfahrung (also aus bereits gehabten, erfahrenen Vorstellungen) ein Mittleres, das wiederum als Regel für die Beurteilung der Vorstellungen als schöne herangezogen werden kann. Orientiert sich der Betrachter bei seiner Beurteilung an dieser ästhetischen Normalidee, so nimmt er den Gedanken des Mittleren, des Durchschnitts zur Regel seiner Beurteilung. Ihm wird ein Pferd dann als schön erscheinen (er wird es als schön beurteilen), wenn es dem Durchschnitt der von dem Betrachter gemachten bzw. zu Grunde gelegten Erfahrungen entspricht: nicht zu klein, nicht zu groß, nicht zu dick, nicht zu dünn etc. Kant bedient sich einer „optischen Analogie“, um zu erläutern, was er meint: Jemand hat tausend erwachsene Mannspersonen gesehen. Will er nun über die vergleichungsweise zu schätzende Normalgröße urtheilen, so läßt (meiner Meinung nach) die Einbildungskraft eine große Zahl der Bilder (vielleicht alle jene tausend) auf einander fallen; und […] in dem Raum, wo die meisten sich vereinigen, und innerhalb der Umrisse, wo der Platz mit der am stärksten aufgetragenen Farbe illuminirt ist, da wird die m i t t l e r e G r ö ß e kenntlich, die sowohl der Höhe als Breite nach von den äußeren Gränzen der größten und kleinsten Staturen gleich weit entfernt ist; und dies ist die Statur für einen schönen Mann (KdU 5:234.9 – 19).
Dasselbe, was sich die Einbildungkraft durch diesen „dynamischen Effekt“ zurechtlegt und entwirft, könnte auch mechanisch ermittelt werden, wenn z. B. alle Menschen gemessen und ein Mittleres errechnet würde, um die Gestalt/Statur des schönen Mannes zu erhalten:
Anders schätzt Recki diese Stelle ein: Für Kant brauche es keine ästhetische Begründung des phänomenal Schönen am Menschen (siehe Normalidee): „Lediglich das Moment, dass hier die Vernunft auf ein Maximum des im Begriff der Schönheit Gemeinten stößt, lediglich das ‚Ideal‘ der Schönheit bedarf nach Kants Überlegungen einer ausdrücklichen Begründung – und diese erfolgt praktisch im Rekurs auf den Zweckbegriff. Es ist die Verbindung des Ästhetischen mit der Moralität der praktischen Vernunft, die dieses Ideal ausmacht.“ (Recki 2001, 151 f.) Die Begründung des Ideals der Schönheit ist Recki zufolge also ausschließlich im Moralischen zu suchen, nicht aber in Zwecken überhaupt, sofern sie nur mit „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ übereinstimmen.
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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Wenn nun auf ähnliche Art für diesen mittlern Mann der mittlere Kopf, für diesen die mittlere Nase u. s. w. gesucht wird, so liegt diese Gestalt der Normalidee des schönen Mannes in dem Lande, wo diese Vergleichung angestellt wird, zum Grunde […] (KdU 5:234.24– 28).
Auf diese Weise wird die ästhetische Normalidee selbst zur Regel der Beurteilung. Allerdings nicht aufgrund eines Bezugs zwischen dem Gegenstand oder seiner Vorstellung und dem Subjekt und seinen Erkenntniskräften, sondern in einer Art Abstraktion vom Einzelnen und dem, was alle einzelnen Vorstellungen gewissermaßen gleich macht. Die ästhetische Normalidee ist „eine einzelne Anschauung (der Einbildungskraft) […], die das Richtmaß seiner Beurtheilung, als eines zu einer besonderen Thierspecies gehörigen Dinges vorstellt“ (KdU 5:233.20 – 22). Diese N o r m a l i d e e ist nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen, als b e s t i m m t e n R e g e l n , abgeleitet; sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurtheilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen, Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derselben Species unterlegte, aber in keinem Einzelnen völlig erreicht zu haben scheint. Sie ist keinesweges das ganze U r b i l d d e r S c h ö n h e i t in dieser Gattung, sondern nur die Form, welche die unnachlassliche Bedingung aller Schönheit ausmacht, mithin bloß die R i c h t i g k e i t in Darstellung der Gattung (KdU 5:234.23 – 235.4).
Sie ist die Regel, und „[i]hre Darstellung gefällt auch nicht durch Schönheit, sondern bloß, weil sie keiner Bedingung, unter welcher allein ein Ding dieser Gattung schön sein kann, widerspricht.“ (KdU 5:235.8 – 10) Mit anderen Worten: Das Wohlgefallen an Dingen, die der ästhetischen Normalidee entsprechend beurteilt werden, beruht auf einer Durchschnittsvorstellung der Dinge. Sie (bzw. ihre Darstellung) gefallen, insofern sie mit allen durch diese Idee aufgestellten Elementen in Einklang stehen. Nicht unwesentlich ist jedoch die Tatsache, dass es nicht um die Regel der Beurteilung der Dinge (bzw. Lebewesen) überhaupt geht, sondern insofern sie einer bestimmten Spezies oder Rasse angehören. So spricht Kant vom „Muster eines schönen Pferdes oder Hundes (von gewisser Race)“ (KdU 5:234.31). Und er spricht der Darstellung einer solchen Normalidee der Schönheit denn auch alles Charakteristische ab, insofern es „mehr die Idee der Gattung, als das Specifische einer Person ausdrückt.“ Die Normalidee bezieht sich auf „die Zweckmäßigkeit der Gattung“ (KdU 5:235.28 – 30).¹⁰¹ Makkreel vergleicht die Normalidee daher mit einem „mathematical monogram of pure sensible concepts insofar as both involve a rule for the construction of a figure and are not reducible to a particular empirical image.“ (Makkreel 1990, 115) Vgl. Kants Unterscheidung von Sinnlichkeit und Idealen der Vernunft in KrV A 569 ff./B 597 ff.: Dort spricht er von Geschöpfen der
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Genau genommen bleibt die Normalidee auf eben dies beschränkt: eine Idee. Sie ist keines Ideals fähig, welches erst aufgrund der durch menschliche Vernunft bestimmbaren Zwecke möglich wird. Denn ein Ideal findet laut Kant nur statt nach „Gründen der Beurtheilung“, sodass für die Beurteilung eines Ideals „eine Idee der Vernunft nach bestimmten Begriffen“ zugrunde liegen müsse, „die a priori den Zweck bestimmt, worauf die innere Möglichkeit des Gegenstandes beruht.“ (KdU 5:233.1– 4) Die Einbildungskraft jedoch, die zusammen mit dem Verstand diese Normalidee aus Erfahrungswerten entwirft, nimmt gar nicht Bezug auf eine „Idee der Vernunft nach bestimmten Begriffen“, sondern auf ein Bild von der ganzen Gattung, das die Natur unterlegt, und das dann auch als schön beurteilt werden kann. Die ästhetische Normalidee ist damit auch nicht auf Zwecke des Menschen bezogen, die er sich selbst setzt, sondern auf solche, die die Natur der jeweiligen Gattung oder Spezies beigelegt hat.¹⁰² Von Bedeutung ist hier dreierlei: Erstens betont Kant, es handle sich um eine bloß psychologische Erklärung, denn genau wissen könne man nicht, wie eine solche empirisch entstehende Idee erzeugt wird (vgl. KdU 5:233.34 – 234.1 ff.). Zweitens handelt es sich um eine Regel der Beurteilung, die nur aus der Erfahrung oder durch direkten Bezug auf diese gewonnen werden kann. Die Idee liegt nicht in der Vernunft, sondern wird am Material gebildet und entworfen, sodass sie anschließend als Regel aller weiteren Beurteilung gelten kann. Und drittens handelt es sich um nur subjektive Regeln der Beurteilung, die nur in dem Umkreis gelten, in dem die entsprechenden Erfahrungen gemacht werden können, sie liegen „in dem Land, in dem die Vergleichung angestellt wird“ der Beurteilung zu Grunde (KdU 5:234.27). Und dennoch dient die Normalidee (wie im übrigen auch die Vernunftidee) zum „Richtmaß“ der Beurteilung, zu ihrem Maßstab und Kriterium der Urteilsbildung. Die Darstellung einer ästhetischen Normalidee nennt Kant deshalb auch „bloß schulgerecht“ (zu diesem Unterschied siehe Kapitel 3.3.3).
Einbildungskraft, die „obzwar nur uneigentlich, Ideale der Sinnlichkeit genannt werden“ könnten (KrV A 571/B 588). Vgl. Makkreel 1990, 117: „The model image of the aesthetical normal idea represents a norm for judging what is typical and can give only a provisional estimate of nature’s archetype. It serves as the rule for the correct presentation of the form of the species. However, this is but the minimal condition that must be satisfied for a thing to be beautiful.“ Auch für Gadamer gründet sich die Lehre vom Ideal der Schönheit auf eben diesen Unterschied zwischen Normalidee und Vernunftidee der Schönheit (vgl. Gadamer 1972, 44 f.).
3.2 Die ästhetische Idee des Schönen
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3.2.3 Genie und die Regeln der Kunst Die vorangegangenen Überlegungen betrafen zunächst lediglich den Geschmack und die durch ihn mögliche Beurteilung von Gegenständen bzw. Kunstwerken als schön durch Rückbezug auf eine Idee der Schönheit, die sich als Ideal im einzelnen Kunstwerk darstellte und zu beurteilen war. Im Gegensatz zur Naturschönheit als freier Schönheit, für die allenfalls Gott als Schöpfer angeführt werden kann, bedarf es für die Beurteilung eines Kunstwerkes gemäß der sich in ihm ausdrückenden Idee auch desjenigen, der das Kunstwerk anfertigt – Kant nennt es das Genie. Um ein Kunstwerk als schön im Sinne von vollkommen in Bezug auf seine Darstellung beurteilen zu können, braucht es Regeln der Beurteilung, die sich aus der zugrundeliegenden Idee ergeben, und die im Idealfall mit den Regeln der Hervorbringung dieser Gegenstände (Kunstwerke) übereinstimmen. Diesen Unterschied erfasst Kant schon für die ästhetische Beurteilung, wenn er schreibt: „Geschmack ist aber bloß ein Beurteilungs- nicht ein produktives Vermögen; und, was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der schönen Kunst“ (KdU 5:313.3 – 5). Schöne Kunst wird durch das Genie hervorgebracht, und dessen Produkte werden dann durch den Geschmack beurteilt. Was aber ist Genie? Kant bezeichnet es als „das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen“ (KdU 5:313.35 – 314.1). Dabei ist eine solche ästhetische Idee dann eine Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d . i . B e g r i f f , adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann (KdU 5:314.2– 5).
Es gibt deshalb auch keine objektiven und erkennbaren Regeln der Schönheit bzw. der Beurteilung des Schönen. In diesem Sinne versteht er sie als „Gegenstück (Pendant) von einer Ve r n u n f t i d e e […], welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine A n s c h a u u n g (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.“ (KdU 5:314.6 – 8)¹⁰³ Die ästhetische Idee ist eine Vorstellung der Einbildungskraft, welche fähig ist zur „Schaffung gleichsam einer andern Natur aus dem Stoffe, Makkreel bemerkt daher zutreffend, sowohl Vernunft- als auch ästhetische Ideen gingen über die Erfahrung hinaus: „Both rational and aesthetic ideas go beyond the limits of experience and they fail to produce determinate knowledge of empirical objects. However, they differ in the way they preclude the normal syntheses of sensible intuitions and concepts of the understanding that Kant requires for experience. A rational idea involves a transcendent ‚concept (of the supersensible) corresponding to which an intuition can never be given‘. An aesthetic idea is ‚an intuition (of the imagination) for which an adequate concept can never be found‘.“ (Makkreel 1990, 119)
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den ihr die wirkliche gibt.“ (KdU 5:314.10 f.) Im Ästhetischen geht also die Einbildungskraft aus von den Begriffen und Vorstellungen, die ihr der Verstand ggf. zusammen mit den Sinnen liefert. Daraus aber bastelt sie sich eine „andere Natur“, d. h. z. B. eine frei erfundene Geschichte. Was die Geschichte ausdrückt (ausdrücken soll), ist dann eine Idee, die der Autor im Kopf hat, und die er darstellen möchte, und die dann wiederum durch den Geschmack von jedermann daraufhin beurteilt werden kann, ob sie schön ist – also der ihr zugrunde liegenden ästhetischen Idee entspricht, ihr zweckmäßig ist. Dabei löst sich die Einbildungskraft, so Kant, „vom Gesetze der Association (welches dem empirischen Gebrauche jenes Vermögens anhängt)“ (KdU 5:314.16 f.) und nimmt nur ihren Ausgang von dem von der Natur nach diesem Gesetz bereitgestellten Stoff. Für die ästhetische Betrachtung ist von Bedeutung, dass das Genie durch eine bestimmte Vereinigung, ein bestimmtes Zusammenspiel von Verstand und Einbildungskraft bestimmt ist, indem diese vom durch jenen gegebenen Stoff aus-, zugleich aber über ihn hinaus geht, um die ästhetische Idee darzustellen. Ausgehend von konkreten Begriffen verknüpft die Einbildungskraft mit einem Gegenstand weitere „Nebenvorstellungen“ (KdU 5:315.10), die nicht die Darstellung des Begriffs selbst ausmachen, sondern nur die mit ihm „verknüpften Folgen und die Verwandtschaft desselben mit andern ausdrücken“ (KdU 5:315.11 f.). Diese Nebenvorstellungen nennt Kant auch „A t t r i b u t e (ästhetische) eines Gegenstandes dessen Begriff als Vernunftidee nicht adäquat dargestellt werden kann.“ (KdU 5:315.12 f.) Solche mit einem Begriff verwandten Vorstellungen lassen mehr denken, „als man in einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann.“ (KdU 5:315.20 f.) Damit kann Kant dann die ästhetische Idee weiter charakterisieren als eine einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet (KdU 5:316.19 – 25).
Genie besteht demnach darin, zu einem gegebenen Begriffe Ideen aufzufinden und andrerseits zu diesen den A u s d r u c k zu treffen, durch den die dadurch bewirkte subjective Gemüthsstimmung, als Begleitung eines Begriffs, anderen mitgetheilt werden kann (KdU 5:317.8 – 11).
Wobei Kant als Genie vor allem das letztere der beiden versteht: die Fähigkeit, dieses Unnennbare einer Vorstellung „auszudrücken und allgemein mittheilbar zu
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machen“ (KdU 5:317.13). Die ästhetische Idee wird als Vorstellung der Einbildungskraft einem gegebenen Begriff hinzugefügt („beigesellt“) und ist als solche mit einer „Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen“ im freien Gebrauch der Einbildungskraft verbunden, sodass ihr kein bestimmter Begriff entsprechen kann, sondern sie im Gegenteil einem bestimmten Begriff „Unnennbares“ hinzufügt, das nur in einzelner Darstellung ausgedrückt werden kann. Dieses Gefühl des Unnennbaren wiederum belebt die Erkenntnisvermögen und verbindet „mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist“ (KdU 5:316.19 – 25). Es ist die Art und Weise, in der Verstand und Einbildungskraft miteinander verbunden sind, die das Genie ausmacht. Dieses zeigt sich darin, dass es über die durch den Verstand gegebenen Begriffe hinausgeht und dessen Stoff „zur Belebung der Erkenntnißkräfte“ anwendet (KdU 5:317.5). Damit „besteht das Genie eigentlich in dem glücklichen Verhältnisse, welches keine Wissenschaft lehren und kein Fleiß erlernen kann“, nämlich Ideen zu Begriffen zu finden und diese dann auszudrücken (KdU 5:317.8 f.). Es ist damit wohl das gemeint, was den je eigenen und im besten Fall unnachahmlichen Stil eines Künstlers ausmacht und welcher sich für einen Vergleich mit dem Ausdruck einer Idee der Glückseligkeit in Form eines Charakters eignet. Das Genie steht damit in enger Verbindung zu dem, was Kant in der Anthropologie „Witz (ingenium)“ nennt und als ein Talent bezeichnet, „zum Besondern das Allgemeine auszudenken“, welches auf „die Identität des Mannigfaltigen zum Theil Verschiedenen“ bezogen sei. Deshalb besteht auch das Talent von Urteilskraft und Witz darin, „auch die kleinsten Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten zu bemerken. Das Vermögen dazu ist S c h a r f s i n n i g k e i t […].“ (Anth 7:201.11– 19) Zugleich muss nach Kant das Genie dem Geschmack untergeordnet bleiben: Der Geschmack ist so wie die Urtheilskraft überhaupt die Disciplin (oder Zucht) des Genies, beschneidet diesem sehr die Flügel und macht es gesittet oder geschliffen; zugleich aber giebt er diesem eine Leitung, worüber und bis wie weit es sich verbreiten soll, um zweckmäßig zu bleiben; und indem er Klarheit und Ordnung in die Gedankenfülle hineinbringt, macht er die Ideen haltbar, eines daurenden, zugleich auch allgemeinen Beifalls, der Nachfolge anderer und einer immer fortschreitenden Cultur fähig (KdU 5:319.28 – 34).
Das hat Hannah Arendt zu der Bemerkung veranlasst, Kant trenne das Genie als „Sache der produktiven Einbildungs- und Schöpferkraft“ vom Geschmack als „Sache des Urteils“. Kant ließe diese Unterordnung zu, „obwohl das Urteil ohne das Genie nichts zur Beurteilung vorfände.“ (Arendt 1998, 84) Meines Erachtens ist dies jedoch nur folgerichtig, insofern auch das durch das Genie Entworfene sich selbst in seiner eigenen Tätigkeit bereits dem möglichen Geschmack, also dem Urteil der anderen, wenn nicht ganz und gar zu unterwerfen, zumindest aber doch
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an ihm zu überprüfen hat. Die Regeln, die das Genie als neue und originelle entwirft, müssen dem möglichen Urteil der anderen zugänglich sein bzw. im Gegenteil mit Gewohnheiten brechen, in beiden Fällen aber dürfen und müssen sie dieses Urteil der anderen schon bei ihrer Schöpfung einbeziehen (vgl. Kapitel 5.2.3). Aus seinen Ausführungen zum Genie folgert Kant nun Viererlei: a) Genie ist ein Talent zur Kunst, nicht zur Wissenschaft. Die Regeln gehen der Darstellung nicht voran, sondern werden erst durch dieses Talent entwickelt (KdU 5:317.22– 24). b) Als Kunsttalent setzt das Genie einen Begriff von einem Zweck (und damit Verstand) voraus, zugleich aber auch eine „(wenn gleich unbestimmte) Vorstellung von dem Stoff, d. i. der Anschauung, zur Darstellung dieses Begriffs, mithin ein Verhältniß der Einbildungskraft zum Verstande“ (KdU 5:317.26 – 28). (c) Das Genie zeigt sich nicht in der „Ausführung des gesetzten Zwecks in Darstellung eines bestimmten Begriffs“, sondern vielmehr „im Ausdrucke ä s t h e t i s c h e r I d e e n , welche zu jener Absicht reichen Stoff enthalten […].“ Die Einbildungskraft wird daher als zweckmäßig in Bezug auf die Darstellung des Begriffs vorgestellt (KdU 5:317.28 – 34). d) Die unbeabsichtigte subjektive Zweckmäßigkeit „in der freien Übereinstimmung der Einbildungskraft zur Gesetzlichkeit des Verstandes“ setzt eine „solche Proportion und Stimmung dieser Vermögen“ voraus, wie sie nicht die „Befolgung von Regeln, es sei der Wissenschaft oder mechanischen Nachahmung, bewirken, sondern bloß die Natur des Subjects hervorbringen kann.“ (KdU 5:318.2– 5) Die Regeln, die durch das künstlerische Genie, also das Kunsttalent, in Anschlag gebracht werden, geben damit ein Beispiel, das nicht zur Nachahmung anregen soll, sondern zur Nachfolge für andere (Genies), „Zwangsfreiheit von Regeln so in der Kunst auszuüben, dass diese dadurch selbst eine neue Regel bekommt, wodurch das Talent sich als musterhaft zeigt.“ (KdU 5:318.13 – 15) Denn, so schreibt Kant schon an früherer Stelle, „der Geschmack muß ein selbst eigenes Vermögen sein“, welches sich eben nicht darin zeigt, dass andere nachgeahmt werden, sondern nur, „sofern er dieses Muster selbst beurtheilen kann.“ (KdU 5:232.9 – 11)¹⁰⁴
Pleines meint in dieser Darstellung Kants vom Genie zu entdecken,was er selbst „Takt“ nennt und als durch reflektierende Urteilskraft zwischen theoretischen und praktischen Sätzen vermittelnd vorstellt. Dabei diene der Takt vorzüglich dazu, „nicht nur besondere Situationen des Handelns unter gegebene Wertvorstellungen zu subsumieren, sondern sogar Gesetze zu entdecken, die fortan einer Vielzahl von Handlungen als Beurteilungskriterium zugrundeliegen und für die praktische Vernunft als Richterin über Zweckmäßiges, Schickliches oder Gutes aus eigener Einsicht aufzukommen hat.“ (Pleines 1983, 128) Ebenso wie die oben von mehreren Autoren als subjektiv und dennoch allgemein gültig vorgestellten Maximen, fasst Pleines den Takt als etwas Einzelnes und dennoch Allgemeingültiges auf. Es hat sich jedoch erst zu erweisen, aufgrund
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Die Betrachtungen zur ästhetischen Idee und ihrer Bildung sowie zum sie zum Ausdruck bringenden Genie haben deutlich gemacht, dass die Regeln sowohl des künstlerischen Schaffens als auch der Beurteilung des Kunstprodukts nicht ausschließlich an das freie Spiel der Erkenntniskräfte, insbesondere der Einbildungskraft, gebunden sind, wie es für das reine Geschmacksurteil des Schönen gilt.Vielmehr nehmen sie außerdem Bezug auf den zugrundeliegenden Begriff des Gegenstandes, der auf seine Vollkommenheit als Zweckmäßigkeit verweist. Einen Gegenstand (Kunstwerk) als schön im Sinne eines Ideals bzw. einer ästhetischen Idee zu beurteilen, kann sich nicht auf die Wahrnehmung des freien Spiels der Erkenntniskräfte beschränken, sondern das gemeingültige ästhetische Urteil resultiert zugleich aus einer an der Darstellung des Ideals wahrgenommenen Zweckmäßigkeit im Sinne einer inneren Vollkommenheit in Bezug auf den zugrundeliegenden und durch Vernunft bestimmten Zweck.
3.3 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit Damit sind diejenigen Elemente benannt, die für unsere Untersuchung der Klugheit von Bedeutung sind: innere Zweckmäßigkeit als Vollkommenheit (3.2.1), Idee und Ideal der Schönheit als ästhetische Normal- bzw. Vernunftidee (3.2.2), Genie im Sinne von Geist als das „belebende Princip im Gemüthe“ (KdU 5:313.30 f.) zur Hervorbringung der schönen Produkte, sowie die mit der Hervorbringung verbundenen und für die Beurteilung nötigen Regeln, deren Konkretisierung vor allem im Rahmen der Idee der Glückseligkeit Bedeutung erlangen (3.2.3). Diese insgesamt vier Aspekte der ästhetischen Betrachtung sollen nun die weitere Untersuchung des Begriffs der Glückseligkeit und der auf sie bezogenen kantischen Klugheit anleiten. Auf der Basis des vorigen Abschnitts werde ich im Folgenden zunächst die Parallele zwischen Ästhetik und Praxis darstellen (3.3.1), um anschließend eine Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit als „Normalidee“ zu unternehmen (3.3.2), die jedoch sogleich aufgrund ihrer Mangelhaftigkeit für den Begriff der Klugheit durch eine Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit in Anlehnung an die Erläuterungen zur „ästhetischen Vernunftidee“ zu ergänzen ist (3.3.3). Das Kapitel schließt mit einigen Betrachtungen zu Taylors starken Wertungen, zu denen sich eine auffällige Parallele ergibt (3.3.4).
welcher rechtfertigenden Gründe eine solche „Allgemeingültigkeit“ angenommen werden darf bzw. ob dies überhaupt nötig ist.
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3.3.1 Die Parallele von Ästhetik und Praxis Soll die Idee der Glückseligkeit mehr als nur technisch-praktische Sätze zur Ausübung gegebener empirischer Zwecke angeben können, soll sie im Gegenteil eine „Art von Anweisung“ (EE KdU 20.200.4) enthalten im Sinne von selbst gebildeten Regeln der Klugheit, oder eben: Maximen, so zeigen bereits die Erläuterungen des vorigen Abschnitts, dass nichts näher liegt, als sie im Sinne einer ästhetischen Idee aufzufassen.¹⁰⁵ Denn Glückseligkeit ist Kant zufolge nicht nur inhaltlich unbestimmt, sondern zudem der Beschaffenheit der menschlichen Natur nach auch gar nicht erreichbar (vgl. KdU 5:430.19 – 23 und 5:430.33 – 36).¹⁰⁶ Die Unbestimmtheit der Glückseligkeit verweist auf das „Unnennbare“ der ästhetischen Idee: Gleich wie diese durch ein freies Spiel der Einbildungskraft in der Verbindung ihrer Vorstellungen (wenn auch in gewissen durch den Verstand gesetzten Schranken) den Geist beflügelt, verbindet die Einbildungskraft die vielen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Vorstellungen (Gegenstände und Empfindungen) miteinander, um die ästhetische Idee der Glückseligkeit zu formen. Das schlägt sich dann auch in ihrem Ausdruck durch Handlungen nieder, welche selbst durch Maximen bestimmt werden. Denn das Unnennbare lässt sich nicht schon von vornherein angeben, sondern entfaltet sich erst im Vollzug. Wie
In dem hier dargelegten Sinne und ebenfalls unter Verweis auf die Unbestimmtheit des Begriffs sowie auf die hier im Folgenden noch näher zu erläuternde Nichtidentität mit einer „bloßen Sinnesannehmlichkeit“ bemerkt schon Recki, Glück sei einer von jenen Begriffen, „in denen sich von vornherein Ästhetisches und Praktisches miteinander verbinden: Der praktische Anspruch stellt sich im ästhetischen Medium dar.“ (Recki 2001, 132) Fischer versteht die Idee der Glückseligkeit als empirische ästhetische Idee (vgl. Fischer 2003, 52 ff.), sodass für ihn der Vergleich mit den „reinen“ ästhetischen Ideen, wie sie hier behandelt werden, nicht von Bedeutung ist. Er berücksichtigt auch nicht Kants Unterscheidung der beiden Arten von ästhetischen Ideen, und er scheint mit der ästhetischen Idee der Glückseligkeit eine eigene Art von ästhetischer Idee festzustellen. Fischer ordnet diese empirisch-ästhetische Idee dem Sinnengeschmack zu, während die ästhetische Idee Sache des Reflexionsgeschmacks sei (zur Unterscheidung von Sinnen- und Reflexionsgeschmack siehe Kapitel 4). Susan Meld Shell weist darauf hin, dies sei am Rande erwähnt, dass Kant in seinen früheren (Anthropologie‐) Vorlesungen noch von einer grundsätzlichen Erreichbarkeit der Glückseligkeit ausgegangen sei. Dass er von dieser Sicht abrückt, hänge mit Kants Lektüre der Schriften von Count Verri („Del piacere e del dolere“, dt. Übersetzung 1777) zusammen, dessen Zusammenhang von Schmerz und Vergnügen Kant übernehme. So ist dann auch in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zu lesen, das Erreichen des Ziels bedeute den Tod, weil keine Aktivität mehr stattfinde und keine Handlungen mehr nötig seien. Shell betont, in späteren Vorlesungen stelle Kant Glückseligkeit als Vergnügen einer Glückseligkeit als Zufriedenheit gegenüber, wobei letztere nicht mit dem Ziel identisch sei, sondern mit dem Prozess, der dorthin führe (vgl. Shell 2003, 205 ff. und 220).
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die ästhetischen Ideen ist auch die Idee der Glückseligkeit nicht im Ganzen darstellbar, sondern eben ein Ideal der Einbildungskraft, das sich erst in der einzelnen Darstellung, den einzelnen Zwecken und den sie verfolgenden Handlungen ausdrückt. Insofern gilt für die Idee der Glückseligkeit das gleiche wie für die ästhetische Idee: Ihr Urbild (dort: das Urbild des Geschmacks) beruht „auf der unbestimmten Idee der Vernunft von einem Maximum“ (KdU 5:232.18 f.), das „nicht durch Begriffe, sondern nur in einzelner Darstellung kann vorgestellt werden“ (KdU 5:232.19 f.). Denn wie wir gesehen haben, ist auch Glückseligkeit laut Kant zunächst die Vorstellung von einem Maximum – nämlich eines Maximums des Wohlbefindens (GMS 4:418.8), der Summe aller befriedigten Neigungen. Im Grunde laufen also die oben unterschiedenen Definitionen der Glückseligkeit letzten Endes korrekterweise alle in dieser zusammen, insofern auch die Vorstellung eines Maximums der zu befriedigenden Neigungen davon abhängt, dass sich das Individuum eine (unbestimmte) Vorstellung davon macht, wie dieses Maximum beschaffen sein soll. Als Idee ist Glückseligkeit nicht nur ein von der Natur vorgegebenes Ziel, ein zunächst unbestimmter Zweck des Menschen, den er tatsächlich immer schon verfolgt. Vielmehr drückt sie sich in den von Zwecken geleiteten Handlungen des Menschen aus und wird damit wiederum durch diese weiter bestimmt. Jeder gesetzte und verfolgte Zweck wird selbst wieder in seinem Verhältnis auf den Zustand des Subjekts beurteilt und evaluiert und wirkt damit auch an der Bildung des Begriffs mit, den sich das Subjekt von der eigenen Glückseligkeit macht. Empirische Zwecke sind damit mehr als nur Mittel zu einem höheren Zweck, wie dem der Glückseligkeit. Sie können als Zwecke verstanden werden, die eine empirische Idee ausdrücken und darstellen. Die Darstellung erfolgt dabei in Form von Handlungen bzw. Maximen, die im größeren Zusammenhang des Lebens oder auch in Bezug auf einzelne Lebensabschnitte ein Ganzes ausmachen. In diesem Sinne drücken sie dann auch die Haltung (den Charakter) eines Menschen aus und lassen ihn auf diese Weise zum Vorschein kommen. Insofern teile ich die Auffassung Höffes, moralische Urteile seien „keine empirische Vorgabe, sondern etwas, worin sich der Mensch als moralisches Subjekt hervorbringt und beglaubigt, also konstituiert und zugleich anerkennt.“ (Höffe 2012, 155) Und dies muss dann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auch für die im nächsten Kapitel darzustellenden empirisch-praktischen Urteile (der Klugheit) gelten. Wie auch bei der Darstellung einer ästhetischen Idee des Schönen im Kunstwerk, sollte (im Idealfall) die durch den Handelnden zugrunde gelegte Idee die gleiche sein, wie die, die der Betrachter oder Beurteilende seinem Urteil zugrunde legt, mindestens aber von diesem nachvollzogen werden können. Bereits für die Darstellung einer ästhetischen Idee galt aber, dass sich diese Mitteilbarkeit
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nicht ausschließlich aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte, sondern ebenfalls unter Rückbezug auf die zugrunde gelegte Zweckmäßigkeit in der Darstellung der ästhetischen Idee ergab. Darin liegt also der offenkundige Gewinn der unternommenen Parallelisierung zwischen Ästhetik und Praxis: Die als subjektiv in Bezug auf die Idee der Glückseligkeit entworfenen Regeln (Maximen) lassen sich durch eben diesen Bezug auf ihre zweckmäßige Vollkommenheit hin mitteilen. Die Mitteilbarkeit der sich in konkreter Zwecksetzung ausdrückenden Idee der Glückseligkeit kann über eine sprachliche Verständigung über die Idee erfolgen, sodass Maximen, die eine Idee ausdrücken sollen, als nicht ausschließlich für das nach ihnen handelnde Subjekt verständlich gemacht werden können, sondern auch für andere Menschen. Ganz wie im Ästhetischen besteht die Bildung von Maximen und ihre empirisch-praktische Beurteilung aus zwei aufeinander bezogenen Elementen: aus der zugrunde gelegten, durch Einbildungskraft und Verstand entworfenen Idee und aus einer Reflexion auf das sich daraufhin ergebende Zusammenspiel der Erkenntniskräfte. Von dem ersten Element ist im Folgenden näher die Rede, das zweite ist Thema der beiden folgenden Kapitel. Die auf diese Weise aufgezeigte Parallele zwischen dem Ästhetischen und dem Praktischen bestätigt sich bei Kant in KpV, wenn er den Begriff der Vollkommenheit in „p r a k t i s c h e r Bedeutung“ bestimmt als die Tauglichkeit oder Zulänglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken. Diese Vollkommenheit als B e s c h a f f e n h e i t des Menschen, folglich innerliche, ist nichts anderes als Talent und, was dieses stärkt oder ergänzt, G e s c h i c k l i c h k e i t (KpV 5:41.9 – 13).
Was im Ästhetischen das Genie, ist im Praktischen das Talent des Menschen, die richtigen Zwecke bestimmen zu können. Der Mensch selbst ist insofern vollkommen, als er es versteht, seine eigene Tauglichkeit, Zwecke zu verfolgen, einzusetzen und die zum Ausdruck seiner eigenen Idee der Glückseligkeit zweckmäßigen Zwecke auszuwählen.
3.3.2 Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit als ästhetische Normalidee Grundlage für die Betrachtung der Idee der Glückseligkeit auf der Basis der ästhetischen Normalidee sind die Empfindungen. Sie gehören zur Klasse derjenigen Vorstellungen, die sich nur „auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieh[en]“ (KrV A 320/B 376). Im theoretischen Bereich liegen sie den Wahrnehmungsurteilen zugrunde, geben deren „Material“ ab (vgl. Kapitel 4.1). Im praktischen Bereich, d. h. bezogen auf das Begehrungsvermögen in Hinblick auf mögliche Handlungen, beziehen sich die Empfindungen auf das Gefühl der Lust
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und Unlust, und insofern sie dem handlungsbestimmenden Urteil vorausgehen, bedeutet dies einen Bezug auf den Zustand des Subjekts. Wie wir bereits sahen (vgl. Kapitel 1.1.1), handelt es sich bei diesen Vorstellungen um solche, die zwar den Willen bestimmen, dabei jedoch innerhalb des durch die Zeit bestimmten inneren Sinns und damit dem Mechanismus (der Natur) verhaftet verbleiben und daher auch nur auf eine psychologische, nicht aber auf die t r a n s c e n d e n t a l e F r e i h e i t (vgl. KpV 5:96.35 – 97.1) verweisen, „die allein a priori praktisch ist“ (KpV 5:97.5 f.). Diese Empfindungen (Vorstellungen) sind Empfindungen des Angenehmen oder Unangenehmen, anthropologisch gesprochen: des Vergnügens oder Schmerzes, die den (Gemüts‐) Zustand des Subjektes beeinflussen und ihn modifizieren können. Die Empfindungen des subjektiven Zustandes treiben den Menschen an, diesen beizubehalten oder zu verlassen (vgl. Anth 7:231.1– 5). Die Modifikationen des Zustandes wiederum sind verbunden mit einem „Wechsel der Empfindungen“, der immer in einer Zeitfolge, im Strome der Zeit, stattfindet (vgl. Anth 7:231.5 – 10). Das Gefühl des Angenehmen kommt so zustande, dass der Mensch in der Zeit „genötigt“ wird, aus dem einen Zustand heraus- und in den nächsten einzutreten – dies ist die Ursache des Gefühls des Angenehmen (Anth 7:231.17– 21).¹⁰⁷ Genötigt wird er aber nur durch etwas, das ihn dazu bringt, seinen Zustand der Lust zu vermehren und damit einen Schmerz aufzuheben. Daraus schließt Kant, am Anfang stünde immer der Schmerz, der uns eigentlich dazu antreibt, uns von einem Zustand in den anderen zu begeben: „Der Schmerz ist der Stachel der Thätigkeit, und in dieser fühlen wir allererst unser Leben; ohne diesen würde Leblosigkeit eintreten.“ (Anth 7:231.36 f.) Von einem Vergnügen unmittelbar zum anderen zu schweben, ohne dass „kleine Hemmungen der Lebenskraft“ (Anth 7:231.31) und damit verbundene „Beförderungen derselben“ (Anth 7:231.32) eingeschoben würden, bedeutete, dass „ein schneller Tod vor F r e u d e “ (Anth 7:231.28) folgen müsste. Dieses antagonistische Zusammenspiel nennt Kant den „Zustand der Gesundheit“ (Anth 7:231.32, vgl. Anth 7:164.20 – 22). Mithilfe der Einbildungskraft entsteht auf diese Weise auch eine Vorstellung davon, wie sich dieser Zustand der Gesundheit, also das Zusammenspiel von Vergnügen und Schmerz, von Lust und Unlust genau zusammensetzen und zur Vorstellung von einem Zustand der Glückseligkeit erweitern lässt. Die Einbildungskraft (als facultas imaginandi, Anth 7:167.20) als das „Vermögen der Vergegenwärtigung des Vergangenen und Künftigen“ (Anth 7.182.4 f.) ist in der Lage, Vorstellungen (und Zu diesem „Mechanismus“ der Hervorbringung von Begehrungen aus dem Gefühl der Lust und Unlust vgl. die ausgezeichnete Darlegung von Höwing 2013a, insbes. Kapitel 1. Für eine schöne Nachzeichnung der damit verbundenen „Rhythmen des Lebens“ und deren belebende Aspekte siehe M. Seel 2007.
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damit auch Empfindungen) entweder wieder ins Gedächtnis zu rufen, oder aber sie als Projektionen in der Zukunft vorzustellen:¹⁰⁸ Das Vermögen sich vorsetzlich das Vergangene zu vergegenwärtigen ist das E r i n n e r u n g s v e r m ö g e n und das Vermögen sich etwas als zukünftig vorzustellen das Vo r h e r s e h u n g s v e r m ö g e n . Beide gründen sich, sofern sie sinnlich sind, auf die A s s o c i a t i o n der Vorstellungen des vergangenen und künftigen Zustandes des Subjects mit dem gegenwärtigen, und obgleich nicht selbst Wahrnehmungen, dienen sie zur Verknüpfung der Wahrnehmungen i n d e r Z e i t , das, was n i c h t m e h r i s t , mit dem, was n o c h n i c h t i s t , durch das, was g e g e n w ä r t i g ist, in einer zusammenhängenden Erfahrung zu verknüpfen (Anth 7:182.6 – 14).
Das aber bedeutet, dass das Subjekt erst vor dem Hintergrund seines eigenen Glücksbegriffs den in Frage kommenden Gegenstand als Zweck auszeichnen, ja eigentlich ihn überhaupt erst als möglichen Zweck seines Handelns „erkennen“ kann. Auf diese Weise gelangt das Subjekt nach und nach zu einer Vorstellung davon,was für es selbst ein Zustand der Glückseligkeit sein könnte. Hierfür zieht es vergangene und mögliche künftige Vorstellungen von angenehmen Zuständen mittels der Einbildungskraft heran, um sie in ihrem Bezug auf seinen Zustand miteinander zu vergleichen. Dabei kann das Subjekt zunächst nur auf quantitative Merkmale der Extensität, Intensität und Protensität zurückgreifen. Die Gegenstände oder Vorstellungen, d. h. die mit Gegenständen verbundenen Empfindungen oder Vorstellungen von solchen, werden nach ihrer vergangenen, evtl. derzeitigen und möglichen künftigen Wirkung auf den Zustand des Gemüts verglichen – so wie auch in den Wahrnehmungsurteilen die zu beurteilenden Gegenstände nur in Bezug auf das Subjekt und seine Wahrnehmung, auf seinen Zustand (nach Gesetzen der Assoziation) beurteilt werden (vgl. Anth 7:230.23 – 231.1 sowie Kapitel 4.1). Dabei kann sich das Subjekt dann gerade nicht (ausschließlich) auf die objektiven Kausalverhältnisse von Ursache und Wirkung beziehen, die durch die Kategorie der Relation, d. h. der Kausalität, Begriffe und somit objektive Erkenntnis konstituieren. Vielmehr handelt es sich um Betrachtungen zwar in Raum und Zeit, aber doch um subjektive Betrachtungen, insofern das Objekt durch seinen Bezug auf das Subjekt und seinen Zustand bestimmt wird. Einbildungskraft und Verstand greifen in der Weise ineinander, dass die Einbildungskraft „Bilder“ entwirft, sich Gegenstände vorstellt, die vom Verstand
Nagel stellt einen Klugheitsbegriff vor, der auf der Basis eben dieser Fähigkeit, sich selbst als Person in unterschiedlichen zeitlichen Zusammenhängen vorstellen zu können, beruht. Im Gegensatz zu Kant versteht er das Subjekt in diesem Sinne als fähig, sich unabhängig von der Zeitreihe, d. h. von den ihn aktuell umgebenden zeitlichen Umständen zum Handeln zu bestimmen, insofern es von den konkreten Zeitbedingungen abstrahiert (vgl. Nagel 1998, bes. 52 ff.).
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daraufhin zu überprüfen sind, ob sie in der Realität umsetzbar sind. In noch größerem Maß als im ästhetischen Bereich ist die Einbildungskraft hier durch den Verstand auf die gegebene Sinnlichkeit bezogen, da der Entwurf bloß eingebildeter, nicht aber wirklicher oder realisierbarer Gegenstände einen Widerspruch ergeben würde. Im Gegensatz zum ästhetischen Genie ist der Handelnde weniger frei in der Anwendung der Einbildungskraft, im Entwurf der möglichen Ausdrucksweisen seiner Idee (vgl. Anth 7:167.34– 168.10). Entscheidend für die Bildung von Maximen nach einer „ästhetischen“ Normalidee der Glückseligkeit ist also, dass sie 1) lediglich aufgrund von Erfahrungswerten zustande kommen, welche durch den Vergleich der Vorstellungen (Empfindungen) untereinander sowie auf den Zustand des Subjekts verglichen werden. Ähnlich wie im Zusammenhang mit dem Begriff des pragmatischen Wissens lassen sich hieraus keinerlei allgemeingültige Erkenntnisse ableiten, da insbesondere die Wirkung der vorgestellten Gegenstände auf den Zustand als mindestens unsicher gelten muss. 2) Sind solche Maximen, die aus generalisierten Vorstellungen bestehen, wie auch die Normalidee des Schönen, regional, lokal oder gar familiär, zumeist auch zeitlich begrenzt: Sie gelten in einem bestimmten sozialen und zeitlichen Umfeld. Die aus solchen Vorstellungen entstehenden „Lebensregeln“ sind zwar mehr oder weniger selbst gebildet, die ihnen zugrunde liegende Idee der Glückseligkeit gilt also durchaus als Richtmaß für die Beurteilung der Handlungen und damit auch für die Herausbildung der Maximen selbst. Sie regen aber eher zur Nachahmung als zur Nachfolge an. Aufgrund ihres ganz und gar empirischen, bei vollständiger Kenntnis (Theorie) des Menschen und all seiner derzeitigen und zukünftigen Zustände (Anthropologie) könnten sie quasi errechnet werden. Sie sind aber nicht dazu geeignet, bestehende Normen zu durchbrechen und das Leben nach gewissermaßen „originellen“ und individuell selbst formulierten Maximen zu gestalten. In diesem Sinn ist auch das folgende Zitat zunächst zu lesen: Das Princip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die a l l g e m e i n e Glückseligkeit zum Objecte machte. Denn,weil dieser ihre Erkenntniß auf Erfahrungsdatis beruht,weil jedes Urtheil darüber gar sehr von jedes seiner Meinung, die noch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt, so kann es wohl g e n e r e l l e , aber niemals u n i v e r s e l l e Regeln, d. i. solche, die im Durchschnitte am öftersten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und nothwendig gültig sein müssen, geben, mithin können keine praktische G e s e t z e darauf gegründet werden (KpV 5:36.9 – 16, kursiv C.G.).
Generelle Regeln sind somit nicht Regeln für jedermann, sondern variieren von Subjekt zu Subjekt, da aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungen und Erfahrungshorizonte „die Verschiedenheit des Urtheils endlos“ sein muss (KpV 5:36.20).
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Was also mit Bezug auf die ästhetische Normalidee für mehrere Individuen eines abgegrenzten Raumes (Landes, Region) gilt, gilt im privaten Bereich und für das Handeln für alle Subjekte einzeln: Eine Regel, die auf einer aus Erfahrung gewonnenen Idee fußt, kann nicht für alle vernünftigen Wesen gleichermaßen und ausahmslos gelten. In der Anthropologie nennt Kant die Reihenfolge der Gänge bei den Mahlzeiten als Beispiel für eine solche empirische Regel: Es hat sich bewährt und ist deshalb zur Gewohnheit geworden, in bestimmter Art zu verfahren: Nun wird auch das Wort G e s c h m a c k für ein sinnliches Beurtheilungsvermögen genommen, nicht blos nach der Sinnesempfindung für mich selbst, sondern auch nach einer gewissen Regel zu wählen, die als für jedermann geltend vorgestellt wird. Diese Regel kann e m p i r i s c h sein,wo sie aber alsdann auf keine wahre Allgemeinheit, folglich auch nicht auf Nothwendigkeit (es m ü s s e im Wohlgeschmack jedes Anderen Urtheil mit dem meinigen übereinstimmen) – Anspruch machen kann. So gilt nämlich die Geschmacksregel in Ansehung der Mahlzeiten für die Deutschen, mit einer Suppe, für Engländer aber, mit derber Kost anzufangen: weil eine durch Nachahmung allmählig verbreitete Gewohnheit es zur Regel der Anordnung einer Tafel gemacht hat (Anth 7:240.6 – 16).
Eine solche Regel verbreitet sich durch Nachahmung und wird gerade nicht von jedem Einzelnen neu und gemäß des Gedankens der Nachfolge gebildet. Übertragen wir die ästhetische Normalidee des Schönen auf die Idee der Glückseligkeit, d. h. versuchen wir, diese als eine „ästhetische Normalidee“ zu denken, so stoßen wir auf jene „Normalität“ in der Beurteilung und in den Handlungsregeln, die uns als übernommene Gewohnheit vertraut ist. Fischer verweist wie oben angedeutet zu diesem Zweck auf die Wahrscheinlichkeit bezüglich des „Glücklichmachens“ empirischer Zwecke, indem er dieser Wahrscheinlichkeitsberechnung den Zuspruch von Werten und Hierarchisierungen unter den Zwecken zuerkennt. Er vertritt die Auffassung, die reproduktive Einbildungskraft arbeite mit Regeln der Assoziation, sodass die Idee der Glückseligkeit kein objektiver Zweck oder formale Zweckmäßigkeit sei, sondern bloß ein Aggregat von Assoziationen (Fischer 2003, 66 ff.). Um durch pragmatisches Handeln die Glückseligkeit zu optimieren, sei es daher nötig,Werte zu bestimmen, die eine Hierarchisierung der Vorstellungen und ihrer Assoziationen erlauben. Fischer sieht nun das Kriterium für diese Hierarchisierung und damit die Herausbildung der Werte, welche die Gegenstände als mittelbar gut qualifizieren, in der erwarteten Wahrscheinlichkeit, mit der sie den Zustand der Glückseligkeit als einem Maximum an Wohlbefinden hervorzurufen in der Lage sein könnten. Indem auf diese Weise der Aggregation der als angenehm erlebten oder assoziierten Empfindungen (Vorstellungen) eine Reflexion („koordinierende Einstellung“) über die motivierende Handlungseinstellung beigefügt wird, könne das Subjekt seine Handlungsmotive ordnen und damit ein System in das Ideal der Glückse-
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ligkeit bringen: „Urteile und Regeln, die auf der Grundlage dieser Ordnung gebildet werden, beanspruchen eine individuelle, aber vom aktuellen Erleben unabhängige Gültigkeit.“ (Fischer 2003, 70) Damit spricht er sich aus für die Möglichkeit einer qualitativen Beurteilung von möglichen Zwecken durch die Evaluierung der Wahrscheinlichkeit, das Gefühl des Angenehmen im Subjekt hervorzurufen, die der quantitativen Beurteilung an die Seite tritt. Indem Fischer jedoch als Kriterium der Ermittlung solcher empirischer Werte die Wahrscheinlichkeit angibt, mit der die auf solche Weise bewerteten Gegenstände das Subjekt glücklich machen, kommt er, so meine ich, nicht über den hier auf bloße (Durchschnitts‐) Empfindungen begrenzten Rahmen hinaus in das Feld des eigentlich Praktischen der Zweckbestimmung. Die vermutete Wahrscheinlichkeit von Glückseligkeit ist kein ausreichendes Kriterium für die Setzung von Werten.¹⁰⁹ Es würde sich dabei wiederum nur um eine Form der bloß instrumentellen Rationalität handeln. In diesem Sinne kritisiert Kant denn auch solche Maximen, die bloß auf Gewohnheit basieren, als für die Tugend unzureichend: weil sittliche Maximen nicht so wie technische auf Gewohnheit gegründet werden können (denn dieses gehört zur physischen Beschaffenheit seiner Willensbestimmung), sondern, selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit würde, das Subject damit die F r e i h e i t in Nehmung seiner Maximen einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung aus Pflicht ist (MdS 6:409.28 – 34).
Mit Bezug auf dieses Zitat kritisiert Albrecht eine seiner Ansicht nach in der Kantforschung verbreitete Auffassung (z. B. Bubner 1982, 187), subjektive Maximen beruhten überhaupt alle auf Gewohnheit,wogegen er sich abgrenzen und den originalen Charakter der Maximen verteidigen möchte (vgl. Albrecht 1994, 136). Gerade weil die zunächst nur subjektive Maxime die Grundlage sei für eine moralische, könne sie nicht per se schon aus Gewohnheit erfolgen, sondern müsse durch das Subjekt selbst gesetzt werden, und dies trotz der sich in Maximen ausdrückenden „Gleichförmigkeit von Willensentscheidungen“ (Albrecht 1994, 137). In diesem Sinne handelt Albrecht zufolge auch nicht jeder nach Maximen. Ich komme hierauf in Kapitel 5.2 zurück. Nun beweist dieses Zitat nicht auf den ersten Blick, was es beweisen soll: nämlich die qualitative Differenz zwischen Maximen, die auf Gewohnheit (also auf einer Normalidee der Glückseligkeit), und solchen, die auf einer andersgearteten
Wobei zuzugeben ist, dass eine Zuschreibung oder Setzung von nicht-moralischen Werten ohnehin problematisch bleiben muss, da „Wert“ für Kant in erster Linie moralischer Wert ist. Vgl. die bekannte Unterscheidung von Marktpreis, Affektionspreis und innerem Wert in Anth 7:292.19 – 25, wobei letzterer ausschließlich dem Charakter zugeschrieben wird im Unterschied zum Talent und Temperament. Siehe auch KdU 5:434.24– 36 sowie KdU 5:442.25 – 36.
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und noch zu erörternden Reflexion basieren. Denn Kant fasst sie alle beide als technische Maximen zusammen und ordnet sie der Gewohnheit zu. Eben dies ist aber eine der Thesen der vorliegenden Arbeit: dass Maximen, insofern sie als Ratschläge der Klugheit aufzufassen sind, einige Merkmale mit den moralischen Maximen teilen müssen, da sie – anders als Regeln der Geschicklichkeit – auf die Bestimmung von Zwecken und nicht nur auf deren Umsetzung gerichtet sind. Zudem soll ja gerade gezeigt werden, dass das, was Kant unter „technisch“ versteht, nicht automatisch auch den pragmatischen Aspekt der Zweckbestimmung umfasst. So gelesen, unterscheidet Kant in dem Zitat zwischen technischen Regeln der Ausführung von nicht weiter hinterfragten (und damit auch nur bedingt selbst gesetzten) Zwecken und moralischen Maximen, die (tugendhafte) Zwecke bestimmen. Wir können daraus nun schließen, dass wohl alles Handeln nach Maximen erfolgt, nicht alle Maximen aber originell sind, sondern manche auf Gewohnheit basieren können. Die Differenzierung wird dieser Interpretation zufolge von der Maxime selbst in die zugrundeliegende Idee verlagert. Gegen Albrecht kann deshalb argumentiert werden, dass eben doch alles Handeln nach Maximen erfolgt, aber nicht immer im Sinne des Verhältnisses von Prinzipien zu Prinzipien, sondern bisweilen auch lediglich im Sinne der Anwendung einer Theorie. Mit Schwartz kann für die letzteren Fälle (und nur für diese) konstatiert werden, dass die entsprechenden Maximen tatsächlich übernommene Grundsätze der Gewohnheit sind (vgl. Schwartz 2006, 35). Der Kritikpunkt einer solchen „Normalidee der Glückseligkeit“ ist daher im Kern derselbe, der oben bereits Höwings ansonsten überzeugender Darstellung einer „evaluativen Funktion“ des Gefühls entgegen gebracht wurde. Denn dasjenige, was als Durchschnittsnorm aufgrund von gemachten Erfahrungen einer Idee zugrunde gelegt wird, kann nichts anderes sein, als ein als angenehm reproduzierter und als solcher zu wiederholender Zustand, der eine darauf basierende Maxime bestimmt. Handlungen lassen sich auf dieser Basis nur als Geschicklichkeitsregeln ableiten, welche auf eine solche Idee eines angenehmen Zustandes abzielen. Ein betrachteter Gegenstand wird daraufhin (als möglicher Zweck) beurteilt, ob er mit dieser „Normalidee der Glückseligkeit“ übereinstimmt oder mit ihr in Widerspruch steht. In Bezug auf die Normalidee des Schönen lautete die entsprechende Formulierung: Ihre Darstellung gefällt auch nicht durch Schönheit, sondern bloß weil sie keiner Bedingung, unter welcher allein ein Ding dieser Gattung schön sein kann, widerspricht (KdU 5:235.8 – 10).
Insofern eine solche Idee sich also nicht auf durch den Menschen selbst gesetzte, wenn auch zunächst der Wahrnehmung entnommene, Zwecke beziehen kann, sondern nur auf gemachte Erfahrungen (von Lust oder Unlust), insofern also
3.3 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit
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Einbildungskraft und Verstand nicht auf „eine Idee der Vernunft nach bestimmten Begriffen“ rekurrieren, ist die Normalidee der Glückseligkeit auch keines Ideals fähig. Schon darin, dass Kant aber ausdrücklich die Glückseligkeit (zumindest auch) als „Ideal der Einbildungskraft“ bezeichnet, liegt somit bereits ein Indiz, dass es sich bei der der Klugheit zugrunde liegenden Idee nicht um eine „ästhetische Normalidee“ handeln kann. Was der Normalidee fehlt, ist das (durch Vernunft und ihre Zwecke gegebene) Kriterium für die Herleitung von willensbestimmenden Regeln.
3.3.3 Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit als Vernunftidee Will man sich in seinem Urteil auf ein Ideal (der Schönheit oder Glückseligkeit) stützen, so muss dieses Ideal auf eine Idee der Vernunft verweisen, die „nach bestimmten Begriffen“ gebildet wird und die dann den Zweck bestimmt, der die „innere Möglichkeit des Gegenstandes“ ausmacht (KdU 5:233.1– 4). Die Idee (gebildet nach bestimmten Begriffen) sagt damit etwas über die Möglichkeit des Gegenstandes aus, insofern er durch diese Idee beurteilbar sein soll. Im Fall der Glückseligkeit bezieht sich damit die Beurteilung des Gegenstandes auf die Idee der Glückseligkeit. Wie wir sahen, erweist sich die „Normalidee der Glückseligkeit“ als unzureichend für die Bestimmung von Maximen als Regeln der Klugheit, und es bleibt die Frage: Kann es nach Kant ein auf (klugen) Maximen basierendes Handeln geben, das empirische Zwecke aufgrund einer Art „ästhetischer Vernunftidee der Glückseligkeit“ definiert, anstatt auf gewohnheitsmäßiges Handeln oder Regeln der Gewohnheit zurückzugreifen? Es muss gefragt werden, ob zur Tätigkeit von Einbildungskraft und Verstand, damit aus der Idee der Glückseligkeit ein Ideal werden kann, noch etwas hinzutreten muss, wie im Rahmen der ästhetischen Vernunftidee anklingt. Eine als Ideal darstellbare „Vernunftidee“, so schien es zunächst, beruht auf den sittlichen Ideen des Menschen, denjenigen Zwecken, die er sich selbst durch seine (reine) Vernunft setzt (vgl. z. B. KdU 5:235.17– 25). Wäre dem so, gäbe es, auch im Rahmen der hier unternommenen Rekonstruktion der Glückseligkeit als ästhetische Idee, wiederum keinen Mittelweg zwischen empirisch ermittelten Durchschnittswerten, die letztlich Zwecke der Natur ausdrücken, und sittlich-moralischen Zwecken der reinen Vernunft. Nun führt Kant aber bei seiner Darstellung von Idee und Ideal des Schönen aus, dass es ein solches nur für den Menschen geben könne, und zwar deshalb, weil nur er „den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat“ (KdU 5:233.11). Und in eben diesem Sinn, so wurde oben bereits ausgeführt, kann der Mensch sich seine Zwecke „selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußern Wahrnehmung her-
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nehmen muss, doch mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammenhalten“ (KdU 5:233.12– 14, kursiv C.G.). Hierin liegt nun meines Erachtens der Schlüssel zu einer Rekonstruktion der Klugheit, und wir müssen uns vergegenwärtigen, was dieses Zitat impliziert. Hierfür ist es hilfreich, sich noch einmal die Bedingungen der Darstellung durch das Genie vor Augen zu führen. Denn dasjenige, was dann auch als schön am Gegenstand (Kunstwerk) beurteilt werden kann, beruht auf der spielerischen Darstellung von Ideen, die zugleich verbunden sind mit einer Vielzahl von unnennbaren Attributen und Nebenideen. Was das Besondere in der Darstellung eines Kunstwerkes ausmacht, ist diese spielerische Reflexion, die doch zugleich Bezug nehmen muss auf Ideen der Vernunft, d. h. auf Zwecke des Menschen, die mindestens mit jenen „wesentlichen und allgemeinen“ Zwecken zusammen gehalten werden. Für die Darstellung einer Idee der Glückseligkeit bedeutet dies, dass die Einbildungskraft ebenso auf die Darstellung dessen abzielt, was als Ideal vorgestellt werden soll. Das aber ist nur möglich im Rückgriff auf Zwecke der Vernunft. Eine Idee der Glückseligkeit darzustellen ist somit in gewisser Weise auch ein Spiel mit der Vernunft und ihren Ideen, wobei letztere Anlass geben, überhaupt eine Darstellung zu produzieren. Was aber hat man sich unter jenen „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ vorzustellen? Kant führt diese Begrifflichkeit an im Rahmen seiner Erörterungen zur Architektonik der reinen Vernunft zum Ende der Methodenlehre der KrV. Er unterscheidet zwischen einem Schul- und einem Weltbegriff der Philosophie: Im Sinne des Weltbegriffs bezeichnet sie die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntniß auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humanae), und der Philosoph ist nicht ein Vernunftkünstler, sondern der Gesetzgeber der menschlichen Vernunft. […] Der Mathematiker, der Naturkündiger, der Logiker sind, so vortrefflich die ersteren auch überhaupt im Vernunfterkenntnisse, die zweiten besonders im philosophischen Erkenntnisse Fortgang haben mögen, doch nur Vernunftkünstler. Es giebt noch einen Lehrer im Ideal, der alle diese ansetzt, sie als Werkzeuge nutzt, um die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern. Diesen allein müßten wir den Philosophen nennen […] (KrV A 839/B 867).
Und etwas weiter präzisiert Kant: Wesentliche Zwecke sind darum noch nicht die höchsten, deren (bei vollkommener systematischer Einheit der Vernunft) nur ein einziger sein kann. Daher sind sie entweder der Endzweck, oder subalterne Zwecke, die zu jenem als Mittel nothwendig gehören. Der erstere ist kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen, und die Philosophie über dieselbe heißt Moral (KrV A 840/B 868).
3.3 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit
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Wesentliche Zwecke sind damit solche Zwecke, die der Vernunft entspringen, allen Menschen gemeinsam sind und als solche „der ganzen Bestimmung des Menschen“ dienen, welche die Philosophie nach dem Weltbegriff zum Gegenstand hat. Zugleich müssen sie gerade noch nicht ausschließlich die höchsten, also moralische Zwecke sein, die der Mensch sich bilden kann und soll und welche dann die „ganze Bestimmung des Menschen“¹¹⁰ ausmachen. Vielmehr sind sie ebenfalls aufzufassen im Sinne untergeordneter Zwecke, welche zum Endzweck erst hinführen und insofern dann auch zu ihm gehören. Wesentliche Zwecke des Menschen sind demnach solche Zwecke, derer sich auch die Natur bedient, um ihren letzten Zweck zu erreichen, welcher darin besteht, den Menschen der Erreichung des Endzwecks der Schöpfung näher zu bringen. In eben diesem Sinn sind wesentliche und allgemeine Zwecke Zwecke der Vernunft, weil sie als Teil und Funktion ihrer eigenen höchsten Zwecke auftreten. In diesem Sinn erläutert Kant dann auch noch einmal das Verhältnis zwischen Schul- und Weltbegriff der Philosophie: We l t b e g r i f f heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann nothwendig interessirt; mithin bestimme ich die Absicht einer Wissenschaft nach Schulbegriffen, wenn sie nur als eine von den Geschicklichkeiten zu gewissen beliebigen Zwecken angesehen wird (KrVA 839/ B 867).¹¹¹
Es darf und muss an dieser Stelle ein wenig vorgegriffen werden auf die Erläuterungen der beiden letzten Kapitel, um verständlich zu machen, wie sich diese wesentlichen und allgemeinen Zwecke im einzelnen darstellen und wie sie inhaltlich beschaffen sein könnten. Die Vermutung geht dahin, dass es sich um solche Zwecke handelt, die mit den Pflichten jedes Menschen, wie Kant sie in der Tugendlehre darstellt, zu vereinbaren sind, d. h. private, anhand einer subjektiven Idee der Glückseligkeit entworfene, aus der Wahrnehmung hergenommene Zwecke, die nicht in Konflikt geraten mit denjenigen Zwecken, die sich andere nach ihrer je eigenen Idee der Glückseligkeit machen können. Mit anderen Worten:
Zur Darstellung der „Bestimmungsfrage“ siehe exemplarisch Zöller 2001 sowie ausführlich Brandt 2007a und 2007b. Im Rahmen dieser Arbeit kann dieser Frage nicht weiter nachgegangen werden. Es wird jedoch verständlich, dass das hier entwickelte Konzept der Klugheit sich in den natürlichen Teil der menschlichen Bestimmung einreiht, der genau zwischen der Bestimmung durch das Tierische und derjenigen durch das rein Vernünftige anzusiedeln ist. Vgl. auch Kants Unterscheidung in der Logik: Philosophie „nach dem Weltbegriffe“ stünde in Bezug auf die letzten Zwecke des Menschen, man könne Philosophie in diesem Sinne „a u c h e i n e W i s s e n s c h a f t v o n d e r h ö c h s t e n M a x i m e d e s G e b r a u c h s u n s e r e r Ve r n u n f t nennen, sofern man unter Maxime das innere Princip der Wahl unter verschiedenen Zwecken versteht.“ (Log 9:24.28 – 32)
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3 Die Idee der Glückseligkeit
Wesentliche und allgemeine Zwecke, gerade insofern sie noch nicht die höchsten Zwecke der ganzen Bestimmung des Menschen darstellen, sind solche, die sich auch andere nach der ihnen eigenen Idee der Glückseligkeit machen können, und die damit auch andere nicht daran hindern, ihre eigene Glückseligkeit zu verfolgen. Die Übereinstimmung der eigenen subjektiven und empirisch gewonnenen Zwecke mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken bedeutet daher die Übereinstimmung der eigenen Zwecke mit denen der anderen, sofern auch diese nicht auf bloßen Privatmeinungen beruhen, sondern sich selbst wiederum mit allgemeinen Zwecken vereinbaren lassen. Gemeint ist nichts anderes, als das Zusammenhalten der eigenen Zwecke mit denen der anderen gemäß der Pflicht, fremde Glückseligkeit zu befördern. In Bezug auf einen selbst heißt das dann auch, dass neben der fremden Glückseligkeit die eigene Vollkommenheit, wie Kant sie ebenfalls in der Tugendlehre vorstellt, in die Bildung der eigenen subjektiven Zwecke einzubeziehen ist.¹¹² Erst indem sich der Mensch seine Idee der Glückseligkeit in Ausrichtung auf solche wesentlichen und allgemeinen Zwecke bildet, tritt sie, als Normalidee konzipiert, heraus aus der bloßen Privatheit der ihr zugehörigen Vorstellungen und wird anderen (wenn auch nicht unbedingt im Kantischen Sinne allgemein) mitteilbar. Ausschlaggebend ist nicht die Orientierung der Maximen an empirischen Zuständen und Befindlichkeiten (auch wenn diese einer bestimmten Gruppe von Menschen gemeinsam sein können). Ausschlaggebend ist vielmehr der Ausdruck allgemeiner und wesentlicher Zwecke, die auch für alle anderen Menschen als solche gelten können. Dass es sich dennoch um eine Idee der Glückseligkeit handelt, liegt dann daran, dass der Beweggrund, aus dem heraus solche Zwecke in die Maximenbildung einfließen, doch im Gefühl liegt. Denn gefragt wird beim Handeln nach dem Prinzip der Glückseligkeit ja nicht nach dem, was moralisch geboten ist, sondern was in Übereinstimmung mit einer das Subjekt selbst glücklich machenden Idee steht. Bestätigung findet diese Annahme in dem auf den Paragraphen zum sensus communis folgenden Abschnitt der KdU (§ 41). Dort behandelt Kant das „empirische Interesse am Schönen“ und führt aus, dass es über das bloß reflektierende Geschmacksurteil am Schönen hinaus eine Verbindung zu etwas anderem geben könne, welches sodann ein Interesse (eine Lust) an der Existenz des Gegenstandes begründet. Ein solches empirisches Interesse am Schönen kann es Kant zufolge aber nur in der Gesellschaft geben. Insofern der Mensch einen natürlichen „Trieb zur Gesellschaft“ (KdU 5:296.34) in sich hat, welcher ihn zur Zivilisierung seiner
Eine ähnliche Auffassung der „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“ im Sinne der ethischen und juridischen Pflichten vertritt Römpp 2006, 15 ff.
3.3 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit
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selbst antreibt, sodass er eine Neigung und eine Geschicklichkeit entwickelt, anderen seine eigene Lust an der Existenz eines Gegenstandes mitzuteilen, ist er nicht schon damit zufrieden, „wenn er das Wohlgefallen an demselben nicht in Gemeinschaft mit andern fühlen kann.“ (KdU 5:297.13 – 15) Kant beschreibt hier (teleologisch-historisch) den Fortgang von einem Wohlgefallen durch Reize, mit der Zeit aber auch schöne Formen […], bis endlich die auf den höchsten Punkt gekommene Civilisirung daraus beinahe das Hauptwerk der verfeinerten Neigung macht, und Empfindungen nur so viel werth gehalten werden, als sie sich allgemein mittheilen lassen (KdU 5:297.20 – 26).
Während die Lust an der Existenz des Gegenstandes selber nur „unbeträchtlich und für sich ohne merkliches Interesse“ ist, so vergrößert „doch die Idee von ihrer allgemeinen Mittheilbarkeit ihren Werth beinahe unendlich“ (KdU 5:297.28 f.). In diesem Sinne hebt Kant hervor, dass, obwohl dieses „indirekt dem Schönen durch Neigung zur Gesellschaft angehängte, mithin empirische Interesse“ für seine eigentliche Untersuchung des Geschmacksurteils unwichtig ist (KdU 5:297.31 f.), der Geschmack auf diese Weise doch einen „Übergang unseres Beurtheilungsvermögens von dem Sinnengenuß zum Sittengefühl“ entdecken (KdU 5:297.35 f.) und damit „ein Mittelglied der Kette der menschlichen Vermögen a priori, von denen alle Gesetzgebung abhängen muß“ darstellen könnte (KdU 5:298.1 f.). Selbstverständlich räumt Kant abschließend ein, dass ein solches auf diese empirische Neigung gegründetes Interesse am Schönen „einen nur sehr zweideutigen Übergang vom Angenehmen zum Guten abgeben könne“ (KdU 5:298.9 f.). Hingegen gebe es Anlass zu untersuchen, ob nicht der Geschmack selbst diesen Übergang in seiner Reinigkeit befördern könne (KdU 5:298.10 – 12). Klugheit erschließt sich demnach erst dort ihren Raum, wo Glückseligkeit sich der Sittlichkeit annähert bzw. an den wesentlichen Zwecken des Menschen orientiert, wo das faktische Handeln sich in Übereinstimmung bringen lässt mit dem Gesollten, ohne jedoch selbst auch als Gesolltes zu erscheinen. Erst wenn durch dieses aus der Perspektive einer Idee der Glückseligkeit Gesollte eine Spannung aufgebaut wird zwischen selbst gesetzt zu Erreichendem und Handlung, wie es bei Kant eigentlich erst die Moralität in Anschlag bringt, kann Klugheit sich als „wahre“ Klugheit gegenüber dem ganz gewöhnlichen und gewohnheitsmäßigen Handeln (nach einer Normalidee der Glückseligkeit) auszeichnen. Zudem gilt auch für die „Theorie der Klugheit“ bzw. der Glückseligkeit, was Kant für alle Wissenschaft fordert: Sie muss ein System ausmachen, in welchem alle Teile zu einer Einheit der Erkenntnisse unter einer Idee zusammengefügt werden können:
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Diese [Idee, C.G.] ist der Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen, so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen so wohl, als die Stelle der Theile untereinander, a priori bestimmt wird (KrV A 832/B 860).
Auch wenn die „Wissenschaft“ der Glückseligkeit, als Teil der Anthropologie, keine apriorische Ordnung und auch keine wissenschaftliche Erkenntnis in dem von Kant an dieser Stelle angeführten Sinn erlaubt, bedeutet das durch sie Vorgestellte doch eine „Einheit des Zwecks, worauf sich alle Theile und in der Idee desselben auch unter einander beziehen“, sodass das Ganze „gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio)“ erscheint und „zwar innerlich“, aber „nicht äußerlich (per appositionem) wachsen [kann], wie ein thierischer Körper, dessen Wachsthum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker und tüchtiger macht.“ (KrV A 832 f./ B 860 f.) Der oben bereits genannte Bezug der Klugheit zur Chemie wird hiermit nochmals deutlich: Weder Chemie noch empirische Seelenlehre (und das heißt auch: Klugheitslehre) können als Wissenschaft gelten. Aufgrund der vorangegangenen Ausführungen wird jedoch beider Nähe und Beziehung zum Feld der Kunst ersichtlich.
3.3.4 Ästhetische Vernunftidee der Glückseligkeit: starke Wertungen im Sinne Taylors Abschließend möchte ich die Verwandtschaft der hier dargestellten Auffassung empirisch-praktischer Vernunft mit der Unterscheidung Taylors von schwachen und starken Wertungen hervorheben.¹¹³ Im Rückgriff auf Frankfurts Differenzierung von Wünschen erster und Wünschen zweiter Ordnung geht Taylor davon aus, dass Menschen nicht nur Wünsche haben, die ihr Handeln bestimmen, sondern dass sie sich auch zu diesen Wünschen verhalten, sie bewerten können. Wünsche zweiter Ordnung sind damit Wertungen dieser Wünsche. Frankfurt nennt dies „die Fähigkeit zu reflektierender Selbstbewertung“, welche den Menschen gegenüber anderen Lebewesen auszuzeichnen scheine.¹¹⁴ Taylor unterscheidet in Bezug auf solche Wünsche zweiter Ordnung zwischen schwachen und starken Wertungen. Während der Utilitarismus die Neigung habe, grundsätzlich alle qualitative Bewertung von Wünschen zurückzudrängen, um auf der Basis bloß quantitativer Bewertungen von Wünschen die eigenen Hand-
Für diesen Hinweis danke ich Thomas Buchheim. Zitiert nach Taylor 1992, 10, im Original: „the capacity for reflective self-evaluation“ (Frankfurt 1971, 7).
3.3 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit
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lungen einem Kalkül zu unterwerfen, betont Taylor, dass ihm das nur für die Zurückweisung qualitativer Wertzuschreibungen gelinge, nicht aber für jede Art von qualitativer Betrachtung. Frankfurts „Wollen zweiter Stufe“ sei ohne weiteres „auf der Grundlage schwacher Wertungen möglich“ (Taylor 1992, 13). Eine schwache Wertung beinhalte damit die Beurteilung eines Gegenstandes oder eines Sachverhaltes als gut, weil er gewünscht wird, wohingegen starke Wertungen eine Verwendung von ‚gut‘ oder eines anderen evaluativen Ausdrucks erfordern, für die ein Gewünschtsein allein nicht ausreicht; in der Tat können manche Wünsche oder gewünschten Ziele als schlecht, niedrig, unehrenhaft, oberflächlich, unwürdig usw. bewertet werden (Taylor 1992, 14).
Er charakterisiert solche Wertungen weiterhin als „kontrastiv“, insofern sie durch die Kontrastierung mit der gegenteiligen oder alternativen Handlungsweise zustande kommen. Eine starke Wertung gibt es daher nur dort, wo eine Entscheidung zugunsten einer Handlungsalternative durch expliziten Bezug auf ihr Gegenteil erfolgt, aus dem Grund, weil der Konflikt zwischen beiden „nicht kontingenter Natur“ ist (Taylor 1992, 18). Damit bezieht sich das handelnde Subjekt dann nicht mehr auf die bloße Abwägung zwischen zwei quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Handlungsoptionen, sondern er betrachtet seine Alternativen im Lichte einer reicheren Sprache. Das Erwünschte ist für es nicht nur durch das definiert, wonach es strebt, oder durch das, was es erstrebt, plus einer Kalkulation der Folgen, es ist zugleich definiert durch eine qualitative Charakterisierung von Wünschen als höher oder niedriger, als edel oder gemein usw. (Taylor 1992, 21).
Starke Wertungen sagen etwas aus über die wahre „Bedeutung der Dinge für uns“ (Taylor 1992, 19). So lässt sich eine mutige Tat beispielsweise nicht als mutig beschreiben durch einen Hinweis auf die sich aus ihr ergebenden Folgen (vgl. Taylor 1992, 254). Taylor bezeichnet diese Fähigkeit des Menschen zu starken Wertungen auch als „Artikulationsfähigkeit“, welche zugleich „die Möglichkeit einer Pluralität von Vorstellungen“ beinhalte (Taylor 1992, 25). Durch Artikulationen werden Dinge formuliert, die ansonsten eher „unvollständig“ oder „konfus“ bleiben (Taylor 1992, 39). Damit verweisen starke Wertungen zugleich auf die Identität eines jeden Subjektes: „[U]nsere Identität [wird] durch unsere fundamentalen Wertungen definiert.“ (Taylor 1992, 36) Das wiederum bedeutet, dass das Subjekt über eine gewisse „Selbstinterpretation“ verfügen muss, um bestimmte Erfahrungen zu machen, in dem Sinne, dass auch Wünsche, Bestrebungen und Werte durch ihre Artikulation beeinflusst und modifiziert werden (vgl. Taylor 1992, 38). Taylor begreift daher das Subjekt als ein wesentlich „selbstinterpretierendes Subjekt“ (Taylor 1992, 55). Starke Wertungen beinhalten eine „Reflexion über das
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Selbst“, die denjenigen Wertungen Rechnung trägt, „die wir als wesentlich für unsere Identität empfinden.“ (Taylor 1992, 48) Die Fähigkeit zu starken Wertungen ist damit „ein wesentliches Merkmal einer Person“ (Taylor 1992, 49). Abschließend verweist Taylor auf die Nähe zu dem, was als „kohärentes Selbst“ beschrieben worden ist: Der Mensch als stark wertendes Wesen sieht sich der Aufgabe gegenüber, sich selbst als kohärentes Selbst zu entwerfen, d. h. seine Wünsche im Hinblick auf einen in sich stimmigen Zusammenhang zu bewerten und seine Entscheidungen entsprechend zu treffen.¹¹⁵ Der Zusammenhang mit dem oben Beschriebenen liegt auf der Hand. Was für Kants Begriff der Klugheit zurückgewiesen werden sollte, entspricht der Reduktion auf eine Form des auch instrumentelle Rationalität in Anspruch nehmenden Utilitarismus, die die quantitative und qualitative Bewertung von Handlungen bzw. ihrer Motive auf schwache Wertungen reduziert. Klugheit als die Lehre der optimalen Wahl zwischen solchen Motiven, die sich einzig durch ihre mehr oder weniger angenehme Wirkung auf den Zustand des Subjekts unterscheiden, braucht nichts weiter als Geschicklichkeit, um diese Wünsche umzusetzen. Wie Taylor es beschreibt, genügt es, dass solche Gegenstände überhaupt gewünscht (begehrt) werden, um als gut bezeichnet zu werden. Das Gute ist dasjenige, was dem Wohlergehen dient und insofern bloßes Mittel zu diesem. Es ist daher auch bloß nützlich, und es wird lediglich Geschicklichkeit erfordert, um es umzusetzen. Der hier unternommene Versuch hingegen, nachzuweisen, dass auch für Kant Glückseligkeit, also das eigene Wohlergehen, mehr ist, als nur das Begehren als angenehm klassifizierter Dinge, hat gezeigt, dass Glückseligkeit, zumindest sofern sie als eine mit den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ der Vernunft zusammenstimmende ästhetische Idee betrachtet wird, dem Kriterium starker Wertungen entspricht: Indem der Mensch seine Wünsche (empirischen Zwecke), die ihm qua seiner eigenen Natur gegeben sind, auf solche allgemeineren Vorstellungen und Zwecke bezieht, die er sich mit seiner Vernunft entwirft, (be‐) wertet er seine Begehrungen im Taylorschen starken Sinn.¹¹⁶ Zur Bedeutung der Kohärenz im Zusammenhang mit einer Konzeption der Lebenskunst vgl. Höffe 2007b. Arendt drückt es so aus: „Die Tatsache des Gefallens als solche kann man billigen oder missbilligen; auch sie hat sich also der ‚Billigung oder Missbilligung‘ zu unterwerfen.“ Wenn wir ein Vergnügen daraufhin reflektierend beurteilen, ob wir es als solches billigen, so „ist es nicht länger der Gegenstand, der gefällt, sondern dass wir ihn als Gefallen bereitend beurteilen.“ (Arendt 1998, 92 f.) Daraus folge dann ein Gefallen am Akt selbst der Billigung oder Missbilligung. Kriterium aber für die Wahl zwischen Billigung und Missbilligung sei die Mitteilbarkeit bzw. Öffentlichkeit, worüber mit dem Gemeinsinn entschieden werde (Arendt 1998, 93). Da Arendt jedoch im Kriterium der Öffentlichkeit zugleich ein Kriterium für Moralität sieht, entgeht ihr der hier explizierte Zusammenhang von aus subjektiven und empirischen Zwecken entspringenden Ma-
3.3 Klugheit und die Idee der Glückseligkeit
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Kants Ästhetik ist damit in doppelter Hinsicht fruchtbar zu machen für die Untersuchung des Begriffs der Klugheit als das Leben orientierende Fähigkeit. Zum einen nämlich enthält der Ästhetikbegriff eine Definition des Schaffens, dem zufolge auch Handeln im Sinne einer von Theorie unterschiedenen Praxis darauf angelegt ist, bereits Bestehendes zu verändern und nach je neuen Maßstäben zu gestalten – und dies zunächst unabhängig davon, ob es sich um eine moralisch orientierte Praxis handelt oder nicht. Zum anderen aber öffnet sich auch im Bereich der Kunst jener spannungsgeladene Raum zwischen Geschicklichkeit und Moral, in den die Klugheit schon immer geraten musste. Dies konnte gezeigt werden anhand der Idee des Schönen, welche die der ästhetischen Produktion zugrunde liegenden empirischen Zwecke in Übereinstimmung zu bringen hat mit allgemeinen und wesentlichen Zwecken des Menschen als Vernunftwesen. Schön im eigentlichen Sinne sind nur solche Kunstwerke zu nennen, die menschliche Charakterzüge ausdrücken, und dies streng genommen auch nur, sofern diese Charakterzüge in Verbindung mit den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ stehen. Kants weitere Untersuchung macht deutlich, dass er v. a. sittliche Ideen und Charakterzüge im Sinn hat, sodass der Raum für andere, empirische Zwecke ins Hintertreffen gerät. Dennoch, ein Ausdruck von Schönheit im Kunstwerk (und Glückseligkeit im Handeln) ist auch im Rückgriff auf andere als moralische Zwecke zumindest denkbar.¹¹⁷ Zum freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand im Entwurf einer Idee der Glückseligkeit muss dann eine Reflexion über die Zusammenstimmung mit den wesentlichen und allgemeinen Zwecken hinzukommen, die prinzipiell auch die Zwecke der anderen sein können müssen. Wir erhalten so einen ersten Hinweis
ximen mit den einzubeziehenden wesentlichen Zwecken. Wood scheint eine ähnliche Lesart zu verteidigen, wenn er eine Verfolgung der eigenen Glückseligkeit aufgrund unmittelbarer Neigungen mit dem Hinweis auf die Idee der Glückseligkeit als Produkt von Einbildungskraft und Verstand zurückweist und das Verlangen nach Glückseligkeit als ein „second-order desire for the satisfaction of a certain rationally selected set of first-order inclinations“ beschreibt (Wood 1996, 145, zitiert nach Murphy 2001, 271). Die hier vorgebrachte Interpretation bestätigt damit auch Knellers Auffassung, die v. a. in Reaktion auf die konstruktivistischen Kantinterpretationen von O’Neill und Korsgaard betont, praktische Vernunft habe nicht in dem Sinne Vorrang, dass aller Wert ausschließlich durch praktische Vernunft generiert werde. Diese Sichtweise trage Kants Einsicht nicht Rechnung, dass Vernunft ein System des Zusammenspiels von Denken und Handeln ist. Eine ausgereifte Kritik der Vernunft müsse daher die Verbindung von theoretischer und praktischer Vernunft benennen, welche Kant in der dritten Kritik anhand der reflektierenden Urteilskraft darlege (Kneller 2007, 81). Vgl. auch Makkreels These, reflektierende Urteilskraft sei im Wesentlichen interpretierend (Makkreel 1990, 122 ff.) sowie Gadamers Bezug auf Kants Ästhetik für seine Begründung der hermeneutischen Methode der Geisteswissenschaften (Gadamer 1972).
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3 Die Idee der Glückseligkeit
bezüglich des Anteils der Vernunft an empirisch bedingten Handlungen bzw. an Klugheit: Dieser bestimmt sich dem Vorangegangenen zufolge entsprechend der Abstimmung der empirischen Zwecke mit diesen wesentlichen und allgemeinen Zwecken, und ist damit, so ist nun zu zeigen, eine spezifische Leistung von Vernunft und Urteilskraft.
4 Urteile der Klugheit Die in den vorangegangenen Kapiteln entwickelte These, dass sich Klugheit im pragmatischen Sinne einer Zweckbestimmungskompetenz auch innerhalb des Kantischen Werkes verorten lässt, soll sich nun im systematischen Rahmen seiner praktischen Philosophie bewähren. Klugheit soll sich als Eigenschaft von Handlungen (bzw. Willensbestimmungen) erweisen, die auf subjektiven, aber dennoch praktischen Urteilen beruhen. Wir haben bereits an verschiedenen Stellen beobachtet, dass Kant durch eine konsequente Polarisierung zwischen naturbestimmter Gefühlswelt und durch ausschließlich reine Vernunft bestimmter Handlungswelt immer wieder Gefahr läuft, empirisch bestimmtes Handeln an den Rand zu drängen. Diese Tendenz der Kantischen Philosophie insgesamt zeigt sich auch im Rahmen seiner Urteilslehre. Wie im Theoretischen anhand der Unterscheidung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisurteilen, versucht Kant auch hier, alles empirisch Bedingte und auf Gefühl Beruhende von den Leistungen der (reinen) Vernunft zu trennen. Zugleich soll anhand der Unterscheidung von theoretischen, ästhetischen und praktischen Urteilen deutlich werden, dass und inwieweit er dabei das eigene System bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit treibt. Bei Kants Urteilslehre anzusetzen und Klugheit auf die ihr zugrundeliegenden Urteile hin zu untersuchen, bietet sich deshalb an, weil das, was für die theoretische Vernunft gilt, für ihren praktischen Gebrauch nicht anders sein kann: Urteile sind die „Funktionen der Einheit unter unsern Vorstellungen“ (KrVA 69/B 94), sie sind diejenigen Funktionen des Verstandes, die unser Denken überhaupt ausmachen:¹¹⁸ Wir können aber alle Handlungen des Verstandes auf Urtheile zurückführen so daß der Ve r s t a n d überhaupt als ein Ve r m ö g e n z u u r t h e i l e n vorgestellt werden kann (KrV A 69/B 94).
Zimmermann z. B. fasst praktische Vernunft überhaupt als Urteilsvermögen auf (vgl. Zimmermann 2011, 74). Auch Steigleder vertritt die Auffassung, Kants Imperative seien als praktische Urteile aufzufassen. Er nennt sie darüber hinaus „reflexive praktische Urteile“, um auf ihre Selbstbezüglichkeit zu verweisen (Steigleder 2002, 25,,besonders die Fußnoten 7 und 8 sowie Steigleder 2001, 114). Er verweist mit seiner Interpretation auf Longuenesse 1998, 113, Fn. 22. Sie betont, der Terminus „Reflexion“ als Überlegung sei dem des Vergleichens verwandt und würde leicht mit ihm gleichgesetzt. Nichtsdestotrotz erfordere diese Ähnlichkeit der Begriffe die Präzisierung dessen, was da miteinander verglichen werde. Diese Feststellung ist auch für die folgenden Überlegungen von Bedeutung.
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4 Urteile der Klugheit
Kann schon die Tätigkeit des Verstandes als Handeln aufgefasst werden, so muss dies umso mehr für das „tatsächliche“ Handeln des Menschen gelten. Alle menschliche Praxis, so konnte das erste Kapitel zeigen, beruht auf Prinzipien, welche sich konkret in willensbestimmenden Maximen ausdrücken. Wenn Kant also von praktischen Urteilen spricht, so liegt es nahe, diese mit der Bildung von Maximen in Verbindung zu bringen, durch welche der Mensch seine Zwecke bestimmt. Eben diese Maximen in ihrer zunächst subjektiven Eigenschaft konnten bereits als „Ratschläge der Klugheit“ oder subjektive Prinzipien der Willensbestimmung identifiziert werden. Lässt sich nachvollziehen, welcher Art die den Maximen zugrundeliegenden Urteile der praktischen Vernunft sind, wie sie gebildet werden und wie sie sich von anderen Urteilsformen abgrenzen, so ließe sich folglich Klugheit als eine (empirisch bedingte) Form praktischer Urteile in den systematischen Rahmen von Kants praktischer Philosophie einfügen. Wir werden uns dem Kern der Problematik nähern, indem wir zunächst von Kants Unterscheidung zwischen empirischen und reinen Urteilen in seiner theoretischen Philosophie ausgehen: Dort unterscheidet er Wahrnehmungs- von Erkenntnisurteilen und gesteht nur den letzteren eigentlich Erkenntnisstatus zu (4.1). Die in den Wahrnehmungsurteilen selbst enthaltene Differenz zwischen solchen, die prinzipiell zu Erkenntnisurteilen werden können und solchen, die dies nicht können, führt sodann zur Vorstellung der ästhetischen Urteile (4.2). Hier werden wir sehen, dass mangels einer klaren Unterscheidung zwischen ästhetischen und praktischen Urteilen die jeweils empirisch bedingte Urteilsform ins Hintertreffen gerät, obwohl sie doch am Ursprung kluger Urteile stehen müsste. Als Antwort soll anschließend eine Rekonstruktion von solchen empirisch-praktischen Urteilen unternommen und ihr Verhältnis zu ästhetisch-pathologischen Urteilen geklärt werden (4.3). Damit ist dann eine Basis für Urteile der Klugheit geschaffen, welche sich in einem letzten Schritt mithilfe der Kategorien der Freiheit in den Prozess der Willensbildung einbeziehen lassen (4.4).
4.1 Wahrnehmungsurteile Kant führt die sogenannten Wahrnehmungsurteilen in den Prolegomena ein und verdeutlicht mit ihrer Hilfe, worin im Gegensatz zu diesen die eigentliche Leistung eines Erkenntnisurteils besteht. Er bezeichnet Wahrnehmungsurteile als Urteile, die subjektiv gelten, weil sie nur auf die Wahrnehmung durch das Subjekt bezogen sind und damit in erster Linie nicht etwas über den Gegenstand, sondern über dessen Beziehung zum Subjekt aussagen. Damit aus ihnen Erfahrungsurteile werden können, muss ein reiner Verstandesbegriff a priori hinzukommen. Erst durch ihn können die in einem Wahrnehmungsurteil nur lose miteinander ver-
4.1 Wahrnehmungsurteile
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bundenen Wahrnehmungen synthetisch und a priori in einem Bewusstsein miteinander verknüpft werden. Dies erfolgt über die Anwendung der Verstandeskategorien. Allein auf diese Weise kann Kant zufolge überhaupt ein Begriff von einem Gegenstand gebildet werden und ist Erkenntnis, und d. h. für ihn dann auch: Erfahrung, möglich (Prol 4:297.29 – 36). Damit ist das Verhältnis von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen benannt, und Kant definiert: E m p i r i s c h e U r t h e i l e , sofern sie o b j e c t i v e G ü l t i g k e i t h a b e n , sind Erfahrungsurtheile; die aber, s o n u r s u b j e c t i v g ü l t i g sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurtheile. Die letztern bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subject. […] Alle unsere Urtheile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurtheile: sie gelten blos für uns, d.i. für unser Subject, und nur hinten nach geben wir ihnen eine neue Beziehung, nämlich auf ein Object, und wollen, daß es auch für uns jederzeit und so für jedermann gültig sein solle […] (Prol 4:298.1– 12).
Jedoch kann und soll hier weder die Argumentation noch die Diskussion um den Status dieser Urteile im Einzelnen nachvollzogen werden. Vielmehr ist es das Ziel dieses Abschnitts, Wahrnehmungsurteile anhand von vier wesentlichen Merkmalen zu charakterisieren, die es uns erlauben, Wahrnehmungs- und Erkenntnisurteile und damit die empirische von der reinen Variante des Urteilens zu unterscheiden. Dies wird dann in den folgenden Abschnitten für die Konstruktion empirisch-praktischer Urteile der Klugheit von Bedeutung sein. Wahrnehmungsurteile sind (a) subjektiv und auf den Zustand des Subjekts bezogen, enthalten (b) durch Assoziation miteinander verknüpfte Vorstellungen, können (c) nicht automatisch und in jedem Fall durch Anwendung der Verstandeskategorien zu Erkenntnisurteilen werden und sind (d) nur begrenzt sprachlich mitteilbar. (a) Wahrnehmungsurteile sind subjektiv und auf den Zustand des Subjekts bezogen. Erfahrung setzt sich für Kant aus zwei Komponenten zusammen: den Produkten der Sinne und denen des Verstandes (vgl. Prol 4:300). Sie besteht damit aus bewusster Anschauung, also zu den Sinnen gehörender Wahrnehmung (perceptio) und dem Urteilen, das dem Verstand zukommt. Kant erläutert: Dieses Urtheilen kann nun zwiefach sein: erstlich, indem ich blos die Wahrnehmungen vergleiche und in einem Bewußtsein meines Zustandes, oder zweitens, da ich sie in einem Bewußtsein überhaupt verbinde. Das erstere Urtheil ist blos ein Wahrnehmungsurtheil und hat so fern nur subjective Gültigkeit, es ist bloß Verknüpfung der Wahrnehmungen in meinem Gemüthszustande ohne Beziehung auf den Gegenstand (Prol 4:300.7– 13).
Die für Erfahrungserkenntnisse notwendigen Bedingungen der objektiven Gültigkeit und der notwendigen Allgemeingültigkeit sind also für Wahrnehmungs-
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4 Urteile der Klugheit
urteile nicht gegeben. Dennoch handelt es sich (zumindest an dieser Stelle) um Verstandeshandlungen und damit um Urteile: Die Vereinigung der Vorstellungen in einem Bewußtsein ist das Urtheil. Also ist Denken so viel als Urtheilen, oder Vorstellungen auf Urtheile überhaupt beziehen. Daher sind Urtheile entweder blos subjectiv, wenn Vorstellungen auf ein Bewußtsein in einem Subject allein bezogen und in ihm vereinigt werden; oder sie sind objectiv, wenn sie in einem Bewußtsein überhaupt, d.i. darin nothwendig, vereinigt werden (Prol 4:304.30 – 305.1, kursiv C.G.).¹¹⁹
Wahrnehmungsurteile sind demnach Urteile, die verschiedene Wahrnehmungen vereinen, indem sie sie „auf ein Bewußtsein in einem Subject allein“ beziehen und nicht auf ein „Bewußtsein überhaupt“. Das aber kann nur bedeuten, dass die Art der Verknüpfung dieser Wahrnehmungen so geschieht, dass sie nur durch das einzelne Subjekt und in Bezug auf seinen Zustand vorgenommen wird. Als Beispiel wählt Kant den Satz „Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm“ (Prol 4:301.29). Wird diesem Satz (Urteil)¹²⁰ nicht noch der reine Verstandesbegriff der Ursache hinzugefügt, „der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme n o t h w e n d i g verknüpft“ (Prol 4:301.34 f.), so bleibt es bei diesem Wahrnehmungsurteil. Die häufige Wiederholung eines Ereignisses (oder einer Handlung) macht dieses noch nicht zu einer objektiven Erkenntnis: Erscheinungen geben gar wohl Fälle an die Hand, aus denen eine Regel möglich ist, nach der etwas gewöhnlicher maßen geschieht, aber niemals, daß der Erfolg nothwendig sei (KrVA 91/ B 124).
(b) Wahrnehmungsurteile enthalten durch Assoziation miteinander verknüpfte Vorstellungen. Die Vereinigung der Vorstellungen bzw.Wahrnehmungen „in einem Bewußtsein meines Zustandes“ (Prol 4:300.9) bzw. „in meinem Gemüthszustande“ (Prol 4:300.12) und ihre Verknüpfung (Synthesis) zu einem solchen empirischen Urteil muss nun nach Regeln geschehen. Und da die objektiven Verstandeskategorien hierfür nicht in Frage kommen, müssen es andere Regeln sein. Für Kant erfolgt die Verknüpfung der Wahrnehmungen zu einem empirischen Wahrnehmungsurteil nach Regeln der Assoziation, die in der empirischen Einheit des Subjekts stattfindet. In der Anthropologie erläutert er:
Der sich direkt hier anschließende Satz gilt dann für alle Urteilsarten: „Die logische Momente aller Urtheile sind so viel mögliche Arten,Vorstellungen in einem Bewußtsein zu vereinigen.“ (Prol 4:305.1– 2) Wieland betont, Kant unterscheide zwischen dem sprachlichen und „dem im Bewusstsein verorteten Urteil“ (Wieland 2001, 104).
4.1 Wahrnehmungsurteile
135
Das Gesetz der Association ist: empirische Vorstellungen, die nach einander oft folgten, bewirken eine Angewohnheit im Gemüth, wenn die eine erzeugt wird, die andere auch entstehen zu lassen (Anth 7:176.6 – 8).
Anthropologisch betrachtet ist der Begriff der Assoziation bzw. die Assoziation der Vorstellungen durch die Einbildungskraft damit mit dem Phänomen der Gewöhnung verknüpft. Eine wiederholte Folge von Ursache-Wirkungs-Verhältnissen innerhalb des Subjekts (d. h. von Gegen- oder Zuständen etc. auf den Zustand des Subjekts) zieht einen gewöhnenden Effekt nach sich.¹²¹ In einem Wahrnehmungsurteil werden also die einzelnen Wahrnehmungen in ihrem Bezug auf das sie wahrnehmende Subjekt untereinander verglichen. In einem Erfahrungsurteil dagegen werden diese zunächst nur untereinander verglichenen und auf den Zustand des Subjekts bezogenen Wahrnehmungen auf einen im Verstand selbst liegenden Begriff bezogen. Lohmar betont daher, dass die Subjektivität der Wahrnehmungsurteile nicht nur negativ zu lesen sei, nämlich insofern sie „noch nicht objektiv gelten, weil in ihnen die Verstandeskategorien (zumindest die Relationskategorien) noch nicht angewandt sind.“ (Lohmar 1992, 187).¹²² Vielmehr seien sie in dem Sinne als subjektiv zu verstehen, dass sie „vom Subjekt“ gelten würden, d. h. im Gegensatz zu den Erfahrungsurteilen eine Aussage machten über das Subjekt und nicht über das Objekt des Urteils. Wieland versteht in diesem Sinne das Ästhetische überhaupt als das Sinnliche und fasst es auf als bloße „Modifikation der Subjektivität.“ (Wieland 2001, 52 ff.) Und auch Kants Bemerkung zum Gefühl liegt auf dieser Linie: „Man kann Sinnlichkeit durch das Subjective unserer Vorstellungen überhaupt erklären“ (MdS 6:211.23 f., vgl. KdU 5:189.16 – 19). Diese bislang nur anhand der Prolegomena vorgenommenen Ausführungen lassen sich durch Kants Erörterungen zur transzendentalen Deduktion der KrV untermauern. Zwar kommen dort keine Wahrnehmungsurteile mehr vor (vgl.
Insofern spricht Kant Hume wohl tatsächlich den Erkenntnischarakter von dessen Vorstellungen ab, indem er ihm vorwirft, „gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Association gebracht“ zu haben „und eine daraus entspringende subjective Nothwendigkeit, d.i. Gewohnheit, für eine objective, aus Einsicht“ zu halten (Prol. 4:258.2– 4). Lohmar vertritt deshalb die These, Kant habe mit seinen Wahrnehmungsurteilen zunächst das „Erbe Humes“ angetreten, um sich sodann von diesem abzuwenden (vgl. Lohmar 1992). Zwei mögliche Lesarten der Kritik an Hume gibt auch Longuenesse 1998, 186 f. Dass dies aber auch zum Tragen kommt, betont Freudiger: Gerade das Merkmal „subjektiv gültig“ weise darauf hin, dass diese Urteile ohne Gebrauch der Verstandeskategorien zustande kämen, denn die Anwendung der Kategorien habe ein notwendig allgemeines Urteil zur Folge. „Subjektiv gültig“ könne daher nur bedeuten: „ohne Kategorienanwendung“ (Freudiger 1991, 422, vgl. auch den folgenden Punkt (c)).
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4 Urteile der Klugheit
Punkt (d)). Jedoch lässt der Stellenwert, den Kant den Wahrnehmungen im Zuge der sogenannten dreifachen Synthesis der Vorstellungen zuschreibt, darauf schließen, dass hier von der gleichen Sache die Rede ist. Der ersten Auflage zufolge kommt die dreifache Synthesis notwendigerweise in jeder Erkenntnis vor: die „A p p r e h e n s i o n der Vorstellungen, als Modificationen des Gemüths in der Anschauung“, die „R e p r o d u c t i o n derselben in der Einbildung“ und „ihre R e c o g n i t i o n im Begriffe“ (KrV A 97). Die Vereinigung von Wahrnehmungen in einem Bewusstsein erfolgt also mithilfe einer Synthesis. Und bereits in der Einleitung zur transzendentalen Logik hatte Kant festgestellt: Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Function der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntniß haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind (KrV A 78/B 103).
Er fährt dort fort: Das erste, was uns zum Behuf der Erkenntniß aller Gegenstände a priori gegeben sein muß, ist das M a n n i g f a l t i g e der reinen Anschauung; die S y n t h e s i s dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft ist das zweite, giebt aber noch keine Erkenntniß. Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis E i n h e i t geben, und lediglich in der Vorstellung dieser nothwendigen synthetischen Einheit bestehen, thun das dritte zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen auf dem Verstande (KrV A 78 f./B 104).
Ohne die Assoziation der Vorstellungen nach Regeln, die den „subjectiven und e m p i r i s c h e n Grund der Reproduction“ angeben, würden die Wahrnehmungen des Subjekts also bloß ungeordnete Eindrücke sein, die sich zu keiner Reihe fügen würden, sie müssten somit ohne „bestimmte[n] Zusammenhang“ und „blos regellose Haufen“ von Vorstellungen bleiben, aus denen „gar kein Erkenntniß entspringen würde“. „Diesen subjectiven und empirischen Grund der Reproduktion nach Regeln nennt man A s s o c i a t i o n der Vorstellungen.“ (KrV A 121) In der B-Deduktion unterscheidet Kant dann die objektive transzendentale Einheit der Apperzeption von der subjektiven Einheit des Bewusstseins als „B e s t i m m u n g d e s i n n e r e n S i n n s “ (KrV B 139): Ob ich mir des Mannigfaltigen als zugleich, oder nach einander, e m p i r i s c h bewußt sein könne, kommt auf Umstände, oder empirische Bedingungen, an; daher die empirische Einheit des Bewußtseins durch Association der Vorstellungen, selbst eine Erscheinung betrifft, und ganz zufällig ist. […] [Diese] empirische Einheit der Apperception, die wir hier nicht erwägen, und die auch nur von der ersteren [der objektiven, C.G.], unter gegebenen Bedingungen in concreto, abgeleitet ist, hat nur subjective Gültigkeit. Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Worts mit einer Sache, der andere mit einer anderen Sache; und die
4.1 Wahrnehmungsurteile
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Einheit des Bewußtseins, in dem, was empirisch ist, ist in Ansehung dessen, was gegeben ist, nicht nothwendig und allgemein geltend (KrV B 139 f.).
In welchem Verhältnis die empirische und subjektive Einheit des Bewusstseins als Grund der Reproduktion nach Regeln zur objektiven transzendentalen Einheit steht, muss in unserem Zusammenhang nicht weiter interessieren, dabei geht es um die komplizierten Fragen der transzendentalen Deduktion, die hier außen vor bleiben müssen. Entscheidend ist, dass die reproduktive Einbildungskraft mithilfe der empirischen Regel der Assoziation die Vorstellungen oder das Mannigfaltige der Erscheinungen, wie das Subjekt sie wahrnimmt, in eine Beziehung zueinander setzt, sie in eine Reihenfolge (in der Zeit) bringt, sodass sie nicht nur als „regellose Haufen“ erscheinen, sondern zumindest zu Erkenntnissen werden können. In diesen Ausführungen zu den Regeln der Assoziation erkennen wir natürlich sogleich eine Verbindung von Vorstellungen und Empfindungen wieder, die im vorangegangenen Kapitel die Verbindung möglicher Zwecke zu einer Normalidee der Glückseligkeit ausmachte und nur solche Maximen zur Folge haben konnte, die der Nachahmung, nicht aber solche, die zur Nachfolge dienen können. Diese Parallele bestätigt nur die diesem Abschnitt zugrunde liegende Annahme, dass der Stellenwert der Wahrnehmungsurteile mit der Frage nach der Verbindung der ästhetischen und praktischen Variante empirischer Urteile zu tun haben könnte. (c) Nicht alle Wahrnehmungsurteile können durch Anwendung der Verstandeskategorien zu Erkenntnisurteilen werden. Erst der Übergang von der Apprehension der Vorstellungen (Wahrnehmungen) und ihrer Reproduktion durch die reproduktive Einbildungskraft zu ihrer objektiven Verknüpfung (Synthesis a priori) in der transzendentalen Einheit des Subjekts ist dann Leistung der produktiven Einbildungskraft und erfolgt unter Anwendung der Verstandeskategorien. Diese sind damit Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung, indem sie die „vorsortierten“ aber noch nicht zu einer Erkenntnis gebrachten Wahrnehmungen auf (reine) Begriffe (a priori) bringen.¹²³ Wie bereits anklang, unterliegen Wahrnehmungsurteile also noch nicht dieser kategorialen Vermittlung, selbst wenn sie nur unter der Voraussetzung der transzendentalen Einheit der Apperzeption und
So urteilt auch Höffe 2007, 98 f: Die subjektive Meinung werde in objektives Wissen umgewandelt. Longuenesse zeigt auf, dass Reflexion der Schlüssel zum Verständnis des Unterschiedes zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen und damit des Übergangs von den einen zu den anderen ist (vgl. Longuenesse 1998, 170 ff.). Dieses Verhältnis ist jedoch für unseren Zusammenhang nicht unmittelbar von Bedeutung, da es uns in erster Linie um diejenigen Wahrnehmungsurteile geht, die gerade nicht zu Erfahrungsurteilen werden können. Auf die Rolle der Reflexion für die Konstituierung der Urteile der Klugheit wird hingegen im nächsten Kapitel zurückzukommen sein (siehe auch KrV A 262/B 318).
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4 Urteile der Klugheit
damit der Kategorien möglich sind.¹²⁴ Sie sind keine Erkenntnisleistungen des Verstandes, sondern eine Leistung der Einbildungs- und der Urteilskraft. Sie können daher mit Longuenesse als Anschauungen („intuitions“) bezeichnet werden und verweisen damit zugleich auf die ästhetischen Ideen,welche Makkreel als Produkte der Einbildungskraft ebenfalls Anschauungen („intuitions“) nannte (vgl. Longuenesse 1998, 168 und Makkreel 1990, 119). Die kategorial bestimmten Erfahrungserkenntnisse setzen auf diese Wahrnehmungen auf, die auf beschriebene Weise auch zu Urteilen verknüpft werden können.¹²⁵ Diese skizzenhafte Darstellung von Wahrnehmungs- und Erkenntnisurteilen vorausgesetzt, ist für unsere Frage nach Urteilen der Klugheit nun von Bedeutung, dass nach Kant durchaus nicht alle Arten von Wahrnehmungsurteilen durch Anwendung der Verstandeskategorien zu objektiven Erkenntnissen werden können. Dies wird deutlich an seiner Wahl der Beispiele. Bei den Urteilen „Ich nehme am Turm die rote Farbe wahr“ oder „Die Sonne bescheint den Stein, der Stein ist warm“ handelt es sich um solche subjektiven Urteile, die „durch hinzugesetzten Verstandesbegriff“ (Prol 4:299.35 f.), also durch die Anwendung der entsprechenden Verstandeskategorie, zu Erfahrungsurteilen werden können. Die Urteile, „daß das Zimmer warm, der Zucker süß, der Wermuth widrig sei“ (Prol 4:299.10 f.) hingegen betreffen nicht die Verbindung einer Wahrnehmung in der Einheit des Bewusstseins (des inneren Sinnes), sondern sie beziehen sich auf das Verhältnis des Gegenstandes zum Zustand des Subjektes, sie drücken nur eine Beziehung zweier Empfindungen auf dasselbe Subject, nämlich mich selbst und auch nur in meinem diesmaligen Zustande der Wahrnehmung, aus und sollen daher auch nicht vom Objecte gelten […] (Prol 4:299.13 – 16).
Kant selbst weist auf den Unterschied hin und rechtfertigt die Anführung des Beispiels damit, er habe nur „vor der Hand“ ein Beispiel von einem Urteil geben wollen, „was blos subjectiv gültig ist und in sich keinen Grund zur nothwendigen
Zur Geltung der Wahrnehmungen den Kategorien gemäß, also ohne ihre Anwendung, aber unter ihrer vorausgesetzten Gültigkeit siehe z. B. KrV § 20, B 143 und KrV § 27, B 165 sowie Freudiger 1991, 426. Im Folgenden wird noch deutlicher werden, inwiefern Rohs daher auch eine Ähnlichkeit der durch die Wahrnehmungsurteile gestifteten nicht systematischen „Erfahrung“ mit dem von Husserl geprägten Begriff der Lebenswelt sehen kann (vgl. Rohs 1997, 170). Auch Kaulbach verweist auf eine Ähnlichkeit der Welt, die er als die Welt der pragmatischen Vernunft untersucht, mit Husserls Lebenswelt (vgl. Kaulbach 1966, 73 f.). Ohne dies explizit zu machen, ist Kaulbach der Auffassung, dass diese Weltkenntnis auf Wahrnehmungen beruht, die sich eben nicht zu objektivtheoretischer Erkenntnis, sondern zu subjektiv-pragmatischer Kenntnis vom Menschen zusammensetzen (Kaulbach 1966, 63 sowie 65 f.).
4.1 Wahrnehmungsurteile
139
Allgemeingültigkeit und dadurch zu einer Beziehung aufs Object enthält.“ (Prol 4:299.32– 35) Nun handelt es sich aber offensichtlich bei diesen Beispielen von Wahrnehmungsurteilen, die keine Erfahrungsurteile werden können, um diejenigen „ästhetisch-pathologischen“ oder „ästhetisch-praktischen“ Urteile, die Kant in KdU dem Urteil des Sinnengeschmacks zuordnet. Longuenesse bemerkt dies und führt aus, dass von den drei Beispielen, die Kant gibt („das Zimmer ist warm“, „der Zucker ist süß“, „Wermut ist widrig“), das letzte eigentlich kein theoretisches, sondern ein ästhetisch-pathologisches Urteil sei, da es sich auf das Gefühl der Lust und Unlust und nicht auf die sinnlichen Empfindungen der theoretischen Wahrnehmung bezöge (Longuenesse 1995, 302 und 306; vgl. Wieland 2001, 49 sowie 76 ff., besonders 94 ff.). Mit Kant unterscheidet sie zwischen dem Gefühl als Empfindung („sensation“), das auch auf das Objekt und dem Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen („sentiment“), das allein auf das Subjekt (bzw. die Verbindung des Objekts mit dem Subjekt) bezogen werden kann. Sie kann sich auf KdU 5:206.26 – 36 berufen sowie auf folgende Stelle aus der Metaphysik der Sitten: Man kann Sinnlichkeit durch das Subjective unserer Vorstellungen überhaupt erklären; denn der Verstand bezieht allererst die Vorstellungen auf ein Object, d.i. er allein d e n k t sich etwas vermittelst derselben. Nun kann das Subjective unserer Vorstellung entweder von der Art sein, daß es auch auf ein Object zum Erkenntniß desselben (der Form oder Materie nach, da es im ersteren Falle reine Anschauung, im zweiten Empfindung heißt) bezogen werden kann; in diesem Fall ist die Sinnlichkeit, als Empfänglichkeit der gedachten Vorstellung, der S i n n . Oder das Subjective der Vorstellung kann gar kein E r k e n n t n i ß s t ü c k werden: weil es blos die Beziehung derselben aufs Subject und nichts zur Erkenntniß des Objects Brauchbares enthält; und alsdann heißt diese Empfänglichkeit der Vorstellung G e f ü h l , welches die Wirkung der Vorstellung (diese mag sinnlich oder intellectuell sein) aufs Subject enthält und zur Sinnlichkeit gehört, obgleich die Vorstellung selbst zum Verstande oder der Vernunft gehören mag (MdS 6:211.23 – 212.37).
So ist das Empfinden der Wärme ein Beispiel für ein theoretisches Wahrnehmungsurteil des „theoretischen“ inneren Sinnes, das Empfinden des Wermut als unangenehm (widrig) hingegen eines für ein Urteil des inneren Sinnes als Gefühl. Auch in der Anthropologie unterscheidet Kant den inneren Sinn „als bloßes Wahrnehmungsvermögen (der empirischen Anschauung)“ vom G e f ü h l der Lust und Unlust, d.i. der Empfänglichkeit des Subjekts, durch gewisse Vorstellungen zur Erhaltung oder Abwehrung des Zustandes dieser Vorstellungen bestimmt zu werden […].
Und er schlägt vor, den letzteren „den i n w e n d i g e n Sinn (sensus interior)“ zu nennen (Anth 7:153.19 – 34). In diesem Sinne kann Fischer feststellen, es handle
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4 Urteile der Klugheit
sich bei der Erfahrung im Praktischen um eine andere als die theoretische, nämlich um ein „Erfühlen“ oder „fühlend werten“. Er folgert: Über den Akt des Fühlens hinausgegangen werden kann nur mittels eines Vergleichs, der aufgrund von Ähnlichkeiten zwischen Gegenständen, Dingen oder Tätigkeiten dasselbe Gefühl des Angenehmen vielleicht mit anderer Intensität oder Dauer, erwarten lässt. Ein Vernunftschluss ist hier nicht möglich (Fischer 2003, 56).
Diese Unterscheidung von „Empfindung“ als (theoretisch fassbarer) Empfindung des inneren Sinns und „Gefühl“ als bloß subjektiver Empfindung des Angenehmen oder Unangenehmen macht eine Differenzierung in theoretische und ästhetische Wahrnehmungsurteile möglich. Kants Unterscheidung von theoretischen und ästhetischen Urteilen in KdU wird dies noch deutlicher vor Augen führen (vgl. 4.2). An dieser Stelle scheinen beide zunächst zwei Formen theoretischer Wahrnehmungsurteile zu sein, von denen die einen, das Gefühl betreffenden, jedoch nicht durch die Anwendung der Verstandeskategorien zu Erkenntnisurteilen werden können. Sie sind und bleiben Wahrnehmungsurteile – jedenfalls im Rahmen der theoretischen Betrachtungen.¹²⁶ (d) Wahrnehmungsurteile sind nur begrenzt sprachlich mitteilbar. In der Forschungsliteratur wird Kants Einführung der Wahrnehmungsurteile in den Prolegomena bisweilen kritisiert. Dabei wird u. a. die Frage aufgeworfen, welcher Status ihnen zukommt bzw. ob ihnen überhaupt einer zukommen kann, oder ob Kant sie nicht eigentlich in der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, also nach Veröffentlichung der Prolegomena, verworfen und damit ihrem zweifelhaften Status Rechnung getragen habe.¹²⁷ Und tatsächlich fällt der Terminus „Wahr-
So versteht auch Mellin sie. Er folgert dies, da seiner Meinung nach solche Urteile „nach Verstandesprinzipien gefällt werden“, wobei in Kapitel 2.2.2 deutlich wurde, dass dieses Verständnis des inneren Sinnes gerade nicht zur rationalen Seelenlehre zählen konnte und daher aus den theoretischen Naturwissenschaften herausfallen musste (vgl. Mellin 1971, Bd. 5, 691). Wenzel sieht die Schwierigkeit der „Objektivierung“ der Wahrnehmungsurteile im Ästhetischen, d. h. in ihrem Verhältnis zu reinen Geschmacksurteilen und betont, es müsse (wie im Theoretischen die Verstandeskategorien) etwas hinzukommen, damit aus ihnen ein reines Urteil werden könne. Jedoch berücksichtigt er dabei nicht die im Folgenden zu erläuternde Verbindung der am Angenehmen orientierten Wahrnehmungsurteile zum Begehrungsvermögen, d. h. die Tatsache, dass sie zugleich mit einem Interesse verbunden sind. Er zieht daher einen „Übergang des Wohlgefallens am Angenehmen in das am Schönen“ in Betracht (Wenzel 2000, 164 sowie ff.). Diese Auffassung findet durchaus auch Rückhalt im oben angeführten „empirischen Interesse am Schönen“, welches Kant darstellt als ein solches, das übergehen könne in ein uninteressiertes und allgemein mitteilbares Wohlgefallen an schönen Dingen überhaupt (KdU § 41; vgl. Kapitel 3.3). So z. B. Prauss 1971. Ihm kommt allerdings das Verdienst zu, überhaupt die Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gelenkt zu haben. Zur Kritik an Prauss’ Theorie siehe auch Wenzel 2000,
4.1 Wahrnehmungsurteile
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nehmungsurteil“ in der B-Auflage der KrV nicht mehr. Zudem legt Kant in deren Paragraph 19 nahe, subjektive Urteile seien überhaupt keine Urteile, indem er „Urteil“ definiert als ein Verhältniß, das o b j e c t i v g ü l t i g ist, und sich von dem Verhältnisse eben derselben Vorstellungen, worin bloß subjective Gültigkeit wäre, z. B. nach Gesetzen der Association, hinreichend unterscheidet. Nach den letzteren würde ich nur sagen können: Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere; aber nicht: er, der Körper, i s t schwer; welches so viel sagen will, als, diese beide Vorstellungen sind im Object, d.i. ohne Unterschied des Zustandes des Subjekts, verbunden, und nicht bloß in der Wahrnehmung (so oft sie auch wiederholt sein mag) beisammen (KrV B 142).¹²⁸
Kants Ausführungen zum Trotz haben Longuenesse und Freudiger überzeugend die Auffassung vertreten, dass die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen, wie Kant sie in den Prolegomena vornimmt, Sinn hat, sowie dass sie in der KrV implizite durch die Art seines Gebrauchs des Begriffs der Wahrnehmung weiter besteht, selbst wenn Kant den Begriff des Wahrnehmungsurteils dort nicht verwendet.¹²⁹ Mit all dem ist dann auch die Schwierigkeit verbunden,Wahrnehmungsurteile sprachlich adäquat auszudrücken. Denn wie wir gesehen haben, ist ein Urteil nach Kant gerade die objektive Einheit der in ihm verbundenen Vorstellungen. „Darauf zielt das Verhältniswörtchen ist in denselben, um die objective Einheit gegebener Vorstellungen von der subjectiven zu unterscheiden.“ (KrV B 141 f.) Damit aber dürften Wahrnehmungsurteile gar nicht auf das Wort „ist“ als Verbindung von Vorstellungen zurückgreifen, da dieses notwendig auf eine objektive Einheit verweist. In der Logik z. B. weist Kant auf diesen Unterschied hin:
bes. 184– 199. Seiner eigenen Lesart zufolge habe Kant die Wahrnehmungsurteile in den Prolegomena in erster Linie zu didaktischen Zwecken eingeführt, um wesentliche, aber schwieriger nachzuvollziehende Elemente seiner Transzendentalphilosophie hervorzuheben (vgl. Wenzel 2000, z. B. 156 und 197). Höffe möchte daher auch das „psychologische“ Missverständnis ausräumen, Kant verstünde unter „Urteilen“ „psychologische Urteilsvollzüge“. Vielmehr seien diese logisch „als Aussagen oder Behauptungen“ aufzufassen, „nämlich jene Verbindung (Synthesis) von Vorstellungen, die eine objektive Gültigkeit beansprucht.“ (Höffe 2007, 59) Auch Freudiger räumt ein, im Kontext der ersten Kritik müsse im Grunde in einem „abgeschwächten Sinn“ von „Wahrnehmungsurteilen“ gesprochen werden (Freudiger 1991, 429; vgl. auch Longuenesse 1995, 300). Vgl. Freudiger 1991 sowie v. a. Longuenesse 1998, 167– 209, bes. 169, Fn. 5. und Longuenesse 1995, wo sich eine Berücksichtigung der entsprechenden Forschungsliteratur findet. Vgl. auch Wielands Einschätzung (Wieland 2001, 55) sowie seine Unterscheidung von Urteilen im weiteren und Urteilen im engeren Sinn (Wieland 2001, 93 ff.).
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4 Urteile der Klugheit
Ein Urtheil aus bloßen Wahrnehmungen ist nicht wohl möglich als nur dadurch, daß ich meine Vorstellung, a l s W a h r n e h m u n g , aussage: Ich, der ich einen Turm wahrnehme, nehme an ihm die rothe Farbe wahr. Ich kann aber nicht sagen: e r i s t r o t h . Denn dieses wäre nicht bloß ein empirisches, sondern auch ein E r f a h r u n g s u r t h e i l , d.i. ein empirisches Urtheil, dadurch ich einen Begriff vom Object bekomme. Z. B. B e i d e r B e r ü h r u n g d e s S t e i n s e m p f i n d e i c h W ä r m e , ist ein Wahrnehmungsurtheil, hingegen: d e r S t e i n i s t w a r m , ein Erfahrungsurtheil. Es gehört zum letztern, daß ich das, was bloß in meinem Subject ist, nicht zum Object rechne, denn ein Erfahrungsurtheil ist die Wahrnehmung, woraus ein Begriff vom Object entspringt; z. B. ob im M o n d e lichte Punkte sich bewegen oder in d e r L u f t oder in m e i n e m A u g e (Log 9:113.5 – 16).
Freudiger hebt daher hervor, dass das Resultat der Verknüpfung von Wahrnehmungen in einem Wahrnehmungsurteil zwar wie ein objektives Urteile klinge. Tatsächlich aber handle es sich um einen „Bericht über einen subjektsinternen Zustand“. Da Kant diese Schwierigkeit des Ausdrucks offensichtlich nicht bewusst geworden sei, müssten seine Beispiele denn auch „kläglich scheitern“ (Freudiger 1991, 420; vgl. Höffe 2007, 59 sowie Wieland 2001, 55 – 57).Was nun in diesem Sinne für alle Wahrnehmungsurteile gilt, muss in besonderem Maße von denjenigen Urteilen gelten, die sich explizit nur auf den gefühlten Zustand des Subjekts beziehen, also auf das Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen, der Lust bzw. Unlust. Diese Urteile lassen sich, so zeigen Kants Beispiele, sprachlich korrekterweise nicht anders ausdrücken als durch den Verweis auf die subjektive Empfindung in Gegenwart eines Objektes. Sie sind bezogen auf die Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit bei der Empfindung eben desselben Gegenstandes der Sinne […]; und es ist schlechterdings nicht zu verlangen, daß die Lust an dergleichen Gegenständen von jedermann zugestanden werde (KdU 5:291.33 – 36).
Es muss daher die Frage beantwortet werden: Handelt es sich bei empirischpraktischen Urteilen, die zumindest für ein Urteil über Klugheit geeignet sein müssen, um diejenigen „ästhetisch-pathologischen“ Urteile, die nicht durch theoretische Kategorien zu Erkenntnissen werden können und welche folglich letzten Endes auch gar nicht mitteilbar sind? Wie an der Verknüpfung der Wahrnehmungsurteile durch Regeln der Assoziation deutlich wurde, scheinen sich auch diese Urteile an einer Normalidee der Glückseligkeit zu orientieren. Soll jedoch die Rekonstruktion des Begriffs der Glückseligkeit als ästhetische Idee sich als zumindest für den Rahmen der Kantischen Philosophie möglich erweisen, so muss diese sprachliche Schwierigkeit überwunden werden. Darauf deutete bereits die Anmerkung hin, Urteile der Klugheit bzw. auf eine Idee der Glückseligkeit bezogene Handlungen müssten aufgrund der ihnen zugrunde liegenden Maximen mitteilbar sein. In den beiden folgenden Abschnitten wird es deshalb darum gehen zu untersuchen, ob der Schritt von einem bloß sinnlichen Wahrnehmungsurteil zu
4.2 Ästhetische Urteile
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einem im eigentlichen Sinne empirisch-praktischen Urteil gelingen kann, so wie dies im Rahmen der Rekonstruktion der (ästhetischen) Idee der Glückseligkeit durch ihren Bezug auf wesentliche und allgemeine Zwecke gezeigt werden konnte.
4.2 Ästhetische Urteile Wir wissen nun, dass Wahrnehmungsurteile als empirische Form theoretischer Urteile zunächst keine Erkenntnis mit sich bringen, sondern bloß subjektiv und zustandsbezogen sind. Die in ihnen zusammengefassten (synthetisierten) Wahrnehmungen werden zunächst nach Regeln der Assoziation durch die reproduktive Einbildungskraft miteinander verknüpft und auf ein empirisches Bewusstsein bezogen. Um beurteilen zu können, ob ein Wahrnehmungsurteil (bzw. die in ihm assoziierten Wahrnehmungen) durch Anwendung der theoretischen Verstandeskategorien zu einem Erkenntnisurteil werden kann, muss zudem unterschieden werden, ob es sich um Wahrnehmungen des inneren Sinnes (ein bloß theoretisches Urteil) oder des Gefühls (ein ästhetisch-pathologisches Urteil) handelt. Erstere können zu objektiven Erkenntnissen werden, für letztere hingegen gilt dies nicht, mit ihnen werden wir uns im Folgenden näher beschäftigen. Kant unterscheidet in KdU zwischen der ästhetischen und der logischen Vorstellung eines Gegenstandes: Was an der Vorstellung eines Objects bloß subjectiv ist, d.i. ihre Beziehung auf das Subject, nicht auf den Gegenstand ausmacht, ist die ästhetische Beschaffenheit derselben; was aber an ihr zur Bestimmung des Gegenstandes (zum Erkenntnisse) dient oder gebraucht werden kann, ist ihre logische Gültigkeit (KdU 5:188.33 – 189.2).
Damit ist noch einmal der Unterschied zwischen ästhetischen und logischen Urteilen benannt: Ästhetische Urteile beziehen sich auf das Verhältnis des Gegenstandes zum Subjekt, logische Urteile auf die Bestimmungen des Gegenstandes selbst. Etwas weiter unten erläutert Kant: Ästhetische Urtheile können eben sowohl als theoretische (logische) in empirische und reine eingetheilt werden. Die erstern sind die, welche Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, die zweiten die, welche Schönheit von einem Gegenstande, oder von der Vorstellungsart desselben aussagen; jene sind Sinnenurtheile (materiale ästhetische Urtheile), diese (als formale) allein eigentliche Geschmacksurtheile (KdU 5:223.28 – 33).
Im Unterschied zu den reinen logischen (Erkenntnis‐) Urteilen beziehen sich reine ästhetische Urteile aber auf Gegenstände, nicht, um sie zu erkennen (etwas an
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4 Urteile der Klugheit
ihnen zu bestimmen), sondern um eine Aussage zu machen über das Verhältnis des Gegenstandes zum erkennenden bzw. beurteilenden Subjekt: Das Geschmacksurtheil ist also kein Erkenntnißurtheil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund n i c h t a n d e r s als s u b j e c t i v sein kann (KdU 5:203.6 – 8).
Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie sich zum einen zwar nicht auf Begriffe vom Objekt stützen, zum anderen aber dennoch Allgemeingültigkeit beanspruchen können: Zuerst muß man sich davon völlig überzeugen: daß man durch das Geschmacksurtheil (über das Schöne) das Wohlgefallen an einem Gegenstande j e d e r m a n n ansinne, ohne sich doch auf einem Begriffe zu gründen (denn da wäre es das Gute) […] (KdU 5:213.35 – 214.22).¹³⁰
Wie im Theoretischen unterscheidet Kant auch im Ästhetischen von diesen reinen Geschmacksurteilen solche, die nicht „jedem angesonnen werden können“, die also nicht nur subjektiv gültig sind, sondern auch niemals zu irgend einem Grad der Allgemeinheit gelangen können. Dies darf als Bestätigung der oben angeführten Annahme gelten, dass es sich bei diesen ästhetisch-pathologischen Urteilen um diejenigen (zunächst als theoretisch klassifizierten) Wahrnehmungsurteile handelt, die nicht durch Anwendung der Verstandeskategorien zu allgemein gültigen Urteilen werden können. Und ganz offensichtlich können sie dies auch nicht als nun ästhetisch klassifizierte Urteile. Um dies zu erläutern, zieht Kant den Unterschied zwischen dem Wohlgefallen am Angenehmen und dem am Schönen heran: Das erste bezieht sich ihm zufolge auf einen Begriff vom Gegenstand, indem das Subjekt sich einen Begriff von ihm macht und den Gegenstand nicht als schönen, sondern als angenehmen Gegenstand, d. h. in seiner Beziehung auf den Zustand des Subjekts, beurteilt. Die Beurteilung eines Gegenstandes aber, insofern sie ein Wohlgefallen am Angenehmen ausdrückt und nicht am Schönen, ist ein Urteil des Sinnengeschmacks: Ich kann den ersten den Sinnen=Geschmack, den zweiten den Reflexions=Geschmack nennen: sofern der erste bloß Privaturtheile, der zweite aber vorgebliche gemeingültige (publike), beiderseits aber ästhetische (nicht praktische) Urtheile über einen Gegenstand, bloß in Ansehung des Verhältnisses seiner Vorstellung zum Gefühl der Lust und Unlust, fällt (KdU 5:214.10 – 15, kursiv C.G.).
An anderer Stelle erläutert Kant diesen Unterschied noch einmal in Bezug auf das reine Geschmacksurteil: „Das Urtheil heißt auch eben darum ästhetisch, weil der Bestimmungsgrund desselben kein Begriff, sondern das Gefühl (des innern Sinnes) jener Einhelligkeit im Spiele der Gemüthskräfte ist, sofern sie nur empfunden werden kann.“ (KdU 5:228.27– 31; kursiv C.G.)
4.2 Ästhetische Urteile
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Den Erfahrungsurteilen der theoretischen Vernunft entsprechen damit die reinen Geschmacksurteile, auch Urteile des Reflexionsgeschmacks genannt. Den Wahrnehmungsurteilen dagegen entsprechen tatsächlich die „ästhetisch-pathologischen“ bzw. „ästhetisch-praktischen“ Urteile des Sinnengeschmacks, die gerade als eine besondere Art der theoretischen Wahrnehmungsurteile vorgestellt wurden. Diese kurze Betrachtung der empirischen und reinen Formen theoretischer und ästhetischer Urteile vorausgesetzt, muss nun gefragt werden, wie es mit den Urteilen der praktischen Vernunft steht. In Bezug auf moralisches Handeln besteht kein Zweifel, dass hier reine praktische Urteile zugrunde liegen, wie auch die Typik der reinen praktischen Urteilskraft belegt (KpV 5:67.24– 71.25). So stehen die Begriffe des Guten und Bösen „unter einer praktischen Regel der Vernunft“ (KpV 5:67.26), und es ist die praktische Urteilskraft, die anzugeben hat, „[o]b nun eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel stehe, oder nicht“ (KpV 5:67.28 f.). Insofern diese Regel eine praktische Regel ist, betrifft sie „die Existenz eines Objects“ (KpV 5:67.33). Insofern sie aber eine Regel der reinen Vernunft ist, führt sie „Nothwendigkeit in Ansehung des Daseins der Handlung“ (KpV 5:67.34 f.) bei sich, ist also praktisches Gesetz. Und auch sonst findet sich der Ausdruck der „praktischen Beurtheilung“, wenn nicht häufig, so doch wiederholt (vgl. KpV 5:58.32, 61.19 und 5:62.30). Kants Rede von praktischen Urteilen in KdU hat demnach ihre Entsprechung in seinem praktischen Werk. Empirisch bedingte Handlungen hingegen lassen sich nicht ganz so einfach auf praktische Urteile beziehen, wie man zunächst vermuten könnte.Vielmehr tut sich hier die gleiche Problematik auf, wie sie schon anlässlich der Frage nach der Möglichkeit empirischer Zweckbestimmung gestellt wurde: die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Gefühl, oder genauer: die Frage nach dem Anteil von Vernunft an im Gefühl begründeten Urteilen (Handlungen). In der ersten Einleitung zur Kritik der Urteilskraft gibt Kant eine „allgemeine Erklärung des Gefühls“ der Lust und Unlust: Eine Erklärung dieses Gefühls im allgemeinen betrachtet, o h n e a u f d e n U n t e r s c h i e d zu sehen, ob es die Sinnesempfindung oder die Reflexion, oder die W i l l e n s b e s t i m m u n g begleite, muß transcendental seyn. Sie kann so lauten: L u s t ist ein Z u s t a n d des Gemüths, in welchem eine Vorstellung mit sich selbst zusammenstimmt, als Grund, entweder diesen blos selbst zu erhalten (denn der Zustand einander wechselseitig befördernder Gemüthskräfte in einer Vorstellung erhält sich selbst), oder ihr Object hervorzubringen. Ist das erstere, so ist das Urtheil über die gegebene Vorstellung ein ästhetisches Reflexionsurtheil. Ist aber das letztere, so ist es ein ästhetisch-pathologisches, oder ästhetisch-practisches Urtheil. Man sieht hier leicht, daß Lust oder Unlust, weil sie keine Erkenntnißarten sind, für sich selbst gar nicht können erklärt werden, und gefühlt, nicht eingesehen werden wollen; daß man sie daher nur durch den Einfluß, den eine Vorstellung
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vermittelst dieses Gefühls auf die Thätigkeit der Gemüthskräfte hat, dürftig erklären kann (KdU EE 20:230.11– 232.5).
Urteile, die darauf abzielen, ein Objekt hervorzubringen, tun dies also offensichtlich, weil die im Zustand der Lust mit sich selbst übereinstimmende Vorstellung den Grund hierfür abgibt. Es sieht ganz so aus, als seien die von Kant als ästhetisch-pathologische oder ästhetisch-praktische bezeichneten Urteile diejenigen empirisch-praktischen Urteile, auf die sich Klugheit beziehen soll – als beschränkte sich der empirisch-praktische Teil des Urteilens auf eine ästhetischpathologische Erfahrung. Auf diese Nähe von empirisch-praktischen und ästhetisch-praktischen Urteilen ist insbesondere von Fischer hingewiesen worden (vgl. Fischer 2003, 59 f.). Im Unterschied zu Fischer meine ich jedoch, zeigen zu können, dass es zu Widersprüchen führt, ästhetisch-pathologische mit empirisch-praktischen Urteilen zu identifizieren. Hierzu müssen wir den Blick nochmals auf Kants Verständnis des Angenehmen und seine jeweilige Funktion im ästhetischen und im praktischen Zusammenhang richten. Im Ästhetischen ist das Angenehme zunächst eine unmittelbare Erfahrung: „Angenehm i s t d a s , w a s d e n S i n n e n i n d e r E m p f i n d u n g g e f ä l l t .“ (KdU 5:205.26 f.) Im Unterschied zum Urteil über das Gute (also zum praktischen Urteil) kann es bei einem ästhetischen Urteil über das Angenehme nicht darum gehen, ob etwas mittelbar oder unmittelbar gefällt (im Praktischen: nützlich oder an sich gut ist, vgl. KdU 5:208.7 f.), „da hingegen beim Angenehmen hierüber gar nicht die Frage sein kann, indem das Wort jederzeit etwas bedeutet, was unmittelbar gefällt.“ (KdU 5:208.8 – 10) Vom (ästhetischen) Wohlgefallen am Angenehmen ist also das „Wohlgefallen am Guten“ (KdU 5:207.14) durch eben diese Möglichkeit der Unterteilung in ein mittelbares und ein unmittelbares Wohlgefallen unterschieden, welches das Urteil hervorzurufen in der Lage ist. Wir halten fest: Das Wohlgefallen am Angenehmen, das unmittelbar in der Empfindung gefällt, ist ästhetisch, Kant nennt das entsprechende Urteil ein ästhetisch-pathologisches Urteil des Sinnengeschmacks. Das ästhetische Wohlgefallen am Schönen ist (zumeist) ebenfalls unmittelbar und nicht durch „Reiz und Rührung“ oder durch die Empfindung des Angenehmen affiziert und daher ein reines ästhetisches Urteil. Ein praktisches Urteil dagegen kann unmittelbar sein, nämlich in Form eines reinen praktischen Urteils über das an sich Gute, welches unmittelbar gefällt. Es kann aber auch mittelbar gut sein, nämlich indem es sich auf einen zu etwas anderem nützlichen Gegenstand bezieht: G u t ist das,was vermittelst der Vernunft durch den bloßen Begriff gefällt.Wir nennen einiges w o z u g u t (das Nützliche), was nur als Mittel gefällt; ein anderes aber a n s i c h g u t , was für
4.2 Ästhetische Urteile
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sich selbst gefällt. In beiden ist immer der Begriff eines Zwecks, mithin das Verhältniß der Vernunft zum (wenigstens möglichen) Wollen, folglich ein Wohlgefallen am D a s e i n eines Objects oder einer Handlung, d.i. irgend ein Interesse enthalten (KdU 5:207.15 – 21).
Und etwas weiter: Aber ungeachtet aller dieser Verschiedenheit zwischen dem Angenehmen und Guten kommen beide doch darin überein: daß sie jederzeit mit einem Interesse an ihrem Gegenstande verbunden sind, nicht allein das Angenehme […] und das mittelbar Gute (das Nützliche), welches als Mittel zu irgend einer Annehmlichkeit gefällt, sondern auch das schlechterdings und in aller Absicht Gute, nämlich das moralische, welches das höchste Interesse bei sich führt. Denn das Gute ist das Object des Willens (d.i. eines durch Vernunft bestimmten Begehrungsvermögens). Etwas aber wollen und an dem Dasein desselben ein Wohlgefallen haben, d.i. daran ein Interesse nehmen, ist identisch (KdU 5:209.3 – 12, kursiv C.G.).
Spätestens hier wird der aufmerksame Leser jedoch stutzig. Denn einmal den Unterschied zwischen einem ästhetischen und einem praktischen Urteil anhand der Unterscheidung von mittelbar und unmittelbar entfaltet, führt Kant den Begriff des Interesses ein. Dieser aber macht diesen Unterschied zwischen beiden Urteilsarten sogleich wieder zunichte. Umso mehr, da das hier von mir hervorgehobene Wort „jederzeit“ darauf hinweist, dass ein Interesse jedes Mal vorliegt oder entsteht, wenn etwas als angenehm empfunden wird. Denn: „Interesse wird das Wohlgefallen genannt, was wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden.“ (KdU 5:204.22 f.) Auch in der Metaphysik der Sitten heißt es: Was aber die praktische Lust betrifft, so wird die Bestimmung des Begehrungsvermögens, v o r w e l c h e r diese Lust als Ursache nothwendig vorhergehen muß, im engen Verstande B e g i e r d e , die habituelle Begierde aber N e i g u n g heißen, und weil die Verbindung der Lust mit dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject) gültig zu sein geurtheilt wird, I n t e r e s s e heißt, so wird die praktische Lust in diesem Falle ein Interesse der Neigung, dagegen wenn die Lust nur auf eine vorhergehende Bestimmung des Begehrungsvermögens folgen kann, so wird sie eine intellectuelle Lust und das Interesse an dem Gegenstande ein Vernunftinteresse genannt werden müssen […] (MdS 6:212.20 – 30).
Interesse ist demnach die Verbindung zwischen dem Gefühl der Lust und dem Begehrungsvermögen, „sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject) gültig zu sein geurtheilt wird“. Es ist also notwendigerweise durch ein geregeltes (durch den Verstand einsehbares und beurteilbares) Verhältnis zwischen Lust und Begehren definiert. In GMS bezeichnet Kant das hier „Interesse der Neigung“ genannte als ein pathologisches Interesse, das „Vernunftinteresse“ der MdS hingegen als praktisches Interesse. Das erste stellt für ihn lediglich ein Interesse am Prinzip der Handlung
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dar, hier wird nur die praktische Regel angegeben, „wie dem Bedürfnisse der Neigung abgeholfen werde“, während das zweite ein Interesse am Handeln nach Prinzipien ist (vgl. GMS 4:413.31– 414.36, Fn.). Und noch einmal in KdU: Alles Interesse verdirbt das Geschmacksurtheil und nimmt ihm seine Unpartheilichkeit, vornehmlich wenn es nicht so wie das Interesse der Vernunft die Zweckmäßigeit vor dem Gefühle der Lust voranschickt, sondern sie auf dieses gründet; welches letztere allemal im ästhetischen Urtheile über etwas, sofern es vergnügt oder schmerzt, geschieht (KdU 5:223.4– 8).
Also haben „[d]as Angenehme und das Gute […] beide eine Beziehung auf das Begehrungsvermögen“ (KdU 5:209.16 f.), und beide beziehen sich auf die Existenz eines Gegenstandes, welcher (wenn auch aus unterschiedlichen Gründen) als erstrebenswert erachtet und somit begehrt wird.Von diesen beiden hebt sich Kant zufolge das Geschmacksurteil ab (er präzisiert an dieser Stelle nicht, dass es sich um das reine Geschmacksurteil handelt, meint es aber zweifelsohne), insofern dieses „b l o ß c o n t e m p l a t i v, d.i. […] indifferent in Ansehung des Daseins eines Gegenstandes“ (KdU 5:209.22 f.) ist.¹³¹ Und wenn Kant sodann das Angenehme, das Schöne und das Gute als „drei verschiedene Verhältnisse der Vorstellungen zum Gefühl der Lust und Unlust“ (KdU 5:209.29 f.) bezeichnet, wird vollends deutlich, dass das Angenehme für die empirische Form sowohl ästhetischer als auch praktischer Urteile herhalten soll. Damit aber, und das ist der entscheidende Punkt, stimmt hier etwas grundsätzlich nicht. Denn entweder die ästhetisch-pathologischen Urteile sind,wie Kant selbst betont, gerade keine praktischen Urteile (ich verweise noch einmal auf KdU 5:214.13)¹³² – dann aber können sie nicht mit dem (praktischen) Interesse an einem Gegenstand verbunden sein, sondern nur unmittelbar gefallen – wenn auch in der Empfindung und nicht in der reflektierten Anschauung, wie beim reinen ästhetischen Urteil. Oder aber ästhetisch-pathologische Urteile sind eben dies: durch den Begriff (oder vielmehr die Empfindung) des Angenehmen mit einem Interesse an dem diese Empfindung auslösenden Gegenstand und damit auch an seiner Existenz verbunden – dann aber handelt es sich um ein praktisches und gerade
Auch in MdS trennt Kant das Ästhetische vom Praktischen, indem er dem Geschmack eine „Lust an der Existenz des Objects der Vorstellung“ abspricht und ihn mit einer „blos contemplative[n] Lust oder unthätige[n] Wohlgefallen“ in Verbindung bringt – freilich ohne an der Stelle zwischen Sinnen-und Reflexionsgeschmack zu unterscheiden (MdS 6:212.13 – 17). So auch explizit Recki 2006, 157 ff. Vgl. KdU 5:215.31– 34: „Nur allein die Urtheile über das Gute, ob sie gleich auch das Wohlgefallen an einem Gegenstande bestimmen, haben logische, nicht bloß ästhetische Allgemeinheit; denn sie gelten vom Object, als Erkenntnisse desselben, und darum für jedermann.“
4.2 Ästhetische Urteile
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nicht um ein ästhetisches Urteil. Die empirische Form praktischer Urteile bleibt also im Unklaren. Indem Kant sowohl ästhetisch-pathologische Urteile als auch (empirisch‐) praktische Urteile über das Nützliche mit dem Begriff des Angenehmen verknüpft und diesen wiederum mit einem jederzeit bestehenden Interesse an der Existenz des Gegenstandes verbindet, verwischt er die zuvor aufgestellte Differenzierung von ästhetischen und praktischen Urteilen in ihrer empirischen Form.¹³³ Neben dieser unklaren Abgrenzung von ästhetischen und praktischen Urteilen muss zudem zweifelhaft bleiben, inwiefern ästhetisch-pathologische Urteile überhaupt das Begehrungsvermögen bestimmen, d. h. eine Willensbestimmung zur Folge haben können. Wie wir sahen, erfolgt diese nach Begriffen bzw. Prinzipien und damit nach einer Regel, die das Gefühl mit dem Begehrungsvermögen verbindet. Ein ästhetisches Urteil als solches vermag dies nicht zu leisten. Hingegen spiegelt sich in den (empirisch‐) praktischen Urteilen über das Nützliche dieselbe Schwierigkeit wider, wie sie uns in den ersten beiden Kapiteln bereits begegnete: Indem sie auf das Angenehme bezogen werden, sind sie keine Urteile über empirisch bedingte Zwecke als Zwecke, sondern nur über die Mittel zum Zweck des Angenehmen. In diesem Sinne taugen selbst solche Urteile über das Nützliche nicht zu denjenigen genuin praktischen Urteilen über empirisch bedingte Zwecke, die für Urteile der Klugheit doch erforderlich sind. Die Interpretation, derzufolge es sich bei empirisch-praktischen Urteilen eigentlich um die empirische Variante ästhetischer Urteile handelt, lässt sich demzufolge nicht halten. Im Folgenden soll daher neben den bloßen (ästhetischpathologischen) Wahrnehmungsurteilen und den reinen praktischen Erkenntnisurteilen eine genuin praktische, aber empirische Form von Urteilen rekonstruiert werden.
Höwing übersieht, wie mir scheint, diesen Widerspruch in Kants Konzeption des Angenehmen im Vergleich zum Guten und kann daher die Auffassung vertreten, es sei das Gefühl selbst, das die empirischen Zwecke als Zwecke liefere, indem es darüber entscheide, was unmittelbar gefällt (vgl. Höwing 2013a, 81 f. sowie Höwing 2013b, 34 f.). Auch Grenberg übergeht diese Tatsache, indem sie das Gefühl zunächst direkt an ein praktisches Urteil bindet, welches durch die Generierung eines Interesses den Zusammenhang zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen herstellt. Sie verweist allerdings auf die Möglichkeit, diese praktische Beurteilung dann im Hinblick entweder auf pragmatische oder moralische Normen („standards“) als „gut“ oder „schlecht“ zu fällen (vgl. Grenberg 2001, 165). Praktische Beurteilung beurteile damit das Gefühl und Begehren, bringe aber nicht dieses selbst, sondern ein Interesse hervor (Grenberg 2001, 166).
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4 Urteile der Klugheit
4.3 Empirisch-praktische Urteile der Klugheit Ein empirisch-praktisches Urteil muss, im Gegensatz zu einem ästhetischen, die Art der Verknüpfung von Gefühl und Begehrungsvermögen angeben können, und zwar, wie bereits zitiert, „nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject)“ (MdS 6:212.25 f.). Es muss ein Urteil darüber sein, ob ein Gegenstand (eine Handlung, ein Sachverhalt, eine Vorstellung oder gar eine Idee) in Frage kommt als möglicher Bestimmungsgrund (Zweck) des Willens – und dies nicht nur aufgrund eines Urteils über die Möglichkeit, den beurteilten Gegenstand zu verwirklichen, also aufgrund von (theoretischen) Geschicklichkeitsurteilen, sondern in Übereinstimmung mit einer selbst entworfenen Maxime. Dieser Bestimmungsgrund des Willens muss als „gut“ ausgezeichnet werden können in dem Sinne, in dem wir im vorigen Kapitel die Zwecke der Idee der Glückseligkeit gekennzeichnet hatten: Er muss sich als gut im Hinblick auf eine das Leben orientierende Idee (der Glückseligkeit) erweisen, insofern er als eines der Elemente dieser Idee diese zugleich mitgestaltet und durch seine Realisierung hervorbringt. Gut muss auch in diesem Zusammenhang als „zweckmäßig“ im Sinne einer Vollkommenheit aufgefasst werden können. Könnte ein solches Urteil nicht zwischen das (unmittelbare) Wohlgefallen und die Willensbestimmung „geschoben“ werden, so müssten wir einräumen, dass empirisch bestimmtes Handeln aufgrund von im Subjekt und aus seiner natürlichen Anlage heraus entstehenden Begehrungen quasi „automatisch“ (wir könnten auch sagen: mechanisch) erfolgte. Dieses „Handeln“ ließe sich nur in der Wahl der Mittel zur Umsetzung dieser durch seine Natur bestimmten Zwecke vernünftig bzw. durch den Verstand steuern. Dabei müsste wiederum unklar bleiben, inwiefern man dann noch von selbstgesetzten Zwecken des Menschen sprechen könnte im Unterschied zu denen, die die Natur mit ihm verfolgt. Die beiden letzten Abschnitte dieses Kapitels haben die Erarbeitung eines Lösungsvorschlages für diese Problematik zum Gegenstand. Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst (4.3) schlage ich eine Charakterisierung empirischpraktischer Urteile im Rückgriff auf die in 4.1 vorgestellten Merkmale von Wahrnehmungsurteilen vor. Diese Merkmale sind: der Zustand des Subjekts, insofern er auf denjenigen Empfindungen beruht, die zum Gefühl gehören (4.3.1), das Verhältnis der Wahrnehmungen untereinander (4.3.2), der im Urteil vorgenommene Bezug auf die unterschiedlichen Erkenntnisvermögen, d. h. Gefühl und Begehrungsvermögen (4.3.3) sowie der sprachliche Ausdruck (die Mitteilbarkeit) der Urteile (4.3.4). In einem letzten Schritt (4.4) wird dann die Rolle der Kategorien der Freiheit für den Übergang von ästhetisch-pathologischen Wahrnehmungsurteilen zu praktischen Urteilen thematisiert. Es gilt, die Frage zu klären, ob die Kategorien der Freiheit im Praktischen die Aufgabe der Verstandeskategorien übernehmen
4.3 Empirisch-praktische Urteile der Klugheit
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können, um aus Wahrnehmungsurteilen Erkenntnisurteile zu machen. Damit darf dann die Rekonstruktion empirisch-praktischer Urteile der Klugheit als abgeschlossen gelten.
4.3.1 Der Zustand des Subjekts: Empfindung und Gefühl Wie bereits aufgezeigt, müssen auch empirisch-praktische Urteile ausgehen von derjenigen Grundlage, die Kant den ästhetisch-pathologischen Urteilen zuspricht: von den dem Gefühl zugehörigen Empfindungen. Wir erinnern uns: Kant legt großen Wert darauf, die unterschiedlichen Arten von Empfindungen bzw. Gefühlen zu unterscheiden, je nachdem, in welchem Verhältnis sie zu den unterschiedlichen Erkenntnisvermögen stehen. Neben den „Eindrücke[n] der Sinne, welche die Neigung“, den „Grundsätze[n] der Vernunft, welche den Willen“ und den „reflectierte[n] Formen der Anschauung, welche die Urtheilskraft bestimmen“ (KdU 5:206.4– 12), kennt er die Empfindung als „die Vorstellung einer Sache (durch Sinne, als eine zum Erkenntnißvermögen gehörige Receptivität)“ (KdU 5:206.21 f.), also diejenige Empfindung, die der Gegenstandserkenntnis zugrunde liegt. Damit zergliedert er die Empfindungen in das subjektive Gefühl und die objektive (weil auf ein Erkenntnisobjekt gerichtete) Empfindung, welche die Materie des Objektes bezeichnet: Die grüne Farbe der Wiesen gehört zur o b j e c t i v e n Empfindung, als Wahrnehmung eines Gegenstandes des Sinnes; die Annehmlichkeit derselben aber zur s u b j e c t i v e n Empfindung, wodurch kein Gegenstand vorgestellt wird: d.i. zum Gefühl, wodurch der Gegenstand als Object des Wohlgefallens (welches kein Erkenntniß desselben ist) betrachtet wird (KdU 5:206.31– 36).
Diejenigen Empfindungen, die zum empirisch-praktischen Urteil gehören, können daher nur solche sein, die zum Gefühl gehören, und zwar genauer diejenigen, die auf die Neigung Einfluss haben. Damit wird in diesem Urteil nichts über das Objekt selbst ausgesagt, sondern nur etwas über dessen Beziehung auf das Subjekt. Insofern geht das Urteil aus von einem ästhetisch-pathologischen Urteil darüber, ob etwas (ein Gegenstand) gefällt oder nicht, ob es also dem Urteilenden angenehm oder unangenehm ist. Dies ist der Grund dafür, dass es sich bei solchen Urteilen um keine Erkenntnisurteile handeln kann, die bekanntlich Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit fordern. Die im ersten Kapitel bereits erwähnte Stelle aus der KpV bestätigt dies. Kant erörtert dort die subjektiven Prinzipien, die sich darauf richten, was jedes Subjekt für angenehm hält (als angenehm beurteilt). Sie sind, so betont Kant, subjektiv
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4 Urteile der Klugheit
und taugen daher nicht zu einer allgemeinen Gesetzgebung. Sie können niemals praktische Gesetze werden. Selbst wenn alle vernünftigen Wesen auch in Ansehung dessen, was sie für Objecte ihrer Gefühle des Vergnügens oder Schmerzens anzunehmen hätten, imgleichen sogar in Ansehung der Mittel, deren sie sich bedienen müssen, um die erstern zu erreichen, die andern abzuhalten, durchgehends einerlei
dächten, so wäre die damit erreichte Einhelligkeit […] selbst doch nur empirisch und hätte diejenige Nothwendigkeit nicht, die in einem jeden Gesetze gedacht wird, nämlich die objective aus Gründen a priori […] (KpV 5:26.7– 15).
Angesichts der Gefühle des Vergnügens oder Schmerzes (der Lust oder Unlust) könnte allenfalls von „Anrathungen zum Behuf unserer Begierden“ die Rede sein, nicht aber von praktischen Gesetzen, die objektiv und a priori, nicht aber nur subjektiv gültig sein können und dadurch eben „nicht durch Erfahrung erkannt sein müssen.“ (KpV 5:26.19 – 33) Wären ästhetisch-pathologische Urteile und praktische Urteile über das Nützliche die einzig möglichen im Bereich der empirisch-praktischen Vernunft, so könnten wir tatsächlich nur darüber urteilen, was uns angenehm oder unangenehm ist (was unmittelbar in den Sinnen gefällt). Wir könnten hingegen nicht angeben, welche Gegenstände uns aufgrund anderer Eigenschaften als „gut“ bzw. zweckmäßig erscheinen, wir könnten also keine starken Wertungen unserer Begehrungen und Wünsche vornehmen. Wie wir sahen, lässt ein ästhetisches Urteil auch in seiner empirischen (pathologischen) Form dies nicht zu. Und auch wenn wir das Praktische im Sinne von technisch-praktisch nehmen, wie es uns in der KdU begegnete, kommen wir nicht weiter: Denn dann müsste dem bloß ästhetischpathologischen Urteil als Urteil über das Angenehme ein Urteil über die Bedingungen der Möglichkeit seiner Verwirklichung hinzugefügt werden. Wir würden über das ästhetisch-pathologische Urteil hinaus- und zu einem empirisch-praktischen Urteil über das Nützliche übergehen. Abgesehen von der Auflösung des Ästhetischen durch die Vermischung mit dem Guten ist damit aber noch nichts darüber gesagt, nach welchen Kriterien (außer eben dem Kriterium des Angenehmen oder Unangenehmen, der Lust oder Unlust) wir uns für die eine oder andere Handlungsweise entscheiden. Wir sahen ja bereits im ersten Kapitel, dass die Kombination aus „evaluativem Gefühl“ und Regeln der Geschicklichkeit noch kein Kriterium enthält, nach dem anhand von Maximen Entscheidungen getroffen und ein Interesse begründet werden könnte. Neben ästhetisch-pathologischen Urteilen des Gefühls und reinen praktischen Urteilen der Geschicklichkeit oder
4.3 Empirisch-praktische Urteile der Klugheit
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Moral findet eine empirisch bedingte Zweckbestimmung und damit Klugheit wiederum keinen Platz. Im Vergleich zu den theoretischen Wahrnehmungsurteilen müssen empirischpraktische Urteile daher ein weiteres Element enthalten, wenn sie als solche die Bestimmung des Willens zum Gegenstand haben sollen: Geurteilt wird nicht nur darüber, wie sich das Objekt für das urteilende Subjekt anfühlt, wie es sich ihm darstellt, unabhängig von objektiver Erkenntnis, sondern auch, wie das Subjekt selbst die Empfindung einordnet und bewertet. Kants Begriff des Interesses als einer Verbindung der Lust mit dem Begehrungsvermögen, sofern diese Verknüpfung durch den Verstand nach einer allgemeinen Regel (allenfalls auch nur für das Subject) gültig zu sein geurtheilt wird (MdS 6:212.23 – 26),
deutet darauf hin. Das empirisch-praktische Urteil, das es ermöglichen soll, einen Zweck zu bestimmen und nicht nur die Mittel, wie dieser zu erreichen sei, muss etwas aussagen über die im Urteil (als angenehm oder unangenehm) festgestellte Wirkung der „Empfindung unseres Zustandes auf das Gemüth“ (Anth 7:230.23 – 231.1). Um einen Zweck zu bestimmen, muss diese Wirkung also bewertet werden können. Damit geht ein solches Urteil insofern über das bloß subjektive und nicht objektivierbare Wahrnehmungsurteil hinaus, als es nicht nur die Wahrnehmung des süßen Zuckers zum Gegenstand hat und als angenehm oder unangenehm empfunden (also schwach) bewertet. Das empirisch-praktische Urteil der Klugheit betrifft vielmehr den im Wahrnehmungsurteil hergestellten Bezug der Wahrnehmung des Subjekts zu seinem Zustand in Bezug auf die Einheit seines Bewusstseins. Dieses Bewusstsein aber kann nur ein solches sein, das in der Lage ist, die Idee eines größeren Lebenszusammenhanges zu entwerfen, die über das hinausgeht, was es in der Wahrnehmung bzw. aufgrund ihrer unmittelbar als angenehm beurteilt. Dass es möglich ist, trotz Kants ablehnender Haltung dem Empirisch-Praktischen gegenüber ein solches Urteil innerhalb seines philosophischen Systems zu rekonstruieren, soll insbesondere im letzten Abschnitt (4.4) deutlich werden. Wie bereits das dritte Kapitel gezeigt hat, ist ein solches bewertendes Urteil durchaus möglich, nämlich im Hinblick auf eine Idee der Glückseligkeit, die die in ihr enthaltenen Elemente noch einmal daraufhin überprüft, ob sie mit den wesentlichen und allgemeinen Zwecken des Menschen (der Person) übereinstimmen. Und dies galt ja gerade explizit für solche Zwecke, die der Wahrnehmung entnommen werden, also für empirische Zwecke unter der Idee der Glückseligkeit.Wir haben also Grund, anzunehmen, dass die Bildung solcher Urteile möglich bzw. denkbar ist, und es wird sich zeigen, dass es die Anwendung der praktischen
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Kategorien ist, welche es erlaubt, aus der durch das Gefühl gestellten Triebfeder ein Interesse (des Gefühls oder der Vernunft) zu generieren, und zwar indem auf diese Weise Maximen gebildet werden. Deshalb heißt es bei Kant: „Aus dem Begriffe einer Triebfeder entspringt der eines Interesse“ und: „Auf dem Begriffe eines Interesse gründet sich auch der einer Maxime.“ (KpV 5:79.19 f. und 24.f.) Das bedeutet: Die Maxime gründet auf der Regel, welche Begehrungsvermögen und Gefühl miteinander verbindet.
4.3.2 Das Verhältnis der Wahrnehmungen untereinander Zur weiteren Charakterisierung des empirisch-praktischen Urteils gehört die Frage nach dem Bezug der Wahrnehmungen untereinander. Für das ästhetisch-pathologische Urteil scheint es ausreichend zu sein, dass die untereinander verglichenen Wahrnehmungen auf das Subjekt und seinen Zustand bezogen werden. Für ein empirisch-praktisches Urteil darüber, was als Gegenstand für einen bestimmten Zweck taugen könnte, reicht es nicht zu fühlen, was angenehm oder unangenehm ist. Wir erinnern uns: Die bloß subjektiven Wahrnehmungsurteile durchlaufen nur die beiden ersten Stufen der dreifachen Synthesis aller Erkenntnis: Apprehension der Vorstellungen (Modifikationen des Gemüts in der Anschauung) und Reproduktion der Vorstellungen in der Einbildung – nicht aber die Rekognition im Begriff (vgl. KrV A 97). Damit von einem Wahrnehmungsurteil gesprochen werden kann, muss eine Vorstellung das Gemüt affizieren, sodann aber auch die Einbildungskraft die Vorstellungen reproduzieren bzw. die aktuellen vergleichen mit anderen bereits gehabten und/oder zugleich vorliegenden sowie künftig zu erwartenden. Erst durch diesen Akt des Vergleichens mittels der Regeln der Assoziation kann aus dem Durcheinander von Eindrücken ein Wahrnehmungsurteil, also eine Synthesis einzelner Wahrnehmungen werden. Aber auch für empirisch-praktische Urteile muss solches gelten: Die eingehenden Empfindungen (die in diesem Fall Gefühle sind) affizieren das Gemüt und rufen dadurch die Empfindung des Angenehmen oder Unangenehmen hervor, also des Vergnügens oder des Schmerzes. Diese wiederum, so wurde oben schon bemerkt, treiben das Subjekt dazu an, den aktuellen Zustand beizubehalten (im Falle eines angenehmen Gefühls) oder ihn zu verlassen (im Falle eines unangenehmen Gefühls; vgl. Anth 7:231.1– 5). Indem jemand seinen Zustand als angenehm empfindet (fühlt), wird er dazu veranlasst (und nimmt insofern Interesse daran), diesen beizubehalten, Entsprechendes gilt im gegenteiligen Fall. Wären also empirisch-praktische Urteile nichts anderes als ästhetisch-pathologische, insofern diese wie theoretische Wahrnehmungsurteile gebildet
4.3 Empirisch-praktische Urteile der Klugheit
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werden, so würden auch die in ihnen enthaltenen Vorstellungen (Empfindungen) bloß nach der Regel der Assoziation miteinander verknüpft und damit zu einer Gewohnheit. Die damit einhergehende „Allgemeinheit“ wäre eine „generale“, je nachdem, wie oft bestimmte Verknüpfungen schon vorgenommen wurden. Bezugspunkt und damit einzig mögliches Entscheidungskriterium ist dabei das Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen. Kant bleibt offensichtlich bei seiner Auffassung, jede Willensbestimmung, die irgend ein Gefühl voraussetzt, sei mit „Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen als der Materie des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung der Principien ist“ verbunden (KpV 5:24.37– 39). Dass es auch Vorstellungen geben könnte, die zwar Bezug nehmen auf das Gefühl der Lust, aber nicht danach bewertet werden, ob mit ihnen eine unmittelbare Empfindung des Angenehmen verbunden ist, scheint ihm nicht in den Sinn zu kommen. Zu groß könnte womöglich die Konkurrenz einer solchen Konzeption des Praktischen für die reine praktische Vernunft, zu groß das mögliche Zugeständnis an den Empirismus sein. Wie im vorigen Kapitel deutlich geworden sein sollte, lässt sich eine einigermaßen konsistente Interpretation von Kants empirischpraktischer Theorie und damit seines Begriffs der Klugheit jedoch nur dann entwickeln, wenn genau diese Abwertung empirisch-praktischer Zusammenhänge in Bezug auf den Begriff der Glückseligkeit aufgegeben wird. Da wir allein unter Bezugnahme auf das Verhältnis der Empfindungen zum Zustand des Subjekts sowie zu den Wahrnehmungen untereinander nicht weiter kommen, liegt es nahe, den Blick auf den Bezug der Vorstellungen auf die Erkenntnisvermögen und deren Verhältnis untereinander zu richten.
4.3.3 Der Bezug auf die Erkenntnisvermögen Um unterscheiden zu können, um welche Art von Urteil es sich handelt, wenn jemand einen Gegenstand betrachtet und beurteilt, kommt es nicht nur darauf an, in welchem Verhältnis dieser Gegenstand auf den Zustand des Subjekts, sondern auch, in welchem Verhältnis auf die Erkenntnisvermögen er steht. Denn zwar kann der Akt des Vergleichens als Reflexion bezeichnet werden, insofern das Subjekt die unterschiedlichen Wahrnehmungen innerhalb der Zeitreihe miteinander vergleicht und dies auch noch einmal in Bezug auf den eigenen Zustand tut. Zugleich aber versteht Kant unter Reflexion das Vergleichen der Gegenstände in Bezug auf die Erkenntnisvermögen, worauf im nächsten Kapitel zurückzukommen sein wird. Bereits das oben angeführte Zitat aus der ersten Einleitung zur KdU (EE 20:230.11– 2325) weist aber darauf hin, dass es bei Urteilen, die das Gefühl der Lust und Unlust betreffen, ganz wesentlich darauf ankommt, die Verbindung zu be-
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trachten, die das Gefühl zu den übrigen Gemütskräften hat: Denn das Gefühl (der Lust oder Unlust) selbst ist Kant zufolge keine Erkenntnisart, kann also nicht aus sich selbst gefühlt, erklärt oder eingesehen werden. Man kann sie deshalb auch „nur durch den Einfluß, den eine Vorstellung vermittelst dieses Gefühls auf die Thätigkeit der Gemüthskräfte hat, dürftig erklären“ (KdU EE 20:232.4 f.). Wenn wir nun empirisch-praktische Urteile rekonstruieren und sie sowohl von ästhetisch-pathologischen als auch von praktischen Urteilen über das Nützliche abgrenzen wollen, so müssen wir den Blick auf dieses Verhältnis richten, das zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen entsteht. Im Anschluss an die obigen Bemerkungen zum Angenehmen und Unangenehmen schlage ich vor, den Unterschied folgendermaßen zu fassen: Die durch das Gefühl der Lust und Unlust hervorgebrachten Begehrungen werden gewissermaßen „vorsortiert“, indem sie daraufhin beurteilt werden, ob sie angenehm sind oder nicht. Diese Bewertung findet im Gefühl selbst statt. Eine solche Bewertung durch das Gefühl steht insofern in Bezug auf das Begehrungsvermögen, als dieses durch solche als angenehm oder unangenehm bewerteten Empfindungen affiziert wird. Das ist ein ästhetisch-pathologisches Urteil, das eingeht in die Bildung der Idee der Glückseligkeit. Dieses Urteil kann nun dazu verleiten, sich diese Empfindungen auch zum Gegenstand und Bestimmungsgrund des Willens zu machen. Hierzu aber bedarf es eines weiteren Urteils – nämlich eines empirisch-praktischen, das nicht allein durch die im Gefühl selbst liegende Bewertung als angenehm/unangenehm erfolgen kann. Es ist dieser Übergang von dem bloßen Affiziertsein durch ein angenehmes Gefühl zur Bestimmung des Begehrungsvermögens durch dasselbe, der dem Kantischen Gedankengang fehlt. Denn damit ein Urteil darüber gefällt werden kann, ob etwas zum Bestimmungsgrund des Willens gemacht wird (werden soll) oder nicht, muss es als möglicher Zweck identifiziert werden. Ist jemandem nun nicht daran gelegen, eine moralische Handlung auszuführen, muss er sich nach Kant am Prinzip der Glückseligkeit orientieren, da alle nicht-moralischen Bestimmungsgründe auf diesem Prinzip beruhen. Er muss folglich die durch das Gefühl vorsortierten Begehrungen daraufhin beurteilen, ob sie zusätzlich zu der Tatsache, dass er sie als angenehm oder unangenehm empfindet, dazu taugen, einen Zweck entsprechend dem Prinzip (seiner Idee) der Glückseligkeit abzugeben, der seinen Willen zum Handeln bestimmen könnte. Dafür aber muss er zunächst über einen Begriff der Glückseligkeit verfügen, der ihn in die Lage versetzt, eine Entscheidung darüber zu treffen, welche Zwecke Bestimmungsgrund seines Willens werden können und welche nicht. Das aber markiert auch laut Kant den Unterschied zwischen ästhetischen und praktischen Urteilen: dass die letzteren nämlich „durch den Begriff eines Zwecks unter Principien der Vernunft gebracht werden“, um „als Gegenstand des Willens
4.3 Empirisch-praktische Urteile der Klugheit
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gut“ genannt zu werden. Wollten wir das Angenehme im ästhetisch-pathologischen Urteil gut nennen, so hätte es eine ganz andere Bedeutung, als wenn es nur das bezeichnet, was vergnügt (vgl. KdU 5:208.1– 11). Anders als das Vergnügende, kann das Gute, also das als gut Bewertete, in das Nützliche und das an sich Gute unterteilt werden. Mit anderen Worten: Von einer empirischen Zweckbestimmung kann nur dann die Rede sein, wenn der ins Auge gefasste (zu beurteilende) Gegenstand im Hinblick auf eine entworfene Idee der Glückseligkeit als zweckmäßig beurteilt werden kann. Das aber, so hat das dritte Kapitel gezeigt, beinhaltet ein Urteilen, das über die (laut Kant bloß quantitative) Bewertung von Dingen als angenehm oder unangenehm hinausgeht und sich, soll denn auch von klugen Maximen gesprochen werden können, auf die wesentlichen und allgemeinen Zwecke des Menschen bezieht. Die im Vorherigen entworfene Bestimmung empirisch verankerter Zwecke über eine Idee der Glückseligkeit dient somit auch dazu, die Lücke innerhalb der Kantischen Urteilslehre zu schließen und Konsistenz in seine Konzeption ästhetischer und praktischer Urteile zu bringen. An dieser Stelle muss nun noch einmal präzisiert werden, weshalb eine Normalidee der Glückseligkeit hierfür nicht ausreichend ist, denn auf den ersten Blick scheint auch sie die Kriterien zu erfüllen für eine empirische Zweckbestimmung, insofern eine Idee der Glückseligkeit entworfen wird, die sich an bloß angenehmen Zuständen orientiert, auf welche hin aber die einzelnen Gegenstände dann ebenfalls als zweckmäßig beurteilt werden können. Meines Erachtens handelt es sich jedoch nicht im gleichen Sinn um Zweckmäßigkeit, da solche einzelnen Zwecke nicht Teil der entworfenen Idee der Glückseligkeit sind. Die Vorstellung solcher Gegenstände, die daraufhin bewertet werden, ob sie angenehm sind oder sein werden, trägt nichts Qualitatives (in einem starken Sinn) zur Definition dieser Idee bei. Sie sind in einem schwachen Sinn Träger einer qualitativen Wertung und damit der Konstitution der Idee der Glückseligkeit als angenehmem Zustand, insofern sie der Zweckmäßigkeit als quantitativer Vollkommenheit entsprechen: Sie tragen zur Vollständigkeit des als angenehm entworfenen Glücksbegriffs bei. Aber sie definieren ihn nicht wesentlich inhaltlich mit im Sinne einer qualitativen Vollkommenheit. Daher sind solche Zwecke auch nicht Ausdruck dessen, was für eine Person jemand sein will, sie drücken eben nur das aus, was in der Idee enthalten ist: die Vorstellung eines bestimmten empirischsinnlichen Zustandes. Und insofern sind sie dann eher Mittel als Zweck. Damit ergibt sich für empirisch-praktisches Urteilen und die darauf basierenden Handlungen, dass sie auf einen Zweckbegriff angewiesen sind, unter den die als angenehm oder unangenehm eingestuften Begehrungen eingeordnet werden können. Wie die ästhetisch-pathologischen Urteile gehen sie der Bestimmung des Begehrungsvermögen voran und ergibt sich die Lust nicht aus dieser Bestimmung bzw. aus dem Urteil über den Gegenstand (wie bei reinen
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4 Urteile der Klugheit
Urteilen). Beide unterscheiden sich darin voneinander, dass empirisch-praktische Urteile das Begehrungsvermögen durch einen Begriff von einem Zweck, den sie nach Prinzipien (der Glückseligkeit oder der Sittlichkeit) ermitteln, bestimmen (und nicht nur affizieren).
4.3.4 Der sprachliche Ausdruck empirisch-praktischer Urteile Wie auch die theoretischen Wahrnehmungsurteile können subjektive Urteile, die zumindest auch auf das Verhältnis des beurteilten Gegenstandes auf den Zustand des Subjekts Bezug nehmen, nur unzureichend ausgedrückt werden. Solange wir nicht auf eine allgemein und notwendig anerkannte Definition von „süß“ zurückgreifen können, ist die eigentliche Aussage eines Urteils wie „Zucker ist süß“ so etwas wie „Ich empfinde oder schmecke Zucker als süß“. In noch größerem Maße gilt das dann für solche Urteile, die sich von vornherein ganz auf das Verhältnis zum Zustand des Subjekts konzentrieren, d. h. dieses zum eigentlichen Gegenstand haben. Da Kants Beispiele „kläglich scheitern“ müssen (Freudiger), weil er sich der Schwierigkeit des sprachlichen Ausdrucks nicht bewusst ist, gilt es nun zu überlegen, wie in Übereinstimmung mit Kant ein solcher Ausdruck aussehen könnte. Nun handelt es sich bei einer Idee um mehr als nur einen Zustand. Vielmehr beinhaltet das Verständnis einer Idee der Glückseligkeit, wie vorgeschlagen, den Rekurs auf Begriffe und Vorstellungen, die durchaus unabhängig von ihrer Wirkung auf den Zustand eines jeden Subjektes von jedem anderen Subjekt beurteilt werden können, sodass es möglich ist, empirische Zwecke nicht in erster Linie durch ihren Bezug auf den Zustand, sondern in Bezug auf das Ganze einer diese Zwecke umfassenden Idee zu beurteilen und daher auch sprachlich mitzuteilen. Die Frage ist, auf welchem Niveau dies möglich ist, d. h. welchen Allgemeinheitsgrad solche Urteile aufweisen. Kant unterscheidet von der universalen Geltung nicht nur die generelle Geltung, sondern auch die im Rahmen der reinen ästhetischen Geschmacksurteile vorkommende Gemeingültigkeit, deren Merkmal allgemeine Mitteilbarkeit ist: Er misst diesen Urteilen keine notwendige Allgemeingültigkeit bei, da sie sich auch in dieser ihrer reinen Variante auf das Verhältnis des Gegenstandes zum Subjekt beziehen. Da der Bezug, der sich im Urteil ausdrückt, aber nicht auf den Zustand des Subjekts, sondern auf das Zusammenspiel seiner Erkenntnisvermögen gerichtet ist, und da diese bei allen Menschen, so nimmt Kant an, gleichermaßen vorhanden sind, kann das Urteil von allen anderen Menschen nachvollzogen werden. Es ist daher möglich, dass das ansonsten subjektive Urteil über das Schöne von allen anderen zumindest nachvollzogen werden kann.
4.4 Die Bildung praktischer Urteile durch die Kategorien der Freiheit
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Ästhetisch-pathologische Urteile hingegen sind Privaturteile, die ausschließlich für das einzelne Subjekt gelten. Damit nun solche ästhetisch-pathologisch formulierten Urteile zugleich mit einem Bezug auf das Begehrungsvermögen und daher mit einem Interesse einhergehen können, müssen sie erweitert werden um diejenige Komponente, die das Verhältnis zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen beurteilt. Wie bereits ausgeführt, ist ein ästhetisch-pathologisches Urteil allein dazu nicht in der Lage. Es braucht also ein empirisch bedingtes, aber genuin praktisches Urteil. Wie ein solches nun tatsächlich gebildet werden kann, soll der Blick auf die Kategorien der Freiheit zeigen.
4.4 Die Bildung praktischer Urteile durch die Kategorien der Freiheit Kant stellt die Tafel der Kategorien der Freiheit im zweiten Hauptstück der „Analytik der reinen praktischen Vernunft“ vor.¹³⁴ Sie betreffen, so Kant ausdrücklich, „die praktische Vernunft überhaupt“ und gehen „so in ihrer Ordnung von den moralisch noch unbestimmten und sinnlich bedingten zu denen, die, sinnlich unbedingt, bloß durchs moralische Gesetz bestimmt sind“, fort (KpV 5:66.12– 15). Die Kategorien sind so allgemein genommen […], daß der Bestimmungsgrund jener Causalität [der Freiheit, C.G.] auch außer der Sinnenwelt in der Freiheit als Eigenschaft eines intelligiblen Wesens angenommen werden kann, bis die Kategorien der Modalität den Übergang von praktischen Principien überhaupt zu denen der Sittlichkeit, aber nur p r o b l e m a t i s c h einleiten (KpV 5:67.5 – 10).
Die Kategorien der Freiheit sind somit für alle möglichen Willensbestimmungen zuständig und müssen nicht nur moralische Handlungen konstituieren können, sondern auch die empirisch bedingten. Es gilt daher zu prüfen, ob sie dasjenige erbringen, was die Verstandeskategorien angesichts der ästhetisch-pathologischen Wahrnehmungsurteile nicht zu leisten vermögen: eine Ordnung in das Mannigfaltige der Sinnlichkeit bzw. der sinnlichen Wahrnehmung in Bezug auf
Dass die Tafel der Kategorien der Freiheit für sich schon genügend Anlass zu Diskussionen bietet, davon zeugen nicht zuletzt die beiden jüngst erschienenen Dissertationen von Zimmermann 2011 und Puls 2013, sowie die Aufsätze von S. Lee 2012, Kontos 2011, Bader 2009 sowie Stolzenberg 2008. Für meine eigene Interpretation siehe Graband 2005. Es kann und soll daher keine vollständige Interpretation der Kategorien gegeben werden, sondern sie sollen in Bezug auf die spezifische Frage nach der Klugheit hin untersucht werden. Es bleibt jedoch nicht aus, dass die Analyse aus diesem Blickwinkel auch Erhellendes zur Interpretation der Tafel insgesamt abwirft.
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4 Urteile der Klugheit
den Zustand des Gefühls des Subjekts zu bringen. Dies kann geschehen, indem sie die ansonsten in bloßen (ästhetisch-pathologischen) Wahrnehmungsurteilen zusammengefassten Wahrnehmungen kategorial erfassen und zu einem genuin praktischen, aber empirisch bedingten Urteil formen, das eine Zweckbestimmung zum Inhalt hat. Denn ästhetisch-pathologische Urteile sind aus bereits angeführten Gründen selbst nicht kategorial vermittelt: Sie sind es nicht durch die theoretischen Kategorien, und sie sind es auch nicht durch die praktischen Kategorien, weil es sich bei ihnen um gar keine praktischen Urteile handelt, insofern sie keinen Zweck im Rückgriff auf Vernunft anzugeben vermögen. Ich werde in diesem Abschnitt die These vertreten, dass das in (allen) praktischen Urteilen enthaltene Interesse durch die Kategorien der Freiheit begründet werden kann. Damit ist dann auch der Beleg erbracht, dass und wie ästhetisch-pathologische Urteile zu praktischen (empirischen oder reinen) werden können. Zugleich kann auf diese Weise der systematische Ort der Klugheit innerhalb von Kants praktischer Philosophie bestimmt werden. Da die Kategorien der Freiheit, ähnlich wie die Verstandeskategorien, praktische Erkenntnis ermöglichen sollen, empirisch-praktische Urteile jedoch keine Erkenntnis im strengen Sinne zulassen, sobald man sie auf die Bestimmung des Willens bezieht, ist mit Dieringer zu fragen: „Was erkennt [eigentlich] die praktische Vernunft?“ (so der Titel seines Aufsatzes: Dieringer 2002) Dafür ist zunächst zu klären, was unter dem Gegenstand der praktischen Vernunft zu verstehen ist (4.4.1) sowie unter dem „Mannigfaltigen der Begehrungen“, das „der Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden Vernunft“ unterworfen werden soll (4.4.2). Sodann wird die Rolle der Typik der praktischen Urteilskraft in den Blick genommen (4.4.3). Erst im Anschluss daran wenden wir uns der Frage zu, wie der vermeintliche Übergang von den sinnlich-bedingten zu den moralischen Kategorien vollzogen werden kann, sodass sich die Tafel tatsächlich als auf das praktische Vermögen überhaupt und nicht nur auf reine praktische Vernunft bezogen verstehen lässt und auch Klugheit als durch sie konstituiert vorgestellt werden kann (4.4.4).
4.4.1 Gegenstand und Anwendung der Kategorien der Freiheit Die Kategorien der Freiheit sind als praktische Bestimmungen aufzufassen und geben als solche keinerlei Auskunft darüber, wie der Wille selbst (als Naturursache) wirkend tätig wird, um seinen, je nachdem mehr oder weniger, durch Vernunft bestimmten Inhalt (die Willensgesinnung) mithilfe von Handlungen (Mitteln) umzusetzen.Vielmehr geben sie an, wie Vernunft praktisch werden kann,
4.4 Die Bildung praktischer Urteile durch die Kategorien der Freiheit
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d. h. wie und in welchem Umfang sie ihre Kausalität in Form eines Einflusses auf den Willen, der selbst wieder kausal wirkt, ausüben kann, da es allen Vorschriften der reinen praktischen Vernunft nur um die W i l l e n s b e s t i m m u n g , nicht um die Naturbedingungen (des praktischen Vermögens) ihrer A u s f ü h r u n g s e i n e r A b s i c h t zu thun ist (KpV 5:66.3 – 6).
Kant sagt uns nun sehr deutlich, worauf sich die Kategorien richten, nämlich auf die Willensgesinnung, deren Wirklichkeit sie zugleich „selbst hervorbringen, welches gar nicht die Sache theoretischer Begriffe ist“ (KpV 5:66.10 f.).¹³⁵ Diese Willensgesinnung wiederum drückt sich in den willensbestimmenden Prinzipien aus. Das bedeutet, dass die Kategorien nicht in erster Linie die der Willensbestimmung zugrundeliegenden Prinzipien (Maximen) beurteilen, sondern sie (urteilend) selbst hervorbringen. Insofern sich die von ihnen gebildeten Maximen, die zugleich Gegenstände der praktischen Vernunft sind, in kategorial geformten Urteilen ausdrücken, sind daher die Kategorien der Freiheit Leistungen, d. h. Funktionen der Urteilskraft.¹³⁶ Die den Handlungen zugrundeliegenden Maximen werden somit mithilfe der vier Kategoriengruppen quantitativ, qualitativ, relational und modal konstituiert. Jede Maxime, ob empirisch bedingt oder moralisch bestimmt, wird durch je eine dieser Kategorien geprägt, was auch für die Mo Zimmermann sieht die Aufgabe der Kategorien der Freiheit zwar in der Willensbildung. Sie stellen ihm zufolge „die unverbrüchlichen Gesetzmäßigkeiten dessen, wie ein vernünftiges Subjekt überhaupt nur seinen Willen bilden und zu einem Gegenstand bestimmen kann“, dar (Zimmermann 2011, 85). Zugleich versteht er den Willen jedoch als auf Objekte und ihre Verwirklichung ausgerichtet vor (als „intentionale Kausalität“, Zimmermann 2011, 118). Er folgert daher, praktische Vernunft unterscheide sich von theoretischer nicht durch die Art der erkannten Objekte, sondern durch die Art des Objektbezugs: „Auch die praktische Vernunft ist nach Kant ein Erkenntnisvermögen. Nur richtet sie sich nicht auf einen besonderen Seinsbereich, etwa die Praxis, sondern es ist die Art, wie die Vernunft auf Gegenstände Bezug nimmt, die ihren theoretischen und praktischen Gebrauch jeweils kennzeichnet. Auch die praktische Vernunft, so muss man präzise sagen, erkennt, aber nicht anderes, sondern anders als die theoretische.“ (Zimmermann 2011, 00) Dies läuft darauf hinaus, dass die praktischen Kategorien die gleichen Objekte innerhalb der Erscheinungswelt konstituieren, aber nicht als theoretisch erkannte Gegenstände, sondern insofern sie als Zwecke hervorgebracht werden. Damit bewegt sich Zimmermann in der Nähe von Klingners Analyse, welche jedoch ohne Anwendung der praktischen Kategorien auskommt, indem Klingner den Zweckbegriff als durch technisch-praktische und damit letztlich theoretische Vernunft konstituiert rekonstruiert. Zum Verständnis der Kategorien der Freiheit als Funktionen der Urteilskraft, insofern sie aus der Tafel der Urteile in KrV herzuleiten sind, siehe Zimmermann 2011. Puls fasst die Kategorien der Freiheit zwar ebenfalls als „Funktionen der Freiheit“ auf, scheint sie aber als unschematisiert gebrauchte Verstandeskategorien zu deuten (vgl. Puls 2013, 23 – 35).
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dalkategorien gilt, innerhalb welcher, so die Annahme, ein „Übergang“ zur Moralität stattfindet bzw. „problematisch“ eingeleitet wird. Alle Maximen sind damit entweder als „erlaubt oder unerlaubt“, als „Pflicht oder Pflichtwidrig“ oder als „vollkommene oder unvollkommene Pflicht“ konstituiert. Nun sieht es zunächst so aus, als kennte Kant wiederum nur zwei Möglichkeiten: eine Bestimmung des Willens durch das reine Vernunftgesetz im Hinblick auf das Gute oder Böse und eine unmittelbare Bestimmung des Willens durch Objekte, die oder deren Vorstellung einen angenehmen Zustand hervorrufen. Erstere, die Bestimmung des Willens durch das Vernunftgesetz selbst, bezeichnet das Gute oder Böse, weil der Wille ein Vermögen ist, „sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einer Handlung […] zu machen“ (KpV 5:60.17– 19). Die Bestimmung des Willens durch Vorstellungen des Angenehmen ist uns aber inzwischen ebenfalls hinreichend bekannt, und Kant scheint sie auch in KpV als unmittelbar erfolgend darzustellen (also ohne Anwendung von Maximen): Das Wo h l oder Ü b e l bedeutet immer nur eine Beziehung auf unseren Zustand der A n n e h m l i c h k e i t oder U n a n n e h m l i c h k e i t , des Vergnügens oder Schmerzens, und wenn wir darum ein Object begehren oder verabscheuen, so geschieht es nur, so fern es auf unsere Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust, das es bewirkt, bezogen wird (KpV 5:60.9 – 13).
Eine empirische Willensbestimmung scheint es also wieder nur als durch ästhetisch-pathologische Urteile und damit durch unmittelbare Empfindungen in Beziehung auf als Wohl oder Übel vorgestellte Objekte zu geben. Eine Bestimmung des Willens durch Regeln (der Vernunft) und d. h. durch Maximen, wäre damit dem reinen, moralischen Vernunftgesetz vorbehalten. Dieser bereits als problematisch vorgestellten Lesart stellt Kant jedoch eine zweite an die Seite, wenn er ausführt: Es kommt allerdings auf unser Wohl und Weh in der Beurtheilung unserer praktischen Vernunft gar s e h r v i e l und, was unsere Natur als sinnlicher Wesen betrifft, a l l e s auf unsere G l ü c k s e l i g k e i t an, wenn diese, wie Vernunft es vorzüglich fordert, nicht nach der vorübergehenden Empfindung, sondern nach dem Einflusse, den diese Zufälligkeit auf unsere ganze Existenz und die Zufriedenheit mit derselben hat, beurtheilt wird; aber a l l e s ü b e r h a u p t kommt darauf doch nicht an. Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, so fern er zur Sinnenwelt gehört, und so fern hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern und sich praktische Maximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses und wo möglich auch eines zukünftigen Lebens, zu machen (KpV 5:61.18 – 29).
Auf den ersten Blick scheint diese Stelle vor allem eine Rechtfertigung für empirisch-praktische Vernunft und das Verfolgen der eigenen Glückseligkeit als Forderung der Vernunft darzustellen. Meines Erachtens wird hier aber genau das
4.4 Die Bildung praktischer Urteile durch die Kategorien der Freiheit
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bestätigt, was wir bereits vermuteten: dass empirisch-praktische Vernunft ihre Wurzel in der Sinnlichkeit hat und dennoch als Vernunft auftritt. Es ist hier nicht die Rede von einem von der Vernunft ausgehenden Hypothetischen Imperativ der Klugheit, sich um die eigene Glückseligkeit zu sorgen. Vielmehr betont Kant, dass die Ursache für dieses pragmatische Handeln in der Sinnlichkeit zu suchen ist. Entscheidend ist, dass es sich um eine Forderung der Sinnlichkeit (und damit der Natur) an die Vernunft handelt, die ansonsten unmittelbar und regellos erfolgenden Handlungen durch Bildung von praktischen Maximen zu ordnen und auf ein als Ganzes (auch) auf Glückseligkeit ausgerichtetes Leben hin zu orientieren. Mit anderen Worten: Praktische Vernunft hat auch das Wohl und Übel zu beurteilen, allerdings in der ihr eigenen Weise, indem sie es durch praktische Maximen auf die (Idee der) Glückseligkeit ausrichtet. Praktische Vernunft tritt hier als Dienerin der Neigungen in ihrem „regulativen Gebrauch“ (KrV B 828) auf, sie administriert diese und fügt sie zu einem Ganzen zusammen.¹³⁷ Da sich die zitierte Passage (KpV 5:61.18 – 29) im Vorfeld der und damit in Vorbereitung auf die Kategorien der Freiheit befindet, darf nun auch die unmittelbare Verbindung zu ihnen hergestellt werden. Gegenstand der Kategorien der Freiheit ist die Bildung, das Konstituieren von Prinzipien der Willensbestimmung, welche sich wiederum als Maximen darstellen. Die Kategorien geben die Modi an, unter welchen diese Maximen durch (praktische) Vernunft gebildet werden. In diesem Sinne ist Kants Aussage zu lesen: Ein Gegenstand der praktischen Erkenntniß als einer solchen zu sein, bedeutet also nur die Beziehung des Willens auf die Handlung, dadurch er oder sein Gegentheil wirklich gemacht würde […] (KpV 5:57.19 – 21).
Eben dieser Prozess der Maximenbildung scheint mir gemeint zu sein, wenn Kant sagt, eine Triebfeder könne die freie Willkür einzig zu einer Handlung bestimmen, „als n u r i n s o f e r n d e r M e n s c h s i e i n s e i n e M a x i m e a u f g e n o m m e n h a t (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will“ (RGV 6:24.1– 3). McCarty betont, Kant habe nie erklärt, wie dies seiner Meinung nach geschehe (vgl. McCarty 2006, 74). Grenberg führt aus, dass es gerade die Aufnahme einer Triebfeder in die Maxime sei, die ihre Bestimmung und damit die Willensbestimmung insgesamt abschließe, insofern in dieser Annahme einer Maxime die drei von Kant ausschließlich endlichen vernünftigen Wesen zugeschriebenen Elemente der Triebfeder, des Interesses und der Maxime vereinigt würden (vgl. Grenberg 2001, 174– 179). Auch Reath betont, Neigung beeinflusse für Kant niemals direkt den Willen, sondern werde erst durch Aufnahme in eine Maxime wirksam (so Allisons „Incorporation Thesis“). Maximen trügen daher immer die Last der Rechtfertigung für Entscheidungen, indem sie die Gründe für diese angäben. Alle Handlungen unterlägen damit einer möglichen Rechtfertigung durch Gründe der Vernunft (vgl. Reath 2006, 19). Die hier vorgeschlagene Interpretation erlaubt es, diese insgesamt doch recht vagen Annahmen in einen umfassenderen Kontext innerhalb von Kants Werk zu stellen.
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Allgemeine praktische Erkenntnis bezieht sich damit auf das Verhältnis zwischen Wille und Handlung, d. h. auf das Prinzip, durch welches der Wille zum Handeln bestimmt wird. Im Fall einer praktischen Erkenntnis des Guten oder Bösen stellt sich der Gegenstand der dann reinen praktischen Vernunft dar als Unterscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, diejenige Handlung zu wollen, wodurch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüber die Erfahrung urtheilen muss), ein gewisses Object wirklich werden würde (KpV 5:57.23 – 25).
Unter diesen Voraussetzungen gilt dann immer noch: Obgleich aber Vernunft allein vermögend ist, die Verknüpfung der Mittel mit ihren Absichten einzusehen (so daß man auch den Willen durch das Vermögen der Zwecke definieren könnte, indem sie jederzeit Bestimmungsgründe nach Principien sind), so würden doch die praktischen Maximen, die aus dem obigen Begriffe des Guten blos als Mittel folgten, nie etwas für sich selbst, sondern immer nur i r g e n d w o z u Gutes zum Gegenstande des Willens enthalten: das Gute würde jederzeit blos das Nützliche sein, und das, wozu es nutzt, müßte allemal außerhalb dem Willen in der Empfindung liegen (KpV 5:58.36 – 59.7).
Das Entscheidende steht hier in der Klammer: Kant kann den Willen als Vermögen der Zwecke bezeichnen, insofern diese (die Zwecke) „Bestimmungsgründe [des Willens, C.G.] nach Principien“ sind. Erst durch Anwendung der Kategorien der Freiheit werden die ansonsten unmittelbar den Willen affizierenden (faktischen oder in der Folge vorgestellten) Lust- oder Unlustempfindungen zu Zwecken, die dem Willen damit durch praktische Vernunft nach Prinzipien (Maximen) bestimmt werden. Auf diese Weise zeigt sich, dass die Anwendung der Kategorien das Verhältnis zwischen den Erkenntnisvermögen (zwischen dem Gefühl der Lust und Unlust und dem Begehrungsvermögen) festlegt. Sie tut dies, indem sie die dieses Verhältnis regelnden Prinzipien (Maximen) generiert. Und diese sind ihrerseits Ausdruck einer Willensgesinnung, die sich dann auch als gut oder böse beurteilen lässt. Damit lässt sich jene bereits zitierte Stelle der Grundlegung auch besser verstehen, an der Kant auf die empirische Anthropologie als „zweiten Theil der Naturlehre“ verweist, welcher die Untersuchung der Gründe zum Gegenstand habe, warum etwas gefällt oder mißfällt, wie das Vergnügen der bloßen Empfindung vom Geschmacke, und ob dieser von einem allgemeinen Wohlgefallen der Vernunft unterschieden sei; worauf Gefühl der Lust und Unlust beruhe, und wie hieraus Begierden und Neigungen, aus diesen aber durch Mitwirkung der Vernunft Maximen entspringen […] (GMS 4:427.5 – 9; kursiv C.G.).
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Der Anteil der Vernunft an solchen subjektiven Prinzipien, die Rede von einem „empirisch-praktischen Gebrauch der Vernunft“ wird somit genau dann ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, wie aufgrund einer Idee der Glückseligkeit und durch Anwendung der Kategorien der Freiheit Maximen überhaupt gebildet werden.
4.4.2 Das „Mannigfaltige der Begehrungen“ Im Rückgriff auf das vorige Kapitel lässt sich nun zudem angeben, was unter dem „Mannigfaltigen der Begehrungen“ zu verstehen ist, welches der „Einheit des Bewußtseins einer im moralischen Gesetze gebietenden praktischen Vernunft oder eines reinen Willens a priori“ (KpV 5:65.24– 26) unterworfen werden soll.Wie Zimmermann ausführt, muss es sich um das praktische Pendant zum „Mannigfaltigen der Anschauung“ bzw. der Sinnlichkeit (KrV A 76 ff./B 102 ff.), zum „Mannigfaltigen in einer empirischen Anschauung“ (KrV B 160) im theoretischen Gebrauch der Vernunft handeln. Diese praktische Anschauung, wie sie im Folgenden genannt werden soll, muss sich deshalb aus den unterschiedlichen Vorstellungen zusammensetzen, welche das Begehrungsvermögen affizieren. Wir hatten bereits gesehen, dass sich die Idee der Glückseligkeit als Produkt der Einbildungskraft in ihrer Analogie zur Idee der Schönheit als eine Anschauung darstellen lässt, welcher kein bestimmter Begriff entspricht. In ihr werden die mannigfaltigen Empfindungen durch Einbildungskraft auf das Ganze einer Idee der Glückseligkeit im Rahmen eines ebenfalls als Ganzes vorgestellten Lebens bezogen. Wie auch bei der Bildung von theoretischen Wahrnehmungs- und sodann Erfahrungsurteilen, verknüpft (assoziiert) die reproduktive Einbildungskraft die diversen Vorstellungen (Empfindungen) miteinander sowie in Bezug auf die Idee der Glückseligkeit. Sollen die Kategorien der Freiheit eine Ordnung in dieses „Mannigfaltige der Begehrungen“ bringen und sowohl die durch reine Vernunft als auch die durch das Gefühl bestimmten Maximen hervorbringen, so muss diese Beziehung auf das Gefühl bei der Konstitution der Maximen mitgedacht werden. Das „Mannigfaltige der Begehrungen“ besteht daher durchaus, wie Zimmermann vorschlägt, im möglichen Inhalt der Begehrungen (vgl. Zimmermann 2011, 168 f). Dieser Inhalt aber bezeichnet nicht die möglichen durch einen Willen hervorzubringenden Objekte in Form von tatsächlichen Gegenständen (in der Erscheinungswelt), sondern die Beziehung dieser (vorgestellten) Objekte zum Subjekt. Das Mannigfaltige der Begehrungen stellt sich somit als eben jene ästhetisch-pathologischen Urteile bzw. Wahrnehmungen dar, welchen Kant (fälschlicherweise) ein bereits bestehendes Interesse am mit dem Subjekt verbundenen Gegenstand zuschreibt. Dieses ästhetisch-pathologisch bestimmte Mannigfaltige der Begeh-
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rungen fungiert als die praktische Anschauung, das Pendant zum Mannigfaltigen einer empirischen Anschauung im Theoretischen. Auf diese praktische Anschauung werden dann die Kategorien der Freiheit angewendet, d. h. auf ein Mannigfaltiges von möglichen Begehrungen, die sich zunächst als bloße Aneinanderreihung von Empfindungs-Vorstellungen als Teil einer Idee der Glückseligkeit darstellen. Die in der Idee der Glückseligkeit als Produkt der reproduktiven Einbildungskraft zusammengefassten mannigfaltigen Empfindungen des Subjekts, die praktische Anschauung, werden also durch den Gebrauch der Kategorien der Freiheit noch einmal in Bezug auf das Begehrungsvermögen geordnet. Auf diese Weise entsteht das Interesse als Verhältnisbestimmung zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen, das in den auf diese Weise konstituierten Maximen seinen Ausdruck findet.
4.4.3 Praktische Erkenntnis und Typik der praktischen Urteilskraft Kommen wir auf die eingangs gestellte Frage zurück: Was ist praktische Erkenntnis? Wie Kant betont, soll die Anwendung der Kategorien stattfinden „in Ansehung des Guten und Bösen“, sowie durch den Bezug dieser zugrundeliegenden praktischen Anschauung auf die „Einheit des Bewußtseins […] eines reinen Willens“. Er stellt daher fest: „Die alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft sind also die vom Guten und Bösen.“ (KpV 5:58.6 f.) Damit betrifft die Erkenntnis des Guten oder Bösen „nur die Handlungsart, die Maxime des Willens und mithin die handelnde Person selbst als guter oder böser Mensch“ (KpV 5:60.23 f.). Erkannt wird das Gute bzw. Böse, und zwar ausschließlich als Attribute der Maximen. Mit anderen Worten: Praktische Erkenntnis stellt sich dort ein, wo eine Maxime als gut bzw. böse erkannt wird, was wiederum einen Akt der Beurteilung, d. h. einen Akt der Reflexion dieser Maxime erforderlich macht. Soll nun nicht nur von einer moralischen Reflexion auf das Gute und Böse, sondern auch von einer Reflexion der Urteilskraft auf jene „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“ gesprochen werden können, deren Einbeziehung in die Bildung einer ästhetischen Idee der Glückseligkeit der Rede von Klugheit eigentlich erst Sinn verleiht, so kann diese Reflexion nur dort stattfinden, wo auch innerhalb der Kategoriensystematik Reflexion zum Einsatz kommt. Und das ist: im Schematismus bzw. der Typik der (reinen) praktischen Urteilskraft. Diese Frage erhält ihre Relevanz auch und insbesondere im Zusammenhang mit Taylors in Kapitel 3 vorgestellten starken Wertungen zur Reflexion über die eigenen Einstellungen. Während die Kategorien die Maximen konstituieren und hervorbringen, erfolgt deren Überprüfung auf ihre moralische Tauglichkeit (und damit praktische
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Erkenntnis) durch die „Typisierung“, das Pendant zum Schematismus der theoretischen Vernunft.¹³⁸ Es ist demnach zu unterscheiden zwischen der kategorialen Hervorbringung der Maximen und ihrer Beurteilung als gut oder böse. Zimmermann schlägt eine ähnliche Deutung des praktischen Schematismus vor, indem er ihn als „zweistufiges moralisches Erkenntnisprogramm“ versteht. Ihm zufolge wird in einem ersten Schritt durch Anwendung der Kategorien die sittliche Form des jeweiligen Wollens festgelegt. Der Typus diene „als Kriterium, die sittlichen Kategorien zu benennen, durch welche die zur Prüfung vorgelegte Willensgesinnung je spezifiziert ist.“ Im zweiten Schritt dann erfolge „die Einsicht in den sittlichen Wert der Objekte meines Wollens“. Kriterium für diesen zweiten Schritt sei der „in allen kategorialen Hinsichten spezifizierte sittliche Wille“ (Zimmermann 2011, 53). (Es sollte vielleicht betont werden, dass diese beiden Schritte oder Stufen keinesfalls nacheinander ablaufen müssen, sondern durchaus gleichzeitig stattfinden können: Maximen werden durch Anwendung der Kategorien konstituiert und gleichzeitig, bzw. im Zuge ihrer Konstituierung auch (moralisch) bewertet. Auch praktische Erkenntnis entsteht im Vollzug des Urteilens.) Daraus folgt jedoch keineswegs, dass es zwei Kategorientafeln (vgl. Pieper 2002, 116) geben müsste oder zwei Ausführungen der Kategorien der Modalität aufgrund einer „Hinsichtenunterscheidung“ zwischen Gut/Böse und Wohl/Übel (vgl. Zimmermann 2011, 9, 36 f., 45, 132, 204, 224, 267 ff.). Denn was Zimmermann als die Modalitätskategorien in Ansehung des Wohls oder Übels vorstellt, kann gar nicht bereits kategorial vermittelt sein, sondern es stellt die Materie des kategorial zu Ordnenden dar.¹³⁹ Dies wurde bereits deutlich anhand der Untersuchung zu den Wahrnehmungs- und ästhetisch-pathologischen Urteilen. Darüber, was an-
Da Fischer Klugheit als ästhetisch-pathologisch versteht, kann er auch das Verhältnis zwischen Klugheit und Moral auf diese Weise erfassen: Für ihn sind die Maximen schon ästhetischpathologisch konstituiert und müssen durch Anwendung der Kategorien nur noch auf ihre Moraltauglichkeit (Verallgemeinerbarkeit) hin überprüft werden. Das aber widerspricht der Aussage, die Kategorien bezögen sich auf das praktische Vermögen überhaupt und nicht nur auf die reine praktische Vernunft. Die Willensgesinnung äußert sich, so konnte gezeigt werden, in den angewendeten Prinzipien. Erst indem die Kategorien der Freiheit auf diese Weise verstanden werden, lässt sich an den durch sie gebildeten Prinzipien der Charakter einer Person ablesen, denn dieser drückt sich in ihrer Willensgesinnung aus (vgl. Kapitel 5.2). Er versteht sie gemäß der von ihm konsequent durchgeführten „metaphysischen Deduktion“ aus der Urteilstafel als das „eudämonistisch Mögliche/Unmögliche“, das „eudämonistisch Wirkliche/Unwirkliche“ und das „eudämonistisch Notwendige/Zufällige“ (Zimmermann 2011, 300 f.). Für den letzteren Fall schlägt Zimmermann vor, das Objekt des Begehrens als durch das eigene Interesse vollständig bzw. unvollständig bestimmt vorzustellen. Entweder die Handlung sei voll und ganz bestimmt, mit der das Ziel erreicht werden kann, oder es sei nur die grobe Richtung vorgegeben, sodass Erfahrung und Urteilskraft vonnöten sind (vgl. Zimmermann 2011, 301).
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genehm ist (also als Wohl oder Übel vorgestellt wird), entscheidet gerade nicht die Vernunft (anhand von Kategorien), sondern das Gefühl. Worüber die Vernunft allein entscheiden kann, das ist die Beurteilung einer solcherart kategorial geformten „Anschauung“, deren Überprüfung und damit Bewertung. Es scheint ganz unnötig, zwischen einer Kategorienlehre und ihrer Ausarbeitung in einer Tafel zu unterscheiden. Nun soll ja die Kategorientafel für die praktische Vernunft überhaupt und nicht nur für reine praktische Vernunft gelten. Wenn aber die Doppelung in allgemeine und reine praktische Vernunft sich nicht in einer Doppelung der Kategorientafel selber oder einer ihrer Gruppen (Modalität) niederschlägt, und wenn desweiteren die von Kant in Ansehung der Begriffe des Guten und Bösen vorgestellten Kategorien die einzig möglichen sind, so muss diese Doppelung im Schematismus, oder, wie Kant für die praktische Vernunft präzisiert, in der „Typik der praktischen Urteilskraft“ liegen.¹⁴⁰ Um dies zu verdeutlichen, ist es zunächst nötig, sich die Bedeutung des Schematismus und der Schemate innerhalb von Kants theoretischer Philosophie zu vergegenwärtigen. Anschließend können die dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die Typik der praktischen Urteilskraft angewendet werden. Im theoretischen Zusammenhang verleihen Kant zufolge erst die Schemate den Kategorien objektive Realität und damit Bedeutung. Eine Anwendung der Kategorien ohne Schematismus kann daher auch nicht zu objektiver Realität führen (vgl. KrVA 145 f./B 185). Erst sie ermöglichen eigentlich synthetische Urteile a priori, indem sie dafür sorgen, dass Anschauung und Begriff miteinander vermittelt werden. Schemate sind somit Bedingung und Kriterium für den richtigen Gebrauch der Kategorien, sie beugen ihrem Missbrauch in spekulativer Absicht vor (vgl. KrVA 134/B 176). Mit anderen Worten: Am Schematismus entscheidet sich, auf welche Weise die Kategorien verwendet werden. Das Schema dient als Kriterium für die objektive Realität der Verstandeskategorien. In KrV führen die Schemate sodann zu den Grundsätzen des reinen Verstandes als den höchsten möglichen synthetischen Urteilen a priori, die allem Denken zugrunde liegen. Grundsätze entspringen dem Verstand selbst, der nicht nur „Vermögen der Regeln“, sondern auch „Quell der Grundsätze“ ist (KrVA 158 f./
Auch Bacin zufolge findet die Anwendung des Moralgesetzes (des Vernunftbegriffs) nicht schon in den Kategorien, sondern erst in der Typik statt, die ersteren stellen nur „eine Vorstufe zur Anwendung“ dar (Bacin 2001, 137). Allerdings ist er der Auffassung, in der Typik werde „die in jeder Maxime enthaltene Motivation zum Handeln […] nicht beachtet“ (Bacin 2001, 138), weshalb dort auch von Handlungen die Rede sei. Kant betont jedoch explizit, dass gerade nicht die Handlung in der Erscheinung, sondern die ihr zugrundeliegende Regel in der Typik der reinen praktischen Urteilskraft beurteilt wird (vgl. KpV 5:68.27– 69.4).
4.4 Die Bildung praktischer Urteile durch die Kategorien der Freiheit
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B 197 f.). Selbst Naturgesetze, die Notwendigkeit für sich beanspruchen, stehen laut Kant unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur auf besondere Fälle der Erscheinung anwenden. Diese allein also geben den Begriff, der die Bedingung und gleichsam den Exponenten zu einer Regel überhaupt enthält […] (KrV A 159/B 198).
Auch sind Grundsätze für Kant Urteile, die die Gründe anderer Urteile in sich enthalten, selbst aber nicht wieder in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gründen (vgl. Log 9:110.19 – 22). In Bezug auf die Verstandeskategorien bezeichnet Kant die Grundsätze daher auch als „Regeln des objectiven Gebrauchs“ der Kategorien (KrV A 161/B 200). Die Grundsätze des reinen Verstandes befinden somit über den korrekten Gebrauch der Kategorien, während die Schemate deren objektive Realität (Bedeutung) garantieren und hierfür das Kriterium an die Hand geben. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Rolle der Typik der praktischen Urteilskraft besser verstehen. Während die Analytik der Grundsätze der KrV erst auf die transzendentale Ästhetik sowie die Exposition und Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (Kategorien) folgt, musste die KpV mit eben dieser Analytik der Grundsätze der praktischen Vernunft beginnen. Praktische Grundsätze sind demzufolge auf die Bestimmung des Willens durch ein Prinzip bezogen (vgl. KpV 5:19.7 f.). Damit lassen sich für die praktische Vernunft zwei Grundsätze bzw. Prinzipien ausmachen, welche die Regeln für die Anwendung der Kategorien der Freiheit angeben können: Sittlichkeit und Glückseligkeit.¹⁴¹ Unter Voraussetzung der umgekehrten Ordnung „in der Unterabtheilung der Analytik“ der Kritik der praktischen Vernunft im Vergleich zur KrV (KpV 5:16.20 f.) ist es nun folgerichtig, dass auf die Exposition dieser beiden Grundsätze der praktischen Vernunft im allgemeinen die Behandlung der Gegenstände der praktischen Vernunft sowie ihre Konstitution durch die Kategorien der Freiheit (die Begriffe der praktischen Vernunft) folgen. Deren Anwendung auf die „Ästhetik“ bzw. Sinnlichkeit, d. h. die materielle Bestimmung des Willens durch Triebfedern, erfolgt anschließend mittels der Typik der reinen praktischen Urteilskraft. Somit hat im Rahmen der KpV die Typik anzugeben, wie den Kategorien (hier: der Freiheit) objektive Realität Zimmermann identifiziert im Grundsatzkapitel der KpV insgesamt vier praktische Grundsätze: den der Selbstliebe und damit zusammenhängend den Grundsatz der Heteronomie, der die Abhängigkeit der Vernunft von Neigungen bezeichne, die praktischen Gesetze, die Kant unter dem Grundsatz des Sittengesetzes zusammenfasse, sowie das Prinzip der Autonomie, das sich auf das „Selbstvoraussetzungsverhältnis“ der reinen praktischen Vernunft beziehe, welches den Grundsatz der Sittlichkeit „auf den Begriff“ bringe (Zimmermann 2011, 24 f.). Wir wollen uns für unsere Untersuchung mit den beiden von Kant explizit angeführten Grundsätzen zufriedengeben.
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zu verschaffen ist, indem sie die Grundsätze mit den auf die praktische Anschauung bezogenen Kategorien vermittelt. Da es laut Kant gerade keine Anschauung braucht, damit die Kategorien der Freiheit Bedeutung erhalten (vgl. KpV 5:66.6 – 9), geht es bei der reinen praktischen Urteilskraft dann auch nicht um das Schema eines Falls nach Gesetzen, sondern um das Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes selbst […], weil die W i l l e n s b e s t i m m u n g (nicht die Handlung in Beziehung auf ihren Erfolg) durchs Gesetz allein, ohne einen anderen Bestimmungsgrund, den Begriff der Causalität an ganz andere Bedingungen bindet, als diejenige sind, welche die Naturverknüpfung ausmachen (KpV 5:68.35 – 69.4).
Daher spricht Kant nicht vom Schematismus, sondern von der Typik der praktischen Urteilskraft. Das „Schema“ ist hier die Gesetzmäßigkeit selbst, welche sich sowohl in den Naturgesetzen, als auch im Gesetz der Freiheit findet. Ohne auf weitere Anschauung zurückgreifen zu müssen, kann sie die durch die Kategorien konstituierten Maximen mit Bedeutung versehen. Die praktische Anschauung muss nicht selbst noch einmal durch ein „Bild“ mit dem Begriff (des reinen Willens) vermittelt werden, weil die praktische Erkenntnis des Guten und Bösen gar nicht durch diese praktische Anschauung bedingt ist. Sie bezieht sich, im Gegensatz zu den theoretischen Kategorien, auf etwas, das sie selbst hervorbringt und nicht der Anschauung entnimmt: die durch sie selbst konstituierten Maximen, d. h. die Willensgesinnung (vgl. KpV 5:66.3 – 11). Reine praktische Vernunft erkennt (bzw. beurteilt, vgl. KpV 5:57.28 sowie 32 f.) eine Handlung somit anhand der ihr zugrunde liegenden Willensgesinnung, d. h. Maxime, als gut oder böse, indem sie sie mittels reiner praktischer Urteilskraft auf ihre Moralität überprüft. Die Typik der reinen praktischen Urteilskraft bezieht sich damit auf die moralische Triebfeder, die der Bestimmung des Willens zugrunde liegt und die in den Kategorien der Modalität Relevanz erhält. In eben diesem Sinn sind „[d]ie alleinigen Objecte einer praktischen Vernunft […] die vom Guten und Bösen.“ (KpV 5:58.6 f.) Die Regel (das Kriterium) der reinen praktischen Urteilskraft ist eine Variante der sogenannten Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs und lautet entsprechend dem gerade vorgestellten „Schematismus“, d. h. der Typik: „Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetz der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest.“ (KpV 5:69.20 – 23) Durch die Anwendung dieser Regel der Urteilskraft entsteht praktische Erkenntnis (des Guten und Bösen), indem jeder seine eigenen mithilfe der Kategorien der Freiheit konstituierten Maximen auf diese Weise auf ihren moralischen Gehalt hin überprüft. Dies gilt für die reine praktische Urteilskraft.Wie aber verhält es sich mit einem moralisch unbestimmten Gebrauch der praktischen Kategorien? Wie steht es mit
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Maximen, die sich auf eine Idee der Glückseligkeit beziehen und daher empirisch (mit‐)bestimmt sind, in deren Konstitution durch die Kategorien der Freiheit folglich die Beziehung auf das Gefühl mit eingeht? Um diese Frage zu beantworten, können wir wiederum auf den Gebrauch der Urteilskraft im Theoretischen zurückgreifen. Kant unterscheidet in KrV zwischen der allgemeinen und der transzendentalen Logik, wobei die erste „v o n a l l e m I n h a l t e d e r E r k e n n t n i ß abstrahirt“ und daher „gar keine Vorschriften für die Urtheilskraft“ enthält (KrV A 132/B 171).¹⁴² Will sie nun Fälle unter eine Regel subsumieren, so ist sie dafür wieder auf eine Regel angewiesen, was im infiniten Regress endet (vgl. Kapitel 7.4.). Um sich dieses Problems zu entledigen, verweist Kant an dieser Stelle auf die Urteilskraft als Talent, „welches gar nicht belehrt, sondern nur geübt sein will“ sowie auf den „so genannten Mutterwitz[], dessen Mangel keine Schule ersetzen kann“. Es muss das Vermögen, sich ihrer [der Urteilskraft, C.G.] richtig zu bedienen, dem Lehrlinge selbst angehören, und keine Regel, die man ihm in dieser Absicht vorschreiben möchte, ist in Ermangelung einer solchen Naturgabe, vor Mißbrauch sicher (KrV A 133/B 172).
Für die transzendentale Urteilskraft, so führt Kant weiter aus, gilt dies jedoch nicht, da sie vom Inhalt absehe und die Vermittlung von Begriff und Anschauung zur Aufgabe hat. Sie habe „es zu ihrem eigentlichen Geschäfte, die Urtheilskraft, im Gebrauch des reinen Verstandes, durch bestimmte Regeln zu berichtigen und zu sichern.“ (KrV A 135/B 174) Die von Kant im Folgenden erarbeiteten Schemate stellen damit eben diese Vorschriften im Gebrauch der transzendentalen Urteilskraft vor. Übertragen auf die praktische Urteilskraft, gibt die Regel der Typik der reinen praktischen Urteilskraft eben jene Vorschrift an die Hand, um den richtigen Gebrauch der Kategorien zu sichern, d. h. um zu praktischer Erkenntnis des Guten und Bösen zu gelangen. Auch S. Lee stellt diese Parallele zum praktischen Gebrauch der Urteilskraft her. Ihm zufolge ist hier zwischen einem allgemeinen im Gegensatz zu einem moralisch bestimmten Gebrauch der Kategorien zu unterscheiden. Im allgemeinen Gebrauch bleibe etwas unbestimmt (im Theoretischen: die Verteilung von Subjekt und Prädikat), sodass die Willensbildung ohne Rücksicht auf den (moralischen) Bestimmungsgrund vorgenommen werde. Erst der moralische (transzendentale) Gebrauch der Kategorien lege den Bestimmungsgrund fest. S. Lee gibt jedoch kein Kriterium dafür an, woran die Unterscheidung dieser beiden Gebräuche festzumachen wäre und zieht auch nicht die Ich beziehe mich mit dieser Unterscheidung auf S. Lee 2012; siehe auch S. Lee 2008.
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Verbindung zur Typik der Urteilskraft, in deren Gebrauch dann ja gerade der Unterschied zwischen allgemeiner und transzendentaler Logik bestehen müsste. Im Unterschied zu S. Lee meine ich, dass der allgemeine Gebrauch der Kategorien sich nicht so darstellt, dass die Kategorien unabhängig von ihrem Bestimmungsgrund (ihrer Triebfeder) gebraucht werden und erst ein transzendentaler Gebrauch diesen festlegt. Denn auch bei einem Gebrauch der Kategorien der Freiheit, der nicht auf eine moralische Bestimmung des Willens hinausläuft, ist ja der Bestimmungsgrund gegeben, d. h. die Triebfeder bestimmt. Sie bleibt nicht grundsätzlich unbestimmt, sondern sie bleibt durch reine Vernunft unbestimmt. Zudem nehmen, darin ist Zimmermann zuzustimmen, die ersten drei Kategoriengruppen noch gar keinen Bezug auf den Bestimmungsgrund, da sie ohne Bezug auf jegliches Gesetz stattfinden.¹⁴³ Erst in den Modalkategorien wird eine mögliche Triebfeder der Maximen festgelegt. Sofern die Triebfeder der Willensbestimmung im Gefühl liegt, entzieht sie sich der Bestimmung durch reine Vernunft, ohne dadurch jedoch gänzlich unbestimmt zu bleiben. Ein solcher Gebrauch der Kategorien abstrahiert daher vielleicht vom moralischen Bestimmungsgrund (in Bezug auf den Grundsatz der Sittlichkeit), muss aber im Gegenzug einen anderen in Betracht ziehen (in Bezug auf den Grundsatz der Glückseligkeit). Nun dient der moralische Grundsatz in Form der Naturgesetzformel des kategorischen Imperativs als Regel für die Typik der reinen praktischen Urteilskraft, sprich: als Kriterium für die Erkenntnis guter bzw. böser Handlungen. Die empirisch bedingte Maxime muss somit, um Bedeutung zu erlangen, in Hinblick auf etwas anderes schematisiert bzw. typisiert werden. Das aber bedeutet: Sie muss ebenfalls über eine Regel für den Gebrauch der Urteilskraft verfügen können. Denn nur wenn ein solcher Typus angenommen werden kann, auf welchen hin eine Reflexion stattfindet, erhalten auch moralisch unbestimmte Maximen Bedeutung. Da jedoch die Beurteilung einer Handlung, deren Bestimmungsgrund auf das Gefühl zurückgeht, die zugrunde liegende praktische Anschauung, d. h. die Idee der Glückseligkeit, mit einbeziehen muss, um der Maxime objektive Gültigkeit zu verschaffen, muss auch diese Regel in irgend einer Weise auf die Folgen bzw. Wirkungen der Handlung Bezug nehmen können. Das Kriterium für die empirisch bedingte praktische Erkenntnis, die Regel für den in dieser Hinsicht
Wie Zimmermann überzeugend ausführt, finden die ersten drei Kategoriengruppen Anwendung, ohne auf den Bestimmungsgrund der Handlung (Maxime) Rücksicht zu nehmen. Sie sind damit jeder Beurteilung hinsichtlich desselben enthoben. Die Kategorien der Modalität dagegen beziehen sich auf eben diesen Bestimmungsgrund und zeigen den Übergang von Maximen, deren Triebfeder im Gefühl liegen kann (also moralisch unbestimmt ist) zu solchen an, deren Triebfeder durch das moralische Gesetz selbst bestimmt wird (vgl. Zimmermann 2011, 223 f., 238 f., 267, 269 ff.).
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richtigen Gebrauch der Kategorien der Freiheit muss sich auf den Grundsatz der Glückseligkeit beziehen. Die Begriffe Wohl und Übel sind einer praktischen Kategorisierung vorgelagert und können daher, wie bereits angeführt, nicht durch praktische Kategorien zu Erkenntnissen führen. Es handelt sich bei ihnen lediglich um gefühlsmäßige Evaluationen, die selbst einer Kategorisierung, d. h. der Anwendung der praktischen Kategorien bedürfen, um überhaupt zu so etwas wie „Erkenntnissen“ führen zu können. Zimmermann liegt daher durchaus richtig mit der Feststellung, die Begriffe des Wohls und Übels gingen, anders als die Begriffe des Guten und Bösen, der Willensbestimmung (also der Willensbildung) voraus (vgl. Zimmermann 2011, 34). Meines Erachtens folgt daraus jedoch, dass sie dann nicht selbst als Kategorien auf die Willensbildung angewendet werden können, da sie als gefühlsmäßige Evaluation bereits in die praktische Anschauung, in das Mannigfaltige der Begehrungen eingegangen sind. Die Bedeutung der „moralisch unbestimmten und sinnlich bedingten“ Kategorien muss sich daher etwas anderem verdanken, und die Frage lautet: Woraufhin prüft die allgemeine praktische Urteilskraft die durch die Kategorien der Freiheit konstituierten Willensgesinnungen? Da für die Beantwortung dieser Frage und damit auch für die Definition des Typus der (nicht reinen) praktischen Urteilskraft noch weitere Überlegungen nötig sind, muss sie fürs Erste zurückgestellt werden, wird aber im letzten Kapitel (7.5.3) wieder aufgenommen. An dieser Stelle genügt es, gezeigt zu haben, dass eine solche überhaupt denkbar ist.
4.4.4 Der Übergang von sinnlich bedingten zu moralisch bestimmten Kategorien Wie also steht es vor diesem Hintergrund mit dem Übergang von den „moralisch unbestimmten und sinnlich bedingten [Kategorien] zu denen, die, sinnlich unbedingt, bloß durchs moralische Gesetz bestimmt sind“ (KpV 5:66.13 – 15)? Gehen wir die drei Modalkategorien eine nach der anderen durch, um auf diese Weise abschließend die Konstitution praktischer Maximen und damit auch empirischpraktischer Urteile der Klugheit darzulegen. Gleich die erste dieser Kategorien wirft jedoch Rätsel auf. Denn es ist alles andere als eindeutig, was Kant hier eigentlich unter „erlaubt und unerlaubt“ versteht, da er diese Begriffe nicht einheitlich gebraucht. Einerseits verteidigt er in der Metaphysik der Sitten ein moralisches Verständnis, indem „erlaubt“ und „unerlaubt“ dort das moralisch Mögliche bzw. Unmögliche bezeichnen (MdS 6:221.19 – 29, ebenso MdS 6:222.27– 30). Andererseits bezeichnet er in einer Fuß-
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note zur Tafel der Kategorien der Freiheit das Erlaubte und Unerlaubte als das „praktisch-objectiv Mögliche und Unmögliche“ (KpV 5:11.7, kursiv C.G.) und verwendet sie damit explizit in einem nicht-moralischen Sinn.¹⁴⁴ In diesem praktischen Zusammenhang bezieht Kant die erste Modalkategorie offensichtlich auf die problematischen Imperative (der Geschicklichkeit) und grenzt sie ab gegen die Kategorie der Pflicht/des Pflichtwidrigen, welche auf „ein in der Vernunft überhaupt w i r k l i c h liegendes Gesetz“ (KpV 5:11.12 f.) verweist. Kant betont, er habe hier nur „den Unterschied der Imperativen unter problematischem, assertorischem und apodiktischem Bestimmungsgrunde“ (KpV 5:11.19 f.) im Blick gehabt. So legt sein Beispiel denn auch nahe, dass mit erlaubt und unerlaubt eine Regel der Geschicklichkeit gemeint ist, insofern auf eine beliebige Absicht verwiesen wird, die im Rahmen einer entsprechenden „Theorie“ verfolgt wird. Bezieht sich das Prinzip, das die Maxime anleitet, aber auf einen problematischen Imperativ und damit auf einen beliebigen, bereits bestimmten Zweck, so ist, wie schon in Kapitel 1, zu fragen: Nach welchem Prinzip wird der Zweck bestimmt? Unter den von Kant hier angeführten Voraussetzungen handelt es sich nämlich gerade nicht um die Konstituierung einer Willensgesinnung, sondern um die Anweisung einer Handlung nach einem Prinzip, das selbst aus einem beliebigen Zweck folgt, also um die Ausführung einer Absicht. Indem er zugleich die Kategorien des Erlaubten und Unerlaubten als das „praktisch=objectiv Mögliche und Unmögliche“ (KpV 5:11.7) bezeichnet, scheinen damit solche Prinzipien zugrunde liegen zu können, die sich aus einer (mehr oder weniger) objektiv feststellbaren Theorie ergeben, welche die dem Bestimmungsgrund zugrunde gelegten Objekte begrifflich (und d. h. mit einem gewissen Grad an Allgemeinheit) fixieren. Welchen Stellenwert räumt Kant also solchen modal als „erlaubt/unerlaubt“ konstituierten Maximen im praktischen Zusammenhang ein? Eine mögliche Erklärung für die Verbindung von „erlaubt und unerlaubt“ mit „praktisch-objectiv möglich“ wäre die Notwendigkeit, praktische Urteile über das Nützliche angeben zu können. Denn durch (objektive) Kenntnis der Kausalzusammenhänge erlauben sie eine zuverlässige Erkenntnis dessen, was zu tun ist und begründen damit einen (wenn auch unter einer Bedingung gebietenden) Imperativ. Kants Beispiele der „Lösung aller Probleme der Geometrie und Mathematik“ deuten darauf hin. Die Kategorie des Erlaubten und Unerlaubten bedeutete damit diejenige objektive praktische Erkenntnis, welche durch Regeln der Geschicklichkeit angezeigt wird.
Auf diese Diskrepanz in der Bedeutung des Erlaubten/Unerlaubten weist insbesondere Brandt hin (vgl. Brandt 2005, 127 ff.). Auch Puls fasst dieses Kategorienpaar im nicht-moralischen Sinn auf (Puls 2013, 63 f.), ebenso Torralba (2009, 261 ff.). Sullivan vertritt dagegen eine moralische Lesart der Kategorie des Erlaubten und Unerlaubten (Sullivan 1997, 464), wobei er Kants Anmerkung in der Vorrede der KpV jedoch nicht berücksichtigt.
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Wie die bisherigen Ausführungen verdeutlicht haben, würde damit jedoch geradezu fraglich, ob es sich überhaupt um eine praktische Kategorie handelte, denn die damit beurteilten Zweck-Mittel-Verhältnisse sind ja nach Kants eigener Auskunft Sache der theoretischen (technisch-praktischen) Vernunft und reichen somit für die Bestimmung willensorientierender Maximen nicht aus. Zudem ist nicht ersichtlich, wo genau hier das Verhältnis zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen bestimmt wird, sodass daraus ein Interesse entspringen kann. Schließlich müsste die Frage beantwortet werden können, welche Art Typik zur Anwendung käme, ob es sich um eine eigene Typik handeln müsste, oder ob die Kategorie durch die Typik der reinen oder der allgemeinen praktischen Urteilskraft schematisiert bzw. typisiert werden könnte (vgl. Kapitel 7.5.3). Ich möchte eine Variante dieser Deutung vorschlagen, deren Plausibilität sich sogleich zeigen und die sich auch im letzten Kapitel als schlüssig erweisen wird. Ihr zufolge kommt in den als „erlaubt/unerlaubt“ konstituierten Maximen die Beliebigkeit von Zwecken zum Ausdruck, insofern diese zwar in der zuvor gebildeten Idee der Glückseligkeit enthalten sind, jedoch nicht mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken abgeglichen und in Übereinstimmung gebracht werden. Eine Maxime, die nur nach dieser Kategorie modalisiert wird, richtet sich damit auf einen beliebigen, in der Empfindung als angenehm eingestuften Gegenstand, welcher dann, wie auch alle anderen beliebigen Zwecke, mittels Regeln der Geschicklichkeit umgesetzt werden muss. Klugheit tritt damit in ihrer Form als Geschicklichkeit in der Erreichung eines angenehmen Zustandes in Erscheinung.Wie im ersten Kapitel dargestellt wurde, entsprechen Regeln der Klugheit in diesem Fall hypothetischen Imperativen, die sich auf die Ausführung von (als im Gefühl angenehm bewerteten) Zwecken beziehen. In Kauf genommen werden muss bei dieser Interpretation eben dies: dass es sich im Grunde nicht um die Bildung einer Maxime zur Bestimmung eines Zwecks, sondern um die Bedingungen der Ausführung eines solchen handelt. Der Zweck ist in diesem Fall bereits in der Empfindung vorgegeben und lediglich in Beziehung zu einer „summativen“ Idee, einer Normalidee des Glücks gesetzt. Auf diese Weise lässt sich die von Höwing vorgestellte „evaluative Funktion“ des Gefühls mit der Anwendung der Kategorien der Freiheit verbinden. Wie am Ende dieses Abschnitts noch betont werden soll, wird auf diese Weise deutlich, inwiefern tatsächlich alle Handlungen nach Maximen erfolgen, von denen einige jedoch als klug nur in einem eingeschränkten, andere hingegen in einem erweiterten Sinn verstanden werden können. Glückseligkeit würde, unter der Modalität des Erlaubten und Unerlaubten, als eine von vielen anderen Theorien (oder Wissenschaften) betrachtet. Das wiederum steht mit Kants Einteilung in KdU in Übereinstimmung, derzufolge auch die Glückseligkeitslehre zu den technischpraktischen „Wissenschaften“ gehört. Damit bestätigt sich die oben angestellte
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Überlegung: Das Praktisch-Mögliche bezieht sich im Unterschied zum PraktischNotwendigen auf das Technisch-Praktische, muss aber sowohl Geschicklichkeit als auch Klugheit umfassen – welche hier mitgedachte Differenzierung in KdU dann weitestgehend entfällt (vgl. Kapitel 2.1.1). Die unter der Modalkategorie „erlaubt/unerlaubt“ behandelten Maximen können somit in diesem Zusammenhang als „Regeln der Geschicklichkeit“ aufgefasst werden, auch wenn sie sich nicht auf beliebige Zwecke, sondern letztlich auf den einen wirklichen der Glückseligkeit richten. Für diese Lesart spricht auch, dass Kant die Dreiteilung der Praxis in technisch-praktische Geschicklichkeit, pragmatisch-praktische Klugheit und Moral an dieser Stelle ganz offensichtlich intendiert hat. Die nachfolgende Kategorie der Pflicht/des Pflichtwidrigen ist bezogen auf ein „in der Vernunft überhaupt wirklich liegendes Gesetz“. Sie kann sich nicht, wie bisweilen angenommen wird, auf das Prinzip der Glückseligkeit berufen, denn dieses ist ja gerade kein Gesetz und Pflicht kein moralneutraler Begriff.¹⁴⁵ So ist beispielsweise Puls zufolge in der Kategorie der Pflicht schon eine Struktur enthalten […], die trotz grundsätzlicher Differenz auch für moralische Pflichten gilt: Auch die wirkliche, aber nicht genuin moralische Verpflichtung enthält ein normatives Moment – dass wir nämlich etwas (je Spezifisches unter den gegebenen Umständen) wirklich sollen, ohne dass dabei schon an den vollen Begriff von Normativität, die Freiheit als Autonomie, gedacht werden müsste (Puls 2013, 65).¹⁴⁶
Damit ist die Gelegenheit gegeben, diese auch von mir an anderer Stelle vertretene Auffassung von Pflicht im Sinne einer nicht-moralischen Verpflichtung zumindest partiell zu revidieren (vgl. Graband 2005, 63). Dort wird angenommen, Pflicht stelle eine Verbindlichkeit überhaupt dar, z. B. in Form einer Pflicht des Arztes, Lehrers etc. Die nun im Rahmen der vorliegenden Arbeit vorgestellte Interpretation wird in ihrem Fortgang zeigen, dass und weshalb dies nur bedingt zutreffen kann. Bedingt (und partielle Revidierung) deshalb, weil auch mit einer moralischen Pflicht noch nichts über den Bestimmungsgrund (die Triebfeder) zur Einhaltung einer solchen oder zum Verstoß gegen eine solche gesagt ist. Puls reagiert damit auf das von Beck angeführte „unauflösliche Interpretationsproblem“, da Kant auf der einen Seite die Kategorie der Pflicht und des Pflichtwidrigen mit den assertorischen Imperativen (also denen der Klugheit) in Verbindung bringe, den Begriff der Pflicht aber moralisch definiere (vgl. Beck 1985, 147 f.). Puls stützt seine Interpretation auf dieselbe Stelle und versteht das von Kant angesprochene „wirklich in der Vernunft liegende Gesetz“, auf das sich diese zweite Modalkategorie bezieht, als ein nicht nur moralisches Gesetz. Ähnlich Torralba, der durch den Bezug auf die assertorischen Imperative die Kategorie der Pflicht und des Pflichtwidrigen als bedingte Pflicht in Bezug auf Glückseligkeit erklärt mit der Bemerkung, die hier vorliegende Notwendigkeit müsse nicht weiter erklärt werden (Torralba 2009, 204). Zudem seien auch moralische Pflichten mitgemeint, die jedoch unabhängig von ihrer den Willen als Triebfeder bestimmenden Eigenschaft betrachtet würden.
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Dann aber hätte Kant sicherlich nicht von einem wirklich in der Vernunft liegenden Gesetz gesprochen, und nicht ohne Grund führt Puls als einziges Beispiel eine Rechtspflicht an, die auch er zugleich als moralische Pflicht auszeichnet, da es Pflicht sei, dem Recht zu gehorchen (vgl. Puls 2013, 66). Hier liegt aber der Schlüssel zum Verständnis dieser Kategorie: Sie ist zwar als moralisch zu verstehen, aber noch nicht in Bezug auf die Moralität der zugrunde liegenden Gesinnung. Mit anderen Worten: Eine pflichtgemäße oder pflichtwidrige Maxime bezieht sich auf jene wirklich in der Vernunft liegenden, aus dem Moralgesetz entspringenden Zwecke, die Pflichten, sie beinhaltet jedoch noch nicht das Handeln aus Pflicht. Gehandelt wird in Bezug auf, nicht aber unbedingt auch aus Pflicht. Dieser Übergang zu einer genuin moralischen Willensgesinnung erfolgt erst innerhalb der letzten Kategorie, d. h. im Übergang von vollkommenen zu unvollkommenen Pflichten. Ich werde auch diesen Faden später wieder aufnehmen (vgl. Kapitel 7.1). Mit der zitierten Fußnote aus der Vorrede zur KpV steht also fest, dass die beiden letzten Modalkategorien auf das wirklich in der Vernunft liegende Gesetz (der Moral und des Rechts) bezogen sind. Dabei wird dieses im einen Fall als bloß wirklich dargestellt, also unabhängig davon, ob das durch sie konstituierte Prinzip auch tatsächlich seiner Form nach den Willen bestimmt und damit aus Pflicht geschieht. Im anderen Fall dagegen wird das wirklich in der Vernunft liegende Gesetz zugleich als apodiktisch gebietendes vorgestellt und gefordert, dass bei der Ausführung einer vollkommenen oder unvollkommenen Pflicht der Wille auch durch die Form des Sittengesetzes bestimmt werde. Deutlicher hätte Kant den hier explizierten Zusammenhang zwischen Klugheit und Willensbestimmung nach Prinzipien nicht machen können: Die Parallelisierung der drei Modalkategorien mit den drei Formen von Imperativen (von denen sich die assertorischen als „falsche Imperative“ erwiesen hatten), weist der Klugheit ihren systematischen Ort zwischen Geschicklichkeit und Sittlichkeit an, indem diese als auf die Pflichten bezogen verstanden wird. Zugleich wird damit deutlich, dass auch hier mit der Verhältnisbestimmung von Gefühl und Begehrungsvermögen eine Verhältnisbestimmung der beiden Grundsätze der praktischen Vernunft einhergeht. An dieser Stelle kann der Bogen gespannt werden zu den im vorigen Kapitel benannten „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“, mit welchen die ästhetisch-pathologischen Empfindungen – d. h. unseren Erkenntnissen zufolge: die praktische Anschauung – in Übereinstimmung zu bringen sind, damit überhaupt von einer Reflexion auf die Gemütsvermögen und somit auch von Klugheit im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Wie dort bereits vermutet wurde, stehen diese Zwecke in engem Zusammenhang mit den Pflichten, die sich aus dem Moralgesetz ergeben, d. h. sowohl mit den Rechts- als auch mit den Tugend-
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pflichten. Im siebten Kapitel wird sich noch deutlicher zeigen, dass „wesentliche und allgemeine Zwecke“, die jeden Menschen notwendig interessieren, solche sein müssen, die, für den Bereich der Tugendlehre, mit den Pflichten gegen sich selbst (eigene Vollkommenheit) sowie gegen andere (fremde Glückseligkeit) in Übereinstimmung zu bringen sind. Bereits an dieser Stelle wird jedoch ersichtlich, dass auch eine Typik der praktischen Vernunft überhaupt, welche (noch) nicht die Bestimmungsgründe (Triebfedern) der Maximen berücksichtigt, ihre Reflexion auf diese „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“ zu richten hat. Die Kategorien der Freiheit leisten also tatsächlich das, was die theoretischen nicht vermochten: Sie verwandeln ästhetisch-pathologische Urteile in Form einer bloßen praktischen Anschauung, eines Mannigfaltigen der Begehrungen in praktische Urteile, d. h. Maximen. Voraussetzung für das Gelingen dieses Unterfangens ist es jedoch, dass zur kategorialen Maximenbildung eine Typik der Urteilskraft hinzutritt, welche die eigentliche praktische Erkenntnisleistung garantiert. Dabei trat zutage, dass solche praktischen Urteile nicht notwendig Erkenntnisurteile sein müssen, sondern dass sie ebenfalls auf eine besondere Form der (Welt‐) Kenntnis, der anthropologischen Kenntnis des Menschen als „Theorie der Klugheit“ oder „Theorie der Glückseligkeit“ Bezug nehmen können. Entsprechend muss zwischen einer Typik der reinen und einer Typik der allgemeinen praktischen Urteilskraft unterschieden werden. Im Anschluss an das zweite Kapitel kann gefolgert werden, dass es wiederum darauf ankommt, wie der Mensch selbst diese „Theorie“ gestaltet, d. h. in Bezug worauf er die Typisierung (Reflexion, Beurteilung) vornimmt. Je nachdem, ob dabei eine „Normal-“ oder eine „Vernunftidee“ der Glückseligkeit ins Spiel kommt, kann der Bezug zu den wesentlichen und allgemeinen Zwecken der Vernunft hergestellt werden, kann also, unabhängig von einer moralischen Beurteilung, von einer Beurteilung nach Maßstäben der Klugheit gesprochen werden. Zusammenfassend dürfen wir Brandts Frage: „Wo gibt es die begrifflichen Instrumente, diese [die empirisch bedingte, C.G.] Handlung als Handlung zu fassen?“ (Brandt 2005, 127; vgl. Brandt 2004, 386 f.) folgendermaßen beantworten: Es sind die Kategorien der Freiheit, die auch die durch empirische Triebfedern bedingten Handlungen konstituieren, insofern sie aufgrund von Maximen erfolgen. Der anhand der ästhetisch-pathologischen Wahrnehmungsurteile festgestellte Widerspruch, demzufolge solche Urteile weder unmittelbar, weil mit einem Interesse verbunden, noch eigentlich praktisch, weil durch Kant als ästhetisch bezeichnet, wurden, kann auf diese Weise gelöst werden: Ästhetisch-pathologische Urteile als Formen der nicht-schematisierten Wahrnehmung geben das Material ab für eine praktische Beurteilung. Sie tun dies, indem sie eingehen in eine (ästhetische) Idee der Glückseligkeit, welche als praktische Anschauung der Konstituierung von Maximen und damit der Herausbildung eines Interesses an-
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hand der Kategorien zugrunde liegt. Es folgte daher auch, dass die zunächst leer gebliebene Stelle in der Aufstellung der Urteilsarten nicht durch empirischpraktische Urteile zu füllen ist, sondern dass tatsächlich die ästhetisch-pathologischen Urteile der Anwendung der praktischen Kategorien zugrunde liegen. Es wurde aber auch deutlich, dass aufgrund der besonderen Aufgabe der praktischen Kategorien die ansonsten vorausgehende empirische Urteilsform erst durch diese mit hervorgebracht wird. Anders als die theoretischen Erkenntnisurteile teilen sich die durch die Kategorien der Freiheit und durch die Typik der praktischen Urteilskraft „schematisierten“ Urteile damit noch einmal ein in empirisch-praktische Urteile über das Nützliche in Bezug auf das Gefühl (das Angenehme), empirisch-praktische Urteile der Klugheit, bei denen die Beziehung auf das Gefühl anhand der Kategorie der Pflicht und des Pflichtwidrigen noch einmal mit den wesentlichen und allgemeinen Zwecke abgeglichen wird, und schließlich die reinen praktischen Urteile der Moral. Die Rekonstruktion genuin empirischpraktischer Urteile (der Klugheit) ist damit abgeschlossen.
5 Reflexion und Charakter als Denkungsart Das vierte Kapitel hat verdeutlicht, wie die Kategorien der Freiheit in ihrer ordnenden Funktion auf die Herausbildung derjenigen Prinzipien gerichtet sind, die das ein praktisches Interesse begründende Verhältnis zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen und damit auch zur Vernunft „regeln“. Es wurde deutlich, dass durch Anwendung dieser praktischen Kategorien der Stellenwert empirischpraktischer Vernunft bestimmt werden kann. Im Gegensatz zu bloß ästhetischpathologischen Urteilen vergleichen empirisch-praktische nicht nur die gegebenen Vorstellungen (Empfindungen, Wahrnehmungen) im Gefühl und damit in Bezug auf den Zustand des Subjekts. Vielmehr stellen sie durch den Akt des InÜbereinstimmung-Bringens der in der Idee der Glückseligkeit gegebenen empirischen Zwecke mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zugleich ein bestimmtes Verhältnis der für das Handeln und die Willensbestimmung relevanten Erkenntnisvermögen her. Um zu verstehen, wie die Anwendung der Kategorien auf die Wahrnehmung (das Mannigfaltige der Begehrungen) erfolgt, ist ein Blick zu werfen auf die dafür notwendige Tätigkeit der Urteilskraft. Zugleich sind wir damit auf den Schematismus der praktischen Urteilskraft (ihre Typik) verwiesen. In Bezug auf die theoretischen Urteile klang an, dass die Tätigkeit des Vergleichens der Vorstellungen per Assoziation und mittels der (reproduktiven) Einbildungskraft mit der Tätigkeit der Reflexion verwandt ist und daher beide leicht zu verwechseln sind. Longuenesse zufolge kommt es bei der Unterscheidung von Vergleichen und Reflektieren auf den Unterschied dessen an, was da verglichen wird (vgl. Longuenesse 1998, 113, Fn. 22). Zum Ende dieses Abschnitts werde ich dafür argumentieren, dass die eigentliche Fähigkeit der Klugheit darin besteht, dieses Verhältnis in einem ganz bestimmten Sinn als angemessen zu bestimmen. Im Folgenden soll zunächst diese für Klugheit relevante Reflexion präzisiert werden (5.1) sowie anschließend Kants Erläuterungen zum Charakter als Denkungsart hierfür fruchtbar gemacht werden (5.2).
5.1 Urteilskraft als Reflexion und Talent Zu Beginn der Untersuchung wurden im Rückgriff auf Kants Gemeinspruch Theorie und Praxis voneinander unterschieden, indem Theorie als ein „Ensemble“ von allgemeinen Prinzipien vorgestellt wurde, das auch in Abstraktion von seiner Anwendung auf das Handeln Gültigkeit hat. Praxis hingegen bezeichnete dasjenige Handeln, das sich eben auf solche in einer Theorie vorgestellte Prinzipien beruft, um an ihnen das Handeln (bzw. die Bestimmung des Willens) zu orien-
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tieren. Besteht aber nun Praxis in einem Handeln nach allgemeinen Prinzipien, und heißt Theorie jedes „Ensemble“, das solche allgemeinen Prinzipien enthält, so muss es auch einen Übergang zwischen beiden geben, der etwas über die Anwendung dieser allgemeinen Prinzipien auf Handlungen, also über ihre Ausübung in der Praxis aussagt. Dieser Übergang vom Bereich der Theorie zu dem der Praxis ist der Urteilskraft zugeordnet, denn zu dem Verstandesbegriffe, welcher die Regel enthält, muß ein Actus der Urtheilskraft hinzukommen, wodurch der Praktiker unterscheidet, ob etwas der Fall der Regel sei oder nicht […] (Gemeinspruch 8:275.11– 13).
Diese Urteilskraft aber ist wiederum nicht durch Regeln angeleitet, denn wäre sie dies, so müsste es für diese ihre Anwendung der Regel (des allgemeinen Prinzips der Theorie) auf den einzelnen Fall (in der Handlung) wiederum eine Regel geben etc., so dass man in einen infiniten Regress verfallen müsste. Auf dieses „Paradox des Regelfolgens“ hat Wittgenstein hingewiesen (vgl.Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 309 ff.: §§ 140 ff.), und es wird im siebten Kapitel ausführlicher erläutert (vgl. 7.4). An der genannten Stelle bezeichnet Kant die Urteilskraft nun aber auch (wie schon in KrV) als eine „Naturgabe“ (Gemeinspruch 8:275.19 f.): Es kann demnach durchaus brillante Theoretiker geben, die die Prinzipien ihres Faches perfekt beherrschen, aber dennoch nicht in der Lage sind, eine mit diesen Prinzipien verknüpfte Praxis auszuüben, weil es ihnen an Urteilskraft mangelt. Als Beispiele dienen ihm der Arzt und der Rechtsgelehrte. Ein weiterer Mangel in der Anwendung auf die Praxis, also ihrer Ausübung in Handlungen, kann laut Kant darin bestehen, dass es an Fachwissen, also an Theorie (laut Kant „Prämissen“: Gemeinspruch 8:275.20 f.) mangelt. Dass die Theorie in einem solchen Fall nicht „zur Praxis taugte“ liegt dann aber keineswegs an der Theorie selbst, sondern vielmehr daran, dass der Theoretiker als angehender Praktiker sich „durch Versuche und Erfahrungen“ (Gemeinspruch 8:275.22) neue Regeln hätte abstrahieren sollen. Die Theorie ist deshalb doch „wahre Theorie“, auch wenn die betreffende Person nicht in der Lage ist, sie „als Lehrer in allgemeinen Sätzen systematisch vorzutragen“ (Gemeinspruch 8:275.28 f.). Eine Wissenschaft auch praktisch zu beherrschen ist demnach nur möglich, wenn auch die Theorie beherrscht und nicht bloß „in Versuchen und Erfahrungen“ herumgetappt wird (Gemeinspruch 8:276.4).¹⁴⁷ Kant nennt denn auch denjenigen einen „Klügling“ (Gemeinspruch 8:276.11), der zwar die Theorie und ihre Bedeutung für die Praxis (Schule) zugibt, zugleich
Beide hier angeführte Mängel in der Anwendung von Regeln in der Praxis finden sich auch an der bereits angeführten Stelle der KrV (vgl. KrV A 133/B 172 sowie Kapitel 4.4).
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aber behauptet, die anerkannte Theorie ließe sich in der Praxis gar nicht anwenden, sie beruhe doch nur auf „leeren Idealen und philosophischen Träumen“ (Gemeinspruch 8:276.14).¹⁴⁸ Er unterscheidet diesen vom Unwissenden, der meint, eine Theorie sei für die Praxis überhaupt unwichtig und ganz und gar entbehrlich. Interessant ist hier die polemisch-abwertende Bezeichnung „Klügling“, die ja besagt, dass jemand sich für besonders klug hält, dies aber gerade nicht ist. Demnach ist es eigentlich unklug zu meinen, eine Theorie könne gar nicht auf die Praxis angewendet werden, diese komme auch ohne allgemeine Prinzipien aus bzw. benötige Prinzipien anderer Art als die im Rahmen der Theorie zur Verfügung stehenden. Unklug zu nennen ist somit derjenige, der meint, auf Urteilskraft, nämlich auf die Anwendung von allgemeinen Regeln auf Handlungen, verzichten zu können. Im Umkehrschluss ist Klugheit damit nichts anderes als der angemessene Gebrauch der Urteilskraft, insofern sie zwischen Theorie und Praxis vermittelt. Klugheit bedeutet den Gebrauch der Urteilskraft, insofern diese zuständig ist für die Anwendung allgemeiner Regeln, und zwar sowohl auf Handlungen, als auch auf Maximen (den Willen). Klugheit deckt damit jenen Bereich von Handlungen ab, die nach gewissen allgemeinen Regeln, also nach Maximen, erfolgen. Sie bezieht sich auf jene Praxis, die mehr meint als „jede Hantierung“. Diesen Zusammenhang von Klugheit und Urteilskraft sieht auch Brandt und bemerkt mit Blick auf die erste Kritik, wo es heißt: „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.“ (KrV A 133/B 172) Brandt folgert daraus: Wenn der Mangel an Urteilskraft eigentlich Dummheit ist und Dummheit eigentlich der Mangel an Klugheit, müssten Urteilskraft und Klugheit die Neigung haben, identisch zu sein (Brandt 2005, 119).
Was also, so ist zu fragen, tut genau Urteilskraft, wenn sie es ermöglicht, dass eine „Theorie“, ein „Ensemble von Regeln“ auf Praxis angewendet, d. h. praktisch wird? Wie ist sie zu bestimmen, und in welchem Verhältnis steht sie in diesem Sinne zur Klugheit? Ich werde diese Fragen zunächst anhand des Verhältnisses zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft erörtern (5.1.1), um anschließend Klugheit als Verhältnisbestimmung der Erkenntnisvermögen untereinander zu bestimmen (5.1.2). Abschließend soll ein Vergleich zwischen dem hier rekonstruierten Begriff der Klugheit und Aristoteles’ phronesis angestellt werden (5.1.3).
Vgl. Anth 7:198.31– 33: „Klügeln ist nicht Verstand haben, und wie Christina von Schweden Maximen zur Schau aufstellen, gegen welche doch ihre That im Widerspruche ist, heißt nicht vernünftig sein.“
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5.1.1 Reflexion: das Verhältnis von bestimmender und reflektierender Urteilskraft Es ist unbestritten, dass zur Anwendung von Regeln auf konkrete Situationen Urteilskraft gefragt ist. Offen bleibt jedoch die Frage, welche Art der Urteilskraft dabei zur Anwendung kommt, denn Kant unterscheidet ja bekanntlich die bestimmende von der reflektierenden Urteilskraft: Urtheilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Princip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urtheilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch wenn sie als transcendentale Urtheilskraft a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinem subsumiert werden kann) b e s t i m m e n d . Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urtheilskraft bloß r e f l e c t i r e n d (KdU 5:179,19 – 26; vgl. Anth 7:199.7– 9 sowie KdU EE 20:211.8 – 18.).
Um aber ihr Verhältnis näher zu benennen, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass Kant mit dem Begriff der „reflektierenden Urteilskraft“ auf die Tradition zurückgreift (vgl. Liedtke 1964, 133 ff.). Cecchinato bemerkt, Kant übernehme das Verständnis des juridischen Urteils (juridicum) im frühen 18. Jahrhundert und fasse es entsprechend auf im Sinne eines „Vergleichens“ und „Vermittelns“ (Cecchinato 2008, 71; vgl. Mertens 1975, 94). Um zu einem (juridischen) Urteil zu kommen, müssten die in Frage stehenden Elemente miteinander verglichen werden, um sodann auch vermittelbar zu werden. Cecchinato hält es daher für problematisch, reine praktische Urteilskraft als Frage der Anwendung des Moralgesetzes auf das empirische Handeln und sie damit in erster Linie als subsumierend und bestimmend zu verstehen (so z. B. Höffe 1990 und Torralba 2009, aber auch Mayer 2006, die jedoch die Problematik der Anwendung anders fasst). Cecchinato schlägt im Gegenzug vor, Kants reine praktische Urteilskraft als diejenige Fähigkeit zu sehen, die in der juridischen Tradition des frühen 18. Jahrhunderts als judicare, als Trennen und Vermitteln „eine grundlegende Begabung des menschlichen Gemüts“ darstellt (Cecchinato 2008, 71).¹⁴⁹ Reine praktische Urteilskraft hat demnach die Aufgabe, eine Analogie herzustellen „zwischen zwei formalen Verhältnissen“, d. h. „zwischen der Universalität und Notwendigkeit des Naturgesetzes und der Universalität und Notwendigkeit, womit unser Wille unsere Maxime bestimmt.“ (Cecchinato 2008, 80) Das Herstellen einer
Auch Mertens verweist auf den Einfluss der Urteilskraft der Wolffschen Schule auf Kant, geht aber nicht näher darauf ein (vgl. Mertens 1975, 94, Fn., mit weiterführender Literatur).
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Analogie aber ist nicht ein Akt des Bestimmens, der Subsumtion, sondern wesentlich der Reflexion. Daher gilt: Der Vergleich, welchen die Urteilskraft in beiden Fällen [der Darstellung von etwas außerhalb der empirischen Erfahrung in Form der Kausalität der Freiheit und des sittlich Guten als durch das Schöne symbolisiert, C.G.] zwischen den Gliedern der Analogie ausübt, bringt den ursprünglichen Charakter der Urteilskraft als judicium ans Licht, nämlich als Vermögen zu unterscheiden und – unmittelbar davon – zu vermitteln.“ (Cecchinato 2008, 81)¹⁵⁰
In diesem Sinne stellt auch Mertens bereits für die theoretische Philosophie Kants fest: Wenn Kant also die Urteilskraft reflektierend nennt, so schreibt er ihr damit eine doppelte Aufgabe im Hinblick auf das Besondere zu: empirische Begriffsbildung und Systematisierung der Begriffe nach dem Grad der Allgemeinheit und des wachsenden Umfangs. Nicht mit der Anwendung reiner Allgemeinvorstellungen (Begriffen a priori) wie die bestimmende hat sie es zu tun, sondern mit Vorstellungen vom konkreten Einzelnen (Anschauungen), wobei sie diese hinsichtlich ihrer besonderen Momente vergleichen (‚zusammenhalten‘) muss, um auch sie zur Einheit unter einem Begriff zu bringen. Das Besondere wird von der reflektierenden Urteilskraft als ‚Fall‘ der Regel oder des Gesetzes begriffen, die bestimmende sucht zum Begriff das ‚Beispiel‘ in der Anschauung. Beide Verfahren sind übereinstimmend in ihrer Funktion auf ein Prinzip angewiesen (Mertens 1975, 96).
Mertens betont, Kants Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft sei nur bedingt haltbar, bestimmende Urteilskraft sei „in der Reflexion zugleich bestimmend, Subsumtion und Reflexion verschränken sich ineinander.“ (Mertens 1975, 98 f.) Ähnlich konstatiert Riedel, dass die heute viel diskutierte Frage nach der Anwendung des Sittengesetzes auf konkrete Fälle, also Handlungen, sich zwar zumeist „am Leitfaden ihrer [der Maxime, C.G.] Verallgemeinerbarkeit (nach dem Satz vom Widerspruch)“ vollziehe. Sie gelte „aber im Grunde der Frage, ob sie sich zur allgemeinen Gesetzgebung für dergleichen Willensmaximen ‚qualifiziere‘“. Es handle sich um eine „Unterscheidung zwischen subjektiv gültiger Maxime und objektiv gültigem Gesetz“, bei der verglichen würde, „ob etwas, was Fall der Maxime ist […], zugleich der Fall eines Gesetzes sein kann.“ Dies wiederum sei eine Frage der Urteilskraft, „die nach der Terminologie der juristischen Hermeneutik die ‚Qualifikation‘ einer Handlungsweise […] als ‚moralisch möglich‘ (= erlaubt)
Vgl. Kants Kennzeichnung der Urteilskraft mit dem in Klammern zugesetzten lateinischen Ausdruck iudicium in Anth 7:199.9.
5.1 Urteilskraft als Reflexion und Talent
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oder ‚unmöglich‘ (= unerlaubt) vornimmt.“ (Riedel 1989, 111)¹⁵¹ Und auch Recki bezweifelt (unter Verweis auf Beck 1974, 282), dass die Urteilskraft im moralischen Urteil allein als bestimmende, subsumierende am Werk sei, auch wenn das Urteil über etwas als Gutes oder Böses durchaus als „Subsumtion eines Besonderen unter einen vorgegebenen Begriff gleichwie ein Akt der ‚Erkenntnis‘ der bestimmenden Urteilskraft zuzuschreiben“ sei. „[V]or allem stellt sich die Frage, ob im problematischen Vollzug der praktischen Selbstbestimmung nicht auch eine Form der Reflexion vorliegt.“ (Recki 2001, 243) Torralba schließlich stellt für die neuere Kantforschung zusammenfassend fest, diese habe als die den unterschiedlichen Formen der Urteilskraft (theoretisch, ästhetisch, moralisch, teleologisch) zugrundeliegende, gemeinsame Funktion die Reflexion identifiziert: „Thus reflection would be the fundamental – although not always explicit – activity for any act of judging.“ (Torralba 2009, 425, Fn. 5, mit Verweis u. a. auf Wieland 2001 und Longuenesse 1998) Aufgrund der strengen Trennung des technisch-praktischen vom moralisch-praktischen Bereich ordnet Torralba ersterem die allgemeine praktische Urteilskraft, dem letzteren hingegen die reine praktische Urteilskraft zu (Torralba 2009, 427 f., Fn. 11). Mit Henrich können wir festhalten: Reflection belongs (together with attention) to the most elementary employments of the intellect. It is a form of knowledge that intrinsically accompanies the operations of the mind and helps to keep them within their destinctive boundaries (Henrich 1992, 39).
Dabei ist es auch für die folgenden Überlegungen wichtig, zwischen dieser grundlegenden Fähigkeit der Reflexion und der unter einem Prinzip a priori der Zweckmäßigkeit reflektierenden Urteilskraft zu unterscheiden, da letztere, wie Kant betont, sagt, „wie geurtheilt werden soll“ (KdU 5:182.30), erstere jedoch beschreibt, „was geschieht, d. i. nach welcher Regel unsere Erkenntnißkräfte ihr Spiel wirklich treiben, und wie geurtheilt wird“ (KdU 5:182.28 – 30). Entsprechend betont Henrich zu Recht den Unterschied zwischen der elementaren Funktion der Reflexion und der der reflektierenden Urteilskraft (vgl. Henrich 1992, 39, siehe auch Kneller 2007, 3, Fn. mit Verweis auf Allison 2001, 14 ff.) Entscheidend ist, dass
Auch Kaulbach verweist auf den Unterschied der Urteilskraft im Rechtsbereich (Subsumtion von „empirisch besonderen Verhaltensweisen“ unter „allgemeine Handlungsbilder als Normen des Verhaltens“) zur moralischen Urteilskraft, deren Aufgabe es nicht sei, „ein empirisch gegebenes, besonderes Handlungsbild unter ein allgemeines Schema zu subsumieren, sondern einen sich in einer Handlungsgeschichte zeigenden Charakter als Fall einer allgemeinen Struktur praktischen Seins zu erkennen und anzusprechen.“ (Kaulbach 1976, 404)
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auch das tatsächliche Urteilen als bestimmende Urteilskraft nicht ohne einen Akt der Reflexion auskommt. Die Hervorhebung des reflektierenden Moments der Urteilskraft als Vergleichen und Vermitteln zeigt für moralisch-praktische Urteile zunächst und ganz wesentlich, dass die sogenannte „Anwendung“ des Gesetzes auf konkrete Fälle nicht in erster Linie als Frage der Subsumtion des konkreten Falles (einer möglichen Maxime) unter die allgemeine Regel (das Sittengesetz) verstanden werden sollte.Vielmehr verläuft sie in Form eines Abwägens, eines Beurteilungsprozesses, in dem beide Teile (also zwei Handlungen, die je unter einer Maxime bzw. unter einem Gesetz stehen) als Fall einer Regel ins Verhältnis zueinander gesetzt (in eine Analogie gebracht) und miteinander verglichen werden, um ein Urteil darüber zu fällen, ob diese Analogie stimmig ist, d. h. ob ein bereits subsumierter Fall (eine Handlung nach einer subjektiven Maxime) zugleich ein anderweitig subsumierter Fall sein könne (eine Handlung nach einem Gesetz), sodass die subjektive Maxime zugleich objektives Gesetz sei.¹⁵² Der eigentliche Akt der reinen praktischen Urteilskraft (wie Kant ihn in der Typik der reinen praktischen Urteilskraft vorstellt) als „Anwendung“ des Moralgesetzes auf die subjektiven Maximen des Subjekts besteht daher weniger in der Subsumtion eines konkreten Falls (einer Handlung oder Maxime) unter ein Gesetz, sondern vielmehr in der Reflexion darüber, ob zwei Arten der Subsumtion analog zueinander stehen. Im Ergebnis dieser Reflexion steht dann das Urteil, ob die vom Subjekt angenommene Maxime nur legal oder auch moralisch, ob sie erlaubt oder verboten ist.¹⁵³ Zum einen lassen sich die beiden von Kant unterschiedenen Aspekte der bestimmenen und reflektierenden Urteilskraft daher in Wahrheit gar nicht so streng auseinander halten, wie er meint und mit seiner Definition nahelegt. Zum anderen stellt sich jedoch die Frage, wie zumindest die Subsumtion der Situation unter eine Maxime überhaupt, wie also eine Regel (die dann mithilfe der reinen praktischen Urteilskraft mit der Universalität eines Naturgesetzes verglichen wird) zustande kommt. Wo liegt der Vergleichspunkt bei der Bildung nicht-moralischer, also bloß subjektiver Maximen? Kann es auch für sie eine Typik der praktischen Urteilskraft geben? Wie erfolgt die Subsumtion der Situation unter die Regel, die dann erst mit dem Naturgesetz zu vergleichen und evtl. zu vermitteln ist? Anders gesagt: Worauf genau reflektiert die Urteilskraft bei der Herausbildung einer zu-
Ebendies besagt ja für Kant der Begriff der Analogie: ein Vergleich zweier Elemente, die in ihren Verhältnissen übereinstimmen (vgl. KdU 5:352.8 ff.). Lehmann betrachtet in diesem Sinne die reflektierende Urteilskraft gerade in Bezug auf ihre ästhetische Funktion nicht nur als „Subsumtionstechnik“, sondern vor allem als „Inventionstechnik“: „Die Urteilskraft, allgemein die Fähigkeit, sich der ‚Regeln‘ richtig zu bedienen, ist als reflektierende Urteilskraft suchend, findend und erfindend.“ (Lehmann 1969, 291)
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nächst (noch) gar nicht durch das Moralgesetz bestimmten Maxime? Wir müssen uns einer Antwort nach und nach über die Ausarbeitung des Begriffs der Klugheit annähern und kommen erst zum Ende des siebten Kapitels zu einem konkreten Vorschlag. Vor dem Hintergrund der bisherigen Untersuchung muss für die Reflexion in Bezug auf die Klugheit nun folgende Unterscheidung getroffen werden: Erstens beinhaltet sie das Element des Entwerfens einer Idee der Glückseligkeit überhaupt, wofür, wie wir sahen, Einbildungskraft und Verstand zuständig sind. Hierzu gehört, dass es in der Idee der Glückseligkeit keine Widersprüche in der Ausführung gibt, dass also die einzelnen Elemente (Zwecke) sich in ihrer Verwirklichung nicht gegenseitig ausschließen, und dass sie zudem überhaupt realisierbar sind, und zwar mit den eigenen Kräften. Dies ist die Beurteilung der Idee der Glückseligkeit im Verhältnis auf die Vernunft im Sinne eines Vermögens der Beurteilung des Verhältnisses von Mitteln und Zwecken: als Verstand.¹⁵⁴ Zweitens ist diese entworfene Idee in ihrer möglichen Wirkung auf das Gefühl zu beurteilen, d. h. auf den sinnlichen Zustand. Dies ist Aufgabe der reproduktiven Einbildungskraft unter Bezugnahme auf vergangene Erfahrungen. Drittens aber, und hier liegt das eigentlich reflektierende Moment (im Unterschied zum bloß Vorstellungen oder Empfindungen vergleichenden), muss die kluge Beurteilung einer möglichen Handlung das Verhältnis der diese konstituierenden Maxime zu jenen wesentlichen und allgemeinen Zwecken beinhalten, d. h. in Bezug gesetzt werden zu einem wirklich in der Vernunft liegenden Gesetz. Zugleich erweist sich erst durch diesen hinzukommenden Akt der Reflexion die gebildete Idee der Glückseligkeit (die das Ergebnis der Beurteilung in sich aufzunehmen hat) als eine „Vernunftidee“. In diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Kant in der Anthropologie schreibt: Überhaupt ist es nicht die Stärke eines gewissen Gefühls, welche den Zustand des Affects ausmacht, sondern der Mangel der Überlegung, dieses Gefühl mit der Summe aller Gefühle (der Lust oder Unlust) in seinem Zustande zu vergleichen (Anth 7:254.14– 17, kursiv C.G.).
Erst durch die Reflexion wird der Bezug hergestellt zwischen dem Gefühl der Lust und Unlust und dem Begehrungsvermögen. Sie muss über den Vergleich der
Wobei, wie wir gesehen haben, die Kenntnis von Kausalverhältnissen der Natur nicht identisch ist mit den objektiven Prinzipien, nach denen der Wille sich zum Handeln bestimmt (wie z. B. Bittner meint) und die (wie z. B. Fischer meint) als Regeln der Geschicklichkeit mit der Bildung von Ratschlägen der Klugheit verbunden werden. Vielmehr werden diese naturkausalen Kenntnisse bei der Bildung von Maximen mitberücksichtigt, aber ohne dass sie deshalb schon gleich als Regeln der Geschicklichkeit formuliert wären.
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Wahrnehmungen (Assoziation) und seinen Zustand hinausgehen und damit zugleich das Verhältnis der Gemütsvermögen untereinander hervorbringen (das sodann anhand der Willensgesinnung als gut oder böse erkannt werden kann). Denn, wir erinnern uns, Begehrungsvermögen und Gefühl der Lust und Unlust sind nach einer allgemeinen und durch den Verstand einzusehenden Regel miteinander verbunden, die bestimmt, ob das Gefühl dem Bestimmungsgrund des Willens vorhergeht oder auf diesen folgt. Diese Regel ist vom Verstand als gültig anzusehen, und sie begründet dann erst das, was Kant Interesse nennt (vgl. MdS 6:212.20 – 30). Nun hatten wir oben im Rahmen der ästhetischen Idee das Genie als ein besonderes Talent ausgemacht: nämlich als Talent zur Kunst, nicht zur Wissenschaft, ein Talent, aus dem die Regeln, die zur Anwendung kommen, erst entwickelt werden, dem sie nicht schon vorangehen. Talent bestand gerade nicht im Akt der Anwendung der einmal aufgefundenen Regeln auf die Darstellung, sondern im Auffinde dieser Regeln selbst, d. h. im Ins-Verhältnis-Setzen ästhetischer Ideen zur Absicht ihres Ausdrucks (durch Regeln). Übertragen auf die praktische Urteilskraft liegt ihr Talent in diesem Sinne daher nicht in der Anwendung von Regeln auf Handlungen, sondern in der Bestimmung von Maximen zu solchen Handlungen, die eine zugrundeliegende Idee adäquat ausdrücken. Wiederum kann es sich sowohl um moralische als auch um pragmatische Ideen handeln, d. h. solche, die sich zwar auch an moralischen Ideen orientieren können, denen aber gerade nicht die Universalität eines Naturgesetzes entspricht. Das Talent der Urteilskraft ist also die Fähigkeit, mithilfe einer Maxime die zugrunde liegende Idee auszudrücken und dann auch in die Tat umsetzen zu können. Da hierzu Erfahrung benötigt wird sowohl in Bezug auf die Ursache-Wirkungs-Verhältnisse der Gegenstände untereinander als auch in ihrer Wirkung auf den Zustand, lässt sich dieses Talent nur üben, nicht aber lehren.
5.1.2 Klugheit als Verhältnisbestimmung der Erkenntnisvermögen untereinander Es ist nun von Bedeutung, dass Kant nicht nur unterscheidet zwischen Subsumtion und Reflexion und innerhalb der ersten zwischen reflektierendem Vergleichen und erst dadurch möglichem Subsumieren, sondern innerhalb der Reflexion selbst noch einmal zwischen zwei möglichen Akten des Reflektierens: Die Urtheilskraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begrifs, nach einem gewissen Princip zu r e f l e c t i r e n , oder als ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begrif durch eine gegebene empirische
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Vorstellung zu b e s t i m m e n , angesehen werden. Im ersten Falle ist sie die reflectirende, im zweyten die b e s t i m m e n d e U r t h e i l s k r a f t . R e f l e c t i r e n (Überlegen) aber ist: gegebene Vorstellungen entweder mit andern, oder mit seinem Erkenntnißvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begrif, zu vergleichen und zusammen zu halten. Die reflectirende Urteilskraft ist diejenige, welche man auch das Beurteilungsvermögen (facultas diiudicandi) nennt (KdU EE 20:211.8 – 18).¹⁵⁵
Und bereits in KrV nennt Kant diese Beurteilung des Verhältnisses der Vorstellungen auf den Zustand des Subjekts „reflexio“: Die Ü b e r l e g u n g (reflexio) hat es nicht mit den Gegenständen selbst zu thun, um geradezu von ihnen Begriffe zu bekommen, sondern ist der Zustand des Gemüths, in welchem wir uns zuerst dazu anschicken, um die subjectiven Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können. Sie ist das Bewußtsein des Verhältnisses gegebener Vorstellungen zu unseren verschiedenen Erkenntnißquellen, durch welches allein ihr Verhältniß unter einander richtig bestimmt werden kann. Die erste Frage vor aller weiteren Behandlung unserer Vorstellungen ist die: in welchem Erkenntnißvermögen gehören sie zusammen? Ist es der Verstand, oder sind es die Sinne, vor denen sie verknüpft oder verglichen werden? Manches Urtheil wird aus Gewohnheit angenommen oder durch Neigung geknüpft: weil aber keine Überlegung vorhergeht, oder wenigstens kritisch darauf folgt, so gilt es für ein solches, das im Verstande seinen Ursprung erhalten hat (KrV A 260/B 316).
Demnach bedeutet Reflektieren für Kant auf der einen Seite, vorhandene Vorstellungen untereinander zu vergleichen. Dies entspricht dem Vergleich der Wahrnehmungen untereinander nach Regeln der Assoziation, die oben im Zusammenhang mit den Wahrnehmungsurteilen behandelt wurden. Auf der anderen Seite aber meint Kant mit Reflektieren eine Überlegung, die Vorstellungen, welche sich dem Subjekt in der Wahrnehmung darbieten, nicht nur untereinander, sondern auch auf das bzw. die Erkenntnisvermögen des Subjekts zu beziehen. Da Klugheit nun nicht nur auf das Gefühl als eines der Erkenntnisvermögen Bezug nehmen kann, sondern aufgrund der durch sie zu bestimmenden Zwecke auch auf das Begehrungsvermögen verwiesen ist, muss sie sich a fortiori auf dieses zweite Verständnis von Reflexion beziehen. Praktische Urteilskraft legt somit das Ver-
Dieser Verweis auf die Urteilskraft als facultas diiudicandi ist bezeichnend im Zusammenhang mit der Interpretation der Kategorien der Freiheit, insofern diese als Urteilsformen zugleich, so betont Torralba, als principium diiudicationis aufgefasst werden können. Diesen Begriff wiederum verwendet Kant nur in seinem Nachlass, nicht aber im veröffentlichten Werk (vgl. Torralba 2009, 66 f., 76 f.). Torralba unterscheidet zwischen den Kategorien als principium diiudicationis und der tatsächlichen Willensbestimmung als principium executionis (der eigentlichen Triebfeder) (Torralba 2009, 270). In diesem Sinne sei Vernunft selbst als principium executionis, das ein Sollen begründet, von einem principium diiudicationis als Aufgabe der Urteilskraft zu unterscheiden, das angibt, in welchen Fällen das Moralgesetz Anwendung findet (Torralba 2009, 378 und 371).
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hältnis zwischen den Erkenntniskräften fest, aber nicht wie die ästhetisch-reflektierende, indem sie ein Verhältnis zwischen den oberen Erkenntnisvermögen herstellt, aus dem dann ein Gefühl der Lust (oder Unlust) resultiert, sondern indem sie zwar auch, wie die ästhetische Urteilskraft,Verstand und Einbildungskraft ins Verhältnis setzt (in der Bildung der Idee der Glückseligkeit), sodann aber Gefühl und Begehrungsvermögen aufeinander bezieht.¹⁵⁶ Kant zufolge besteht nun die zweite Form des Reflektierens (Überlegen) darin, „gegebene Vorstellungen […] mit seinem Erkenntnißvermögen, in Beziehung auf einen dadurch möglichen Begriff, zu vergleichen und zusammen zu halten.“ (KdU EE 20:211.16, kursiv C.G.) Da Kant auch den Begriff Erkenntnisvermögen übergreifend für alle Erkenntnisvermögen verwendet, sollte hier an seine Stelle das Gefühl sowie das Begehrungsvermögen treten dürfen. Die Formulierung verweist direkt auf die bereits erörterte Notwendigkeit, die der äußeren Wahrnehmung entnommenen Zwecke „mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammen [zu]halten“ (KdU 5:233.13 f., kursiv C.G.). Urteilskraft in ihrer reflektierenden, überlegenden Tätigkeit vergleicht damit zwar Vorstellungen, aber nicht (nur) untereinander, sondern in ihrem Bezug auf einen Begriff (im Fall der Klugheit: Glückseligkeit). Interessanterweise zeigt das Zitat aus KrV, dass sich das Verhältnis der Vorstellungen untereinander (was vergleichend, durch Assoziation, also eine Funktion der reproduktiven Einbildungskraft erfolgt) nur durch das Bewusstsein ihres Verhältnisses zu den Erkenntnisquellen, also den anderen Erkenntnisvermögen bestimmen lässt. Das bedeutet: Um über einen möglichen empirischen Zweck befinden zu können, genügt es gar nicht, die in der Empfindung gegebenen Vorstellungen untereinander zu vergleichen, sondern man muss sich auch darüber bewusst werden, zu welchem Erkenntnisvermögen sie überhaupt in einem Verhältnis stehen – und in welchem. Zudem fährt Kant in der ersten Einleitung der KdU fort, dass es für das Reflektieren, ebenso wie für das Bestimmen, eines Prinzips bedürfe,, „in welchem der zugrunde gelegte Begriff vom Objecte, der Urtheilskraft die Regel vorschreibt und also die Stelle des Princips vertritt.“ (KdU EE 20:211.22– 24) Könnte zur Beurteilung kein Prinzip herhalten, so stünde das Reflektieren auf einer Stufe mit dem der Tiere, bei denen es „instinctmäßig, nämlich nicht in Beziehung auf einen dadurch zu erlangenden Begrif, sondern eine etwa dadurch zu bestimmende
Der frühe Kant schien interessanterweise noch eine empirische Urteilskraft zu kennen: „Gleichwie die Vernunft geht vom allgemeinen zum besonderen: so umgekehrt die sinnliche Urtheilskraft von dem besonderen zum All der Zusammenfassung, von dem mannigfaltigen zur Einheit entweder der Zusammensetzung oder der Idee und Absicht, was diese Handlung in ein lebhaftes Spiel setzt.“ (Refl. 842 15/2.1:375.2– 6; lt. Riedel um 1778) Riedel bemerkt dazu, es gingen dabei „noch ethische und ‚ästhetische‘ Gesichtspunkte durcheinander.“ (Riedel 1989, 79, Fn. 56)
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Neigung vorgeht“ (KdU EE 20:19 – 21). Reflexion allein ist daher noch keine menschliche Auszeichnung, sie muss sich schon auf Prinzipien beziehen. Daher macht es einen so großen Unterschied, ob Glückseligkeit als bloße unbestimmte Summe angenehmer Neigungen (bzw. als Normalidee), oder als Idee aufgefasst wird, auf die sich die praktische Reflexion zu beziehen hat. Und innerhalb einer solchen Idee macht es einen Unterschied, ob sich die in ihr enthaltenen Vorstellungen wiederum an „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ orientieren oder nicht. Der eigentliche Akt der Reflexion bei der Bildung einer Idee der Glückseligkeit kommt also erst durch Anwendung der praktischen Kategorien (und ihrer Typik) hinzu. Wenn also ein praktisches Urteil getroffen werden soll, so muss im Vollzug der Urteilsbildung zugleich eine Überlegung stattfinden, in welcher das Subjekt den betrachteten Gegenstand oder die Situation auf die eigenen Erkenntniskräfte bezieht und in der es feststellt bzw. festlegt, in welchem Verhältnis die Erkenntniskräfte zu einander stehen – ob also die Vorstellung mehr das Gefühl affiziert, oder ob mehr der Verstand gefordert ist, oder ob hingegen (reine) Vernunft dominiert und das Handeln zu bestimmen hat. In Abhängigkeit von dieser Verhältnisbestimmung resultiert dann ein je unterschiedliches Urteil: ein empirischpraktisches oder ein reines praktisches Urteil, ein Erkenntnisurteil oder ein ästhetisches Urteil. Werden Urteile aus Gewohnheit angenommen, oder liegt eine bloße Neigung (das bloße Gefühl des Angenehmen oder Unangenehmen) zugrunde, so geht keine solche Überlegung voraus, es werden keine weiteren (Vernunft‐) Zwecke einbezogen – und es handelt sich damit um einen unschematisierten Gebrauch der praktischen Kategorien. Daher können solche Urteile dann auch nicht als kluge Urteile im hier explizierten Sinn aufgefasst werden, und daher ist das, was Kant unter Rückgriff auf den damit zusammenhängenden Glücksbegriff als Klugheit bezeichnet, dann auch tatsächlich eine Form der Geschicklichkeit. Im Unterschied zur „bloß“ ästhetischen Beurteilung bezieht Klugheit hingegen das Begehrungsvermögen explizit in die Überlegung ein. Es zeichnet sich damit die Vermutung ab, dass analog zum reinen praktischen Urteil über das Gute oder Böse, und d. h. über die Moralität einer Maxime, sich Klugheit ebenfalls dadurch auszeichnet, dass die eigene Maxime noch einmal überprüft wird im Lichte einer besonderen Reflexion. Mit diesen Erläuterungen kann nun besser verstanden werden, dass Klugheit empirisch-praktische Urteile im Sinne von ästhetischen Urteilen ermöglicht, d. h. praktische Urteile, die sinnlich sind im ästhetisch-subjektiven Sinn, insofern ihre Vorstellungen als Empfindungen im Gefühl (und daher nicht nur im theoretischen inneren Sinn) liegen. Als empirische Urteile können sie jedoch ihr Prinzip zunächst nur von der Erfahrung, also aus der ästhetischen Idee der Glückseligkeit hernehmen. Aus diesem Grunde müssen die innerhalb dieser Idee vorgestellten
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Zwecke dann noch einmal ins Verhältnis gesetzt werden zu den über die bloße Erfahrung des Angenehmen oder Unangenehmen (im Gefühl) hinaus, d. h. zu wesentlichen und allgemeinen Zwecken der Vernunft. D.h. nur indem in einem ersten Schritt festgestellt wird, dass Vorstellungen, die empirische Zwecke werden können sollen, zunächst dem Gefühl angehören (und nicht dem Verstand), können sie in einem zweiten Schritt daraufhin beurteilt werden, ob sie zudem mit Zwecken der Vernunft zusammen gehalten werden. Von Klugheit im eigentlichen Sinn kann also erst dann die Rede sein, wenn erkannt wird, dass es sich um Gefühle handelt, die zu Zwecken werden sollen und dass diese zudem mit allgemeineren Zwecken abgeglichen werden können und/oder sollten. Nur unter diesem Blickwinkel ergibt es einen Sinn zu sagen, jemand wolle dieser oder jener Mensch, diese oder jene Person sein. Innerhalb des Gefühls ist dies nicht möglich. Und erst im Rekurs auf die unvollkommene Pflicht der Tugendhaftigkeit, dem Gebot, aus Pflicht zu handeln, ist dann die eigentliche Normativität, das moralische Sollen erreicht. Ortmann führt in diesem Sinne für Klugheit überhaupt an, sie bestünde gar nicht in erster Linie in konkreten Regeln der Klugheit (also in einer bestimmten Art der Bildung von Maximen), sondern vielmehr in einer Art Meta-Reflexion über diese Regeln: Wenn man also Klugheit der Kürze halber als zu einem beträchtlichen Teil als impliziten, regelbasierten Sinn für Angemessenheit bestimmt, dann endet damit der von der Logik nahegelegte, gar infinite Regress, weil und wenn die Regeln, auf denen sie beruht, nicht noch ihrerseits klug oder weniger klug angewendet werden; nicht noch ihrerseits auf ihre Angemessenheit beurteilt werden (Ortmann 2008, 69 f.).
Auf dieser zweiten Ebene werde eine „Suspension der Routine für eine logische Sekunde, in der sie zur Disposition steht“ eingeräumt (Ortmann 2008, 71). Und: „Klugheit muss sich daher zu einem beträchtlichen Teil als Nebenprodukt der Praxis einstellen insoweit nicht als Resultat der Befolgung expliziter Regeln der Klugheit.“ (Ortmann 2008, 72) Inwieweit damit auch eine Antwort auf das bereits angesprochene „Paradox des Regelfolgens“ gegeben ist, mag an dieser Stelle noch dahingestellt bleiben. Reflexion ist damit für Kant mehr als nur das Aufsuchen des Allgemeinen zum vorhandenen Einzelnen, denn in der Suche nach dem Allgemeinen wird zugleich das Verhältnis der Erkenntnisvermögen untereinander bestimmt. Andersherum aber wird auch erst durch diesen Akt der praktischen Überlegung die Bestimmung des Allgemeinen im Prinzip der Glückseligkeit (als Prinzip) möglich: Auch die Idee der Glückseligkeit, so sehr sie sich dem Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand verdankt, ist sie doch darauf angewiesen, dass die einzelnen Vorstellungen, aus denen sie sich zusammensetzt, nicht nur untereinander, sondern
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auch in Bezug auf die Erkenntnisvermögen beurteilt werden. Denn auch das Verhältnis der Vorstellungen untereinander lässt sich nur unter Voraussetzung des Bewusstseins ihres Verhältnisses zu den einzelnen Erkenntnisvermögen richtig bestimmen. Die vorgestellte Verbindung von Reflexion und Klugheit erlaubt es somit, kluge Handlungen als eine Klasse von empirisch bestimmten Handlungen auszuzeichnen. Besteht nämlich Klugheit in der Herstellung eines bestimmten Verhältnisses der Erkenntniskräfte untereinander, so ist „gelingende Klugheit“ eine solche Bestimmung, die eine Angemessenheit in diesem Verhältnis herstellt. Dabei bedeutet Angemessenheit eine Rücksichtnahme auf die anthropologische Verankerung allen Handelns, d. h. auf die praktische Bestimmung des Menschen als eines animal rationale, eines vernunftbegabten Wesens. Zugleich empirisch verankert und durch empirische Bestimmungsgründe jederzeit affiziert, ist es dem Menschen dennoch möglich, diese seine Privatmeinungen an solchen wesentlichen und allgemeinen Zwecken auszurichten, die sich jedermann setzen und die daher auch jedermann nachvollziehen kann. Seine menschliche Verfasstheit fordert ihn dazu heraus, in jeder seiner Handlungen ein angemessenes Verhältnis herzustellen, das sowohl auf die empirische Basis, als auch auf den möglichen Anspruch anderer sowie die eigene Entwicklung als Vernunftwesen Rücksicht nimmt. Dazu gehört dann auch die Einsicht in die eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen. Ein angemessen reflektiertes, also klug bestimmtes Verhältnis der Erkenntniskräfte untereinander kann unterscheiden, ob die mit einer Maxime eingenommene Einstellung oder Haltung angesichts der eigenen auch moralischen Möglichkeiten angemessen ist oder nicht, d. h. ob ein im Angesicht des Sittengesetzes formulierter Anspruch auch zu realisieren ist oder ob das Subjekt, angesichts der je subjektiven Umstände der Umsetzung, an ihm zu scheitern droht. Klugheit stellt damit schon jenseits der Frage nach der Motivation ein explizites Verhältnis auf das Moralgesetz her – was ja bereits durch die Anwendung der Kategorien angedeutet war. Der hier vorgelegten Interpretation zufolge leuchtet es daher ein, dass Klugheit nicht nur darin besteht, das Glück in Übereinstimmung mit der eigenen Natur richtig zu erfassen und zu definieren sowie sich die richtigen Zwecke zu setzen, um glücklich zu werden. Darüber hinaus und ganz wesentlich verdient klug genannt zu werden, wer seine eigene Einstellung gegenüber den in der praktischen Reflexion ins Verhältnis gebrachten Gemütsvermögen kritisch beurteilt, d. h. im Taylorschen Sinne stark bewertet. So mag man beispielsweise zur eigenen Glücksvorstellung einen bestimmten Beruf zählen, der wiederum in Übereinstimmung steht mit bestimmten moralischen Vorstellungen (wie z. B. den des Arztes oder des Politikers), und gleichzeitig kann sich im Laufe der Zeit heraus-
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stellen, dass es die eigene natürliche Ausstattung (an Intelligenz, Fingerspitzengefühl o. a.) nicht zulässt, dass man ein guter Arzt oder guter Politiker werden könnte. Auch können die Umstände der eigenen Herkunft oder unvorhergesehene Ereignisse dazu führen, dass eine solche Vorstellung sich nicht umsetzen lässt. Wenn Kant daher im Zusammenhang mit den Ratschlägen der Klugheit davon spricht, dass der verfolgte Zweck mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu verfolgen sei – oder aber, unter Voraussetzung einer Vorstellung von einem glücklichen Leben im Ganzen, fallen gelassen werden müsste, dann steht dies nicht nur für eine gewisse Beliebigkeit des Zwecks und damit für ein problematisches Merkmal der Klugheit bzw. der sie begleitenden hypothetischen „Imperative“. Zugleich ist damit auch gesagt, dass es unter Umständen eigentlich klug (und nicht nur beliebiges Nachgeben gegenüber einer Neigung) sein kann, hin und wieder Zwecke fallen zu lassen, um dadurch andere, wesentlichere und/oder allgemeinere aufrecht erhalten zu können. Klugheit besteht damit in der auf den größeren Zusammenhang des Lebens bezogenen Reflexion, die durch die Einnahme einer reflektierenden Einstellung in Bezug auf Zwecke, Mittel, die zugrunde liegende Idee sowie den eigenen Zustand eine Hierarchisierung der einzelnen Zwecke untereinander ermöglicht. Erst indem wir reflektierend eine Haltung einnehmen zu den von uns bestimmten Zwecken, können wir sie untereinander, weil zugleich in ihrer Beziehung auf unseren Zustand vergleichen.¹⁵⁷
5.1.3 Kants Klugheit und Aristoteles’ phronesis Es drängt sich mit diesem an einer bestimmten Form der Reflexion orientierten Begriff der Klugheit bei Kant auch die Vermutung auf, dass hier eine Ähnlichkeit zum aristotelischen Begriff der phronesis vorliegen könnte. Aristoteles führt in Buch VI der Nikomachischen Ethik (NE) phronesis im Unterschied zu den unterschiedlichen technai ein, die den Bereich der poiesis im Gegensatz zur praxis ausmachen. Während sich die technai auf ein bestimmtes Ziel beziehen und ihr richtiger Gebrauch darin besteht, dieses Ziel zu erreichen, was sich dann auch konkret am Erfolg (der Handlung) ablesen lässt, bezieht sich phronesis auf ein besonderes Ziel, das Ziel des guten Lebens. Aristoteles kennzeichnet es als
In dem hier dargelegten Sinn haben sich daher die praktischen Urteile als „reflexive Urteile“ erwiesen, insofern sie eine grundsätzliche Selbstbezüglichkeit des Menschen zum Ausdruck bringen. Darin ist Steigleder zuzustimmen, nicht jedoch in der Annahme, dies gelte vornehmlich von den Imperativen. Diese nämlich, so haben wir gezeigt, gelten ja gerade im Falle der Klugheit gar nicht imperativisch. Reflexiv sind daher nicht die Imperative, sondern die praktischen Urteile, die sich jeder handelnde Mensch bildet (vgl. Steigleder 2002, 25).
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Glückseligkeit und versteht diese als oberstes, höchstes Gut des Menschen. Auf dieser offensichtlichen Divergenz mit Kants Verständnis einer Ethik beruhen die gängigen Annahmen, Aristoteles sei mit Kant unvereinbar, da für Kant das gute Leben nicht in Glückseligkeit und Wohlergehen, sondern ausschließlich in einem solchen bestehen kann, das von Pflichtausübung aus Pflicht geprägt ist. Von diesem Standpunkt aus ist Kants Ethik mit der des Aristoteles tatsächlich nicht zu vereinbaren. Und das muss sie auch gar nicht. Auch für Kant ist das Ziel der Glückseligkeit als das gute Leben im Sinne des menschlichen Wohlergehens ein besonderes, das sich von allen anderen, beliebigen Zielen (Zwecken) unterscheidet, insbesondere durch die Unbestimmtheit dessen, was darunter fällt. Es war daher nötig, den Begriff der Glückseligkeit als ästhetische Idee zu rekonstruieren, um zu verstehen, dass zu seiner näheren Bestimmung sowohl die Festlegung der Mittel zur Erreichung dieses Ziels, als auch die Festlegung auf das Ziel selbst, seine inhaltliche Ausgestaltung unter Einbeziehen der „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“ des Menschen erfordert wird. Beides zusammen ergibt erst den Begriff der Klugheit. Und eben das macht auch für Aristoteles den entscheidenden Unterschied im Verständnis der phronesis: Nicht nur sind die Mittel zur Erreichung des Ziels aufzufinden und anzugeben, sondern das Ziel selbst muss überhaupt erst präzisiert werden. Auch für Aristoteles hat damit die phronesis eine doppelte Aufgabe zu erfüllen.¹⁵⁸ phronesis ist im Gegensatz zu theoretischer Einsicht auf das Kontingente der menschlichen Angelegenheiten gerichtet, auf das, was jeweils auch anders sein könnte. Daraus ergibt sich dann die Unbestimmtheit des Glücksbegriffs und auch die Unmöglichkeit, ein allgemein gültiges, universales Kriterium anzugeben, nach welchem Handlungen sich zu vollziehen haben. Wesen der Praxis ist es, gerade nicht auf ein unabänderliches (theoretisches) Wissen bezogen zu sein. Nun heben die gängigen Übersetzungen der phronesis als „sittliche Einsicht“ (z. B. Dirlmeier) oder „practical wisdom“ (z. B. McDowell) den notwendigen Zusammenhang von Klugheit und Tugend hervor. Klugheit ist von sich aus eine tugendhafte Fähigkeit, sie trägt die Tugend bereits in ihrer Definition. Damit werden die nicht von der Hand zu weisenden Differenzen zwischen Aristoteles und Kant betont, zugleich aber der Blick auf denjenigen Aspekt der Klugheit verstellt, der, wie wir gerade sahen, bei beiden zu finden ist: die Reflexion. Für unseren Zusammenhang besonders ergiebig ist daher die Übersetzung Buch Vgl. zum besonderen Verhältnis von Ziel und Mittel der phronesis Irwin 1996, 20 ff. Ihr richtiger Gebrauch liegt ihm zufolge in dem besonderen Verhältnis bzw. der Distanz („gap“), das bzw. die sich zwischen Mittel und Zweck ergebe: Im Unterschied zu den einzelnen technai sei phronesis nicht unabhängig von ihrem Ziel zu verstehen.
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heims, da sie die Bedeutung der praktischen Überlegung oder Reflexion in den Vordergrund stellt. Buchheim übersetzt die Aristotelische phronesis als „reflektierte Verständigkeit“ oder, damit zusammenhängend, „Orientierung“ (Buchheim 2012, 85). Aristoteles grenze sie ab gegen die bloße Wahrnehmung, die zwar auch Wahrnehmung für uns sei, nicht jedoch zugleich schon die für phronesis wesentliche „Selbstbezogenheit (nicht: Selbstbezüglichkeit)“ mitmeine, als „reflektiertes Verstehen der Verhältnisse, in denen jemand sich befindet“ (Buchheim 2012, 87). Buchheim kann deshalb feststellen, dass wir Aristoteles zufolge das, was wir bloß wahrnehmend unterscheiden, nicht zugleich in ein reflektiertes Verhältnis zu uns selbst und unseren Eigenschaften in dieser wahrgenommenen Umgebung [setzen] (Buchheim 2012, 91).
Und etwas weiter: phronesis und phronein sind symbolisch vermittelte, Wahrheit beanspruchende Verständnisweisen von Dingen und Sachverhalten in meiner Umgebung und in ihrem Verhältnis zu mir selbst und meinem Dasein in derselben Umgebung (Buchheim 2012, 93).
Aristoteles unterscheidet also zwischen der (kantisch gesprochen) theoretischen Wahrnehmung und dem reflektierenden Verständnis der Dinge, bei dem die Stellung des Menschen zu den Dingen eine wesentliche Rolle spielt. Dabei stellt sich phronesis als diejenige Reflexion dar, die den Menschen in ein spezifisches Verhältnis zu seiner sinnlichen Wahrnehmung setzt und ist diejenige Eigenschaft der phronesis in den Vordergrund gerückt, die auch Aristoteles ihr ganz wesentlich zuschreibt: die praktische Überlegung oder bouleusis. Dies aber hatte sich als die Aufgabe der Reflexion im Zusammenhang mit der Kantischen Klugheit herausgestellt: Sie soll ein Verhältnis herstellen zwischen der Wahrnehmung (den Vorstellungen als Empfindungen) und den Erkenntnisvermögen des Subjekts. Das meint nichts anderes, als die Bestimmung der Stellung des Menschen innerhalb der ihn sinnlich umgebenden Wahrnehmung in Form seiner eigenen Vorstellungen. Mit der Aristotelischen Unterscheidung von bloßer Wahrnehmung und reflektiertem Verständnis der Dinge in ihrem Verhältnis auf den Menschen ist somit der Unterschied zwischen ästhetischen Wahrnehmungsurteilen und empirisch-praktischen Urteilen benannt. Es ist auch bei Kant der überlegende Bezug auf den Zustand des Subjekts, der den eigentlichen Akt der Reflexion ausmacht. Jedoch macht Kant einen Unterschied zwischen den bloß angenehmen Empfindungen, die zwar die Wirkung des betrachteten Dinges auf den Zustand des Subjekts evaluieren, und einer Idee der Glückseligkeit, die von Einbildungskraft und Verstand zunächst entworfen werden muss, um überhaupt Gegenstand der praktischen Reflexion sein zu können.
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Klug ist deshalb Aristoteles zufolge auch derjenige, der sich in seinem Handeln an Personen orientiert, die bereits klug sind und klug handeln. Klug wird man durch Nachahmung (wobei diese aristotelische Form der Nachahmung im Kantischen Sinne eher als Nachfolge aufzufassen wäre). Deshalb spielt auch der Habitus bei Aristoteles eine besondere Rolle für die Ausübung der Klugheit (vgl. Irwin 1996, 23) und lässt sich diese erlernen und üben, nicht aber lehren im gleichen Sinn, wie sich eine Wissenschaft lehren lässt. Auch dieses Merkmal der Klugheit teilt Kant mit Aristoteles, denn die Urteilskraft (als Reflexion), die sich als wesentlicher Faktor für Klugheit erwiesen hat, ist eben ein Talent, das geübt werden muss. Für Kant haben daher allerdings Gewohnheit und Gewöhnung ihren Platz zwar im allgemein praktischen Leben, nicht aber in der Ethik. Sowohl Kant als auch Aristoteles gehen bei der Aufsuchung der Handlungsprinzipien induktiv vor, was Aristoteles dahin führt, das „gute Leben“ als ein solches zu fassen, das sich an moralischen Maßstäben orientiert. Gleiches gilt für die hier vorgestellte Interpretation der kantischen empirisch-praktischen Vernunft, so sie sich als kluge Vernunft von der „gewöhnlichen“ abheben möchte: Sie geht aus von der Erfahrung und sucht nach Prinzipien (Maximen), die die Umsetzung einer durch Einbildungskraft und Verstand entworfenen Idee (der Glückseligkeit) mittels Handlungen anzuleiten vermögen. Um von einer sich in den Maximen als Ideal ausdrückenden Idee sprechen zu können, muss das Subjekt hinausgehen über eine bloße sinnlich-ästhetische Beurteilung der eigenen Empfindung angesichts der es umgebenden Gegenstände. Es muss in diese Idee Wertmaßstäbe übernehmen, die sich nicht auf die Dichotomie angenehm/ unangenehm reduzieren lassen, indem sie die möglichen empirischen Zwecke mit den wesentlichen und allgemeinen Zwecken des Menschen abgleicht und in Übereinstimmung bringt.¹⁵⁹ Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen muss es eigentlich verwundern, dass der Vergleich beider Denker in der Regel durch eine Gegenüberstellung von Aristotelischer phronesis und Kantischer Moral (unter Hervorhebung der Bedeutung der reinen praktischen Urteilskraft für diese) erfolgt. Vielmehr zeigt sich im Gegenteil, dass es das reflektierende Moment der Klugheit ist, das sich für einen Vergleich anbietet. So unternimmt bspw. Höffe an unterschiedlichen Stellen einen Vergleich der phronesis mit Kants reiner praktischer Urteilskraft, um auf diese
Vgl. Recki 2006, 47 f. Ähnlich Mertens, die darauf verweist, dass die Urteilskraft „als reflektierende eine Induktionslogik der Empirie erstellt. Eigenartigerweise führt Kant den Begriff ‚Induktion‘ in diesem Zusammenhang nicht ein, obwohl er die Sache abhandelt.“ (Mertens 1975, 94) Vgl. allerdings MdS 6:215.34– 216.6, wo Kant explizit die Induktion als Verfahren der empirischen Klugheitslehre anführt (vgl. Kapitel 2.2.1).
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Weise auf eine Vereinbarkeit der Ethik beider Denker hinzuweisen.¹⁶⁰ Hierfür betont er, Kant kenne im Unterschied zu Aristoteles eine reine praktische Urteilskraft, die im Rahmen eines dreistufigen Beurteilungsprozesses nach der Identifikation einer moralisch relevanten Situation (1) und der Herausbildung von Maximen zur Bewältigung dieser Situation (2) eine Überprüfung dieser alternativen Maximen auf ihre Moraltauglichkeit hin (3) vorzunehmen habe. Sie sei, im Unterschied zur subsumierenden und auf Erfahrung basierenden ersten und zweiten Stufe erfahrungsunabhängig: Nachdem für die ersten beiden Schritte die empirische und sowohl fall- wie regelbezogene Urteilskraft unentbehrlich ist, verliert sie ihr Recht erst beim dritten Schritt, der Frage, welcher der beiden Maximen der Rang des Moralischen gebührt. Selbst hier wird die Urteilskraft aber nicht wie ein Gegner überwunden; für die Antwort nicht zuständig, wird sie schlicht arbeitslos und auch dieses nur ‚vorübergehend‘. Wer sich aufgrund vorempirisch gültiger Gründe für die Hilfsbereitschaft entscheidet, muss sich nämlich immer noch überlegen, womit er denn helfen kann (Höffe 2001, 71).
Hierfür seien dann wieder „praktische Erfahrung“ und evtl. „fachliche Kompetenz“ gefragt. Die erfahrungsunabhängige, moralische, reine praktische Urteilskraft habe die Aufgabe, die moralischen Prinzipien in Bezug auf das Subjekt zu beurteilen,¹⁶¹ sodass das Moralgesetz zur Ausführung (Exekution) gebracht werden kann. Nur hierbei solle die Erfahrung überwunden werden, insofern sie Anspruch erhebe auf den Bestimmungsgrund des Willens. Während auf den ersten beiden, den erfahrungsabhängigen Stufen, ein Individuelles mit einem Allgemeinen vermittelt wird, geht es auf der dritten Stufe nur noch um die Art des Allgemeinen (Höffe 2001, 72).
In dieser explizit moralischen Funktion der Urteilskraft sieht Höffe dann eine Erweiterung der aristotelischen Lehre, die zwar Klugheit mit Tugendhaftigkeit verbinde, nicht aber eine eigenständige moralische Urteilskraft kenne. Hingegen erscheint es vor dem Hintergrund unserer bisherigen Ergebnisse nicht ersichtlich, weshalb die laut Höffe aus der Willensbestimmung auszuschließende Erfahrung
Höffe behandelt diese Verbindung von Ethik und Urteilskraft bei Kant in ihrem Verhältnis zu aristotelischen Auffassungen der Ethik in Höffe 1977, 1990 und 2001. Ich beziehe mich v. a. auf die letzte Fassung des Aufsatzes (2001), da sie die ausführlichste ist. Daher sieht Torralba in dieser Aufgabe zu Recht das reflektierende Moment der reinen praktischen Urteilskraft, die hier die als moralische konstituierte Maxime daraufhin überprüfe, ob das Moralgesetz auch wirklich Triebfeder des Handelns ist. Die Urteilskraft werde damit noch einmal reflektierend auf sich selbst angewendet (vgl. Torralba 2009, 378).
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nicht dazu in der Lage sein sollte, Regeln zu bestimmen, was er jedoch nahelegt, wenn er schreibt: Es ist allein diejenige [Erfahrung, die überwunden werden soll, C.G.], die die Regel, genauer: den subjektiven Handlungsgrund, die Maxime, bestimmen soll, dazu aber – so Kants Kritik der empirisch bedingten, das heißt von Neigungen bestimmten praktischen Vernunft – gar nicht in der Lage ist (Höffe 2005, 305).
Wie ich meine, gezeigt zu haben, kann sie dies sehr wohl, denn auch wenn die willensbestimmende Triebfeder im Gefühl liegt, kann sie den Willen dennoch nach Regeln, also subjektiven Maximen, bestimmen. Worauf Höffe hinauswill, ist meines Erachtens die oben dargelegte Unterscheidung zwischen Erfahrung als Sinnlichkeit, wie sie auch den theoretischen Urteilen zugrunde liegt und Erfahrung als Gefühl, wie sie Anspruch auf (mitunter ausschließliche) Bestimmung des Willens erhebt. Aus moralphilosophischer Perspektive ist daher tatsächlich ihr Einfluss einzudämmen. Nicht jedoch ist es ausgeschlossen, dass ohne motivierenden Einfluss des Moralgesetzes Handlungen nach Regeln erfolgen, wie Höffe hier anzunehmen scheint. Vor dem Hintergrund der vorgeschlagenen Interpretation scheint es mir gerade die von Höffe im zweiten Schritt tätige praktische Urteilskraft zu sein – jene, die sich noch auf Erfahrung (als Gefühl) beruft, aber eben auch unter Einbeziehen wesentlicher und allgemeiner Zwecke in diese empirischen Zwecke –, die sich für einen Vergleich von Kant und Aristoteles eignet, d. h. ein Vergleich von Klugheit und phronesis, eher als von phronesis und Kantischer Moral. Höffe hingegen zählt die „‚Anwendung‘ sittlicher Maximen in konkreten Situationen“ zur sittlichen Urteilskraft (phronesis) und spricht Kant das Interesse an dieser ab (Höffe 1979, 97 und Höffe 1979, 119).
5.2 Klugheit und Charakter Klugheit, so sahen wir bisher, basiert auf einer durch reproduktive Einbildungskraft gebildeten Idee der Glückseligkeit, welche als ein Mannigfaltiges der praktischen sinnlichen Anschauung, ein Mannigfaltiges der Begehrungen der Bildung von Maximen zugrunde liegt. Die Anwendung der Kategorien der Freiheit konstituiert diese Maximen und bezieht sie mittels der Modalkategorien auch auf jene wesentlichen und allgemeinen Zwecke, die Teil der Bestimmung des Menschen sind. Im Zuge der zur Anwendung der Kategorien gehörenden Typik werden die quantitativ, qualitativ, relational und modal bestimmten Maximen zugleich anhand eines Typus – des Sittengesetzes bzw. eines noch unbekannten Typus – auf ihre Sittlichkeit bzw., so ist zu vermuten, auf ihre Klugheit hin überprüft. Auf diese
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Weise war es möglich, Kant eine Art Handlungstheorie zuzuschreiben, in der nicht-moralisches Handeln als Handeln nach subjektiven Maximen und damit auf die kohärente Idee eines geglückten Lebens ausgerichtet, folglich zugleich als Charakter zeigend verstehbar würde.¹⁶² Im zweiten Teil seiner pragmatischen Anthropologie beschäftigt sich Kant mit dem Charakter unter dem Titel einer „anthropologischen Charakteristik“, welche zum Gegenstand hat, „das Innere des Menschen aus dem Äußeren zu erkennen“. In diesem Sinne ist Charakter dasjenige, was aus dem äußerlich am Menschen Sichtbaren Rückschlüsse auf sein Inneres erlaubt. Er beschäftigt sich also damit, was am Inneren eines Menschen auch anderen zugänglich gemacht werden kann und dadurch mitteilbar wird. Dazu gehören sowohl das Gemüt als auch das innere Seelenleben, das als „Spiel der Gefühle und Begierden“ (Anth 7:286.24 f.) verstanden werden kann, als auch das moralisch und aus Freiheit ihn Charakterisierende. Insofern der Charakter dasjenige ist, an dem sich die durch die praktischen Kategorien konstituierte Willensgesinnung ablesen lässt, müsste er sich somit auch als ein solcher erweisen können, der nicht ausschließlich auf eine moralische, sondern auch auf eine kluge Willensgesinnung des Menschen schließen lässt.¹⁶³ Im Folgenden soll das angekündigte Element herausgearbeitet werden, Wie Recki bemerkt, verbindet sich mit der Frage nach den Maximen diejenige nach einer „einheitlichen Konzeption von Handlungstheorie in einem moralneutralen Sinne und einer Ethik“ (Recki 2001, 243, Fn.). O’Neill vertritt dagegen die Auffassung, Kant könne kein einheitliches Modell menschlicher Handlungen liefern, das sowohl für die empirische Erklärung der Handlungen als auch für die Handlungsanleitung zuständig wäre (O’Neill 1989, 70). Wood zufolge folgt eine solche Vermutung aus der Interpretation der doppelten Perspektive auf den Menschen als Beobachter, der auf erklärbare mechanische Gesetze verwiesen ist und auf den Menschen als Handelnden, der sich einem intelligiblen Reich zugehörig weiß (Wood 2003, 43 f.). An den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung lässt sich jedoch implizite ablesen, dass sich in Kants Philosophie im Ganzen eine Handlungstheorie verbirgt, die beide Perspektiven umfasst. Auch Kain konstatiert: „On Kant’s account of rational agency or moral psychology prudence is conceived of as the exercise of a distinctive practical capacity. Unfortunately, a succinct summary of this account is impeded by the fact that none of his writings on practical philosophy is primarily intended to provide a general moral psychology or a general account of practical reason.“ (Kain 2003, 233) Eine ausführliche Untersuchung von Kants Begriff des Charakters würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, es sei daher auf die vorzügliche Studie von Munzel (1999) verwiesen. Munzel definiert Charakter bei Kant als in erster Linie moralischen Charakter und stellt ihn als Schaltstelle zwischen Vernunft und Sinnlichkeit vor. Bezeichnend für diese Funktion im Rahmen der kantischen Philosophie ist ihr zufolge u. a. die Verbindung von intelligiblem und empirischem Charakter, wobei der erste den letzten zu formen habe und auf diese Weise auf die Sinnlichkeit direkten Einfluss nehmen könne (vgl. z. B. Munzel 1999, 68 f. oder 71 ff.). Zum Verhältnis von empirischem und intelligiblem Charakter siehe auch Allison 1990, 29 – 53.
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das eine Typisierung der empirisch-praktischen Maximen erlauben wird. Dies geschieht anhand des Unterschieds zwischen Temperament und Charakter schlechthin (5.2.1) und dem daraus folgenden Verständnis des Charakters als Denkungsart (5.2.2). Anschließend wird am Charakter der bereits in der Betrachtung der ästhetischen Idee der Glückseligkeit bemerkte Gedanke der Originalität sichtbar werden (5.2.3) und erklärt sich der Gegensatz von Klugheit und Verschlagenheit (5.2.4).
5.2.1 Temperament und Charakter Auf den ersten Blick scheint es, als würde Kant den Charakter schlechthin, den er auch als Denkungsart bezeichnet (vgl. Anth 7:291.23, 7:293.4 und 7:294.22), ausschließlich als moralischen Charakter verstehen. Auch hier also gibt er der reinen praktischen Vernunft, die sich im moralischen Charakter ausdrückt, den Vorzug vor einem empirisch beeinflussten Charakter. Und wiederum ist dies meines Erachtens nicht die einzig mögliche Lesart.Woran also macht Kant „Charakter“ fest? Zum einen versteht er unter Charakter, unabhängig davon, ob es sich um einen moralischen (einen Charakter schlechthin) handelt oder nicht, etwas Inneres, das sich äußerlich am Menschen ablesen lässt, und d. h. dann im Rahmen einer pragmatischen Anthropologie: an seinen Handlungen bzw. Maximen. Der zweite Teil seiner Anthropologie beginnt mit folgenden Worten: In pragmatischer Rücksicht bedient sich die allgemeine, n a t ü r l i c h e (nicht bürgerliche) Zeichenlehre (semiotica universalis) des Worts C h a r a k t e r in zwiefacher Bedeutung, da man theils sagt: ein gewisser Mensch hat d i e s e n oder jenen (physischen Charakter), theils: er hat überhaupt e i n e n Charakter (einen moralischen), der nur ein einziger, oder gar keiner sein kann. Das erste ist das Unterscheidungszeichen des Menschen als eines sinnlichen oder Naturwesens; das zweite desselben als eines vernünftigen, mit Freiheit begabten Wesens (Anth 7:285.6 – 13).
Zur Natur gehört es demnach, wenn sich aufgrund von Eigenschaften, die einem Menschen von der Natur mitgegeben wurden, an seinem Verhalten bestimmte Regelmäßigkeiten ablesen lassen, die auf einen bestimmten („diesen oder jenen“) Charakter schließen lassen. In diesem Sinne haben bestimmte Völker und hat jeder Mensch seine je eigenen Charakteristika. Letztere bezeichnet Kant an anderer Stelle im Zusammenhang mit seinen Erläuterungen zum Symbol als C h a r a k t e r i s m e n , d. i. Bezeichnungen der Begriffe durch begleitende sinnliche Zeichen, die gar nichts zu der Anschauung des Objects Gehöriges enthalten, sondern nur jenen nach
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dem Gesetze der Association der Einbildungskraft, mithin in subjectiver Absicht zum Mittel der Reproduction dienen (KdU 5:352.2– 6).
Dagegen ist unter einem moralischen Charakter, als Ausdruck einer Willensgesinnung, etwas anderes zu verstehen, etwas, das der Mensch als „vernünftiges und mit Freiheit begabtes Wesen“ aus sich selber macht. Zu einem „bestimmten Charakter überhaupt“ würden, so heißt es an späterer Stelle, Maximen erfordert, die aus der Vernunft und moralisch-praktischen Prinzipien hervorgehen.“ (Anth 7:293.27 f.) Es sei hinzugefügt, dass ein solcher moralischer Charakter sowohl gut als auch böse sein kann. Denn selbst dem bösen Menschen spricht Kant einen Charakter zu, der Gegenstand von Bewunderung sein könne „wenn er gleich durch die Gewaltthätigkeit seiner festen Maximen Abscheu erregt“ (Anth 7:293.17– 19). Die Festigkeit der Grundsätze scheint hier den Ausschlag zu geben, insofern Kant sie als Stärke wertet. Er führt nun aus: Der Mann von Grundsätzen, von dem man sicher weiß, wessen man sich nicht etwa von seinem Instinct, sondern von seinem Willen zu versehen hat, hat einen Charakter. – Daher kann man in der Charakteristik ohne Tautologie in dem, was zu seinem Begehrungsvermögen gehört (praktisch ist), das C h a r a k t e r i s t i s c h e in a) N a t u r e l l oder Naturanlage, b) T e m p e r a m e n t oder Sinnesart und c) C h a r a k t e r schlechthin oder Denkungsart eintheilen. – Die beiden ersteren Anlagen zeigen an, was sich aus dem Menschen machen läßt; die zweite (moralische), was er aus sich selbst zu machen bereit ist (Anth 7:285.13 – 21).
Im Unterschied zum Charakter schlechthin bezeichnet Kant als Naturell und Temperament also ein Handeln, das nicht nach Grundsätzen, sondern aufgrund von natürlichen Dispositionen erfolgt. Zum Unterschied zwischen Naturell und Temperament beispielsweise sagt Kant, ersteres ginge mehr (subjectiv) aufs G e f ü h l der Lust oder Unlust, wie ein Mensch vom andern afficirt wird (und jenes kann hierin etwas Charakteristisches haben), als (objectiv) aufs B e g e h r u n g s v e r m ö g e n [wie das Temperament, C.G.]; wo das Leben sich nicht blos im Gefühl, i n n e r l i c h , sondern auch in der Thätigkeit, ä u ß e r l i c h , obgleich blos nach Triebfedern der Sinnlichkeit offenbart (Anth 7:286.11).
Diese letztere Beziehung (zwischen Gefühl der Lust oder Unlust und Begehrungsvermögen), die sich im Handeln niederschlägt, bezeichnet Kant also als Temperament, welches zugleich von einer habituellen (durch Gewohnheit zugezogenen) Disposition noch unterschieden werden muß: weil dieser keine Naturanlage, sondern bloße Gelegenheitsursachen zum Grunde liegen. (Anth 7:286.12– 14, vgl. Anth 7:286.22 f.).
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Durch ihren direkten Bezug auf das Gefühl sind sowohl Naturell als auch Temperament dem physischen bzw. empirischen Charakter des Menschen zuzurechnen, der sich auf vielfache Weise ausdrücken kann (also nicht nur einer ist). So zählt Kant auch die vier bekannten Temperamente (sanguinisch und melancholisch als Temperamente des Gefühls, cholerisch und phlegmatisch als Temperamente der Tätigkeit) auf. Sie verweisen nicht auf das, was der Mensch selbst aus sich zu machen vermag, sondern nur, was sich aus ihm, aus seiner Naturanlage und durch die Natur machen lässt.¹⁶⁴ In der Anthropologie-Vorlesung Collins stellt er fest, die Temperamente hätten „ihre Beziehung auf die Summe der An- und Unannehmlichkeiten die Jemand aus einem Gegenstande zu ziehen geneigt ist.“ (VL Anth/Collins 25/2.1:219.7 f.) Er präzisiert, dass aus den Verschiedenheiten der Affektion des entsprechenden Temperaments „die Lust und Unlust“ entspringe (VL Anth/Collins 25/2.1:220 f.). In der Pädagogik ordnet Kant die Klugheit (als Weltklugheit) explizit dem Temperament zu: „Die Weltklugheit ist für das Temperament. Sittlichkeit ist für den Charakter.“ (Päd 9:486.32– 34)¹⁶⁵ Hierzu passt dann auch Kants Definition der Sinnesart im Unterschied zur Denkungsart: Wenn man unter dieser Benennung [Charakter, C.G.] überhaupt das versteht, wessen man sich zu ihm sicher zu versehen hat, es mag Gutes oder Schlimmes sein, so pflegt man dazu zu setzen: er hat diesen oder jenen Charakter, und dann bezeichnet der Ausdruck die S i n n e s a r t (Anth 7:292.3 – 6).
Cohen bemerkt in diesem Zusammenhang, dass zwei Arten der Untersuchung zu unterscheiden seien: zum einen, was Natur aus dem Menschen macht im Sinne der physiologischen Anthropologie (physische Geographie), wie z. B. die Frage nach dem Körper-Geist-Problem; zum anderen die Untersuchung der Zwecke der Natur in Bezug auf den Menschen (vgl. Cohen 2009, 67). Im Hinblick auf die folgenden Erläuterungen scheint mir dies eine sinnvolle Unterscheidung zu sein. Aus diesem Grunde sieht Murphy Klugheit mit Temperament und Moral mit Charakter verbunden, der moralische Charakter (oder Tugend) könne das Temperament nicht erziehen: „According to Kant, moral character or virtue cannot educate our emotional temperament; rather it must deploy, suppress, and dupe various aspects of that temperament“. (Murphy 2001, 291 f.) Frierson zufolge beeinflusst das Temperament den Menschen, eher für einen Charakter angelegt zu sein als andere (Frierson 2003, 61 ff.). Charakter sei eine moralische Eigenschaft des Menschen, die nicht von der Natur gegeben, sondern erworben werde. Erziehung gehöre zur Herausbildung eines (moralischen) Charakters, ebenso Höflichkeit, „by combating passions and promoting selfcontrol.“ (Frierson 2003, 64) Für Frierson sind dies Hinweise darauf, dass die pragmatische Anthropologie im Sinne einer moralischen Anthropologie zwar empirische Elemente enthält, im Ganzen aber auf die Herausbildung eines moralischen Charakters ausgerichtet ist, weshalb es sich eben auch um eine moralische Anthropologie handle, die mit Freiheit zusammenstimme bzw. sich in die Freiheitslehre integrieren lasse (vgl. Kapitel 2.2.1).
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Sowohl das Naturell als auch das Temperament gehören also den Naturanlagen an, die sich der Mensch nicht gänzlich selbst verschafft, und die aus ihnen resultierenden Handlungen erscheinen zunächst nur in Bezug auf diese Anlagen als sicher und zuverlässig, nicht aber durch Bezug auf einen durch Grundsätze bestimmten Willen. Der Begriff der „Sinnesart“ lässt aber sogleich an die Gegenüberstellung von Sinnengeschmack und Reflexionsgeschmack in KdU denken.Wir erinnern uns: Der Sinnengeschmack verweist auf diejenigen Urteile, die ein bloßes Wohlgefallen an einem Gegenstand in seinem Bezug auf das Gefühl der Lust und Unlust ausdrücken, d. h. die einen Gegenstand als angenehm oder unangenehm qualifizieren. Als ästhetisch-pathologische Urteile erweisen sie sich jedoch für eine Willensbestimmung nach klugen Maximen als untauglich. Diese muss sich von solchen bloßen Sinnes- oder Wahrnehmungsurteilen lösen und zu einem Begriff des Guten (im Sinne des zweckmäßig-Vollkommenen) finden, der wiederum mit der Bildung einer Idee der Glückseligkeit und einem Interesse verbunden werden konnte. Verhält es sich mit dem Verhältnis von Sinnes- und Denkungsart ähnlich? Wir haben Grund, dies anzunehmen. Die Sinnesart verweist auf das Temperament, welches eine Beziehung zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen festlegt. Wie schon beim Sinnengeschmack, kann auch hier nicht von einer Bestimmung des Begehrungsvermögens durch Maximen gesprochen werden, und damit auch nicht von Grundsätzen. Vielmehr besteht zwar ein Bezug zwischen beiden, er ist aber ganz in der (sinnlichen) Natur des Menschen gegründet (hier in Form des Temperaments). Mit anderen Worten: Ebenso wie es zur Herausbildung empirisch-praktischer (kluger) Urteile nötig ist, die zugrunde liegenden ästhetisch-pathologischen Urteile durch Anwendung der praktischen Kategorien in eigentlich praktische Urteile und damit in Prinzipien, in Maximen, umzuwandeln, ebenso ist es nötig, will man von einem „Charakter schlechthin“ sprechen, dass man im Ausgang vom eigenen Temperament „sich selbst an bestimmte praktische Principien bindet“. Zum Temperament muss Charakter hinzutreten, um vom bloß Physischen, nur auf das Gefühl Gerichteten zum vom Menschen selbst gestalteten Charakter überzugehen. Erst unter dieser Voraussetzung erscheint die eher willkürlich an einem Gefühl der Lust und Unlust sich orientierende Idee der Glückseligkeit als Ausdruck einer wirklichen Willensgesinnung, eben eines Charakters. Und nur auf diese Weise lassen die diesen Charakter ausdrückenden Maximen Ausnahmen nicht „zum Vortheil der Neigung“, sondern nur in Form von Einschränkungen durch andere Maximen zu. Der auf seiner je eigenen Idee der Glückseligkeit beruhende Charakter eines Menschen festigt sich demnach umso
5.2 Klugheit und Charakter
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mehr, je mehr diese Idee an den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ ausgerichtet wird.¹⁶⁶ Entscheidend ist demnach, was Kant unter einem „Mann von Grundsätzen“ versteht. Soll die Rede von subjektiven Maximen (der Klugheit), welche dann auch Grundlage für die Moralität bilden, Sinn haben, so müssen diejenigen Grundsätze, nach denen der Mann von Charakter handelt, weitestgehend mit jenen durch die Kategorien der Freiheit konstituierten Maximen, die eine Willensgesinnung (einen Charakter) hervorbringen, identisch sein.¹⁶⁷ Zumindest wurde bei dem „Mann von Grundsätzen“, von dem oben die Rede war, gerade nicht präzisiert, ob es sich um moralische oder auch subjektive Grundsätze handelt, welche aber nicht vom Instinkt, sondern vom Willen herrühren. Der Unterschied scheint im Begriff des Willens (im Gegensatz zum Begehrungsvermögen) zu liegen, indem er als „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ bzw. „nach Prinzipien“ verstanden wird. Für diese Lesart spricht, dass Kant an der Stelle zu Beginn der anthropologischen Charakteristik keineswegs fortfährt, der moralische Charakter käme nur dem bereits moralischen Menschen zu, demjenigen also, der nur und bereits nach moralischen Maximen handelt. Vielmehr ordnet er ihn dem Menschen als einem „vernünftigen“ und „mit Freiheit begabten“ (kursiv C.G.) Wesen zu. Freiheit und Moral sind hier meines Erachtens in eben dem Sinne zu verstehen, den Kant selbst in KdU hervorhebt, wenn er vom Menschen unter moralischen Gesetzen spricht im Unterschied zum Menschen nach moralischen Gesetzen: „daß wenn überall ein Endzweck, den die Vernunft a priori angeben muss, Statt finden soll, dieser kein anderer, als der Mensch (ein jedes vernünftige Weltwesen) unter moralischen Gesetzen sein könne.“ (KdU 5:448.31– 34) In der Fußnote zu diesem Satz erläutert Kant, dass es wesentlich auf das „unter“ ankomme, da wir mit einem „nach“ die Schranken unserer vernünftigen Einsicht überschreiten würden, indem angenommen werden müsste, der Mensch verhalte sich tatsächlich moralisch. Alles,
In ähnlichem Sinne betont Fricke, dass Maximen im Sinne von allgemeinen Prinzipien als Kriterien für Entscheidungen in konkreten Handlungssituationen dienen (vgl. Fricke 2008, 129) und daher passen müssten „zu der Person, die diese Handlung ausführt, zu ihren Gewohnheiten, zu ihren Präferenzen und all den charakterlichen Dispositionen, die sie als die berechenbare und zurechnungsfähige Person auszeichnen, die sie ist.“ (Fricke 2008, 132) Das bezieht sich in Kantischer Terminologie auf das Temperament – mit Ausblick auf eine Festigung des Charakters als Denkungsart. Munzel bemerkt, dass Kant im Zusammenhang mit „Charakter“ weder vom kategorischen Imperativ noch vom praktischen Gesetz oder Gesetz der Vernunft spreche, schließt aber im Rückgriff auf die Verwirklichung derselben als objektiver Gesetze qua subjektiver Maximen darauf, dass sich in den genannten „Grundsätzen“ dennoch nur das Moralgesetz ausdrücken könne (Munzel 1999, 65 – 70). Meine Interpretation dagegen lässt eine nicht-moralische Deutung zu.
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5 Reflexion und Charakter als Denkungsart
was wir wissen können, ist jedoch, dass wir unter den Geboten moralischer Gesetze stehen (vgl. KdU 5:448.35 – 449.24).¹⁶⁸ Die Erläuterung des Charakters als Denkungsart im Gegensatz zur Sinnesart stellt nun zwar zunächst fest: Einen Charakter aber schlechthin zu haben, bedeutet diejenige Eigenschaft, des Willens, nach welcher das Subject sich selbst an bestimmte praktische Principien bindet, die er sich durch seine eigene Vernunft unabänderlich vorgeschrieben hat (Anth 7:292.6 – 9).
Kant präzisiert aber sogleich: Ob nun zwar diese Grundsätze auch bisweilen falsch und fehlerhaft sein dürften, so hat doch das Formelle des Wollens überhaupt, nach festen Grundsätzen zu handeln (nicht wie in einem Mückenschwarm bald hiehin bald dahin abzuspringen), etwas Schätzbares und Bewunderswürdiges in sich; wie es denn auch etwas Seltenes ist (Anth 7:292.6 – 14).
Falsche Grundsätze aber sind nicht Sache der reinen (praktischen) Vernunft, sondern allenfalls einer sich bisweilen irren könnenden praktisch-reflektierenden Urteilskraft – es ist nicht die Rede von einer falschen Anwendung moralischer Prinzipien, sondern von falschen Grundsätzen selbst. Zudem beinhaltet die Möglichkeit eines falschen Grundsatzes, auch wieder von ihm abweichen und ihn fallen lassen zu können und zu dürfen, ohne sich eines Fehltrittes schuldig zu machen. Im Gegenteil: Allein auf diese Weise lassen sich falsche Grundsätze korrigieren – das wiederum ist aber auch ein Merkmal der (reflektierenden) Klugheit.¹⁶⁹ Wie bereits anklang, zeichnet sich Klugheit bei Kant nicht nur dadurch aus, dass, sondern wesentlich auch, wie sie Ausnahmen von Grundsätzen zulässt. Ausnahmen überhaupt, als Ausnahmen vom moralischen Grundsatz, aber sind für die Moral zunächst auszuschließen.¹⁷⁰ Welcher Art die Ausnahmen sind, die
Vgl. GMS 4:448.4– 7: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als u n t e r d e r I d e e d e r F r e i h e i t handeln kann, ist ebendarum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind“. Korsgaard nimmt dies zum Ausgangspunkt ihrer Argumentation für die Freiheit auch aller nicht-moralischen Handlungen (vgl. Korsgaard 1996, 175 sowie Korsgaard 1998, 59 f.). In diesem Sinne versteht Kant schon in der Anthropologie-Vorlesung Charakter im Sinne eines richtigen Gebrauchs der menschlichen Fähigkeiten. Vgl. z. B. VL Anth Collins 25/2.1:218.20 f., 227.15.ff. und 426.11 f. sowie Kain 2003, 235, der feststellt, Kant binde ab den 1770er Jahren Charakter an die Fähigkeit, überhaupt nach Regeln und Prinzipien zu handeln. Albrecht meint sogar, es dürfe für Maximen überhaupt keine Ausnahmen geben, darin bestünde gerade ihr Merkmal. Man könne sie ändern und durch andere ersetzen, aber gerade weil sie unverbrüchliche Grundsätze seien, könne sich der kategorische Imperativ auf sie beziehen (vgl. Albrecht 1994, 145). Brandt führt zwei Argumente an, die gegen eine ausschließlich moralische
5.2 Klugheit und Charakter
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Klugheit zulässt, soll Gegenstand der nächsten beiden Kapitel sein – auch wenn Kant sie zunächst als solche zu verstehen scheint, die die Gültigkeit einer Maxime zugunsten einer unmittelbar auftretenden Neigung aussetzen.¹⁷¹ Dass also mit dem „Charakter als Denkungsart“ im Unterschied zu einer Eigenschaft des Temperaments nicht nur der moralische Charakter gemeint sein kann (der in letzter Konsequenz auch den moralisch-schlechten Charakter umfasst, vgl. z. B. Anth 7:293.14 ff. und RGV 6:43.17 ff.), bestätigt sich in der Religionsschrift: Der zur Fertigkeit gewordene feste Vorsatz in Befolgung seiner Pflicht heißt auch T u g e n d d e r L e g a l i t ä t nach als ihrem e m p i r i s c h e n C h a r a k t e r (virtus phaenomenon). Sie hat also die beharrliche Maxime g e s e t z m ä ß i g e r Handlungen; die Triebfeder, deren die Willkür hiezu bedarf, mag man nehmen, woher man wolle. […] Der Mensch findet sich tugendhaft, wenn er sich in Maximen, seine Pflicht zu beobachten, befestigt fühlt: obgleich nicht aus dem obersten Grunde aller Maximen, nämlich aus Pflicht; sondern der Unmäßige z. B. kehrt zur Mäßigkeit um der Gesundheit, der Lügenhafte zur Wahrheit um der Ehre, der Ungerechte zur bürgerlichen Ehrlichkeit um der Ruhe oder des Erwerbs willen u.s.w. zurück; alle nach dem gepriesenen Prinzip der Glückseligkeit (RGV 6:47.1– 6 und 6:47.12– 17).
Ein tugendhafter Mensch hingegen könne, so fährt Kant fort, dann gerade nicht durch eine solche Reform, sondern nur durch Revolution zu einem intelligiblen Charakter gelangen. Im Gegensatz zu den Aussagen zur Ausnahme in den praktischen Grundlegungsschriften rückt der Kontext der oben isoliert zitierten Stelle aus der Pädagogik die Sachlage nun in ein etwas differenzierteres Licht und erlaubt ein alternatives Verständnis der angesprochenen Gemeingültigkeit im Gegensatz zur Allgemeingültigkeit:
Lesart des Charakters sprächen: Zum einen die pragmatische Interaktion, insofern wir wüssten, was wir von einer Person von Charakter zu erwarten haben, wobei Moral dabei nur eine stabilisierende Funktion einnehme. Und zum anderen die Nähe zur transzendentalen Philosophie, zur Ästhetik der KdU und zur Rechtsphilosophie. Er schließt daraus, die Anthropologie stelle eine Art Zusammenfassung der noch verbleibenden Themen von Kants Philosophie dar (vgl. Brandt 2003, 92 f.). Ähnlich versteht Jacobs Charakter als einen parallelen Begriff („parallel concept“) zur Klugheit, insofern er in festen Grundsätzen und Maximen bestehe, die sowohl für instrumentelle Vernunft, als auch für ihre Überwindung („transcendence“) durch moralische Imperative nötig sei. Im empirischen Charakter drückten sich die Züge des intelligiblen aus (Jacobs 2003, 119 f.). Allerdings bezieht sich Jacobs für seine Interpretation vor allem auf die (früheren) AnthropologieVorlesungen, für die bereits eingangs festgestellt wurde, dass sie Klugheit noch als Mittelglied zwischen Geschicklichkeit und Moral sehen (vgl. Schwaiger 1999, z. B. 26). Zudem wird aus dieser Verbindung von empirischem Charakter und moralischen Imperativen noch nicht die Stellung der Klugheit zum Charakter erkenntlich. So z. B. GMS 4:421.34, 4:424.29 – 31; KpV 5:28.16 f., KpV 5:36.31– 35, MdS 6:215.30 – 216.6 und KpV 5:126.29 – 35.
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5 Reflexion und Charakter als Denkungsart
Zur Weltklugheit gehört, daß man nicht gleich auffahre; man muß aber auch nicht gar zu lässig sein. Man muß also nicht heftig, aber doch wacker sein.Wacker ist noch unterschieden von heftig. Ein W a c k e r e r (strenuus) ist der, der Lust zum Wollen hat. Dieses gehört zur Mäßigung des Affectes. Die Weltklugheit ist für das Temperament. S i t t l i c h k e i t ist für den Charakter. Sustine et abstine, ist die Vorbereitung zu einer weisen Mäßigkeit. Wenn man einen guten Charakter bilden will: so muß man erst die Leidenschaften wegräumen.“ (Päd 9:486.28 – 36, kursiv C.G.)
Klugheit (hier als Weltklugheit) beinhaltet damit nicht nur die geschickte Manipulation anderer Menschen zu den eigenen, von unserer Natur (Temperament) vorgeschriebenen, Absichten, vielmehr ist auch eine „Lust zum Wollen“ gefordert, d. h. eine Selbstüberwindung, die eben noch einmal Bezug nimmt auf das eigene Begehren und den eigenen Willen dazu in eine Haltung bringt und ausdrückt, was für ein Mensch, was für eine Person jemand sein will (also weder, was für eine Person er ist, noch was für eine er sein soll). Dass sich Kant damit innerhalb des Zitats selber widerspricht, wird nur aufgrund der hier vorgelegten Interpretation deutlich, derzufolge eine „Lust zum Wollen“ gerade nicht aus dem Temperament allein hervorgehen kann, sondern ein durch Maximen bestimmtes Begehrungsvermögen erfordert. In der „Lust zum Wollen“ kommt die im Gefühl (und damit innerhalb der Natur des Menschen) angesiedelte Triebfeder zur Bestimmung des Verhältnisses von Gefühl und Begehrungsvermögen zum Ausdruck. Hier spiegelt sich der oben beschriebene Widerspruch der ästhetisch-pathologischen Urteile in ihrer Beziehung auf das Begehrungsvermögen mittels eines Interesses wider. Charakter „besteht in dem festen Vorsatze, etwas thun zu wollen, und dann auch in der wirklichen Ausübung desselben.“ (Päd 9:487.28 – 30) Erst die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen durch Grundsätze sagt etwas über die Art des Charakters aus, ob er ein bestimmter, auf Temperament beruhender, oder ein Charakter schlechthin ist.
5.2.2 Charakter als Denkungsart Insofern Charakter schlechthin mit festen Grundsätzen einhergeht, die der Mensch sich selbst macht, drückt sich in ihm dann auch eine Denkungsart aus.¹⁷² Diese besagt zunächst und ganz allgemein, dass dem Charakter eine Haltung im Denken vorausgeht, was auch Kants allgemeinem Gebrauch des Begriffs „Denkungsart“ zu entsprechen scheint. Eine Haltung im Denken zeigt sich immer dort,
In KrV setzt Kant die Sinnesart mit dem empirischen, die Denkungsart mit dem intelligiblen Charakter gleich: siehe KrV A 551/B 579.
5.2 Klugheit und Charakter
209
wo von dem Menschen die Rede ist, insofern seine Erkenntnisvermögen eine Einheit bilden, d. h. aufeinander bezogen sind. So z. B. gegen Ende des ersten Buches der anthropologischen Didaktik, das vom Erkenntnisvermögen handelt, wo Kant vom „ganze[n] Gebrauch des Erkenntnißvermögens zu seiner eigenen Beförderung“ (Anth 7:227.16 f.) spricht. Oder in KdU, wo er die Denkungsart bezeichnet als „Maximen, dem Intellectuellen und den Vernunftideen über die Sinnlichkeit Obermacht zu verschaffen.“ (KdU 5:274.10 f.) Die dazu erforderliche Leistung der Vernunft fasst er in den drei Geboten zusammen, die er an diejenige Klasse von Denkern (Köpfen) richtet, welche sich dem Anspruch der Aufklärung verpflichtet fühlen. Er setzt sie mit dem „Ausgang [des Menschen] aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ gleich, der damit „die wichtigste Revolution in dem Innern des Menschen“ darstellt (Anth 7:229.4 f.): We i s h e i t , als die Idee vom gesetzmäßig=vollkommenen praktischen Gebrauch der Vernunft, ist wohl zu viel von Menschen gefordert; aber auch selbst dem mindesten Grade nach kann sie ein anderer ihm nicht eingießen, sondern er muß sie aus sich selbst herausbringen. Die Vorschrift, dazu zu gelangen, enthält drei dahin führende Maximen: 1) Selbstdenken, 2) sich (in der Mittheilung mit Menschen) an die Stelle des Anderen zu denken, 3) jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken (Anth 7:200.31– 37).
Selbstdenken aber bedeutet für Kant „den obersten Probirstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen“ (Sich im Denken orientieren 8:146.29 f.). Das heißt, dass man sich selbst zu fragen habe, ob man es wohl thunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen (Sich im Denken orientieren 8:146.36 – 147.6, kursiv C.G.).
Ausdrücklich ist nicht vom Vernunftgebrauch eines jeden die Rede, sondern vom eigenen, und Aufklärung meint insofern nichts anderes als die „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ (Sich im Denken orientieren 8:147.9 f.). Daher ist es nach Kant auch leicht, „Aufklärung in einzelnen Subjecten durch Erziehung zu gründen“, man muss nur „früh anfangen, die jungen Köpfe zu dieser Reflexion zu gewöhnen.“ (Sich im Denken orientieren 8:147.11 f.) Kant teilt nun das menschliche Leben in drei Zeitalter ein, in denen er diesen von der Vernunft aufgegebenen Weg zur Weisheit abschreitet: Das Zeitalter der Gelangung des Menschen zum vollständigen Gebrauch seiner Vernunft kann in Ansehung seiner G e s c h i c k l i c h k e i t (Kunstvermögens zu beliebiger Absicht) etwa ins zwanzigste, das in Ansehung der K l u g h e i t (andere Menschen zu seinen Absichten zu brauchen) ins vierzigste, endlich das der We i s h e i t etwa im sechzigsten anberaumt werden;
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5 Reflexion und Charakter als Denkungsart
in welcher letzteren Epoche aber sie mehr n e g a t i v ist, alle Thorheiten der beiden ersteren einzusehen […] (Anth 7:201.1– 7).¹⁷³
Lesen wir diese Zitate im Zusammenhang, nämlich beide als auf eine Entwicklung des Menschen hin zur Weisheit bezogen, so gehört hier Klugheit gerade nicht mehr nur zum bloß natürlichen Temperament, sondern stellt als „erweiterte Denkungsart“ einen (den mittleren) Schritt auf dem von der Vernunft geforderten Weg zur Weisheit dar. Kant geht es also auch und gerade in diesem Kontext keineswegs um eine bereits moralische Bestimmung des Willens, sondern vielmehr um die Einsicht, dass der Mensch in pragmatischer Hinsicht auch diesen Gesetzen untersteht, ohne ihnen deshalb bereits aus Pflicht zu gehorchen. Dabei hat sich die Vernunft, will sie denn aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ ausbrechen, an ihren eigenen Vorschriften zu orientieren, welche sich auf den richtigen Gebrauch aller Erkenntnisvermögen beziehen. Die Einordnung der Klugheit in diesen Zusammenhang lässt sich nun anhand Kants Unterscheidung des gemeinen Menschenverstandes vom sensus communis ablesen: Unter dem sensus communis [im Unterschied zum Gemeinsinn als gemeinen Menschenverstand, den Kant direkt zuvor als noch nicht kultiviert vorstellt, C.G.] aber muß man die Idee eines g e m e i n s c h a f t l i c h e n Sinnes, d. i. eines Beurtheilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes andern in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt, um g l e i c h s a m an die gesamte Menschenvernunft sein Urtheil zu halten und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjectiven Privatbedingungen, welche leicht für objectiv gehalten werden könnten, auf das Urtheil nachtheiligen Einfluß haben würde (KdU 5:293.30 – 36, vgl. Anth 7:139.18 – 23 und Anth 7:140.8 – 14).
Und er formuliert anschließend wiederum die drei Gebote als „Maximen des gemeinen Menschenverstandes“: 1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der v o r u r t h e i l s f r e i e n , die zweite der e r w e i t e r t e n , die dritte der k o n s e q u e n t e n Denkungsart (KdU 5:294.16 – 19).
Wie schon an der direkt zuvor zitierten Stelle der Anthropologie bezieht sich auch hier die zweite Maxime auf die Klugheit. Kant betont, es ginge ihr nicht um das Erkenntnisvermögen, sondern darum,
Vgl. auch Päd 9:455.30 – 31: „In Ansehung der Geschicklichkeit und Klugheit muß alles nach den Jahren gehen. Kindisch geschickt, kindisch klug und gutartig, nicht listig auf männliche Art, das taugt eben so wenig, als eine kindische Sinnesart des Erwachsenen.“
5.2 Klugheit und Charakter
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einen zweckmäßigen Gebrauch davon zu machen: welche, so klein auch der Umfang und der Grad sei, wohin die Naturgabe des Menschen reicht, dennoch einen Mann von e r w e i t e r t e r D e n k u n g s a r t anzeigt, wenn er sich über die subjectiven Privatbedingungen des Urtheils, wozwischen so viele andere wie eingeklammert sind, wegsetzt und aus einem a l l g e m e i n e n S t a n d p u n k t e (den er dadurch nur bestimmen kann, daß er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urtheil reflectirt (KdU 5:295.7– 14).
Hannah Arendt hat hierin eine Begründung des Politischen bei Kant gesehen (vgl. Arendt 1998). Andere sind ihr darin gefolgt und haben ausgehend von Kants erweiterter Denkungsart eine eigene Theorie des Politischen entworfen (so z. B. Vollrath 1977 und 1987, Beiner 1983 sowie Pleines 1983.) Kant selber hingegen hatte mit dieser Formulierung zunächst nur die allgemeine Mitteilbarkeit des ästhetischen Urteils im Sinn, dem ein Prinzip a priori der reflektierenden Urteilskraft zugrunde liegt.¹⁷⁴ Meiner Meinung nach lässt sich eine solche Mitteilbarkeit jedoch auch und zunächst für die Klugheit im hier entwickelten Sinn in Anspruch nehmen. Denn mitteilbar sind schon jene allgemeinen Zwecke, die unter der Idee der Glückseligkeit zusammenzuhalten sind, insofern sie selbst nicht (ausschließlich) auf ihrer Wirkung auf das Gefühl beruhen, sondern auch von jedem anderen als Zweck anerkannt werden können – ohne deshalb zugleich als Triebfeder der reinen Vernunft den Willen bestimmen zu müssen. Insofern jemand solche Zwecke zu seiner Idee der Glückseligkeit zählt, liegt die Triebfeder des Willens zwar im Gefühl (in Form einer „Lust zum Wollen“) – aber es ist nicht das Gefühl an sich, das zur Maxime erhoben wird (vgl. Anth 7:228.31– 229.2). Auch Kants Unterscheidung des logischen, ästhetischen und praktischen (moralischen) Egoisten passt dazu: Dem Egoism kann nur der P l u r a l i s m entgegengesetzt werden, d. i. die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten (Anth 7:130.12– 14).
Allein das Abstrahieren von den eigenen Gefühlen, Annehmlichkeiten und privaten Interessen und das Einbeziehen der Perspektive anderer, mit denen man in einer Gemeinschaft lebt, erlauben es, über den eigenen Egoismus hinauszugehen. Und auch für das Geschmacksurteil stellt Kant fest, dass es dem Egoismus nur entgehen kann, indem es „als p l u r a l i s t i s c h gelten muß“ (KdU 5:278.20 f.), d. h.
Gadamer deutet Kant anders herum als Arendt, ihm zufolge habe dieser den zuvor politischmoralisch verstandenen „sensus communis“ entpolitisiert und ästhetisiert, indem er seine Moralphilosophie im geraden Gegensatz zur Theorie des „moralischen Gefühls“ entworfen habe (vgl. Gadamer 1972, 40 f., siehe dazu auch Beiner 1983, 22).
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5 Reflexion und Charakter als Denkungsart
indem ihm ein Prinzip a priori zugrunde gelegt werden kann, durch welches ein einzelnes, ansonsten egoistisches, Urteil jedem angesonnen werden kann. Zwei Feststellungen sind damit für die Klugheit zu machen: Erstens zeugt auch Kants Verständnis des Charakters als Denkungsart von seiner strikten Abkehr vom Empirismus. Er scheint die Klugheit auch hier ihrer Funktion als Maximen bildende Fähigkeit zu berauben, indem er sie dem Temperament und der Sinnesart zuordnet. Ein empirisch bedingter Charakter gehört für ihn zunächst zum Temperament und damit zur Natur. Zweitens aber öffnet Kant durch die drei einer Vorschrift der Vernunft unterstellten (Anth 7:200.34) Maximen der Denkungsart (an anderer Stelle: Gebote, vgl. Anth 7:228.29) eine Perspektive, in welcher der Klugheit innerhalb der Entwicklung des aufgeklärten Denkens und damit auch des Charakters eine Rolle zukommt: nämlich aus der Natur, aus dem Temperament heraus einen Beitrag zur Entwicklung eines letztlich moralisch-sittlichen Charakters zu leisten.¹⁷⁵ Und so wird auch verständlich, wie aus dieser Perspektive von der allmählichen Bildung eines Charakters (als Voraussetzung für einen moralischen Charakter) gesprochen werden kann: Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewußt ist, hat ihn nicht von der Natur, sondern muss ihn jederzeit e r w o r b e n haben. […] Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt n i c h t n a c h u n d n a c h , sondern nur gleichsam durch eine Explosion, die auf den Überdruß am schwankenden Zustande des Instincts auf einmal erfolgt, bewirken. Vielleicht werden nur wenige sein, die diese Revolution vor dem 30sten Jahre versucht, und noch weniger, die sie vor dem 40sten fest gegründet haben. […] Fragmentarisch ein besserer Mensch werden zu wollen, ist ein vergeblicher Versuch; […] die Gründung eines Charakters aber ist absolute Einheit des innern Princips des Lebenswandels überhaupt (Anth 7:294.22– 295.2).
Erst mit der Hinwendung zum Charakter als Denkungsart wird Klugheit somit in ihrem ganzen (und damit doppelten) Sinn verständlich.¹⁷⁶ Denn Kant spricht
Wenn Hutter daher den Übergang von der Bestimmung des Menschen als Natur- zu seiner Bestimmung als Vernunftwesen in der reflektierend durch einen Standpunktwechsel erweiterten Vernunfttätigkeit sieht, mittels welchem sich die reflexive Urteilskraft in ihrem eigenen Interesse auf ein vorangehendes Interesse bezieht, so ist dieser Übergang vom bloß technisch-praktischen zum moralisch-praktischen Standpunkt gewissermaßen bereits innerhalb des technisch-praktischen Zusammenhangs angelegt (vgl. Hutter 2003, 175 f.). Jacobs sieht eine Doppeldeutigkeit im Begriff der Klugheit, insofern sie sich einerseits als instrumentelle Tätigkeit darstelle, um die vom Menschen gesetzten Ziele zu erreichen, der damit verbundene „dauernde Vorteil“ auf der anderen Seite aber auf Gerechtigkeit und Moral basiere. In diesem Sinne ähnele Kants Klugheit der Aristotelischen phronesis (vgl. Jacobs 2003, 113 f.). Anders als Jacobs verstehe ich die Doppeldeutigkeit nicht so, dass Klugheit im zweiten Sinn auf Gerechtigkeit und Moral basiert, sondern vielmehr zunächst auf sie bezogen ist.Wie angedeutet, liegt
5.2 Klugheit und Charakter
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immer dort schon von Klugheit, wo sie, wie in GMS ausgeführt, eigentlich Geschicklichkeit mit Absicht auf eine maximale Annehmlichkeit bezeichnet. Beruht sie auf einer Vorstellung von Glückseligkeit, die nichts als angenehme Gefühle (Summe aller Neigungen) beinhaltet, ist auch Klugheit nichts anderes als die Geschicklichkeit, die geeigneten Mittel zum Angenehmen zu finden. Die aber lässt sich durch Erfahrungswerte in Form von Wahrnehmungsurteilen festmachen, die durch häufige Wiederholung an Wahrscheinlichkeit gewinnen und geschickt bis hin zu einer Quasi-Erkenntnis weiterentwickeln. In diesem Sinn aber kann Klugheit auch nicht mehr sein als eine bestimmte Wirkung des Temperaments, das für jeden einzelnen Menschen von Natur aus eine bestimmte Bedeutung dessen vorgesehen hat, was ihm angenehm ist und was nicht.Wir befinden uns innerhalb dessen, was die Natur qua unseres Temperaments aus uns zu machen ermöglicht (und insofern aus uns macht). Zwar werden bei diesem „Handeln“ Lebenskräfte angeregt, indem z. B. im Zusammenspiel von Gefühl und Begehrungsvermögen Spannung und Entspannung sich abwechseln, und insofern kann auch von Tätigkeit gesprochen werden (vgl. Anth 7:286.27– 32). Von einem „Charakter schlechthin“ aber und Handeln nach festen, sich der Tugend annähernden Maximen oder Grundsätzen bzw. Prinzipien kann dabei nicht die Rede sein. Bliebe es bei diesem Begriff der Klugheit, so wäre Autoren wie Luckner zuzustimmen und Klugheit nicht mehr wert als Geschicklichkeit in der Wahl eines als möglichst angenehm bestimmten (dominanten) Ziels, das darüber hinaus eben auch durch die Natur als notwendiges und allen gemeinsames Ziel (Glückseligkeit) identifizierbar wäre – wenn dies auch durch Maximen geschieht. Die hier vorgestellte Rekonstruktion der Idee der Glückseligkeit als einer ästhetischen Idee, die nicht auf solchen Vorstellungen des Angenehmen (Normalidee), sondern auf Vernunftideen beruht, hat sich nun als erster Schritt zu einer Lösung dieser Schwierigkeit erwiesen, wenn auch nicht als letzter. Denn was sind solche Vernunftideen anderes, als solche, die für jedermann geltend, d. h. auch vom Standpunkt eines jeden anderen als möglicher Zweck vorgestellt werden können? Und inwiefern sind das dann auch schon moralische Ideen? In welchem Verhältnis, so muss gefragt werden, steht die erweiterte Denkungsart als eine von drei Denkungsarten, die den „Charakter schlechthin“ ausmachen, zur Sittlichkeit? Diese Fragen werden in den Kapiteln 6 und 7 behandelt.
das mit Aristoteles verbindende Moment wesentlich im Begriff der Reflexion, der nicht von diesen moralischen Momenten abstrahieren kann, Klugheit basiert aber nicht notwendigerweise in dem Sinne auf Moral, dass eine kluge Handlung sich zugleich als eine moralische im Kantischen Sinne auszeichnen müsste. Dies wird in den beiden nächsten Kapitel noch deutlicher zutage treten.
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5 Reflexion und Charakter als Denkungsart
5.2.3 Originalität der Denkungsart Je mehr die erweiterte Denkungsart hinführt auf einen nach immer festeren Grundsätzen handelnden Charakter (eine entsprechende Willensgesinnung), desto weniger kann sie bei allen Menschen festgestellt werden. Nicht also fordert bereits der Begriff der Maxime überhaupt, dass sie keine Ausnahme zulässt, dass sie unbedingte Allgemeinheit ausdrückt bzw. beansprucht. Vielmehr führt ein zunehmender Grad an Allgemeinheit, eine zunehmende Festigkeit der Grundsätze zu einer „inneren Einheit des Lebenswandels“ (Anth 7:295.1 f.), wie sie dann in ihrer ganzen Konsequenz nur dem Moralisch-Tugendhaften attestiert werden kann. Handeln nach solchen festen Maximen meint dann ein Handeln, das aus der gemeinen Menschenvernunft, aus dem Alltäglichen, aus der Gewohnheit herausfällt und sich als etwas Besonderes, als eine „Seltenheit, die Hochachtung […] und Bewunderung erregt“ (Anth 7:292.1 f.), erweist. Kant hält also Charakter als Denkungsart, d. h. das Handeln nach festen, unabänderlichen Grundsätzen, für etwas Seltenes. Damit knüpft er den Charakter nicht nur an die Denkungsart, sondern auch an die bereits im Zusammenhang mit der ästhetischen Idee erörterte Forderung von Originalität. Der N a c h a h m e r (im Sittlichen) ist ohne Charakter; denn dieser besteht eben in der Originalität der Denkungsart. Er schöpft aus einer von ihm selbst geöffneten Quelle seines Verhaltens. Darum aber darf der Vernunftmensch doch auch nicht S o n d e r l i n g sein; ja er wird es niemals sein, weil er sich auf Principien fußt, die für jedermann gelten (Anthr 7:293.3 – 7).
Eines der Charakteristika einer Person von Charakter ist damit, im Gegensatz zur nur ihre gemeine Menschenvernunft einsetzenden, nicht nachzuahmen, sondern, um den ästhetischen Ausdruck aufzugreifen, zur Nachfolge anzuregen, selbst ein Beispiel abzugeben.¹⁷⁷ Originalität wäre keine solche, würde sie von jedem beansprucht (und verwirklicht), und damit sticht die „Person von Charakter“ aus der Masse der bloß mit „gemeiner Menschenvernunft“ begabten heraus. Die dreifach sich entfaltende Denkungsart, die die Ausbildung des Charakters als originellen kennzeichnet, bleibt daher auch beschränkt auf die „Klasse der Denker“ als nur eine von vielen Arten und Weisen, Gegenstände und sich selbst zu sehen. Für sie könnten die drei Maximen „zu unwandelbaren Geboten gemacht werden“ (Anth 7:228.23 – 30). Somit liegen hier beide eingangs erwähnten Begriffe des Charakters vor: die des sich mit anderen vergleichenden (das Charakteristische) und die des einen, moralischen Charakters. Zudem sind wir verwiesen an Aristoteles’ Definition des klugen Handelns als demjenigen, das dem Handeln des bereits Klugen folgt (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140b und 1141b).
5.2 Klugheit und Charakter
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In diesem Sinne müssen sich die drei Maximen der Denkungsart auch als Vorschrift oder Gebot der Vernunft an den gemeinen Menschenverstand richten, welcher schon dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend „das vulgare, was man allenthalben antrifft, versteht, welches zu besitzen schlechterdings kein Verdienst oder Vorzug ist.“ (KdU 5:293.27– 29) Handeln im eigentlichen Sinne (als Handeln nach Maximen) zeichnet sich daher immer schon durch die ihm zugrundeliegende, über den bloß gewöhnlichen hinausgehenden Gebrauch des Verstandes aus und meint explizit nicht solche Handlungen, die auf ästhetisch-pathologischen Urteilen beruhen. Auch in der Aufklärungsschrift betont Kant, dass der Übergang zur aufgeklärten Denkungsart nur wenigen Menschen gelinge, da es jedem einzelnen Menschen schwerfalle, aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. […] Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.[…] Daher giebt es nur Wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu thun (Aufklärung 8:36.4– 15).
Man fühlt hier sich sogleich an Kants Ausführungen zum Witz (ingenium) erinnert, den er als ein Talent bezeichnet, „zum Besondern das Allgemeine auszudenken“ und wie auch die Scharfsinnigkeit als „Luxus der Köpfe“ auf eben diese wenigen Köpfe begrenzt, während „der gemeine und gesunde Verstand […] sich auf das wahre Bedürfnis“ einschränke (Anth 7:201.32– 34). Brandt fasst treffend zusammen: Man braucht z. B. nur alles das nicht zu tun, was unter den Titeln ‚Wahnwitz und Dummheit‘ und ‚Unterschied der Thorheit und Narrheit‘ detailliert und mit Süffisance ausgeführt wird; wer alle von Kant beobachteten und katalogisierten Dummheiten, Torheiten und Narreteien unterlässt, ist schon ein hervorstechend kluger Mensch. Positiv sollte man sich aneignen,was unter ‚Witz und Scharfsinnigkeit‘ steht, vielleicht inklusive der Ausführungen ‚Vom Lachen‘ (Brandt 2004, 368).
Originalität kommt nur den aufgeklärten bzw. den der Aufklärung willigen Köpfen zu, nur ihnen kann ein kluges, sich vom unmittelbaren Vorteil der pathologisch erscheinenden (wahrgenommenen) Neigungen abhebendes Handeln bescheinigt werden.¹⁷⁸ Für dieses Verständnis mag schließlich ebenfalls Kants Bemerkung zur
Vgl. Albrechts Feststellung, für Kant seien Maximen zum einen „eine bewusste Entscheidung“ und würden zum anderen „nur von wenigen vollzogen und angewendet“ (Albrecht 1994,
216
5 Reflexion und Charakter als Denkungsart
Verrücktheit herangezogen werden: „Das einzige allgemeine Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn (sensus privativus)“ (Anth 7:219.6 – 8).
5.2.4 Klugheit und Verschlagenheit Die Untersuchung der erweiterten Denkungsart belegt damit, dass Klugheit sich genau dann abheben kann von einem bloß natürlichen, durch Naturanlagen vorbestimmten Verhalten, wenn sich das Denken und das aus ihm folgende Handeln einer aufgeklärten Denkungsart überhaupt unterwerfen und auf dieser Grundlage nicht aus natürlichen Anlagen heraus entstehen, sondern nach Maximen, nach möglichst festen Grundsätzen erfolgen. In diesem Sinn ist subjektiv und empirisch bestimmtes, durchaus noch nicht sittliches Handeln Voraussetzung dafür, dass letzteres überhaupt entstehen kann. Zugleich wird deutlich, dass die reflektierende Überprüfung der anhand einer praktischen Anschauung unter Einbeziehen der Idee der Glückseligkeit gebildeten Maximen, bei welcher sie mit den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ zusammengehalten werden sollen, auf eben jener erweiterten Denkungsart beruht, die über die bloßen Privatbedingungen des Handelns hinausgeht, indem sie die eigenen Maximen, die eigenen Grundsätze an der Perspektive des Anderen und ihrem möglichen Urteil überprüft. Erst auf diese Weise lässt sich einsehen, inwiefern sich Klugheit von Fähigkeiten wie Arglist oder Verschlagenheit unterscheidet, die ebenfalls auf den eigenen Vorteil gerichtet zu sein scheinen: Arglist bezeichnet Kant als die „Denkungsart sehr eingeschränkter Menschen“, denn man könne nur einmal den Treuherzigen hintergehen, ein zweites Mal falle dieser nicht herein (Anth 7:198.15 – 20). Gleiches gilt von der Verschlagenheit (Anth 7:2516 – 20). Beide haben nur den Anschein der Klugheit, und Wilson urteilt richtig, der Unterschied zur Klugheit bestünde darin, dass letztere auch den Zweck des anderen mitberücksichtige und diesen nicht ohne seine Zustimmung benutze (vgl. Wilson 2006, 80), während
135). McCarty argumentiert gegen Albrecht, jeder Mensch handle nach Maximen, auch derjenige, der keinen Charakter habe, was er darauf zurückführt, dass Kant Charakter eben nicht auf Maximen überhaupt, sondern lediglich auf ethisch-praktische Prinzipien beziehe. Zwischen beiden vermittelnd zeigt die hier vorgestellte Interpretation, dass die Scheidelinie zwischen dem originellen, nach festen Maximen erfolgenden und damit wahrhaft klugen Handeln und einem zwar nach Maximen erfolgenden, aber von Ausnahmen „zum Vorteil der Neigungen“ durchzogenen Handeln, das klug nur im eingeschränkten Sinn genannt werden kann, verläuft. Die Differenz zwischen Handeln nach festen (wenn auch dennoch abänderlichen) Grundsätzen und Handeln nach beliebigen Maximen ist demnach eine dem Klugheitsbegriff inhärente.
5.2 Klugheit und Charakter
217
Arglist und Verschlagenheit lediglich den vermeintlichen eigenen Vorteil im Blick hätten (Wilson 2006, 32). Im Gegensatz zu diesen von der erweiterten Denkungsart losgelösten Eigenschaften überprüft der Kluge sein Urteil (über das, was ihm seiner Meinung nach einen Vorteil verschafft) noch einmal anhand der Perspektive des Anderen.¹⁷⁹ Hier schwingt auch das Gebot des kategorischen Imperativs mit, „die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit als Zweck, niemals bloß als Mittel“ zu brauchen (GMS 4:429.10 – 12). Wilson weist daher zu Recht darauf hin, dass Klugheit, sofern sie sich der Moral unterordnet, niemals andere ohne deren Zustimmung nur als Mittel benutzen könne (vgl. Wilson 2006, 80). Hierauf wird in den beiden folgenden Kapiteln zurückzukommen sein. Die Reflexion auf das mögliche Urteil anderer kann ja nicht anders, als diejenigen Zwecke zu berücksichtigen, die der andere sich ebenfalls als allgemein mitteilbar bestimmen kann. Nicht aber kann auf das jeweilige subjektive Empfinden angenehmer oder unangenehmer Zustände Rücksicht genommen werden. Denn wir können nicht wissen, was der Andere als angenehm empfindet, wohl aber können wir uns eine Vorstellung davon machen, was er als empirische Zwecke zu seiner Idee der Glückseligkeit zählen könnte. Ein Zusammenhalten der eigenen subjektiven Zwecke unter einer Idee der Glückseligkeit kann nur in Bezug auf eben solche „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“ erfolgen, die auch dem anderen wiederum als mögliche allgemeine und dadurch mitteilbare Zwecke zugeschrieben werden können.
In diesem Sinne sieht Wilson auch Cleverness als von Privatklugheit entkoppelte Weltklugheit, da erstere allein dazu in der Lage sei, die möglichen Zwecke eines Menschen zu vereinheitlichen und in ein System zu bringen (vgl. Wilson 2006, 33).
6 Staatsklugheit und Recht Bis hierher konnte gezeigt werden, dass Klugheit bei Kant nicht notwendigerweise und ausschließlich auf die Verwirklichung der eigenen Glückseligkeit in Form eines maximal angenehmen Zustandes bezogen sein muss. Vielmehr kann sie auch einen „höherstufigen“ Glücksbegriff meinen, der über das bloß sinnliche Begehren und dessen Maximierung hinausgeht. Klugheit stellt sich in diesem Sinne als eigenständige Fähigkeit dar, Maximen beurteilend zu konstituieren und diese zunächst subjektiven Prinzipien zugleich am möglichen Urteil anderer und ihren (wesentlichen und allgemeinen) Zwecken zu überprüfen. Wir haben jedoch ebenfalls gesehen, dass der Begriff des Charakters an die Entwicklung aller drei Maximen des aufgeklärten Denkens gebunden ist. Auch die Herausbildung eines an Klugheit orientierten Charakters ist somit zuletzt auf das Ziel der Entfaltung der moralischen Anlage eines jeden Menschen gerichtet. Klugheit, die über eine Geschicklichkeit zur Auffindung der geeigneten Mittel zu einem möglichst angenehmen Zustand hinausgeht, lässt sich also nicht gänzlich von der Moral trennen. Aus diesem Grunde kann eine vollständige Darstellung des Begriffs der Klugheit deren Verbindung zu Recht und Moral nicht übergehen, sie wird im Gegenteil den hiermit explizit gemachten Zusammenhang näher herausarbeiten müssen. Daher soll im Folgenden anhand des Begriffs der Staatsklugheit aufgezeigt werden, dass es auch im Politischen um die Frage geht, ob und wenn ja, wodurch sich Klugheit von Gerissenheit unterscheidet, ob Staatsklugheit also auf eine Art Machiavellismus beschränkt bleibt, oder ob ihr vielmehr im Rahmen des politischen Handelns eine eigene Bedeutung zukommt. Entsprechend gilt es für den Bezug der Klugheit auf die Moral (in der Tugendlehre), Kriterien zu erarbeiten, nach denen sich Klugheit von Moral abgrenzen lässt. Es gilt, den Stellenwert der Klugheit im Rahmen der Moral zu bestimmen. Des Weiteren wird sich zeigen, dass Staatsklugheit als ausübende Rechtslehre mit dem Handlungsspielraum der Politik übereinstimmt, und es soll anschließend die These vertreten werden, dass parallel dazu die individuelle Klugheit als „ausübende Tugendlehre“ zu fassen ist (Kapitel 7). Da das erste Verständnis offensichtlicher aus Kants Texten hervorgeht, und sich das zweite interpretatorisch durch Rückgriff auf das erste erschließen lässt, beginne ich mit den Erläuterungen zur Staatsklugheit. Hierzu soll zuerst der Zusammenhang von Recht und Politik untersucht werden, um den Ort und die Funktion der Politik im rechtlichen Zusammenhang bestimmen zu können (6.1). Daraus ergibt sich dann die nähere Beleuchtung der Politik (und damit der Staatsklugheit) als „ausübende Rechtslehre“ (6.2) und wird das Prinzip der Publizität als eines ihrer Instrumente vorgestellt (6.3).
6.1 Recht und Politik
219
6.1 Recht und Politik In der kleinen Schrift Zum Ewigen Frieden schreibt Kant: Die wahre Politik kann also keinen Schritt thun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, und obzwar Politik für sich selbst eine schwere Kunst ist, so ist doch Vereinigung derselben mit der Moral keine Kunst […] (EF 8:380.27– 30).
Äußerungen wie diese haben manche Interpreten dazu bewogen, Kant einen moralischen bzw. moralisierenden Politikbegriff zu unterstellen, dem seine Eigenständigkeit und damit auch ein eigener Handlungsspielraum abginge (vgl. Brandt 2004, 377). In seiner jüngsten Abhandlung zur politischen Philosophie Kants fasst Horn daher die beiden vorherrschenden Interpretationsansätze zum Verhältnis von Recht und Politik zur Moral bei Kant gemäß einer Abhängigkeitsund einer Trennungs- bzw. Unabhängigkeitsthese zusammen (vgl. Horn 2014, 9).¹⁸⁰ Vertreter der ersten These verteidigen Horn zufolge eine Ableitung der Normativität der Rechts- und damit auch der politischen Philosophie aus der auf dem kategorischen Imperativ beruhenden Moral. Vertreter der zweiten These plädieren hingegen für eine unabhängig vom kategorischen Imperativ und damit der Moralphilosophie im engeren Sinn bestehende Rechts-und politische Philosophie.¹⁸¹ Tatsächlich, so gesteht auch Horn zu, scheint die Beweislast für eine moralische Lesart der Politik erdrückend, weist Kant doch an verschiedenen Stellen auf eine offensichtliche Verbindung zwischen Moral und Recht hin (so etwa MdS 6:214.13 ff., 6:218.3 – 14 oder 6:239.16 – 21). Dennoch, so teile ich die Auffassung Horns, muss an einer direkten Abhängigkeit zumindest zwischen Moral und Politik gezweifelt werden. Wie Willaschek überzeugend zeigt, gibt es im Grunde keine Rechtsimperative, sondern kann Kant lediglich das Recht zu zwingen herleiten bzw. rechtfertigen, da die sogenannten
Eine erste Skizze seiner Thesen findet sich bereits in Horn 2009. Zu den ersteren zählen auch in Beziehung auf die politische Philosophie u. a. Aubenque 2007, Baum 2009, Brandt 2005, Guyer 2002, Höffe 1990, 1989 und 2012, Kersting 2007, Römpp 2006 und Williams 1992, für die zweite in jüngerer Zeit vor allem Willaschek 2002, weitere Verweise bei Horn 2014, 9. Stagneth 2000 und Klar 2007 betonen die Bedeutung der Religionsschrift als über Kants in der Rechtslehre und den kleineren Schriften wie dem Gemeinspruch oder dem Ewigen Frieden hinausgehende Konzeption, mit welcher er ein ethisches Gemeinwesen zu begründen suche, in welchem Moral, Recht und Politik eins wären. Eine solche Deutung muss Kants Rechts- und politische Philosophie als für sein moralisches Unterfangen unzureichend auffassen, insofern sich in ihr die Abhängigkeitsthese gerade nicht bestätigt und durch ein (Individual‐) Moral und Recht vereinigendes Gemeinwesen überboten werden muss, um zum Ideal der reinen Vernunft gelangen zu können.
220
6 Staatsklugheit und Recht
Rechtspflichten weder kategorische, noch hypothetische Imperative sein könnten (vgl. Willaschek 2002, bes. 75 ff.). Er weist damit Höffes Deutung zurück, derzufolge Kant einen „kategorischen Rechtsimperativ“ voraussetze, der auf der gleichen Allgemeingültigkeit beruhe wie der kategorische Imperativ der (Individual‐) Moral (vgl. Höffe 1999, 41 ff.).¹⁸² Willascheks These ist nicht nur schlüssig, sondern fügt sich auch in die Erkenntnis unseres ersten Kapitels, derzufolge eine starke Normativität für die Imperative der Klugheit zurückgewiesen werden musste. Auch Wood vertritt die Auffassung, keine der in Frage kommenden Stellen könne für eine moralische Lesart von Rechtslehre und Politik einstehen, der Begriff des Rechts sei nicht identisch mit der Begründung des Rechtsstaats oder gar der Politik (vgl. Wood 2002, 6 f.). Ich werde mich im Folgenden auf denjenigen Zusammenhang konzentrieren, der für die vorliegende Arbeit relevant ist: die Frage nach der Stellung der Politik in Kants Rechtslehre, insofern Kant sie mit der Staatsklugheit in Verbindung bringt. Aus diesem Grund werde ich mich der Diskussion um eine moralische Begründung oder Legitimation sowohl des Rechtsbegriffs überhaupt als auch des Rechtsstaates (der Frage nach dem exeundum) enthalten und verweise auf den Interpretationsvorschlag Horns. Auf seine These einer „nichtidealen Normativität“ von Recht und Politik wird allerdings zurückzukommen sein. Zuerst wird es um die Rolle der Politik im Rechtsstaat gehen, d. h. als eine von drei Funktionen bzw. Gewalten, die der Gründung und Erhaltung des Staates dienen (6.1.1) sowie um das sich daraus ergebende Verständnis des Verhältnisses von Politik und Moral (6.1.2).
6.1.1 Die Rolle der Politik im Rechtsstaat Für Kant besteht der Zweck des Staates ausdrücklich nicht darin, die Glückseligkeit eines jeden Staatsbürgers zu suchen oder zu garantieren, sondern jedem Einzelnen die Möglichkeit zu garantieren, diese selbst zu suchen, sprich: Jeder soll nach seiner Façon glücklich werden dürfen, der Staat hat darüber nicht zu bestimmen, sondern lediglich die Rahmenbedingungen zu sichern (vgl. z. B. Gemeinspruch 8:290.29 – 33 oder EF 8:386.15 – 17). Zweck des Staates ist demnach die Sicherung des Gemeinwesens selbst, insofern dieses nach Kant die einzige Möglichkeit für ein friedliches und die Freiheit des Einzelnen garantierendes Zusammenleben ist. Kant versteht Recht damit als
Zu Willascheks Kritik an Höffe siehe Willaschek 2002, 71. Auch Kersting weist darauf hin, dass die Rechtsphilosophie „die moralische Rechtfertigung des Zwangs“ beinhalte (Kersting 2007, 102).
6.1 Recht und Politik
221
die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern dies nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; und das ö f f e n t l i c h e Recht ist der Inbegriff der ä u ß e r e n G e s e t z e , welche eine solche durchgängige Zusammenstimmung möglich machen (Gemeinspruch 8:289.35 – 290.4).¹⁸³
Nun müssen alle Staaten als bereits gegründete angesehen werden, wie auch Horn und Kersting betonen. Kant vertritt explizit keinen Kontraktualismus à la Hobbes, Locke oder Rousseau, demzufolge tatsächlich ein Vertrag zwischen den Bürgern bzw. zwischen den Bürgern und dem Souverän geschlossen würde. Vielmehr handelt es sich bei Kants Betrachtungen der Staatsgründung um ein Gedankenexperiment bezüglich bestehender Staaten.¹⁸⁴ Auch bei der hier ausgeklammerten Frage nach dem exeundum, dem Übergang vom Natur- zum Rechtszustand, geht es also nicht um einen tatsächlich zu schließenden Vertrag, und wir haben bei unseren weiteren Erläuterungen von den bereits existierenden Staaten auszugehen. In welchem Verhältnis innerhalb dieses einmal bestehenden Rechtszustandes dann Politik zum Recht steht, verdeutlicht Kants Auffassung der Gewaltenteilung: Zur Gestaltung des nach den drei Rechtsprinzipien Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit (vgl. dazu MdS 6:314.5 – 14 und Gemeinspruch 8:290.16 – 21) einzurichtenden Staates erläutert er: Der R e g e n t des Staats (rex, princeps) ist diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt: der A g e n t des Staats, der die Magisträte einsetzt, dem Volk die Regeln vorschreibt, nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann. Als moralische Person betrachtet, heißt er das D i r e c t o r i u m , die Regierung. Seine B e f e h l e an das Volk und die Magisträte und ihre Obere (Minister), welchen die S t a a t s v e r w a l t u n g (gubernatio) obliegt, sind Verordnungen, D e c r e t e (nicht Gesetze); denn sie gehen auf Entscheidung in einem besonderen Fall und werden als abänderlich gegeben. Eine R e g i e r u n g , die zugleich gesetzgebend wäre, würde d e s p o t i s c h zu nennen sein […] (MdS 6:316.24– 35).
Im Prinzip der Gewaltenteilung wird die Trennung von (moralischer) Rechts- und Staatsbegründung und ausübender Politik sichtbar: Die Übereinstimmung zwi-
Auch hier deutet sich die schwierige Frage nach der Art der Freiheit an, die in dieser Untersuchung außen vor bleiben muss: Vertreter einer Abhängigkeitsthese tendieren dazu, hierunter die transzendentale und moralische Freiheit der Individuen zu verstehen (so etwa Römpp 2006, 74 ff., 118 – 212 sowie 153). Für eine alternative Interpretation im Rückgriff auf KrV A 802/B 830 vgl. z. B. Schadow 2013, 92. Zu einigen Schwierigkeiten mit der Rechtsstaatsbegründung im Zusammenhang mit der zugrunde gelegten Willkürfreiheit siehe Pippin 1999, bes. 81– 85. Kersting spricht von einem „anthropologisch nicht behafteten Zustand des reinen Privatrechts“ (Kersting 2007, 258), Horn von einem „ahistorischen Kontraktualismus“ (Horn 2014, 182 f.).
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6 Staatsklugheit und Recht
schen der Verfassung und den apriorischen Rechtsprinzipien ist allein Sache der Gesetzgebung. Diese wiederum beruht auf dem Akt des Zusammenschlusses des Willens Aller zu einem Rechtsstaat. Die Regierung (d. h. die Politik) hingegen dient der Ausübung dieser Rechtsprinzipien und damit ausdrücklich nicht ihrer Bestimmung, d. h. nicht der Gesetzgebung. Ihre Verordnungen werden als abänderlich vorgestellt, sind demnach auch keine allgemeinen oder allgemeingültigen Gesetze (im moralischen Sinn). Wie Horn feststellt, nimmt „der Gesetzgeber nicht zugleich die Exekutivgewalt im Staat“ ein, er agiert vielmehr „als Repräsentant des Volkswillens“ (Horn 2014, 229). Die Politik in Form der Regierung hat daher auch nicht darüber zu entscheiden, ob die Verfassung, also die Gesetze eines Staates, mit der Moral (mit den aus dem moralisch deduzierten Rechtsbegriff) übereinstimmen. Vielmehr obliegt es ihr, darüber zu wachen, dass in den einzelnen Handlungen der Regierung, also der Umsetzung der Gesetze (per Dekrete oder Verordnungen) der gesetzgebende Wille des Volkes gewahrt bleibt. Gemeinsam mit der Rechtsprechung, d. h. der richterlichen Gewalt, dient die Politik der Erhaltung, nicht aber der Bildung des Staates: Sie sind zwei der drei Gewalten, durch welche der Staat „sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält.“ (MdS 6:318.6, kursiv C.G.) Die Bildung des Staates kommt dabei der Verfassung (und damit dem vereinigten Willen aller) zu, sein Erhalt dagegen der Judikative und Exekutive. Mit anderen Worten: Die Staatsgründung entscheidet über die Moralität eines Staates und seiner Verfassung, nicht aber die einzelne, diese Verfassung umsetzende Regierung. Horn schreibt daher zu Recht, der Vertragsidee komme „eine legitimierende Funktion zu, durch die der Staat als Vernunftordnung erscheint.“ (Horn 2014, 186) Der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Politik und Moral liegt nun in Kants weiteren Ausführungen zum Gedanken der Gewaltenteilung: Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legislatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das H e i l des Staats (salus reipublicae suprema lex est); worunter man nicht das Wo h l der Staatsbürger und ihre G l ü c k s e l i g k e i t verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch e i n e n k a t e g o r i s c h e n I m p e r a t i v verbindlich macht (MdS 6:318.3 – 14).
Zunächst wird hier bestätigt, was sich angedeutet hatte: Die Vernunft gebietet, nach der „größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien“ zu streben. Die Bildung einer solchen Verfassung besteht darin, dass die Menschen einen Staat gründen, in welchem ihrer aller Wille in der Verfassung, d. h. den
6.1 Recht und Politik
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damit durch sie erlassenen staatsbegründenden Gesetzen vereinigt ist. In diesem Sinne sind alle Menschen, die sich zu einer solchen rechtsstaatlichen Ordnung zusammenschließen, gesetzgebende Glieder innerhalb derselben und somit Staatsbürger nach den drei Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit. Daran zeigt sich, dass Kant deutlich zwischen der (staatsbegründenden) Gesetzgebung und der diese Gesetzgebung ausführenden souveränen Regierung unterscheidet. Und es sollte ersichtlich geworden sein, dass zumindest diese letzte damit nicht ursprünglich über die Moralität des Staates entscheidet. Für die Politik stellt sich zunächst also gar nicht die Frage, ob sie und ihre Tätigkeit selbst in moralischen Geboten (im Sinne einer auf dem kategorischen Imperativ beruhenden Individualmoral) begründet sind.
6.1.2 Der Zusammenhang von Politik und Moral Politik kann also nicht moralisch hergeleitet werden (im Unterschied zum Recht, für welches sich diese Frage durchaus stellt), weil sie nur die Frage der Erhaltung, nicht aber der Bildung des Rechtsstaates betrifft. Die von Kant geforderte Übereinstimmung der Politik mit der Moral kann somit keine genuin (individual‐) moralische Forderung sein. Politik ist insofern nicht gleichzusetzen mit der Rechtslehre als Teil der Metaphysik der Sitten, als diese die Konstitution und Gründung des öffentlichen Rechts im Sinne der rechtsstaatlichen Gründung betrifft, Politik sich hingegen auf diejenigen Handlungen bezieht, die die Staatsoberhäupter zur Ausübung des einmal konstituierten öffentlichen Rechts begehen.Was also meint Kant,wenn er von der Frage nach der Vereinbarkeit von Politik und Moral spricht? In welchem Sinn hat die „wahre Politik“ der Moral zu huldigen? Und worin besteht ihre eigentliche Funktion zur Erhaltung des Gemeinwesens? Der Grund für die geforderte Übereinstimmung der Politik mit der Moral liegt in bereits Gesagtem: Da die historisch gewachsenen Staaten nicht noch einmal neu gegründet werden, kann die politische Ausübung des so gestifteten Rechts nur in der Weise gedacht werden, dass die transzendentale Idee des Rechts nach und nach Eingang findet in die bereits bestehenden Staatsverfassungen. In Kants Worten: Zur Vereinigung des Wollens „a l l e r e i n z e l n e n Menschen“ muss noch ein Akt hinzutreten, demzufolge „A l l e z u s a m m e n diesen Zustand wollen“. Erst dadurch kann „ein Ganzes der bürgerlichen Gesellschaft“ werden (EF 8:371.6 – 12). Und weil also über diese Verschiedenheit des particularen Wollens Aller noch eine vereinigende Ursache derselben hinzukommen muß, um einen gemeinschaftlichen Willen herauszubringen, wel-
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6 Staatsklugheit und Recht
ches Keiner von Allen vermag: so ist in der A u s f ü h r u n g jener Idee (in der Praxis) auf keinen andern Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird (EF 8:371.12– 17).¹⁸⁵
Während der Beginn des Rechtsstaats durch Gewalt durchaus gerechtfertigt ist,¹⁸⁶ besteht die damit beginnende Aufgabe der Politik darin, die einmal historisch errichtete Gemeinschaft nach und nach an die (apriorischen) Rechtsprinzipien heranzuführen, indem die Gesetze durch das Staatsoberhaupt an diese Prinzipien angeglichen werden. Auf diese Weise lässt sich nun das Wesen der Staatsklugheit anhand des Verhältnisses des politischen Moralisten zum moralischen Politiker besser verstehen. Kant führt aus, dass der erste „sich eine Moral so schmiedet, wie es der Vortheil des Staatsmanns sich zuträglich findet“, während der zweite „die Principien der Staatsklugheit so nimmt, daß sie mit der Moral zusammen bestehen können“ (EF 8:372.9 – 12). Staatsklugheit, so geht aus diesen Worten hervor, beinhaltet diejenigen Prinzipien, nach denen der Politiker regiert – entweder als politischer Moralist, oder als moralischer Politiker. Staatsklugheit bezeichnet also die Prinzipien (oder Maximen, wie Kant sich auch ausdrückt), nach denen der Politiker handelt. Entsprechend stellt sich für die Politik das gleiche Problem wie für die Klugheit des einzelnen Menschen, dass ihre Maximen mit den objektiven Prinzipien (in diesem Fall: des Rechts) in Einklang zu bringen sind. Kant betont nun, dass der politische Moralist sich auf Erfahrung stützen muss, um seine Aufgabe, die eine technische, ein Kunstproblem ist, zu bewältigen. Der moralische Politiker, dessen Prinzip „[o]hne alle Zweifel vorangehen“ muss (EF 8:377.6), hat dagegen eine sittliche Aufgabe zu lösen. Die Lösung dieses Staatsweisheitsproblems drängt sich, im Gegensatz zu dem der Staatsklugheit, gewissermaßen „von selbst auf, ist jedermann einleuchtend und macht alle Künstelei zu Schanden, führt dabei gerade zum Zweck“ (EF 8:378.1 f.).
Vgl. Brandt 1982, 276 f.: Das provisorisch Erlaubte diene „der Entwicklung des wirklichen Rechts, der Verwirklichung also des Naturrechts, das sich peremptorisch behaupten lässt.“ In diesem Sinne sieht Brandt einen Zusammenhang zu den provisorischen Urteilen, die er als problematische versteht im Zusammenhang mit Kants „Natur- und Kulturteleologie“. Entsprechend spricht er von der „provisorischen Duldung von etwas in einer lex generalis – nicht universalis – Verbotenem.“ (Brandt 1982, 248) Zum Unterschied der provisorischen Urteile von den Wahrnehmungsurteilen s.a. Lohmar 1992, 188 f. Er weist auf die Verbindung von provisorischen und problematischen Urteilen hin und folgert, dass es sich bei ihnen daher nicht um Wahrnehmungsurteile handeln könne, welche nichts über einen Gegenstand, sondern nur über das Subjekt aussagen, während auch problematisch und provisorisch als Vorurteil formulierte Urteile eben dies dennoch täten. Zu dem mit diesem Eintritt in den Rechtszustand verbundenen praktischen Postulat der Rechtslehre vgl. MdS 6:231.16 – 18, 6:247.1– 8 sowie Horn 2009, 417.
6.1 Recht und Politik
225
Daraus, dass Kant das Prinzip der Staatsweisheit dem der Staatsklugheit vorangestellt haben will, ließe sich nun schließen, dass sich Klugheit der Moral unterzuordnen und aus ihr heraus zu definieren habe. Schaut man sich aber seine Argumentation für diese Forderung an, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Denn als Zweck der Politik wird an dieser Stelle der Friede identifiziert, und die Fragestellung lautet, auf welchem Wege, d. h. durch welche Prinzipien man dieses Ziel am sichersten erreichen könne. Darin aber unterscheiden sich der politische, staatskluge Moralist und der moralische, staatsweise Politiker. Denn während der erste einem technischen Problem „des Staats-, Völker- und Weltbürgerrechts“ (EF 8:377.12 f.) gegenübersteht und daher eine Kunstaufgabe zu erfüllen hat, wie mittels dieser einzelnen Rechte der Friede erreicht und gesichert werden kann, ergeht an den zweiten die Forderung, den ewigen Frieden „nicht nur als physisches Gut, sondern auch als einen aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand“ zu wünschen (EF 8:377.17– 19). Beide Aufgaben beziehen sich somit auf Unterschiedliches: Während der politische Moralist qua konkretem Recht (Staats-, Völker- und Weltbürgerrecht) den Zweck der Gemeinschaft herbeizuführen und zu erhalten hat, hat sich der moralische Politiker auf die Prinzipien zu besinnen, denen zufolge er überhaupt diesen Zweck verfolgt. Wie schon angesichts der privaten Klugheit, unterscheidet Kant zwischen der Bestimmung eines Zwecks und seiner Ausführung. Die eigentliche Forderung hier lautet daher, dass jeder Politiker beide in sich zu vereinen habe: den moralischen Politiker mit dem politischen Moralisten (siehe auch EF 8:375.22– 376.5 und 8:376.22– 377.12). Denn wenn auch die Anerkennung des Zwecks aus der Rechtspflicht, d. h. aus den den Rechtsstaat begründenden Prinzipien heraus der sicherste Weg ist, das Ziel zu erreichen, so muss der moralische Politiker dennoch der Tatsache Rechnung tragen, dass dieses Ziel in der Erfahrung umgesetzt werden muss, und zwar mit den Mitteln der Politik. Beim moralischen Politiker handelt es sich somit nicht um einen solchen, der sich moralische Grundsätze der Individualethik zum Bestimmungsgrund seines Handelns machen würde. Vielmehr besteht die hier geforderte „Moralität“ darin, den Zweck der Politik, den (ewigen) Frieden wie ein moralisches, d. h. wie ein höchstes Gut anzusehen und zu verfolgen, das um seiner selbst willen angestrebt wird. Mit den Worten Castillos: „Von der Politik wird nichts anderes gefordert, als dass sie sich das Recht zu ihrer Moral mache, d. h. die Moral als Rechtslehre begreife.“ (Castillo 2004, 199.) Die Aufgabe des moralischen Politikers ist es, die politischen Maximen soweit an die apriorischen Rechtsprinzipien anzugleichen, dass der durch diese Politik gestaltete Rechtsstaat den gemeinschaftlichen Willen Aller auszudrücken vermag. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich das folgende Zitat angemessen verstehen:
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6 Staatsklugheit und Recht
Aus allen diesen Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre, den Friedenszustand unter Menschen aus dem kriegerischen des Naturzustandes herauszubringen, erhellt wenigstens so viel: daß die Menschen ebenso wenig wie in ihren Privatverhältnissen als in ihren öffentlichen dem Rechtsbegriff entgehen können und sich nicht getrauen, die Politik öffentlich bloß auf Handgriffe der Klugheit zu gründen, mithin dem Begriff des öffentlichen Rechts allen Gehorsam aufzukündigen […] (EF 8:375.22– 376.5).
Nicht darf die Politik dazu dienen, aus dem „kriegerischen Naturzustand“ heraus und in einen Rechtszustand einzutreten, um sogleich einen politischen Moralisten, also unmoralischen Politiker an die Spitze der Regierung zu setzen, der entweder seine eigenen Interessen (in „Privatverhältnissen“: seine eigene Glückseligkeit) oder aber diejenige der Bürger verfolgt. Sondern sie soll einzig dem friedenssichernden Zweck der Erhaltung des Zusammenschlusses der Bürger dienen – und zwar nach den Rechtsprinzipien der Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit. Diese Interpretation bestätigt sich im Gemeinspruch: [1] Wenn die oberste Macht Gesetze gibt, die zunächst auf die Glückseligkeit (die Wohlhabenheit der Bürger, die Bevölkerung u. dergl.) gerichtet sind: so geschieht dieses nicht als Zweck der Errichtung einer bürgerlichen Verfassung, sondern bloß als Mittel, den r e c h t l i c h e n Z u s t a n d vornehmlich gegen äußere Feinde des Volks zu s i c h e r n . Hierüber muß das Staatsoberhaupt befugt sein selbst und allein zu urtheilen, ob dergleichen zum Flor des gemeinen Wesens gehöre, welcher erforderlich ist, um seine Stärke und Festigkeit sowohl innerlich, als wider äußere Feinde zu sichern; so aber das Volk nicht gleichsam wider seinen Willen glücklich zu machen, sondern nur zu machen, daß es als gemeines Wesen existiere. [2] In dieser Beurtheilung, ob jene Maßregel k l ü g l i c h genommen sei oder nicht, kann nun zwar der Gesetzgeber irren, aber nicht in der, da er sich selbst fragt, ob das Gesetz auch mit dem Rechtsprincip zusammen stimme oder nicht; denn da hat er jene Idee des ursprünglichen Vertrags zum unfehlbaren Richtmaße und zwar a priori bei der Hand (und darf nicht wie beim Glückseligkeitsprincip auf Erfahrungen harren, die ihn von der Tauglichkeit seiner Mittel allererst belehren müssen). Denn wenn es sich nur nicht widerspricht, daß ein ganzes Volk zu einem solchen Gesetze zusammen stimme, es mag ihm auch so sauer ankommen,wie es wolle: so ist es dem Rechte gemäß (Gemeinspruch 8:298.21– 299.11; Satzeinteilung C.G.).
Auch hier unterscheidet Kant zwischen den Prinzipien der Staatsgründung, also dem Übergang vom Naturzustand in einen rechtlichen Zustand, und den sich daraus für die konkrete Organisation dieses Zustandes ergebenden Mitteln. Über letztere befindet Kant im ersten Teil des Zitates [1]. Demzufolge dienen die durch das Staatsoberhaupt erlassenen Gesetze dem Zweck der Sicherung des rechtlichen Zustandes (nach innen und gegen äußere Feinde). Nur dadurch könne die Glückseligkeit der Bürger gesichert werden, nämlich, insofern das Gemeinwesen überhaupt gesichert werden muss, damit jeder seine eigene Idee der Glückseligkeit umsetzen kann. Das Staatsoberhaupt (die Regierung, die Politik) hat nicht darüber zu befinden, auf welche Weise die Bürger glücklich zu werden haben. Zu
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dieser Art Gesetzgebung aber ist das die Macht innehabende Staatsoberhaupt befugt, und es muss selbst beurteilen, ob die Gesetze der Sicherung des Gemeinwesens dienlich, und das heißt dann: klug sind. Kant fährt im zweiten Teil des Zitats [2] fort, dass eben hierin ein möglicher Irrtum liegt. Denn wie wir sahen, braucht es für eine solche Beurteilung eine Menge Erfahrung. Dagegen kann der Staatsmann keineswegs irren, wenn es darum geht zu beurteilen, ob ein solches erlassenes oder zu erlassendes Gesetz „auch mit dem Rechtsprincip zusammen stimme oder nicht“. Das „Richtmaß“ hierfür nämlich ist nicht die Erfahrung, sondern die „Idee des ursprünglichen Vertrages“. Und Kant folgert, es müsse das ganze Volk diesem Gesetz zustimmen können, damit es auch dem Recht gemäß sei. Dies wiederum erklärt sich aus der Tatsache, dass die Idee des Rechts eben darin besteht, dass der Staat gegründet wurde, um die äußere Freiheit aller zu sichern, worein dann auch alle (Gründungs‐) Mitglieder einstimmen können müssen.¹⁸⁷ Wir können folgern: Der moralische Politiker und der politische Moralist sollen sich in Bestimmung und Ausübung des Zwecks zusammentun.¹⁸⁸ In den Worten Gerhardts: „‚Staatsweisheit‘ und ‚Staatsklugheit‘ gehören notwendig zusammen.“ (Gerhardt 1997, 483)¹⁸⁹ Entsprechend unterscheidet Kant im Gemeinspruch deutlich eine „oberste bloß nach Klugheitsregeln verfahrende Gewalt“ von einer solchen, bei der „neben dem Wohlwollen das Recht laut spricht“ (8:306.23 – 28 kursiv C.G.) – es soll also weder nur das eine noch ausschließlich das andere stattfinden, sondern die oberste Staatsgewalt soll sowohl Klugheitsregeln anwenden, als auch das Recht einhalten. Beides schließt einander ausdrücklich nicht aus. So ist es auch zu verstehen, wenn Kant von der „Maxime [des Machthabenden, C.G.] der Notwendigkeit einer solchen Abänderung“ spricht, „um in
Horn weist zu Recht darauf hin, dass es, entgegen Kants Beteuerung, alles andere als klar ist, wie genau diese Übereinstimmung zu ermitteln ist, d. h. wie das Staatsweisheitsproblem zu lösen sei. Dass sich der vereinigte Wille aller nicht auf den vereinigten moralischen Willen aller bezieht, scheint eindeutig zu sein, was aber genau dieser vereinigte Wille aller dann inhaltlich ausdrücken könnte, präzisiert Kant nicht weiter. Vgl. die kritische Auseinandersetzung bei Horn 2014, 230 ff. sowie die Ausführungen zum Prinzip der Publizität in Kapitel 6.3. Vgl. dazu Kersting 1993, 31 f. Die an der Stelle eingefügte Fußnote beschreibt dann einen Teil der Aufgabe dieser Arbeit: „Wollte man diese Erwägungen weiterführen, müsste man – außer auf die Urteilskraft – auch näher auf die Rolle der praktischen Klugheit bei Kant eingehen. Man hätte die Rolle hypothetischer Imperative herauszuarbeiten und im Kontext der Friedensschrift auch auf die ‚Erlaubnisgesetze der Vernunft‘ (347/B 78 f.) einzugehen.“ (Gerhardt 1997, 483, vgl. Gerhardt 1995, 158 f.). Der zuerst genannte Punkt war Gegenstand der ersten Kapitel, auf den letzten werde ich im Folgenden eingehen.
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beständiger Annäherung zu dem Zwecke (der nach Rechtsgesetzen besten Verfassung) zu bleiben“ (EF 8:372.24– 27): Ein Staat kann sich auch schon republikanisch r e g i e r e n , wenn er gleich noch der vorliegenden Constitution nach despotische H e r r s c h e r m a c h t besitzt: bis allmählich das Volk des Einflusses der bloßen Idee der Autorität des Gesetzes (gleich als ob es physische Gewalt besäße) fähig wird und sonach zur eigenen Gesetzgebung (welche ursprünglich auf Recht gegründet ist) tüchtig befunden wird (EF 8:372.28 – 33).
Auch an einer Stelle aus den Vorarbeiten zum öffentlichen Recht wird deutlich, was es mit der geforderten Übereinstimmung der Politik mit der Moral auf sich hat. Wie schon im Zusammenhang mit der individuellen Klugheit, unterscheidet Kant hier Staatsklugheit im Sinne der oben angeführten „Schlangenwendungen einer unmoralischen Klugheitslehre“ von einer solchen, die sich der Moral, und d. h. in diesem Zusammenhang: dem Recht, unterordnet. Allein diese sei dann „wahre Politik“ zu nennen: die Politik als Wissenschaft ist das System der Gesetze zur Sicherung der Rechte und Zufriedenheit des Volks mit seinem inneren und äußeren Zustande. So wie K l u g h e i t die Geschicklichkeit ist Menschen (freye Wesen) als Mittel zu seinen Absichten zu brauchen; so ist diejenige Klugheit wodurch jemand ein ganzes freye Volk zu seinen Absichten zu brauchen versteht die P o l i t i k (Staatskunst). Diejenige Politik welche dazu sich solcher Mittel bedient die mit der Achtung fürs Recht der Menschen zusammenstimmen ist moralisch die hingegen welche was den Punkt der Mittel betrift nicht bedenklich ist (also die des Politikasters) ist D e m a g o g i e . Alle wahre Politik ist auf die Bedingung eingeschränkt mit der Idee des öffentlichen Rechts zusammenzustimmen (ihr nicht zu wiederstreiten) (Vorarbeiten 23:346.11– 23).
Wiederum zeigt sich, dass die geforderte „Moral“ des Politikers sich auf die Übereinstimmung der Handlungen des Politikers mit den Rechtsprinzipien und keineswegs auf den kategorischen Imperativ bezieht. Die Moralität der Politik, in der sich Staatsklugheit mit Staatsweisheit paart, besteht lediglich in der Anerkennung des Rechtsprinzips und in der Übereinstimmung (dem Zusammenhalten) der angewandten Mittel (der Gesetze) mit diesem. Folglich hat sich die Politik als Staatsklugheit in der Beurteilung ihrer Mittel keineswegs direkt an moralischen Forderungen zu orientieren, sondern sie hat ihre Mittel in Bezug auf den durch sie zu erreichenden Zweck zu beurteilen, der wiederum in den aus dem Rechtsbegriff abgeleiteten Rechtsprinzipien gründet. In diesem (und keinem anderen) Sinn ist es zu verstehen, wenn Kant fordert, wie eingangs zitiert, die Politik habe in allen ihren Schritten zuerst der Moral zu huldigen (EF 8:380.27– 30).Was jedoch Staatsklugheit ihrem Wesen nach, strukturell, ausmacht – die Ausübung des Rechts, die Bildung ihrer Maximen – ist zu unterscheiden von dem, was darüber
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hinaus ihr Wesen als „wahre Klugheit“ bzw. „wahre Politik“ ausmacht – die Ausübung eines auf apriorischen Rechtsprinzipien basierenden Rechts. Wie Kant selbst anführt, kann jede Ausübung auch auf unmoralisches Recht (oder unmoralische Grundsätze) bezogen werden, weshalb es prinzipiell auch einem Volk von Teufeln möglich wäre, sich nach Prinzipien der Staatsklugheit zu regieren. Das Politische an sich ist daher weder moralisch noch unmoralisch, sondern hat selbst darüber zu entscheiden, welche Form des Rechts es ausüben möchte, es ist nicht von sich aus schon rechtlich-moralisch begründet. Diese spezifisch politische Moralität besteht dann in der Übereinstimmung, dem Einstimmigmachen der politischen Grundsätze mit den apriorischen Rechtsprinzipien. Historisch-teleologisch ist daher eine Überführung des de facto geltenden Rechts in ein moralisch fundiertes nötig, jedes geltende Recht ist zusätzlich mit einem solchen in Einklang zu bringen. Wahre Politik stellt sich somit als Vereinigung des politischen Moralisten und des moralischen Politikers in Bestimmung und Ausübung einer a priori rechtlich gesicherten Verfassung dar, ebenso wie der wahrhaft Kluge dies erst dann ist, wenn er seine eigenen subjektiven Maximen unter der Idee der Glückseligkeit mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken in Übereinstimmung bringt.¹⁹⁰ Die bisherigen Ausführungen weisen aber auch darauf hin, dass eine durch den Rechtsbegriff gestiftete Gesellschaft weiterer ausführender Gesetze und Regeln (Maximen) bedarf, um die Idee des Rechts anzuwenden.¹⁹¹ Die Etablierung des Rechtsprinzips selbst stellt also eine „sittliche Aufgabe (problema morale)“ dar, die dem „moralischen Politiker“ zukommt, welcher den ewigen Frieden „als einen aus Pflichtanerkennung hervorgehenden Zustand wünscht“ und herbeizuführen sucht (EF 8:377.6 – 19). Die Verwirklichung der durch das Rechtsprinzip a priori vorgegebenen (aus dem formalen Prinzip der Maxime hergeleiteten) Zwecke dagegen ist ein „Problem des Staats-,Völker- und Weltbürgerrechts“ und als Sache des „politischen Moralisten“ eine „bloße Kunstaufgabe (problema technicum)“. Dieser „bloßen Kunstaufgabe“ alias Politik wollen wir uns nun zuwenden.
Dies legt im Umkehrschluss die Annahme nahe, dass die apriorischen Rechtsprinzipien auf jenen wesentlichen und allgemeinen Zwecken beruhen könnten, die zugleich gerade nicht der höchste Zweck, die ganze Bestimmung des Menschen in Bezug auf seine moralisch-sittliche Entwicklung darstellt. Vgl. EF 8:376 f. Dort erläutert Kant, das formale Prinzip müsse „in Aufgaben der praktischen Vernunft“ (EF 8:376.23 – 377.1) vorangehen und mit Notwendigkeit „aus dem formalen Princip der Maximen“ äußerlich zu handeln den Zweck bestimmen, der Pflicht ist, wie z. B. den ewigen Frieden. Nicht aber sagt Kant damit, dass deshalb das „materiale Princip“ ganz wegzufallen hätte.
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6.2 Politik und Staatsklugheit als „ausübende Rechtslehre“ Gerhardt hat darauf hingewiesen, dass Kant, entgegen Hannah Arendts Einschätzung,¹⁹² in seiner Schrift Zum Ewigen Frieden, genauer: im Anhang zu dieser, „eine Theorie des Politischen entworfen“ hat (Gerhardt 1997, 467; vgl. auch und zuerst Gerhardt 1995 sowie Keienburg 2011, 165 ff.). Gerhardt zeigt, dass nach Kant die Grundprinzipien der Rechtslehre mit den Grundelementen der Politik übereinstimmen (Gerhardt 1997, 482), ohne dass Recht und Politik deshalb „identisch seien“. Vielmehr sei Politik eine „gewisse „Ausübung“ dessen, was recht ist, oder genauer: „was das Recht lehrt.“ (Gerhardt 1997, 478). Das Recht gebe der Politik ihre Ziele vor, nämlich die Rechtsprinzipien nach und nach umzusetzen. In eben diesem Sinne sei Politik „ausübende Rechtslehre“ (EF 8:370.11) und diese eine ihre Prämissen ernst nehmende Politik (Gerhardt 1997, 479, vgl. Gerhardt 1995, 158).¹⁹³ Gerhardt zufolge steht nun der Ausdruck „Ausübung“ bzw. „ausüben“ bei Kant, ungeachtet eines ansonsten heterogenen Gebrauchs, immer in Verbindung mit dem „Übergang in den Bereich der Erfahrung“ (Gerhardt 1995, 158; so z. B. in MdS 6:227.6 f.) In diesem Sinne bedeute „ausübende Rechtslehre“ für Kant die Umsetzung des Rechts und seiner Prinzipien in der Erfahrung durch die Generationen hindurch.¹⁹⁴ Zudem bedeute „ausüben“, „von etwas Grundsätzlichem einen richtigen Gebrauch“ zu machen – im Gegensatz zu einer bloß mechanischen Anwendung.¹⁹⁵ Damit komme die Urteilskraft als „das Vermögen begrifflicher
Und der ihrer „Nachfolger“, wie z. B. Beiner 1983 oder Vollrath 1977 und 1987. Baum versteht die Staatsklugheit als ausübende Rechtslehre, insofern sie „nicht als irgend eine Praxis“, verstanden werden könne, sondern als „eine von moralischen Prinzipien bestimmte Praxis, die aus äußeren Handlungen gegenüber anderen Menschen besteht, also eine unter Rechtsgesetzen stehende Praxis“. Erst in diesem explizit moralischen Sinn sei sie „nicht bloß eine Staatsklugheit […], sondern eine Staatsklugheit ‚als ausübende Rechtslehre‘.“ (Baum 2009, 388) Brandt ist vorsichtiger mit der moralischen Erklärung, versteht aber Politik auch als Klugheitslehre: „Politik ist für Kant Klugheitslehre, die unter Rechtsprinzipien steht.“ (Brandt 1982, 240) Er identifiziert Politik mit Klugheitslehre, sogar sofern sie den Rechtsprinzipien untergeordnet ist, führt aber nicht ihren ausübenden Charakter aus – was vermutlich auch damit zu tun hat, dass das hier angeführte Zitat im Kontext einer Analyse der Erlaubnisgesetze steht und nicht der Staatsklugheit als Politik. Siehe dazu die Ausführungen weiter unten. In diesem Sinne ähnele die Politik der Erziehung (vgl. Gerhardt 1995, 160). Von einer solchen spricht Kant im Ewigen Frieden, wo er „Politik als Kunst, den „Mechanism der Natur“ zum Regieren der Menschen zu benutzen bezeichnet (EF 8:372.3 f.). Dies entspricht der Klugheit im Privaten, andere Menschen zu den eigenen Absichten zu gebrauchen, also einer Form der Geschicklichkeit im Umgang mit anderen Menschen. Wie auch für die private Klugheit ist für die Staatsklugheit als Staatskunst aufzuzeigen, auf welche Weise sie nicht nur Menschen zu den eigenen Absichten gebrauchen, sondern insbesondere diese Absichten klug zu bestimmen weiß. Zur Politik als Kunst vgl. EF 8:346 sowie 8:380.29.
6.2 Politik und Staatsklugheit als „ausübende Rechtslehre“
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Konkretion“ in den Blick, um das Besondere mit dem Grundsätzlichen in Einklang zu bringen (Gerhardt 1997, 482 vgl. Gerhardt 1995, 158 f.).¹⁹⁶ Dabei ist dann nicht von derjenigen Urteilskraft die Rede, die in der Erfahrung vorkommende Fälle unter eine gegebene Regel einordnet, sondern von einer solchen, die durch Einbeziehen der „konkrete[n] historisch-pragmatische[n] Erfahrung“, durch den „Sinn für das Erreichbare“ es ermöglicht, dass Prinzipien a priori in der Erfahrung realisiert werden (Gerhardt 1997, 483).Wie noch deutlich werden wird, sind jedoch beide Formen der Urteilskraft kaum voneinander zu trennen. Wie also werden Maximen bzw. politische Grundsätze gebildet, aufgrund derer dann konkrete Gesetze beschlossen werden, und die dem Rechtsprinzip zu seiner Realität verhelfen? Ähnlich wie schon für Klugheit „in Privatverhältnissen“ gilt, dass Kant sich in dieser Sache eher bedeckt gehalten hat. Im Vermeinten Recht erläutert Kant den Übergang „von einer Metaphysik des Rechts (welche von allen Erfahrungsbedingungen abstrahirt)“ zu einem „Grundsatze der Politik (welcher diese Begriffe auf Erfahrungsfälle anwendet)“ (Vermeintes Recht 8:429.5 – 7).¹⁹⁷ Dies geschieht mit dem Ziel, darzulegen, dass in keinem Fall von den apriorischen Rechtsprinzipien, wie dem Verbot der Lüge, abzuweichen sei, dass es jedoch unter bestimmten Bedingungen mittlerer Grundsätze bedürfe, welche die Anwendung der Rechtsbegriffe in der Erfahrung ermöglichten. Für den Fall, auf den sich die kurze Schrift bezieht, nämlich die Frage, ob Lügen unter bestimmten Umständen erlaubt sei (wie B. Constant es fordert, um „das Mittel der Anwendung“ zu bestimmen,vgl. Vermeintes Recht 8:427.31 f.), kann es nun gerade keine solchen mittleren Grundsätze geben, unangesehen des dadurch evtl. angerichteten Schadens (Vermeintes Recht 8:28.12– 16). Hingegen räumt auch Kant Fälle (in der Erfahrung) ein, für welche es solche „Grundsätze“ braucht, da ansonsten die Gesellschaft, auf die die Rechtsbegriffe anzuwenden seien, nicht weiter bestehen kann. Ein solcher Fall ist z. B. die Bindung nur durch solche Gesetze, denen der Bürger selbst zugestimmt hat – also die Regierung eines bürgerlichen Gemeinwesens (vgl. EF 8:349 f.). Dies ist zwar in kleinen Gesellschaften unmittelbar anwendbar (Vermeintes Recht 8:427.34– 37), nicht jedoch für große Gesellschaften, für welche ein Zusatz nötig ist, demzufolge „die Einzelnen zur Bildung der Gesetze entweder in eigener Person oder durch S t e l l v e r t r e t e r beitragen können“ (Vermeintes Recht 8:428.4 f.). Wollte man
So auch Wieland 2001, 170: Das Recht als auf das Besondere bezogen sei erst dann verwirklicht, wenn es auch tatsächlich umgesetzt wird, weshalb zu ihm die Tätigkeit der Urteilskraft gehöre: „Die Realisierung des Rechts in der Welt der Erfahrung bleibt daher allemal das Reservat der Urteilskraft.“ Darauf weist Gerhardt 1995, 161, Fn hin. Er sieht hier „die ausdrückliche Anerkennung eines genuin politischen Bereichs.“
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nämlich, dass jeder Einzelne der Gesetzesbildung direkt zustimmte, so „würde unfehlbar ihr Verderben“ daraus folgen (Vermeintes Recht 8:428.7). Hier ist der mittlere Grundsatz vonnöten, um das apriorische Rechtsprinzip der Zustimmung aller Bürger zu den Gesetzen umsetzen und damit das Recht überhaupt ausüben zu können. Neben einem „apodiktisch gewissen Satz, der unmittelbar aus der Definition des äußeren Rechts“ folge (Axiom) und einem Postulat des äußeren öffentlichen Rechts¹⁹⁸, welche beide die Freiheit und Gleichheit der Bürger a priori sichern, muss es daher ein P r o b l e m geben, wie es anzustellen sei, daß in einer noch so großen Gesellschaft dennoch Eintracht nach Principien der Freiheit und Gleichheit erhalten werde (nämlich vermittelst eines repräsentativen Systems); welches dann ein Grundsatz der P o l i t i k sein wird, deren Veranstaltung und Anordnung nun Decrete enthalten wird, die, aus der Erfahrungserkenntniß der Menschen gezogen, nur den Mechanism der Rechtsverwaltung, und wie dieser zweckmäßig einzurichten sei, beabsichtigen (Vermeintes Recht 8:429.15 – 23).
Während also die „rechtlich-praktische[n] Grundsätze“ apodiktisch gewiss sind, dienen die hier sogenannten mittleren der „nähere[n] Bestimmung ihrer Anwendung auf vorkommende Fälle (nach Regeln der Politik)“ (Vermeintes Recht 8:430.11 f.). Sie tun dies, indem sie festlegen, dass ab einer bestimmten Größe ein Zusatz zu den rechtlich-praktischen Grundsätzen in Kraft tritt. Im hier genannten Fall würde der politische Grundsatz in etwa lauten: Ab einer Größe x ist die mit dem äußeren öffentlichen Recht intendierte Eintracht zwischen den Menschen durch Einrichten eines repräsentativen Systems zu garantieren. Damit muss jedoch die auf diesen Grundsatz reflektierende Urteilskraft auch angeben können, ab welcher Größe dies der Fall ist. Daher ist die politisch tätige Urteilskraft auf Erfahrung bezogen, insofern sie bei der Bestimmung ihrer Grundsätze des politischen Handelns die „konkrete historisch-pragmatische Erfahrung“ miteinbeziehen muss, um überhaupt urteilen zu können, wann der Fall eintritt, dass ein solcher Grundsatz gefragt ist.¹⁹⁹ Damit bezeichnen diese „mittleren Grundsätze“ denjenigen Spielraum, der der Staatsklugheit als Politik im Rahmen der rechtlichen Bestimmungen zukommt, d. h. die eigentliche Sphäre des Politischen. Sie können, aufgrund des sie
Zur Problematik der Verwendung der Begriffe Axiom und Postulat in diesem Zusammenhang siehe Sassenbach 1992, 10 ff. Hierin liegt meines Erachtens der Nachweis begründet, dass es für Kant eben doch eine Kasuistik in der Rechtslehre geben kann und muss. Schüssler hingegen ist der Auffassung, Kant spreche der Rechtslehre jede Kasuistik ab und verweist dabei auf MdS 6:411.16 f. Die hier verhandelten Fragen der Subsumtion gesteht auch Schüssler der Rechtslehre unter dem Titel „Urteilskraft“ zu (vgl. Schüssler 2012, 73).
6.2 Politik und Staatsklugheit als „ausübende Rechtslehre“
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bedingenden apodiktischen Grundsatzes jedoch keine „Ausnahmen von jenen enthalten: weil diese die Allgemeinheit vernichten, derentwegen allein sie den Namen der Grundsätze führen.“ (Vermeintes Recht 8:430.10 – 14) Ausnahmen sind demnach hier, wie es schon für die Regeln der „wahren Klugheit“ gefordert wurde, nicht eigentlich Ausnahmen von der Rechtsregel, sondern Einschränkungen bzw. Spezifizierungen eines Grundsatzes durch einen anderen, d. h. in diesem Fall einen zusätzlichen (mittleren) Grundsatz. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Kants Verständnis der sogenannten Erlaubnisgesetze der (reinen) praktischen Vernunft. Er erwähnt sie an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlichen Zusammenhängen, immer aber handelt es sich bei ihnen um solche Gesetze, die die Erlaubnis (Befugnis) erteilen, nach einem Prinzip (der Vernunft) von einem anderen Gesetz (Prinzip) zeitweise abzuweichen. Am ausführlichsten ist Kants Erläuterung in der Friedensschrift, die sich auf die direkt vorher aufgezählten Verbotsgesetze bezieht, als welche die sechs Präliminarartikel zum Ewigen Frieden formuliert sind:²⁰⁰ Obgleich die angeführte Gesetze objectiv, d. i. in der Intention der Machthabenden, lauter Ve r b o t s g e s e t z e (leges prohibitivae) sind, so sind doch einige derselben von der s t r e n g e n , ohne Unterschied der Umstände geltenden Art (leges strictae), die sofort auf Abschaffung dringen (wie Nr. 1, 5, 6), andere aber (wie Nr. 2, 3, 4), die gar nicht als Ausnahmen von der Rechtsregel, aber doch in Rücksicht auf die A u s ü b u n g derselben, durch die Umstände, s u b j e c t i v für die Befugnis erweiternd (leges latae), und Erlaubnisse enthalten, die Vollführung a u f z u s c h i e b e n , ohne doch den Zweck aus den Augen zu verlieren, der diesen Aufschub, z. B. der W i e d e r e r s t a t t u n g der gewissen Staaten nach Nr. 2 entzogenen Freiheit, nicht auf den Nimmertag […] auszusetzen, mithin die Nichterstattung, sondern nur, damit sie nicht übereilt und so der Absicht selbst zuwider geschehe, die Verzögerung erlaubt (EF 8:347.16 – 29).
Die Vernunft erteilt demnach selbst eine Erlaubnis, um der Verwirklichung ihres eigenen Zieles (hier: der ewige Friede) willen für eine Übergangszeit von bestimmten Geboten (bzw. Verboten) abzusehen. Dem Politiker kommt die erweiternde Befugnis zu, in der Ausübung der Rechtslehre Rücksicht zu nehmen auf die Umstände. Diese können es erforderlich machen, dass, um das ganze Ziel überhaupt zu erreichen, von einzelnen dazu nötigen Ge- oder Verboten übergangsweise abzusehen ist. In diesem Sinne handelt es sich dann auch nicht um Ausnahmen von der Rechtsregel, sondern um nötige Maßnahmen, dieselbe überhaupt verwirklichen zu können, andernfalls die Absicht in Gefahr gerät, überhaupt nicht
Vgl. Gerhardts Erläuterungen in Gerhardt 1995, 70 ff., denen ich im Wesentlichen folge. Siehe auch Brandt 1982, 255 – 264. Er versteht die Erlaubnisgesetze als Gesetze, die einen Übergang von der Theorie zur Praxis und damit die Ausübung der Rechtslehre ermöglichen.
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umgesetzt werden zu können. Wie auch für das Prinzip der Publizität (vgl. Kapitel 6.3) gilt, dass durch Nichtbeachtung das Ziel gefährdet ist.²⁰¹ Diesen durch Erlaubnisse geregelten Bereich gibt es zum einen deshalb, weil die Menschen erst vom Naturzustand übergehen müssen in eine bürgerliche Rechtsordnung (exeundum). Er bezieht sich somit auf die bisweilen auch mit Gewalt erfolgte Staatsgründung. Eine Erlaubnis gilt Kant daher als „einschränkende Bedingung“ (EF 8:348.26 f.) und nicht als Ausnahme, insofern sie nicht „zufälliger Weise“, sondern „nach einem Princip“ erteilt werden (EF 8:348.30). Er spricht daher auch von der „Möglichkeit einer solchen (der mathematischen ähnlichen) Formel“, als „de[m] einzige[n] ächte[n] Probirstein einer consequent bleibenden Gesetzgebung, ohne welche das so genannte ius certum immer ein frommer Wunsch bleiben wird“ (EF 8:348.36 – 39). Nur auf diese Weise sind universale, also allgemeingültige Gesetze möglich, im Unterschied zu ansonsten bloß generalen, also nur „im Allgemeinen“ geltenden Gesetzen (EF 8:348.39 ff.). Zum anderen gesteht Kant solche Erlaubnisse auch bereits bestehenden Staaten zu. Im Anhang zur Friedensschrift heißt es, es könne von einem Staat nicht verlangt werden, seine despotische Verfassung abzulegen, solange er noch von anderen Staaten bedroht werde: „mithin muß bei jenem Vorsatz doch auch die Verzögerung der Ausführung bis zu besserer Zeitgelegenheit erlaubt sein.“ (EF 8:373.6 f.) Und er präzisiert, es handle sich dabei um Erlaubnißgesetze der Vernunft, den Stand eines mit Ungerechtigkeit behafteten öffentlichen Rechts noch so lange beharren zu lassen, bis zur völligen Umwälzung alles entweder von selbst gereift, oder durch friedliche Mittel der Reife nahe gebracht worden […] (EF 8:373.27– 30).
Das oben Angemerkte bestätigend scheint Kant damit die „Anpassung“ einer staatlichen Verfassung unter Aufrechterhaltung des staatsrechtlichen Zwecks Vgl. Gregor 1963, 58: „A permissive law states the conditions under which a general prohibition does not apply, and the permission to prohibit others from interfering with our exclusive use of an object is a limitation upon the prohibition, contained in the inherent right of freedom, against interfering with the freedom of activity of others.“ (Zitiert nach Brandt 1982, 239 f.) Brandt betont, das Erlaubnisgesetz sei „spezifisch rechtlicher Natur“ und daher ein Rechtsgesetz: „als Vernunftgesetz ist es ein Rechtsgesetz a priori und kein Prinzip politischer Klugheit“ (Brandt 1982, 240). Er hat damit insofern Recht, als ein Erlaubnisgesetz direkt aus dem Vernunftgesetz des Rechts entspringt. Dennoch drückt es sich in Form einer (hier: politischen) Maxime aus, dies ist geradezu sein Wesen: einer sonst subjektiven Maxime objektiv Rechtfertigung (wenn auch nicht Gültigkeit) zu geben. In eben diesem Sinn sind Erlaubnisgesetze dann aber doch Prinzipien politischer Klugheit. Brandt kann jedoch diese Interpretation nicht zulassen, weil er Klugheit selbst als dem Rechtsgesetz entgegen versteht, anstatt sie, wie es hier geschieht, als dessen Ausübung aufzufassen.
6.2 Politik und Staatsklugheit als „ausübende Rechtslehre“
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ausschließlich den Staatsoberhäuptern zuzugestehen, ein Recht zur Revolution mit dem gleichen Ziel kommt für ihn nicht in Frage. Horn sieht in dieser Anpassung der staatlichen Verfassung durch Erlaubnisgesetze eine Bestätigung für seine These der „nichtidealen Normativität“, welche er als eine abgeschwächte Form der starken Normativität reiner praktischer Vernunft, als eine stark „gegenwartsbezogene und situationsgerechte“ Form von Normativität auffasst, die dem Gedanken der Angemessenheit für das Machbare Rechnung trage. Eine solche Normativität zeige Sinn für die Erfüllbarkeit der zugrunde liegenden Norm und stelle insofern gerade keine Anwendung der Ethik dar (vgl. Horn 2014, z. B. 276 f., 292, 300 f. und passim).²⁰² Das Erlaubnisgesetz als Postulat für das exeundum verdeutliche in exemplarischer Weise, dass das Recht als nichtideale Normativität aufzufassen sei (vgl. Horn 2014, 182).²⁰³ Diese zeige sich besonders an Kants Ausführungen zum Weltbürgerrecht, welches er ausdrücklich als nicht realisierbar einstufe (vgl. MdS 6:350.17 f. und EF 8:367.8 – 29) und daher zugunsten des schwächer normativen Völkerbundes hintanstelle (Horn 2014, 292). Funaba sieht hier einen Widerspruch in Kants Äußerungen zur Vereinbarkeit von Theorie und Praxis: Während Kant Recht und Moral als auf Praxis bezogene Theorie darstelle, deren Nichtanwendbarkeit ein Widerspruch in sich sei, scheine er hier dem „Gemeinspruch“ Recht zu geben und eine in der Praxis nicht anwendbare Theorie vorzustellen. Als Lösung schlägt Funaba vor, auf Kants Gedanken eines Kongresses (vgl. MdS 6:350.6 – 351.8) zurückzugreifen, in welchem Rahmen die Weltvölker ohne Zwang zusammen kommen und ohne Sanktionen zu fürchten eine Weltrepublik realisieren könnten. Dieser Vorschlag hat den Vorteil, sowohl an dem als objektiv vorausgesetzten Ideal, als auch am Gedanken der Angemessenheit der Forderung nach Erfüllung in Bezug auf die tatsächlichen Umstände festhalten zu können. Der Staat könne auf diese Weise sowohl „die Vorschrift der Klugheit“ befolgen, als auch „die allgemeine Gültigkeit der Normen anerkennen“ (vgl. Funaba 2013, 213 ff). Horn dagegen verweist auf den von Kant im Anschluss an die Einschränkung im Ewigen Frieden angeführten Handelsgeist, der
Ortmann stellt in ähnlichem Sinn dem Sollen der Moral das Können der Klugheit gegenüber (vgl. Ortmann 2006, 169). Kaufmann vertritt unter Verweis auf eine These Hruschkas (2004) diesbezüglich die Auffassung, dass es sich bei diesem als Postulat bezeichneten Erlaubnisgesetz des exeundum um eine andere Art von Erlaubnis handle, als im gewöhnlich von Kant verwendeten Sinn: Nicht sei damit eine Ausnahme von einem Vernunftgesetz gemeint, sondern vielmehr „bloß erlaubte Handlungen, durch deren Erlaubtheit die Möglichkeit entstehe, anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen.“ (Kaufmann 2008, 440) Diese Deutung scheint mir plausibel, gerade vor dem Hintergrund der These, Politik und Staatsklugheit seien als ausübende Rechtslehre aufzufassen. Dies können sie nur sein, wenn diese (die Rechtslehre) zugleich als gültig vorausgesetzt und respektiert wird.
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die Völker miteinander verbinde und auf diese Weise weltumspannend zum Frieden beitragen könne (vgl. Horn 2014, 296 f. sowie EF 8:68.1– 20). Da auf die Fragen der Begründung des Rechts wie gesagt nicht näher eingegangen werden kann, soll an dieser Stelle auf eine entsprechende Einschätzung verzichtet werden. Die hier vorgestellte Interpretation geht jedoch darin konform mit Horns These, dass Kants Darstellungen von Politik und Staatsklugheit ein im Vergleich zur Ethik nur schwer denkbares Verhältnis von Vernunft und Urteilskraft erkennbar werden lassen, das die von Horn angesprochene und auch bereits im Vorigen angedeutete Angemessenheit im Begriff der Klugheit berücksichtigt. Etwas provokativer formuliert könnte man sagen: Vernunft tritt ihre Autorität zeitweise an die Urteilskraft und damit an Klugheitserwägungen ab, um den Übergang zur Befolgung ihrer Gesetze zu gewährleisten. Dass Kant diese Funktion ausdrücklich der Klugheit zuschreibt, zeigt seine Feststellung, die Auflösung des Problems der Staatsweisheit (Herbeiführung des Friedens aus Gründen der Pflicht) dränge sich jedem quasi wie von selbst auf und führe unmittelbar zum Zweck, „doch mit der Erinnerung der Klugheit, ihn nicht übereilterweise mit Gewalt herbei zu ziehen, sondern sich ihm nach Beschaffenheit der günstigen Umstände unablässig zu nähern.“ (EF 8:378.24, kursiv C.G.)²⁰⁴ Klugheit übernimmt also die Aufgabe, die Verwirklichung der durch Vernunft gesetzten und gebotenen Zwecke unter Berücksichtigung der Erfahrung innerhalb dieser umzusetzen: Die Richtung ist durch Vernunft vorgegeben, das Ziel muss anerkannt sein, und die durch das Vernunftgesetz erlaubten Grundsätze oder Maximen müssen insgesamt diesem und seiner Verwirklichung dienen – soll denn von „wahrer Politik“ und damit von Klugheit im Unterschied zu Gerissenheit die Rede sein. Lediglich der Weg, um dorthin zu gelangen, hat nicht nur die unmittelbare Befolgung, sondern auch die Umstände zu berücksichtigen, was wiederum
Vgl. entsprechend für die Tugendlehre MdS 6:216.23: Ratschläge der Klugheit dienten letztlich, durch Aufwiegen gegenteiliger Handlungsmotivationen, der Sicherung der „apriorischen, rein-vernünftigen Handlungsgründe“ (Zöller 2013, 17). Brandt betont v. a. die umgekehrte Richtung, in welcher Politik die Klugheit der Schlangen, die Moral die Reinheit der Tauben ausmache (vgl. EF 8:370.17– 19). Dabei gerät, wie mir scheint, die Notwendigkeit der Moral (in diesem Fall des Rechts), die Dienste der Klugheit für die eigenen Zwecke in Anspruch zu nehmen, aus dem Blick (vgl. Brandt 1994, 377; siehe auch Brandt 2005, 117). Vollrath (1987, 283 ff.) rekonstruiert seine eigene Klugheitslehre als eine am Gemeinsinn anknüpfende eigene Form der Rationalität, welche auf der „perspektivischen Standorthaftigkeit“ des Subjekts basiere. Die daraus folgenden Urteile verfügten über eine „interpersonale Universalität“ (Vollrath 1987, 283). Er geht damit, wie Höffe auch für andere vom sensus communis ausgehenden politischen Theoretiker feststellt, über Kant hinaus, für welchen ein solches an den Umständen und zugleich am Urteil anderer orientiertes Urteil an die Vorgaben der Vernunft gebunden bleibt. Es erhält seine Rationalität nur aus dem Rückbezug auf Vernunft, nicht schon aus der reflektierenden Tätigkeit der Vernunft selbst.
6.2 Politik und Staatsklugheit als „ausübende Rechtslehre“
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von Zeit zu Zeit ein Abweichen von den Vernunftgesetzen und damit ein Handeln nach Prinzipien der Urteilskraft mit sich bringt. Dies ist auch gemeint, wenn Kant, wie oben zitiert, fordert, die Mittel der Politik müssten „mit der Achtung fürs Recht der Menschen zusammenstimmen“ (Vorarbeiten 23:346.18 f.). Dabei sei ausdrücklich auf das Wort „zusammenstimmen“ verwiesen, das bereits wiederholt für die empirischen Zwecke in Anschlag gebracht wurde, sofern sie mit den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ der Menschen zusammenzustimmen haben. Es zeigt sich hier noch einmal die Nähe zu Aristoteles: Für ihn ermöglicht erst die richtige Überlegung (euboulia) die richtige Ausübung der phronesis, der die Aufgabe zukommt, über die Einhaltung der durch Vernunft bestimmten richtigen Prinzipien zu wachen (vgl. Aristoteles NE VI, 10 (1142b-1143a). Im Gegensatz zu Kant gibt es daher für Aristoteles, so folgert Buchheim, „keine vollendete Moralität der Vernunft“. Und dennoch müsse Klugheit „an apriorische Prinzipien gebunden“ sein, um sich „gegenüber gewöhnlicher Einsicht auszuzeichnen“. Wie auch für Aristoteles Klugheit die „Beschaffenheit unserer eigenen oder anderer Leute handlungskräftiger Phantasien“ berücksichtigt, „um sie den als richtig erkannten sittlichen Prinzipien kompatibel und dienstbar zu machen“, so muss auch die urteilende Klugheit bei Kant die Gegebenheiten der Erfahrung einbeziehen, um in Übereinstimmung mit den rechtlichen Prinzipien diese umsetzen zu können (Buchheim 2002, 410). Diese Interpretation fügt sich in die im vorigen Kapitel zur Sprache gekommene aufgeklärte Denkungsart und die damit verbundene Maxime der Vernunft: In Bezug auf ihre Grenzen stößt die Vernunft auf den reinen Vernunftglauben. Dieser besteht in der aufgeklärten Denkungsart und verweist aus dem ihr eigenen Bedürfnis nach Erkenntnis heraus auf ein Urteil, das nach dieser „Maxime der Selbsterhaltung der Vernunft“ (Sich im Denken orientieren 8:147.9 f.) als Kompass zu ihrer eigenen Orientierung im von objektiven Prinzipien leeren Raum herangezogen werden kann. Dort, wo die Vernunft in ihrem Gebrauch nicht auf sicheres Wissen zurückgreifen kann, kann sie sich an dieser ihrer eigenen Maxime des Urteilens orientieren. Überall dort, wo sie durch Unwissenheit an ihre Grenzen stößt, sieht sie „ihren Mangel ein und wirkt durch den E r k e n n t n i ß t r i e b das Gefühl des Bedürfnisses.“ (Sich im Denken orientieren 8:139.36 f.) Auch hier also tritt reine Vernunft, angesichts einer Unmöglichkeit (hier: der Erkenntnis) ihre Kompetenz an die Urteilskraft ab, die sie anstatt der objektiven Prinzipien reiner Vernunft (übergangsweise) zu orientieren hat, bis Vernunft wieder „Boden unter die Füße“ bekommt, indem sie auf das Terrain zurückkehrt, auf dem sie selbst gesetzgebend ist und daher über die nötigen objektiven Prinzipien der Erkenntnis
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6 Staatsklugheit und Recht
verfügt.²⁰⁵ Die „mittleren Grundsätze“, die das Vernunftgesetz des Rechts spezifizieren, um deren Verwirklichung in der Erfahrung zu ermöglichen, und die Erlaubnisgesetze der Vernunft bilden somit diejenigen Mittel oder Instrumente, deren sich die Vernunft zur Ausübung ihrer Gesetze bedient – neben den bekannten Gebots- und Verbotsgesetzen. Politik ist damit derjenige Bereich, der die rechtlichen Rahmenbedingungen des Staates, die durch das a priori erkannte und moralisch fundierte Rechtsprinzip gesetzt werden, ausgestaltet und auf Erfahrung anwendet. Mit Gerhardt dürfen wir daher folgern: Die Kenntnis der elementaren Rechtsprinzipien bedarf der Ergänzung durch die Klugheit, wenn daraus eine auf die natürlichen und historischen Bedingungen bezogene Politik werden soll. Die Politik bedarf also neben der Vernunft und der Urteilskraft des kundigen Umgangs mit der Erfahrung; sie benötigt eben das, was nur verhängnisvoll ist, wenn es das einzige bleibt, nämlich die Klugheit. Politik ist somit Staatsklugheit unter der Leitung der Staatsweisheit (Gerhardt 1995,184).
Mit diesen Überlegungen wird auch deutlich, dass Kant die in seinen veröffentlichten Schriften aufgegebene Unterscheidung zwischen Klugheit und Weisheit gewissermaßen implizite fortführt. So macht Schwaiger beispielsweise darauf aufmerksam, dass Kant in seinen Anthropologie-Vorlesungen der Weisheit den Vorrang vor der Klugheit einräume, insofern sie auf den letzten Zweck bezogen sei und in der Endabsicht bestehe, auf welche alle Klugheit hinausläuft (Schwaiger 1999, 136 mit Verweis auf Refl. 1508, 25:820.16 – 17). Die hier vorgestellte Konzeption der Staatsklugheit, zusammen mit den Ergebnissen der vorherigen Kapitel zur Klugheit „in Privatverhältnissen“, stützt die Vermutung, dass sich damit „Residuen“ seiner früheren Auffassungen bis hinein in sein Spätwerk gehalten haben, oder aber dass der spätere Kant in gewisser Hinsicht wieder zu vorkritischen Überlegungen zurückgekehrt sein könnte.²⁰⁶ Was von beidem tatsächlich zutrifft, ist an dieser Stelle jedoch nicht entscheidbar.
Es darf gefragt werden, ob eine solche, wenn auch nur zeitweise, Abtretung der Kompetenz der Vernunft an die Urteilskraft nicht unter die von Brandt skizzierten „tiefgreifenden magmatischen Verschiebungen in der einen pluralen Vernunft“ fallen, welche sich zwischen 1781 und 1790 zunehmend „republikanisiere“ (Brandt 1994, 182). So nimmt ja bereits Pollok bezüglich der Verschiebung der technisch-praktischen Sätze in die theoretische Philosophie an (Pollok 2007, 68, vgl. Kapitel 1.2.1).
6.3 Das Prinzip der Publizität
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6.3 Das Prinzip der Publizität Nachdem nun deutlich geworden ist, in welchem Sinn Politik und Recht aufeinander bezogen sind und inwiefern die erste mit dem zweiten in Übereinstimmung zu bringen ist, liegt die Notwendigkeit, zumindest aber Wünschbarkeit auf der Hand, ein Kriterium angeben zu können, das es ermöglicht, diese ihre Übereinstimmung (oder ihren Widerspruch) zu überprüfen. Für die Überprüfung kluger Maximen auf ihren moralischen Gehalt, d. h. auf die ihnen zugrunde liegende moralische Willensgesinnung hin, dient der kategorische Imperativ. Er fungiert als apriorisches Kriterium, um anzuzeigen, ob eine Maxime mit dem Moralgesetz übereinstimmt. Da es in der Rechtslehre aber nicht um die Beweggründe von Handlungen (und damit auch nicht um Willensgesinnungen) geht, sondern um die Handlungen selbst, greift der für die Individualmoral konzipierte kategorische Imperativ hier nicht. Für die Rechtslehre führt Kant daher im Gegenzug das Prinzip der Publizität ein. Dieses dient, so ist zu zeigen, der Überprüfung der Gesetzgebung und d. h. der „mittleren politischen Grundsätze“, welche das Vernunftgesetz ergänzen, sowie der Überprüfung der Erlaubnisgesetze der Vernunft, die durch die Urteilskraft zu ermitteln sind. Indem es sich aber explizit nicht auf die reinen Rechtsprinzipien bezieht, sondern auf die konkreten politischen Grundsätze, fungiert es als vermittelndes Prinzip, anhand dessen angegeben werden kann, ob ein solcher Grundsatz, der ja, als Ausübung der Rechtslehre, wesentlich auch auf die durch ihn bewirkten Folgen Rücksicht nehmen muss, zugleich mit den obersten Rechtsprinzipien in Übereinstimmung steht. Damit gibt Kant ein Instrument an die Hand, subjektive Maximen von dieser ihrer subjektiven Seite her daraufhin zu überprüfen, ob sie mit der Moral (hier: dem Recht) in Einklang stehen – im Gegensatz zum Kriterium des kategorischen Imperativs, der ihren moralischen Beweggrund überprüft. Übertragen auf die Tugendlehre verweist Kant damit auf ein zwar transzendentales, aber auf die Folgenabschätzung der Maximen bezogenes Prinzip, das es ermöglicht zu ermitteln, ob sich der Handelnde noch im Bereich der (moralisch legalen) Klugheit befindet, oder ob die Grenze zu moralisch relevanten, d. h. der Tendenz nach unmoralischen Handlungen (insofern in solchen Fällen weiterhin das Klugheitsprinzip gelten sollte) überschritten ist. Zugleich haben wir Anlass, so darf an dieser Stelle vorwegnehmend bemerkt werden, hierin das im vierten Kapitel gesuchte Kriterium einer Typik der allgemein praktischen Vernunft zu vermuten (vgl. Kapitel 7). Das Prinzip der Publizität besagt zunächst negativ: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ (EF 8:381.24– 26) Kant nennt dies „ein leicht zu brauchendes, a priori in der Vernunft anzutreffendes Kriterium […], die Falschheit
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(Rechtswidrigkeit) des gedachten Anspruchs […] gleichsam durch ein Experiment der reinen Vernunft sofort zu erkennen.“ (EF 8:381.15 – 18) Er konkretisiert: Dieses Princip ist nicht bloß als e t h i s c h (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als j u r i d i s c h (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten. Denn eine Maxime, die ich nicht darf l a u t w e r d e n lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus v e r h e i m l i c h t werden muß,wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht ö f f e n t l i c h b e k e n n e n kann, ohne daß dadurch unausbleiblich der Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese nothwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende Gegenbearbeitung Aller gegen mich nirgend wovon als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht (EF 8:381.26 – 35).
Kant stellt das Prinzip der Publizität hier als ethisches und juridisches Prinzip dar. Hieraus könnte wiederum geschlossen werden, dass es sich auch im Rahmen der Rechtslehre um ein moralisches Prinzip handelt, und dass somit auch das Recht letztlich moralisch begründet sei. So versteht beispielsweise García-Marzá das Prinzip der Publizität als eine Anwendung des Moralgesetzes auf politische Maximen und damit als eine Version des kategorischen Imperativs. Der nach diesem Prinzip zu erwartende Widerstand Aller entspricht seiner Ansicht nach dem Widerspruch bei verfehlter Verallgemeinerbarkeit im Moralischen. Maximen, die dem Prinzip der Publizität nicht standhielten, widersprächen sich damit in ähnlicher Weise wie Maximen, die nicht den Test der Verallgemeinerbarkeit des kategorischen Imperativs bestünden. Damit werde dann auch die Grenze zwischen Legalität und Moralität, zwischen Recht und Moral untergraben (vgl. García-Marzá 2012, 109 f.) Er führt (unter Verweis auf KrV A 738/B 766 und A 828/B 840) die moralische Begründung des Prinzips der Publizität letztlich auf die kommunikative Verfasstheit der Vernunft überhaupt zurück, die sich in ihrer Mitteilbarkeit äußere: „The principle of publicity is therefore grounded in this communicative character of reason and in the recognition of the autonomous will of the other that this implies.“ (GarcíaMarzá 2012, 111) Er weist damit auch die hier nahegelegte Deutung zurück, derzufolge die moralische Begründung der Politik in der gegenseitigen Anerkennung der Prinzipien (also einer gegenseitigen Zustimmung) liege. Im Gegensatz zu einer solchen moralischen Lesart des Prinzips der Publizität, die zudem die Eigenständigkeit der Politik innerhalb des rechtlichen Rahmens in Frage stellt, vertrete ich die Auffassung, dass Kant an dieser Stelle zwar darauf hinweist, das Prinzip der Publizität sei auch ein ethisches Prinzip. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es im Rahmen der Rechtslehre auch als ein solches fungiert. Meine These ist, dass Kant es als ein ethisches für die Tugendlehre, und als ein
6.3 Das Prinzip der Publizität
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juridisches für die Rechtslehre vorstellt. Auf die Bedeutung des Prinzips der Publizität für die Tugendlehre werde ich im folgenden Kapitel näher eingehen.²⁰⁷ Im hier zunächst im Fokus stehenden Rahmen der Rechtslehre indiziert das Publizitätsprinzip zwar ein Unrecht bzw. eine Ungerechtigkeit, es tut dies aber nicht hinsichtlich eines Widerspruchs der reinen Vernunft, wie der kategorische Imperativ. Kant bezieht das Prinzip der Publizität auf „jeden Rechtsanspruch“ (EF 8:381.12). Damit ist angedeutet, dass es nicht auf den Akt der Staatsgründung (den ursprünglichen Vertrag) und damit die Rechtsprinzipien angewendet wird, sondern vielmehr auf die Überprüfung derjenigen politischen Maximen, welche in Einzelhandlungen (durch Gesetze und politische Maßnahmen) das politische Geschehen gestalten. Das Prinzip der Publizität gibt ein Kriterium an die Hand, nach welchen Prinzipien die Ausübung der Rechtslehre zu erfolgen hat bzw. erfolgen oder vielmehr: nicht erfolgen darf. Und es trägt damit zur Regelung des Handlungsspielraum der (Staats‐) Klugheit und d. h. der Politik bei. Würde man dieses Kriterium nun als ein moralisches, d. h. in der Moralität der Maxime begründet, verstehen, so stellte sich erneut die Frage, ob Politik unabhängig von Moral stattfinden kann. Soll Politik ausübende Rechtslehre sein, so kann das Prinzip, anhand dessen die politischen Maximen zu überprüfen sind, nicht ein moralisches sein, da es der Rechtslehre nicht um die zugrunde liegenden Gesinnungen als individualmoralische geht. Schon Kants Erläuterung des Prinzips weist explizit darauf hin: Als Indikator für eine unrechte politische Maxime (d. h. für eine Maxime, die nicht in Übereinstimmung mit den apriorischen Rechtsprinzipien steht) gilt der auf ihre Publikmachung hin zu erwartende „Widerstand Aller gegen meinen Vorsatz“. Ein Widerstand gegen eine geäußerte Absicht aber lässt sich nur aufgrund von (antizipierter) Erfahrung annehmen und nicht aus apriorischen Prinzipien (wie dem kategorischen Imperativ) als Widerspruch ableiten. Denn um die eigenen (auch politischen) Maximen am möglichen Urteil der anderen prüfen zu können, muss eine mögliche Idee fremder Glückseligkeit zugrunde gelegt werden – und das ist nur durch Rückgriff auf Erfahrung möglich. Kant führt zur Erläuterung des zunächst negativ formulierten Prinzips der Publizität vier Beispiele an: eines zum Staatsrecht sowie drei zum Völkerrecht. Das erste bezieht sich auf eine mögliche Handlung des Volkes, nämlich ob die Maxime,
Für eine ebenfalls dezidiert nicht-moralische Lesart siehe Horn 2014, 225 ff. Er versteht das Prinzip als den „Gemeinwillentest“, stellt es jedoch als unklar und mangelhaft ausformuliert vor. Insbesondere würden nicht deutlich der „Inhalt und Umfang dessen, worauf der Gemeinwillentest bezogen sein soll.“ (Horn 2014, 226) Die folgenden Ausführungen sowie die des nächsten Kapitels machen auf der Grundlage der vorgestellten Interpretation des Begriffs der Klugheit einen entsprechenden Vorschlag.
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bei (gerechtfertigter oder ungerechtfertigter) Unzufriedenheit mit der Staatsführung, sich gegen diese aufzulehnen, „ein rechtmäßiges Mittel für ein Volk“ sei (EF 8:382.7 f.). Er verneint dies mit der Begründung, dass dem Kriterium der Publizität folgend eine vorherige öffentliche Verkündigung eines solchen Vorhabens dasselbe vereiteln würde. Die Absicht werde durch ihre öffentliche Mitteilung undurchführbar gemacht und müsste schon verheimlicht werden (vgl. EF 8:382.27– 30). Im Gegensatz zum oben genannten Widerspruch in der Gesetzgebung, die nicht der Existenz des Gemeinwesens als eines solchen zuwiderlaufen darf (vgl. Gemeinspruch 8:298 f.), bezieht sich der hier gemeinte Widerspruch auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der jeweiligen Maxime, die im Rahmen einer Gesetzgebung das politische Handeln anleitet.²⁰⁸ Das Prinzip der Publizität gibt insofern etwas an die Hand, was dem Einzelnen in seinen „Privatverhältnissen“ nicht vergönnt zu sein scheint: ein Kriterium der Entscheidung für oder gegen Maximen, nach denen der kluge Staatsmann zu handeln hat. Die Anwendung des Prinzips der Publizität im Rahmen des Völkerrechts kann selbstverständlich nur deshalb stattfinden, weil überhaupt von einem rechtlichen Zustand ausgegangen werden kann (EF 8:383.8 – 11), der den Willen der in ihm vereinigten Subjekte publik zu machen vermag. Die Verbindung der Völker untereinander darf jedoch nur zum Zwecke der Friedenssicherung erfolgen, „keineswegs aber um Erwerbungen zu machen“ (EF 8:383.25 f.). Unter dieser Voraussetzung kann dann jedes Staatsoberhaupt ausmachen, ob die Maxime (ge‐) recht ist, nach der er etwas nicht zurückgeben möchte, was er versprochen hat (Bsp. 1), nach der er ein ihm bedrohlich erscheinendes Nachbarland angreifen will (Bsp. 2), oder nach der er sich ein kleineres Land zu unterwerfen gedenkt (Bsp. 3). In allen drei Fällen muss die Antwort negativ ausfallen, denn eine öffentliche
Horn sieht in dieser Zurückweisung eines Widerstandsrechts den „zentrale[n] Schwachpunkt“ von Kants politischer Philosophie, da sie es nicht zulasse, eine bestehende Staatsverfassung daraufhin zu überprüfen, ob ihre Prinzipien mit denen eines aus der reinen Vernunft abgeleiteten öffentlichen Rechtsbegriffs übereinstimmen. „Man fragt sich zumindest, ob die Mängel einer Verfassung nicht so eklatant sein können, dass der Widerstand gegen die Staatsgewalt eine moralisch vorziehenswerte Alternative bilden kann.“ (Horn 2009, 422) Hannah Arendt interpretiert das durch Kant verurteilte Recht auf Revolution dahingehend, dass sie in seiner im Ästhetischen angelegten Konzeption des Politischen den Unterschied begründet sieht zwischen der Perspektive des Beobachters als Urteilendem (Geschmack), aus welcher ein solches Recht nicht gegeben sein kann, und der Perspektive des Handelnden (Genie), welcher sich über das geltende (Geschmacks‐) Urteil und damit über das Recht hinwegsetzt und (gewissermaßen als verbotene Ausnahme) eine durch ihn als richtig beurteilte Revolution durchführt. Erst mit dieser Differenz zwischen Beobachter/Urteilendem und Handelndem eröffne sich die Perspektive des Politischen (vgl. Arendt 1998, 99 ff.).
6.3 Das Prinzip der Publizität
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Verlautbarung vorab würde sogleich den Widerstand der Untertanen bzw. der anderen Staaten hervorrufen und damit die eigene Absicht unmöglich machen. Schmitz ist nun der Auffassung, Kants Unterscheidung von Legalität und Moralität weise der Klugheit zwar ihren eigenständigen Platz im Rahmen der Legalität zu, unterwandere damit aber seine eigene Vorgabe der Begründung der Politik durch die Moral. Und auch Römpp liest in der Folge seiner streng moralischen Auslegung des Kantischen Rechtsbegriffs den Begriff der Staatsklugheit, wie Kant ihn insbesondere anhand des Publizierbarkeitsgebots anführt, als „gegen Kants eigentliche philosophische Intention“ (Römpp 2006, 149). Er schließt einen Anschluss an Kants philosophische Theorie des Staates aus, welche er aus dem kategorischen Imperativ herleitet. Römpp merkt an: Die Folge dieser vom Staatsbürger als Rechtsperson her gedachten Konzeption ist der Ausschluss eines interessenorientierten Staatsbegriffs und der entsprechenden ‚Klugheit‘. Die letztere gewinnt Bedeutung damit nur gegen die eigentlich philosophische Intention Kants (Römpp 2006, 149, Fn. 23).
Nun konnte ja aber die Eigenständigkeit der Politik gegenüber der Moral gezeigt werden, ohne dass dadurch Kants Absichten unterwandert würden: Denn die politischen Maximen sind nicht selbst moralisch begründet im Sinne einer moralischen Gesinnung – sie sind in dieser Hinsicht höchstens legal. Die „Absichten Kants“ liegen hingegen in der Übereinstimmung von Recht und Politik, was er selbst dann eine Übereinstimmung der Politik mit der Moral nennt. Die Unabhängigkeit der Politik findet deshalb keineswegs „gegen die Autorintention“ statt (vgl. Schmitz 1990, 430 ff.).Was Schmitz und Römpp meines Erachtens übersehen, ist die oben ausgeführte Tatsache, dass die Begründung des Begriffs der Staatsklugheit sich gar nicht auf etwas dem Rechtsbegriff Zugrundeliegendes bezieht, sondern auf den bereits etablierten Rechtsstaat. Strukturell gesehen (also auf ihre Funktion, ihre Aufgabe bezogen) ist es für die Staatsklugheit gewissermaßen gleichgültig, ob der Rechtsbegriff nun a priori abgeleitet und moralisch fundiert ist oder nicht, woraufhin ja überhaupt erst eine „wahre“ von einer „falschen“ Staatsklugheit unterschieden werden kann (und muss). Klugheit selbst erklärt sich erst aus einem solchen bereits hergeleiteten Rechtsbegriff und durch ihren Bezug auf diesen, nicht aber durch Bezug auf dasjenige, woraus sich der Rechtsbegriff selber herleitet. Daran ändert auch die positive Formulierung des Prinzips der Publizität nichts. In MdS heißt es zunächst: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das öffentliche Recht.“ (MdS 6:311.6 – 8, kursiv C.G.) Das öffentliche Recht beruht damit auf solchen Gesetzen, die öffentlich gemacht werden müssen, um das
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Verhältnis zwischen den Bürgern zu regeln. Diese Formulierung steht nun in direktem Bezug zu derjenigen aus der Friedensschrift: „Alle Maximen, die der Publicität b e d ü r f e n (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.“ (EF 8:386.12 f.) Was sich geändert hat, ist der Ausdruck „Gesetz“, der nun zu „Maxime“ geworden ist. Was bedeutet das? Kant liefert hier den Versuch, ein positives Kriterium abzugeben für all diejenigen politischen Handlungen einer Regierung, die auf den Zustand eines auf den apriorischen Rechtsprinzipien beruhenden öffentlichen Rechts hinzuführen geeignet sind. Nicht nur soll negativ ausgeschlossen werden, dass eine Regierung im Gegensatz zu einem in der Vernunftidee des Rechts begründeten Gesetz steht. Es soll darüber hinaus auch bestimmt werden können, welche dieser Handlungen (Maximen) auf jeden Fall mit dem Recht übereinstimmen. Daraus, dass diejenigen Gesetze, die der Bekanntmachung (Publizität) bedürfen, das öffentliche Recht ausmachen, folgt, dass derjenige Politiker sich in Übereinstimmung mit dem Recht befindet, der ausschließlich nach solchen Maximen handelt, die zugleich öffentliche bzw. öffentlich zu machende Gesetze werden können. Das entspricht nun ganz offensichtlich dem Verallgemeinerungsgebot des kategorisch-moralischen Imperativs, weshalb García-Marzá folgern kann, es handle sich um eine Anwendung desselben auf die Politik. Und dennoch geht es nicht um eine individualmoralische Gestaltung, sondern um die Verhinderung einer sich von den apriorischen Rechtsprinzipien entfernende Politik, die ihre Zuflucht bei einer vermeintlich ethischen Beförderung des Wohlergehens des Volkes sucht (unter Verweis auf die ethische Pflicht der Menschenliebe; vgl. García-Marzá 2012, 109) sowie EF 8:385.27– 386.6).²⁰⁹ Eine solche Politik verfehlt nach Kant ihren Zweck, da sie übersieht, dass das Wohlergehen des Volkes als Gemeinschaft einzig im Recht und gerade nicht in der (Individual‐) Moral des kategorischen Imperativs begründet sein kann. Die positive Formulierung hat deshalb die Absicht, diese „Hinterlist einer lichtscheuen Politik doch von der Philosophie durch die Publizität jener ihrer Maximen“ zu vereiteln (EF 8:386.6 – 8). Wer also sicher sein will, dass er sich in Übereinstimmung mit dem Recht (und nicht mit der ethischen Pflicht der Menschenliebe) befindet, kann sich an solchen Maximen orientieren, die öffentlich bekannt gemacht werden müssen, um Gül-
Wenn García-Marzá meint, beide Formulierungen seien zwei verschiedene Formen des kategorischen Imperativs, übersieht er, dass das Prinzip der Publizität in seinen beiden Formulierungen, anders als der kategorische Imperativ, die Folgen der Maximen berücksichtigen muss. Es handelt sich, wie hier ausgeführt, um ein Kriterium zur Feststellung einer Übereinstimmung einer politischen Maxime mit dem Recht – nicht der Moral.
6.3 Das Prinzip der Publizität
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tigkeit zu erlangen. Auch hier bezieht sich das Kriterium der Überprüfung auf die Übereinstimmung der Politik mit der Moral als Übereinstimmung mit dem Recht: Denn wenn sie [die Maximen, C.G.] n u r durch die Publicität ihren Zweck erreichen können, so müssen sie dem allgemeinen Zweck des Publicums (der Glückseligkeit) gemäß sein, womit zusammenzustimmen (es mit seinem Zustande zufrieden zu machen), die eigentliche Aufgabe der Politik ist. Wenn aber dieser Zweck nur durch die Publicität, d. i. durch die Entfernung alles Mißtrauens gegen die Maximen derselben, erreichbar sein soll, so müssen diese auch mit dem Recht des Publicums in Eintracht stehen; denn in diesem allein ist die Vereinigung der Zwecke Aller möglich (EF 8:386.14– 21, kursiv C.G.).
Das Argument lautet: Zweck der Politik ist die Glückseligkeit der Bürger, die sich zu einer rechtsstaatlichen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben.²¹⁰ Diese Glückseligkeit drückt sich, wie wir gesehen haben, nicht darin aus, dass der Politiker sie zu verfolgen sucht, sondern darin, dass die freie Willkür eines jeden mit der eines jeden anderen zusammenstimmen kann, d. h. dass jeder Bürger seine Zwecke selbst zu setzen in der Lage ist. Dies aber ist nur möglich in einem Zustand des öffentlichen Rechts, wie die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre zeigen. Deshalb muss der Zweck der Politik (die Freiheit der Bürger, ihre eigene Glückseligkeit zu verfolgen) mit dem Recht übereinstimmen. Die Maximen des klugen Staatsmannes haben sich an dem zu orientieren, was den das öffentliche Recht begründenden Rechtsprinzipien zufolge jene Freiheit im Gebrauch der Willkür zu sichern vermag. Das Prinzip der Publizität soll somit Antinomien zwischen Politik und Moral auflösen, insofern durch seine Anwendung Ungerechtigkeiten aufgedeckt werden – und zwar indem das Volk oder der Souverän jeweils Widerstand gegenüber ungerechten Maximen zeigen und damit deren Absicht zu vereiteln drohen. Zusammenfassend lassen sich zwei Aspekte des Publizitätsprinzips festhalten: zum einen die Feststellung einer Ungerechtigkeit bzw. eines Unrechts, auf das ein zu erwartender Widerstand in Reaktion auf eine geäußerte Handlungsabsicht hinweist. In diesem Sinne fungiert das Prinzip als Indikator für eine Ungerechtigkeit bzw. ein Unrecht – nicht aber als apriorisches (und damit gar ethisches) Prinzip der Verallgemeinerbarkeit von Handlungsmaximen. Zum anderen verweist das Prinzip damit zugleich auf einen Widerspruch in der (in der Maxime oder
So ist laut Gerhardt dann auch der Begriff des Publikums, der Öffentlichkeit bei Kant definiert: „Publikum ist eine Menge von Menschen, die durch einen sie verbindenden „Zweck“ verbunden sind. Und dieser „allgemeine Zweck des Publicums“ besteht in der Verfolgung der Interessen der in ihm versammelten Menschen. Sie haben Bedürfnisse,Vorlieben und Wünsche, und indem sie ihnen Ausdruck geben, setzen sie den Zweck, der ihnen als Publikum wesentlich ist.“ (Gerhardt 2012, 164)
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dem Gesetz ausgedrückten) Handlungsabsicht, die aufgrund des zu erwartenden Widerstandes oder aufgrund anderer Faktoren den mit ihr verbundenen Zweck zu vereiteln droht. Dieser Zweck kann dabei entweder das übergeordnete Ziel der Sicherung des Gemeinwesens oder ein untergeordneter politischer Zweck sein. Wird durch eine politische Handlungsabsicht die Existenz des gestifteten Gemeinwesens in Frage gestellt, liegt ein unmittelbarer Widerspruch vor, denn ist das Gemeinwesen in seiner Existenz gefährdet, so sind dies die einzelnen Handlungsabsichten auch, welche, so wurde deutlich, auf den rechtlichen Rahmen des Gemeinwesens angewiesen sind. Das Prinzip der Publizität gibt damit das Kriterium für die erweiterte Denkungsart an. Denn es ist auf die Beurteilung von Maximen (und nicht von Handlungen) bezogen unter Berücksichtigung ihrer Wirkung auf die Bürger, und das heißt ganz allgemein: auf andere Menschen (und nicht nur den die Gesetze erlassenden Politiker). Die erweiterte Denkungsart, so konnte oben festgestellt werden, fordert vom Subjekt, das eigene Urteil noch einmal am Urteil anderer zu überprüfen. Genau das aber tut der staatskluge Politiker: Er überprüft das eigene Urteil, d. h. die von ihm konzipierte Gesetzgebung, anhand des Publizitätsprinzips. Er betrachtet sie im Lichte des Urteils anderer: nämlich der dieser Gesetzgebung unterworfenen Bürger. Widerstand ist von ihnen genau dann zu erwarten, wenn ihr Urteil über die Maxime nicht übereinstimmt mit dem Urteil des Politikers. Im folgenden Kapitel wird zu zeigen sein, in welcher Weise die so verstandene Staatsklugheit Rückschlüsse zulässt auf den Begriff der Klugheit „in Privatverhältnissen“. Abschließend möchte ich auf einen bereits zu Beginn des zweiten Kapitels anklingenden Einwand verweisen, der bisweilen vorgebracht wird: Ihm zufolge stehen die teleologisch-historischen Ausführungen Kants im Zusammenhang mit seiner politischen Philosophie im Gegensatz zu seinen moralisch-praktischen Schriften. So sieht bspw. Habermas in der zwischen Moral und Recht vermittelnden Politik anhand des Publizitätsprinzips und der historischen Verfasstheit der Staaten zwar die Möglichkeit eines Übergangs von der (nicht apriorischen) Politik zum Rechtszustand begründet: Soweit aber jene Naturbasis des Rechtszustandes als solche fragwürdig ist, muss die Herstellung eines rechtlichen Zustandes – der einer moralischen Politik bisher vorausgesetzt war – selber zu Inhalt und Aufgabe der Politik gemacht werden. […] Der Öffentlichkeit, die Politik mit Gesetzen der Moral in Einklang halten soll, würde dadurch eine neue Funktion zuwachsen, eine, die sich gar am Ende innerhalb des Kantschen Systems nicht mehr interpretieren ließe (Habermas 1990, 189 f.).
Auch Ellis weist darauf hin, dass hier eine grundsätzliche Widersprüchlichkeit in Kants politischer Theorie vorliegt, insofern er einerseits Politik als eine Sphäre frei
6.3 Das Prinzip der Publizität
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wollender Menschen auffasse, zugleich aber eine teleologische Auffassung eines quasi natürlich-historischen Fortschreitens der menschlichen Geschichte vertrete (vgl. Ellis 2005, 41 f.). Sie hält daher den teleologischen Rückgriff für unvereinbar mit seinem kritischen System (vgl. Ellis 2005, 43). Ähnlich kritisiert Beiner diesen Ansatz Kants und folgert: „Kant lacks a sufficient account of political agency and lacks a sufficient account of rational deliberation.“ Er hätte aus seiner ästhetischen Theorie einen solchen entwickeln können, habe es aber vorgezogen, auf teleologisch-historische Erklärungen zurückzugreifen (Beiner 1983, 69 f.). Wie bereits im zweiten Kapitel zur Sprache kam, scheint Kant der Natur selbst die Aufgabe der Zivilisierung des Menschen u. a. durch Eintritt in den bürgerlichrechtlichen Zustand zuzuschreiben, sodass von einer eigentlich menschlich-vernünftigen Entscheidung keine Rede mehr sein könnte.Wozu also, so lässt sich der Einwand vielleicht auf den Punkt bringen, aufwändig eine a priori in der Vernunft begründete Moral etablieren, wenn am Ende die Natur quasi automatisch (wenn auch mit anderen Mitteln) zum selben Zweck, nämlich zur Moral führt? Horn sieht dagegen in diesen Darstellungen Kants seine These bestätigt, dass der Mensch sich immer nur dem Ideal annähern könne, zugleich aber hinter einer vollständigen Erfüllung zurückbleiben müsse. Aus eben diesem Grunde könne man Kants Rechts- und politische Philosophie im Sinne einer nichtidealen Normativität verstehen, die genau diesem Umstand Rechnung trage (Horn 2014, 44 sowie 238 – 299.). Er folgert: Kants grundlegendes Anliegen in der Geschichtsphilosophie erweist sich mithin weder als theoretisch noch als praktisch, sondern als metatheoretisch; es ist bezogen auf die Theorie der Stellung der praktischen Vernunft in der Welt (Horn 2014, 298 f.).
Das im Rahmen dieser Arbeit vorgestellte Verständnis der Klugheit macht ergänzend deutlich, wie der Mensch aus dem (theoretischen) Reich der Natur heraus wirkend tätig wird. Indem Klugheit als Ausübung der apriorischen Lehre (hier: der Rechtslehre) aufgefasst wird, tritt diese ihre natürliche Aufgabe noch deutlicher zutage. Dem angemessenen Anspruch an den Menschen als Sinnen- und Vernunftwesen zugleich Rechnung zu tragen und die unbedingten Gebote der reinen Vernunft mit seiner Sinnlichkeit zu vermitteln, ist ihre ausübende Aufgabe. Ob sie dieser Aufgabe gerecht wird, ist dann ablesbar am Unterschied zwischen (Staats‐) Klugheit – im Privaten: Klugheit als Geschicklichkeit bezogen auf angenehme Zustände – und (Staats‐) Weisheit – im Privaten: auf wesentliche und allgemeine Zwecke der Menschen – Acht gebend.
7 Klugheit und Moral Im vorigen Kapitel sahen wir, dass und wie sich Staatsklugheit als ausübende Rechtslehre darstellen ließ, indem sie durch Einsatz der Urteilskraft die apriorischen Rechtsprinzipien unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände in die Tat umsetzt. Sie ist befugt, hierzu gegebenenfalls Erlaubnisgesetze heranzuziehen, durch welche die Vernunft ihre Kompetenz übergangsweise an die urteilende Funktion der Staatsklugheit abtritt. Aufgabe dieses letzten Kapitels ist es nun, aufzuzeigen, inwiefern Klugheit in „Privatverhältnissen“ (EF 8:376.1) analog als „ausübende Tugendlehre“ zu verstehen ist: So spricht Kant selbst z. B. davon, eine Pflicht gegen jemanden auszuüben (vgl. MdS 6:450.9).²¹¹ Damit wird Klugheit, im Gegensatz zu den ersten Kapiteln, nicht mehr nur für sich im Hinblick auf ihre Struktur, sondern vor allem in ihrem Verhältnis zur Moral betrachtet – was wiederum Rückschlüsse auf ihre Struktur zulässt. Konnten die ersten drei Kapitel zeigen, wie sich Klugheit abgrenzt gegen Geschicklichkeit, mithin keineswegs eine bloße Spielform von oder gar identisch mit ihr ist, so gilt es nun zu zeigen, inwiefern sie ebenso wenig eine bloße Dienerin der Moral, sondern notwendiger Bestandteil derselben, gewissermaßen eine „kreative Dienerin“ ist. Es sind im Folgenden zunächst die Charakterisierung aller ethischen Pflichten als weite und damit unvollkommen bestimmte Pflichten aufzuzeigen (7.1) sowie der ihnen zukommende Spielraum zu präzisieren, der sich als Spielraum der Urteilskraft erweist (7.2). Es wird sodann deutlich werden, dass infolge ihrer Unterbestimmung zum Spielraum der ethischen Pflichten eine weitere Funktion der Urteilskraft hinzutreten muss, um die Grenze zwischen Klugheit und Moral zu bestimmen. Hierin besteht meines Erachtens die Aufgabe der von Kant ins Feld geführten Kasuistik (7.3). Anschließend kommt das bereits angesprochene „Paradox des Regelfolgens“ ins Spiel: Es ist zu klären, ob und gegebenenfalls wie die aufgrund einer Idee der Glückseligkeit gebildeten Regeln der Klugheit dem infiniten Regress entkommen können (7.4). Parallel zu den Ergebnissen des vorigen Kapitels werden sich Erlaubnisgesetze und das Prinzip der Publizität als bedeu-
Puls versteht (unter Verweis auf Recki 2001, 311) Kants Metaphysik der Sitten als „‚Anwendungsschrift‘ seiner vorher entwickelten moralischen Grundlegungsschriften“ (Puls 2013, 113). Er unternimmt den Nachweis einer „kategoriale[n] Systematik“ in MdS, wie Kant sie mit den Kategorien der Freiheit entwickelt. Neben den in der Kategorientafel verwendeten Grundbegriffen, die sich allesamt in MdS wiederfinden, tut er dies anhand der Kategorien der Relation (für die Rechtslehre) und anhand der Kategorie der Ausnahme (für die Tugendlehre), deren Maximen er als erlaubte Ausnahmen von der Moral im den unvollkommenen Pflichten zugeschriebenen Spielraum zu entdecken meint. Auf diesen Punkt komme ich weiter unten zurück (vgl. Kapitel 7.5).
7.1 Vollkommene und unvollkommene ethische Pflichten
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tende Elemente für den korrekten Gebrauch der Klugheit im Rahmen (bzw. unter den Bedingungen) der Moral erweisen (7.5).
7.1 Vollkommene und unvollkommene ethische Pflichten Rechtspflichten der Bürger, insofern sie sich auf die Sicherung der äußeren Freiheit der Menschen in ihrem Zusammenleben richten, beziehen sich nicht auf deren Gesinnung, also die Maximen, die hinter den Handlungen stehen, sondern auf die Handlungen selbst. Denn rechtlich gesehen geraten nur die tatsächlichen Handlungen in Konflikt mit der äußeren Freiheit anderer, nicht die dahinter stehenden Absichten (dies gilt nur für die das Gesetz ausübenden Politiker). So konstatiert Kant für die Rechtslehre: Es wird jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben aber ist a priori bestimmt: daß nämlich die Freiheit des Handelnden mit Jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne (MdS 6:382.12– 16).
Wie wir schon für den Politiker sahen, ist für die Subjekte eines Rechtsstaates im Rahmen der Rechtslehre auch die Bestimmung ihrer willkürlichen, beliebigen Zwecke (nach Klugheitsregeln bzw. -maximen) an die oberste Maxime des Rechts gebunden, welches besagt, dass die Freiheit aller anderen zu wahren ist. Das bedeutet nichts anderes, als dass sich gegenüber den Rechtsgesetzen die subjektive Maxime eines jeden an der Maxime der erweiterten Denkungsart zu messen hat, um mit den Maximen der anderen zusammen bestehen zu können.²¹² Ethische Pflichten dagegen schreiben nicht vor, eine konkrete Handlung auszuführen, sondern eine Maxime zu wollen, nach der ein Zweck gesetzt wird. Als solche sind sie von weiter Verbindlichkeit, im Gegensatz zu den Rechtspflichten mit enger Verbindlichkeit. Kant spricht also von der engen Verbindlichkeit einer Pflicht, wenn sie eine Handlung, von einer weiten aber, wenn sie eine Maxime gebietet.²¹³ In diesem Sinne bezeichnet Kant beispielsweise die „Pflicht des Menschen gegen sich selbst in Ansehung seiner physischen Vollkommenheit“ als
In diesem Sinn vertritt Flikschuh die Auffassung, dass dasjenige, was rechtsstaatlich zu regulieren sei, weniger die Willkür des einen betreffe, insofern sie mit der des anderen in Konflikt gerate, als vielmehr die Beziehung der Willkür des einen auf Objekte, insofern sie mit der Beziehung der Willkür des anderen ebenfalls auf (dieselben) Objekte in Konflikt gerate (vgl. Flikschuh 2002, 192– 194). Siehe auch z. B. Schadow 2013, 105 f. sowie 107.
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7 Klugheit und Moral
nur w e i t e und unvollkommene Pflicht: weil sie zwar ein Gesetz für die Maxime der Handlungen enthält, in Ansehung der Handlungen selbst aber ihrer Art und ihrem Grade nach nichts bestimmt, sondern der freien Willkür einen Spielraum verstattet (MdS 6:446.4– 8).
Ethische Pflichten teilen sich zudem auf in eine ethische Tugendverpflichtung und die eigentlichen Tugendpflichten: Solche Pflichten, die „blos das F ö r m l i c h e der sittlichen Willensbestimmung (z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch a u s P f l i c h t geschehen müsse) betreffen“ (MdS 6:383.11– 13), sind keine Tugendpflichten. Streng genommen kann es nur eine einzige davon geben, und Kant nennt sie eine ethische Tugendverpflichtung. Sie schlägt sich in der Tugendlehre in Form der unvollkommenen Pflicht des Menschen gegen sich selbst „in Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit, d. i. in blos sittlicher Absicht“ (MdS 6:446.10 f.) nieder. Subjektiv besteht sie „in der L a u t e r k e i t der Pflichtgesinnung“, derzufolge „die Handlungen nicht blos pflichtmäßig, sondern auch a u s P f l i c h t geschehen“ (MdS 6:446.13 – 17). Die einzelnen Tugendpflichten dagegen betreffen solche Pflichten, die es gebieten, sich einen bestimmten Zweck als Materie der Willkür zu setzen: Nur ein Z w e c k , d e r z u g l e i c h P f l i c h t ist, kann Tugendpflicht genannt werden. Daher gibt es mehrere der letztern (auch verschiedene Tugenden); dagegen von der ersteren nur eine, aber für alle Handlungen gültige (tugendhafte Gesinnung) gedacht wird (MdS 6:383.13 – 17).
Der Pflichtbegriff selbst leitet damit auf solche Zwecke, die zu setzen das moralische Gesetz der Vernunft gebietet, und er muss „die M a x i m e n in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen s o l l e n , nach moralischen Grundsätzen begründen“ (MdS 6:382.25 – 27). Das aber besagt, dass der Pflichtbegriff zur Notwendigkeit bestimmter Zwecke führt, die Maximen aber, welche diese Zwecke dann verwirklichen, nicht durch die Pflicht (das Moralgesetz) selbst bestimmt, sondern eben „nur“ begründet werden. So spricht Kant auch von der Begründung der einzelnen Tugendpflichten durch die eine Tugendpflicht,vollkommen zu sein (vgl. MdS 6:447).²¹⁴ Mit anderen Worten: Der Grund der Maxime liegt im moralischen Grundsatz – ihre Ausgestaltung jedoch muss anderweitig erfolgen. Damit bleibt für die Umsetzung (Befolgung) der Tugendpflichten ein Spielraum (latitudo), um zu bestimmen, „wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle.“ (MdS 6:390.8 f.)
Vgl. zur Begründung der einzelnen Tugendpflichten aus der Tugendverpflichtung z. B. Baum 1998.
7.1 Vollkommene und unvollkommene ethische Pflichten
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Nun schließt Kant hieraus: „Die unvollkommenen Pflichten sind also allein T u g e n d p f l i c h t e n .“ (MdS 6:390.18) Denn je weiter die Pflicht, desto unvollkommener ist die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung, und desto unbestimmter ist die einzelne Handlungsweise (vgl. MdS 6:393.4– 10 und 6:394.33 – 395.9). Man könnte nun meinen, Kant nehme damit eine Identifikation der weiter unten in seinem Text angeführten unvollkommenen Pflichten mit den Tugendpflichten vor, welche allein einen Spielraum für Handlungen gestatte, während die vollkommenen Pflichten (als den unvollkommenen entgegengesetzt) eigentlich von enger Verbindlichkeit seien und damit den Rechtspflichten nahekämen bzw. mit ihnen identisch seien. Seine Aufzählung von vollkommenen Tugendpflichten müsste damit jedoch unverständlich bleiben.²¹⁵ Torralba führt diese interpretatorische Schwierigkeit darauf zurück, dass Kant die vollkommenen Pflichten des Menschen als Unterlassungspflichten formuliert, sodass sie, ähnlich den Rechtspflichten, eine Pflicht zur Handlung enthielten. Dennoch, so betont Torralba zu Recht, bestünde der wesentliche Unterschied von Rechts- und Tugendpflichten in der Enge bzw. Weite ihrer Verbindlichkeit (Torralba 2009, 312 ff. sowie 316.).Vor dem Hintergrund dieser unklaren Abgrenzung der vollkommenen gegen die unvollkommenen Pflichten soll nun zunächst ein Kriterium gesucht werden, das diesen Unterschied plausibel zu machen geeignet ist, ohne zugleich die vollkommenen Pflichten als enge und damit letztlich als Rechtspflichten abzutun. Kant identifiziert genau zwei Zwecke, die zugleich Pflicht sind: eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Danach teilen sich dann alle Tugendpflichten ein in solche gegen sich selbst (Pflichten, die den Zweck der eigenen Vervollkommnung gebieten) und solche gegen andere (sich die Glückseligkeit anderer, d. h. sich deren Zwecke zu eigen machen). Beide Klassen von Pflichten teilen sich wiederum ein in vollkommene und unvollkommene: Zunächst die vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst, die dem Zweck der Selbsterhaltung dienen: sowohl als animalisches, also sinnlich bedingtes, als auch moralisches Wesen. Sie verbieten die entsprechenden Laster: Selbstentleibung, wohllüstige Selbstschändung und Selbstbetäubung (Pflichten des Menschen gegen sich selbst als animalisches Wesen) sowie Lüge, Geiz, falsche Demut (Pflichten gegen sich selbst als moralisches Wesen). Demgegenüber stehen die Achtungspflichten gegen andere, die Kant, ebenso wie die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst, negativ als Unterlassungspflichten, also Verbote formuliert, und die es verbieten, den anderen nur als Mittel, nicht als Zweck an sich zu behandeln: Verboten sind die Laster Hochmut, Afterreden, Verhöhnung.
Dieser Auffassung ist z. B. Denis 2001, 30, zitiert nach Schüssler 2012, 83.
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7 Klugheit und Moral
Die unvollkommenen Pflichten dagegen sind positiv formuliert und beziehen sich wiederum auf die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, in Bezug auf den ihm inhärenten Zweck der Menschheit in seiner Person und zwar zum einen in pragmatischer Hinsicht (d. h. in Bezug auf seine sinnlich bedingte Natur), zum anderen in sittlich-moralischer Absicht. Es sind: die Entwicklung bzw. Vermehrung seiner Naturvollkommenheit sowie die Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit. Zudem kennt Kant unvollkommene Pflichten gegen andere, welche wiederum eingeteilt sind in solche, die sich auf andere „bloß als Menschen“ und solche, die sich auf ihren Zustand beziehen: Zu den ersten zählen die Liebespflichten Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Teilnehmung. Zu den letzteren dagegen merkt Kant an, sie gehörten nicht mehr „als Abschnitte der Ethik und Glieder der E i n t h e i l u n g eines Systems (das a priori aus einem Vernunftbegriffe hervorgehen muß), aufgeführt“, da sie „nicht so vielerlei A r t e n der ethischen Ve r p f l i c h t u n g , sondern nur Arten der A n w e n d u n g “ seien. Sie könnten diesem System daher „nur angehängt“ werden (MdS 6:469.5 – 10). Es bestätigt sich hier meines Erachtens die bereits oben geäußerte Vermutung: Die eigenen subjektiven Maximen lassen sich nur dann mit der Pflicht der fremden Glückseligkeit (als welche sich die Liebespflichten auffassen lassen) abgleichen und damit als moralische Pflichten ausüben, wenn jeder einzelne eine Vorstellung davon entwickelt, was empirische, aber mit „wesentlichen und allgemeinen“ zusammen gehaltene Zwecke sein können. Ebenso wenig wie die eigene, ist jedoch die Glückseligkeit der anderen Teil des ethischen Systems, da hierfür Urteilskraft und Erfahrung sowie eine ästhetische Idee der Glückseligkeit nötig sind. Schon aus dem eingangs vorgebrachten Zitat folgt nun, dass für Kant die Begriffe „weit“ und „unvollkommen“ insofern austauschbar sind, als alle weiten Pflichten, im Gegensatz zu engen Rechtspflichten, unvollkommener Natur sind, da sie eben keine Handlungen, sondern die dahinter stehenden Maximen vorschreiben.²¹⁶ Dies wird besonders deutlich angesichts der Abgrenzung der Pflicht der Achtung gegen die Liebespflicht: Auch wird die Pflicht der freien Achtung gegen Andere, weil sie eigentlich nur negativ ist (sich nicht über Andere zu erheben) und so der Rechtspflicht, niemanden das Seine zu schmälern, analog, obgleich als bloße Tugendpflicht, verhältnißweise gegen die Liebespflicht für e n g e , die letztere also als w e i t e Pflicht angesehn (MdS 6:449.31– 450.2).²¹⁷
In diese Richtung auch Hill 2013, 298, Fn. 6, der von einem mündlichen Hinweis Arnulf Zweigs berichtet, die Übersetzung von „unvollkommen“ habe „incomplete“ zu lauten im Sinne von un- bzw. nicht weiter spezifiziert. Auf diese Stelle stützt sich Schüssler bei seiner Unterscheidung der vollkommenen von den unvollkommenen Pflichten als „relativ enge“ Pflichten. Er schließt jedoch daraus, dass den „relativ engen“ Pflichten daher kein Spielraum zukomme, der einen „sinnvollen Einsatz von
7.1 Vollkommene und unvollkommene ethische Pflichten
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Kant bezeichnet die Pflicht der Achtung nicht als vollkommene Pflicht, weist aber darauf hin, dass sie negativ formuliert und dadurch im Verhältnis zur Liebespflicht von engerer Verbindlichkeit sei. Daraus darf meines Erachtens geschlossen werden, dass gleiches für die vollkommenen Pflichten gegen sich selbst in ihrem Verhältnis zu den unvollkommenen Pflichten gilt. Damit aber liegt der Unterschied zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten nicht darin, dass sich für die zweiten ein Spielraum auftut, den es für die ersten nicht gibt, weil diese Handlungen, und nicht Maximen gebieten würden. Vielmehr sind vollkommene Pflichten negativ formuliert und wirken deshalb einschränkend, sodass durch ihre Verbote bestimmte Handlungen von vornherein ausscheiden und der Aktionsradius (ähnlich wie bei den Rechtspflichten) erheblich eingeschränkt wird. Unvollkommene Pflichten dagegen sind positiv formuliert und wirken dadurch erweiternd: Der durch sie gebotene Zweck muss spezifiziert werden und erweitert so die Pflicht und damit auch den Aktionsradius. Die vollkommenen Pflichten stellen damit, so meine ich, einen Versuch Kants dar, die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst in Erhöhung der moralischen Vollkommenheit des Menschen in Anbetracht ihrer Ausübung zu konkretisieren. Denn die ethischen Pflichten verlangen nichts anderes, als die geforderte subjektive „L a u t e r k e i t der Pflichtgesinnung“ (MdS 6:446.13 f.) und die objektive Vervollkommnung des Menschen angesichts seines ganzen moralischen Zwecks („seid vollkommen!“). Kant präzisiert, dass „zu […] diesem Ziele aber hinzustreben beim Menschen immer nur ein Fortschreiten von e i n e r Vollkommenheit zur anderen ist“ (MdS 6:446.21 f.). So gesehen stellen die vollkommenen Pflichten einen Teil dieser Klasse von unvollkommenen Pflichten dar: Was aber die Vollkommenheit als moralischen Zweck betrifft, so giebts zwar in der Idee (objectiv) nur e i n e Tugend (als sittliche Stärke der Maximen), in der That (subjectiv) aber eine Menge derselben von heterogener Beschaffenheit, worunter es unmöglich sein dürfte, nicht irgend eine Untugend (ob sie gleich eben jener wegen den Namen des Lasters nicht zu führen pflegen) aufzufinden, wenn man sie suchen wollte. Eine Summe von Tugenden aber, deren Vollständigkeit oder Mängel das Selbsterkenntniß uns hinreichend einschauen
Untermaximen“ zulasse (Schüssler 2012, 83 f.). Ich werde auf die Frage des Spielraums im nächsten Abschnitt (7.2) zurückkommen. Shermans Interpretation steht meiner näher: Sie sieht das Merkmal der vollkommenen ethischen Pflichten darin, dass sie ähnlich den Rechtspflichten, die einen äußeren Zwang zur Ausübung der Pflicht bei sich führen, mit „internal constraints“ einhergingen, „on how we promote our moral and physical natures.[…] The general point is that in duties toward both self and others, there are narrower ethical duties of proscription that constrain wider imperfect duties. It is important to add, though, that even these narrower duties allow certain forms of latitudes insofar as determining when and whether proscriptions apply requiring discretionary judgment. This also would hold of perfect juridical duties.“ (Sherman 1997, 335)
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7 Klugheit und Moral
läßt, kann keine andere als unvollkommene Pflicht vollkommen zu sein begründen (MdS 6:447.6 – 15).
Tugendpflichten sind also von einem je unterschiedlichen Grad an Unvollkommenheit oder Weite geprägt: Je unvollkommener die Pflicht ist, desto geringer ist die Verbindlichkeit zur Ausführung einer bestimmten Handlung, und andersherum: Je unvollkommener die Tugendhaftigkeit, desto vollkommener muss die Pflicht sein.²¹⁸ Die Verpflichtung zur tugendhaften Gesinnung ist hier die unvollkommenste (also diejenige, die am wenigsten präzise durch Hinweise auf bestimmte Zwecke oder gar (ge- oder verbotene) Handlungen anzugeben ist), was Kant dazu bringt, festzustellen: Je mehr der Mensch in Befolgung dieser Pflicht in die Nähe einer engen Pflicht rückt, je strikter er sie also in allen seinen Handlungen befolgt, desto größer ist seine Tugendhaftigkeit zu bewerten (vgl. MdS 6:390.14– 17), denn desto größer ist auch die Stärke in Überwindung der Hindernisse.²¹⁹ Damit nehme ich an dieser Stelle den im vierten Kapitel nicht weiter verfolgten Faden wieder auf, demzufolge die dritte Modalkategorie innerhalb der Kategorien der Freiheit den Übergang beinhaltet von den empirisch bedingten zu den moralisch bestimmten Kategorien. Denn diese letzte Kategorie lautete ja: „vollkommene und unvollkommene Pflicht“. Unabhängig von der Einteilung in Rechts- und Tugendpflichten darf man aufgrund der gerade vorgeschlagenen Interpretation nun annehmen, dass der Übergang im beschriebenen Sinn von den notwendigerweise vollkommenen Pflichten zu den unvollkommenen erfolgt, insofern bei Befolgung der ersten die tugendhafte Gesinnung noch am unvollkommensten ausgeprägt ist, sodass umso engere, also präzisere – eben vollkommenere – Pflichten nötig sind, die die Maxime der Handlung durch möglichst genaue Anweisungen einschränken. Je mehr sich die eigene Gesinnung hingegen der Tugend annähert, umso unvollkommener stellen sich die entsprechenden Pflichten auch dar, desto mehr Spielraum bleibt für die Ausführung der Handlungen. Erläutern lässt sich dieser Zusammenhang auch anhand folgender Reflexion zur Anthropologie, wo es heißt:
Seymor scheint dies im Sinn zu haben, wenn sie entgegen Kants offensichtlichem Wortlaut die Pflicht der Wohltätigkeit als unvollkommene Pflicht bezeichnet. Sie führt an, Kant wende die Unterscheidung „vollkommen – unvollkommen“ nur auf die Pflichten des Menschen gegen sich selbst an. Gleichwohl seien die Pflichten der eigenen Vollkommenheit und der fremden Glückseligkeit von ähnlicher Art (vgl. Seymor 2008, 403). Zur Tugend als „sittliche Stärke der Maxime“ (MdS 6:447.8) siehe auch MdS 6:394.15 f.: „Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. Und beinahe wörtlich in Anth 7:147.5 – 16. „Tugend ist die m o r a l i s c h e S t ä r k e in B e f o l g u n g seiner Pflicht“.
7.2 Klugheit und der Spielraum der Urteilskraft
255
Der Charakter erfordert zuerst, daß man sich Maximen mache und dann Regeln. Aber Regeln, die nicht durch Maximen eingeschränkt sein, sind pedantisch, wenn sie ihn selbst einschränken, und storrisch, ungesellig, wenn sie andre einschränken. Sie sind der Gängelwagen der Unmündigen. Die Maxime bestimmt der Urtheilskraft den Fall, der unter der Regel ist (Refl. 1164, 25/2: 514.20 – 515.2).
Je weniger tugendhaft jemand seiner Gesinnung (seinem Charakter) nach ist, desto genauer müssen die Regeln (zu verstehen als Handlungsregeln) sein, und desto weniger kommen hierfür Maximen in Frage. Was wiederum die These bestätigt, Maximen seien im Kern jene Ratschläge der Klugheit, die unser Handeln mittels (erfahrungsgeschärfter) Urteilskraft anleiten. Diese Interpretation stimmt dann auch mit der im vorigen Kapitel vorgebrachten Deutung des Verhältnisses von Recht und Moral überein: Wären die Menschen von sich aus moralisch handelnde Wesen, so wäre auch ein Rechtsbegriff der Zwangsbefugnis gar nicht nötig, denn jeder würde den anderen in seiner (äußeren) Freiheit respektieren und nicht behindern. Da dem nicht so ist, sind für die Organisation des äußeren Zusammenlebens der Menschen Rechtsgesetze nötig, also (Rechts‐) Pflichten gegenüber dem Gesetz.²²⁰ In den sogenannten „Privatverhältnissen“ bedeutet dies umgekehrt, dass sich der Mensch umso mehr im moralisch bloß legalen Raum bewegt, umso weniger die Tugendverpflichtung verwirklicht ist, umso weniger also das Moralgesetz ausgeübt wird. Denn für die unvollkommenste aller Pflichten bedeutet „Ausübung“ dann nicht mehr der Bezug auf die Erfahrung im sogleich darzustellenden Sinn, sondern als tatsächlicher Eingang des moralischen Gesetzes in die Willensgesinnung (das, was Kant unter der wahren Praxis versteht). In eben diesem Sinn ist also der Übergang von Klugheit zu Moral innerhalb der Anwendung der Kategorien der Freiheit zu verstehen.
7.2 Klugheit und der Spielraum der Urteilskraft Aufgrund dieser grundsätzlichen Unterbestimmung aller ethischen Pflichten angesichts des durch sie gebotenen Zwecks (der Maxime) tut sich ein Spielraum auf, welcher, Kant folgend, als Betätigungsfeld der Urteilskraft zu verstehen ist. Denn: Eine Pflicht sagt zwar entweder, was jemand wollen, oder aber, was er nicht tun soll, nicht aber, was eigentlich genau zu tun ist.²²¹ An die Anerkennung einer
Vgl. zu diesem Argument Flikschuh 2002, 192– 194. Vgl. Torralba 2009, 434, Fn. 22 und Recki 2006, 50, Fn. 30. Während Recki lediglich feststellt, der jeweilige Spielraum bezüglich der Unterscheidung zwischen weiten Tugend- und engen
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7 Klugheit und Moral
Pflicht und die Setzung des mit ihr verbundenen Zwecks muss sich somit eine Spezifikation anschließen, die den Spielraum in der Erfüllung dieser Pflicht ausfüllt, um schließlich eine Handlung herbeizuführen: [W]enn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst gebieten kann, so ists ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d. i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle (MdS 6:390.4– 9, kursiv C.G.).
Was aber genau heißt das? Was ist gemeint mit „wie“ und was mit „wie viel“ durch die Handlung gewirkt werden soll? Und wie hängt beides zusammen? Ich werde im Folgenden die These vertreten, dass erstens das „wie“ eine Frage der Klugheit und diese damit für die Ausübung der Tugendpflichten zuständig ist, und dass zweitens das „wie viel“ eine Frage des Urteils über die Grenzbestimmung zwischen Klugheit und Moral ist und damit einer Kasuistik bedarf, die sich aus eben dieser Spezifizierung der Tugendpflichten durch Klugheit ergibt. Kant verweist an drei weiteren Stellen auf mögliche Spielräume in der Erfüllung der Tugendpflichten, die jeweils den vollkommenen, den unvollkommenen und den weiten Pflichten insgesamt zugeordnet sind. Erst wenn man versteht, dass sich diese Spielräume alle auf weite Pflichten beziehen, insofern diese im Vergleich mit den engen Rechtspflichten unvollkommen, weil in der Anweisung zu einer Handlung unterbestimmt sind, lässt sich erfassen, worauf Kant mit den kasuistischen Fragen hinweist und was diese mit Klugheit zu tun haben.
7.2.1 Spielraum der unvollkommenen Pflichten Allein diese Pflicht [die eigene Vollkommenheit als Zweck, der zugleich Pflicht ist, C.G.] ist blos ethisch, d. i. von weiter Verbindlichkeit. Wie weit man in Bearbeitung (Erweiterung oder Berichtigung seines Verstandesvermögens, d. i. in Kenntnissen oder in Kunstfähigkeit) gehen solle, schreibt kein Vernunftprincip bestimmt vor; auch macht die Verschiedenheit der Lagen, worin Menschen kommen können, die Wahl der Art der Beschäftigung, dazu er sein Talent anbauen soll, sehr willkürlich. – Es ist also hier kein Gesetz der Vernunft für die Handlungen, sondern blos für die Maxime der Handlungen, welche so lautet: ‚Baue deine Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke an, die dir aufstoßen können‘, ungewiß welche davon einmal die deinigen werden könnten (MdS 6:392.10 – 19).
Rechtspflichten sowie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten stimme nicht überein, schließt Torralba, es ergäben sich hieraus zwei unterschiedliche Arten von Spielräumen.
7.2 Klugheit und der Spielraum der Urteilskraft
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An dieser Stelle nennt Kant explizit die unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst, um zu erläutern, inwiefern diese einen Spielraum offen lassen, innerhalb dessen es der Willkür eines jeden überlassen bleibt, wie genau er seine Talente entwickeln, sich also vervollkommnen will. Kant betont, es gebe hierfür „kein Gesetz der Vernunft für die Handlungen, sondern bloß für die Maxime der Handlungen“. Vernunft schreibt damit eine Maxime vor, die sich die Verfolgung des genannten Zwecks zu eigen machen soll. Die Ausgestaltung dieses Zweck selbst ist jedoch nicht näher bestimmt, denn welche der je eigenen Gemütskräfte, die sich am besten dazu eignen, zur bestmöglichen Verfolgung aller beliebigen Zwecke ausgebildet zu werden, muss dem Urteil (bzw. der Willkür) eines jeden Einzelnen überlassen bleiben. So mag der eine seine musikalischen Fähigkeiten kultivieren, der andere seine mathematischen etc., sodass jeder die ihm eigenen Talente ausbaut und verwirklicht, um alle diejenigen Zwecke verfolgen zu können, die ihm in den Sinn kommen könnten. Was mit anderen Worten nichts anderes heißt, als sich nicht nur in die Lage zu versetzen, eine moralisch tugendhafte Gesinnung auszubilden, sondern auch alle möglichen Zwecke überhaupt und somit auch empirische entsprechend der eigenen Idee der Glückseligkeit bestimmen und verfolgen zu können. Selbst wenn der Mensch also seiner Tugendpflicht nachkommt, muss er dennoch wissen, was er, unabhängig vom moralischen Anspruch, eigentlich will, d. h. er muss eine Vorstellung davon haben, was seine eigenen Talente und Fähigkeiten sind, welche Zwecke er im Rahmen eines glücklichen Lebens damit verwirklichen wollen könnte, sowie was er überhaupt unter einer solchen Idee versteht. Klugheit (bzw. Einbildungskraft, Verstand und Urteilskraft) müssen also bereits in diesem (gewissermaßen vormoralischen) Sinne am Werk gewesen sein und eine solche Idee entworfen haben.Vor dem Hintergrund der Erläuterungen der ersten Kapitel heißt das: Klugheit ist nötig, um diese Tugendpflichten zu gestalten. Mit der hier erläuterten Einteilung wird nun auch deutlich, was oben bereits angesprochen wurde: Die unvollkommenen Pflichten gegen sich selbst beinhalten zwar die „Entwickelung und Vermehrung seiner Naturvollkommenheit, d. i. in pragmatischer Absicht“ (MdS 6:444.14– 16), sowie die „Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit, d. i. in blos sittlicher Absicht“ (MdS 6:446.10 f.). Damit kann jedoch keinesfalls gemeint sein, dass die damit verbundene Verfolgung der eigenen Glückseligkeit zur Pflicht, zu einem Gebot der Vernunft erhoben würde (vgl. Kapitel 1.2.2). Kant präzisiert, dass in solchen Fällen nicht die Befolgung damit verbundener (empirischer) Zwecke selbst Pflicht sei, sondern vielmehr die Sittlichkeit des Subjekts, zu welcher diese Zwecke dann nur erlaubte Mittel (und daher nur indirekte Pflichten) seien (vgl. MdS 6:388.26 – 28). Es darf vermutet werden, dass die These des vorigen Kapitels, derzufolge Vernunft der Klugheit und der für sie wirksamen Urteilskraft eine Befugnis erteilt, tätig zu werden, auch hier
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7 Klugheit und Moral
Gültigkeit beanspruchen kann: Vernunft erlaubt in diesem Fall die empirische Zwecksetzung durch Urteilskraft, um den durch sie selbst gebotenen, unvollkommen bestimmten Zweck auszuführen und so die Pflicht auszuüben. Aus angeführten Gründen scheint mir daher Torralbas Interpretation des diesem Abschnitt (7.1.1) vorangestellten Zitates nicht ganz zutreffend zu sein. Er meint, weite Pflichten seien als die von Kant explizit als unvollkommene Pflichten benannten zu verstehen, vollkommene dagegen von einer solchen Unterbestimmung ihres Zweckes auszunehmen. Und er schließt aus dieser Stelle, der benannte Spielraum des „wie und wie viel“, komme nur den unvollkommenen Pflichten zu, da sich für die vollkommenen Pflichten aufgrund ihres negativen Charakters eine Frage nach den konkreten Handlungen nicht stelle. Dieser Spielraum der unvollkommenen Pflichten bedürfe zudem keiner weiteren Erläuterung, da es um Fragen der eigenen Glückseligkeit gehe (vgl. Torralba 2009, 329 und 332). Dass hierfür sehr wohl eine Erläuterung vonnöten ist, d. h. dass es gerade nicht evident ist, wie nach Kant die Bestimmung der Glückseligkeit erfolgt (oder erfolgen kann), sollte jedoch hinreichend deutlich geworden sein. Wie gezeigt, scheint Kant hier alle ethischen Pflichten zu meinen, zieht aber zur Erläuterung lediglich eine unvollkommene Pflicht heran. Diese Lesart wird auch durch die nächste Textstelle (7.1.2) gestützt, während erst die übernächste (7.1.3) aufzeigt, wie der sich hier öffnende Spielraum des „wie und wie viel“ dann tatsächlich auszufüllen ist.
7.2.2 Spielraum der weiten Pflichten Die Ethik hingegen führt wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich dahin, zu Fragen, welche die Urtheilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei, und zwar so: daß diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wiederum nach einem Princip der Anwendung dieser auf vorkommende Fälle gefragt werden kann); und so gerät sie in eine K a s u i s t i k , von welcher die Rechtslehre nichts weiß (MdS 6:411.10 – 17).
Auch hier könnte man nun meinen, nur für unvollkommene Pflichten ergebe sich ein Spielraum für die Handlungen, der dann, so die neue Aussage dieses Zitats, durch die Bildung von Untermaximen auszufüllen sei. Schüssler zufolge besteht hierin das eigentliche Kriterium der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten. Da Kant mit dem Zitat auf eine Kasuistik verweise, die er zugleich der Rechtslehre abspreche, schließt Schüssler, dass sich eine Kasuistik
7.2 Klugheit und der Spielraum der Urteilskraft
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nur auf unvollkommene Maximen anwenden ließe, was wiederum durch die Bildung von Untermaximen erfolge.²²² Gleichzeitig jedoch spricht Kant von der Ethik überhaupt und von dem Spielraum, „den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet“ (kursiv C.G.), was ebensogut wie oben dargestellt verstanden werden kann in dem Sinne, dass die („ihre“) Pflichten der Ethik allesamt unvollkommen sind, sodass ihnen allen ein Spielraum zukommt. Vor diesem Hintergrund geht Torralbas Annahme, der hier genannte Spielraum beziehe sich nur auf die unvollkommenen Pflichten und gelte nicht für die vollkommenen, ins Leere, wie sich auch Schüsslers Annahme entkräften lässt, nur unvollkommene Pflichten verfügten über einen Spielraum des Handelns mittels Untermaximen. Tatsächlich sagt Kant an dieser Stelle, dass es für die Ausübung einer weiten Tugendpflicht nötig ist, weitere Untermaximen zu bilden, um sie in einzelnen Fällen anzuwenden. Und tatsächlich ist damit dann auch die Frage verbunden, wie diese Maximen anzuwenden sind, was auf eine Kasuistik verweist. Im Folgenden wird jedoch deutlich werden, dass die Bildung einer solchen Untermaxime unterschieden werden muss von der mit ihr verbundenen Frage nach ihrer Anwendung, welche tatsächlich eine Kasuistik erfordert (vgl. Abschnitt 7.3).
7.2.3 Spielraum der vollkommenen Pflichten Der Satz: man soll keiner Sache zu viel oder zu wenig thun, sagt so viel als nichts; denn er ist tautologisch. Was heißt zu viel thun? A n t w. Mehr als gut ist. Was heißt zu wenig thun? A n t w. Weniger thun als gut ist. Was heißt: ich s o l l (etwas thun oder unterlassen)? A n t w. Es ist n i c h t g u t (wider die Pflicht) m e h r oder auch weniger zu tun, als gut ist.Wenn das die Weisheit ist, die zu erforschen wir zu den Alten (dem Aristoteles), gleich als solchen, die der Quelle näher waren, zurückkehren sollen: virtus consistit in medio, medium tenuere beati, est modus in rebus, sunt certi denique fines, quos ultra citraque nequit consistere rectum, so haben wir schlecht gewählt, uns an ihr Orakel zu wenden. – Es gibt zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge (als contradictorie oppositis) kein Mittleres: aber wohl zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung (als contrarie oppositis), da an dem, welcher seine Meinung erklärt, A l l e s , was er sagt, wahr ist, er aber nicht die g a n z e W a h r h e i t sagt. Nun ist doch ganz natürlich von dem Tugendlehrer zu fordern, daß er mir dieses Mittlere anweise. Das kann er aber nicht; denn beide Tugendpflichten haben einen Spielraum der Anwendung (latitudinem), und was zu thun sei, kann nur von der Urtheilskraft nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen), d. i. nicht als e n g e (officium strictum), sondern nur als w e i t e Pflicht (officium latum) entschieden werden. Daher der, welcher die
Schüssler ist der Auffassung, die von Kant vorgestellte „Kasuistik“ beschreibe „ein Unterfangen, bei dem mithilfe der Urteilskraft untergeordnete Maximen zu Maximen der Pflicht gewonnen werden.“ (Schüssler 2012, 71, 83 f.)
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7 Klugheit und Moral
Grundsätze der Tugend befolgt, zwar in der Ausübung im Mehr oder Weniger, als die Klugheit vorschreibt, einen F e h l e r (peccatum) begehn, aber nicht darin, daß er diesen Grundsätzen mit Strenge anhänglich ist, ein Laster (vitium) ausüben […] (MdS 6:433.10 – 30).
Hier nun führt Kant den oben anscheinend nur den unvollkommenen Pflichten zugeordneten Spielraum der Handlungen aus – und zwar im Rahmen seiner Behandlung der vollkommenen Pflichten. Das darf sowohl als Zeichen dafür gelten, dass nicht nur unvollkommene, sondern auch vollkommene Pflichten über einen Spielraum verfügen, als auch dafür, dass Kant alle weiten Pflichten für nur unvollkommen bestimmt hält.²²³ Zudem ist hier in der Essenz zusammengefasst, welche Rolle der Klugheit unter Bedingungen der Moral zukommt: Klugheit dient der Ausübung der ethischen Pflichten, indem sie die einzelnen Handlungen konkretisiert und dadurch den Übergang zur Erfahrung möglich macht.²²⁴ Und schließlich bestätigt sich noch einmal die These aus dem fünften Kapitel, dass Klugheit wesentlich eine Funktion der Urteilskraft ist. Denn: Die moralische Frage betrifft die Bestimmung des Willens durch die Maxime, der (in diesem Fall vollkommenen) Pflicht nachzukommen, d. h. den Willen durch das Formale des Sittengesetzes zu bestimmen. Sie bezieht sich auf die Annahme einer moralischen Gesinnung, was der oben angeführten Tugendverpflichtung entspricht. Aus dieser ergibt sich das Pflichtgebot, sich nicht selbst zu töten oder zu verstümmeln, sowie nicht zu lügen, zu geizen oder zu „kriechen“ (falsche Demut zu üben). Aufgrund der weiten Verbindlichkeit in Bezug auf die gebotene Maxime ist damit jedoch noch nicht bestimmt, was nun eigentlich zu tun sei, sondern, qua Unterlassungspflicht (Verbot), nur, was nicht zu tun ist. Der hier benannte Spielraum der vollkommenen Pflichten gegen sich selbst besteht somit darin, unter Voraussetzung des Entschlusses zum Nicht-Lügen (d. h. unter den Bedingungen der Moral) mittels Urteilskraft festzulegen, was unter diesen Umständen tatsächlich getan (gesagt) werden soll – wobei das „Sollen“ Interessanterweise findet diese Fußnote bei Torralba keine Erwähnung, denn hier gibt Kant die Rechtfertigung dafür, dass es, anders als er annimmt, nicht zwei Arten von Spielräumen für die Urteilskraft gibt. Auch Schüssler übergeht Kants Bemerkung, und wie ich meine mit gutem Grund, denn sie unterläuft in gewissem Sinne seine eigenen Ausführungen, zumindest was die Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten angeht. Sullivan verweist auf diese „positive Rolle der Klugheit“ innerhalb der Tugendlehre, geht aber nicht wesentlich über die Feststellung hinaus, dass Klugheit gefragt sei, wo unvollkommene Pflichten nur unzureichend die Zwecke bestimmen, die uns zum Handeln bringen (vgl. Sullivan 1997, 466). Er konstatiert, der kategorische Imperativ habe eine recht unbestimmte Rolle, indem er zwar die Richtung angebe, nicht aber, was wir tun sollten. „It needs supplementing.“ (Sullivan 1997, 467) Allerdings führt er nicht aus, wie dieses „supplementing“ aussehen könnte. Auch Kain verweist auf die hier angesprochene Rolle der Klugheit für die Erfüllung der Tugendpflichten (Kain 2001, 240).
7.2 Klugheit und der Spielraum der Urteilskraft
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eine explizit nicht-moralische Bedeutung annimmt und damit jeder objektiven Normativität entbehrt. Dies aber ist nur möglich durch „Regeln der Klugheit“, also durch subjektive Maximen. Unter der Voraussetzung also, dass alles, was gesagt wird, die Wahrheit ist, bleibt es dem Sprechenden und seinem Urteil überlassen zu bestimmen, was oder wie viel er preisgibt und was er lieber für sich behalten möchte – und zwar der von ihm zugrunde gelegten Idee der Glückseligkeit folgend. Diese Idee muss allerdings ihrerseits, um der Aufgabe der Spezifizierung von Tugendpflichten nachzukommen, ihre Zwecke mit „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ der Menschen zusammenhalten.²²⁵ Nichts anderes meint Kant meines Erachtens, wenn er im Gemeinspruch die Erfahrung, „was ein Mensch ist und was man von ihm fordern kann“ (Gemeinspruch 8:288.35 f.) als „pragmatische Geschicklichkeit“ bezeichnet, welche dazu beitragen könne, wie die Theorie der Moral „besser und allgemeiner ins Werk gerichtet werden könne, wenn man sie in seine Grundsätze aufgenommen hat“ (Gemeinspruch 8:289.1– 5). Die Erfahrung (der Klugheit als pragmatischer Geschicklichkeit) dient der Ausübung der Theorie der Moral, trägt selbst aber nichts zur Gültigkeit oder Festlegung ihrer Grundsätze bei – wie auch die Politik selbst nicht über die apriorischen Rechtsprinzipien zu entscheiden, sondern lediglich die Gesetze des Rechtsstaates diesen anzunähern hat.²²⁶ Schon anlässlich der Vorstellung der beiden Zwecke, die zugleich Pflicht sind, erläutert Kant, bei der „Wohlfahrt ein Opfer an Andere ohne Hoffnung der Wiedervergeltung [zu] machen“ (MdS 6:393.24 f.), sei es unmöglich, bestimmte Grenzen anzugeben: wie weit das gehen könne. Es kommt sehr darauf an, was für jeden nach seiner Empfindungsart wahres Bedürfniß sein werde, welches zu bestimmen jedem selbst überlassen bleiben muß. Denn mit Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse) Anderer ihre zu befördern, würde eine an sich selbst widerstreitende Maxime sein, wenn man sie zum allgemeinen Gesetz machte. Also ist diese Pflicht [der fremden Glückseligkeit als physische Wohlfahrt, C.G.] nur eine w e i t e ; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu thun, ohne daß sich die Grenzen davon bestimmt angeben lassen. – Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen (MdS 6:393.26 – 35, kursiv C.G.).
Vgl. Gemeinspruch 8:283.15 – 19: „Denn zuerst muß ich sicher sein, daß ich meiner Pflicht nicht zuwider handle; nachher allererst ist es mir erlaubt, mich nach Glückseligkeit umzusehen, wie viel ich deren mit jenem meinem moralisch- (nicht physisch‐) guten Zustande vereinigen kann.“ Ähnlich resümiert Brandt, der Klugheit damit allerdings wieder der Geschicklichkeit zuordnet: „Die Klugheit ist instrumenteller Natur und kann keine Moralbegründung liefern.“ (Brandt 2005, 114)
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7 Klugheit und Moral
Ebenso heißt es in MdS 6:393.24– 35: „Also ist diese Pflicht [fremde Glückseligkeit zu befördern, C.G.] nur eine weite; sie hat einen Spielraum, mehr oder weniger hierin zu tun, ohne daß sich die Grenzen davon b e s t i m m t angeben lassen. – Das Gesetz gilt nur für die Maximen, nicht für bestimmte Handlungen.“ (Kursiv C.G., vgl. MdS 6:39210 – 19) Und für die Beförderung der fremden Glückseligkeit in Bezug auf das „moralische Wohlsein Anderer“ (MdS 6:394.1) gilt dann Gleiches: Kant nennt sie eine „negative Pflicht“ (MdS 6:394.3), für die ebenfalls „keine bestimmte Gränzen, innerhalb welchen sich diese Sorgfalt für die moralische Zufriedenheit Anderer halten ließe“ (MdS 6:394.10 – 12, kursiv C.G.) angegeben werden können, sodass auch sie nur von weiter Verbindlichkeit sei. Sherman betont daher gegen den Vorwurf des Rigorismus an Kant, dass die Bedürfnisse und die Glückseligkeit des Handelnden keineswegs moralisch indifferent seien (vgl. Sherman 1997, 339). Und auf die gleiche Frage des Maßes zielt auch die erste kasuistische Frage in § 31 der Tugendlehre ab: Wie weit soll man den Aufwand seines Vermögens im Wohlthun treiben? Doch wohl nicht bis dahin, daß man zuletzt selbst Anderer Wohlthätigkeit bedürftig würde (MdS 6:454.1– 3).²²⁷
Klugheit (als Funktion der Urteilskraft) bezieht sich somit, wie oben bereits erwähnt (vgl. Kapitel 5.1), auf eben das, was Kant im Gegensatz zu Aristoteles für die Ethik ablehnt: auf die Frage nach dem Mittleren, nach dem rechten Maß. Es ist Aufgabe der Klugheit, abzuwägen, z. B.welche Informationen jemand weitergeben will und welche nicht, was also genau er tun will. Wie eine solche Bestimmung einer Handlung zustande kommt, das wurde in den vorangegangenen Kapiteln erläutert. Hier nun sehen wir, dass diese Bestimmung nicht a priori angegeben werden kann, sondern urteilend (reflektierend) zu ermitteln ist. Wie Kant explizit anmerkt, hat sie nach Regeln der Klugheit zu erfolgen, d. h. nach Maximen im subjektiven Sinn. Dass das, was weitergegeben werden soll, der Wahrheit zu
Höffe sieht neben den Fragen des Maßes noch drei weitere Aufgaben der „erfahrungsgeschärften Urteilskraft“ in Erfüllung der moralischen Aufgabe: 1. Wie genau (d. h. durch welche Mittel) eine Tugendpflicht umzusetzen sei, 2. in welcher Priorität oder Rangfolge die Pflichten zu erfüllen sind, sowie 3. wie man sich in Konfliktfällen zu verhalten habe. Höffe weist darauf hin, dass es sich in der Regel um Adressaten- und nicht um Prinzipienkonflikte handle, die aufgrund der „Offenheit des Handelns“ (Höffe 2001, 78 f.) durch erfahrungsgeschärfte Urteilskraft zu lösen seien. Dem kann vor dem Hintergrund der hier angestellten Überlegungen nicht ganz zugestimmt werden, denn die hier als Aufgabe der Urteilskraft beschriebene Abgrenzung von Klugheit und Moral betrifft auch die Beurteilung der jeweils zugrunde liegenden Prinzipien, wie im Folgenden noch deutlicher werden wird. Auch scheint mir das von Höffe vorgetragene Argument gegen seine oben angeführte Auffassung zu sprechen, diese mit Erfahrung verbundene Urteilskraft sei nicht in der Lage, bei der Bildung von Maximen mitzuwirken (vgl. Kapitel 5.1.3).
7.3 Kasuistik und kasuistische Fragen
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entsprechen hat, unterliegt der vollkommenen (Unterlassungs‐) Pflicht gegen einen selbst als moralisches Wesen, nicht zu lügen und ist dieser praktischen Überlegung vorangestellt. In diesem Sinne liegen solche Fragen der Klugheit im Gegensatz zu denen des Lasters dann „ganz und gar außerhalb den Grenzen der Pflicht gegen sich selbst“ (MdS 6:434.6 f.). Sie tragen nichts zur Bestimmung der Pflicht bei, sondern betreffen die Klärung derjenigen Begriffe, die unter der Voraussetzung des als moralisch bestimmten Guten eine Anwendung dieser Pflicht auf konkrete Handlungen ermöglichen, indem das (dann nicht mehr moralisch) Gute als Mittleres bestimmt und zu diesem Zweck der Mensch und sein Zustand (als auch sinnliches Wesen) einbezogen wird. Wir können festhalten: Je unvollkommener die Pflicht (aufgrund der Tugendgesinnung), desto eher ist die Bildung einer die Handlung spezifizierenden Untermaxime nötig, um die konkrete Handlung zu bestimmen. Je vollkommener hingegen die Pflicht (die Gesinnung), desto eher braucht es bloß die Angabe einer bestimmten Handlungsweise, desto weniger Spielraum bleibt zum Abwägen. Aus diesem Grund spricht Kant vermutlich zumeist vom Spielraum des Handelns, nicht von dem der Maximen. Dieser Spielraum, den Kant anhand der vollkommenen Pflichten erläutert, bezeichnet nun eben jenen oben benannten Spielraum, demzufolge weite Pflichten offenlassen, „wie und wie viel durch die Handlung gewirkt werden solle“, er kommt also allen ethischen Pflichten zu, insofern sie alle von weiter Verbindlichkeit sind. Ebenso wurde deutlich, dass es sich bei den „Regeln der Klugheit“, die das zur Spezifizierung der Tugendpflicht nötige Mittlere angeben, um eben jene „untergeordnete Maximen“ handelt, die wir unter 7.1.2 genannt haben.
7.3 Kasuistik und kasuistische Fragen Nun wurde oben angedeutet, dass sich das „wie“ eventuell nicht auf das Gleiche bezieht wie das „wie viel“, was nun erläutert werden soll. Die unter Punkt 7.1.1 bis 7.1.3 aufgeführten Argumente dafür, dass es nur einen einzigen Spielraum in der Ausübung der Tugendpflichten gibt, der durch Maximen der Klugheit (Untermaximen) auszufüllen ist, um überhaupt zu einer Handlung zu kommen, haben bislang außer Acht gelassen, dass mit der Frage nach dem „wie viel“ zugleich eine Frage der Subsumtion (der Anwendung) angesprochen ist, welche wiederum eines (moralischen) Urteils bedarf. Zwar scheint bei der Bestimmung der Maxime nach dem Formalen des Sittengesetzes kein Spielraum zu bestehen, es demnach kein „Mittleres“ zwischen den Extremen (zwischen Lüge und Wahrheit) zu geben: Was etwa unter Selbstmord, Lüge oder Geiz zu verstehen sei, gibt Kant im „Vorspann“ zur Exposition der jeweiligen Pflicht an, und die Urteilskraft hat hier zunächst
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7 Klugheit und Moral
nichts durch Abwägen in Bezug auf die Begriffe auszurichten. Doch klang bereits bei der Frage nach der Abgrenzung von Tugend und Laster gegenüber dem Mittleren zwischen zwei Gegensätzen an, dass, obwohl es Sache der Klugheit ist, das Mittlere zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung zu bestimmen, sich dennoch die Frage stellt, wie viel Verschwiegenheit unter moralischen Gesichtspunkten zulässig ist, ohne dass schon von einer Lüge gesprochen werden müsste.²²⁸ Kant bringt es an anderer Stelle auf den Punkt: Es würde eine moralische Kasuistik sehr nützlich und ein unser Urteil sehr schärfendes Unternehmen sein, wenn man die Grenzen bestimmte, wie weit man die Wahrheit ohne Nachteil der Sittlichkeit zu verhehlen befugt wäre (VL MdS/Vigil, 27/2.1:701.35 – 39; zitiert nach Schüssler 2012, 74).²²⁹
Die Frage nach der Abgrenzung von Klugheit gegenüber Tugend und Moral stellt sich somit als eine Frage der Subsumtion dar, und Kant weist hierauf in seinen „kasuistischen Fragen“ hin. Gegenstand der Kasuistik, so die These dieses Abschnitts, ist die Frage nach der Bestimmung der Grenze zwischen Klugheit und Moral. Dies betrifft die Unterordnung von Fällen in der Erfahrung unter das Moralgesetz (in Form der Pflicht, nicht zu lügen, d. h. die Wahrheit zu sagen). Wenn Kant also behauptet, der Tugendhafte könne kein Laster ausüben, indem er seiner tugendhaften Gesinnung folgend die Wahrheit sagt, er könne vielmehr nur einen (pragmatischen) Fehler (der Klugheit) begehen, indem er zu viel oder zu wenig sagt (als es seinem durch Untermaximen weiter bestimmten Zweck dienlich ist), so unterschlägt er die Tatsache, dass auch die Bestimmung dieses Mittleren als Mittlerem der Klugheit einer Beurteilung bedarf – ähnlich wie er in der Rechtslehre unterschlägt, dass eine Zwangshandlung gerechtfertigt werden kann und muss.²³⁰ Wie in den von Kant gewählten Formulierungen anklingt, ist es weniger das „wie“, als vielmehr das „wie viel“ des Spielraums aller Tugendpflichten, das zu einer solchen Beurteilung auffordert. Man könnte vielleicht sagen, dass der Spielraum der ethischen Pflichten eine weitere urteilende Tätigkeit notwendig macht: nämlich neben dem „wie“ der Bestimmung (Bildung) der Untermaxime (durch Klugheit im Rückgriff auf eine Idee der Glückseligkeit) auch noch die Abgrenzung Vgl. Schüssler 2012, 76 f. Er führt zu Recht an, dass Kant, indem er die Antwort auf manche kasuistische Fragen offen gelassen habe, gewissermaßen selbst zu einer solchen Deutung verleite. Siehe auch die folgenden Ausführungen. Schüssler bemerkt in diesem Zusammenhang, Kant komme zu einer „Neubewertung“ der Kasuistik, die diese aufwerte. Damit aber widerspricht er sich meines Erachtens selbst, indem er die damit angesprochenen Fragen der Subsumtion der Kasuistik zuordnet, welche, seinen Ausführungen zufolge, doch eigentlich über die Bildung von Untermaximen zu entscheiden habe. Zu diesem Zusammenhang in der Rechtslehre vgl. Kersting 2007, 107.
7.3 Kasuistik und kasuistische Fragen
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oder Grenzbestimmung von Klugheit und Moral. Denn nur weil für die Ausübung der ethischen Pflichten (und damit der Moral) Klugheit nötig ist, stellt sich auch die Frage der Abgrenzung beider gegeneinander, d. h. die Frage des „wie viel“. Vor dem Hintergrund der Schwierigkeit, vollkommene von unvollkommenen Pflichten zu unterscheiden sowie den entsprechenden Spielraum zu bestimmen, verwundert es jedoch nicht, dass sowohl dieser Spielraum als auch mit ihm zusammenhängend das Verständnis der Kasuistik in einem schiefen Licht erscheinen. So erkennt Torralba in der Frage nach der Subsumtion eine zweite Art von Handlungsspielraum, die er allen Tugendpflichten zuordnet, im Gegensatz zu derjenigen, die die Spezifizierung der Zwecke nur der unvollkommenen Pflichten betreffe. Torralba spricht daher von einem doppelten Spielraum der Handlungen („doble margen de acción“; Torralba 2009, 306 f., 324 sowie 328 ff.). Auf das Missverständnis, es gebe einen Spielraum, der nur den unvollkommenen Pflichten zukommt, folgt also dasjenige, es gebe einen weiteren Spielraum, der dann allen Tugendpflichten zukomme, insofern sie weite Pflichten sind. Recki dagegen führt an, es handle sich bei der von Kant erwähnten Kasuistik um einen Spielraum der Urteilskraft und vertritt die Auffassung, die Kasuistik sei eine Übung, wie die Wahrheit gesucht werden solle (MdS 6:411). Dort werde „exemplarisch“ der Spielraum der Urteilskraft „abgesteckt“ (Recki 2001, 254). Sie verweist auf MdS 6:478.22– 24, wo Kant von der Rolle der Urteilskraft spricht, welche Regeln an die Hand gebe, wie man zweckmäßig s u c h e n solle, d. i. nicht immer blos für b e s t i m m e n d e , sondern auch für vorläufige Urtheile (iudicia praevia), durch die man auf Gedanken gebracht wird (Recki 2006, 51).
Recki versteht diesen letzten Teil des Satzes als auf reflektierende Urteilskraft verweisend, die in einer Belebung der Vorstellungskräfte bestünde (vgl. KdU 5:314). Sie verweist schließlich auf die Notwendigkeit des Politikers, seine Prinzipien (ohne die er keine Politik betreiben könnte) nur durch abwägende Urteilskraft um- und durchsetzen zu können (Recki 2006, 51 f.). Wie im Rahmen dieses Kapitels bereits deutlich wurde, betrifft die damit angesprochene Urteilskraft nicht nur die an dieser Stelle verhandelte Frage nach einer Kasuistik als Subsumtion, insofern die Grenze zwischen Klugheit (Urteilskraft) und Moral zu bestimmen ist, sondern auch die Frage nach der konkreten Ausgestaltung der Pflichten durch Klugheit und damit Urteilskraft. Und tatsächlich identifiziert auch Torralba den Spielraum der unvollkommenen Pflichten gar nicht mit der Bestimmung einer Handlung (oder Maxime), sondern spricht im Rückgriff auf Herman von der Generierung sogenannter Regeln der moralischen Relevanz („rules of moral salience“, kurz RMS). Diese sollen
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7 Klugheit und Moral
angeben, ob eine konkrete Situation überhaupt moralisch relevant ist, d. h. sie sollen ein Urteil darüber erlauben, ob eine durch Pflicht geforderte Handlung gefordert ist oder nicht. Dies aber ist eine Frage der Subsumtion eines Begriffs als Fall unter eine Regel: Handelt es sich beim Verschweigen bestimmter Informationen schon um Pflichtverletzung (Lüge) oder noch um eine bloß durch kluge Urteilskraft zu regelnde Maxime? Torralba und Herman ist zuzugestehen, dass es eines solchen Urteils bedarf, und zwar für alle Tugendpflichten und auch, wie Torralba zu Recht meint, aufgrund ihres weiten, Maximen gebietenden Charakters. Gegen Torralba lässt sich aber anführen, dass es sich bei solchen Fragen eigentlich gar nicht um einen Spielraum in der Ausübung der weiten Pflichten handelt. Dieser ist durch die Weiterbestimmung der gebotenen Zwecke durch Maximen der Klugheit angegeben, und er bedingt erst ein solches subsumierendes Urteil. Auch zeigt sich mit der hier vorgeschlagenen Interpretation, dass für den von Höffe vorgestellten dreistufigen Beurteilungsprozess von (moralischen) Handlungen eben diejenige Urteilskraft in Anschlag zu bringen ist, die er der ersten Stufe zuordnet (der Identifikation einer moralisch relevanten Situation, vgl. Kapitel 5.1.3). Hierbei handelt es sich um die Notwendigkeit, eine einzelne Situation einer allgemeineren Einheit, nämlich der Maxime der Handlung, unterzuordnen. Um jedoch unterscheiden zu können, welcher Maxime die Handlung zuzuordnen ist (einer der Klugheit oder einer der Moral) bzw. ob die zugeordnete Maxime zu Recht als eine solche der Klugheit aufgefasst wird, braucht es ein Kriterium. Ob hierfür die von Herman ins Feld geführten „rules of moral salience“ eigens konstruiert werden müssen, oder ob Kant nicht doch selbst über ein solches Instrumentarium verfügt, wird noch zu klären sein. Auf den genannten Missverständnissen beruht dann auch die von Schüssler vorgeschlagene Unterscheidung von kasuistischen Fragen und Kasuistik. Er argumentiert gegen eine Tendenz der Kantforschung, die in den kasuistischen Fragen die Anerkennung der Abwägung von Handlungsgründen und d. h. die Möglichkeit des urteilenden Abwägens der Geltung des Moralgesetzes durch Kant sehen will (vgl. Schüssler 2012, 70 mit weiteren Literaturhinweisen). Ihm zufolge würden damit aber kasuistische Fragen und Kasuistik unzulässigerweise miteinander vermischt. Schüssler meint, die kasuistischen Fragen dienten didaktischen Zwecken, um den Adressaten auf die Einsicht in die richtige Befolgung der Pflichten hinzuführen. Dafür spreche, dass Kant für beinahe alle aufgeworfenen Fragen Antworten gebe – wenn nicht in der Tugendlehre, so zumindest in anderen Schriften (Schüssler 2012, 77). Daher zielten die kasuistischen Fragen keinesfalls darauf ab zu erörtern, in welchen Fällen Selbstmord durch bestimmte Umstände (z. B. eine bestimmte Maxime) bedingt zulässig sein könnte. Vielmehr bestätige sich in ihnen Kants Rigorismus bezüglich der vollkommenen Tugendpflichten und
7.3 Kasuistik und kasuistische Fragen
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ihrer Verbote. Schüssler sieht in Kants Einschränkung der kasuistischen Fragen auf die vollkommenen Pflichten ein weiteres Indiz dafür, dass die eigentliche Kasuistik anderswo zu suchen sei – nämlich bei den unvollkommenen Pflichten (Schüssler 2012, 71 unter Berufung auf MdS 6:411.10 – 17). Nun haben aber die hier angestellten Überlegungen gezeigt, dass die Bildung von Untermaximen gerade keine Frage der moralisch-praktischen Vernunft, sondern vielmehr der Klugheit (und damit der Urteilskraft) ist und dass diese Untermaximen zudem nicht nur die unvollkommenen im Unterschied zu den vollkommenen Pflichten, sondern alle weiten Tugendpflichten betreffen. Die von Kant gemeinte Kasuistik bezieht sich folglich auf eben diejenigen kasuistischen Fälle, die er selbst angibt, wenngleich nicht in jenem Sinne, in welchem es die von Schüssler kritisierten Autoren gerne hätten: Kant zufolge geht es in einer Kasuistik ausdrücklich nicht darum, unter gegebenen Umständen abzuwägen, aus welchen Gründen eine Tugendpflicht nicht befolgt werden sollte. Es geht daher tatsächlich nicht um moralische „Sonderfälle“, die ggf. Ausnahmen vom Moralgesetz gestatten könnten (hierin ist Schüssler ausdrücklich Recht zu geben, vgl. Schüssler 2012, 76).²³¹ Vielmehr führt eine Kasuistik vor Augen, dass es ungeachtet der Voraussetzung einer tugendhaften Gesinnung zugleich eines Urteils darüber bedarf, wie das durch Klugheit als Mittleres Bestimmte von der Tugend bzw. dem Laster zu unterscheiden ist – und das nicht nur in moralischen Ausnahmefällen. Damit aber weisen die kasuistischen Fragen auf die Notwendigkeit eines Prinzips für die Anwendung bzw. Ausübung der Tugendpflichten hin, d. h. für die Subsumtion einer Maxime (als Einzelfall) unter ein allgemeines Gesetz bzw. eine allgemeinere Maxime. Denn die Frage, wie viel gesagt werden darf, ohne dass eine Lüge vorliegt, ist eine Frage der Unterordnung eines Falles (ich möchte so und so viel preisgeben) unter ein Gesetz (in Form des Imperativs: Lüge nicht!).Wann aber kommt das Verschweigen bestimmter Informationen einer Lüge gleich? Das wiederum ist eine Frage der (wie Torralba ausführt) praktischen Urteilskraft – und damit letztlich auch der „wahren“ Klugheit.²³²
O’Neill sieht dagegen in Kants Behandlungen der kasuistischen Fragen „examples of important moral dilemmas that can arise in particular cases.“ (O’Neill 2002, 344) Torralba sieht insgesamt eine dreifache Leistung der praktischen Urteilskraft zur Anwendung des Moralgesetzes: a) die Konstituierung der Gegenstände der reinen praktischen Vernunft in der Typik (bestimmende Urteilskraft), b) die Generierung der Tugendpflichten „que surgen de los fines correspondientes a una voluntad moralmente determinada, en los que se descubre la existencia de un margen de acción“ (bestimmend und reflektierend, Torralba 2009, 372) und c) die Anwendung des Moralgesetzes auf die konkrete Handlung mittels einer Kasuistik, die Kant angesichts der unvollkommenen Pflichten und der Notwendigkeit von untergeordneten Maximen fordert (Torralba 2009, 375).
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7 Klugheit und Moral
Wir halten fest: Alle ethischen Pflichten schreiben vor, Zwecke zu verfolgen, die selbst noch nicht auf konkrete Handlungen führen, sondern höchstens, wie im Fall der vollkommenen Pflichten, auf Verbote. Sie gebieten also Maximen (und nicht Handlungen), welche mit dem Formalen des Moralgesetzes übereinstimmen sollen. Daher sind die ethischen Pflichten auf Regeln der Klugheit angewiesen, um eine jeweils aus ihr folgende oder mit ihr zu vereinbarende Handlung bestimmen zu können. Dies wiederum geschieht durch Bestimmung eines Zweckes nach pragmatischen Überlegungen der Klugheit. Dass dies für alle Tugendpflichten gilt, machen Kants Beispiele zur Suche nach dem Mittleren zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung deutlich. Zudem sind wir mit einer solchen spezifizierenden Funktion der Klugheit auch auf die kasuistische Frage nach der Abgrenzung von Klugheit und Moral verwiesen. Mit dieser Frage der Subsumtion ergibt sich dann aber das gleiche Dilemma wie für alle regelgeleiteten Handlungen: das so genannte Paradox des Regelfolgens.
7.4 Klugheit und das Paradox des Regelfolgens Das durch Wittgenstein bekannt gewordene „Paradox des Regelfolgens“ beruht auf der Erkenntnis, dass jede Folge (von Zahlen, Buchstaben etc.) im Prinzip auf beliebige Art fortgeführt werden kann, weil sich jeder Fortgang durch eine je neue Regel rechtfertigen lässt (vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 146 f., 313 f.). Laut Mayer ergibt sich dieses Dilemma auch für den praktischen Bereich, und zwar aus der Beziehung von Theorie und Praxis als Beziehung zwischen Regeln und konkreten Fällen, die ihnen zuzuordnen sind. Diese Beziehung bestehe aus drei Elementen, und zwar unabhängig von der Frage, ob es sich um moralische Regeln handle oder nicht: einer „Komponente praktischer Deduktion“, d. h. einem „praktischen Syllogismus, der besagt, dass beim Vorliegen einer gewissen Bedingung ein bestimmtes Verhalten zu folgen hat“, „der Festlegung der allgemeinen Prämisse und der Erkenntnis, dass ein entsprechender Fall in der Tat vorliegt.“ (Mayer 2006, 344) Die beiden letzten Elemente bezeichnet sie unter Berufung auf Kant als reflektierende und bestimmende Urteilskraft. Dabei schreibt Mayer der reflektierenden Urteilskraft die Fähigkeit zu, Regeln aus einem Verfahren zu gewinnen, bei dem „auf Ähnlichkeiten zwischen vorliegenden Ereignissen“ reflektiert werde und auf diese Weise durch Zugrundelegen einer „übergreifenden Kategorie“ die Ergebnisse zu begründen seien (Mayer 2006, 345). Die bestimmende Urteilskraft dagegen bestehe in der Fähigkeit zu bestimmen, ob etwas der Fall sei, der unter die Regel falle oder nicht. Bestimmende Urteilskraft gelte damit als „Regelkompetenz“ im eigentlichen Sinne,
7.4 Klugheit und das Paradox des Regelfolgens
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und entscheide über die mögliche Anwendung von Handlungsprinzipien (Mayer 2006, 347). Insofern nun bestimmende Urteilskraft nach Kant ein Vermögen sei, das nur geübt, nicht gelehrt werden könne, da einzig Regeln, nicht aber ihre Anwendung gelehrt werden könnten, führe die Frage nach einer (korrekten) Anwendung der bestimmenden Urteilskraft ins Unendliche (vgl. KrV A 132 ff./B 171 ff., KdU 5:169.10 – 14 sowie Gemeinspruch 8:375.15). Das sei deshalb so, weil die Regelkompetenz immer wieder auf vorhergehende Regeln zurückgreifen müsse, um sich selbst zu begründen. Praktische Urteile lassen sich dem Paradox des Regelfolgens zufolge demnach nicht rational letztbegründen, insofern jede Handlung sich auf beliebige Weise, durch immer weiter zurückzuverfolgende Regeln (Gründe) begründen und rechtfertigen lässt. Es würde daher folgen, dass moralische Handlungen in ebenso großem Umfang wie praktische Handlungen von intuitivem Können und von Klugheit bestimmt sind, dass sie also rational nicht restlos eingeholt werden können (Mayer 2006, 347).
Und auch Brewer (2002, 560.ff.) und Fricke (2008, 133 ff.) verweisen auf einen solchen drohenden Regress für Maximen, insofern diese die Beweggründe von Handlungen als Entscheidungskriterien anzugeben hätten. Nur das moralische Testverfahren vermeide diesen Regress. Müsste es bei diesen Feststellungen bleiben, so gäbe es für Klugheit kein Entkommen aus dem „Paradox des Regelfolgens“. Nun beruhen Mayer zufolge für Kant Klugheit und empirisch bedingte Handlungen im allgemeinen (und damit dann auch moralische Handlungen) auf bestimmender Urteilskraft, insofern diese für die Vermittlung einer Regel mit einer konkreten Handlung zuständig ist und anzugeben vermag, wann ein in der Sinnenwelt angetroffener Fall unter eine bestimmte Regel fällt. Mayers Anliegen ist es zu zeigen, dass Kants Konzeption des kategorischen Imperativs eine Lösung bietet, um diese Lücke der rationalen Letztbegründbarkeit für die moralischen Handlungen zu schließen. Ihre Argumentation beruht darauf, dass der kategorische Imperativ nicht nur als principium diiudicationis, sondern auch als principium executionis, als Triebfeder anzusehen sei. Indem Mayer Kants Maximen als Handlungsstrukturen (Mayer 2006, 364 unter Verweis auf Esser 2003, 201 ff.) auffasst, die in der Lage sind, den Willen zu verändern, kann sie dem kategorischen Imperativ die Aufgabe zuschreiben, der Regel ihre korrekte Anwendung beizufügen. Denn wenn er auch als principium executionis wirkt, ziele er nicht nur darauf ab, Maximen in diesem Sinne zu beurteilen, sondern sie und damit den Willen zugleich zu verändern, d. h. eine Umwandlung der Gesinnung vorzunehmen (Mayer 2006, 364).
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7 Klugheit und Moral
Mayers Ansatz bestätigt demnach die hier vorgebrachte Feststellung, dass für die Etablierung von Regeln der Klugheit (Maximen) Reflexion tätig wird, für die Anwendung dieser Maximen jedoch, insofern sie angeben können muss, wann eine Situation der Fall ist, der unter eine bestimmte Regel fällt, bestimmende Urteilskraft nötig ist. Dabei muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, dass die praktische Beurteilung eher einer Reflexion als der eigentlich reflektierenden Urteilskraft gleicht, wie Kant sie unter dem nicht gesetzgebenden Prinzip der Zweckmäßigkeit in KdU verwendet (vgl. Kapitel 5.1.1).Wie auch Mayer bemerkt, sind beide Aktivitäten eng miteinander verknüpft und in der Praxis nicht leicht auseinander zu halten (Mayer 2006, 344). Während sich aber für moralische Handlungen mithilfe ihrer Interpretation des kategorischen Imperativs das daraus sich ergebende „Paradox des Regelfolgens“ lösen lässt, scheint dies für die Klugheit nicht gegeben. Für sie lässt sich keine vernünftige Letztbegründung finden, weil sie wesentlich auf Urteilskraft (und deren Regeln) beruht.²³³ Mit einem ähnlichen Problembewusstsein beschäftigt sich Herman mit der Frage, wie Kant zufolge moralische Regeln anzuwenden seien, d. h. „how moral rules are used within a Kantian theory of moral judgment.“ (Herman 1993, 73) Sie unterscheidet diese Frage der Anwendung moralischer Regeln für die Bildung von moralischen Urteilen von der Anwendung moralischer Regeln auf moralische Handlungen und entwickelt die bereits erwähnten „rules of moral salience“ (RMS). Diese sollen es erlauben zu beurteilen, ob eine Situation moralisch relevant ist unter Einbeziehung ihrer spezifischen und individuellen Details. In short, the difficulty with a conception of morality that ties moral judgment to rules is that it ignores details (particular facts about individuals and cases) that are morally relevant (Herman 1993, 74).
RMS gehen dem moralischen Urteil voran, sind Teil der moralischen Überlegung und bilden sich im Laufe des Lebens heraus. Sie bestehen in dem, was Höffe „moralische Sensibilität“ (Höffe 1990, 551 f.) nennt, ein Gefühl dafür, welche Situationen moralisch relevant sind, nicht ein nur theoretisches Wissen zu ihrer
Auch Ortmann verweist auf diese grundsätzliche Schwierigkeit, überhaupt von Regeln der Klugheit sprechen zu wollen, da diese unweigerlich im infiniten Regress enden müssten. Ganz in seinem Sinne konnte Klugheit daher bereits als eine Art Meta-Reflexion dargestellt werden, die gerade keine einheitlichen Regeln für alle Handelnden etabliert, sondern eine Regel der Beurteilung für die eigene Beurteilung bezeichnet. Ortmann selbt argumentiert, „dass an Klugheit am Ende aber ein Rest bleibt, der sich dem Versuch immer entziehen wird, sie als regel-mäßig zu bestimmen. Das rührt daher, dass zur Klugheit ein Minimum an Kreativität gehört, also an Fähigkeit, das Reich der alten Ordnung, der alten Regeln gerade zu überschreiten, und zwar in Richtung auf ein nicht-willkürlich kreiertes Neues.“ (Ortmann 2005, 58)
7.4 Klugheit und das Paradox des Regelfolgens
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Beschreibung. Sie werden mit der Zeit erworben, sodass ein Mensch sie im Laufe seines Lebens erlernt. Sie dienen der Orientierung und lassen sich in drei Fragenkomplexen ausdrücken: a) Wer ist ein moralisch Handelnder oder ein Zweck an sich selbst? b) Welches sind die Bedingungen der Verwirklichung der Zwecke an sich selbst? c) Welches sind die unterscheidenden Merkmale der vernünftigen Erfordernisse und Einschränkungen? (Vgl. Herman 1996, 87 sowie Torralba 2009, 341) Integriert man diesen Ansatz in den hier vorgestellten, so müssten sich RMS als diejenigen Regeln der Beurteilung oder des praktischen Überlegens herausstellen, die den Menschen zu einer moralisch verantwortlichen Person erziehen. Sie gehören ebenso zu einem klugen Urteil, wie das Wissen um die eigene sinnliche Wahrnehmung und diejenige der anderen. Denn nur wer wahrnimmt, welchem moralischen Anspruch seine Maxime begegnet, kann sie entsprechend ausrichten, auch wenn er sie dann nicht zu einer moralischen Maxime macht. Inhaltlich zielen die RMS auf eben das ab, was bereits oben zur Sprache kam: auf die Beschaffenheit einer (moralischen) Person (vgl. Herman 1993, 86), d. h. darauf, welche Person jemand sein möchte, was sich wiederum im Charakter ausdrückt.²³⁴ Damit haben wir folgende Erkenntnisse für das Verhältnis von Klugheit und Urteilskraft gewonnen: Lässt sich, Mayer folgend, für die Anwendung moralischer Regeln das Kantische Moralprinzip beispielhaft heranziehen, um dem Paradox des Regelfolgens zu entkommen, so scheint ihm „bloß“ kluges Handeln, das durch empirisch bedingte Regeln angeleitet wird, hoffnungslos zu erliegen. Denn auch wenn die Idee der Glückseligkeit, aus der die Regel abgeleitet wird, auf moralische Ideen („wesentliche und allgemeine Zwecke“) bezogen wird, so verbleibt sie doch immer im Bereich des nur Legalen. Der Überschritt zur Moral hingegen ist nur durch eine Aufnahme des Moralgesetzes als Triebfeder des Willens und dadurch eine Veränderung desselben zu bewerkstelligen.Wollte man dem Abhilfe schaffen und auch empirisch bedingte Handlungen dem Paradox des Regelfolgens entreißen, so müsste ein entsprechendes Prinzip gefunden werden, das die bloß subjektiv gebildeten Maximen auf bestimmte Weise „letztbegründen“ könnte, indem es eine Regel für ihre Anwendung an die Hand gibt.
Jüngst hat Kontos dafür plädiert, die Kategorien der Freiheit selbst als apriorische Regeln eben der Beurteilung zu verstehen, die Herman mit ihren „rules of moral salience“ nur aposteriori, also empirisch erfassen könne. Der Handelnde könne anhand der Tafel der Kategorien jederzeit wissen, worauf er seine Aufmerksamkeit bei der Beurteilung einer Situation zu richten habe: auf die Maximen (Quantität), auf die Verwirklichung der Handlung innerhalb der Welt (Qualität), auf die drei Arten von Verhältnissen, in denen er zur Handlung und zu den evtl. mitbetroffenen anderen Menschen steht (Relation), sowie die Bereitschaft, sich Pflichten zu unterwerfen (Modalität) (vgl. Kontos 2011, 235 f.).
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7.5 Erlaubnisgesetze und Prinzip der Publizität in der Tugendlehre Nach welchen Kriterien also ist der Spielraum der Urteilskraft und damit der Klugheit abzustecken? Nach welchem Prinzip ist einer Pflicht vor der anderen Vorschub zu leisten oder eine bloß kluge von einer bereits moralisch relevanten (zumeist verbotenen) Maxime zu unterscheiden? Nach welchem Kriterium soll die Nächstenliebe durch die Elternliebe eingeschränkt werden? Es konnte noch nicht deutlich werden, welches Prinzip die in den kasuistischen Fragen angesprochenen Fälle anleiten könnte, und auch die von Herman vorgeschlagenen, von Torralba aufgegriffenen und Kants Texte ergänzenden „rules of moral salience“ sind lediglich als bei jedem Menschen existierend angedeutet. Auch sie geben noch keine konkrete Hilfestellung bei der Bewältigung einschlägiger Situationen, da sie eher grundsätzliche Fragen aufwerfen, als ein Prinzip der Beurteilung zu liefern. Die These, die ich im Folgenden als Lösung des „Paradox des Regelfolgens“ für Klugheitsregeln vorschlagen möchte, besagt, dass das Prinzip der Publizität sowohl als „Letztbegründung“ der (wahren) Klugheit als auch für die Funktion jener „rules of moral salience“ fungieren kann. Die folgenden Erläuterungen enthalten daher drei Elemente: die Erlaubnisgesetze (7.5.1), das Prinzip der Publizität (7.5.2) und den Vorschlag, beide als eine Art Schematismus bzw. Typik der empirisch-praktischen Urteilskraft in Ergänzung zur reinen praktischen Urteilskraft aufzufassen (7.5.3). Auf diese Weise meine ich zeigen zu können, wie dem infiniten Regress in Bezug auf Klugheit zu entkommen ist.
7.5.1 Erlaubnisgesetze in der Tugendlehre In der Rechtslehre stellen Erlaubnisgesetze Gesetze dar, die aufgrund bestimmter Umstände die vollständige Ausführung einer Pflicht zeitlich aufschieben (aussetzen). Sie sind in diesem Sinne durch die Vernunft legitimierte Ausnahmen. Sie unterscheiden sich von solchen, die dies nicht sind gerade dadurch, dass das Rechtsprinzip durch die Vernunft selbst (also gewissermaßen durch sich selbst) eingeschränkt wird – daher die Bezeichnung Erlaubnisgesetze. Nun spielen Erlaubnisgesetze keine herausragende Rolle innerhalb von Kants Ethik, sodass Brandt nicht ganz zu Unrecht darauf hinweist, sie seien „spezifisch rechtlicher Natur“ und daher Rechtsgesetze (Brandt 1982, 240). Dennoch fragt Kant auch im Rahmen der Tugendlehre nach der Möglichkeit bzw. Notwendigkeit von Erlaubnisgesetzen. Insofern es sich auch in diesem Zusammenhang um Gesetze der Vernunft handeln muss, müssen sie notwendig einen Bezug der Handlung zum Moralgesetz darstellen. Damit stellen sie neben Ge- und Verboten eine dritte
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Möglichkeit vor, wie Handlungen zum Gesetz stehen können. Da es für Kant keine weiteren Bezugsmöglichkeiten auf das Moralgesetz zu geben scheint, müssen alle anderen Handlungen als adiaphora bezeichnet werden: Eine moralisch-gleichgültige Handlung (adiaphoron morale) würde eine bloß aus Naturgesetzen erfolgende Handlung sein, die also aufs sittliche Gesetz, als Gesetz der Freiheit, in gar keiner Beziehung steht: indem sie kein Factum ist und in Ansehung ihrer weder G e b o t , noch Ve r b o t , noch auch E r l a u b n i ß (gesetzliche Befugniß) statt findet, oder nöthig ist (MdS 6:23.13 – 17).²³⁵
An anderer Stelle fragt Kant, ob es solche sittlich-gleichgültigen Handlungen überhaupt geben könne bzw. ob es, wenn es sie denn gebe, zusätzlich zu Ge- und Verbot noch eines Erlaubnisgesetzes bedürfe, welches dann jedoch gerade keine gleichgültigen Handlungen unter sich hätte. Diese erforderten, „wenn man sie nach sittlichen Gesetzen betrachtet, kein besonderes Gesetz“ (MdS 6:223.16.f). Erlaubnisgesetze und adiaphora schließen sich also gegenseitig aus, und Handlungen, die unter ein Erlaubnisgesetz fallen, bezeichnen eine moralisch relevante Handlung. Klugheit ist somit entweder ein adiaphoron oder fällt unter ein Gebot, ein Verbot oder ein Erlaubnisgesetz, wobei letzteres eine Handlung nach einem Gesetz gebietet, die eigentlich (nach einem anderen, moralischen Gesetz) verboten wäre. Wie Brandt bemerkt, besteht die Schwierigkeit eines moralisch-gleichgültigen Verständnisses von Klugheit darin, dass in diesem Fall kein Bezug auf das Moralgesetz bestünde und damit die Handlung automatisch zum Naturmechanismus gezählt werden müsste (vgl. Brandt 2005, 127 ff. sowie Brandt 2004, 385 ff.). Die Frage für die Klugheit lautet demnach: Gibt es moralisch erlaubte Handlungen, die nicht auch selbst durch das Moralgesetz bestimmt sind? Im Folgenden werde ich zeigen, in welchem Sinn Kant diese Möglichkeit zulässt. Verstehen wir Klugheit als ausübende Tugendlehre, so unterliegen ihre Maximen (als Untermaximen) einer moralischen Maxime, die selbst geboten, aber nicht hinreichend zur vollständigen Bestimmung einer Handlung und des mit ihr Ebenso RGV 6:23.13 – 17. Die Frage ist natürlich, inwiefern dann überhaupt noch von einer Handlung im Sinne einer zurechenbaren Tat gesprochen werden kann. Vermutlich bezeichnen solche adiaphora dann genau solche Handlungen, die eben aus bloßer Gewohnheit bzw. Neigung und gar nicht nach Maximen im eigentlichen Sinn erfolgen, wie z. B. von Kant angeführt die Ernährung durch Fisch oder Fleisch.Wie Kant anmerkt, müssen solche Regeln selbst durch Maximen eingeschränkt werden, nicht aber zu Maximen erhoben werden, andernfalls sie „pedantisch“, „störrisch“ oder gar ungesellig“ machen würden. Die entsprechende Person wäre der „Phantastisch-Tugendhafte“, von dem er in MdS 6:409.13 – 19 spricht, und der sich an eine „Mikrologie“ hält, „welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde.“ Wie oben angeführt, bezeichnet Kant solche Maximen auch als „Gängelwagen der Unmündigen“ (Refl./Anthr. 1164, 25/2:514.20 – 515.2).
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verbundenen Zwecks ist. In diesem Fall steht Klugheit unter dem vorausgesetzten moralischen Gebot und damit in einem Bezug zum Moralgesetz. Klugheit als ausübende Tugendlehre fällt in diesem Sinn nicht unter die adiaphora, ihre Maximen sind als gesetzliche Befugnis aufzufassen.²³⁶ Dennoch, so sollten die obigen Ausführungen deutlich gemacht haben, handelt es sich nicht um Maximen, die als moralische Maximen dem Formalen des Sittengesetzes entsprechen müssen. Sie sind in diesem Sinne erlaubt, insofern ihre Bildung selbst in Bezug auf die Spezifizierung des moralisch gebotenen Zwecks (nicht ihre konkrete Bildung als diese oder jene Maxime) geboten ist. Entsprechend den Erkenntnissen bezüglich der Erlaubnisgesetze im Rahmen der Rechtslehre darf für die Tugendlehre gefolgert werden: Unter den beiden durch die ethische Pflichtenlehre auftretenden Fällen der Notwendigkeit einer Spezifizierung des gebotenen Zwecks und der eventuellen Kollision von Pflichtmaximen untereinander ist im konkreten Fall ein Handeln nach Maximen der Klugheit genau dann erlaubt, wenn die Vernunft dem Subjekt ausdrücklich die Befugnis dazu erteilt, um die Verwirklichung ihrer eigenen Zwecke gewährleisten zu können. Die Erlaubnis, Klugheit walten zu lassen, wird also in denjenigen Fällen erteilt, in denen eine Handlung (Maxime) ohne die zugrunde gelegte Pflicht (und den durch sie gebotenen Zweck) verboten wäre, indem beispielsweise das Prinzip der Glückseligkeit über das Prinzip der Sittlichkeit gestellt würde. Wir erkennen hier diejenige Form der Reflexion wieder, die ein bestimmtes Verhältnis zwischen den Erkenntnisvermögen – Gefühl und Begehrungsvermögen – sowie den Vorstellungen untereinander etabliert. Entscheidend ist, dass das auch für die Klugheit in Bezug auf eine Idee der Glückseligkeit geforderte Verhältnis zwischen dem Prinzip der Glückseligkeit und dem der Moral (in Form von „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“, mit denen das erste in Übereinstimmung zu bringen ist) nicht grundsätzlich und somit unerlaubterweise umgekehrt werden darf: Für wahre Klugheit gilt, dass der Zusammenhalt der Vorstellungen (Zwecke) im Rahmen einer Idee der Glückseligkeit erst aufgrund ihres Abgleichs mit den „wesentlichen Zwecken“ garantiert ist.
Wieland versteht das Sittengesetz überhaupt als „Erlaubnisnorm“, welches dieser seiner Natur gemäß einen Spielraum eröffne. Allerdings sieht er diesen Spielraum dann als „nicht nur durch Maximen, von der praktischen Urteilskraft und ihrer Typik, sondern auch von Klugheitsregeln besetzt, die das Erreichen vorgegebener Ziele zu optimierten bestimmt sind.“ (Wieland 2001, 164) Er verbindet also die hier gewährte „Liberalität“ (Wieland 2001, 165) des Sittengesetzes mit der Urteilskraft, stellt aber nicht den Zusammenhang zur eigentlichen Klugheit her, welche er, ganz im Sinne einer instrumentellen Rationalität dem Optimieren gegebener Zwecke anstatt der Bestimmung derselben zuordnet.
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Kant präzisiert z. B. in diesem Sinne, zur Vermeidung einer übertriebenen Pedanterei in moralischen Fragen könne durchaus in Kauf genommen werden, dass dasselbe moralische Gebot gegebenenfalls übertreten wird. So jedenfalls führt er aus anlässlich der Behandlung der kasuistischen Fragen zur Unterlassungspflicht der „wohllüstigen Selbstschändung“, welche es verbietet, sich „zum Mittel der Befriedigung thierischer Triebe“ (MdS 6:425.25 f.) zu brauchen. Kant fragt hier nach einem Erlaubnißgesetz der moralisch-praktischen Vernunft, welches in der Collision ihrer Bestimmungsgründe etwas an sich zwar Unerlaubtes doch zur Verhütung einer noch größeren Übertretung (gleichsam nachsichtlich) erlaubt macht? – Von wo an kann man die Einschränkung einer weiten Verbindlichkeit zum Purism (einer Pedanterei in Ansehung der Pflichtbeobachtung, was die Weite derselben betrifft) zählen und den thierischen Neigungen mit Gefahr der Verlassung des Vernunftgesetzes einen Spielraum verstatten? (MdS 6:426.12– 19, kursiv C.G.)
Kant scheint also in dem hier vorgestellten Sinne der Klugheit als ausübender Tugendlehre (der Ausübung der einzelnen Tugendpflichten) Klugheit insofern unter die Erlaubnisgesetze zu fassen, als ihre ansonsten verbotenen Maximen in bestimmten Fällen (bei Kollision mit anderen Tugendpflichten oder zu ihrer Spezifizierung) der ausdrücklichen Befugnis durch die Vernunft folgen.²³⁷ Ähnlich wie im Rahmen von Politik und Rechtslehre Erlaubnisgesetze die Ausübung des Rechtsprinzips in der Gestaltung des Gemeinwesens gewährleisten, indem Vernunft ihre Kompetenz übergangsweise an die Urteilskraft (Staatsklugheit) abtritt, könnte man hier davon sprechen, dass zur Gewährleistung der Ausübung der Tugendpflichten und somit der mit ihnen verbundenen Zwecke die moralisch-praktische Vernunft unter den genannten Umständen (Kollision und/ oder Spezifizierung von Pflichten) die Erlaubnis erteilt, nach einem Kriterium der Urteilskraft zwischen unterschiedlichen Maximen eine Hierarchisierung zu erstellen sowie das zur Entscheidung zu einer konkreten Handlung erforderliche „kluge Mittlere“ zu bestimmen. Auch hier weist Kant darauf hin, dass für solche Urteile und damit für die Ausübung der Pflichten die Bestimmung des „wie viel“, d. h. die Bestimmung der Grenze zwischen demjenigen, was durch Urteilskraft und
Damit ist in gewisser Weise eine Antwort auf die Frage nach einer möglichen Kausalität der Klugheit und damit ihrer Konstitution gegeben: Genau dann, wenn Maximen der Klugheit der Spezifizierung des Moralgesetzes dienen und/oder unter Erlaubnisgesetze fallen, sind sie auch kausal durch Freiheit bestimmt. Die ursächliche oder ursprüngliche kausale Verursachung der Maxime liegt im Moralgesetz und damit in der Freiheit. Als spezifizierende Untermaximen dienen sie dessen Ausübung, und unter dieser Voraussetzung sind sie selbst als Gesetze, nämlich als Erlaubnisgesetze anzusehen.
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Klugheit und demjenigen, was durch reine praktische Vernunft bestimmt werden muss, essentiell ist. Auf der einen Seite stellt Kant also Klugheit als durch Ausnahmen gekennzeichnet dar (vgl. KpV 5:28.12– 17 und 5:36.33 – 35 sowie GMS 4:408.12 – 18 und 4:424.15 – 20), insofern die als Maximen aufgestellten Regeln jederzeit zugunsten einer dazwischen kommenden Neigung gebrochen werden können und deshalb auch nicht zum praktischen Gesetz taugen. Und auf der anderen Seite zeichnet sich „wahre Klugheit“ dadurch aus, dass eine durch sie erfolgende Ausnahme zugleich durch ein auf einer Erlaubnis der Vernunft beruhendes Urteil zurückgeht. In diesem Sinne bedeutet Klugheit nicht, nach Belieben von Regeln abzuweichen, sondern vielmehr, unter kluger Abwägung dessen, was ein Subjekt für sich als Idee der Glückseligkeit entworfen hat, eine Tugendpflicht weiter zu bestimmen. Dabei können sich sowohl Einschränkungen der Maximen der Klugheit als auch der Pflichten untereinander ergeben. Das von Kant an jenen Stellen Aufgestellte behält in gewisser Weise dennoch seine Gültigkeit, denn wohl handelt es sich um subjektive Regeln, und wohl sind die auf diese Weise aufgestellten Maximen als „abänderlich“ (MdS 6:316.34) und keineswegs dauerhaft anzusehen.²³⁸ Vor diesem Hintergrund ist die sogenannte Standard-Interpretation des durch weite Pflichten offen gelassenen Spielraums als Ausnahmen zurückzuweisen. Diese Auffassung wird beispielsweise von Puls vertreten (vgl. Puls 2013, 133 – 135; siehe auch Seymour 2008, 404 sowie Schlüssler 2012, 70). Ihm zufolge stellt die Kategorie der Ausnahme innerhalb der Kategorien der Freiheit einen Beleg dar für die Anwendung der Kategorientafel in der Tugendlehre, da der durch die unvollkommenen Pflichten offen gelassene Spielraum Ausnahmen vom Moralgesetz zulasse. Puls lässt sich von Kants Äußerung aus der Grundlegung zu dieser Interpretation verleiten. Dort weist Kant auf die Möglichkeit vollkommener innerer Pflichten hin, „welches dem in Schulen angenommenen Wortgebrauch zuwider läuft“. Er versteht dort unter einer vollkommenen Pflicht eine solche, „die keine Ausnahme zum Vortheil der Neigung verstattet“ (GMS 4:421.34– 36). Tatsächlich sieht es hier so aus, als gestehe Kant den unvollkommenen, inneren (also ethischen) Pflichten, nicht aber den vollkommenen Pflichten Ausnahmen „zum Vortheil der Neigung“ zu. Wie jedoch bereits im Rahmen der Staatsklugheit als ausübender Rechtslehre deutlich wurde, handelt es sich bei den moralischen „Ausnahmen“ gerade nicht um Ausnahmen vom Gesetz, um beliebige Neigungen zu befriedigen. Die Kategorie der Ausnahme spräche in diesem Sinn eher gegen Dass dennoch im Rahmen der Klugheit von einem Charakter gesprochen werden darf, welcher gerade unabänderliche, feste Grundsätze erfordert, liegt daran, dass bei der wahren Klugheit die Abänderlichkeit der subjektiven Maximen selbst in einer „vernünftigen Reflexion“ begründet, d. h. der Gebrauch der Urteilskraft durch Vernunft legitimiert ist.
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eine Anwendung der Kategorientafel in MdS. Kersting hat dafür argumentiert, dass die von Kant in GMS anführte Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten anhand des Kriteriums der neigungsbedingten Ausnahme nicht überzeuge (Kersting 1982, 186 ff.), und dass Kant sie in MdS nicht fortführe (Kersting 1982, 188). Kersting betont zudem, dass Kant in GMS ausdrücklich von einer provisorischen Einteilung spreche und sich eine definitive für eine zukünftige Metaphysik der Sitten vorbehalte (Kersing 1982, 185). Allerdings greift auch Kersting auf den Unterschied zwischen vollkommenen Rechts- und unvollkommenen Tugendpflichten zurück. Die hier vorgeschlagene Interpretation dagegen hat den Vorteil, dass sie sowohl die nicht zufriedenstellende Begründung aus GMS im Rahmen von MdS ersetzen, als auch vollkommene Pflichten gegen sich selbst erklären kann. Kant gibt nun selbst Hinweise darauf, wie die kasuistischen Fragen der Subsumtion einzelner Fälle unter das Moralgesetz und damit die Grenzbestimmung zwischen (erlaubter) Klugheit und Moral gelöst werden können. Werfen wir hierzu einen Blick auf eine weitere Stelle, an der Kant auf Erlaubnisgesetze der praktischen Vernunft verweist. Anlässlich der Pflicht zur Wohltätigkeit führt er aus: Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde.Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe, d. i. sie zum allgemeinen Erlaubnißgesetz machte: so würde ihm, wenn er selbst in Noth ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu versagen befugt sein. Also widerstreitet sich die eigennützige Maxime selbst, wenn sie zum allgemeinen Gesetz gemacht würde, d. i. sie ist pflichtwidrig, folglich die gemeinnützige des Wohlthuns gegen Bedürftige allgemeine Pflicht der Menschen (MdS 6:453.5 – 13).
Hier wendet Kant die Frage nach einem Erlaubnisgesetz auf eine Maxime der Klugheit an und zeigt damit, dass ersteres in diesem Fall gar kein Erlaubnisgesetz mehr wäre, sondern eben ein subjektives Prinzip der Klugheit. Denn Erlaubnisgesetze schränken Vernunftgesetze durch einen vorübergehenden Einsatz der Urteilskraft zur Aufrechterhaltung und Ausübung des moralischen Zwecks ein. In diesem Fall jedoch wird geprüft, ob ein subjektives Prinzip als Erlaubnisgesetz durchgehen könnte, ohne in einer Tugendpflicht begründet zu sein: Anderen in Notsituationen nicht helfen zu wollen, lässt sich nicht durch ein Vernunftgesetz begründen. Interessant ist nun das Argument, das Kant dafür anführt, weshalb sich diese Maxime selbst widersprechen würde, und sie leitet sogleich zum nächsten Abschnitt über: Nicht etwa nennt er das von den Formulierungen des kategorischen Imperativs bekannte Prinzip der Verallgemeinerbarkeit zu einem Naturgesetz als
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Kriterium, vielmehr beruft er sich auf das aus der Rechtslehre als politisch bekannte Prinzip der Publizität: Als pflichtwidrig lässt sich eine solche Maxime erkennen, die nicht laut ausgesprochen werden kann, ohne zugleich ihren eigenen Zweck (in diesem Fall: einen moralischen) zu vereiteln: Wer laut bekundet, anderen in ihrer Not nicht helfen zu wollen, könne selber keinen Anspruch auf Hilfe in der Not erheben bzw. dem werde sie auch verwehrt. En passant sei an dieser Stelle angemerkt, dass Kants Aussage, jedermann würde so jemandem „gleichfalls seinen Beistand versagen, oder wenigstens zu versagen befugt sein“ (MdS 6:453.9 f., kursiv C.G.), meines Erachtens seinem Argument aus dem Vermeinten Recht widerspricht: Dort argumentiert er gegen Constant, der die Ansicht vertritt, nur solchen Personen gegenüber müsse unter allen Umständen die Wahrheit gesagt werden, die auch ein Recht auf die Wahrheit hätten (Vermeintes Recht 8:425.21– 23). Kants Argument zielt darauf ab, gerade diesen Zusatz (als mittleren, erweiternden Grundsatz) für die Lüge zurückzuweisen mit der Begründung, ein Recht auf die Wahrheit zu haben, sei „ein Wort ohne Sinn“ (Vermeintes Recht 8:426.2). Wie aber kann er dann jemandem das Recht auf Beihilfe in der Not absprechen? Um ein solches Recht in Frage zu stellen, müsste es zunächst grundsätzlich anerkannt sein, was vor dem Hintergrund von Kants Pflichtverständnis jedoch keinen Sinn ergibt. Vielmehr kann die Pflicht zur Beihilfe nur von demjenigen ausgehen, der sie zu leisten hat. Aus dieser Perspektive aber verbietet sich ein Verwehren der Beihilfe mit der Begründung, die hilfsbedürftige Person habe kein Recht auf Beistand, weil sie dieses ihrerseits nicht zugestehen wolle. Als einziges Argument zur Zurückweisung der Hilfe einer Person gegenüber, die selbst nicht zu helfen bereit ist, kommt demnach kein moralisches, sondern ein „politisches“ Argument in Frage, das die Ungerechtigkeit (Pflichtwidrigkeit) nur indiziert, die in der Maxime der ihre Hilfe verweigernden Person liegt, indem die Reaktion des Anderen auf eine Verlautbarung der Absicht dieselbe vereitelt. Kant scheint hier Argumente der Rechts- mit solchen der Tugendlehre zu vermischen, was aber nur die hier aufgestellten Thesen stützt, insofern sich dadurch bestätigt, dass sich die für die Politik im Rahmen der Rechtslehre gültigen Aussagen auf die Klugheit in ihrer Beziehung zur Moral übertragen lassen. Die hier vorgebrachte Begründung der weiten (und unvollkommenen) Pflicht der Wohltätigkeit gegen andere geht im Grunde auch nicht gegen ein Erlaubnisgesetz, sondern gegen ein „Gesetz“ der Ausnahme, indem es die Möglichkeit eines Erlaubnisgesetzes in einem solchen Zusammenhang zurückweist, da es sich selbst widersprechen würde. Das zur Überprüfung der Möglichkeit eines Erlaubnisgesetzes angeführte Kriterium aber ist nichts anderes als das Prinzip der Publizität. Das heißt im Umkehrschluss, dass nur dann von einem Erlaubnisgesetz gesprochen werden kann, wenn dieses durch das Prinzip der Publizität gestützt wird. Eine Maxime (der Klugheit), die eine Tugendpflicht spezifiziert, kann nur dann als
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Erlaubnisgesetz gelten (also zugleich eine Ausnahme von einer ethischen Pflicht und damit vom Moralgesetz sein), wenn sie durch das Prinzip der Publizität gedeckt und damit legitimiert wird. Ist dies nicht der Fall, so handelt es sich auch nicht um eine Maxime der Klugheit im Rahmen einer Tugendpflicht, sondern um eine Ausnahme von dieser und damit um die Verfolgung des eigenen Vorteils jenseits des Willens zur Befolgung des Moralgesetzes, d. h. um eine Umkehrung der Grundsätze der Willensgesinnung. Wie sogleich auszuführen ist, fungiert auch im Zusammenhang von Klugheit und Moral das Prinzip der Publizität als Indiz für ihre mögliche Übereinstimmung. Das Beispiel Kants zeigt somit, dass auch in der Tugendlehre mit dem Prinzip der Publizität ein Kriterium dafür gegeben ist, wann eine Ungerechtigkeit vorliegt: Die Maxime der Handlung auszusprechen, würde den mit ihr (ggf. qua Tugendpflicht) beabsichtigten Zweck vereiteln. Es ist der Form nach ein transzendentales Prinzip, verweist aber auf die Anwendung in der Erfahrung, indem es Bezug nimmt auf einen möglichen Widerstand durch Andere, welcher unleugbar in der Erfahrung, wenn auch durch ein Gedankenspiel ermittelbar, anzutreffen ist.
7.5.2 Das Prinzip der Publizität Dass das Publizitätsprinzip mit dem Aufdecken eines praktischen Widerspruchs (im Gegensatz zu einem logischen) zugleich die Grenze zwischen Klugheit und Moral benennt, verdeutlicht folgende Anmerkung II aus dem Grundsatzkapitel der KpV: Dort erläutert Kant anhand von zwei Beispielen, wie eine als moralisch ausgegebene Maxime sich selbst als „bloß kluge“ und zugleich unmoralische entdeckt, sobald sie ausgesprochen wird. Kant gibt das Beispiel von jemandem, der ein falsches Zeugnis ablegt, sich auf die „heilige Pflicht der eigenen Glückseligkeit“ (KpV 5:35.21) beruft, die mit diesem falschen Zeugnis verbundenen Vorteile benennt und sich zudem als klug bezeichnet, weil er es verstehe, sich gegen eine Entdeckung der eigenen Lüge abzusichern, und der schließlich dieses nur mitteilt, um es alsdann wieder abzustreiten – und dieser Jemand behauptet dann, so das Beispiel, er habe „eine wahre Menschenpflicht ausgeübt“ (KpV 5:35.25 f.).²³⁹
Fischer sieht in der öffentlichen Mitteilbarkeit von Maximen eine zusätzliche Motivation, nach einmal gefassten (und geäußerten) Maximen auch tatsächlich zu handeln, sodass ihr Öffentlichmachen im Sinne einer pragmatischen Selbstbindung zu verstehen sei (vgl. Fischer 2003, 79 f.). Das ist grundsätzlich sicher nicht verkehrt, trifft meines Erachtens aber nicht den Punkt der Verbindung zwischen Klugheit und dem Prinzip der Publizität.
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Der eigentliche und hier gemeinte Widerstreit liegt nun gar nicht darin, dass diese Person die eigene Glückseligkeit verfolgt hat. Er liegt, so lese ich Kant hier, nicht einmal darin, dass sie überhaupt ein falsches Zeugnis abgelegt hat. Der Widerspruch liegt vielmehr genau darin, dass diese Person eine Maxime der Glückseligkeit als eine Maxime der Sittlichkeit ausgibt. Die widersprüchliche Abgrenzung der einen gegen die andere aber (und damit die Grenze zwischen dem „Mittleren“, das sich jeder für sich zur Verfolgung der eigenen Glückseligkeit bestimmen kann und dem Fall, in dem dieses Mittlere mit einer Tugendpflicht kollidiert) wird erst daran deutlich, dass die betreffende Person ihre Absicht und Maxime nicht öffentlich mitzuteilen gedenkt, sondern sich im Gegenteil damit brüstet, die Lüge so erfolgreich verheimlicht zu haben. Auch hier findet das Prinzip der Publizität seine Anwendung, nicht aber zur Bestimmung dessen, was moralisch und was unmoralisch ist, sondern zur Bestimmung der Grenze zwischen dem unter moralischen Bedingungen (der Geltung des Moralgesetzes) nach Klugheitsmaximen Erlaubten und dem, was dann schon dem Moralgesetz widerspricht. Im zweiten Beispiel geht es nicht um die Frage, ob das, was der empfohlene Haushalter tatsächlich tut, verkehrt oder in sich widersprüchlich ist, sondern dass das, was er tut („fremdes Geld und Gut“ (KpV 5:35.39) wie sein eigenes zu behandeln, kurz: zu veruntreuen) nicht mit dem übereinstimmt,was er zu tun vorgibt – nämlich ein vertrauenswürdiger Haushalter zu sein, „dem ihr alle eure Angelegenheiten blindlings anvertrauen könntet“ (KpV 5:35.30). Der Widerspruch liegt demnach nicht in der unmoralischen Maxime des Haushalters, Geld veruntreuen zu wollen, sondern in der Tatsache, dass er sich als Haushalter öffentlich als einen (v. a. in Geldsachen) vertrauenswürdigen Menschen darstellt. Würde er sich als Haushalter bewerben und im gleichen Atemzug bekennen, also öffentlich mitteilen, dass er es mit der Verwendung fremden Geldes nicht so genau nimmt, so würde diese seine bekundete Absicht, sich als Haushalter einstellen zu lassen, sogleich vereitelt. Die Anwendung des Prinzips der Publizität lässt also die Grenze erkennen zwischen einem bloß klugen (in diesem Fall zugleich unmoralischen) und einem moralisch verbotenen Handeln. In beiden Fällen weist die Frage nach der Möglichkeit der öffentlichen Verlautbarung der eigenen Maxime darauf hin, dass sich in Reaktion auf diese ihre Verlautbarung Widerstand der anderen Menschen regen könnte: in Form der Aberkennung der eigenen Absicht, nämlich als moralisch (einer Menschenpflicht nachkommend) Handelnder im ersten Fall, in Form einer Ablehnung der Bewerbung im zweiten Fall. Die Reaktion der Person, der gegenüber die Maxime geäußert wird, ist Indiz für den praktischen Widerspruch derselben und damit für eine in ihr enthaltene Ungerechtigkeit bzw. ein Unrecht.
7.5 Erlaubnisgesetze und Prinzip der Publizität in der Tugendlehre
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Damit dürfte deutlich geworden sein, dass das Prinzip der Publizität weder in der Rechtslehre noch in der Tugendlehre als Pendant zum kategorischen Imperativ aufgefasst werden kann, dass es also keineswegs ein genuin moralisches Prinzip ist.²⁴⁰ Der Unterschied zwischen dem kategorischen Imperativ und dem Prinzip der Publizität ist demnach folgendermaßen zu fassen: Der erste überprüft lediglich die Form einer Maxime auf ihre (naturgesetzliche) Gesetzmäßigkeit, während letzteres die unter dem Titel der fremden Glückseligkeit möglichen Zwecke des anderen als mögliche Urteile einbezieht und die Bildung der eigenen Maximen auf die Übereinstimmung mit der Möglichkeit entsprechender Maximen anderer zur Verfolgung ihrer Glückseligkeit überprüft. Wie schon im Rahmen der Rechtslehre bzw. Politik als Staatsklugheit gilt auch für die Klugheit in Privatverhältnissen, dass die an sich subjektiven und abänderlichen Maximen mit denen der anderen zusammen bestehen können sollten. Nicht jedoch ist gefragt nach einer universell und allgemein gültigen Gesetzmäßigkeit derselben. Auch für Handlungen, deren Triebfeder unbestimmt ist, also möglicherweise im Gefühl liegt, muss somit gelten, dass sie nur dann nicht als Ausnahme im Sinne eines Verbotes durch das Moralgesetz gelten können, wenn sie mit dem Prinzip der Publizität übereinstimmen können. Auch wenn es sich bei einer Maxime nicht um die ausdrückliche Spezifizierung einer Tugendpflicht handelt, kann sie genau dann als erlaubt gelten, wenn sie, um den Terminus noch einmal aufzugreifen, „mit den wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ zusammenstimmt. Wir haben also auch hier mit der aufgeklärten Denkungsart zu tun, die als Maxime an die Vernunft ergeht, und welche laut Aufklärungsschrift nichts als „Freiheit in ihrer
Auch in der nicht politischen praktischen Philosophie Kants stellt das Prinzip der Publizität, zumindest in seiner ersten Formulierung, daher keineswegs eine „negative Bestimmung, ein Ausschlusskriterium“ der Moralität dar, wie Keienburg meint. Wie wir gesehen haben (vgl. Kapitel 4), wird dies durch den kategorischen Imperativ selbst geleistet, indem er eine Maxime anhand des „Typus“ des Naturgesetzes überprüft. Hingegen deutet Keienburg in die richtige Richtung, indem er formuliert: „eine Maxime, die du öffentlich machen kannst, ist noch lange keine moralische Maxime; kannst du deine Maxime allerdings nicht veröffentlichen, wird sie auch nicht mit dem Sittengesetz übereinstimmen.“ (Keienburg 2011, 113) Das Prinzip der Publizität zeigt damit die Grenze zwischen Klugheit und Moral an, d. h. ob Klugheit in ihrer Legalität (also unangesehen ihres Bestimmungsgrundes) mit Moral übereinstimmen kann. Keienburg selbst formuliert es so: „Mit der in den Prolegomena getroffenen Unterscheidung könnte man auch sagen: Ein Wahrnehmungsurteil, also ein nur auf Basis subjektiver Bedingungen gefälltes Urteil, wird durch einen solchen Fehler für ein objektives Erfahrungsurteil gehalten. Die Funktion der Mitteilbarkeit besteht dann genau darin, diesen Fehler auszuschließen, also auf subjektiven Privatbedingungen gegründete Urteile, die dennoch Objektivität beanspruchen, als solche zu entlarven.“ (Keienburg 2011, 157) Damit ist jedoch nichts über die moralische Qualität (Ge- oder Verbot) der Maxime oder des Urteils gesagt.
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„unschädlichsten“ Art fordert: „von seiner Vernunft in allen Stücken ö f f e n t l i c h e n G e b r a u c h zu machen.“ (Aufklärung 8:36.26 f.)²⁴¹ Die Befolgung und Ausübung der weiten Pflichten ist also auf die Bildung solcher Maximen angewiesen, die angesichts der zugrundeliegenden tugendhaften Gesinnung Ausdruck „wahrer Klugheit“ (als Pendant zur wahren Politik) sind. Die kasuistischen Fragen und die in ihnen angedeutete Kasuistik hingegen verweisen auf die Schwierigkeit, die Grenze zu ziehen zwischen eben solchen Maximen der Klugheit, die der Ausübung einer Tugendpflicht dienen und solchen, die entweder selbst einer Tugendpflicht entsprechen (ihr gemäß erfolgen) oder aber einer solchen entgegenstehen. Dabei bietet das Prinzip der Publizität eben jenes Kriterium, das wenigstens negativ diese Grenzbestimmung ermöglicht. Es bestimmt damit erstens Klugheit als „wahre Klugheit“ im Sinne einer „ausübenden Tugendlehre“ (und im Gegensatz zur auf den eigenen Vorteil bedachten verschlagenen Gerissenheit), gibt zweitens dieser Klugheit ein Kriterium für die Wahl ihrer Maximen an die Hand, welche außerdem drittens dem infiniten Regress entkommt, ohne dadurch schon Moralprinzip (also auf die Moralität, d. h. tugendhafte Gesinnung angelegt) zu sein.²⁴² Entsprechendes gilt darüber hinaus für eine Maxime des Handelns mit unbestimmter Triebfeder und damit jenseits einer die Tugendlehre ausübenden Funktion der Klugheit: Der Bezug zum Moralgesetz wird dadurch hergestellt, dass mittels des Prinzips der Publizität die Maxime der Handlung auf ihre Übereinstimmung mit den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ und d. h. auf ihre bloße moralische Erlaubnis hin überprüft wird. Im Rahmen der Übereinstimmung mit fremder Glückseligkeit und eigener Vollkommenheit können somit Handlungen auch jenseits eines moralischen Bestimmungsgrundes ihrer Maxime als durch Vernunft erlaubt angesehen werden. Die mit diesen Eigenschaften verbundene Klugheit als Weltklugheit ist, wie auch an den entsprechenden Erörterungen zur Rolle der Staatsklugheit deutlich wurde, keineswegs als „Instrumentalisierung des anderen zu eigenen Zwecken“ aufzu-
Zur Bedeutung des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft im Rahmen des Kantischen Aufklärungsprojekts siehe auch Zöller 2009, 91– 98. In diesem Sinne stimmen Moralität und Publizität noch nicht überein, wie Arendt meint: „Publizität, Öffentlichkeit ist in seiner [Kants, C.G.] Moralphilosophie bereits das Kriterium der Rechtmäßigkeit.“ (Arendt 1998/1985, 68) Und: „Private Maximen müssen einer Überprüfung unterworfen werden, mit deren Hilfe ich herausfinde, ob ich sie öffentlich erklären kann. Moralität ist hier das Zusammenfallen von Privatem und Öffentlichem.“ (Arendt 1998/1985, 69) Das Rechtmäßige ist gerade nicht schon das Moralische, sondern es verweist auf das möglicherweise mit dem Moralischen Zusammenstimmende. Und die Überprüfung privater Maximen anhand des möglichen Urteils anderer, d. h. nach dem Prinzip der Publizität, sagt nur etwas aus darüber, ob meine dennoch private Maxime als solche zusammenstimmen kann mit dem Urteil der anderen, und d. h., ob sie mit der Moral kollidiert oder nicht.
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fassen, wie Luckner meint (vgl. Luckner 1999, 330, Fn. 9) Explizit schwingt der Respekt zumindest für die möglichen (empirischen) Zwecke der anderen (fremde Glückseligkeit) immer schon mit. Abschließend sei noch einmal an jene Stelle aus der KdU erinnert, an der Kant die Verbindung des ästhetischen mit einem intellektuellen Wohlgefallen so bestimmt, dass der Geschmack dadurch fixiert und daher nicht mehr allgemein vorgestellt werde, „ihm aber doch in Ansehung gewisser zweckmäßig bestimmten Objecte Regeln vorgeschrieben werden können.“ (KdU 5:230.32 f.) Laut Kant werden diese Regeln dann zwar objektiv vorgeschrieben, sind aber keine Regeln des Geschmacks, sondern „bloß der Vereinbarung des Geschmacks mit der Vernunft, d. i. des Schönen mit dem Guten“ (KdU 5:230.34 f., vgl. Kapitel 3.2.1). Hier wie dort gehen aus der Verbindung einer Idee der Glückseligkeit (dort: des Schönen) mit der praktischen Beurteilung (des Guten) objektive Regeln hervor, die es erlauben, die subjektiven (Maximen) auf ihre Übereinstimmung (Vereinbarkeit) mit dem allgemein gültigen (des Guten) zu überprüfen.
7.5.3 Die Typik der praktischen Urteilskraft Die vorangegangenen Ausführungen zeigen, dass der oben zur Sprache gekommene infinite Regress durch Anwendung des Prinzips der Publizität zu einem Ende gelangen kann. Damit fungiert dieses Verfahren zugleich wie ein Schematismus bzw. eine Typik der (empirisch‐) praktischen Urteilskraft im oben angeführten Sinn, dass eine Regel für ihren (empirischen) Gebrauch angegeben werden kann (vgl. KrV A 133 f./B 172 f.). Im vierten Kapitel wurde thematisiert, dass die Kategorien der Freiheit in zweifacher Weise zur Anwendung kommen könnten und dass dies nicht in der Tafel selber erfolge. Vielmehr kann dies erst in denjenigen Regeln begründet liegen, welche die Anwendung anleiten: in den Regeln der praktischen Urteilskraft. Diese jedoch stellt Kant im Rahmen der „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ allein für die Anwendung auf eine durch eine moralische Triebfeder verursachte Handlung hin dar. Die Ergebnisse der sich an diese Feststellungen anschließenden Kapitel legen nun die Vermutung nahe, dass mit dem Prinzip der Publizität eben jenes Kriterium gegeben sein könnte, welches einen allgemeinen, also angesichts der moralischen Triebfeder der Maxime unbestimmten Gebrauch der Kategorien der Freiheit ermöglicht, und zwar, folgend den Erörterungen des letzten Kapitels zu Rechtslehre und Politik, im Hinblick auf die Übereinstimmung der durch die Kategorien geformten Maximen mit jenen „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“, von denen sowohl in KrV als auch in KdU im Rahmen der Ästhetik die Rede ist.
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Zunächst müssen wir uns jedoch noch einmal vergegenwärtigen, was Kant unter der Typik der reinen praktischen Urteilskraft versteht. Er stellt sie direkt im Anschluss an die Tafel der Kategorien der Freiheit vor, und sie lautet: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest. Nach dieser Regel beurtheilt in der That jedermann Handlungen, ob sie sittlich gut oder böse sind (KpV 5:69.21– 25).
Der durch reine praktische Urteilskraft zu erbringende Akt der Vermittlung besteht in dem Abgleich einer subjektiven Maxime, die wesentlich durch einen Akt der Einbildungskraft sowie der Urteilskraft gebildet wird, und dem Moralgesetz mittels des Schemas bzw. des Typus eines Naturgesetzes. Dabei kommt zum Tragen, was oben schon zur Erläuterung des Verhältnisses zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft erwähnt wurde: Verglichen werden zwei Verhältnisse, nämlich das Verhältnis der Maxime zum Moralgesetz mit dem Verhältnis derselben Maxime zu einem Naturgesetz, nach welchem der Handelnde die Welt selbst eingerichtet haben könnte. Gefragt wird also: Hält die Maxime dem Anspruch des Moralgesetzes stand? Und beantwortet wird diese Frage, indem die Maxime als möglicher Fall eines Naturgesetzes betrachtet wird. Die Form des Naturgesetzes (sein streng gültiger Determinismus und die damit einhergehende Allgemeinheit) soll, insofern sie ansonsten in der Sinnlichkeit Anwendung findet, als Vermittler zwischen Natur (subjektiver Maxime, die in Bezug auf das Gefühl steht oder stehen kann) und Freiheit (Moralgesetz) auftreten. Dies ist, Torralba folgend, die bloß reflektierende Funktion der praktischen Urteilskraft, indem sie das Gewissen aufruft, das die eigene Maxime noch einmal auf ihre wirkliche Triebfeder hin überprüft (vgl. Torralba 2009, 404 ff.). Der Typus der reinen praktischen Urteilskraft gibt der Urteilskraft somit eine Regel für ihren Gebrauch: Mittels eines Aktes der Reflexion überprüft sie die einer Handlung zugrunde liegende und durch die Kategorien der Freiheit konstituierte, also bereits in einer Beziehung auf das Moralgesetz stehende Maxime daraufhin, ob die Triebfeder, der Bestimmungsgrund der Handlung, auch tatsächlich die Achtung vor dem Gesetz, d. h. eine moralische ist. Auf diese Weise wird deutlich, wie der Grundsatz der reinen praktischen Vernunft (der Grundsatz der Sittlichkeit) die Regel für den objektiven Gebrauch der Kategorien abgibt und damit ihre objektive Realität und somit praktische Erkenntnis ermöglicht. Vermittelt wird dieser Grundsatz durch den Typus des Sittengesetzes, das „Gesetzliche“ des Naturgesetzes. Wie oben ausgeführt, handelt es sich deshalb bei der Frage nach der „Subsumtion einer in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem r e i n e n p r a k t i s c h e n G e s e t z e “ (KpV 5:68.27– 29) nicht nur um die Anwendung des
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Sittengesetzes auf einen Fall in der Sinnenwelt, sondern die Subsumtion ist gleichzeitig der reflektierende Vergleich einer Handlung als Fall einer Maxime mit derselben Handlung als Fall eines Naturgesetzes. Die Subsumtion ist zugleich Akt der Reflexion. Dieselbe Maxime, die mit dem Moralgesetz schematisiert bzw. typisiert werden soll, kann ja nun aber auch ohne eine notwendig auf sie bezogene moralische Willensbestimmung auftreten, z. B. indem sie eine ethische Pflicht spezifiziert oder einfach als „wahre Klugheit“ in Übereinstimmung gebracht werden soll mit den „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ der Menschen. Ihr ursprünglicher Bestimmungsgrund liegt demnach entweder im Moralgesetz oder im Gefühl, bleibt also zunächst unbestimmt. In Anlehnung an die Erörterungen zum Verhältnis von Moral, Recht und Politik könnten wir sagen: Es wird vom Bestimmungsgrund abgesehen oder abstrahiert. Denn in beiden Fällen bestimmt sie einen Zweck des Handelns durch eine subjektive, gegebenenfalls eine sogenannte „Untermaxime“, deren unmittelbarer Bestimmungsgrund²⁴³ legitimerweise im Gefühl liegen und auf der individuellen Idee der Glückseligkeit des Handelnden beruhen darf. In diesem Fall stellt sich die Frage nach der Subsumtion und der Grenze zwischen Klugheit und Moral – und damit auch die des infiniten Regresses. Es muss gefragt werden: Auf welche Regel kann sich die Urteilskraft für den Akt der Subsumtion berufen? Der hier vertretenen These zufolge handelt es sich dabei um das Prinzip der Publizität. Dabei wird die durch die Kategorien der Freiheit unangesehen ihres Bestimmungsgrundes konstituierte Maxime auf ähnliche Weise typisiert wie die auf ihre Moralität hin zu überprüfende: Verglichen wird eine Handlung als Fall einer bloß subjektiven, privaten Maxime mit einer Handlung als Fall einer ebenfalls subjektiven, aber zugleich öffentlich verkündbaren Maxime. Dabei kommen die Wirkungen der Maxime (nicht der Handlung!) mit in den Blick, insofern die Äußerung einer solchen Maxime bei anderen gegebenenfalls Unmut oder gar Revolte gegen dieselbe hervorzurufen droht und damit auf ein eventuell gegebenes Unrecht bzw. eine Ungerechtigkeit hinweist. Auf der Seite der im Fall des Typus der reinen praktischen Urteilskraft zu vergleichenden Sinnlichkeit
Kant unterscheidet nicht deutlich zwischen Bestimmungsgrund und Triebfeder, aber man darf vermuten, dass die Maxime selbst zum einen Bestimmungsgrund der Handlung ist, insofern sie die Regel abgibt, nach welcher der Wille bestimmt wird. Zum anderen ist diese Maxime wiederum entweder im Moralgesetz (bzw. der Achtung für das Moralgesetz) gegründet oder im Gefühl,worin der jeweilige Wert der sittlichen Maxime liegt. Die Triebfeder ist damit dasjenige,was den eigentlichen Beweg-Grund (worauf der mechanische Ursprung des Ausdrucks „Triebfeder“ hindeutet) für die Handlung abgibt, während der Bestimmungsgrund, die Maxime selbst, von dieser Triebfeder her ihre Struktur (und ihren Inhalt) erhält.
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findet sich also die gleiche Sinnlichkeit in Form einer Privatheit, einer Privatmeinung (subjektive Maxime). Diese soll nun aber nicht mit dem schlechthin Übersinnlichen vermittelt werden, sondern mit etwas, was eine für andere darstellbare Allgemeinheit vorstellt, ohne zugleich Ausdruck des Sittengesetzes in Form der Moralität sein zu müssen. Ziel der Typik der praktischen Urteilskraft ist damit nicht die Beurteilung der Moralität, sondern die Beurteilung der Mitteilbarkeit einer Maxime. Die Typik der praktischen Urteilskraft zielt somit auf die Herstellung von Öffentlichkeit ab, indem sie die Perspektive der (Glückseligkeit der) anderen in ihr mögliches Urteil einbezieht. Dabei kommt, wie auch im Akt der Typisierung durch reine praktische Urteilskraft ein „Verfahren der Einbildungskraft (den reinen Verstandesbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen a priori darzustellen)“ (KpV 5:69.7 f.) zum Einsatz: Während dort Einbildungskraft das „Bild“, den Typus des Gesetzes bzw. der Gesetzmäßigkeit bereitstellt, das Subjekt sich gewissermaßen in seiner Phantasie (Einbildungskraft) vorstellt, wie es wäre, wenn die von ihm beurteilte Maxime zu einem unnachgiebig und unausweichlich wirkenden Gesetz wirksam würde, so stellt es hier die zur Prüfung anstehende Maxime im Lichte einer möglichen Beurteilung durch andere Menschen vor. Der Handelnde stellt sich mithilfe seiner Einbildung vor, wie es wohl wäre, wenn diese seine Maxime öffentlich ausgesprochen und anderen mitgeteilt würde (vgl. Kants Rede vom „Experiment der reinen Vernunft“ in EF 8:381.18). In diesem reflektierenden Spiel der Einbildungskraft „erkennt“ er sodann, ob die Maxime (nicht die Handlung), einmal öffentlich ausgesprochen, überhaupt von anderen nachvollzogen werden kann,vor allem aber, ob sie Anstoß erregt,weil sie jene „wesentlichen und allgemeinen Zwecke“, die „das, was jedermann nothwendig interessirt“ (KrV A 839/B 867, Anm.) außer Acht lässt. Nur unter dieser Berücksichtigung, so wird nun deutlich, kann die Typisierung gelingen, kann eine Privatmaxime (Privatmeinung) über etwas, das zunächst als angenehm gefällt, auch in Übereinstimmung mit anderen Menschen mitgeteilt und (legitimerweise) als Zweck verfolgt werden. Ganz so, wie eine entsprechende politische Maxime auf diese Weise dann mit dem Recht überhaupt aller Menschen übereinstimmt, insofern dieses auf die Möglichkeit der je eigenen Zwecke der Bürger bezogen ist, so stimmt eine solche aus ihrer Privatheit herausgerissene und dennoch subjektive Maxime mit den möglichen Maximen (der Glückseligkeit) anderer überein. Indem sie diese nicht verletzt, darf sie zugleich als (auch) moralisch erlaubt angesehen werden. In diesem Sinne liegt der Zweck der Tugendpflichten in der eigenen Vervollkommnung (physisch, pragmatisch, moralisch) sowie in der Berücksichtigung und Beförderung der fremden Glückseligkeit. Eine mit diesen Zwecken
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übereinkommende Maxime stimmt dann auch mit der Moral überein – ohne dass es sich bereits um eine moralische Gesinnung handeln müsste.²⁴⁴ Anders als in der Politik hat im Privaten dagegen die positive Formulierung des Prinzips der Publizität keine Verwendung mehr, denn es handelt sich dann um den kategorischen Imperativ, indem er die Funktion der Überprüfung der Maxime als mögliches allgemeines Gesetz übernimmt. Die negative Formulierung hingegen hat Bestand, insofern sie die Grenze zwischen Klugheit und Moral bzw. die Übereinstimmung beider unangesehen des Bestimmungsgrundes der Maxime anzugeben vermag. Wie Kant selbst anfügt, könnte es sich bei der positiven Formulierung des Publizitätsgebotes dann wohl um ein moralisches Gebot für die Rechtslehre handeln, insofern alle Maximen, die nur dann ihren Zweck erreichen, wenn sie laut ausgesprochen werden, mit der Moral übereinstimmen (vgl. EF 8:386.10 – 13 sowie Kapitel 6.3). Wie schon in Kapitel 4 anklang, kann hier nun jedoch nicht von einer praktischen Erkenntnis im eigentlichen Sinne gesprochen werden. Denn das Prinzip der Beurteilung selbst ist zwar ein transzendentales Prinzip, es enthält jedoch explizit keinen Gesetzescharakter, d. h. es ist ein für subjektive Maximen und Handlungen geltendes Prinzip. In diesem Sinne sollte angesichts des allgemeinen Gebrauchs der praktischen Urteilskraft dann auch eher von einer praktischen Beurteilung als von einer praktischen Erkenntnis gesprochen werden. Denn auch im Falle der moralisch bestimmten Triebfeder, dessen Handlung durch Untermaximen weiter zu spezifizieren ist, tritt die Vernunft ihre Kompetenz übergangsweise an die Urteilskraft ab. Die „Typisierung“ der Handlung erfolgt allein unter Rückgriff auf eine Regel der Urteilskraft, die ihre Legitimität wiederum aus dem Prinzip der Publizität erhält, damit durch dieses begründet wird und dem infiniten Regress entkommt. Ebenso wie Erlaubnisgesetze und das Prinzip der
Korsgaard baut auf der hier anklingenden Menschheitsformel („Formula of Humanity“) des kategorischen Imperativs ihr Argument auf, dass auch nicht-moralische Zwecke vernünftig und daher aus Freiheit gewählt würden, insofern das „Menschheit“ darin die Fähigkeit der vernünftigen Entscheidung bedeute und d. h. die Fähigkeit, sich überhaupt Zwecke setzen zu können und damit Dingen Wert beizumessen. Im Rückgriff auf die dreifache Anlage des Menschen in RGV sei diese mittlere Anlage allen vernünftigen Wesen (meines Erachtens: allen Menschen) gemeinsam, sodass ein empirisch bedingter Zweck auch von anderen als ein solcher eingesehen und vor ihnen gerechtfertigt (begründet) werden könne (vgl. Korsgaard 1996, 106 – 132). Illies führt gegen diese These ins Feld, der einzige Wert, der dem kategorischen Imperativ zugrunde liege und seine Anwendung und Tauglichkeit als Kriterium moralischen Handelns garantiere, sei gerade nicht diese moralneutrale Fähigkeit der Zweckbestimmung, sondern die moralische Freiheit (vgl. Illies 2007). Mir scheint die von Koorsgaard vorgeschlagene Interpretation der Menschheitsformel eher für die hier vorgeschlagene Rekonstruktion der Klugheit als für Kants Begriff von praktischer Freiheit zu sprechen. Aus genannten Gründen ist dies jedoch nicht Thema dieser Arbeit.
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Publizität in der Rechtslehre die Verwendung der Urteilskraft in Übereinstimmung mit den apriorischen Rechtsprinzipien „regeln“, so sind sie innerhalb der Tugendlehre, also in Bezug auf die Klugheit „in Privatverhältnissen“ dazu geeignet, die Verwendung der Urteilskraft in Übereinstimmung mit den wesentlichen Zwecken der Menschen zu „regeln“. Zugleich darf die Vermutung ausgesprochen werden, dass mit diesem Verständnis einer allgemeinen Typik der praktischen Urteilskraft auch jene Funktion erfüllt ist, im Hinblick auf welche Herman ihre „rules of moral salience“ entwickelt hat. Indem der Handelnde sich fragt, welche Wirkung seine Maxime (nicht die Handlung und ihre Folgen) auf andere von ihr eventuell mitbetroffene Personen und deren eigenes Glücks- oder auch Moralstreben möglicherweise haben wird, kann er sich auch die von Herman angeführten drei Fragen beantworten: die Frage nach einem Handelnden bzw. einem Zweck an sich selbst, die Frage nach den Bedingungen der Verwirklichung der Zwecke (überhaupt) sowie die Frage nach den unterscheidenden Merkmalen der vernünftigen Erfordernisse und Einschränkungen. Das „Gedankenexperiment“ einer vorgestellten öffentlichen Mitteilung der eigenen Maxime und damit verbunden die Einnahme der Perspektive des Anderen erlaubt die Grenzbestimmung zwischen Klugheit und Moral und so zugleich die Bestimmung der moralischen Relevanz einer Situation und der in ihr zu bildenden Maxime. Diese Auffassung stimmt mit Habermas’ Darstellung der Abgrenzung von pragmatischen und moralischen Fragestellungen überein: „Ohne einen radikalen Wechsel der Perspektive und der Einstellung kann aber ein interpersoneller Konflikt von den Beteiligten nicht als ein moralisches Problem wahrgenommen werden.“ (Habermas 1991, 105) Zugleich sei durch einen solchen Perspektivenwechsel noch nicht die „egozentrische Perspektive“ verlassen. Von einer solchen ethischen, auf Gemeinschaft und historisch gewachsener Identität beruhenden Sichtweise unterscheidet er erst in einem weiteren Schritt die moralische Perspektive mittels der Frage nach der Vereinbarkeit der eigenen Maximen mit denen der anderen (Habermas 1991, 106). Entsprechend kann ihm zufolge die moralische Relevanz erkannt werden, ohne dass damit bereits eine moralische Perspektive eingenommen würde. Als Typus der praktischen Urteilskraft lässt sich das Prinzip der Publizität somit auf Maximen anwenden und befindet über deren Status als kluge Maximen, da es sich nicht, wie der kategorische Imperativ, auf ihre Form bezieht, sondern vielmehr auf die Verbindung der Maximen mit den aus ihnen resultierenden Wirkungen, entweder in Bezug auf den Handelnden selbst oder auf andere von der Handlung betroffene Personen. Fällt die Beurteilung negativ aus, so erweist sich die Handlung als unklug in dem Sinne, dass die Forderung nach Übereinstimmung mit jenen „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ nicht gegeben ist und
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die durch sie beabsichtigten Zwecke vereitelt zu werden drohen, d. h. nicht mehr „zusammengehalten“ werden können. Das Prinzip der Publizität darf damit als dasjenige Kriterium gelten, mit dessen Hilfe Klugheit als „wahre Klugheit“ identifiziert werden kann. Zugleich bestätigt sich die in Kapitel 3 herausgearbeitete These, dass Klugheit gerade nicht im Hinblick auf bloße Annehmlichkeiten sich als Klugheit erweist, sondern erst indem sie sich auf eine Idee der Glückseligkeit bezieht, die „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ trägt. Im Prinzip der Publizität ist dann die Forderung der erweiterten Denkungsart inbegriffen, das eigene Urteil am Urteil der anderen zu überprüfen. Erst hierdurch werden ansonsten beliebige, jederzeit zu Ausnahmen neigende Maximen zu anderen mitteilbaren „Lebensregeln“ im angegebenen Sinn. Es wird nun auch verständlich, dass für bloß erlaubte und unerlaubte Handlungen (bzw. Maximen) der ersten Modalkategorie zufolge keine Typik angegeben werden kann und sie daher grundsätzlich nicht dem infiniten Regress entkommen können. Erlaubte und unerlaubte Handlungen (bzw. Maximen) werden zwar wie kluge und moralische Maximen auch mithilfe der Kategorien der Freiheit konstituiert. Jedoch handelt es sich bei ihnen um einen nicht-typisierten (unschematisierten) Gebrauch der Kategorien. Auf diese Weise werden Maximen gebildet, die sich „nur“ auf das Angenehme und Unangenehme (eine Normalidee der Glückseligkeit) beziehen und sich keiner weiteren reflektierenden Beurteilung unterziehen. Im Gegensatz dazu müssen sich sowohl eine Maxime der Klugheit zur Spezifikation einer Tugendpflicht als auch die Einschränkung einer Tugendpflicht durch eine andere am Kriterium der Publizität messen lassen. Um bei Kants erstem Beispiel zu bleiben: Unter dem tugendhaften Vorsatz der Wahrhaftigkeit wird nach subjektiven Maßstäben bestimmt, was (und wie viel) gesagt werden soll. Dies geschieht wiederum anhand von Untermaximen, die nach Regeln der Klugheit einen der (nun moralisch legitimierten) Glückseligkeit dienenden Zweck verfolgen. Als Beispiel mag ein Verhandlungsgespräch dienen, in dem jemand festlegt, dass er bestimmte Dinge nicht preisgeben möchte, um ein Verhandlungsziel zu erreichen. Zugleich kann anhand des Prinzips der Publizität jederzeit überprüft werden, ob das solchermaßen bestimmte Mittlere noch einem klugen Zweck dient oder schon zum pflichtwidrigen Laster wird. Das aber kann nicht anhand einer Beurteilung der Handlung selbst erfolgen, sondern nur der Maxime: Soll durch das Verschweigen bestimmter Tatsachen das Gegenüber getäuscht werden, um das Ziel zu erreichen, so kann dies nicht laut ausgesprochen werden, ohne dass damit zugleich dieses Ziel gefährdet würde. Hier liegt das Indiz dafür, dass gerade nicht mehr mit einer Regel der Klugheit operiert wird, sondern eine pflichtwidrige Maxime Anwendung finden soll, insofern das bestimmte Ziel (der Zweck) über
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seine Übereinstimmung mit „wesentlichen und allgemeinen Zwecken“ gestellt wird, d. h. über seine Vereinbarkeit mit den durch die Verhandlungspartner verfolgten möglichen Zwecken. Die Grenze zwischen Offenherzigkeit und Verschwiegenheit und Wahrhaftigkeit und Lüge darf damit als bestimmt gelten. Auf dieselbe Weise funktioniert auch die oben angeführte Unterscheidung zwischen Klugheit und Gerissenheit. Auch für solche Fälle, in denen keine anderen Menschen involviert sind, dient das Prinzip der Publizität der Aufdeckung eines praktischen Widerspruchs, d. h. des Widerspruchs zwischen Klugheit und Moral. Zugleich lässt sich damit der Unterschied zwischen Erlaubnisgesetzen und bloßen Ausnahmen geltend machen. Dies zeigt sich schon an Kants Beispiel zum Geiz in Abgrenzung von der Sparsamkeit. Er geht aus von der Annahme, dass es nicht das Maß (der Grad) ist, welches moralische Fragen von solchen der Klugheit trennt, sondern das zugrunde liegende Prinzip, weshalb jemand sein Geld nicht ausgeben will: Also ist das eigenthümliche Merkmal des letzteren Lasters [des kargen Geizes im Unterschied zum verschwenderisch-habsüchtigen, C.G.] der Grundsatz des Besitzes der Mittel zu allerlei Zwecken, doch mit dem Vorbehalt, keines derselben für sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der Pflicht gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegen gesetzt ist. Verschwendung und Kargheit sind also nicht durch den Grad, sondern spezifisch durch die entgegengesetzte Maximen von einander unterschieden (MdS 6:432.35 – 433.5).
Die Formeln, die sich auf das Mittlere als das Gute beziehen, enthalten daher Kant zufolge auch eine schale Weisheit, die gar keine bestimmte Principien hat: denn dieses Mittlere zwischen zwei äußeren Enden, wer will mir es angeben? Der G e i z (als Laster) ist von der Sparsamkeit (als Tugend) nicht darin unterschieden, daß diese z u w e i t getrieben wird, sondern hat ein ganz a n d e r e s P r i n c i p (Maxime), nämlich den Zweck der Haushaltung nicht im G e n u ß seines Vermögens, sondern mit Entsagung auf denselben blos im B e s i t z desselben zu setzen: so wie das Laster der Ve r s c h w e n d u n g nicht im Übermaße des Genusses seines Vermögens, sondern in der schlechten Maxime zu suchen ist, die den Gebrauch, ohne auf die Erhaltung desselben zu sehen, zum alleinigen Zweck macht (MdS 6:404.29 – 37).²⁴⁵
Das Prinzip des Geizes als Laster (karger Geiz im Unterschied zum Geiz mit dem Zweck des Genusses) verweist somit auf ein einer Tugendpflicht entgegengesetztes Prinzip. Wie schon oben anlässlich der unterlassenen Hilfeleistung lässt sich die Grenze zwischen Klugheit und Moral an der Existenz eines veritablen Erlaub-
Vgl. ebenfalls gegen die Auffassung Aristoteles’, die Tugend bestünde im Mittleren zwischen zwei Lastern: MdS 6:432.16 ff.
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nisgesetzes festmachen: Das hier benannte Prinzip der Akkumulation von Besitz steht unter dem Vorbehalt, diesen nicht zum eigenen Wohlergehen ausgeben zu wollen und damit unter dem Vorsatz, eine Pflicht gegen sich selbst zu missachten. Dieser Vorbehalt kann nun nicht als Erlaubnisgesetz, sondern muss als Ausnahme gelten, da dieses zum allgemeinen (Erlaubnis‐) Gesetz erheben zu wollen sich selbst widerspricht – es handelt sich ja gerade nicht um ein Gesetz, das die Verwirklichung eines Zwecks (Ausübung der Pflicht) garantierten soll, sondern um die Ausnahme von einer Regel (der Anhäufung von Besitz zum Zweck der Verwendung desselben). Das bedeutet: Der einer gebotenen Pflicht folgende und durch Untermaximen zu spezifizierende Zweck wird selbst nicht mehr erreicht, womit angegeben ist, dass es sich um eine Ausnahme vom Moralgesetz (und damit ein Laster) und nicht um ein Erlaubnisgesetz handelt. Damit weist das Publizitätsprinzip indirekt auf diesen Widerspruch hin, indem der Ausspruch des „kargen Geizigen“ nicht ohne Widerspruch zur zugleich vertretenen Absicht, der gebotenen Selbstentwicklung als einer Pflicht sich selbst gegenüber, bleiben kann. Ebenso verhält es sich mit dem Beispiel vom Maß beim geselligen Gelage (MdS 6:428.2– 26): Kant fragt, wo der Übergang von einem Fehler (in Bezug auf das eigene Wohlergehen) zu einem Laster (in Bezug auf das intellektuelle Vermögen) liege. Im Rahmen der Rechtslehre sahen wir, dass ein politischer Grundsatz dann unrecht ist, wenn er dem Prinzip der Publizität widerspricht, d. h. wenn seine Verlautbarung seinen eigenen Zweck vereiteln würde. Entsprechend gibt die Frage nach einem Erlaubnisgesetz an, ob der mit der zugrundeliegenden Pflicht intendierte Zweck (in Übereinstimmung mit wesentlichen und allgemeinen Zwecken) mit der durch eine qua Untermaximen bestimmte Handlung noch erreicht wird: Der Maßstab für die Grenze zwischen Klugheit und Moral liegt somit dort, wo mit dem Prinzip einer Handlung der ursprünglich mit ihr intendierte Zweck vereitelt wird – im vorliegenden Fall geht Kant von der positiven Wirkung des Weins aus, „weil er doch die Gesellschaft zur Gesprächigkeit belebt und damit Offenherzigkeit verbindet“ (MdS 6:428.4 f.). In dem Moment, wo die Trunkenheit diesen Zweck nicht mehr garantiert, droht die (kluge) Geselligkeit in Unsittlichkeit umzukippen. Die Frage lautet also: „Wie weit geht die sittliche Befugnis, diesen Einladungen Gehör zu schenken?“ (MdS 6:428.25 f.) Die Maxime der Klugheit stimmt dann mit der Moral überein, wenn ein dahinter stehender moralisch gebotener Zweck (eine der vollkommenen oder unvollkommenen Pflichten) nicht dadurch gefährdet wird – wenn die Maxime also entweder durch ein Erlaubnisgesetz legitimiert (in Bezug auf die Pflichtzwecke der eigenen Vollkommenheit) oder aber anhand des Prinzips der Publizität auf die Zusammenstimmung mit den Zwecken anderer (in Bezug auf die Pflichtzwecke der fremden Glückseligkeit) überprüft wurde.
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Klugheit erweist sich damit auch bei Kant als dasjenige Vermögen, das die Anwendung moralischer Prinzipien ermöglicht, indem die je subjektiv bestimmten Zwecke mit den Tugendpflichten der eigenen Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit in Übereinstimmung gebracht werden. Höffes Annahme, Kants praktische Urteilskraft erlaube eine „aristotelische“ Ergänzung seiner universalistischen Moral, konnte damit erweitert werden. Urteilskraft als kluge Reflexion ist zugleich für die Ausdehnung der moralischen Sphäre in den Bereich der Empirie zuständig, denn sie garantiert die Verwirklichung der gebotenen Zwecke im Rahmen der Willensbestimmung. Damit geht sie über von einer Praxis der Anwendung (theoretischer) Prinzipien auf Handlungen zu einer Anwendung praktischer Prinzipien (Maximen) auf den Willen.
Schluss Die vorliegende Arbeit nahm ihren Ausgang von der Annahme eines neuzeitlichen, auf instrumentelle Rationalität und damit Geschicklichkeit beschränkten Verständnisses des Begriffs der Klugheit bei Kant. Denn einerseits versteht er Glück als den besonderen Zweck, den zu verfolgen Aufgabe der Klugheit ist, und der sich von anderen beliebigen Zwecken unterscheidet. Andererseits hingegen reduziert er ihn zugleich auf das Gefühl des Angenehmen und Unangenehmen, sodass es wiederum nur der zwar je subjektiven, aber eben doch nur der Geschicklichkeit bedarf, um ihn zu erreichen. Im Rückgriff auf Kants selbst vorgebrachte, sich davon abhebende Definition der Glückseligkeit als Idee bzw. Ideal zeigte sich jedoch, dass seine Philosophie einen alternativen Klugheitsbegriff zu bieten hat. Die Rekonstruktion dieser ästhetischen Idee der Glückseligkeit eröffnete die Möglichkeit, über ein bloß psychologisch-hedonistisches Glücksverständnis hinauszugehen und der technisch-praktischen Bestimmung von Mitteln die Bestimmung derjenigen Zwecke an die Seite zu stellen, welche es als Teil einer solchen Idee dann auch erlauben, von einer Zweckbestimmung des Menschen und damit von einem empirisch-praktischen Vermögen zu sprechen. Die ästhetische Rekonstruktion der Maximenbildung und ihre Einbindung in den Prozess der praktischen Urteilsbildung anhand der Kategorien der Freiheit hat uns damit innerhalb von Kants Werk zu einem Klugheitsbegriff geführt, der sich grundsätzlich als doppeldeutig erweisen musste: Orientiert an einer „Normalidee“ verbleiben wir bei einer Vorstellung des Glücks als möglichst angenehmem Zustand und gelangen über Klugheit als Geschicklichkeit nicht wesentlich hinaus. Kommt hingegen eine Reflexion hinzu, die die möglichen, der Erfahrung entnommenen Zwecke in Übereinstimmung zu bringen sucht mit solchen allgemeinen Zwecken, die im Prinzip auch die Zwecke jedes anderen sein könnten, so wird die Klugheit erweitert um eben diese Perspektive des anderen. Als Funktion par excellence der Klugheit erwies sich daher Urteilskraft in Form einer grundlegenden Reflexion auf das Zusammenspiel unserer Erkenntnisvermögen (insbesondere von Begehrungsvermögen und Gefühl). Klugheit ist in diesem Sinne die Fähigkeit, die eigenen Entscheidungsprozesse mittels einer auf wesentliche Fragestellungen gerichteten Reflexion auf ihre Angemessenheit und Tauglichkeit überprüfen zu können. Erst unter dieser Voraussetzung erweisen sich subjektive Maximen als eigentlich kluge, wobei Klugheit hier, so wurde am Beispiel der Staatsklugheit deutlich, sich der Weisheit anzunähern vermag. Wie Ortmann in seiner eigenen Analyse der Regeln der Klugheit feststellt, kann das Wesen der Klugheit damit als eine Art Meta-Reflexion auf die je eigenen, subjektiven Maximen aufgefasst werden. Je nachdem, wie sich das durch Reflexion
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Schluss
bestimmte Verhältnis unter den Erkenntnisvermögen (zwischen Begehrungsvermögen und Gefühl) darstellt, changiert die zugrunde liegende Klugheit von bloßer Geschicklichkeit bis hin zur Ausübung der durch Recht und Moral gebotenen Pflichten. Dass Kant mit seiner Fokussierung auf Moralbegründung aus reiner Vernunft einen solchen Klugheitsbegriff zumindest in seinen veröffentlichten Schriften nicht selbst im Sinn gehabt hat, liegt auf der Hand. Allerdings konnte mittels der Aufteilung seiner Urteile in theoretische, ästhetische und praktische aufgezeigt werden, dass auch seine eigene Konzeption zu Widersprüchen führt, denen die hier vorgestellte Interpretation begegnen konnte. Wir mussten also mit Kant über Kant hinausgehen, um eine einigermaßen kohärente Konzeption des EmpirischPraktischen innerhalb seiner (praktischen) Philosophie erarbeiten zu können. Strukturell zeigte sich der rekonstruierte Kantische Begriff der Klugheit als wesentlich gekennzeichnet durch den Begriff der Ausnahme. Denn soll sich kluges (im Unterschied zu rein moralischem) Handeln dadurch auszeichnen, dass es sich den Umständen anzupassen weiß (selbst unter der Voraussetzung des Moralischen), so kann ihre Eigenheit gerade nicht darin bestehen, a priori gegebene Regeln unterschiedslos durch Rekurs auf ein Gesetz der Vernunft anzuwenden. Klugheit in diesem Sinn kann es daher nur geben, wenn es auch die Befugnis zur Ausnahme angesichts gegebener Umstände gibt. Die Koppelung der Klugheit an den Begriff des Pragmatischen führt dies auch in unserem alltäglichen Sprachgebrauch vor Augen: Als pragmatisch bezeichnen wir ein Handeln, das bewusst übergangsweise auf die strikte Einhaltung geltender Normen verzichtet, um einen übergreifenden Zweck verwirklichen zu können. Und in eben diesem Sinn von pragmatisch sprechen wir dann auch davon, dass solches Handeln klug ist. Dabei erwies es sich jedoch als entscheidend, welcher Art die durch Klugheit zugelassenen Ausnahmen sind: Handelt es sich um Ausnahmen von einer bestehenden Regel (der Klugheit oder Moral) zum Vorteil einer Neigung? Besteht eine Ausnahme darin, eine einmal bestimmte Regel (Maxime) durch eine andere (entweder durch Pflicht gebotene oder auf der schnwankenden Idee der Glückseligkeit beruhende) Regel einzuschränken? Oder ist die Ausnahme gar durch den zugrunde liegenden rechtlich oder moralisch gebotenen Zweck erlaubt und steht damit unter einem Erlaubnisgesetz der Vernunft? Diese drei Varianten von Ausnahmen bezeichnen je ein spezielles Verständnis von Klugheit: instrumentelle Geschicklichkeit im Dienste angenehmer Empfindungen, „wahre Klugheit“, insofern in die Überlegung zur Abweichung von Regeln wesentliche Zwecke miteinbezogen werden und damit das Privatinteresse nicht auf die eigene Person beschränkt bleibt. Und schließlich die Funktion der Klugheit für die Ausübung der durch Recht und Moral gebotenen Pflichten, ohne welche deren Übergang in die Erfahrung gar nicht möglich wäre. Insbesondere die Überlegungen zur Grenze
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zwischen Klugheit und Moral, die Kant selbst in seinen kasuistischen Fragen streift, machen deutlich, wie sehr die Anwendung von Moral und Recht auf der beurteilenden Festlegung dieser Grenze des vom moralischen Bestimmungsgrund Abstrahierenden und Ausgenommenen beruht. Es konnte auf diese Weise gewichtigen Einwänden gegenüber Kants Klugheitsbegriff wie auch seinem Konzept empirisch-praktischer Vernunft überhaupt begegnet werden, indem die Bestimmung auch empirischer Zwecke durch die Vermögen des Menschen, nämlich als Leistung von Einbildungskraft und Verstand, darüber hinaus aber ebenfalls Urteilskraft und Vernunft nachgezeichnet wurde. Gleichzeitig konnten bereits unternommene Überlegungen zur Frage nach der Möglichkeit empirisch-praktischer Vernunft in Verbindung mit Gefühl und Urteilskraft präzisiert und genauer in den Kantischen Theorierahmen eingefügt werden.Wie deutlich wurde, ist das pragmatische Wissen, die „Theorie“ der Klugheit, Teil der Naturlehre, insofern alle für die Bildung von Maximen notwendigen Tätigkeiten als zur Vermittlung von Gefühl und Begehrungsvermögen gehörend verstanden werden können. Dies gilt nicht nur für die Auffassung der technisch-praktischen Sätze als „theoretisch-praktische“ der Ausführung eines bestimmten Willens, sondern ebenso für die Konstitution sinnlich bedingter, moralisch unbestimmter Maximen (als Urteile). Diese befinden sich auf der Trennlinie zwischen einer durch Einbildungskraft geformten ästhetisch-sinnlichen Erfahrung und der Ordnung durch (Vernunft und) Urteilskraft. Klugheit stellt sich somit als eine „natürliche“ Fähigkeit des Menschen dar, welche dem Willen seine empirisch-sinnlichen Zwecke unter Einbeziehen der durch die Vernunft vorgestellten, sein Wesen bestimmenden wesentlichen und allgemeinen Zwecke vorstellig macht. Einerseits muss Klugheit somit als Klugheit (im Unterschied zur Moral) im Rahmen des Natürlichen verbleiben, insofern sie sich im steten Bezug auf das mit der Sinnennatur des Menschen zusammenhängende Gefühl konstituiert. Zugleich aber kann sie andererseits gewissermaßen „von oben“ zur Anwendung kommen, sobald sie sich auf die Ausübung der Pflicht beschränkt, die zugleich aus Pflicht erfolgt, sodass das Moralgesetz mittels der Klugheit vom Gebiet der Freiheit in das der Natur hineinwirkt. Mit dieser historisch-teleologischen Verankerung der Klugheit sind zwei miteinander zusammenhängende Punkte angesprochen, die im Rahmen dieser Ausführungen nur angedeutet werden konnten, jedoch abschließend Erwähnung verdienen. Dies ist zum einen die Frage nach einer „Kausalität der Klugheit“ und damit ihrer Einordnung in den kausal-gesetzlichen Zusammenhang der Transzendentalphilosophie, zum anderen das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft. Kausalität der Klugheit. Mit der Frage nach einer Kausalität deutet sich an, dass Kant, wie bereits vermutet wurde, im Begriff war, den Rahmen seines eigenen
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Systems zu sprengen, indem er in der Kritik der Urteilskraft gewissermaßen „aristotelische Elemente“, insbesondere in Form der causa finalis, in sein Naturverständnis aufgenommen hat. Denn der (ästhetisch und teleologisch reflektierenden) Urteilskraft selbst kommt, im Gegensatz zu Verstand und Vernunft, kein eigenes Gebiet zu, auf dem sie gesetzgebend wäre. Das ihrer Tätigkeit zugrunde liegende Prinzip a priori (der Zweckmäßigkeit) führt kein Gesetz zur Konstitution der durch sie beurteilten Gegenstände bei sich und kann daher nur regulativ angewendet werden. Zudem sahen wir, dass es sich bei der Klugheit um die praktische, wenn auch empirisch-praktische Form der Urteilskraft handelt, welcher wiederum kein eigenes Gesetz (der Glückseligkeit) zur Verfügung steht, auf das sie zurückgreifen könnte. Eine vorausgesetzte Wirkung der Kausalität aus Freiheit einmal außen vor gelassen (im Fall von Klugheit als ausübender Tugendlehre), ist daher nicht zu ersehen, wie der Urteilskraft unter diesen Umständen innerhalb des Kantischen Systems eine Handlungen oder Ereignisse hervorbringende Kausalität zugesprochen werden, d. h. wie von empirisch bedingten, durch Urteilskraft konstituierten und zugleich weder naturkausal-deterministisch, noch freiheitskausal verursachten Handlungen gesprochen werden könnte. Diese werden allenfalls aus der Beobachterperspektive (teleologisch reflektierend) erklärbar, insofern sie als Naturzwecke beurteilt werden können. Nicht jedoch lässt sich auf diese Weise ersehen, wie sie sich vom Handelnden aus so vollziehen, dass eine andere als naturdeterministische Kausalität wirksam wird, da eine solche für Kant offensichtlich ausschließlich auf Gesetzen basieren kann und damit dem Natur- und dem Freiheitsbegriff als kausal wirkend vorbehalten bleiben. Dennoch scheint Kant selbst die Notwendigkeit erkannt zu haben, das ansonsten bloß regulative Prinzip der Zweckmäßigkeit als für die menschlichen Handlungen konstitutiv anzunehmen. Anders ist es nicht zu verstehen, wenn er schreibt: Wenn es aber auf das Praktische ankommt, so ist ein solches r e g u l a t i v e s Princip (für die Klugheit oder Weisheit): dem,was nach Beschaffenheit unserer Erkenntnißvermögen von uns auf gewiße Weise allein als möglich gedacht werden kann, als Zwecke gemäß zu handeln, zugleich k o n s t i t u t i v, d.i. praktisch bestimmend; indes eben dasselbe als Princip die objective Möglichkeit der Dinge zu beurtheilen keineswegs theoretisch-bestimmend (daß nämlich auch dem Objecte die einzige Art der Möglichkeit zukomme, die unserm Vermögen zu denken zukommt), sondern ein bloß r e g u l a t i v e s Princip für die reflectirende Urtheilskraft ist (KdU 5:457.31– 458.3, kursiv C.G.).
Was Kant hier gewissermaßen nur zu postulieren scheint, schwingt indes in der vorgeschlagenen Interpretation mit: Ihr zufolge könnte eine kausale (ästhetischpraktische) Konstitution des empirisch bedingten Handelns so aussehen, dass
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Klugheit uns als „belebendes Vermögen“ im Gemüt entgegentritt und dazu beflügelt, die eigenen Handlungen (Maximen) an den wesentlichen und allgemeinen Zwecken auszurichten. Sie treibt den Menschen gewissermaßen hin zu einer reflektierenden Gesinnung – welche letztlich, so sieht es die Disziplinierung und Kultivierung der Neigungen vor, in eine moralisch-tugendhafte Haltung umschlagen soll. Wie die ästhetische Reflexion eine Belebung der Erkenntniskräfte zum Effekt hat, so könnte auch die praktische Reflexion über die eigenen Zwecke in ihrer Zusammenstimmung mit denen der anderen die Handlungsfähigkeit beleben und eine auf das Ganze des Lebens ausgerichtete Idee der Glückseligkeit in den eigenen Handlungen auszudrücken suchen. Der Handelnde wäre damit in der Lage, auf die grundsätzliche Offenheit und Situativität zu reagieren, die sich aus dem unbestimmten Glücksbegriff und dem damit einhergehenden unzulänglichen Wissen um die richtigen Handlungen ergeben. Eine Kausalität der Klugheit wäre gewissermaßen „unkantisch“, weil nicht an ein objektives Gesetz der Vernunft gebunden, aber sie würde sich dennoch von jenen mechanischen Kräften abheben, welchen die „psychologische Freiheit“ des Bratenwenders doch unterworfen bleiben muss, insofern die durch empirische Vorstellungen wirkende Kausalität grundsätzlich der Zeitfolge unterliegt. Kausalität der Klugheit wäre gewissermaßen eine Variante oder natürliche Spielart des als Oberbegriff aufzufassenden Naturmechanismus und entkäme damit, den von Brandt angeführten, berechtigten Zweifeln zum Trotz, zumindest der unmittelbaren Wirkung der naturdeterministischen Zeitstruktur – auch darauf weist die Kategorie der Ausnahme hin. Auch Nussbaums These von der Einbettung empirisch bedingter Handlungen in den Naturlauf, insofern sie gleich allem anderen organischen Leben als Kausalität der Endursachen vorgestellt werden, betont zunächst nur den technischpraktischen Aspekt der Zweckverfolgung und damit die Beobachterperspektive des Handelns. Lediglich retrospektiv erklärbar werden auf diese Weise die Gründe des Handelns in Bezug auf bereits bestimmte Zwecke. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnte darüber hinaus gezeigt werden, inwieweit im Rückgriff auf ästhetische Betrachtungen auch der Aspekt der Zweckbestimmung und damit die prospektive, aktive Gestaltung des Handelns aus der Perspektive des Handelnden unter diese technisch-praktische Naturauffassung fällt. Die beiden Teile der Kritik der Urteilskraft scheinen sich somit in Bezug auf den Menschen und seinen Willen auf die beiden Möglichkeiten seiner Bestimmung zu beziehen: Die Ästhetik reflektiert auf die Bedingungen der Zweckbestimmung innerhalb der inneren Ordnung der menschlichen Natur (seiner Erkenntnisvermögen), die Teleologie auf die Bedingungen der Umsetzung dieser Zwecke innerhalb der äußeren Naturordnung. Dabei kann einzig die teleologische als a priori reflektierende Urteilskraft ange-
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sehen werden, während die auf die Entstehung der empirischen (Natur‐) Zwecke des Menschen reflektierende eine sinnlich-ästhetische Form der Reflexion bleibt. Theoretische und praktische Vernunft. Im Rahmen von Kants Philosophie geht mit diesen Überlegungen eine Infragestellung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Vernunft einher. Denn auf der textlichen Basis von GMS und KpV lässt sich nicht mehr recht nachvollziehen, wie dieser neue, auch menschliches Handeln und empirische Zweckbestimmung umfassende Naturbegriff in den Kategorien des Kantischen Systems zu fassen sein könnte. Wie angedeutet wird es spätestens unter den Voraussetzungen der KdU schwierig, empirisch-praktische Vernunft als praktische Vernunft aufzufassen und d. h. auch, die Einheit der praktischen Vernunft zu denken. Dies betrifft im hier vorgestellten Zusammenhang insbesondere die Kategorien der Freiheit, sofern diese das ganze praktische Vermögen betreffen.Wie sind sie vor diesem Hintergrund als praktische Kategorien aufzufassen? Soll ein Übergang stattfinden zwischen sinnlich bedingten und moralisch bestimmten Kategorien, so ist dies nur möglich, wenn sie gleichermaßen für die praktisch-moralische wie auch für die der Naturlehre angehörende technisch-praktische Philosophie (inklusive der im weiteren Sinne als ästhetisch aufzufassenden Klugheit) zur Anwendung kommen. Im vierten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass die Kategorien der Freiheit als allgemein praktische Kategorien fungieren, welche zwischen Gefühl und Begehrungsvermögen und damit zugleich zwischen Gefühl und Vernunft stehen. Als Urteilsfunktionen entspringen sie damit zwar dem Verstand. Anders als die theoretischen Kategorien erstrecken sie sich aber insofern in den Bereich des Gefühls und damit der Sinnlichkeit, als sie nicht ausschließlich reine Erkenntnisse, sondern auch solche Urteile generieren, die zu „bloß“ klugem Handeln befähigen. Die praktischen Kategorien sind der hier vorgestellten Interpretation zufolge die Nahtstelle zwischen ästhetisch-empirischer und reiner Zweckbestimmung. Sie stellen die Möglichkeit einer willensinternen Überleitung von der (ästhetisch-teleologischen) Sinnlichkeit zur reinen praktischen Vernunft dar. Zusammenfassend stellt sich Klugheit somit grundsätzlich als praktische Urteilskraft dar, insofern sie den reflektiert urteilenden Handelnden nicht in erster Linie auf im Voraus inhaltlich bestimmte Regeln festlegt, sondern zu deren jeweiliger Suspension zugunsten einer Reflexion auf die Bedingungen ihrer Entstehung und damit auch zu ihrer Überprüfung auf Angemessenheit anregt. Sie ist nicht nur, aber auch an Recht und Moral verwiesen, indem sie in Form der wesentlichen und allgemeinen Zwecke in ihre Idee der Glückseligkeit eine im nichtkantischen Sinne ethische Bestimmung aufnimmt. Klugheit ist bedingt durch eine Meta-Reflexivität auf die Bedingungen ihrer Anwendung im Kontext der sozialen Interaktion, im Zusammenleben mit anderen und deren je eigenen empirischen Zwecken, wie auch Moral angewiesen ist auf reine praktische Urteilskraft, um die
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moralisch bestimmte Maxime noch einmal reflektierend im Lichte des Gewissens typisierend zu betrachten. Zur Weisheit wird Klugheit bei Kant genau dann, wenn die Urteilskraft für diese ihre Tätigkeit ausdrücklich den Segen, oder politischer gesprochen: das Mandat der Vernunft erhält, an ihrer Stelle, in ihrem Auftrag zu agieren. Damit ergibt sich dann auch ihre gemeinschaftliche (nicht unbedingt: allgemeine) Mitteilbarkeit, die es erlaubt, über die nur privaten Willensmeinungen hinauszugehen zu einem durch alle nachvollziehbaren (wenn auch nicht allen ansinnbaren) Urteil über die eigene Idee der Glückseligkeit. Der Kantische Begriff der Klugheit konnte somit in Abhebung von einer bloß instrumentell verfassten Rationalität und damit als deinstrumentalisiert rekonstruiert werden. Systematisch, so sahen wir zudem, deutet Klugheit auf ein Durchbrechen des aus der ersten Kritik bekannten Zeitschemas hin, insofern sie als an (wenn auch zum Teil durch Vernunft gesteuerte) Ausnahmen gebunden vorgestellt wird. Man mag mit Hariman den Nutzen einer solchen durch Rückgriff auf den sensus communis rekonstruierten und damit in gewisser Weise der hermeneutischen Tradition verpflichteten Klugheit insbesondere für den sozial-gesellschaftlichen Kontext für unzureichend halten (vgl. Hariman 2003, 291 f.). Und doch sind mit diesem Klugheitsbegriff Elemente benannt, die sich für eine ergänzende Perspektive in Bezug auf Kants ansonsten durchaus rigoristisch erscheinende und insbesondere im Hinblick auf die damit einhergehende Frage nach der Freiheit problematisch bleibende Moralphilosophie eignen könnten.
Siglen Kants Werke werden nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademieausgabe) zitiert unter Nennung von Bandzahl, Seitenzahl sowie Zeilenzahl: KpV 5:66.16 – 36 bedeutet: Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe Band 5, Seite 66, Zeilen 16 – 36. Davon abweichend wird die Kritik der reinen Vernunft nach der Paginierung der Originalausgabe zitiert, unter Angabe der ersten (A) und zweiten (B) Auflage. Von mir hinzugefügte Hervorhebungen sind mit dem Kürzel C.G. gekennzeichnet, alle anderen stammen von Kant. Weggelassene Hervorhebungen sind nicht eigens gekennzeichnet. Es werden folgende Abkürzungen verwendet: Anth Aufklärung Bemerkungen EE EF, Ewiger Friede, Friedensschrift Gemeinspruch
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft Zum ewigen Frieden
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis GMS, Grundlegung Grundlegung zur Metaphysik der Sitten KdU Kritik der Urteilskraft KpV Kritik der praktischen Vernunft KrV Kritik der reinen Vernunft Log Logik (herausgegeben von G. B. Jäsche) MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft MdS Metaphysik der Sitten Neuer Lehrbegriff Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft Op. post. Opus postumum Päd Pädagogik (herausgegeben von F. T. Rink) Prol, Prolegomena Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können Refl. Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses RGV, Religionsschrift Die Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft Sich im Denken Was heißt: Sich im Denken orientieren? orientieren
Siglen
UDG Vermeintes Recht VL Anth/Collins VL MS/Vigil Vorarbeiten
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Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen Vorlesung zur Anthropologie, Collins Vorlesung zur Metaphysik, Vigilantius Vorarbeiten zum öffentlichen Recht
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Personenverzeichnis Albrecht, Michael 50 – 53, 119 f., 206, 215 f. Allison, Henry E. 10, 55 f., 163, 185, 200 Arendt, Hannah 109, 128, 211, 230, 242, 282 Aristoteles 1, 15, 37, 87 f., 182, 194 – 199, 213 f., 237, 259, 262, 290 Aubenque, Pierre 3, 39, 61, 219 Bacin, Stefano 168 Bader, Ralf M. 159 Baum, Manfred 219, 230, 250 Baumgarten, Alexander Gottlieb 39 Beck, Lewis White 61, 176, 185 Beiner, Ronald 211, 247 Bittner, Rüdiger 20 – 23, 30, 44, 49 – 51, 53, 55, 187 Bojanowski, Jochen 10, 34, 62, 91 Brandt, Reinhard 2 f., 7 – 9, 44, 67, 74 f., 79 f., 80, 95, 123, 174, 178, 182, 206 f., 215, 219, 224, 230, 233 f. 236, 238, 261, 272 f., 297 Brewer, Talbot 49, 51, 56, 269 Bubner, Rüdiger 41, 52 f., 55, 119 Buchheim, Thomas 71, 126, 196, 237 Castillo, Monique 225 Cecchinato, Giorgia 183 f. Cohen, Alix 76, 203 Cramer, Konrad 16, 20, 23, 30, 42, 62 Den Uyl, Douglas J. 7 f., 51 Denis, Lara 251 Dieringer, Volker 160 Duncan, Alastair Robert Campbell 20 Ellis, Elisabeth 246 f. Esser, Andrea Marlen 39, 51, 269 Fischer, Peter 9, 11, 28, 33, 51 – 53, 88, 92, 112, 118 f., 139 f., 146, 167, 187, 279 Flikschuh, Katrin 9 f., 90, 249, 255 Frankfurt, Harry G. 126 f. Freudiger, Jürg 135, 138, 141 f., 158 Fricke, Christel 47, 49, 51, 205, 269 Funaba, Yasuyuki 235 Gadamer, Hans-Georg 106, 129, 211 García-Marzá, Domingo 240, 244 Gerhardt, Volker 13, 32, 227, 230 f., 233, 238, 245
Ginsborg, Hannah 43 Graband, Claudia 159, 176 Gregor, Mary 234 Grenberg, Jeanine M. 10, 49, 89 f., 149, 163 Guyer, Paul 219 Habermas, Jürgen 48 f., 246, 288 Haegerstroem, Axel 20 Hardie, William Francis Ross 88 Hariman, Robert 7, 299 Henrich, Dieter 24, 185 Herman, Barbara 10, 90, 265 f., 270 – 272, 288 Hill, Thomas 28, 252 Himmelmann, Beatrix 61 Hinske, Norbert 12, 26, 34 f., 40, 73, 80, 92 Hobbes, Thomas 8, 88, 221 Höffe, Otfried 8, 28 f., 37, 40, 43, 50 f., 53, 55, 75 f., 88, 113, 128, 137, 141 f., 183, 197 – 199, 219, 220, 236, 262, 266, 270, 292 Horn, Christoph 15, 21, 23, 219 – 222, 224, 227, 235 f., 241 f., 247 Höwing, Thomas 9, 14 f., 18, 36, 86, 89 f., 115, 120, 149, 175 Hruschka, Joachim 235 Hume, David 4 f., 87, 135 Hutter, Axel 67, 212 Illies, Christian F. R. 287 Johnson, Robert N. 10, 35 Kain, Patrick 9, 35 f., 39, 42 f., 74, 92, 200, 206, 260 Kaufmann, Matthias 235 Kaulbach, Friedrich 76, 138, 185 Keienburg, Johannes 230, 281 Kersting, Wolfgang 7 f., 219 – 221, 227, 264, 277 Klar, Samuel 219 Klingner, Stefan 16 f., 80, 161 Kneller, Jane 129, 185 Köhl, Harald 53 Kontos, Pavlos 159, 271 Korsgaard, Christine M. 10, 28, 35, 43, 129, 206, 287 Laberge, Pierre 20, 22
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Personenverzeichnis
Lee, Seung-Kee 30, 159, 171 f. Lee, Yeop 41 Lehmann, Gerhard 186 Liedtke, Max 183 Lohmar, Dieter 135, 224 Longuenesse, Béatrice 131, 135, 137 – 139, 141, 180, 185 Louden, Robert B. 51, 74 f. Löw, Reinhard 15 Luckner, Andreas 7 f., 73, 87 f., 213, 283 Ludwig, Bernd 30, 34 Macchiavelli, Niccolò 88 Makkreel, Rudolf A. 105 – 107, 129, 138 Mayer, Verena 21, 183, 268 – 271 McCarty, Richard 50 f., 163, 216 McDowell, John 195 Mellin, George Samuel Albert 140 Mertens, Helga 17, 61, 99, 183 f., 197 Moritz, Manfred 62 Munzel, Felicitas 22, 205 Murphy, James Bernard 39, 129, 203 Nagel, Thomas 116 Nakhnikian, George 39 Nussbaum, Charles 62 f., 297 O’Neill, Onora 10, 51, 55 f., 129, 200, 267 Ortmann, Günther 192, 235, 270, 293 Paton, Herbert James 20, 62, 89 Patzig, Günther 26 Pippin, Robert B. 221 Pleines, Jürgen-Eckardt 110, 221 Pollok, Konstantin 28 f., 31, 36, 40, 62, 238 Prauss, Gerold 140 Puls, Heiko 159, 161, 174, 176 f.248, 276 Reath, Andrews 9, 45 f., 51, 86, 90, 163 Recki, Birgit 21, 96 f., 101, 103 f., 112, 148, 185, 197, 200, 248, 255 Riedel, Manfred 184 f., 190 Rohs, Peter 138 Römpp, Georg 124, 219, 221, 243 Sassenbach, Ulrich 232 Scarano, Nico 19 Schadow, Steffi 221, 249
Scherzberg, Arno 7 Schmidt, Claudia M. 72, 76 Schmitz, Heinz-Gerd 243 Schroeder, Mark 30 Schüssler, Rudolf 232, 251 – 253, 258 – 260, 264, 266 f. Schwaiger, Clemens 1, 3, 7, 25, 35, 44, 62, 73, 207, 238 Schwartz, Maria 33, 39, 49, 52, 120 Seel, Gerhard 28 f., 31, 39 Seel, Martin 115 Seymour, Melissa 276 Shell, Susan Meld 112 Sherman, Nancy 253, 262 Staege, Roswitha 28 Stagneth, Bettina 219 Stange, Carl 26, 52, 62 Steigleder, Klaus 30, 131, 194 Stolzenberg, Jürgen 159 Sullivan, Roger J. 39, 174, 260 Taylor, Charles 111, 126 – 128, 166, 193 Thurnherr, Urs 48 – 52, 55 Timmermann, Jens 10, 42 f. Tonelli, Giorgio 81 Torralba, José M. 33, 58, 174, 176, 183, 185, 189, 198, 251, 255 f., 258 – 260, 265 – 267, 271 f., 284 Vollrath, Ernst 211, 230, 236 Wenzel, Christian Helmut 140 f. Wieland, Wolfgang 134 f., 139, 141 f., 185, 231, 274 Wike, Victoria S. 23, 36 Willaschek, Marcus 20, 54, 219 f. Williams, Howard 219 Wilson, Holly L. 216 f. Wittgenstein, Ludwig 181, 268 Wolff, Christian 39, 50 f., 183 Wood, Allen 28, 39 f., 74, 83, 129, 200, 220 Zimmermann, Stephan 19, 23, 131, 161, 165, 167, 169, 172 f. Zöller, Günter 123, 236, 282
Sachregister Absicht 2, 22, 26 f., 31 – 36, 38, 47 f., 71 – 73, 78, 174, 208 f., 213, 228, 230, 233, 240 – 245, 249 f., 252, 257, 278, 280, 291 Allgemeinheit/Allgemeingültigkeit 21, 24, 33, 37 f., 44 – 46, 50 f., 53 – 56, 76 – 78, 98, 109 – 111, 117 f., 133, 135, 137, 139, 144, 148, 151 f., 155, 158, 168, 190, 192, 195, 198, 207, 214, 220 – 222, 233 – 235, 281, 283 f., 286 angenehm/unangenehm 6, 10., 62, 70, 86 f., 89 f., 92, 95, 118, 128, 139, 142, 144, 151 – 157, 197, 204, 211, 213, 286, 289 – Empfindung/Gefühl 6, 86 f., 89, 92, 115, 119, 139 f., 154, 191, 196, 213, 293 – im Verhältnis zum Guten/Schönen 88, 89, 95 f., 125, 144 – 149, 179 – Zustand 76, 86, 92 f., 116, 120, 162, 175, 217 f., 247, 293 f. Anschauung 83, 105, 133, 136, 138 f., 148, 165 f., 168, 184 – praktische 170 – 173, 177 f., 199, 216 Anthropologie 16 f., 50, 55, 65 f., 71, 73 74 – 76, 78 – 81, 83 f., 109, 117, 126, 139, 164, 178, 193, 203 – pragmatische 1, 7, 70, 72 – 76, 79, 112, 118, 134 f., 187, 200 f., 203, 207, 210 – systematischer Ort 79 – 81, 83 Arglist, s. a. Verschlagenheit u. Gerissenheit 216 f. Assoziation 85, 118, 133 – 136, 180, 188, 190 – Regeln der 116, 118, 134 f., 136 f., 142 f., 154 f., 189 Ästhetik/Ästhetische 6, 75, 101, 108, 135, 140, 144, 148, 169, 242 – Parallele zur Praxis 111 f., 114, 129, 207, 283, 297 – transzendentale 169 ästhetisch 6, 12 15, 63, 102, 112, 129, 143, 146, 148, 185 f., 190 f., 214, 247, 293 f., 295, 297 f.
Ausnahme 38, 62, 77, 92, 204, 206 f., 214, 216, 233 – 235, 242, 248, 267, 272, 276 – 279, 281, 289 – 291, 294, 297, 299 ausüben/Ausübung 161, 221, 229 f., 232, 247, 249, 252, 260, 264, 282 – ausübende Rechtslehre 218, 230 – 238, 241, 248, 276, – ausübende Tugendlehre 218, 248, 273 – 275, 282, 296 Begehren/Begehrungen 18 f., 28 – 30, 46, 49, 86, 88 – 90., 115, 128, 147, 150 – 152, 156 f., 162, 167, 208, 218 Begehrungsvermögen 13 – 15, 18 – 20, 29, 31, 35, 44 f., 54, 64, 89, 114, 140, 147 – 150, 153 – 159, 164 – 166, 175, 177, 180, 187 – 191, 202, 204 f., 208, 213, 274, 293 – 295, 298 Begriffe 20, 46 f., 57 – 59, 70, 80, 83 , 86, 93, 96, 99 f., 106, 108 f., 112 f., 116, 121, 131, 136 f., 144, 149, 158, 161, 184, 189, 201 – des Glücks 9, 35, 37, 61, 87, 92, 116, 142, 155 – 157, 191, 195, 297 – des Guten und Bösen 145, 166, 168, 170 f., 173 – Freiheitsbegriff 2, 19, 58, 60, 91, 296 – Handeln/Wirken/Begehrungsvermögen nach Begriffen 14, 14 – 20, 31, 205 – Naturbegriff 2, 58 – 60, 63 f., 66, 296 – Vernunft-/Verstandes- 93, 169, 181, 252 Bestimmungsgrund (s. a. Beweggrund u. Triebfeder) 5, 15 – 17, 35, 44 f., 54 f., 89, 94 f., 144, 150, 156, 159, 164, 170 – 172, 174, 176, 188, 193, 198, 225, 275, 281 f., 284 f., 287, 295 Beurteilung 11, 22, 76, 79, 89 – 91, 95, 97, 109, 111, 119, 121, 127, 144, 166 – 168, 172, 178, 187, 189 – 191, 227 f., 246, 262, 264, 270 – 272, 286 – 289 – ästhetische 97, 100, 104 – 107, 111, 191, 197 – Kriterium der 110 – moralische 53, 167, 178,
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Sachregister
– praktische 114, 117 f., 149, 178, 270 f., 283, 287 Beweggrund/Bewegungsgrund 20, 63 f., 66, 70, 88, 90, 124, 154, 163, 169 f., 172, 176, 178, 189, 198 f., 202, 207 f., 211, 239, 269, 271, 281–285, 287 Charakter 1, 70, 76, 109, 119, 129, 167, 184 f., 199 – 208, 212 – 214, 216, 218, 255, 271, 276 – als Denkungsart 12, 180, 201, 205 – 208, 212, 214 – als Sinnesart 203 f. – schlechthin 201 f., 204, 206, 208, 213 Chemie 82 – 84, 126 Darstellung 94, 100 – 103, 105 – 111, 113 f., 120 – 123, 184, 188 Denkungsart 12, 96, 98, 202 – 204, 208 – 217, 237, 246, 249, 281, 289 – erweiterte 12, 210 – 214, 216 f., 246, 249, 289 – Maximen der 210, 212, 215, 249, 259, 263, 266, 274 – 276, 281 f. Dummheit 182, 215 Egoist (ästhetischer, moralischer) 211 Einbildungskraft 9, 11, 42, 85, 90 – 92, 94 f., 97, 100 f., 104 – 118, 121 f., 129, 135 – 138, 143, 154, 165 f., 180, 187, 190, 192, 196 f., 199, 202, 257, 284, 286, 295 – Ideal/Idee der 91 f.. 101, 113, 121 Empfindung 14 f., 81, 85 – 90, 92, 95 f., 103, 112, 114 – 119, 125, 137 – 140, 142 – 156, 162, 164 – 166, 175, 177, 180, 187 – 190, 196 f. – vs. Gefühl 139 f., 145, 151, 191, 261 Erfahrung 1, 3, 12 , 37, 46, 48, 50, 77, 79 – 82, 93 f., 101, 103 – 107, 116 – 118, 120, 133, 137 f., 140, 146, 152, 164, 167, 181, 184, 187 f., 191 f., 197 – 199, 224, 226 f., 230 – 232, 236 – 238, 241, 252, 255, 260 – 262, 264, 279, 293 – 295 Erkenntnis 4, 12, 15, 17, 58, 61, 66, 76, 80 f., 95, 98, 101, 116 f., 122, 126, 133 f.,
136 – 138, 140, 143, 148, 151, 153 f., 160, 169, 185, 213, 237, 287 – praktische 160, 164, 166 f., 170 – 174,178, 284, 287 – -kräfte 94 f., 105, 111, 114, 190 f., 193, 297 – -vermögen 79 f., 95, 109, 150 f., 155, 158, 161, 164, 180, 182, 188 – 190, 192 f., 196, 209 f., 274, 293 f., 297 erlaubt 162, 173 – 176, 185 f., 224, 231, 233 – 236, 248, 257, 273 – 275,277, 280 – 282, 286, 289, 294 Ethik 8, 39, 44, 51, 61, 88, 195, 197 f., 200, 225, 235 f., 252, 258 f., 262, 272 ethisch 8, 48 f., 51 f., 124, 190, 216, 219, 240, 244 f., 248 – 250, 252, 288, 298 Freiheit 2 f., 6 f., 17, 39, 43 f., 58, 60, 62 – 65, 71, 91, 115, 119, 159, 176, 184, 201 – 203, 205 f., 220 f., 223, 227, 232 f., 245, 249, 255, 273, 275, 281, 284, 287, 295 – 297., 299 – psychologische 115, 297 – transzendentale 17, 58, 221 Gebot 26 – 28, 34 – 38, 41, 46, 48 f., 65, 69, 91, 124, 192, 206, 209 f., 212, 214 f., 217, 223, 233, 236, 238, 243 f., 247, 253, 255, 257, 260, 266, 273 – 275, 287, 291 f., 294 Gefühl 4 – 6, 9 f., 12, 14, 78, 81, 88 – 90, 95, 108 f., 120, 124, 131, 139 f., 142 f., 145 f., 149 – 156, 159 f., 165 f., 168, 171 f., 175, 177, 186 f., 189, 199, 203 f., 208, 211, 213, 274, 281, 284 f., 295, 298 – der Lust/Unlust 6, 11, 15, 86 – 90, 95, 114 f., 119, 139 f., 142, 144, 147 f., 152, 155 f., 162, 164, 179, 190, 192, 202, 204, 293 – sittliches 96, 125 – des inneren Sinnes 139, 144 – der Sittlichkeit 96 Gemeingültigkeit 11, 144, 158, 207 Gemeinsinn/sensus communis 124, 128, 210 f., 216, 236, 299 Gemüt 89, 97, 111, 115, 135, 154, 183, 200, 256, 297 – -skräfte 95, 144 – 146, 156, 256 f. – -sstimmung 98, 108 – -svermögen 6, 177, 188, 193
Sachregister
– -szustand 94 f., 115 f., 133 f., 145, 153, 189 Genie 75, 94, 107 – 111, 114, 117, 122, 188, 242 Gerissenheit, s. a. Arglist u. Verschlagenheit 218, 236, 282, 290 Geschicklichkeit 1 f., 6 – 10, 13 f., 19, 25, 32 – 35, 40 f., 43 – 45, 47 – 50., 55, 57 – 68, 71 – 74, 79, 87, 91, 114, 120, 123, 125, 128 f., 152, 174 – 177, 187, 207, 209, 213, 218, 228, 247 f., 261, 293 f. Geschmack 69, 75, 81, 94, 98, 100, 107 – 110, 113, 118, 125, 144, 148, 164, 242, 283 – Reflexionsgeschmack 112, 144 f., 148, 204 – Sinnengeschmack 96, 112, 139, 144 – 146, 204 Gesetz 1, 3, 14, 16 f., 19 – 23, 26 f., 32, 38 f., 46, 51 – 55, 58, 60, 65, 72, 76 f., 82, 91 f., 108, 110, 116 f., 152, 170, 174, 183 f., 200, 206, 209 f., 221 – 224, 226 – 229, 231 – 234, 236, 238, 241, 243 f., 246, 249 f., 255 f., 261 f., 267, 273, 276 – 278, 284, 286 f., 291, 296 – der Assoziation 135, 141, 202 – Erlaubnis- 227, 230, 233 – 235, 238 f., 248, 272 – 275, 277 – 279, 287, 290 f., 294 – -gebung 2, 5, 58 f., 79, 122, 125, 152, 184, 221 – 223, 227 f., 234, 237, 239, 242, 46, 270, 296 – -mäßigkeit 83, 161, 170, 209, 281, 286 – Moral- 2, 8, 15 20 f., 27, 55, 60, 75, 87, 159 f., 162, 165, 168, 172 f., 176 f., 183 f., 186 f., 193, 198 f., 205 f., 240, 255, 263 f., 266 – 268, 271 – 277, 279, 281 f., 284 – 286, 291, 295 – Natur- 20 – 23, 54, 169 f., 183, 186, 188, 273, 277, 281, 284 f. – pragmatisches 91 f. – praktisches 20 f., 27, 42, 44, 47 f., 52, 55, 145, 152, 169, 205, 276 – Rechts- 205, 250, 256 f., 261, 272, 275, 277, 294, 297 – Vernunft- 162, 174, 176 f., 187, 234 f., 236 f., 238 f., 244 256 f., 272, 275 277, Gesinnung 53, 57, 177, 241, 243, 249 f., 254 f., 257, 260, 263 f., 267, 269, 282, 287, 297
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Glück/Glückseligkeit 1 – 6, 8 – 11, 13, 20, 34 – 46, 50, 52 f., 55 – 57, 59 – 61, 66 – 71, 73 – 77, 80, 83, 85 – 94, 98 f., 103, 109, 111 – 129, 162 f., 175 f., 178, 190 f., 193 – 195, 213, 218, 220, 222, 226, 241, 245, 251 f., 254, 257 f., 261 f., 279 – 283, 286, 288 f., 291 – 293, 296 Grundsätze/Grundsatz allg. 14, 19, 21, 23, 37, 43, 47 f., 50, 52, 54, 75, 92, 151, 202, 204 – 207, 212 – 214, 216, 229, 236, 261, 276, 279, 290 – der Gewohnheit 120 – Grundsatz der Glückseligkeit 169 f., 172 f. – der Moral/Sittlichkeit 172, 225, 250, 260, 284 – Mann von Grundsätzen 202, 205 – (mittlere) der Politik 229, 231 – 233, 238 f., 278, 291 – pragmatische 52 – praktische 47 – 49, 52 – 54, 56 f., 169, 172 – der Vernunft 168 f. Haltung 113, 153, 193 f., 208, 297 Hedonismus, psychologischer 9, 86, 89 Ideal
9, 91 – 94, 100 – 107, 111, 113, 118, 121 f., 197, 219, 235, 247, 293 – der Schönheit 4, 6, 93 – 96, 99 – 107, 111, 121 – der Vollkommenheit 97 – 99, 102, 114 Idee 6, 9, 11, 15, 84, 91 – 95, 98 – 114, 117 f., 120 – 122, 124 – 126, 128 f., 138, 142, 150, 153, 156 – 158, 163, 165, 175, 187 f., 190 f., 194 f., 197, 200, 205 f., 209 f., 213 f., 223 f., 226 – 229, 241, 253, 257, 261, 271, 293 – ästhetische/des Schönen 11, 85, 93 – 95, 103, 107, 109, 111 – 114, 137, 142, 184, 195 – ästhetische Normalidee 93, 100 f., 103 – 106, 114, 118, 121 – der Glückseligkeit 8, 11, 56, 85, 92 – 94, 98 f., 103, 109, 111 – 114, 117 f., 121 – 125, 129, 142 f., 150, 153, 156 – 158, 165 f., 171 f., 175, 178, 180, 187, 190 – 192, 196, 199, 201, 204, 211, 213, 216 f., 226, 229, 248, 252, 257, 261, 264, 271, 274, 276, 283, 285, 289, 293 f., 297 – 299
318
Sachregister
– sittliche 101, 121, 129 – Vernunft-, a. ästhetische 93, 100 f., 104, 106 – 108, 111, 121, 126, 178, 187, 209, 213, 244 Imperative 13, 25 – 28, 32, 36 – 40, 42, 44 f., 47 – 49, 52 f., 59, 65, 131, 174, 177, 194 – der Geschicklichkeit 27 f., 32, 34, 41, 61 – hypothetische/der Hypothetische 1, 9, 13, 18, 21, 25 – 31, 34, 36 f., 39 – 41, 43 f., 48, 57, 62, 66 f., 90 f., 163, 175, 194, 220, 227 – kategorische/der Sittlichkeit 1, 18, 21, 25, 27 – 30, 41, 44, 48, 64 f., 73, 75, 91, 170, 172, 205 – 207, 217, 219 f., 222 f., 228, 239 – 241, 243 f., 260, 269 f., 277, 281, 287 f. – Rechts- 219 f. Interesse 4, 8, 50, 55, 67, 89 f., 96, 124 f., 140, 147 – 149, 152 – 154, 159 f., 162 f., 165 – 167, 175, 178, 180, 188, 199, 204, 208, 211 f., 226, 243, 245, 294 – der Neigung 147 – der Vernunft 50, 147 f. Kasuistik/kasuistische Fragen 232, 248, 256, 258 f., 262 – 268, 272, 275, 277, 282, 295 Kategorien allg. 11, 30, 166 – praktische/der Freiheit 6 f., 11, 30, 64, 132, 150, 154, 159 – 180, 189, 191, 193, 199 f., 204 – 206, 248, 254 f., 271, 276 f., 283 – 285, 289, 293, 297 f. – theoretische/des Verstandes 64, 80, 83, 90, 93, 99, 116, 133 f., 135, 137 f., 140, 142 f., 144, 150, 159 f., 161, 168 f., 170, 298 Kausalität 13, 16 – 18, 22 f., 47, 54, 116, 161, 184, 275, 295 – 297 – aus Freiheit 3, 19, 63, 65, 184, 200, 287, 296 – der Klugheit 275, 295, 297 – der Natur 2, 9, 16 – 19, 41 f., 58 f., 61 – 71, 80 – 84, 96, 108, 113, 115, 121, 163, 170, 187, 201, 203, 208, 212, 230, 247, 284, 295 f. Klugheit – Privat- 2, 50, 59, 71 – 74, 78 f., 85, 217 – Staats- 61, 218, 220, 224 f., 227 – 230, 232, 235 f., 238, 243, 246, 248, 275 f., 281 f., 293
– wahre 229, 233, 274, 276, 282, 285, 289, 294 – Welt- 2, 35, 50, 59, 63, 71 – 74, 78 f., 85, 203, 208, 217, 282 Kultur 68 – 71, 92, 109 – der Disziplin 68 f., 71, 92 – der Geschicklichkeit 68 f., Kunst 2, 17, 35, 59 – 62, 69, 71, 82 – 84, 94, 98, 101, 107, 110, 126, 129, 188, 219, 230 Legalität 281
207, 186, 239 f., 243, 255, 271,
Mannigfaltige, a. d. sinnl. Wahrnehmung 33, 55, 95 – 99, 109, 126, 136 f., 159 f., 190 – der Anschauung 95, 165 – der Begehrungen 160, 165 f., 173, 178, 180, 199 Menschenverstand 50, 210, 215 Metaphysik 80 f., 83 f., 231 Mitteilbarkeit/mitteilbar 10, 12, 94 f., 113 f., 124, 128, 133, 140, 142, 150, 158, 200, 211, 217, 240, 279, 281, 286, 299 Moralist, politischer 224 – 227, 229 Moralität 46, 51, 53, 104, 125, 128, 162, 170, 191, 205, 222 f., 225, 228 f., 237, 240, 243, 281 f., 285 f., 270 Nachahmung 110, 117 f., 137, 197 Nachfolge 94, 109 f., 117 f., 137, 197, 214 Natur 2, 9, 16 f., 35 f., 38 – 42, 57, 63 – 65, 68 – 71, 74, 78, 80, 82, 102, 105 – 108, 113, 115, 123, 128, 150, 163, 187, 201, 203 f., 208, 212 f., 215, 224, 247, 252 f., 284, 295 – 298 – -gesetzformel 170, 172 – -lehre/-wissenschaft 20, 59 – 61, 65 – 67, 72, 79 – 85, 140, 164, 295, 298 – -mechanismus/Determinismus 18, 273, 284 – -zustand 222, 226, 234 – -zweck 15 f., 62, 68, 296 Naturell/Naturanlage 69, 77, 202 – 204, 216 Neigung 3, 6, 9 f., 38 f., 43, 50 f., 53 f., 60, 66, 69 f., 75, 77, 81, 85 – 87, 90 – 92,
Sachregister
104, 113, 125 f., 129, 147 f., 151, 163 f., 169, 189, 191, 194, 199, 207, 213, 215 f., 273, 275 f., 294, 297 Normativität 26, 28 – 31, 35, 37 – 40, 51, 55, 62, 90, 176, 192, 219 f., 235, 247, 261 Notwendigkeit 17 f., 21, 25, 31 f., 36, 38 f., 41, 49, 54, 64 f., 133, 135, 151, 169, 183, 190, 227, 229, 236, 239, 250 Nützliche, das 4, 26, 87, 128, 146 f., 149, 152, 156 f., 164, 174, 179 Nützlichkeit 97, 99 Öffentlichkeit 4, 80, 128, 223 f., 226, 228, 232, 234, 242 – 246, 279 – 282, 285 f., 288 Orientierung 8, 12 f., 46, 48, 52 f., 55, 74 – 76, 85, 91, 124 f., 129, 142, 150, 156 f., 163, 188, 191, 196 f., 204, 210, 236 f., 244 f., 271, 293, 300 Pflicht 36, 39, 51, 65, 119, 123 f., 162, 174, 176 – 179, 192, 195, 207, 210, 229, 236, 244, 248 – 268, 271 f., 274 – 279, 282, 285, 290 f., 294 f. – enge 80, 109, 147, 177, 249, 251 f., 254 – 256, 259 – ethische/Tugend- 250, 253, 255 f., 258, 260, 263 – 266, 268, 274, 276, 279, 285 – pflichtwidrig 162, 174 f., 176 f., 179, 277 f., 289 – Rechts- 177, 220, 225, 249, 251 – 254, 256, 277 – weite 248 – 252, 254 – 256, 258 – 267, 269, 275 f., 278, 282 Politiker, moralischer 193 f., 224 – 229, 233, 244 – 246, 249, 265 pragmatisch 11, 17, 20, 30, 34, 36 f., 40 f., 48 f., 52 f., 57, 65 f., 70 – 81, 91 f., 99, 117 f., 120, 131, 138, 149, 163, 176, 188, 201, 207, 210, 231 f., 252, 257, 259, 261, 264, 268, 279, 286, 288, 294 f. Praxis 1 f., 7, 12 f., 23 – 25, 31, 33, 111, 114, 129, 132, 161, 176, 180 – 182, 192, 194 f., 224, 230, 233, 235, 255, 270, 300 – Verhältnis zur Theorie 23 – 25, 180, 182, 233, 235, 268, 292
319
Prinzip(ien) 14, 24, , 32 f., 34, 43, 46, 59 f., 60, 63, 72, 76 f., 79, 81, 85, 90, 120, 140, 147, 149, 167, 169, 174, 180 – 182, 184 f., 190 f., 204 f., 211 f., 225, 231, 233, 237, 262, 267, 270, 290, 292, 296 – der Glückseligkeit 13, 42, 44 – 46, 56 f., 89 f., 124, 156, 158, 176, 192, 207, 274 – objektive 20, 25, 27, 187, 237 – praktische 20 – 23, 31, 38, 44, 50, 55, 58 f., 65 f., 83, 132, 161, 163 f., 169, 177, 180, 197, 205, 213, 216, 269 – der Publizität 218, 227, 234, 239 – 246, 248, 272, 278 – 283, 285, 287 – 291 – Rechts- 221 – 232, 238 f., 241, 244 f., 248, 261, 272, 275, 288 – der Sittlichkeit/der Moral 13, 44 – 46, 75, 86, 158, 177, 198, 202, 206, 230, 237, 271, 282 – der (Staats‐)klugheit 225, 229, 234, 277 – subjektive 13, 20 f., 25, 38, 43, 45, 47, 49 f., 52 – 57, 65 f., 68, 74 f., 78, 91 f., 94, 106, 110, 115 f., 119, 124, 128, 131 f., 136 – 138, 140 – 142, 151, 153 f., 158, 165, 186, 191, 193, 199 f., 205, 217 f., 229, 234, 239, 249, 252 f., 261 f., 276 f., 281, 283 – 287, 289, 293 – der Urteilskraft/der Beurteilung/der Reflexion 184, 190 f., 211 f., 237, 272, 287 – der Zweckmäßigkeit 185, 270, 296 Rationalität 8, 10, 18, 22, 26, 28 f., 36, 40, 43, 70, 80 – 82, 88, 90, 107, 119, 128 f., 200, 236, 247, 269, 274, 293, 299 Recht 12, 72, 177, 185, 218 – 235, 237, 239 f., 241 – 246, 255, 285 f., 294 f., 298 – öffentliches 224, 243 f., 245 – -slehre 218 – 220, 223 – 225, 230, 232 f., 235, 239 – 241, 245, 247 – 249, 258, 264, 272, 274 – 276, 278, 281, 283, 287 f., 291 – Un- 239, 241, 245, 280, 285, 291 – -szustand 69, 221, 224 – 226, 246 Reflexion 6 f., 12, 50, 89, 114, 118, 120, 122, 127, 129, 131, 137, 155, 166, 172, 177 f., 180, 183 – 189, 191 – 197, 209 f., 213, 217, 254, 270, 274, 276, 284 f., 292 f., 297 f. Regress, infiniter 171, 181, 192, 248, 268 – 272, 282 f., 285, 287, 289
320
Sachregister
Sätze 13, 28 – 30, 33, 41, 47, 57, 59 – 63, 66, 110, 112, 134, 295 – analytische 26 – 30, 40 f. – moralisch-praktische 2 f., 13, 18, 48, 58, 60 f., 88, 185 f., 202, 275 – synthetische 27 – 30, 41 – technisch-praktische 2 f., 13, 17 f., 29, 32 f., 48, 57, 59 – 64, 66 f., 81, 112, 161, 175 f., 185, 212, 238, 293, 295, 297 f. – theoretische 24, 62, 110 Schema/Schematismus 161, 166 – 168, 170 – 172, 175, 178 – 180, 185, 191, 272, 283 – 285, 289, 299 Schöne, das 69, 88, 94 – 105, 107, 111, 117, 124 f., 140, 144, 146, 148, 158, 184, 283 – anhängende/adhärierende 96 f., 102 – freie 96 f., 102, 107 Seelenlehre 20, 79 – 83, 126, 140 Sinn, innerer 18, 78, 80, 82, 89, 115, 136, 138 – 140, 143, 191 Sinnlichkeit 36, 42 f., 57, 96, 104 – 106, 117, 135, 139, 145, 159, 162 f., 165, 169, 199 f., 202, 209, 247, 284 – 286, 298 Sittlichkeit 4 f., 50, 52 f., 77, 98 f., 101, 103, 119, 121, 125, 158 f., 167, 169, 177, 184, 195, 199, 203, 212 – 214, 216, 22, 229, 237, 250, 252 – 254, 257, 259, 264, 273, 280, 284 f., 291 Spielraum 218 f., 232, 241, 248, 250 – 266, 272, 274 – 276 Subjektivität 15, 22, 48 f., 51, 56, 99, 110, 114, 132 f., 135, 138, 143 f., 151 f., 184, 216, 250, 271, 292 Subsumtion 46, 54 f., 110, 171, 183 – 186, 188, 198, 221, 232, 263 – 268, 277, 284 f. Synthesis/synthetisch 20, 30, 41, 93, 107, 133 f., 136 f., 141, 143, 154 System/systematisch 5 f., 9, 11 f., 25, 43, 57, 67, 70 – 72, 76, 79 – 83, 86, 118, 122, 125, 129, 131 f., 138, 153, 160, 166, 177, 184, 217, 228, 232, 246 – 148, 252, 296, 298 Talent 109 f., 114, 119, 171, 180, 188, 197, 215, 256 f. Tauglichkeit 68 f., 99, 114, 166, 226, 256
Technik/technisch 16 f., 22, 33 f., 39, 41, 48, 61 – 63, 65 f., 83, 78, 81, 99, 119 f., 224 f. Temperament 119, 201 – 205, 207 f., 210, 212 f. Theorie 11, 17, 23 – 25, 31 f., 41, 46, 52, 57, 61, 63, 71 f., 78 f., 83, 85, 87 f., 92, 117, 120, 125, 129, 140, 155, 174 f., 178, 180 – 182, 211, 230, 233, 235, 243, 246 f., 261, 268, 295, 300 Torheit 210, 215 Triebfeder 63 f., 66, 70, 88, 90, 154, 163, 169 f., 172, 176, 178, 189, 198 f., 202, 207 f., 211, 269, 271, 281 f., 283 – 285, 287 Tugend 119, 192, 195, 198, 203, 207, 213 f., 250, 253 – 255, 260, 263 f., 267, 273, 282, 289 f., 297 – -lehre 123 f., 178, 218, 236, 239 – 241, 248, 250, 259 f., 262, 266, 272 – 276, 278 f., 281 f., 288, 296 – -pflicht 250 – 252, 254, 256, 259 – 268, 275 – 282, 286, 289 f., 292 – -verpflichtung 250, 255, 260 Typik der (reinen) praktischen Urteilskraft 11, 145, 160, 166, 168 – 172, 175, 178 – 180, 186, 191, 199, 239, 267, 274, 283 f., 286, 288 f. unerlaubt 162, 173 – 176, 185, 274, 289 Universalität 76 f., 96, 158, 183, 186, 188, 195, 224, 234, 236. 292 Urteil 4, 11 f., 20, 26, 30, 61, 71, 78, 81, 89, 94 – 97, 100, 102, 109 – 111, 113, 115, 119, 121, 131 – 135, 137 – 163, 165, 167 – 169, 174, 178 – 180, 183, 185 f., 191, 194, 196, 199, 204, 208, 211 f., 215 – 218, 224, 232, 236 f., 241 f., 246, 256 f., 261, 263 f., 266 f., 269 – 271, 275 f., 281 f., 286, 289, 294 f., 298 f. – ästhetisches 88, 94 f., 97, 100, 111, 131 f., 137, 140, 143 f., 146 – 150, 152, 156 f., 158, 191, 211 – ästhetisch-pathologisches 132, 139, 142 f., 144, 146, 149, 151 f., 154, 156, 159 f., 165, 167, 177 f., 179 f., 204, 208, 215
Sachregister
– empirisch-praktisches 113 f., 132 f., 143, 146, 149, 150 – 154, 156 – 158, 160, 179 f., 191, 196, 204 – Erfahrungs- 132 f., 135, 137 – 139, 141, 145, 165, 281 – Erkenntnis- 131 – 133, 137 f., 140, 143, 149, 151, 178 f., 191 – der Geschicklichkeit 152 – Geschmacks- 94 – 97, 99 f.,102, 111, 124 f., 140, 143 – 145, 148, 158, 211, 242 – der Klugheit 131 – 133, 137 f., 142, 149 – 151, 153, 173, 179 – logisches 143 – praktisches 146, 148 f., 156 f., 159, 191 – Wahrnehmungs- 10, 70, 83, 114, 116, 132 – 135, 137 – 145, 149 – 151, 153 f., 158 – 160, 178, 189, 196, 204, 213, 224, 281 Urteilskraft 6, 8, 11, 43, 52, 57, 67, 109, 130, 138, 145, 161, 166 f., 170 – 173, 180 – 186, 188 – 190, 197 – 199, 206, 212, 227, 230 – 232, 236 – 239, 248, 252, 255, 257 – 260, 262 f., 265 – 267, 270 – 272, 274 – 277, 283 – 288, 292 f., 295 – 299 – ästhetische 50, 52, 100, 190, 296 – bestimmende 184 – 186, 267 – 270 – reflektierende 62, 110, 129, 182 – 186, 189, 211, 232, 265, 268, 270, 284, 297 – praktische vs. allgemeine 173, 178, 185, 287 Verallgemeinerbarkeit 50, 167, 184, 240, 244 f., 277 Verschlagenheit, s. a. Arglist u. Gerissenheit 201, 216 f. Vollkommenheit 94, 96 – 100, 111, 114, 124, 150, 157, 178, 249 – 254, 256 f., 282, 291 f. Vorschrift (praktische) 34, 38, 43 – 45, 48 f., 52 f., 57, 59 f., 60, 63, 81, 89, 161, 171, 209 f., 212, 215, 235 Vorstellung 4, 9, 13 – 24, 26 f., 31, 34, 43, 53 f., 64 – 66, 85, 89 f., 94 f., 97 f., 104 f., 107 – 110, 112 – 118, 124, 127 f., 131, 133 – 137, 139, 141 – 148, 150 f., 154 – 158, 165 f., 180, 184, 187 – 193, 196, 274, 297
321
Wahrnehmung 75 – 77, 89, 102 f., 111, 116, 120 f., 123, 132 – 139, 141 – 143, 150 f., 153 – 155, 159 f., 165, 178, 180, 188 – 190, 196, 271 Weisheit 7, 84, 209 f., 238, 247, 259, 290, 293, 296, 299 – Staats- 224 f., 227 f., 236, 238, 247 Wille 2, 5, 11, 13 – 19, 21 – 27, 29 – 34, 38 f., 41 – 43, 46 f., 49, 51, 54, 58 f., 63 f., 66, 68, 87, 89, 115, 151, 156, 160 – 165, 167, 170, 176 f., 182 f., 187, 199, 202, 204 f., 207 f., 211, 222 f., 225 – 227, 233, 242, 260, 269, 284 f., 292, 295, 297 Willensgesinnung 12, 60, 160 f., 164, 167, 170, 173 f., 177, 188, 200, 202, 204 f., 214, 239, 255, 279 Willkür 18, 45, 50, 54, 62, 64 f., 89, 91, 163, 207, 221, 245, 249 f., 256 f. Wissenschaft 31 f., 60 f., 69, 71 f., 76, 79 – 84, 109 f., 122 f., 125 f., 175, 181, 188, 197, 228 Witz 109, 171, 215 Wohlgefallen 81, 95 – 98, 101, 105, 125, 140, 144, 146 – 148, 150 f., 164, 204, 283 Zivilisierung 70, 124, 247 Zweck – beliebige Zwecke 5 f., 14, 31, 33 f., 37, 41, 50 f., 61, 99, 123, 174 – 176, 194 f., 209, 249, 257, 293 – empirische Zwecke 9 f., 32, 42, 48, 59, 63 f., 65 f., 71, 83, 86, 88, 90, 92 – 94, 98 f., 102, 104, 112 f., 118, 121, 128 – 130, 145, 149, 153, 157 f., 180, 192, 197, 199, 217, 237, 257, 283, 295, 298 – letzter Zweck der Natur 67 f. – moralische Zwecke 10, 18, 25, 36, 42 f., 63, 65, 121, 123, 129, 287 – Natur- 15 f., 62, 68, 296 – wesentliche und allgemeine Zwecke 11 f., 102 – 104, 122 – 124, 128 – 130, 143, 153, 157, 166, 175, 177 – 180, 187, 190 – 193, 195, 197, 199, 205, 216 f., 229, 237, 247, 261, 271, 274, 281 – 283, 285 f., 288 – 291, 295, 297 f. – der zugleich Pflicht ist 65, 250 f., 261
322
Sachregister
Zweckbestimmung 1, 3, 10, 19, 45, 57, 60, 63 – 68, 73 f., 76, 83, 85, 102, 104, 119 f., 145, 153, 157, 160, 287, 293, 297 f.
Zweckmäßigkeit 15 f., 50, 69, 94, 97 – 100, 102, 105, 108 – 111, 114, 118, 148, 150, 152, 157, 185, 204, 211, 232, 265, 270, 283, 296