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German Pages 192 [196] Year 1983
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
w DE
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von
Ernst Behler · Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel
Band 11
1983
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche von
Ursula Schneider
1983
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Mazzino Montinari via d'Annunzio 237, 1-50135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlin 33
CIP-Kurztitelaufnähme
der Deutschen Bibliothek
Schneider, Ursula: Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche / von Ursula Schneider. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 11) ISBN 3-11-008737-5 NE: GT
© Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung - Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit Sc Comp. Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
Ε. und Η . S.
Vorwort „Was ich finde, was ich suche —, stand das je in einem Buche?" Wer so fragt, ist kein Verächter der Literatur, sondern Nietzsche, Autor eines stupenden schriftstellerischen Werkes. Dabei meint diese Äußerung mehr und anderes, als daß das Gefundene wie Gesuchte eben in den bisherigen Büchern nicht zu finden sei. Nach Giorgio Colli 1 hat Nietzsche, der radikale Zweifler, niemals doch das Tun des Schriftstellers als solches „entheiligt". Man muß sich jedoch hier hüten vor eindimensionalen Antworten: Nietzsche selbst bezeichnet sich einmal als „homo illiteratus" und wirft die Frage auf, ob im heutigen westlichen Weltzustand überhaupt jemand sich einen „großen Menschen" ohne „Werke" vorstellen könne. Es gibt also Größe ohne Werk? Zarathustra ist kein Schriftsteller. Festzuhalten ist, daß Nietzsche die einverleibte Ehrfurcht des Abendländers vor dem geschriebenen Werk, allerdings eher am Rande und nur aus dem Gesichtswinkel möglicher philosophischer und „meditativer" Lebensführung, und damit sich selber einer Kritik unterzieht. Hier wird wiederum ein Buch zu Nietzsche vorgelegt, ein Tun, das noch auf andere Weise und auf anderer Ebene auf die Fragwürdigkeit des Schreibens stoßen läßt: ein Blick allein in die Internationale Nietzsche-Biliographie von Reichert/Schlechta von 1968 ist entmutigend, erst recht ein Blick auf die seitdem und bis in die Gegenwart hinein noch bedeutend gestiegene Flut von Veröffentlichungen. Niemand ist imstande, die gesamte Literatur zu Nietzsche aufzunehmen. Wozu dann die immense Fülle um einen weiteren Titel vermehren? Der Wert philosophischer Bücher beschränkt sich nicht auf einen „objektiven" Erkenntniszuwachs, der bestenfalls, aufgefaßt als „Information", nur noch von Computern gespeichert werden könnte. Der Sinn von Philosophie liegt allein in der Beschäftigung mit ihr, im Philosophieren. Die vorliegenden Ausführungen sind das Resultat eines sich über viele Jahre erstreckenden Hinwendens zu Nietzsches Gedanken wie gleichermaßen eines Ruhenlassens. Dabei kommt es zu der Erfahrung, daß, je mehr man sich auf sie einläßt, vor allem eines in Nietzsches Büchern zu finden ist: ein sich immer 1
G. Colli, Nach Nietzsche, Frankfun 1980, S. 139
VIII
Vorwort
verstärkender Geschmack der Freiheit — Schwund von Freiheit wäre geradezu „Schwindsucht der Philosophie". Immer noch ist Nietzsche anstößig im besten Sinn und nur schwer auflösbar in die Neutralität einer „Lehrmeinung". Leser wenden sich erzürnt ab, weil vielleicht die Diskrepanz zur Befangenheit in den scheinbar fraglos gegebenen Denk- und Urteilsgewohnheiten der Gegenwart als zu stark empfunden wird; so geschieht es immer noch, daß die Philosophie des Ubermenschen als eine der Menschenverachtung aufgefaßt wird. Solche Urteile lassen sich nicht aufheben, aber sie sind keine über Nietzsche, sondern Geschmacksurteile des Lesers in philosophicis. Ärgernis zu sein ist zudem stets ein Beweis von Lebendigkeit Diese Fähigkeit, Anstoß zu erregen wie auch Begeisterung zu wecken, gehört zwar nur zum Vorhof der Nietzschischen Philosophie, verweist aber doch, wie alles bei ihm, zugleich auf das Zentrum seines Denkens, das nicht wieder auf eine Formel gebracht werden kann und sich unverwechselbar überall zeigt. Es gibt kein Denken ohne Vorurteile — einige der hier leitenden sind zum Beispiel die, daß Nietzsche immer noch das letzte europäische Ereignis in der Denkgeschichte darstellt und eine Zäsur, daß der Reichtum und die Reichweite seiner Einsichten wie auch der Gestus ihrer Darbietung noch keineswegs eingeholt oder gar überholt sind, daß jedes heutige Denken, wenn es nicht hinter ihn zurückfallen will, durch ihn hindurchgegangen sein und sich an ihm bewähren muß, nicht zuletzt im Hinblick auf die Frage, welchen Sinn überhaupt so etwas wie Philosophie „nach Nietzsche" 2 in einer immer mehr und unaufhebbar technisierten und standardisierten Zeit haben kann. Eine Interpretation darf nicht vergessen, daß Nietzsche in seine Absichtserklärungen aufnahm, das, was er „wollte und nichtwollte", „so heimlich" zu sagen, „daß alle Welt es überhört" 3 . Die Auslegung eines so komplexen Bedeutungsfeldes, wie es Nietzsches Gedanken zum „Glück" darstellen, muß sich also bemühen, gut, und das heißt hier vor allem langsam, zu lesen, „rückund vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Türen" 3 . Die Darstellung versucht, Nietzsche in seiner unzeitgemäßen, das heißt, anderem als der Zeit gemäßen Dimension ernst zu nehmen und dabei keine Türen zuzuschlagen. Nietzsche bietet keine ausgeführte Philosophie des Glücks, keine Schrift trägt den Titel „Uber das Glück" o.ä. Dennoch legt ein Nachspüren seiner das ganze Werk durchziehenden Gedanken zum Thema Grundlegendes zum Phänomen „Glück" wie ebenso zu seinen Antrieben zum Philosophieren frei und läßt auf einen von verschiedenen Seiten ausgehenden, 2 3
Colli, a . a . O . Vorrede zur „Morgenröte" 1886
Vorwort
IX
eindeutig gerichteten Zug stoßen. Das soll das Wort „Grundzüge" im Titel ausdrücken, und sein Genitiv muß als objectivus und subjectivus gelesen werden. Eine solche Interpretation muß dessen eingedenk sein, daß sie nicht Nietzsche als Ganzen erfaßt. Dies ist keiner Auffassung möglich wegen der ungeheuren Vieldimensionalität seiner Schriften und Erscheinung. An dieser Stelle möchte ich Herrn Professor Dr. Wolfgang Struve, ohne dessen Anregungen und stete Anteilnahme und Förderung die Monographie in der vorliegenden Form nicht denkbar wäre, meinen ganz besonderen Dank aussprechen. Freiburg i. Br., Juni 1983
Ursula Schneider
Inhalt 1.
Einleitung
2.
Nietzsches Denken zur Zeit der Geburt der Tragödie als Ausdruck seiner philosophischen Grundintentionen und die Konsequenzen für das Glücksproblem Die Frage nach dem Glück — eine große Frage? Die Grundmotive bei Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Griechen Die Heiterkeit des theoretischen Menschen oder das Glück der Wissenschaft als Problem Das Glück der Aufklärung (Erdenglück) als Folge des Sokratismus Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung Die Heiterkeit des Sokrates — eine Ausflucht vor dem Glück des Dionysos Das Problem der Auslegung des Dionysischen Dionysos als ekstatischer Gott Die dionysische Welt Leid und Lust in der dionysischen Welt Die dionysische Natur Die Natur der dionysischen Lust, ihre Wirklichkeit Erlösung
2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.5.1. 2.5.2. 2.5.3. 2.5.4. 2.5.4.1. 2.5.4.2. 2.5.4.3. 2.5.4.4. 3. 3.1.
Nietzsche als Erzieher zum Glück? Nietzsches frühe Selbstdarstellung in der dritten und vierten Unzeitgemäßen Betrachtung und die Frage nach dem Glück oder Schopenhauer und Wagner als eine „Semiotik" Nietzsches . . . 3.1.1. Die tragische Erziehung 3.1.2. Das Glück der Selbstsucht oder Glück und Egoismus 3.1.3. Glück, Schein und das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit . . 3.2. Ausblick auf den Zarathustra 3.2.1. Allgemeine Bemerkungen 3.2.1.1. Die Bedeutung der Natur im Zarathustra 3.2.1.2. Beziehungen zum Symbolismus
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12 12 14 18 22 26 26 30 35 38 44 46 61 72 79
79 79 84 98 108 108 109 111
Inhalt
XII
3.2.2. Zarathustra als Lehrer des Glücks 3.2.2.1. Das Problem einer Lehrbarkeit des Glücks 3.2.2.2. Glück, Wille zur Macht und Mystik
118 118 130
4.
Nietzsche als „Taxator" des Glücks
142
5. 5.1. 5.2.
„Morgenländischer Uberblick" über Nietzsche 155 Glück und rechte Erkenntnis 158 Das Glück der Erlösung durch die ewige Wiederkehr des Gleichen 161 Amor fati 164
5.3.
Bibliographie
170
Personenregister
177
Sachregister
179
1. Einleitung 1.1. Jede Philosophie hat sich — ausdrücklich oder unausdrücklich — der Frage nach dem Glück zu stellen und hat es auch getan, wenn auch vielleicht am wenigsten die Richtung, die „Glück" eigens zum Inhalt hat und in die Philosophiegeschichtsschreibung als Hedonismus oder Eudämonismus eingegangen ist. Die Art, wie sie das Glück einwandfrei zu fassen versteht, und die Weise, in der sie selbst zum Zeugnis dieses Glücks wird, gibt vielleicht sogar den Maßstab für den Rang einer Philosophie überhaupt ab, vorausgesetzt, daß von vornherein alles ferngehalten wird, was es in die Nähe von Genuß und Behagen einerseits, ganz unbestimmt vorgestellt als ein in irgendeiner Weise „angenehmer" und „wünschenswerter" Zustand, andererseits in die vom Zufall der äußerlichen Glücksumstände (Fortunatradition) 1 rücken könnte. — Hier ist die eigentlich volkstümliche Auffassung des Weisen als des Menschen, der von allem solchen sich unabhängig zu machen versteht und wohl für das allgemeine Vorstellen am reinsten im Typus des Stoikers repräsentiert wird, durchaus im Recht. — Geht man von der — sprachlich wie sachlich — überaus engen Beziehung von „gelingen" und „Glück" 2 aus, so könnte man formulieren: eine Philosophie ist in dem Maße gelungen oder geglückt, in dem sie dem Phänomen des Glücks gerecht zu werden und es in sich aufzunehmen versteht. Ein solcher Satz sagt alles und nichts; er bedarf der sorgfältigen Ausdeutung und Exemplifizierung und muß durch genaues Nachzeichnen der Gedanken Nietzsches mit Inhalt erfüllt werden. Es wird zu zeigen sein, daß Nietzsche mit „Glück" etwas ebenso Komplexes wie Einfaches faßt und daß nichts damit gewonnen ist, in der heute so beliebten Art eine oder vielleicht auch mehrere „Thesen" zum Glück aus dem Werk abzulösen, um sie zu beliebiger Verfügung zu haben. Ist doch das Wesentliche an einem Gedankengang nie so sehr das „Ergebnis" als fixierbares Resultat; vielmehr ist er selbst und so auch seine Darstellung schon „die Sache selbst". Wird der Akzent nicht so sehr auf
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Tiefer gesehen können diese zufälligen Glücksumstände für Nietzsche schon deshalb kein Problem sein, weil es für ihn den Zufall nicht gibt, vgl. z.B. F.W. 109, auch weil die „innere Kraft unendlich überlegen" ist (KAW VIII, 1 - 2 (175) = WzM 70, 1885/86). „Glück" — Grundbedeutung: „Art, wie etwas ausschlägt, gelingt", in: Deutsches Wörterbuch, Hermann Paul, 1. Auflage Halle 1897.
2
Einleitung
das Fixierbare eines Gedankens gelegt als viel eher auf seine Bewegung, so ist natürlich nicht unscharfes oder beliebiges Denken gemeint: das Gegenteil ist der Fall. Hierbei ist nicht nur die Aufgabe, die in überraschender Fülle vorliegenden und aus allen Zeiten seiner Produktion stammenden Stellen zum Glück zueinander in Beziehung zu setzen3, sondern sie sind ebensosehr in ihrer engen Verflechtung mit den anderen Grundgedanken Nietzsches zu sehen. Das heißt: nicht nur da, wo Nietzsche eigens von „Glück" spricht, ist es gegenwärtig, sondern es ist mitanwesend im Willen zur Macht, im Tod Gottes, in der ewigen Wiederkunft, in dem Ubermenschen und vor allem in dem, was der späte Nietzsche als „amor fati" zu denken versucht. Im letzten Sinne wäre es nur zu fassen, wenn es gelänge, das aufzuhellen, was Nietzsche, der nach Löwith 4 ein „Liebhaber der Ewigkeit" und nach dem Zeugnis des Zarathustra „nach der Ewigkeit brünstig" 5 war, unter eben dieser Ewigkeit verstand. Dies gehört zum Allerschwierigsten bei einem angemessenen Nietzscheverständnis. Nietzsche denkt „Ewigkeit" nicht in „herkömmlicher" Weise als der Zeit entgegengesetzt6, da er auch diese ganz originär faßt. Zumindest ist das Verhältnis Zeit-Ewigkeit bei ihm eine offene Frage. Somit muß auch die in der Tradition weitgehend unangefochtene Unterscheidung von wahrem, ewigem Glück als Glückseligkeit und zerbrechlichem, irdischen Glück wesenlos werden oder neu zu bestimmen sein. Genau dies ist Nietzsches Schwierigkeit, dem der Unterschied zwischen den „wirklichen und scheinbaren Beförderungen des Menschenglücks"7 aus der Geschichte durchaus zurückkommt, wenn auch — seiner neuen metaphysischen Position ohne „Hinterwelt" gemäß — in verwandelter Form. Hier liegt eine Wurzel der Spannung, die zwischen dem „Glück des letzten Menschen" und dem, was Nietzsche in den Bruchstücken zu den Dionysos-Dithyramben sein „Jenseitsglück" nennt, herrscht. 1.2. Die Frage nach dem Glück könnte mit einem Schein von Recht für eine psychologische gehalten werden. Demgegenüber muß festgehalten werden, daß Nietzsche, so sehr er selber Psychologe ist, dennoch nie an dieser Frage aus rein psychologischen Antrieben heraus interessiert, ist, sondern sie immer von seinem philosophischen Grundansatz her durchdenkt. Allerdings 3
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7
Eine Aufgabe, die im Rahmen einer Dissertation ohnehin nur in ungenügender Weise erfüllt werden kann. K. Löwith, Nietzsche, Auswahlband der Fischer-Bücherei 1956, Einleitung S. 7: „Er ist der große Kritiker unserer Zeit, und als Philosoph ein Liebhaber der Ewigkeit." Z, Die sieben Siegel, 1884. siehe dazu Joan Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, Diss. Freiburg 1958, U. Ma., S. 59 u. 279. 3. U.B., 3.
Die Frage nach dem Glück in der bisherigen Nietzsche-Literatur
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darf man sich unter „philosophisch" nicht eine absichtliche Mystifikation dessen vorstellen, was „eigentlich" psychologisch geklärt werden müßte. Was psychologisch geklärt werden kann, muß auch so erklärt werden. Gewiß kann auch die Psychologie nach dem Glück fragen, nur wird das Phänomen, das sie so erfaßt, niemals das philosophisch relevante sein, weil sie es von ihrer Fragestellung her gar nicht zu treffen vermag. Ihr Glück ist ein anderes als das der Philosophie. Sie kann nur nach dem fragen, was am Glücksgefühl beschreibbar, empirisch erklärbar und überprüfbar ist, kann aber nicht die Frage nach dem Wesen des Glücks stellen, denn dann wäre sie Philosophie. Man muß sich nur einmal klargemacht haben, auf welchen nicht mehr zur Frage gemachten Vorentscheidungen die Forderung nach psychologischer Erklärung beruht, um alle Lust am Psychologisieren, wie es heute oft betrieben wird, zu verlieren. Solche Vorentscheidungen sind: 1) Das eigentlich Wirkliche ist das empirisch und experimentell Faßbare und Beschreibbare. 2) Glück ist ein mit Mitteln des Logos beschreibbares Phänomen — während doch in der Philosophie, speziell in der Nietzsches, das Logische selber erst auf seine Glaubwürdigkeit hin zu befragen wäre. 3) Der Wille zur Entlarvung, der sich in einer bestimmten Art von Psychologie ausspricht, wird selbst „absolut" gesetzt, als etwas nicht mehr zu Entlarvendes genommen. 4) Es wird übersehen, daß die Forderung nach Aufhellung des Phänomens des Glücks allein und legitimerweise nur durch die Mittel einer bestimmten Wissenschaft, eben der Psychologie, die ja bloß eine Perspektive sein kann, auf einer Wissenschaftsgläubigkeit beruht, die als naiv gelten muß, besonders wenn sie als Vorurteil an eine Philosophie wie die Nietzsches herangetragen wird, die es unternimmt, das Wesen von Wissenschaft ganz neu zu denken und gemäß der neuen Tugend der Redlichkeit neu zu bestimmen. Mißt die Psychologie Nietzsches Glück mit ihrem Maß, so mag allerlei Interessantes zu Tage treten, wenn auch bloß Interessantes. Ihr Maß ist dem zu Messenden nicht angemessen. 1.3. Das Problem des Glücks ist — trotz der überreichen Belege der Quellen — bisher kaum und in seiner wesentlichen Dimension noch gar nicht in den Gesichtskreis der Forschung getreten 8 . Zwar werden häufig Stellen zi-
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Eine gewisse Ausnahme stellt hier die englischsprachige Literatur dar, wie überhaupt in den angelsächsischen Ländern die Hedonismusdiskussion lebhafter geführt wird als bei uns. Im Zusammenhang eines Vergleichs von Nietzsche und Spinoza behandelt Μ. E. Spencer, Spinoza and Nietzsche — a comparison, in: The Monist Bd. XLI, Chicago London 1931, S. 67—90, reprinted New York 1966, auf den Seiten 76—80 die Frage von happiness, pain and pleasure, wobei er vor allem auf die Unterschiede der beiden Denker hinzielt. Er zeigt in einer Anmerkung (32) auf, daß Nietzsche das Thema des Glücks - äußerlich gesehen, müßte man hinzufügen — in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Theorien sich aufdrängte:
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Einleitung
tiert, die auf das Glück Bezug nehmen — schon deshalb, weil diese in der Regel zu den zentralen gehören —, aber dieses wird nicht eigens erörtert, vielmehr muß es von den jeweils verfolgten Intentionen der Interpretation aus gesehen fast als ein decorum, das auch fehlen könnte, und als überschwengliche Redeweise erschienen sein, während doch nach dem Ursprung dieses Uberschwangs zu fragen wäre.
„It is largely in criticism of the hedonistic and utilitarian interests of his day, that Nietzsche considers the value of happiness, pain and pleasure . . . " In diesem Zusammenhang wäre auch daran zu erinnern, daß Nietzsche mit seinen — vor allem im Nachlaß breiten Raum einnehmenden — Erörterungen von Lust und Unlust auch mit einer Zeitströmung steht, dem Pessimismus, der zwar nicht nur, aber doch auch eine Art Modephilosophie war. Als zufällig herausgegriffene Belege aus der Fülle der zeitgenössischen Literatur mögen — neben Schopenhauer und E. v. Hartmann als den Hauptträgern — genannt sein: E. L. Fischer, Das Problem des Übels und die Theodizee, Mainz 1883 mit dem bezeichnenden ersten Kapitel: „Begriff und Arten des Pessimismus" und dem folgenden „Der Zweck der Welt". Oder: O. Zimmermann, Die Wonne des Leids, 2. Auflage Leipzig 1885, in dessen Vorwort — nebenher bemerkt — der Autor sich auf Nietzsche beruft, ohne aber dadurch das Niveau seines Buches heben zu können, so daß es bloß als zeittypisch und in dieser Hinsicht als interessant gelten kann. Endlich Otto Caspari, Der Zuammenhang der Dinge, Breslau 1881, dessen Kapitel „Ethische Probleme von Elend und Übel im Weltall" Nietzsche nach W. Wurzer (s. Literaturverzeichnis), S. 134, gründlich gelesen hat. Vorausgreifend sei hierzu bemerkt, daß es wichtig zu sehen ist, daß beide Richtungen, der Hedonismus und der Pessimismus, von Nietzsche schließlich als ein und dasselbe aufgedeckt werden, über das hinausgegangen werden muß: „Nicht der Pessimismus (eine Form des Hedonismus) ist die große Gefahr, nicht die Abrechnung über Lust und Unlust, und ob vielleicht das menschliche Leben einen Überschuß von Unlustgefühlen mit sich bringt. Sondern die Sinnlosigkeit allen Geschehens!" (U.d.W., Nachlaßanordnung Bäumler, Bd. I, Stück 675) und: „Wer das Leiden als Argument gegen das Leben fühlt, gilt mir als oberflächlich, mithin unsere Pessimisten. Insgleichen wer im Wohlbefinden ein Ziel sieht." (a.a.O., S. 254, 673) Das heißt, Lust und Unlust sind für Nietzsche niemals letzte Wertfragen. Ausführlicher stellt W. Kaufmann, Nietzsche, Philosopher Psychologist Antichrist, 11. Auflage Princeton 1950 in seinem Kapitel „Power versus Pleasure", S. 257—283, Nietzsches Gedanken zum Thema dar und kommt zu dem Ergebnis (S. 279): „While Nietzsches's repudiation of hedonism is emphatic, he himself may be called a proponent of the Good Life." Die früheste Untersuchung im deutschen Sprachraum, die sich dem angedeuteten Problemkreis zuwendet, ist die Dissertation von Heinrich Scharrenbroich, Nietzsches Stellung zum Eudämonismus, Bonn 1913 (62 S.). Die Arbeit kommt zu dem Schluß (S. 61), „daß Nietzsche ein prinzipieller Gegner der Moral ist, die im Glück den letzten Wertmaßstab für die gesamte Lebensordnung des Menschen sieht." Die Arbeit stützt sich ausschließlich auf Nietzsches explizite Äußerungen zum Thema, für oder gegen den Eudämonismus, und entfaltet das Problem nicht von seinen Grundgedanken her. Ferner wäre zu erwähnen O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, 3. Auflage Frankfurt 1956, der Glück als eine besondere „Schicht der gehobenen Stimmung" (S. 45) charakterisiert und im Zusammenhang damit eine ausführliche Interpretation von „Nietzsches Lehre vom großen Mittag" gibt. M. Kaempfert, Säkularisation und neue Heiligkeit, Religiöse und religionsbezogene Sprache bei F. Nietzsche, Berlin 1971, rückt in seiner Untersuchung bisher an den Rand der Nietzscheliteratur abgedrängte Themen in den Mittelpunkt und versucht insbesondere mit
Die Frage nach dem Glück in der bisherigen Nietzsche-Literatur
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D i e s ist natürlich nicht zufällig, sondern h ä n g t mit d e m F a k t u m
zu-
s a m m e n , d a ß die N i e t z s c h e - R e z e p t i o n d u r c h Auslassen dessen, w a s m i t d e m an dieser Stelle n o c h n o t w e n d i g S c h l a g w o r t bleibenden T e r m i n u s T r a n s z e n d e n z u m r i s s e n sei, g e k e n n z e i c h n e t ist 9 . So ist ü b e r h a u p t die F r a g e n a c h d e m G l ü c k d e m m o d e r n e n Intellektuellen
ein p u d e n d u m u n d gilt sie ihm
im
G r u n d e als Z e i c h e n geistiger Inferiorität. D i e s gilt w o h l t r o t z der jetzt vorliegenden
Sammelbände
zum
Thema
Glück
(s.
Literaturverzeichnis)
noch
i m m e r . M a n empfindet wie N i e t z s c h e , der im „ W i l l e n zur M a c h t " A p h o r i s mus 3 9 3 versuchsweise formuliert: „ . . . Und will man Glück, nun, so muß man vielleicht zu den „Armen des Geistes" sich gesellen." Allenfalls g e w i n n t m a n einen Z u g a n g auf dem U m w e g sozialistischer u n d neomarxistischer Theorien. D i e s e Scheu m a g bereits selber wieder ihren U r s p r u n g in der einseitigen R e z e p t i o n der Zarathustrastelle v o m A n f a n g des vierten Teils h a b e n , an der es heißt: „Was liegt am Glücke! . . . Ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem W e r k e . " , seinem „Wörterbuch zum religiösen Sprachgut bei Nietzsche" Einseitigkeiten der Register von Oehler und Schlechta auszugleichen, in denen z.B. für Nietzsche so zentrale Begriffe wie Verklärung und Erlösung fehlen oder unzureichend belegt sind. Hier sind auch unter dem Stichwort „Glück" — gefaßt als „Zustand höchster Euphorie", so daß „eine Verwandtschaft zu religiös-ekstatischen Erlebnisformen vorzuliegen scheint" (S. 381 f.) — wichtige Stellen gesammelt. Kritisch zu fragen wäre, ob die Kennzeichnung „höchste Euphorie" weiterhilft oder nicht viel eher durch Psychologisierung den Zugang zum Phänomen „Glück" im Sinne Nietzsches verstellt. Auch ist für Nietzsche Glück wohl kein Zustand·. „Erster Satz meiner Moral: man soll keine Zustände erstreben, weder sein Glück, noch seine Ruhe . . . " (KAW V,2—12 (89)) Kaempferts Buch stellt — vor allem als Materialsammlung — eine wichtige Voraussetzung für die noch ausstehende philosophische Auseinandersetzung mit dem Problem des „Religiösen" in Nietzsches Werk dar. Zum weitreichenden Fragenkomplex Nietzsche—Spinoza liegt eine Dissertation von William 'Wurzer, Nietzsche und Spinoza, Freiburg 1974, vor. Gemäß der Absicht der Untersuchung eingeschränkt auf die Hinsicht möglicher Beziehungen beider Denker, finden sich mehrere interessante Hinweise auf das Problem des Glücks. Zum Beispiel sieht Nietzsche bereits in seiner Studentenzeit die Bedeutung Demokrits darin, daß seine Philosophie „kein bloß theoretisches Verfahren sei, sondern ein Mittel zur Verwirklichung der .beatitudo* des Menschen" (S. 12). Kritik an Spinozas Glücksauffassung, wie sie sich Nietzsche darstellt, nämlich als „naiver" Zusammenhang von Erkenntnis und Glück und als Hedonismus, wird erwähnt (S. 110/111), Nietzsches Kritik an der Tugend als Mittel zum Glück wird (S. 228) berührt. Zusammenfassend wird festgehalten (S. 265), daß Nietzsche Spinozas „Ubergang von der Freude des ganzen Leibes zur Glückseligkeit des ewigen Intellekts in der „Ethik" gar nicht eingesehen habe". — Dem wird auf Seiten Nietzsches (S. 228) die „perspektivische Glückseligkeit des Willens zur Macht" gegenübergestellt, jedoch nicht weiter entfaltet. 9
Auch die Dissertation von Charlotte Klemp unter dem Titel: Nietzsche und die Transzendenz, Köln 1954, hat hier keine Abhilfe geschaffen, da die Interpretation „Transzendenz"
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Einleitung
eine Stelle, die auch den außerhalb der akademischen Nietzsche-Interpretation Stehenden Nietzsches Stellung zum Glück ausreichend zu charakterisieren schien. Geistesgeschichtlich interessant ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel, daß Melchior Lecbter, der Künstler aus dem George-Kreis, dieses Zitat in seinen Arbeitsschrank eingeschnitzt hatte 10 . Hierzu ist Verschiedenes zu bemerken. Einmal wird offenbar in fast philiströser Weise die „Arbeit", das „Werk", und „Glück" einander entgegengesetzt, während doch für Nietzsche bezeichnend ist das Glück, das er am Werk und durch das Werk hat, das Glück, das im Schaffen liegt 11 ; zum andern wird übersehen, daß die Pointe dieses Wortes nicht darin liegt, daß Zarathustra es ablehnt, nach Glück zu streben aus Verachtung für das Glück, sondern er „trachtet" nicht nach Glück, weil dieses nach einer der tiefsten Einsichten Nietzsches gar nicht erstrebt werden kann. Glück ist völlig unerstrebbar 12 . Wäre es erstrebbar, wäre es durch Mangel bestimmt, dem es abhelfen soll, wäre also in sich durch Negatives bestimmt. Es wird noch zu zeigen sein, daß Nietzsches Glück aber, im Gegensatz zu dem Schopenhauers, niemals negativ, sondern immer nur positiv ist. 1.4. Glück ist also nicht objektivierbar — eigentlich kann man gar nicht von d e m Glück reden —, ist nicht außer einem als ein Ziel zu setzen und dann zu erstreben, sondern es „begleitet", ist „Begleiterscheinung beim Auslösen von Kraft" 1 3 14 . Es ist wesentlich von sich her da, ist nicht verfügbar. In dieser Nicht-Verfügbarkeit kommt übrigens das Glück im Sinne der Fortunatradition, aufgefaßt als blinde Kraft, die wahllos Glücksgüter über den Einzelnen häuft oder ihn ihrer beraubt, und Glück im wesentlichen Sinne überein: „Glück ο Glück, du schönste Beute, immer nah, nie nah genung,
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13 14
als Deutungskonstante, zudem im Jasperschen Sinne, von außen an Nietzsche heranträgt, statt umgekehrt aus den Texten heraus so etwas wie „Transzendenz" neu zu erfassen und zur Frage zu machen. S.Jürgen Wissmann, Melchior Lechter, Recklinghausen 1966, S. 9 / Im Zusammenhang einer Beschreibung der Wohnung des Künstlers wird gesagt: „Die Möbel waren nach des Künstlers Angaben ,für den neuen Menschen' erfunden, eine Formulierung, die an Nietzsche erinnert, dessen Wirkung auf Lechter auch die Wohnung dokumentierte. Das NietzscheZitat (s.o.) schmückte holzgeschnitzt den Arbeitsschrank, ein .Nietzsche-Fenster' erhellte die Bibliothek." Aus der Fülle der Belege sei herausgegriffen:„Das e i n z i g e Glück liegt im Schaffen" (XII, 361). Interessant als Zeugnis hier auch der von Maillol überlieferte Ausspruch: „Je ne travaille jamais, je m'amuse." Der Mensch strebt n i c h t nach Glück; nur der Engländer tut das." (G. D . , Sprüche und Pfeile 12) und: „. . . (gegen ,Glück' als .Ziel*)" (XIII, 274). Musarionausgabe Bd. 17, S. 269 und so oft gedeutet im Umkreis des Willens zur Macht. s. Stambaugh, a.a.O., S. 149: „.Begleiten' ist bei Nietzsche ein vorwiegend negatives Wort, d . h . er gebraucht es, um alle Vorstellungen einer Kausalität fernzuhalten."
Hauptmerkmale des Glücks
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immer morgen, nur nicht heute, — ist dein Jäger dir zu j u n g ? " 1 5
Jagd nach Glück ist offenbar für Nietzsche nicht dasselbe wie Streben nach Glück. Beides sind Bilder für Verschiedenes. Es ist klar, daß es sich bei Nietzsche nicht nur um die Aufnahme eines Topos und um ein Verfahren mit ihm in konventioneller Redeweise handelt. D a s Glück ist „immer nah", das heißt, der Mensch ist nie völlig beziehungslos zu ihm, es ist aber „nie nah genung", ist also nicht in Besitz zu nehmen und verfügbar zu machen. Streben wäre die Beziehung mit dem Schwergewicht auf der Tätigkeit des Menschen gedacht, während die Bewegung der Jagd sich ihr Tempo und ihre Richtung von der Beute vorschreiben läßt, also auch selber gejagt w i r d . Ohne der Frage möglicher Beziehungen Kafkas zu Nietzsche hier nachgehen zu wollen, sei zur Verdeutlichung der „Sache", um die es hier geht, angeführt, daß Jagd im Sinne von Kafkas Tagebüchern 1 6 Bild für den „Ansturm gegen die letzte irdische Grenze", von „unten her" oder „von oben herab" sein könnte. Dies mögen die folgenden Belege verdeutlichen. Das Bild des Jägers taucht in Nietzsches Gedichten an exponierter Stelle auf. In den Bruchstücken zu den Dionysos-Dithyramben heißt es: „ U n s e r e Jagd nach Wahrheit — ist sie eine Jagd nach G l ü c k ? "
und: „ E i n schlimmer Jäger ward ich! — Seht, wie steil gespannt mein Bogen! D e r Stärkste war's, der solchen Zug gezogen ( „ A u s hohen Bergen")
"
Doch um zu finden, muß das Suchen aufgegeben werden: „Mein Glück Seit ich des Suchens müde ward, erlernte ich das Finden. Seit mir ein Wind hielt Widerpart, Segl' ich mit allen Winden."
und in „ D i e Sonne sinkt": „Heiterkeit, güldene, komm! du des Todes heimlichster, süßester Vorgenuß! 15 16
Nachlaß Herbst 1881, K A W V, 2 - 1 2 (159). Franz Kafia, Tagebücher 1 9 1 0 - 1 9 2 3 , hrsg. v. M. Brod 1951, S. 552f. - Zit. in: W. Philosophie und Transzendenz, Freiburg 1969, S. 196.
Struve,
Einleitung
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— Lief ich zu rasch meines Wegs? Jetzt erst, wo der Fuß müde ward, holt dein Blick mich noch ein, holt dein Glück mich noch ein." Es muß aber noch mehr geschehen. Damit das Glück erbeutet werden kann, muß eine Umkehrung stattfinden: der Jäger muß ganz zum Gejagten und selber Beute werden, die Jagd ein „Ansturm von oben". Dieser Umschlag wird ganz deutlich in der „Klage der Ariadne". Hier wird der unbekannte Gott zum „Jäger hinter Wolken", zum „grausamsten Jäger", dessen Pfeile treffen, den Getroffenen „ganz" wollen und einen Schmerz verursachen, der als zugehörig empfunden wird und das „letzte Glück" des Gemarterten ausmacht, das als ein letztes ein absolutes, nicht mehr zu steigerndes ist:
,,. . .
Unnennbarer! Verhüllter! Entsetzlicher! Du Jäger hinter Wolken! Darniedergeblitzt von dir, So liege ich, getroffen von dir, grausamster Jäger, du unbekannter — G o t t ! . . . Triff tiefer! Triff Ein Mal noch! Zerstich, zerbrich dies Herz! Ha! schon viel zu nahe! Mich — willst du? mich? mich — ganz? . . . Ο komm zurück, mein unbekannter Gott! Mein Schmerzl mein letztes Glück! . . . (Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar) Glück ist nicht verfügbar, es ist also auch nicht zu „haben". Insofern ist es kein Gegenstand der Moral, denn: „Vielleicht lassen sich alle moralischen Triebe auf das Haben — wollen und Halten — wollen zurückführen . . . Sich selber haben wollen: Selbstbeherrschung usw." 1 7
17
Nachlaß Frühjahr-Herbst 1881, KAW V, 2 - 1 1 (19).
Hauptmerkmale des Glücks
9
Von hier aus fällt auch ein Licht auf Nietzsches ständige Polemik gegen die sokratische Gleichung „Vernunft = Tugend = Glück", die Glück faßt als Folge der Tugend, während es doch Uber aller Moral ist. Das Glück zeichnet sich dadurch aus, daß etwas in ihm gelingt. „Vollkommenes", „Zu-Ende-Geratenes", „Glückliches", „Mächtiges", „Triumphierendes" sind Synonyme und kennzeichnen das, was Nietzsche die „Wohlgeratenheit" nennt: „Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir — gesetzt daß es himmlische Gönnerinnen gibt . . . einen Blick . . . auf etwas Vollkommenes, Zu-Ende-Geratenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes . . . Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen komplementären und erlösenden Glücksfall des Menschen . . , " 1 8
Es wird zu fragen sein, wie dieses Zu-Ende-Geratensein zu verstehen ist und worin insbesondere seine Beziehung zur Macht und zum Vollkommenen besteht. Glück ist kein Genießen, denn Genuß ist ein Vorgang in der Zeit: „Genuß setzt Dauer voraus" 19 . Im „Zarathustra" in dem entscheidenden Kapitel „Mittags" im vierten Teil heißt es: „Was geschah mir: Horch! Flog die Zeit wohl davon? Falle ich nicht? Fiel ich nicht — horch! in den Brunnen der Ewigkeit?"
Erstaunliche Entsprechungen zu Nietzsches Zeugnissen vom Glück weisen Wittgensteins Aufzeichnungen auf, eine Ähnlichkeit, die ihren Grund nicht in der zufälligen Gleichheit der Empfindungen zweier Personen hat, sondern in der Prägnanz der zur Sprache kommenden „Sache". Deshalb wäre auch eine Erklärung durch historische Beeinflussung unzureichend. Wittgenstein schreibt: „Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich." 20
Die Kategorie des Glücks im wesentlichen Sinn, wie Nietzsche es denkt, ist die Gegenwart oder der Augenblick oder die Ewigkeit. Glück ist daher auch keine Empfindung, denn: „Zur Empfindung gehört Dauer . . . " 2 1
18
19 20
21
G . d . M . , 1. Abhandlung 12. W. Struve, Der andere Zug, Salzburg 1967, Teil I, S. 14. Tagebücher 1 9 1 4 - 1 9 1 6 , Aufzeichnung vom 8. 7. 1916. Dazu noch (a.a.O.): „Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann kann man sagen, daß der ewig lebt, der in der Gegenwart lebt." K A W V I I , 2 - 2 7 (69).
10
Einleitung
Der Glückliche reflektiert nicht, denn Reflexion setzt Zeit voraus 22 . Also philosophiert er auch nicht. Glück und Philosophie schließen sich aus. Eine Philosophie des Glücks ist ein hölzernes Eisen. Die Philosophie könnte streng genommen vom Glück nur in der Weise der Erinnerung handeln. Die Fragestellung der Arbeit scheint in sich verfehlt. Sie wäre von hier aus gesehen nur zu „retten", indem man historisch argumentiert und sich darauf beruft, daß Glück schließlich immer legitimer Gegenstand der Ethik war, oder man verzichtet darauf, an Nietzsche mit vorgefaßten Begriffen und Meinungen über das, was Philosophie ist, heranzugehen. Nietzsches „Philosophieren" ist auf weite Strecken gerade durch ein Ungenügen an der Begrenztheit des überkommenen Philosophiebegriffs gekennzeichnet; dabei ist solche Kritik eine qualitativ andere als die insbesondere in der Neuzeit seit Descartes übliche an seinen Vorgängern und auch mehr als das Bewußtsein eines Neubeginns innerhalb der Philosophie. Sein Bemühen ist es, jenseits aller vertrauten Festsetzungen das, was Philosophie und was Kunst und was Wissenschaft ist, neu zu bedenken und abzuwägen. 1.5. Der Gang der Interpretation muß zeigen, ob diese Merkmale des Glücks zu Recht betont wurden, und wo etwas schärfer und anders zu fassen ist. In welche Dimension hinein ist eigentlich zu denken, wenn ein „wahres Glück" vom „scheinbaren", ein „kleines Glück" von einem „großen" zu unterscheiden sein soll? Was macht das große Glück groß? Wie kann es überhaupt „Wahres" geben in einer Welt, in der „der Schein anzubeten" ist? Mit welchem Maßstab wird hier gemessen? Für Piaton ist er und kann nur sein das „transzendente Beispiel des allerseligsten Gottes, der zur einzigen Norm für alles menschliche Glück wird." 2 3 Mit der „Abschaffung" jeder „Hinterwelt" aber wird diese Norm hinfällig. Wohin gerät diese „allerseligste Glückseligkeit"? Zumal sie doch nicht einfach zu nichts werden kann, denn für Nietzsche gilt: „. . . denn es gibt im Geistigen keine Vernichtung."24 Es kann aber auch nicht „einfach" der Mensch ihr Erbe antreten und als „Stäubchen vom Staube" 25 eine ewige Glückseligkeit erleiden: wie sollte etwas Endliches etwas Ewiges erleiden können? Noch weiter: Endlichkeit und Ewigkeit werden, wenn Gott tot ist, sinnlose Begriffe. „ G o t t " fortgenommen,
22
23 24 25
W. Struve, a.a.O., S. 16: „So sind grenzenlose' Gefühle, z.B. grenzenloses Glücksgefühl, reflexionslos." — Zum Genuß dagegen „gehört eine gewisse Reflexivität" (S. 15). Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 1974, Stichwort „Glück, Glückseligkeit". KAW VIII, 1 - 7 (53). F. W. 341.
Aufgaben der Interpretation
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bleibt nicht einfach das Endliche zurück, sondern muß selber in seinem Wesen neu gedacht werden. Endlichkeitserfahrung ist Ewigkeitserfahrung. Hier wird offensichtlich, daß die Frage nach dem Glück in die nach Zeitlichkeit und Vergänglichkeit und damit nach Ewigkeit mündet. Diese erweist sich auch von hier aus als vielleicht d a s entscheidende Problem Nietzsches. — Der allgemeine Verstand möchte auf Fragen wie diese handfeste, auf einem nicht mehr zur Frage gemachten Maßstab von „Bündigkeit" beruhende Antworten, die die Frage wegschaffen, weil sie sie erübrigen. Auf solche Antworten wird hier nicht zu stoßen sein. Eine Frage kann aber noch auf eine andere Weise „verschwinden", nämlich indem man von ihr frei wird: „ D i e Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems."26
Es ist zu untersuchen, wie weit sich bei Nietzsche Zeugnisse finden, die eine Lösung des Glücksproblems durch ein Verschwinden des Problems anzeigen.
26
Wittgenstein,
Tagebücher, Aufz. v. 6. 7. 1916.
2. Nietzsches Denken zur Zeit der Geburt der Tragödie als Ausdruck seiner philosophischen Grundintentionen und die Konsequenzen für das Glücksproblem 2.1. Die Frage nach dem Glück — eine große Frage? „Die Frage nach dem G l ü c k " 1 gehört für Nietzsche von Anfang an zu „den großen D i n g e n " 1 . In der Zeit der „Fröhlichen Wissenschaft" bekennt er von sich: „Nein, dazu bin ich nicht gemacht, das Gewissen der Menschen noch zu beschweren! Ich will daß sie ihres Glückes mehr Acht haben, „all der hundert Quellen" selbst in der Wüste! wie ein deutscher Dichter sagt — und daß sie selber von ihrem Unglücke Unvermögen und Untugenden besser denken als bisher — sie nützen damit ebenfalls und wahrscheinlich sogar liegen da ihre eigenen Lust- und Glücks- und Kraft- und Tugendbedingungen." 2
Es ist die Gefahr, daß man es sich mit solchen Aussagen zu leicht macht und über sie hinwegliest. Ein oberflächliches Umgehen mit einem Textstück wie diesem könnte den Appell, des Glückes mehr Acht zu haben, auf die gleiche Ebene rücken wie die Weisheit zahlloser Kalendersprüche, die raten, an den „Freuden des Alltags" o . ä. nicht achtlos vorüberzugehen, aber bereits die Verbindung mit dem Problem des Unglücks, das hier sogar als Bedingung des Glücks bezeichnet wird, gibt dem Ganzen eine tiefere Dimension, auf die auch die für Nietzsche so zentrale Metapher der Wüste hinweist. Darüberhinaus ist bei einem Denker vom Range Nietzsches immer alles in den weitesten Bezügen zu sehen; so könnte man bei der Rede vom „Acht haben" auch an die „Achtsamkeit" als buddhistische Grundtugend denken. Das Glück bedarf der Achtsamkeit — ohne Achtsamkeit kein Glück. Es zeigt sich, daß, wenn Nietzsche das Glück denkt, dieses niemals in der Richtung einer blinden Fortuna zu suchen ist, die den — passiven — Empfänger wahllos mit Glücksgaben überhäuft, um sie ihm ebenso unmotiviert wieder zu entziehen. Glück und Unglück erscheinen seltsam verschlungen: das Unglück wird nicht als der Gegensatz des Glücks, sondern als seine Vorbedingung genommen. Muß sich nicht beides notwendig ausschließen? W o eines ist, kann 1 2
KAW V, 2 - 1 4 (21). KAW V, 2 - 1 5 (32).
Die Frage nach dem Glück — eine große Frage?
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das andere nicht sein. — Wohl haben beide in diesem Sinne einander ausschließenden, nicht aber gegensätzlichen Charakter. Und überwiegt nicht immer das Unglück? — Nietzsche wird später zeigen, daß solches, gleichsam von selbst sich aufdrängendes Fragen nach dem Uberwiegen von Lust oder Unlust in der Welt ein philosophischer Dilettantismus ist 3 und ein Geschwätz: „ D i e Summe der Unlust überwiegt die Summe der Lust: folglich wäre das N i c h t sein der Welt besser, als deren Sein" — . . . dergleichen Geschwätz heißt sich heute Pessimismus!" 4
Solcher Pessimismus ist ein bloßes Geschwätz, weil nicht entschieden werden kann, wie ein derartiges Wissen von einer Gesamtsumme von Lust und Unlust, Glück und Unglück überhaupt möglich sein soll. Soll ein solches Gesamtbewußtsein empirisch gedacht werden? Der Vorgang einer Summierung aller in der Welt vorkommenden Glücks- und Unglücksgefühle wäre eine absurde, weil unlösbare Aufgabe, mit der nicht zu einem Ende zu gelangen wäre. „ E s gibt kein s u m m i e r e n d e s Bewußtsein der U n l u s t . " 5
Faßt man die Gesamtheit der Lust oder Unlust aber als Begriff des Ganzen der Lust ζ. B. auf, der nicht durch Summierung seiner Teile entsteht, so bleibt immer noch zu fragen, ob hier überhaupt ein Begriff zu bilden ist oder ob dieser nicht sinnlos ist, wenn es kein Gesamtbewußtsein gibt, das das Leid der Welt im Ganzen sich zum Gefühl bringen könnte. Außerdem sind Lust und Unlust in keiner Weise quantifizierbare Größen, überhaupt nichts, was Gegenstand einer „Rechnung" werden könnte. Es gibt streng genommen nicht viel oder wenig Lust, sondern nur starke oder schwache. Weiter: muß es nicht befremden, daß Nietzsche zu einer Zeit, in der er gerade in dem Stück „Der tolle Mensch" den Tod Gottes verkündet hat, immer noch von großen Fragen spricht? Wie kann es in einer Welt, vor deren Tür der Nihilismus als „unheimlichster aller Gäste" 6 steht, überhaupt noch Großes geben? Ist solches Reden von Größe nicht selbst nur ein „Schatten" in dem Sinne, wie nach dem Tode Gottes sein Schatten noch jahrtausendelang besichtigt werden kann und bekämpft werden muß? 7 Kann man heute, wo der „unheimlichste aller Gäste" längst eingetreten ist und Hausrecht genießt, noch legitimerweise an einer solchen „großen Frage" interessiert sein? Es zeigt sich, wie auch scheinbar nebenher Gesprochenes bei Nietzsche in ein Zentrum
3 4 5 6 7
Vgl. U . d . W . I, 674. WzM 701. KAW VII, 2 - 2 6 (283) = WzM 1060. WzM 1. F . W . 108.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
weist und aus ihm lebt, das man - von diesem Zusammenhang her — als das Problem des Großseins von Größe, seiner Legitimität, bezeichnen könnte. Es steht dahinter die Frage nach der Leuchtkraft des Großen, um einen Ausdruck Nietzsches aus einem Entwurf zu dem Stück 125 der „Fröhlichen Wissenschaft" zu gebrauchen, der in manchem noch radikaler und unmittelbarer die Folgen des Todes Gottes zu empfinden gibt als das dann veröffentlichte Stück und sie — dialektisch einwandfrei — zuspitzt auf die Folgerung, daß mit Gott als dem Schöpfer auch der Mensch als Geschöpf längst gestorben ist und nur noch ein Scheinleben führt, in der Sprache des „Zarathustra" zu reden, längst zum „letzten Menschen" geworden ist. , , . . . U n d w e n n w i r n o c h leben u n d L i c h t t r i n k e n , s c h e i n b a r w i e w i r i m m e r g e l e b t h a b e n , ist es n i c h t g l e i c h s a m d u r c h d a s L e u c h t e n u n d F u n k e l n v o n G e s t i r n e n , die e r l o s c h e n s i n d ? N o c h sehen w i r u n s r e n T o d , u n s e r e A s c h e n i c h t , u n d dies t ä u s c h t u n s u n d m a c h t u n s glauben, d a ß w i r selber das L i c h t u n d das L e b e n sind — a b e r es ist n u r das alte f r ü h e r e L e b e n i m L i c h t e , die v e r g a n g e n e M e n s c h h e i t u n d der vergangene G o t t , deren Strahlen und G l u t h e n uns i m m e r n o c h erreichen — a u c h d a s L i c h t b r a u c h t Z e i t , a u c h d e r T o d u n d die A s c h e b r a u c h e n Z e i t ! U n d z u l e t z t , w i r L e b e n d e n u n d L e u c h t e n d e n : w i e s t e h t es m i t dieser u n s e r e r kraft? . . .
Leucht-
Ist es m e h r als jenes a s c h g r a u e L i c h t , w e l c h e s d e r M o n d v o n d e r e r -
leuchteten E r d e e r h ä l t ? " 8
2.2. Die Grundmotive
bei Nietzsches Auseinandersetzung der Griechen
mit dem
Phänomen
Nietzsche interessierte sich nicht für die Griechen, weil er klassischer Philologe war; man kann eigentlich gar nicht sagen, daß er sich für sie „interessierte", welche Redeweise ja einschließt, daß er sich auch nicht für sie hätte interessieren können, sondern er fand hier den Anstoß und die Ausdrucksmittel, die jeder Denker zunächst von außen aufnehmen muß, um das, was in
8
K A W V, 2—14 (25), Herbst 1881. Bezeichnend an diesem Stück ist auch, mit welcher Selbstverständlichkeit Geistiges für Nietzsche im Bilde von Naturvorgängen sagbar wird, so daß die Dinge eine kosmische Färbung bekommen. So notiert er zur gleichen Zeit ( K A W V , 2 - 1 1 (7)): „. . . Aufhören, ,micb' und ,dich' strichen)
sich als s o l c h e s p h a n t a s t i s c h e s e g o zu f ü h l e n ! . . . U b e r hinaus! Kosmisch empfinden!" (von Nietzsche mehrmals unter-
Nietzsches Naturbezug ist noch ein anderer, als es unserer heute sein kann: die Tageszeiten etwa in der A r t Nietzsches zu philosophischen Symbolen zu machen, wäre so nicht mehr möglich, wobei das Einzigartige an ihm ist, wie diese Symbolik, besonders die der Morgenröte, ihm zwar aus der Romantik zukommt, gleichzeitig aber durch eigenes Naturerleben legitimiert und verwandelt wird. Die philosophische Sprache bekommt so einen vorher nicht gehörten T o n , wird um eine wesentliche Dimension bereichert.
Grundmotive der Auseinandersetzung mit den Griechen
15
ihm liegt und neu und einzigartig ist, aus sich heraussetzen und gestalten zu können. — Wenn es stimmt, was Kierkegaard sagt, daß nämlich „den Genies eigentlich immer die Fähigkeit zu einer objektiven Auffassung der Gedanken von anderen fehle" und „sie überall ihre eigenen finden" 9 , so muß eine Analyse der Interpretation der griechischen Welt durch Nietzsche auf wesentliche Impulse seines eigenen Philosophierens stoßen. Wenn weiter die Behauptung stimmt, daß bereits für den frühen Nietzsche das Glück mit zu „seinen" Problemen gehörte, so muß es im Umkreis der „Geburt der Tragödie" eine wesentliche Rolle spielen. Nietzsches Deutung der griechischen Weltauslegung kristallisiert sich um den recht zu verstehenden Begriff der „griechischen Heiterkeit", der „unter den Händen genußsüchtiger Schriftsteller entstanden" ist, „so daß unehrerbietiger Weise ein lüderliches Faulenzerleben sich mit dem Worte „Griechisch" zu entschuldigen, ja zu ehren wagt" 1 0 und deren Auffassung als „Zustand ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen angetroffen wird." 1 1 Diese Vorstellungen können sich zwar sogar „bis ins Edelste verirren" 10 , reichen aber an die neue Art schauerlicher Heiterkeit, die jenseits des Pessimismus von Nietzsche neu entdeckt wird, gar nicht heran, auch nicht in der Weise, daß sie ihr widersprächen. Wie wichtig Nietzsche dieses rechte Verstehen der Heiterkeit ist, zeigen viele Äußerungen bis in die späteste Zeit. So schreibt er in der „Götzendämmerung" 12 , also rund zwanzig Jahre nach der Entstehungszeit der „G.d.T.": „ I c h s u c h e noch nach einem Deutschen, mit dem i c h könnte, — u m wie viel mehr nach einem, mit dem G ö t z e n d ä m m e r u n g : ah wer begriffe es heute, v o n sich hier ein Philosoph erholt! — Die Heiterkeit ist an
auf meine Weise ernst sein ich heiter sein dürfte! — was für einem Ernste uns das Unverständlichste
— Mit Ernst im letzten Sinn wäre wohl hier gemeint der Ernst der „Ewigen Wiederkunft" und ihr „ E s gilt die Ewigkeit"; da aber dieser Gedanke als ein letzter notwendig zu Widersprüchen führen muß, würde sein Ernst, der darin besteht, sich der Wirklichkeit im letzten Sinne zu stellen, ebenso diese „unverständlichste" Heiterkeit einschließen. — „ W a s ist über die Griechen zu l e h r e n , wenn man von ihrer heitern Welt ausgeht und sich den Ernst v e r h ü l l t ? " 1 3 9
10 11 12 13
Aus den Erinnerungen an S . K . von Hans Bröchner, in: S. Kierkegaard, Werke II, Rowohlts Klassiker Bd. 81, S. 113. Die dionysische Weltanschauung, KAW III, 2 - S. 53. Ursprünglich geplantes Vorwort zur G . d . T . an R. Wagner und G . d . T . 9. G . D . , Was den Deutschen abgeht 3. U . d . W . I, 1 (aus der Zeit der Konzeption der G . d . T . ) .
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Keineswegs ist hier mit „ E r n s t " derjenige gemeint, der glaubt, die Kunst als Luxus auffassen und sich einem so verstandenen „lustigen Nebenbei" als der — erbärmliche — Ernst der Wirklichkeit entgegensetzen zu können 1 4 ; hingezielt wird vielmehr auf die Einsicht in die „schreckliche Tiefe", ohne die es keine „ s c h ö n e " O b e r - „ f l ä c h e " 1 4 gibt. „ D i e Angriffe auf das klassische Altertum sind so ganz berechtigt. M a n muß zeigen, daß eine tiefere Weltoffenbarung in ihnen liegt als in unseren zerrissenen Zuständen, mit einer künstlich eingeimpften Religion. — (Heute müßte man hinzufügen: sogar o h n e eine solche!) — Entweder sterben wir an dieser Religion oder die Religion an uns . . . " 1 3
Für Nietzsche ist also das Streben nach Vertiefung der Welt leitend, eine Weltsicht jenseits von Optimismus und Pessimismus: „ D e r Hellene ist weder Optimist noch Pessimist. Er ist wesentlich M a n n , der das Schreckliche wirklich schaut und es sich nicht verhehlt. . . , " 1 5
Damit zusammenhängend fällt auf ein unzeitgemäßes Ernstnehmen der religiösen Dimension. Wie weit diese — in der Sprache des „Zarathustra" zu reden — nur der Stufe des Kamels entspricht, oder ob „Religion" als etwas alle drei Stufen der Verwandlung des Geistes Umfassendes gedacht werden muß, wird später zu behandeln sein. Neben der Frage nach der Welt und ihrer Vertiefung ist die nach ihrer Rechtfertigung wenigstens im Keim angelegt, wennn Nietzsche vermerkt, daß „eine Theodizee kein hellenisches Problem w a r " 1 5 , weil die Welt nicht von den Göttern erschaffen war. Später heißt es vom „Sokratismus", daß er es verstehe, „ d a s Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen" 1 6 . Dieser Idee der Rechtfertigung der Welt durch ihre Begreiflichkeit, also durch die Logik, setzt Nietzsche seinen eigentümlichen und zum Uberdruß zitierten Satz entgegen, wonach das Dasein der Welt einzig als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt sei. Kunst als Rechtfertigung der Welt — vor welcher Instanz soll darüber entschieden werden können, wenn Gott tot ist? Die Entfaltung dieser Frage würde zum tiefen Problem der Gerechtigkeit bei Nietzsche führen. Wie gelingt es, eine Welt zu rechtfertigen, die vom Leiden aus zu denken ist? Nietzsches Denken wird hier womöglich noch befremdlicher als bei der Ausweitung des Kunstbegriffs. Die Frage nach der Wirklichkeit der Lust in einem als „ewige W u n d e " 1 7 erfahrenen Dasein ist vielleicht noch hintergründiger als die nach dem
Vgl. geplantes Vorwort an R. Wagner. U . d . W . I , 2. 1 6 G . d . T . 18. 1 7 G. d . T . 18. 14
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Grundmotive der Auseinandersetzung mit den Griechen
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Leiden. — Das Dasein selbst ist Schmerz, und zwar kein beliebiger, zufälliger, sondern ein ewiger. Ein ewiger Schmerz kann nur durch Ewiges geheilt werden. Daß Nietzsche die Frage nach dem Leiden immer auch unter dem Horizont einer möglichen Heilung durchdenkt, macht ihn in extremem Maße heute zu einem Unzeitgemäßen. Es schwingt hier schon die später von Nietzsche erstrebte „neue Heiligkeit" mit. „Die Welt vom L e i d e n aus zu verstehen" 1 8 , macht das Tragische an der Tragödie aus. Wie kann in einer so als Tragödie verstandenen Welt überhaupt Heilung sein und der Pessimismus überwunden werden? Zumal er ja nicht „einfach" Optimismus werden kann — beides bedeutet ja letztlich dieselbe Position — und nie etwas durch seinen Gegensatz überwunden werden kann. Das „dionysische Glück" gibt es nicht nur, sondern es kommt „auf seinen Gipfel" 1 9 . Heilung deutet auf Erlösung. Merkwürdig sind die zahlreichen Stellen, an denen von ihr die Rede ist — gleichgültig zunächst, welcher Art sie ist und wovon erlöst werden soll. Ein solches Sprechen setzt voraus, daß die Welt und der Mensch als in irgendeinem Sinne erlösungsbedürftig gedacht werden. Oft bezeichnet Nietzsche den Dionysoskult als ein „Welterlösungsfest" 2 0 . Nietzsches Grundintentionen sind bereits in seinem Frühwerk aufzuspüren und fundieren die Erörterungen. Sie herauszufinden und für den Gang der Interpretation festzuhalten, war hier die Absicht, noch nicht, diesen Motiven in ihrer gedanklichen Verflechtung nachzugehen. Nietzsches philosophischer W e g ist bestimmt von der Auslegung der Welt als eines Leidens, der
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20
Wissenschaft und Weisheit im Kampfe 8. KAW VIII, 1 - 2 (110). Diese späte Rekapitulation der G.d.T. aus dem Jahre 1885-86 macht schon rein äußerlich offenbar, wie die Schrift ihren Ausgang nimmt vom Leiden und im Glück endet. Ihr erster Satz lautet nämlich: „Das ,Sein' als die Erdichtung des am Werden Leidenden" und endet mit dem gesperrt gedruckten Satz: „in der Vernichtung auch des schönsten Scheins kommt das dionysische Glück auf seinen Gipfel." Welche Verwandlung findet hier statt? Denn es kann kein geradlinig fortschreitender Weg vom einen zum andern gemeint sein. Der „Anfang", das Leiden, ist am „Ende", dem Glück, mit anwesend, wie vorher das Leiden nicht ohne Glück war. KAW III, 2—S. 48. Diesem Tatbestand gerade entgegen sagt E. Fink zur G.d.T. (Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 17): „In einer tragischen Welt gibt es keine Erlösung" und führt aus, daß der Erlösungsgedanke „Nietzsches Instinkten widerspreche" und seinem „Grundgefühl", seiner „Wirklichkeitserfahrung". Dies trifft wohl eher für das Wirklichkeitsgefühl des Interpreten zu. Freilich sind bei Nietzsche alle christlichen Erlösungsvorstellungen durch Gott und eine „Hinterwelt" o.ä. fernzuhalten. Vielleicht ist er aber einer Erlösung anderer Art auf der Spur. Erlösung ist auch ein Zentralmotiv der Philosophie Schopenhauers. Das Ur-Eine als ewig Leidendes drängt stets nach Erlösung im Schein. Dann ist für Schop. Erlösung möglich durch Verneinung des Willens zum Leben — eine „Lösung", die für Nietzsche zwar keine ist — aber es wäre merkwürdig, wenn er seine philosophische „Erweckung" einem Denker verdanken sollte, dessen Grundprobleme seinen Instinkten zuwiderliefen.
Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
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Frage nach der Rechtfertigung einer solchen Leidenswelt und der Suche nach einer Erlösung von ihr, gefaßt als „Verewigung" und „Weltverklärung". Die immer wieder und natürlich zu Recht betonten Grundgedanken — Tod Gottes, Übermensch, letzter Mensch, Wille zur Macht, und ewige Wiederkunft des Gleichen — bezeichnen nur Stadien auf dem oben umrissenen Wege der Frage nach der Welt und ihrer Erlösung. Von diesem — in Kants Sprache praktischen — Interesse ist Nietzsches Denken überall getragen und auch die oft alles auflösenden Reflexionen sind von diesem Impuls gespeist21.
2.3. Die Heiterkeit des theoretischen Menschen oder das Glück der Wissenschaft als Problem Es ist erstaunlich zu sehen, wie Nietzsche in der „Geburt der Tragödie" schon ganz er selbst ist, was nicht der bekannten Tatsache widerspricht, daß seine Ausdrucks- und Denkmittel noch weitgehend die von Schopenhauer sind. Insofern stehen diese Schrift und der „Zarathustra", der ihm auch in besonderem Maße zugehörig ist, in einem engen Zusammenhang, den Nietzsche auch selber so empfunden hat, zuletzt in „Ecce homo" 2 2 . Das Phänomen der „tragischen Weisheit" präfiguriert die „dionysische Verkündigung" des Zarathustra, und wer vor diesem zurückschreckt, hätte sich genau so gut schon vor der frühen Schrift „entsetzen und bekreuzigen" 23 können. Es ist im Wesentlichen dieselbe Färbung, die über beiden Werken liegt. Gott ist schon in der „Geburt der Tragödie" tot, wenn auch Begriffe wie der des Ur-Einen hinter den Erscheinungen scheinbar noch tragen. Die Ähnlichkeit geht bis in Einzelheiten, so wenn der Zauber des Dionysischen wesentlich darin besteht, daß die Tiere reden und die Erde Milch und Honig gibt 24 ; diese Dinge spielen eine wichtige Rolle im „Zarathustra", wo die Stellung des Tieres eine ganz hintergründige ist. Gemäß der oft zitierten Aussage Nietzsches aus dem späten „Versuch einer Selbstkritik" sieht die „Geburt der Tragödie" „die W i s s e n s c h a f t unter der O p t i k des K ü n s t l e r s , die K u n s t aber u n t e r der des L e b e n s " . Was meint Nietzsche hier mit Leben? Ein Beispiel für eine philoso21
Deshalb ist auch Nietzsche nie Positivist, selbst wenn er positivistische Kernsätze ausspricht. Diejenigen, die solche Züge seines Philosophierens zu einem System machen und verabsolutieren, folgen einer seiner Aufforderungen: „ A n dieser Stelle weiterzugehen überlasse ich einer andern Art von Geistern als der meine es ist. Ich bin nicht borniert genug zu einem System - und nicht einmal zu meinem System . . . " ( X I V , 3 5 4 , 217).
22
Rein äußerlich ist dieser Zusammenhang schon daran zu sehen, daß beide Werke nicht aphoristisch sind. Brief an die Mutter aus Venedig, 3. Oktober 1887.
23 24
G . d . T . 1.
Das Glück der Wissenschaft als Problem
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phische Frage, bei der sich nicht antworten läßt in der Form, das Leben ist das und das, um dann beruhigt fortzuschreiten zur nächsten Frage. Und wenn vom späten Nietzsche her scheinbar eindeutig zu antworten wäre: Leben ist Wille zur Macht, so wäre erst recht mit dem Fragen zu beginnen, wenn auch nicht aus dem Grunde, daß diese Antwort mehrdeutig im schlechten Sinne wäre. Leben ist schon in der „Geburt der Tragödie" wesentlich Lebenssteigerung. Das Apollinische und Dionysische als „aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers" 2 5 hervorbrechende künstlerische Mächte äußern sich im Traum und Rausch, also in Erscheinungsformen des gesteigerten, über den Alltag hinausgreifenden Lebens. In beiden Zuständen, und nur in ihnen, erreicht der Mensch „das Wonnegefühl des Daseins" 26 . Wie kommt der Mensch hier überhaupt ins Thema, wenn die Natur seiner Vermittlung nicht bedarf? Der Mensch wird selbst Kunstwerk-, so wäre dieses Wonnegefühl das der Natur selbst, ihr Glück des Schaffens, in dem sie sich selbst empfindet und genießt? Aber welcher Art ist eine solche Natur? Diese Frage soll später wieder aufgenommen werden. Vorerst gilt es nur zu klären, in welchem Verhältnis das Phänomen der Heiterkeit des theoretischen Menschen zu diesem Sich-selbst-genießen der Natur steht und ob überhaupt hier von einem Verhältnis zu sprechen ist oder nicht vielmehr beide Heiterkeiten einander ganz fremd sind. Der Begriff des Dionysischen, aufgefaßt als Urzwiespalt und Urwiderspruch 2 7 , ist für Nietzsche ein letzter Begriff mit aller Problematik eines solchen. Er ist ein Wort über die Welt im ganzen, kann also nicht selbst wieder wie ein innerweltliches Phänomen „in der Welt" vorzufinden sein, also auch nicht nach dem Bilde eines erlebten Rausches o. ä. gedeutet werden. Aus dieser Blickweite heraus wendet Nietzsche sich dem Phänomen des Sokrates zu, dem „Typus des theoretischen Menschen" als einer „vor ihm unerhörten Daseinsform" 2 8 , und der damit bezeichneten Wende im Kampf zwischen Wissenschaft und Weisheit 29 , nicht etwa aus einem besonderen Interesse an der Wissenschaft oder aus wissenschaftstheoretischem Interesse. Sokrates erscheint als der Zerstörer der griechischen Tragödie. Sie hatte ihre Wahrheit darin, daß sie dem Wesen der Welt entsprach. U m eine solche wahre Weltsicht zerstören zu können, genügt es nicht, daß ein einzelner Mensch, Sokrates, es unternimmt, dagegen anzudenken. Es bedarf einer 25 26 27
28 29
G . d . T . 2. Die dionysische Weltanschauung, KAW III, 2—S. 45. Vgl. dionysische Weltanschauung, a.a.O., S. 60: „Vor allem empfing Dionysos selbst jenes zwiespältige Wesen". G . d . T . 15. Wissenschaft meint hier immer soviel wie Wahrheit, Weisheit meint die tragische Weisheit.
20
Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
„dämonischen Macht" 3 0 . „Ein ganz neugeborner Dämon, genannt S o k r a t e s " 3 0 löst den alten Gegensatz von apollinisch und dionysisch ab: „ D i e s ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische . . . " 3 0
Was ist an Sokrates das Undionysische? Was ihn daran hindert, die ältere Tragödie überhaupt zu begreifen, ist seine „verwegene Verständigkeit" 3 0 . Mit diesem Paradox — die Verständigkeit, die am Begreifen hindert — ist Sokrates eine Vorform des „häßlichsten Menschen", denn bereits er ist Mörder an einem übermächtigen Prinzip. Der „häßlichste Mensch" hat Gott ermordet, Sokrates die Tragödie. Nietzsche nennt deshalb den ästhetischen Sokratismus „ein mörderisches Prinzip" 3 1 . Die „Superfötation" des Logischen in Sokrates wird von Nietzsche selber nur als metaphysische Macht begreifbar, die als „ungeheures Triebrad" „gleichsam h i n t e r Sokrates in Bewegung ist" und durch ihn hindurch wie durch einen Schatten angeschaut werden muß 3 2 . Der Konflikt zwischen dem logischen Trieb als einer Naturgewalt, die es Sokrates verwehrt, „in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen" 3 3 , und dem, was Nietzsche „Instinkt" nennt, ist im Grunde „unlösbar" 3 2 . Er ist auch nicht dadurch entschieden, daß Sokrates geschichtlich gesehen gesiegt hat; Dionysos wurde zur Flucht gezwungen, aber er rettete sich so auch 3 2 . Der alte Konflikt kann so immer wieder auferstehen und tut es in Nietzsche selber. Sokratismus ist eine Verpuppung der apollinischen Tendenz 3 3 . Apoll ohne Dionysos führt zum Optimismus mit seiner fragwürdigen Gleichung „Tugend = Wissen = G l ü c k " : „ „ T u g e n d ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche": in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der T o d der Tragödie."33
Es wäre jedoch zu einfach, in Sokrates „eine nur auflösende negative Macht zu begreifen" 3 3 . Der im Wesen der Dialektik liegende unerschütterliche Glaube daran, „daß das Denken, an dem Leitfaden der Kausalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche" 3 4 und dieses nicht nur erkennen, sondern sogar korrigieren könne, muß als erhabener metaphysischer Wahn die Wissenschaft immer wieder gleichsam von innen her an ihre Grenzen drängen, „an denen diese in K u n s t umschlagen muß" 3 4 . Anders gewendet: Sokrates hat immer 30
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G . d . T . 12. 30 _ kann Sokrates zum Mörder der Tragödie werden? Mord an einem Übermächtigen ist nur möglich, sofern in diesem selbst bereits die Bereitschaft zum Untergang gelegen hat. So starb die Tragödie auch „durch Selbstmord" ( G . d . T . 11). — „Alle großen Dinge gehen durch sich selbst zugrunde" (G.d. M. III, 27) - Götter und Tragödie sterben „viele Tode", vgl. Ζ IV. G . d . T . 13. 3 4 G . d . T . 15. G . d . T . 14.
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Das Glück der Wissenschaft als Problem
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wieder die Möglichkeit, die Notwendigkeit einzusehen, „Musik zu treiben" 3 4 , das heißt, die alles umfassende Wirklichkeit der Kunst zu erfahren 3 5 . Seine wesentliche Dimension erhält der theoretische Mensch durch seine Heiterkeit. „ W e r die Lust einer sokratischen Erkenntnis an sich erfahren hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfinden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das N e t z undurchdringbar fest zu s p i n n e n . " 3 4
So ist Sokrates auch der Lehrer einer ganz neuen Form der griechischen Heiterkeit und Daseinsseligkeit. Unter der Optik des Lebens gesehen, verhindert er den „praktischen Pessimismus" 3 4 , jenen „immer vorhandenen Pesthauch", indem seine Bestimmung ist, „das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen", das heißt, ein Heilmittel für die ewige Wunde des Daseins zu wissen. Die Lust des Erkennens als ein solches Mittel ist zwar ein Wahn, aber — hier — zunächst ein lebensfördernder. Sokratismus ist „Glaube an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens" 3 6 . Der letzte und eigentliche Grund dieser Heiterkeit aber ist, daß sie gleichsam ständig über sich hinausgehen kann, indem sie sich in Handlungen wie der „erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius" 3 4 entlädt. Im Genius nämlich ist die Rückkehr zu Dionysos möglich, da in ihm die dialektische Heiterkeit in ihrem Scheincharakter aufgedeckt und sie „ O r t " des Durchbruchs der tragischen Erkenntnis wird: „ N u n aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der L o g i k verborgener O p t i m i s m u s scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte M e n s c h , noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, w o er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die L o g i k sich an diesen Grenzen u m sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beißt — da bricht die neue F o r m der Erkenntnis durch, die t r a g i s c h e E r k e n n t n i s , die, u m nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst b r a u c h t . " 3 4 3 7
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Nietzsches Begriff der Kunst ist bereits hier so weit, daß er Religion und Wissenschaft nur als andere Namen für sie empfindet (s. G . d . T. 15).
G.d.T. 17.
Das Bild der sich um sich selbst ringelnden Logik ist ein eindringliches Zeugnis für die Erfahrung der Endlichkeit des Denkens. Die eben zitierten Stücke sind auch über den engeren Zusammenhang hier hinaus wichtig als
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
2.4. Das Glück der Aufklärung
(Erdenglück)
als Folge des
Sokratismus
Dennoch bleibt die Heiterkeit des theoretischen Menschen etwas zutiefst Fragwürdiges und Unausdenkbares, denn sie schafft dem Leben nicht nur jenen heilsamen Wahn, der es vor der Selbstvernichtung schützt, sondern birgt in sich bereits die Möglichkeit zu dem, was Nietzsche auch „Verweltlichung" 3 8 nennt, ein Begriff, auf dessen rechtes Verständnis — faßt man ihn auf als Transzendenzschwund 3 9 — beinahe alles ankommt. Letztlich steckt in diesem optimistischen Glauben an die Logik und in der ihr eigentümlichen Lust schon der letzte Mensch des „Zarathustra". D a aber gerade klar wurde, daß Nietzsche den wissenschaftlichen Optimismus keineswegs nur ablehnt, wäre zu folgern, daß der letzte Mensch nicht einfach etwas ist, das nicht sein soll, sondern das mit der im „amor-fati-Gedanken" gemeinten Liebe sogar zu lieben wäre. Wie das? Eine Kernstelle für diese Zusammenhänge ist die, wonach der theoretische Mensch „sein höchstes Lustziel in dem Prozeß einer immer glücklichen, durch eigene Kraft gelingenden Enthüllung" 4 0 hat. U m dieses Enthüllen geht es; es ist das „ z u m Ärger der Wissenschaftlichen" von Lessing in einem „Exzeß von Ehrlichkeit" aufgedeckte „Grundgeheimnis der Wissenschaft" 4 0 . Das Glück der Wissenschaft ist ein Gelingen „durch eigene K r a f t " . Auf diese drei kleinen Wörter ist der Ton zu legen. In ihnen steckt der sich seit Descartes immer radikaler auf sich selbst stellende neuzeitliche Mensch, der sich in wachsendem Maße gegen die Transzendenz verschließt und verschließen muß, um dieses Sich — auf — sich — selbst -stellen vor allen Einbrüchen von außen zu sichern.
Beleg für die frühe Verwendung der für Nietzsche so zentralen Bilder von „ R i n g " und „Kreis". Man kann nicht scharf zwischen beiden scheiden wollen, im „Zarathustra" tritt noch das „Rad des Seins" hinzu. Dennoch ist Ring das wichtigere und positivere, da er ganz vom Umfassen her gedacht ist. Kreis ist hier Bild einer sinnlosen Bewegung, die in sich selbst zurückläuft, sich in den Schwanz beißt — hier ringelt sich schon die Schlange des Zarathustra, die beide Bedeutungen in sich schließt: nihilistisches Kreisen der ewigen Wiederkehr und Überwindung des Nihilismus. Auch hier gehen die Bilder an der entscheidenden Stelle ineinander über: es ist die Rede vom Kreis der Wissenschaft, aber es heißt nicht, daß die Logik in sich selber kreist, sondern daß sie sich um sich selbst ringelt. Und zwar ringelt sie sich nicht aus eigener Kraft, nicht freiwillig, sondern sie wird durch das, woran sie stößt, das „Unaufhellbare", auf sich selbst zurückgeworfen.
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Ein Innebleiben in dem Kreis ist nicht möglich, weil er nicht wirklich umschließt, ein unendliches Fortlaufen auf seiner Peripherie auch nicht, sondern er wird vom Heraustreten aus ihm her gedacht. — Woran grenzt dieser Kreis? Wovon ist er selbst umfaßt? Dies ist das Grundproblem Nietzsches, das er mit dem Gedanken der Ewigen Wiederkunft des Gleichen zu denken versucht. KAW V, 2 - 1 1 (163) = U . d . W . II, S. 475, 1335. Im Sinne der von W. Struve, Philosophie und Transzendenz, a.a.O. entwickelten Grundunterscheidung von Transzendenz fehl und - S c h w u n d . G . d . T . 15.
Das Glück der Aufklärung (Erdenglück) als Folge des Sokratismus
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Das höchste Lustziel wird also eines, zu dessen Erreichung man sich nicht über sich selbst hinaus entwerfen muß; man fällt gleichsam immer wieder auf sich selbst zurück, bis die Zeit kommt, „wo der Mensch nicht mehr den Pfeil seiner Sehnsucht über den Menschen hinaus wirft, und die Sehne seines Bogens verlernt hat zu schwirren!" 41 , das heißt, wo der letzte Mensch erreicht ist. Das in seiner Enthüllung Gelingende entpuppt sich als rein Immanentes, die ungeheure Perversion des Glücks zum reinen „Erdenglück" wäre erreicht. Ein solcher Gedankengang aber hätte auch noch mitzuberücksichtigen, daß Sokrates diese Richtung nur durch Einwirkung eines Dämons, das heißt, eben nicht durch eigene Kraft, einleiten konnte. Es ist dasselbe Phänomen, auf das Pascal stößt, wenn er sich die Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Wichtige, die Ewigkeit, und ihr Wichtignehmen des Unwichtigen und Läppischen, diese „seltsame Verkehrung" (etrange renversement) der Grundbezüge, nur als durch eine „übernatürliche Einschläferung" 42 hervorgerufen denken kann. Das heißt, auch der Transzendenzschwund ist vom Menschen nicht zu machen, auch in ihm übersteigt der Mensch sich selbst. Enthüllung entsteht, wo Aufklärung wächst. Wie entsteht aber diese? „Wissenschaft entsteht, wenn die Götter nicht gut gedacht w e r d e n . " 4 3 „ B e i der allgemeiner werdenden hellenischen Aufklärung bekommen die alten Götter spukhaften C h a r a k t e r . " 4 4
Mit der griechischen Götterwelt wird der „wehende Schleier, der das Furchtbarste verhüllte" 45 , zerstört. Es ergibt sich für die Wissenschaft die Aufgabe, ein neues Illusionsnetz über dem Leben auszuspannen. Dies besorgt sie durch den Glauben an Kraft und Reichweite der Logik, aber erst spät tritt zutage, was damit eigentlich geschieht, denn in Wahrheit hat nur der Genius die Kraft, „die Welt mit einem neuen Illusionsnetze zu umhängen" 46 . Die Redlichkeit der Wissenschaft löst zuletzt auch ihre eigenen Illusionen auf. Einzig die Kunst ermöglicht Leben, weil sie „durch das Logische unauflösbar" ist 47 . „ D e r Zweck der Wissenschaft ist Weltvernichtung." 4 8 41 42
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Z, Vorrede 5. Pensees 194: „ . . . C'est un enchantement incomprehensible et un assoupissement surnaturel, qui marque une force toute-puissante qui le cause." — „Das ist eine unbegreifliche Verzauberung und eine übernatürliche Einschläferung, die eine allmächtige Gewalt offenbart, die sie verursacht." (Übers, v. Wasmuth). Wiss. u. Weisheit im Kampfe 1. U . d . W . I , S. 6, 10. U . d . W . I , S. 3, 2. U . d . W . I , S. 37, 77. U . d . W . I , S. 33, 62. U . d . W . I , S. 31, 60.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Das Hintergründige dieses — Nietzsches Divinationsvermögen überraschend bezeugenden — Satzes ist nicht so sehr die Vorwegnahme einer durch Wissenschaft ermöglichten tatsächlichen Vernichtung und Zerstörung der Welt, sondern sein Sinn ist: indem dem Menschen im wissenschaftlichen Denken die Transzendenz schwindet, behält er nicht die Welt, sondern auch diese, wenn sie an nichts mehr grenzt, geht verloren. Ohne Metaphysik kann es auch keine Physik geben. Dieser Vorgang entzieht sich zunächst: „Dabei geschieht es allerdings, daß die nächste Wirkung die von kleinen Dosen Opium ist: Steigerung der Weltbejahung. . . ," 4 8
Weltverlorenheit muß nichts Schlimmes sein — im Gegenteil —, aber die, die Nietzsche hier im Blick hat, ist das stärkste Negativum. Der moderne Mensch lebt nicht einmal mehr in einer „Welt" (damit parallel geht die zunehmende Bedeutung des Weltproblems in der neueren Philosophie), er ist nur noch „unaustilgbar wie der Erdfloh" 41 . Mit der Herrschaft des undionysischen Geistes verstummt der „versöhnende Klang aus einer anderen Welt" 4 9 . „. . . denn woher sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können? Man suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz;" 4 9
Hier beginnt die Verweltlichung, deren letzte Konsequenz das Zerstören auch noch dieser Welt selbst ist. Die Heiterkeit des theoretischen Menschen muß nach irdischer Konsonanz streben, sie setzt einen eigenen deus ex machina, „nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, das heißt, die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister" 49 ,
sie glaubt an eine „Korrektur der Welt durch das Wissen, an ein durch Wissenschaft geleitetes Leben" 49 . Sie ist auch wirklich imstande, „den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt: „Ich will dich: du bist wert erkannt zu werden." 4 9
Aber dieses Glück ist in Gefahr, den änigmatischen Grundcharakter der Welt in seinem Absolutsetzen des Erkennbaren zu verfälschen. Die Früchte des unumschränkt sich wähnenden Optimismus sind erschreckend: „ N u r soll man sich nicht verbergen, was im Schöße dieser sokratischen Kultur verborgen liegt! Der unumschränkt sich wähnende Optimismus! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Kultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube 49
G . d . T . 17.
Das Glück der Aufklärung (Erdenglück) als Folge des Sokratismus
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an das E r d e n g l ü c k a l l e r , wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen Wissenskultur allmählich in die drohende. Forderung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes . . . umschlägt! Man soll es merken: die alexandrinische Kultur braucht einen Sklavenstand, um auf die Dauer existieren zu können: aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Notwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effekt ihrer schönen Beruhigungs — und Verführungsworte von der „ W ü r d e des Menschen" und der „ W ü r d e der A r b e i t " verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es gibt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sklavenstand, der seine Existenz als ein U n r e c h t zu betrachten gelernt hat . . . " s 0
Der geschichtliche Ort der sokratischen Heiterkeit ist vorbei; Kant und Schopenhauer haben über den Optimismus als Untergrund unserer Kultur gesiegt 50 . Das scheinbar Feste dient nur dazu, den über die Wahrheit im letzten Sinne „Träumenden noch fester einzuschläfern" 50 . Nachdem so Grenzen und Bedingtheiten des Erkennens klar eingesehen sind, ist die Naivität des sokratischen Menschen verloren, seine Heiterkeit wird unredlich. Eine Wissenschaft, die beginnt, vor ihren Konsequenzen zurückzuschrecken, wird ein Monstrum. Das Erdenglück aller als Ergebnis der Suche nach irdischer Konsonanz, letztlich als Folge des Glaubens, am Sokratismus dennoch festhalten und ihn sogar zur allgemeinen Wissenskultur erweitern zu können, wäre die Barbarei, der Nihilismus. Bereits auf dieser frühen Stufe der Reflexion aber ist für Nietzsche der Nihilismus eine Form der philosophischen „Erholung", „ein großes Gliederstrecken" im Kampf gegen häßliche Wahrheiten 51 ; das heißt, Nihilismus wird nicht als Ziel gefaßt, über das nicht hinauszugehen ist. Er ist etwas, das überwunden werden muß. So dienen auch diese eben erörterten Gedanken letztlich dazu, auf eine neue tragische Kultur hinzuzielen, die sich von den „verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften" 50 nicht mehr täuschen läßt und „das ewige Leiden im Gesamtbilde der Welt" 5 0 als das eigene Leiden ergreift. Dieses Leiden würde als neue Not vielleicht auch eine neue Kunst lehren, eine neue „Kunst des metaphysischen Trostes" 5 0 . Denn es gilt: „ M a n hat nur, was man nötig h a t . " 5 2
Also wäre Nietzsche doch nur ein hinterlistiger Metaphysiker, der seinen Gott nicht losgeworden ist? Die Interpretation wird zeigen, daß man diese Frage so nicht bejahen kann, aber es ist wichtig, die Intention zu sehen, aus der heraus Nietzsche sich eigentlich nicht mehr passender Wörter und Begriffe be50 51
52
G . d . T . 18. K A W VIII, 2 - 1 1 (108) ! = W . z . M . 598/ (! = in leicht veränderter Form laut der kritischen Ausgabe) Ähnlich: VIII, 3 - 1 6 (30): „. . . Der Nihilismus ist u n s e r e Art Müssiggang . . . " . K A W VIII, 3 - 1 8 (1) ! = W . z . M . 1040.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
dient. Die alten Formen können nicht sogleich abgestreift werden, die metaphysische Erfahrung selber macht in Nietzsche eine Häutung durch.
2.5. Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung 2.5.1. Die Heiterkeit des Sokrates — eine Ausflucht vor dem Glück des Dionysos Es bleibt eine merkwürdige Tatsache, daß Sokrates, und das heißt hier „das Problem der Wissenschaft" 5 3 , eine so zentrale Bedeutung erlangen in einer Schrift, die sich mit einem ausgezeichneten Phänomen der Kunst, der griechischen Tragödie, befaßt. „ D i e Kritik des Sokrates macht einen Hauptteil des Buches aus . . . der Sokratismus als das große Mißverständnis von Leben und Kunst: die Moral, Dialektik, Genügsamkeit des theoretischen Menschen eine F o r m der E r m ü d u n g ; die berühmte griechische Heiterkeit war eine A b e n d r ö t e . . . " 5 4
Nietzsche setzte sich bekanntlich lebenslang mit Sokrates auseinander, der ihm — ungeachtet, daß alle Beschäftigung mit historischen Figuren von ihm sogleich als Mittel zur Selbstauslegung ergriffen wird — wohl den Typus des Philosophen schlechthin verkörperte. In der „Geburt der Tragödie" steht Sokrates für die Auseinandersetzung mit der Philosophie, insofern sie Wissenschaft ist, das heißt, dialektisch verfährt, und sofern sie Moral ist mit ihrer Grundgleichung Wissen = Tugend = Glück. Man könnte kritisch einwenden, daß Nietzsche die Begriffe „Sokratismus", „apollinisch" und „dionysisch" nicht in eindeutig fixierte, logisch einwandfreie Beziehung zueinander bringt 55 . Dennoch ist wichtig zu sehen, daß er deshalb keineswegs „letztlich dann doch im Ungefähren verbleibt" 5 5 , sondern gerade aus Strenge des Denkens bleibt Logik nicht sein letztes Ziel. Erkenntnis ist bloß ein „Spinnen-Glück" 5 6 . Man muß sich auf die Intention Nietzsches einlassen: es geht ihm nicht primär darum, verschiedene Begriffe auf ihr Verhältnis zueinander und ihre Tragweite hin zu untersuchen, sie logisch zu verknüpfen, wie es das Geschäft des Sekundärphilosophen ist, sondern „Sokrates", „Apoll", „Dionysos" werden ihm Chiffren, um etwas vom Änigmatischen der Wirklichkeit im letzten Sinn blitzhaft aufleuchten zu lassen, „ . . . eine schwindelerregende Weite der Umschau, des Erlebten, Erratenen, E r schlossenen" 5 7 53 55 56
5 4 U. d. W. I, S. 390, 1273. Versuch einer Selbstkritik 2. So bei H. ]. Schmidt, Nietzsche und Sokrates, Meisenheim am Glan 1969, S. 31 f. 5 7 U . d . W . I , S. 393, 1280. S. K A W V , 1 - 9 (15).
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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zu vermitteln. Das heißt aber, Philosophie wird zum paradoxen Tun, denn es geht um den immer neu unternommenen Versuch, das Nichtsagbare dennoch zu sagen: „Grundglaube: das Wesen nicht mitteilbar"58. Nietzsche kann nicht selber in den Fehler des Sokrates verfallen und sich völlig der „theoretischen Heiterkeit" überlassen, die er zweifellos als Möglichkeit in sich angelegt sah. Er interessiert sich für die Wissenschaft in diesem Zusammenhang nur insoweit, als sie beanspruchen könnte, Wirklichkeit im letzten Sinn zu erfassen, dem Leben im Letzten gerecht zu werden. Dabei kommt er zu der Gewißheit, daß Sokrates Leben und Kunst auf große Weise mißversteht. Optimistischer Glaube an die Logik macht die Wissenschaft „beinahe zur Gegnerin der Wahrheit" 5 9 . Solange der Erkenntnis die Einsicht in ihre trügerischen Fundamente verwehrt ist, muß der Erkenntnistrieb anderswo nach Begrenzung suchen, um nicht an dem ihm einwohnenden Hang zum Ubermaß zugrundezugehen. Er begrenzt sich „durch die i n d i v i d u e l l e Rücksicht auf G l ü c k l i c h - l e b e n " 6 0 . Solches sokratische Glück des Einzelnen ist aber für Nietzsche immer nur ein Winkelglück wegen der Beschränktheit seiner Perspektive. N o c h in der „Götzendämmerung" wird er daher nicht müde, gegen die sokratische Auffassung, daß der Wissende aufgrund rechter Einsicht das Rechte tue und so Glück erlange, zu polemisieren. Warum ist diese Polemik für Nietzsche so wichtig? Gäbe man den Satz Wissen=Tug e n d = G l ü c k zu, so würden Glück und Unglück zu einem bloßen „Rechenexempel" 6 1 · 6 2 . „ G l ü c k " würde zur „ganz behaglichen Weiterexistenz" 6 1 , Unglück aber ein „Rechenfehler" 6 1 und so ein „Lustspielmotiv" 6 1 . Der Sokratismus vergißt, daß jedes Rechnen bloß mit „Formeln für absolut unerkennbare K r ä f t e " 6 3 umgeht. Wie schon ausgeführt, wird das augenblicklich Lindernde, die Heilkraft der Heiterkeit des theoretischen Menschen zwar von Nietzsche stark empfunden, aber es bleibt ein „Mißtrauen gegen die Wissenschaft" 6 4 . „Soviel Mißtrauen, soviel Philosophie." 6 5 Von hier aus weitergehend könnte man sagen: Philosophie ist gerade nichts anderes als das immer wachU . d . W . I , S. 332, 1051. U . d . W . I , S. 390, 1273. 6 0 U . d . W . I , S. 47, 95: „ E s ist eine letzte niedere Phase." 6 1 Sokrates und die Tragödie, KAW III, 2 - S. 39. 62 Balmer nennt diesen Satz auch mit Recht „das kardinale teleologische Problem". Η. P. Balmer, Nietzsches Auflösung der Teleologie, Diss. Tübingen 1972, S. 59 ff. - Man sieht, wie auch vom Problem des Glücks her N . kein teleologischer Denker sein kann. " U . d . W . I , S. 55, 113. Hier zeigt sich N . als Kantianer. 6 4 U . d . W . I , S. 387. « F. W. 346. 58
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zuhaltende Mißtrauen gegen die Wissenschaft, wo sie glauben machen will, daß sie genüge. Und so sucht Nietzsche in der Durchleuchtung des Sokrates als Typus sich über seine eigene, bereits „Instinkt" gewordene Wissenschaftlichkeit Rechenschaft zu geben, sie zu bändigen, wie er es oft nennt, und ihre Unterlegenheit gegenüber der tragischen Weisheit aufzudecken. Ist also die „Geburt der Tragödie" ein wissenschaftstheoretisches Buch? Oder, insofern sie auch den Philosophen in Sokrates kritisiert, ein philosophiekritisches Buch? Ein „philosophiekritisches" Buch kann sie nicht sein, weil es eine solche Position nicht gibt. Wohl ist die Philosophie selber — seit Descartes und vor allem seit Kant — kritisch im Sinne von: Grenzenziehen für die Erkenntnis, aber es ist unmöglich, sich gleichsam außerhalb der Philosophie anzusiedeln, um möglichst „objektiv" und „kritisch" auf sie hinzublicken. Jede solche scheinbar neutrale Position setzt immer schon eine Philosophie voraus, der aber dann ihr eigenes Wesen verdeckt ist. Diese Problematik kann in diesem Zusammenhang nicht angemessen entfaltet werden. Eine solche „Metaphilosophie" wäre aber nicht besonders kritisch, sondern naiv und griffe ins Leere. Nietzsche ist am Problem der Wissenschaft auch nicht wissenschaftstheoretisch interessiert. Dazu ist sein Gefühl vom Unheimlichen, das dem Sokratismus anhaftet, viel zu stark. Der ursprünglich naive Rationalismus, der sich zum „Fanatismus der L o g i k " 6 6 steigert, ist für Nietzsche zutiefst erschreckend. Auch weil solcher Fanatismus an der Unrechten Stelle dann wieder allzugenügsam ist 6 7 . Nietzsche kann keine wissenschaftstheoretische Schrift verfaßt haben. Das zeigt deutlich die einfache, aber weittragende Überlegung: ,,— denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden — " 6 8 .
So gesehen würde „eine Sache erkennen" gerade nicht bedeuten, ihr näher zu kommen, in sie hineinzukommen, sondern hätte im Gegenteil ein Heraustreten, Distanzieren von ihr zur Voraussetzung, ein Verlassen ihres Bodens. Wissenschaftstheorie aber, und nennte sie sich Metawissenschaft, kann immer
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K A W III, 2 - S. 33: „ D i e Fanatiker der Logik sind unerträglich wie Wespen." — Eine in ihrer Art typisch nietzschische Aussage, die zwar nicht eigentlich argumentiert, sondern „ m i t U n s c h u l d " übertreibt, die aber dennoch und gerade so Wesentliches trifft, das anders nicht auszusagen wäre. Wohlgemerkt: nicht das logische Denken ist unerträglich - wann hätte je ein Philosoph so etwas gemeint? — wohl aber sein Fanatismus, d . h . , sein Anspruch, letzte Gültigkeit zu haben. Vgl.: „ D i e Philosophie rein zur Wissenschaft machen (wie Trendelenburg) heißt die Flinte ins Korn werfen." U . d . W . I , S. 86. Versuch einer Selbstkritik 2.
Das dionysische Glück: Welt — Glück - Erlösung
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nur auf dem Boden der Wissenschaft bleiben 69 . Dieses Heraustreten ist aber nicht so vorzustellen, als gäbe es irgendeinen neutralen Ort — vielleicht gar aufgefaßt als den des in seiner Naivität geschichtslos dauernden allgemeinen Menschenverstandes —, von dem aus der Erkennende zu einer mühelosen, allgemein verbindlichen Schau der Wirklichkeit gelangen könnte. Dies hieße die Endlichkeit des Erkennens verkennen oder — nach Nietzsche (und schon Leibniz) — die Perspektivität alles Seienden nicht sehen, den Scheincharakter von Erkenntnis sich verdecken. „Heraustreten" ist auch nicht zu nehmen im wesentlichen Sinn von Ekstasis, als Herausversetztwerden aus allem überhaupt, wie es mystisch orientierte Denker entwickeln, sondern ist hier nur möglich als „Eintreten", nämlich in eine neue Perspektive. So sagt Nietzsche, daß er das Problem der Wissenschaft „hingestellt habe auf den Boden der Kunst" 7 0 . — Es ist übrigens sehr die Frage, ob die Sprechweise von einem Boden hier überhaupt zu halten ist. Philosophie bedeutet gerade, und selten hat das jemand so klar gesehen und durchlitten wie Nietzsche, jeden „Boden", alle „Sitze" 7 1 aufgeben. Es ist klar, daß, wenn Nietzsche mit seinem Begriff des Dionysischen in weitesten Perspektiven denkt, er damit keinen Boden meint, auf den man sich stellen soll. — Das Erlebnis der Kunst als Raum des Wirklichen 72 bietet nicht nachträglich einen Ausweg aus dem gefährlichen Abweg des Sokratismus, sondern ermöglicht und legitimiert allererst die Kritik an ihm. Es handelt sich um zwei verschiedene Seiten ein und derselben Erfahrung. Die Kunst enthält „eine Gegenkraft gegen alles Neinsagen und Neintun, ein Heilmittel der großen Müdigkeit"73
des Sokrates. Aber Sokrates entzieht sich dieser Kur, denn er hatte „keinen Sinn für die Kunst" 7 4 , und mit einer bereits zarathustrisch gefärbten liebe69
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Daher ist Wissenschaftstheorie letztlich unfruchtbar; sie wäre Symptom eines niedergehenden Lebens nach Nietzsche, da sie nichts Neues schafft. Sie kann keine neuen Perspektiven eröffnen. Versuch einer Selbstkritik 2. Im Bildfeld von „Boden" liegt auch, daß man dort einen „Stand" einnimmt und einen Standpunkt bezieht. Ganz abgesehen davon, daß solche Haltung geschichtlich gesehen noch nicht sehr lange möglich ist — eigentlich gibt es erst in der Neuzeit „Standpunkte" — muß man wissen, daß solche Vorstellungsweise eine Illusion ist, wenn man natürlich auch im „metaphysischen Alltag" gewissermaßen einen Standpunkt haben muß. Daß es einen solchen sicheren Punkt, von dem aus man unbehelligt alles beurteilen kann, nicht gibt, ist eine der wesentlichsten Einsichten Nietzsches. — Vgl. auch G . D . , Sprüche und Pfeile 34: „Das Sitzfleisch ist gerade die Sünde wider den heiligen Geist." Fink, a.a.O., S. 20 spricht von Apollo und Dionysos als von „Grundmächten der Weltwirklichkeit". — Inwieweit ist für Nietzsche das Wirkliche welthaft und die Welt wirklich? Eine schwierige Frage. U . d . W . I , S. 393, 1279. Wissenschaft und Weisheit im Kampfe 9 und KAW IV, 1 - 6 (26).
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vollen Bosheit findet Nietzsche es in diesem Zusammenhang auch bezeichnend, daß Sokrates häßlich war 7 5 . Was Nietzsche eigentlich am Phänomen der griechischen Tragödie interessiert und was Sokrates gar nicht in den Blick bekommt, ist der darin sich kundtuende Pessimismus und die Möglichkeit seiner Uberwindung. Pessimismus jetzt nicht verstanden als in seiner hedonistischen Färbung zum Geschwätz entartet, sondern als ein „Pessimismus der Stärke" 7 6 , in bezug auf den Wissenschaft „vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht" ist 7 6 . Ausflucht wovor? Vor dem rätselhaften und entsetzlichen Daseinsgrund, vor dem „Winken des Kometenschweifs" 7 7 , den noch die klarsten Figuren der alten Tragödie an sich hatten und „der ins Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien" 7 7 . Das Ungeheure verliert sich in dem euripideisch-sokratischen Glauben an den „Verstand als die eigentliche Wurzel alles Genießens und Schaffens" 7 7 . Gerade von diesem schlechthin Unaufhellbaren aber bezieht Nietzsches Denken in allen Phasen seine Stoßkraft. Daher ist es nicht eigentlich „theoretisch": einer Theorie kann nie etwas unheimlich sein, sie macht das Unvertraute vertraut. In ihr als Sieg des Begrifflichen liegt immer eine trügerische Heiterkeit. So wäre der Weg des Sokrates, streng genommen, Ausflucht vor der Aufgabe, sich der Wirklichkeit im letzten Sinn zu stellen, das heißt aber in Nietzsches Sprechweise, den Sinn für Dionysos zu schärfen und sich seinem Bereich zu öffnen.
2 . 5 . 2 . Das Problem der Auslegung des Dionysischen Es hieße, Eulen nach Athen tragen, wollte man die große Bedeutung, die für Nietzsches Denken das Dionysische hat, noch eigens hervorheben. Man hat davon bis zum Überdruß gehört. Aber eines ist es, etwas zu wissen, das heißt, es in den Bestand seines Allgemeinwissens aufgenommen zu haben, ein anderes, beim Mitvollzug von Nietzsches Gedankenbewegung plötzlich auf das zu stoßen, was in solchem Wissen beschlossen liegt. Wer also oder was ist Dionysos? Ihn einen Gott zu nennen, beantwortet ja im Grunde nichts, sondern vermehrt nur die Fragen. Man kann das Problem nicht loswerden und dann zum nächsten Kapitel übergehen wollen. Am
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S. und die Tragödie, K A W III, 2 — S. 3 7 : „ D i e Wissenschaft aber und die Kunst schließen sich aus: von diesem Gesichtspunkte ist es bedeutsam, daß Sokrates der erste große Hellene ist, welcher häßlich war . . . " — Andererseits steht Sokrates so aber auch in einem wesentlichen Bezug zu Nietzsches Grundeinsicht, daß die Wahrheit häßlich ist; eine Erkenntnis, die er nie in Zweifel zog. Versuch einer Selbstkritik 1. G . d . T . 11.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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ehesten wäre noch zu sagen, Dionysos sei das, was überhaupt nicht durch eine Definition zu treffen ist. Er ist nicht durch „theoretische Heiterkeit" besiegbar. Wohl aber ist das Phänomen des D i o n y s o s zu i n t e r p r e t i e r e n , wobei zu bedenken ist, daß jede Interpretation zwar nichts Willkürliches, aber doch etwas frei Gewähltes und immer auch spontan Hervorgebrachtes an sich hat. E s ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, welches Gewicht bei Nietzsche der Gedanke der Auslegung 7 8 überhaupt erhält. Das Wesen des Willens zur Macht, also des Lebens selbst, ist Ausdeutung; interpretieren ist die dem Leben gemäßeste Tätigkeit. „Der Wille zur Macht interpretiert: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation. . . . (Der organische Prozeß setzt f o r t w ä h r e n d e s Interpretieren voraus.)"79 „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es gibt keine „richtige" Auslegung"." 8 0 „Auslegung, nicht Erklärung. Es gibt keinen Tatbestand, alles ist flüssig, unfaßbar, zurückweichend . . . Sinn-hineinlegen." 81 Wenn das aber so ist: wie „ s t a b i l " ist dann solche Aussage über das „ F l ü s s i g e " ? Ist nicht wenigstens d a s feststehend, daß alles unfaßbar ist? Also hebt die Aussage sich selbst auf? Man ist an zahllosen Stellen genötigt, eine ähnliche Reflexion zu vollziehen. So ist alles bloße Gedankenspielerei? O d e r in sich unsinnig? Hier ist eine der Denkerfahrungen, die Sokrates dazu bringen müßten, „ M u s i k zu treiben". Das Merkwürdige ist, daß an solchen Stellen, w o die Logik beginnt, sich um sich selbst zu ringeln, eben nicht alles ins Nichts im Sinne des Nichtigen absinkt, sondern etwas bleibt, eine „ G e w i ß heit", die nicht die von Descartes ist. Gehört sie z u m Gefolge des D i o n y s o s ? O d e r man könnte einwenden: macht hier nicht der Philologe Nietzsche sein Handwerk zum Prinzip der Weltauslegung? Wird die Natur selbst unversehens zum Philologen? E s wurde schon gestreift, daß nicht eine Tätigkeit, ein „ E t w a s " in der Welt dazu taugen kann, Metaphysisches auszusagen. Einzelnes in der Welt kann nicht ein Bild der Welt im G a n z e n abgeben. Also ist die natürliche Sprache nicht für die Metaphysik „ g e m a c h t " . Dennoch muß immer der Ausgang von ganz Konkretem gewagt werden und der A b s p r u n g unternommen, man kann nicht zuvor eine „tabula r a s a " herstellen wollen, die ja dann auch ihrerseits wieder zur Frage gemacht werden müßte. Auf solche Weise entstünde nie Metaphysik, aber auch nicht das einfachste Gespräch. 78
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Vgl. vor allem den Nachlaß der Zeit Herbst 1885-Herbst 1887: KAW VIII, 1 - 1 (119) (120) (140) / 2 (73) (82) (86) (108) (109) (148) (151) / 6 (15) / 7 (3). KAW VIII, 1 - 2 (148). KAW VIII, 1 - 1 (120). KAW VIII, 1 - 2 (82), dazu 2 (86): „Was kann allein Erkenntnis sein? - „Auslegung", nicht ,Erklärung'."
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Leben ist also Auslegung, des „Lebens Lebendigstes" aber, in Zarathustras Sprache zu reden, ist der Geist: einzig möglicher Maßstab für eine Rangordnung der Auslegungen wäre also ihr Grad der Geistigkeit, also ihre Lebendigkeit, Nietzschisch gedacht ihre Macht. Auch die geistigste und mächtigste Weltauslegung wäre aber niemals richtig oder falsch. Wer eine Definition der sogenannten „letzten Dinge" (die natürlich eben keine Dinge mehr sein können), zum Beispiel der Kantischen Ideen Welt — Seele — Gott, verlangte, bevor er sich auf sie einlassen könnte, wäre unvorsichtig in der Wahl seiner Sicherheiten. Er verkennt, daß er letzte Sicherheit bei einer Auslegungsart von nur relativer Gültigkeit, der Logik, sucht. Diese Überlegungen sind bekannt unter dem Namen des Perspektivis82 mus . Philosophisch beruht er auf der Grundüberzeugung Nietzsches, daß es ein An-sich irgendwelcher Art überhaupt nicht gibt und geben kann, eine Einsicht, die auf der Ebene der transzendentalen Reflexion schon von Fichte gewonnen ist. Überwindet das Dionysische den Perspektivismus oder ist es selbst eine bloße Perspektive, wenn auch eine besonders weitreichende? Es kann nicht anders sein, als daß die Schwierigkeiten sich hier potenzieren: gibt es schon im Bereich des Erkennbaren des Sokrates-Apoll keine Tatbestände, so ist der „Gegenstand" des Dionysischen, wenn man so will, das Unerkennbare und also Unbenennbare schlechthin. Wir haben heute „in einer späten Zeit, in der alles und jedes, durch die technische Vervielfältigung und Verbreitung des Wortes und durch die Industrialisierung des Intellekts . . . derart zerdacht und zerredet ist" 8 3 , ein seltsames Unbehagen bei grundsätzlichen Wörtern wie ζ. B. „Unaussprechliches", „Unerkennbares", die uns nichts mehr verbürgen und die sich uns auf unheimliche Weise entleert haben 84 bis hin zur völligen Verflüchtigung des Phänomens selber, das sie bezeichnen. So ist alle Anstrengung aufzubringen, zunächst um solche Widerstände in einem nicht zu leicht zu nehmen, dann aber auch, um sie zu überwinden und sich in ein ursprüngliches Verhältnis zu dem, was in ihnen liegt, zu setzen. Bei solchen Bemühungen wirkt die Philosophie Nietzsches unendlich befruchtend, weil sie von den verschiedensten Seiten her und vor allem im „Begriff" des Dionysischen vor solche Erfahrungen führt, die das Denken und damit die Aussprechbarkeit — mit Kierkegaard zu
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vgl. vor allem W . z . M . 481. W. Struve, W i r und Es, Zürich 1957. S. 102. U m s o wichtiger und befreiender ist es, auf einen Satz zu stoßen wie den: „Liegen die wesentlichen Errungenschaften metaphysischen Denkens doch ohnehin ganz im Unaussprechlichen." W . Struve, Der andere Zug, a . a . O . , S. 4 - Weshalb es auch endlich an der Zeit wäre für die Philosophie, „mit ihrer Unscheinbarkeit ernst zu machen und auf die welthistorische Gebärde zu verzichten!" W. Struve, Wir und E s , a . a . O . , S. 104.
Das dionysische Glück: Weh — Glück - Erlösung
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reden — am Unendlichen stranden lassen. — Zumal niemand Nietzsche ein vorschnelles Sich-Bescheiden des Denkens oder mangelnde Redlichkeit wird vorwerfen können! — Die Frage ist in solchem Fall immer, ob die „Unbegreiflichkeit des höchsten Weltzusammenhangs" o.ä. nur behauptet wird oder ob tatsächlich denkend an sie gestoßen wird. Sagt man nun: Nietzsche nennt also die unaussprechliche Seinsfülle, den Lebensgrund oder wie immer, das Dionysische, so ist wieder alles verloren und ein X für ein U gesetzt. Vergegenständlichend von d e m Unerkennbaren zu sprechen, verfälscht bereits den „Tatbestand" — denn in einem anderen Sinn als früher angeführt gibt es allerdings nicht umzubiegende „Tatbestände", die bloß keine „Tatsachen" sind. Das, worauf der Terminus zielt, ist keine Substanz mit der Eigenschaft, unerkennbar zu sein. Benenne ich sie aber, so nehme ich gleichsam schon das Unerkennbare ins Erkennbare herein, mache es auf e i n e Weise doch wieder begreiflich (dies auch die Position von Kant, wenn er betont, daß wir begreifen, daß wir nicht begreifen können). Das weiß niemand besser als Nietzsche, und darum nennt er das Dionysische auch herabmindernd einen „ T e r m i n u s " 8 5 , eine „ F o r m e l " 8 5 oder nur seiner „Schulsprache" 8 5 angehörend. Streng genommen verfällt jeder Versuch, etwas Wirkliches auszusagen, eben durch die bloße Aussage, der „Schulsprache", das heißt, es geht das Einmalige und Unverwechselbare dessen, was zur Sprache gebracht werden soll, verloren. Dies ist sicher auch eine Bedeutungsnuance, wenn Nietzsche formuliert: „ J e d e Philosophie v e r b i r g t auch eine Philosophie." 8 6 ·
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Es kann nicht eigentlich der Versuch unternommen werden, das Dionysische zu erkennen, denn was wir Erkennen nennen, ist allermeist nur ein Wiederfinden von zuvor schon fälschlich für bekannt Gehaltenem. Wir meinen gewöhnlich, „ b e - k a n n t " sei schon „ e r - k a n n t " 8 8 . „ U n s e r „ V e r s t e h e n " ist selbst etwas Unverständliches und jene letzte Resonanz in unseren Trieben ist doch nicht mehr als ein neues großes Unbekanntes. — " 8 9 85 86 87
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Belege bei M. Kaempfert, a.a.O., Stichwort dionysisch. J . v . G . u . B . , Was ist vornehm? 289. Zu diesem Problem äußert sich N . öfter, eindringlich im letzten Stück von J.v. G . u . B . (Am Rande ist hier auch der Hinweis auf den Mandarin mit chinesischem Pinsel als „Verewiger der Dinge, welche sich schreiben l a s s e n " interessant. Offenbar lassen sich also nicht alle Dinge schreiben; dann ist ihm der Chinese einmal ein wohlgeratenerer Typus als der Europäer (s. W. z.M. 90), zum andern aber ist „Chinesentum" abschreckendes Beispiel einer vielleicht zwar hochstehenden, aber in der Uniformität ihres erhöhten Niveaus tödlichen, lebensfeindlichen Kultur.) — Zu der Art „chinesischen Glückes" s. auch: M. 206, F.W. 24! S. auch Nachlaß KAW V, 1 - 6 (304): „Man kann seine Gedanken nicht wiedergeben in Worten, sie sind zu schattenhaft schnell hinter den Empfindungen zu(rück)." S. F.W. 355. «9 KAW V, 1 - 6 (238).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Dennoch gilt: „Soweit das W o r t „ E r k e n n t n i s " Sinn hat, ist die Welt e r k e n n b a r . " 9 0
Aber: „Manche Erkenntnisse sind nur für Einige da und Anderes will in der günstigsten vorbereiteten Stimmung erkannt s e i n . " 9 1
— Übrigens wäre zu fragen: Woher die Gunst der günstigen Stimmung? Man stößt immer wieder auf das Problem des im Glück Gelingenden. — Heute neigt man dazu, solche Einsichten als „elitär" abzutun — ein Begriff, über den Nietzsche viel Spott ausgegossen hätte und sicher nicht, weil er „elitär" war — und entzieht sich so der Auseinandersetzung mit einer Grundtatsache geistigen Lebens. Nietzsche notiert sogar mit entwaffnender Einfachheit: „ D e r Philosoph ist ein W u n d e r . " 9 2
Das heißt, eigentlich sind immer alle Lebensumstände der Einzelnen wie der Zeiten primär dazu angetan, das Entstehen von so etwas Innerem wie Philosophie zu verhindern, so daß man sich nicht zu wundern hätte, warum es nur so wenige originäre Philosophen in der Menschheitsgeschichte gibt, sondern viel eher darüber, daß es überhaupt welche gibt. Das heißt aber auch in letzter Konsequenz, daß das, was Nietzsche mit dem Dionysischen meint, nicht „nur für Einige", sondern wahrscheinlich sogar nur für ihn allein „da" war. Nietzsche denkt mit seinem Grundbegriff in einen Bereich hinein, der über alles bloß Kommunizierbare (und schon gar Ubernehmbare) hinausliegt, führt aber gerade deshalb, wenn man sich auf seine Gedanken einläßt, zu einer „Erfahrung", die jeder auf seine eigene Weise machen muß. — Jaspers scheint hier Nietzsche zu tadeln, weil „sein Dionysossymbol niemand wirklich zu eigen geworden" ist, „so wenig wie der Ubermensch, die ewige Wiederkehr" 93 , aber es ist wichtig zu sehen, daß dies nicht daran liegt, daß Nietzsche nach der mit einmaliger Unerschrockenheit und Radikalität vollzogenen Destruktion der überlieferten Metaphysik wieder zurückfällt in eine Philosophie „positiv bestimmter und damit verengender metaphysischer Seinssetzungen"94 — so Jaspers' Hauptkritik an Nietzsche —, sondern in diesen Symbolen setzt Nietzsche Zeichen seiner ganz persönlichen und einmaligen, daher unwider90
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W. z.M. 481 / das Zitat geht weiter: „aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. — ,Perspektivismus'." KAW III, 3 - 5 (89), Sept. 1870-Jan. 1871. KAW III, 3—18 (9). K. Jaspers, Nietzsche, Berlin und Leipzig 1936, S. 332. Jaspers empfindet die ganze Dionysossymbolik sogar als „fast aufdringlich und zugleich fragwürdig" (S. 329). Aber damit hat man ein Verdikt über den ganzen Nietzsche gesprochen! A.a.O., S. 332.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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holbaren D e n k e r f a h r u n g e n , die andere z w a r befruchten, die aber nicht v o n anderen denkenden Ichen ü b e r n o m m e n o d e r zu eigen gemacht w e r d e n k ö n nen. Platonisch gesprochen — u n d es ist o f t erstaunlich, wie platonisch der Anti-Platoniker N i e t z s c h e ist — m u ß jeder M e n s c h sein eigenes F l o ß b a u e n , u m durchs L e b e n zu s c h w i m m e n u n d ans andere U f e r ü b e r z u s e t z e n 9 5 . N i e m a n d kann bei einem anderen mitaufsitzen. Piaton
ins N i e t z s c h i s c h e ü b e r s e t z t
ergibt: „Niemand kann dir die Brücke bauen, auf der gerade du über den Fluß des Lebens schreiten mußt, niemand außer dir allein." 9 6 D i o n y s o s , U b e r m e n s c h , ewige Wiederkehr sind A n z e i c h e n einer „ P o s i t i v i t ä t " , in die hinein u n d aus der heraus N i e t z s c h e jederzeit d e n k t , u n d diese A r t der positiven D e s t r u k t i o n , die aber nichts A n h e i m e l n d e s an sich hat, ist es auch, w a s N i e t z s c h e s A u s s a g e n überall v o n scheinbar g a n z ähnlichen der Zeitg e n o s s e n wie manchen v o n Paul Ree trennt oder auch v o n rein aufklärerischen oder positivistischen T e n d e n z e n . W e n n alles A u s l e g u n g ist, so gibt es nichts, das ausgelegt w i r d . In der T a t scheint N i e t z s c h e hier w i e o f t über den Bereich der j e d e gegenständliche E r k e n n t n i s grundierenden S u b j e k t - O b j e k t - B e z i e h u n g h i n a u s z u d e n k e n . N i e t z sche ist nicht n u r Vollender des neuzeitlichen I d e a l i s m u s 9 7 , s o n d e r n es k ü n d e t sich in ihm auch etwas entschieden N e u e s u n d A n d e r e s an. N i c h t auslegende Subjekte treffen auf auszulegende O b j e k t e ; allenfalls ist A u s l e g u n g ein Spiel, das D i o n y s o s mit sich selber spielt, und es hieße sich d i o n y s i s c h verhalten, w e n n es gelänge, in dieses Spiel h i n e i n z u k o m m e n .
2 . 5 . 3 . D i o n y s o s als ek-statischer G o t t Sokrates ist der große G e g e n s p i e l e r des D i o n y s o s . E r ist auch „ d e r s p e z i fische N i c h t - M y s t i k e r " 9 8 , ja, der M a n g e l „ j e d e r mystischen A n l a g e " bei ihm w i r d v o n N i e t z s c h e interessanterweise als ein „ d e f e c t u s m o n s t r o s u s " bezeichnet. A l s o ist D i o n y s o s ein M y s t i k e r ? 9 9 Sein eigentliches L e i d e n ist die 95
Vgl. Phaidon 85d.
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Daß er es nur sei, dürfte eine grundsätzliche Auffassung von Heidegger in seinen NietzscheAuslegungen sein. »8 G . d . T . 13. Das Problem „Nietzsche und die Mystik" verdiente eine neue grundsätzliche Untersuchung. Natürlich kann man Nietzsche nicht zum klassischen Mystiker machen wollen. Formuliert man ebenso vorsichtig wie „faustgrob": Mystik ist die Erfahrung des inneren Übertritts auf die Seite dessen, was „Gott", „Ureines", „Absolutes" genannt werden kann, und das völlige Einswerden damit, so kann nicht übersehen werden, daß in Nietzsches Werk deutliche Reflexe eines solcherart „mystischen" Erlebnisses aufzuspüren sind. Es muß dieses Thema öfter gestreift werden, weil die Phänomene sich aufdrängen.
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3. U . B . 1.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Zerstückelung in die Individuen, sein Drang geht auf Wiedergewinnung der ursprünglichen Einheit. Er bricht durch das „Selbst" der Individuation, er vernichtet sie. Einheit als zentrales Motiv und lustvoll erlebte Vernichtung des Ich, die als ein Glück des Untergangs zugleich ein Glück des Ubergangs ist — denn der tragische Held ist bloß „Erscheinung", das heißt, sein Tod läßt keine letzte Trauer zu, und dies ist gerade das kathartische Moment der Tragödie — weisen in die Richtung der Mystik. Aber handelt es sich hier um das weltlose, das schlechthin Eine? Das Problem der Welt und damit auch das des Weltlosen weist ins Zentrum von Nietzsches Denken. Die Frage kann an dieser Stelle nicht entschieden werden. Gegnerschaft setzt Einheit voraus, aufgrundderen man sich bekämpfen kann: für Sokrates und Dionysos besteht sie im gemeinsamen Ausgang von der Heillosigkeit des Daseins. Viele Jahre später greift Nietzsche in der Götzendämmerung, in erstaunlicher Konsequenz für jemanden, dessen radikale Wandlungen und Sprünge oft in den Vordergrund gestellt werden, das Problem des Sokrates wieder auf und erklärt seine Faszination dadurch, daß er in der Not der Zeit ein Arzt, ein „Heiland" 1 0 0 war. — Es wird hier wieder deutlich, wie die Erlangung neuer Heiligkeit für Nietzsche, beim ganz konkreten Wortsinn ausgehend, als Heilen der Wunde des Daseins, ein Hauptproblem war. Die Therapie des Sokrates, das ist nun genügend ausgeführt, war die „Vernünftigkeit um jeden Preis", erreicht durch Kampf gegen die Instinkte. Aber: Sokrates war ein decadent. Bei allen produktiven Menschen jedoch ist „der Instinkt gerade die schöpferisch-affirmative Kraft" 101 , „solange das Leben a u f s t e i g t , ist Glück gleich Instinkt. — " 1 0 2 Daher s c h i e n Sokrates nur ein Heiland zu sein. Auch rückschreitende Bewegungen können sich als Fortschritt fühlen und ihre Ideale hervorbringen, ja, eigentlich braucht nur der decadent Ideale. Hier ist es das Ideal der Herstellung des „Tageslichtes in Permanenz". Aber diese Kur ist verfehlt, sie schlägt nicht an und k a n n es nicht, denn die decadence bringt es von sich aus nur zur Gegenbewegung, sie kann nur den gefährlichen Folgen des Leidens vorbeugen, aber nicht es heilen, nicht seine Ursachen beseitigen. Jedes „Gegen" bleibt wesentlich dem verhaftet, wogegen es sich wendet. „Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der decadence herauszutreten, daß sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht außerhalb ihrer Kraft . . . " 1 0 3 100 101 102 103
G.D., Das Problem des Sokrates 11. G . d . T . 13. G.D., a.a.O. G. D., a.a.O. / „decadence" dient Nietzsche auch manchmal dazu, das zu bezeichnen, was der Defekt der Endlichkeit überhaupt ist.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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Dieser wichtige und oft übersehene Unterschied zwischen „ b e k ä m p f e n " und „ h e r a u s t r e t e n " zeigt auch die ganz andere D i m e n s i o n des D i o n y s o s an: er ist nicht n u r der Gegner des Sokrates, vielmehr ist er ja wesentlich der ekstatische G o t t . Sein Wesen ist das Heraustreten überhaupt, das Über-hinaussein-und-greifen. D i o n y s o s ist das dem Bild- und Gestalthaften als dem Reich des Apoll gegenüber Transzendente, das Bild- und Gestaltlose. Hier ist aber jeder konventionelle Transzendenzbegriff 1 0 4 fernzuhalten. D i o n y s o s ist keine Hinterwelt, er ist vor allem kein D i n g an sich hinter dem Reich apollinischer Erscheinung. D a s D i n g an sich ist bekanntlich für Nietzsche „eines homerischen Gelächters w e r t " 1 0 5 . Seine Bewegung des Über-hinaus weiß kein Ziel zu nennen. Deshalb irrt D i o n y s o s aber nicht ziellos umher, sondern er ist alles Ziel losgeworden, nicht im Sinne eines Mangels, sondern in dem, daß es ihn überhaupt gar nicht betrifft. A l s o : nicht Mangel, sondern Fülle, nicht decadence, sondern Austritt aus der decadence ist mit „ D i o n y s o s " gemeint. Dies ist auch ein G r u n d , warum Nietzsche im Rückblick nicht mehr versteht, w a r u m er seine ganz spezifischen Erfahrungen in Schopenhauerische Kleider hüllte. Insofern ist der Ubermensch nur eine andere Seite von D i o n y s o s , er ist das dionysische Prinzip par excellence. D e r dionysische Mensch ist kein Idealist. Idealismus ist kein Heilmittel: „ D i e s e n deutschen Idealisten habe ich o f t zugesehen, sie aber nicht mir: — sie wissen und riechen nichts davon, was ich weiß, sie gehen ihren sanften Schlendergang, sie haben das H e r z voll anderer Begierden als ich: sie suchen andere L u f t , andere N a h r u n g , anderes Behagen. Sie sehen h i n a u f , ich sehe h i n a u s , — wir sehen nie das Gleiche. — Mit ihnen u m z u g e h e n ist mir verdrießlich . . . ihr „ f o l g l i c h " riecht mir faul, sie entrüsten sich, w o bei mir die fröhliche N e u g i e r d e anhebt . . . " 1 0 6
D i o n y s o s ist also weder bloße G e g e n b e w e g u n g , noch platonisch-idealistische Aufwärtsbewegung, sondern ein Z u g hinaus. Deshalb ist auch die Tragödie keine idealistische K u n s t f o r m , deshalb kann Nietzsche jede idealistische Weltauslegung nicht genügen. Nietzsche behaup104
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Konventioneller Transzendenzbegriff ist natürlich eine contradictio in adiectu: jede Transzendenz, gefaßt als „Überstieg über alles überhaupt" ist unkonventionell, denn welcher Konvention sollte sie gehorchen, wenn sie keine Erscheinung in der Welt ist? Gemeint ist die in der Tradition entwickelte Denkform des Uberstiegs, bei der aber das „Wohin" wieder als „ E t w a s " gefaßt wird. Siehe dazu die grundsätzlichen Erörterungen in: W. Struve, Philosophie und Transzendenz, a.a.O., besonders 2.2. und 2.3. M . A . I, 16. KAW VII, 3—34 (135) — Zum Idealismus, unter dem N . unter anderem auch bei seiner Freundin Malwida von Meysenbug, Autorin der seinerzeit berühmten „Memoiren einer Idealistin", zu leiden hatte, insbesondere zu jedem Gefühl von Erhabenheit in Form von „gehobenem Busen", ist bekanntlich bei Nietzsche viel Spott nachzulesen, gerade weil ihm das Erhabene wichtiges Thema ist. Siehe dazu im „ Z " das Kapitel: Von den Erhabenen, siehe auch M . A . I I 23.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
tet ja von sich, das Tragische erst entdeckt zu haben: das Tragische ist ihm nie „tragisch" im landläufigen Sinne, obwohl oder gerade weil er sich das Heillose der Welt in keiner Weise verhehlt. Die Tragödie hat es eben „mit dem Unheilbaren, Unabwendbaren, Unentfliehbaren in Menschenlos und -charakter zu tun . . ," 107
Idealismus ist gerade selber ein „großer unheilbarer Hang der menschlichen N a t u r " und kann insofern nur Gegenstand einer Tragödie werden, nicht aber selber tragisch sein, das heißt, er ist keine Lösungsmöglichkeit 108 . Die tragische Weisheit verbirgt nicht den unheilbaren Charakter der Welt, aber dennoch, auf irgendeine Weise, läßt sie „eine Welterlösung ahnen" 1 0 9 , es heißt wiederholt von den dionysischen Orgien, sie seien „Welterlösungsfeste und Verklärungstage" gewesen. Wieder stößt man auf das merkwürdige Motiv der „Erlösung", was man bei Nietzsche als dem unermüdlichen Warner vor allen „Erlösern" zuletzt erwarten würde. Was hat es also mit der „tragischen Welt" auf sich? Wie und wovon wird erlöst? Was hat das alles mit „ G l ü c k " zu tun?
2.5.4. Die dionysische Welt Das, was an der Welt wirklich ist, ist allein Dionysos in seinem Widerspiel zu Apoll, das sich „nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit" entfaltet 1 1 0 , also Rausch und Traum als die über die Wirklichkeit im gewöhnlichen Verstände erhebenden und erhabenen Zustände. Man darf sich das Befremdliche, daß allein das Erhabene als das „Unwirkliche" Wirklichkeit an sich haben soll, nicht abschwächen wollen, sondern muß es sich ganz zum Gefühl bringen. Es ist auch Nietzsches Grundüberzeugung, — und eigentlich die aller Philosophen —, wenn er gleich am Anfang seiner „Geburt der Tragödie" Schopenhauer zitiert, der
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M . A . I I 23. Demselben unheilbaren Hang entstammen auch alle Utopien, die das Schwergewicht von der Gegenwart weg auf die Zukunft verlagern, dergestalt, daß alles Heil von dort her kommen soll. Vgl. dazu KAW III, 3 - 3 (94): „ f ü r den Idealisten ist das Dasein nicht zu ertragen ohne eine Utopie (in Religions-KunstStaatsträumen)." Nietzsche selber läge wohl näher die Idylle als Lebensform der Zeitlosigkeit in der Zeit, als „immerwährende Gegenwärtigkeit". Nietzsches Aussagen sind immer vieldeutig und hintersinnig, er sitzt manchmal „auf mehreren Stufen seiner Leiter" zugleich; so kann man bei seiner Idealismuskritik wohl auch eine des philosophischen Idealismus im prägnanten Sinne mitlesen. K A W III, 3 - 5 (102). G . d . T . 25.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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„die Gabe, daß einem zuzeiten die Menschen und Dinge als bloße Phantome oder Traumbilder vorkommen",
geradezu als „das Kennzeichen philosophischer Befähigung" bezeichnet. — Folgerichtig ist „der Philister" als ein im tiefsten Sinn zeitloser Typ deshalb eine Fehlform menschlichen Lebens, weil er „immerfort auf das ernstlichste beschäftigt ist mit einer Realität, die keine ist", wie Schopenhauer im zweiten Kapitel seiner Aphonsmen zur Lebensweisheit unvergeßlich formuliert und wie auch Nietzsche hätte sagen können. Also: nicht etwa das Sich-Beschäftigen mit der nur sogenannten Realität überhaupt — wie sollte man das auch vermeiden können? — ist philiströs, sondern das ihr letzte Wichtigkeit Zubilligen. So ist die Philosophie durch Theologie verdorben? Es ist wieder Nietzsche, der das bekanntlich vehement behauptet hat. Es wird auf das Problem zurückzukommen sein. — Dionysos und Apoll treiben einander zu immer höheren, mächtigeren Existenzformen. Das „Wesen" des Willens zur Macht, Steigerung, ist hier vorweggedacht. — Was macht die so aufgefaßte Welt zur Tragödie? Für Schopenhauer leitet der tragische Geist zur R e s i g n a t i o n hin. Das höchste Glück auf dem Boden Schopenhauerischer Weltauslegung kann nur sein das epikureische Vergnügen, von dem Nietzsche nie gering gedacht hat 1 1 1 , wenn er es auch kritisiert, da es bloß das „Glück des Genesenden" ist, nicht des „Gesunden" 1 1 2 . Die dionysische Lust nämlich weist in eine ganz andere Richtung: „Ich habe die Erkenntnis vor so furchtbare Bilder gestellt, daß jedes „epikureische Vergnügen" dabei unmöglich ist. Nur die dionysische Lust r e i c h t aus — ich habe das Tragische erst entdeckt. . . . Sehnsucht ins Nichts ist V e r n e i n u n g der tragischen Weisheit, ihr Gegensatz." 1 1 3
Nietzsche vermutet im Glück Epikurs nur die letzte, feinste List eines Leidenden, der die Schmerzlosigkeit schon als Glück empfindet, während für ihn viel davon abhängt, daß das Glück eben nicht bloß negativ, Fehlen seines Gegenteils, sondern selbst ein positives Phänomen ist. Daher betont er in diesem Zusammenhang immer:
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Zeitweilig dachte er, an der Stadtmauer von Naumburg einen „Garten Epikurs" anzulegen, zu welchem Vorhaben Ida Overbeck ihm einen selbst verfertigten Gärtnerschurz in Aussicht stellte! Siehe dazu: Nietzsche an Peter Gast, 26. 3. 1879: „Wo wollen wir den Garten Epikurs erneuern?" und 30. 9. 1879 / Ovevbeck an Nictzscbe> 13. 10. 1879 und Nietzschc an Overbeck, 24. 10. 1879 / - Siehe auch Anm. 74 in: F. N „ P. Ree, Lou Salome, Die Dokumente ihrer Begegnung, hrsg. v. Ernst Pfeiffer, Frankfurt 1970 / „Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde — das war die Üppigkeit Epikurs." M.A.II, W.u.Sch. 192. KAW VII, 1 - 1 5 (42). KAW VII, 2 - 2 5 (95).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem „ O wie anders redet D i o n y s o s zu
mir!"114
Die dionysische Lust macht also kein Vergnügen·, sie ist die Kraft, die angesichts des Entsetzlichsten nicht resigniert, sondern aus überströmender Fülle Apoll dazu anstachelt, auf das Grauen mit immer schönerem Schein zu antworten. Andererseits kann nur soviel vom entsetzlichen Untergrund des Weltgeschehens bewußt werden, wie Apoll im schönen Schein zu besiegen weiß. „ . . . D a s G l ü c k am Dasein ist nur möglich als Glück am S c h e i n D a s G l ü c k am Werden ist nur möglich in der V e r n i c h t u n g des Wirklichen des „ D a s e i n s " , des schönen Anscheins, in der pessimistischen Zerstörung der Illusion, in d e r V e r n i c h t u n g a u c h d e s s c h ö n s t e n S c h e i n s k o m m t d a s d i o n y s i s c h e G l ü c k auf seinen G i p f e l . " 1 1 5
Die zentrale Bedeutung des Terminus „Vernichtung" muß man im Gedächtnis behalten, wenn man Nietzsches Nihilismus erörtern will. Er erweist sich hier als ein „Nihilismus der Stärke", eine Vernichtung, die ein sich steigerndes Glück freisetzt. Was wollte der Grieche nach Nietzsches Auslegung zuletzt und zutiefst? 116 „ D e r Grieche wollte absolute Flucht aus dieser Welt der Schuld und des Schicksals."117
Man muß aufhorchen bei dem unvermutet starken Ausdruck „absolute Flucht". Man könnte hier an Plotin erinnern, insbesondere an die Stellen: „ W o h i n geht die Reise und die F l u c h t ? " „ F l u c h t des Alleinen z u m Alleinen"
(I, 6, 8) und (VI, 9, 11).
Und man braucht eigentlich nicht daran zu erinnern, daß diese Flucht mit dem immer schnell erhobenen, aber ganz gedankenlosen Vorwurf der „Weltflucht" im üblichen Sinne keineswegs zu treffen ist, da sie schon allein durch den zu ihrem Vollzug erforderlichen Grad von Sammlung und Kraft zur Zerstreutheit des gewöhnlichen Lebens das gerade Gegenteil darstellt. Entscheidend für den Charakter einer Flucht ist überdies immer ihr „Wohin"·. „ E r (i.e. der Grieche) vertröstete sich kaum auf eine Welt nach dem T o d e : seine Sehnsucht gieng (sie) höher, über die Götter hinaus, er verneinte das Dasein samt seiner bunt gleißenden G ö t t e r s p i e g e l u n g . " 1 1 8
114 115 116
117 118
KAW VII, 2 - 2 5 (86). KAW VIII, 1 - 2 (110). Vgl. dazu die Entwürfe „Sokrates und die Tragödie" und „Die dionysische Weltanschauung" in: KAW III, 2. KAW III, 2 - S. 58 u. S. 87. Ebd.
Das dionysische Glück: Welt - Glück — Erlösung
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So war der Grieche insgeheim Buddhist? Aber es hieß: „Sehnsucht ins Nichts ist V e r n e i n u n g der tragischen Weisheit!" Das buddhistische Nichts, wo er dagegen polemisiert, faßt Nietzsche immer auf als ein nichtiges Nichts, das „Ergebnis" der tragischen Destruktion aber ist Glück auf seinem Gipfel. So weist es tatsächlich in die Richtung eines recht zu verstehenden Nirwana als dem Bereich höchster Fülle; hier liegen vielleicht der Sache nach Entsprechungen zum Buddhismus vor, nicht aber nach dem Maßstab von Nietzsches polemischem Buddhismus Verständnis. Die eben zitierte Stelle ist wichtig zur Bezeichnung des Zuges, dem Nietzsche im Denken folgt: absolute Flucht aus dieser Welt, aber nicht in eine Welt hinter der Welt, in ein Leben nach dem Tode, nicht in eine andere Welt, sondern auch seine Sehnsucht „gieng höher". Auch Nietzsches Destruktion der Hinterwelt, vornehmlich im „Zarathustra", ist Zeugnis solch höherer Sehnsucht, die das Dasein samt dem christlichen Gott verneint. Wenn es aber nur die Welt gibt und nichts außerdem, wohin kann ich dann fliehen? Ich kann nur, durch die ewige Wiederkehr, ganz in die Welt hineinfliehen mit dem „Endziel", das nun freilich kein „Ziel" mehr sein kann, zwar nicht eigentlich „höher hinauf" zu kommen, wohl aber durch das „weiter hinein" auch „über hinaus" und schließlich „ganz von ihr weg". N u n zeigt sich aber, wenn Dionysos das ist, was allein an der Welt wirklich ist, daß ich nicht von ihm weg kann, denn man kann nicht vom Wirklichen wegkommen wollen. Dionysos ist von Nietzsche als das konzipiert, was durch Denken in keiner Weise wegzubringen, aufzulösen ist, kurz: als das, was ich nicht wegdenken kann. Es wurde schon ausgeführt, daß Sokrates die Tragödie, das dionysische Prinzip, wohl verdrängen, aber nicht zerstören konnte. Nicht umsonst ist Dionysos als Kunstgewalt aufgefaßt: ist doch die Kunst eben das, was vom Denken nicht aufgelöst werden kann. Nietzsche notiert zur Zeit der „Geburt der Tragödie": „Apollo der ewige Gott des Weltbestandes. Dionysos als Weltverwandlung."119 Apoll wird hier versuchsweise das Prinzip, das für den Weltbestand überhaupt zuständig ist, so die Welt in den Stand versetzt, eine göttliche Veränderung und Verwandlung zu erleiden. Es scheint so, als habe Nietzsche bei Dionysos auch an das Feuer Heraklits gedacht, wenn er an derselben Stelle notiert: „der ewige Gott, der im Weltbrande alles gleich macht." — Ewigkeit — Gleichheit — Gerechtigkeit: im Grunde sind die Elemente der ewigen Wiederkehr des Gleichen bereits um 1870 bei Nietzsche da, werden aber noch nicht „apperzipiert". — 119
KAW III, 3 - 8 (46).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Dionysos ist ein Zug zur Weltverwandlung, der „Veränderung". Was wird anders an der Welt? Ihre Beleuchtung, das Licht, in dem sie erscheint, denn das Endziel des Dionysos ist Verklärung der Welt. Diesen Zug zu Dionysos meint Nietzsche, wenn er sagt: „ d a s I r d i s c h e " — ihr m ü ß t lernen, es a n d e r s e m p f i n d e n . . , " 1 2 0 oder: „ S i e s a g t e n „ l a ß t u n s d e r W e l t a b s t e r b e n " , sie s u c h t e n ihr H e i l h i n t e r d e n S t e r n e n , sie f a n d e n das W o r t n i c h t v o m
Ubermenschen."121
Der Ubermensch als dionysisches Prinzip tritt nicht an die S t e l l e des Gottesgedankens, er ersetzt ihn nicht — wohl kann die nächste Wirkung des Gedankens ein „Gottesersatz" sein nach Nietzsche, nicht aber der Gedanke selber —, sondern er ist ein Ausdruck für die schon berührte Häutung des metaphysischen Denkens in Nietzsche, und damit ist auch eine Häutung des Denkens vom Physischen gegeben. Es wird anders empfunden: „ . . . W i r w i s s e n alle n i c h t , w i e tief u n d h o c h d i e P h y s i s r e i c h t . " 1 2 2
So kommt auch bei Nietzsche, ganz wie bei Kant, die Stoßkraft seiner Metaphysikkritik daher, daß sie nicht von außen herangetragen wird, sondern daß die Metaphysik selbst den letzten Stoß gegen sich in ihm vollführt, ähnlich wie die auf ihr beruhende Moral an ihrer eigenen Redlichkeit zugrundegeht. Es kommt eine ganz neue Wirklichkeitsauffassung in Nietzsche auf. Jeder Versuch, ihn für das Christentum zurückzugewinnen, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt: „Der alte Gott ist gründlich tot!" sagt Zarathustra 123 . Aber „das Christliche" und „das Religiöse" sind nicht deckungsgleich124. Die dionysische Weltauffassung ist eine übermenschliche, und das heißt auch, eine extrem unheimliche. Es gibt gute Gründe zu wünschen, „daß in
121
K A W VII, 1 - 4 (261). K A W VII, 1—5 (15) / Diese Zitate aus der Zarathustrazeit belegen auf ihre Weise, wieso der „ Z " eine dionysische Schöpfung ist.
122
Nebenher: Dionysos ist kein Revolutionär, denn ein Revolutionär ist immer ein Idealist und Utopist. K A W III, 3 - 1 6 (42). Ζ , IV, Außer Dienst: „Dieser alte Gott nämlich lebt nicht mehr: der ist gründlich tot. Also sprach Zarathustra."
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Es ist erstaunlich, wie stark Nietzsche in der älteren Literatur als „religiös" empfunden wurde, was immer man auch dort darunter verstanden haben mag. Zum Beispiel: „ E i n anderer Hiob, rang mit dem neuen Gott Friedrich Nietzsche, den, wenn einst Rausch und H a ß verweht sind, . . . kommende Geschlechter als das religiöse Genie des Jahrhunderts verstehen lernen werden." (Hervorhebung v. Verf.) — Max Martersteig, Giovanni Segantini, Die Kunst Bd. 2 1 , Berlin 1904 (?), S. 5.
Das dionysische Glück: Welt - Glück - Erlösung
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einigen Stücken die Götter insgesamt bei uns Menschen in die Schule gehen könnten. Wir Menschen sind — menschlicher . . , " 1 2 S Dionysos wird von Nietzsche auch immer als das ungewordene Prinzip gesehen, die Wirklichkeit der Welt ist unerschaffen 126 . Sie hat also keinen Anfang. Anfangslosigkeit aber ruft sofort die zugehörigen Prädikate „Unzerstörbarkeit" und „Ewigkeit" herauf 127 . Den W i d e r s p r u c h einer E w i g k e i t der Welt gilt es als treib e n d e s D e n k m o t i v für Nietzsche festzuhalten. Ist Dionysos ewig, so ergibt sich die „Unwirklichkeit des Raumes und der Zeit" 1 2 8 . Die dionysische Verzückung vernichtet die gewöhnlichen Schranken des Daseins, also die raum-zeitliche Realität. Um vor dem — nach Erwachen aus solchem Rausch unvermeidlichen — Ekel zu schützen, die „Weisheit des Silens" in tragische Weisheit zu verwandeln (Dionysos war als Gott der Verwandlung bestimmt), die Spitze der Erkenntnis des Entsetzlichen umzubiegen, so daß sie sich nicht gegen das Dasein selbst wendet, dazu bedarf es eben des Bruderbundes, den Dionysos mit Apoll, dem „rechten Heil- und Sühngott" 129 , eingeht, um durch das tragische Kunstwerk trotz der Absurdität des Daseins und des ungeheuersten Leidens in der ganzen Natur zum Leben zu verführen. Es kann nicht anders sein, als daß etwas so Seltenes und Edles wie dieser Bruderbund nur von kurzer Dauer gewesen ist. „ M a n verlange doch von dem Alleredelsten nicht, daß es die haltbare Zähigkeit des Leders h a b e ; " 1 3 0
Eigentlich hat das erreichte Bündnis gar keine Dauer, das heißt, es muß jeden Augenblick neu hervorgebracht werden. Das Lächeln auf dem Haupt der Demeter, das Nietzsche in dieser Zeit viel beruft, bedeutet eben dies, daß sie die Gewißheit erlangt, Dionysos noch einmal zu gebären, die Gewißheit der Wiedergeburt der Tragödie als Heilmittel der modernen Zeit und der Zeit überhaupt. Eigentlich müßte der Titel von Nietzsches Frühschrift lauten: „Die W i e d e r g e b u r t der Tragödie . . ." 1 3 1 , ein „Wieder", das in Beziehung zu setzen ist zu dem anderen berühmten „Wieder" in Nietzsches Philosophie: „ewige Wiederkehr des Gleichen".
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J . v . G . U . B . 295. Auch jeder Mystik ist die Schöpfungslehre fremd. „Mit der Unzerstörbarkeit ist die Ewigkeit gegeben und die Anfangslosigkeit" — KAW VII, 1 - 2 1 (5). KAW III, 3 - 7 (168). KAW III, 2 - S. 60. G . d . T . 21. KAW III, 3—16 (44): „ D i e W i e d e r g e b u r t G r i e c h e n l a n d s aus der E r n e u e r u n g des d e u t s c h e n G e i s t e s " (Titelentwurf).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
2.5.4.1. Leid und Lust in der dionysischen Welt Die ganze Welt der Erscheinung, für Kant immerhin noch „bene fundat u m " , würde sich also auflösen in ein, wenn auch nicht „himmlisches Nichts", so doch in ein allzuirdisches? Ist das nicht radikalstes Christentum? Verbürgt der Schmerz nichts für die Realität des empirischen, individuellen Seins? „ D e r Schmerz als Erscheinung — schweres Problem!" notiert sich Nietzsche 1 3 2 . Welchen Realitätscharakter haben Leid und Lust überhaupt in der dionysischen Welt? Die Überlegungen Nietzsches, wie sie sich vor allem in den zur „Geburt der Tragödie" gleichzeitigen Entwürfen spiegeln, werden hier besonders schwierig nachvollziehbar, weil er sich Schopenhauerischer (seltener Kantischer) Termini bedient wie „der Wille", „das Ureine und die Erscheinungen", die er gleichzeitig schon als ihn einengende Begriffshülsen durchschaut. Es war ja auch schon versucht zu zeigen, wie — vor allem vom späteren Nietzsche her gesehen — er mit dem Gedanken des Dionysischen keine metaphysische Substanz hinter der Vielheit der Erscheinungen meint, sondern auf das zielt, was bleibt, wenn alles weggedacht ist, wenn alle Logik und Metaphysik bereits in Frage gestellt ist. Nichts scheint realer als der Schmerz. Wenn wir leiden, glauben wir, „wirklich" zu leiden. — Übrigens: der Eindruck eines Ubergewichts von Leid im Leben kann ja auch dadurch hervorgerufen sein, daß das Wohlgefühl so sehr zum „Normalzustand" des Lebens gehört, daß es nicht eigens bemerkt wird. Nietzsche geißelt in „Jenseits von Gut und B ö s e " 1 3 3 ohnehin die „heute fast überall in E u r o p a " anzutreffende „krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage". Alles Klagen aber ist ein Anklagen und damit vom Affekt der Rache gespeist. Man sucht dem Leid durch die Lust einer Affektbefriedigung zu entgehen. Dies ist zunächst eine auf psychologischer Ebene bleibende Reflexion; nimmt man Nietzsches Versuch, die R a c h e als metaphysische Macht zu verstehen, hinzu, wonach diese etwas ist, was Metaphysik überhaupt erst aus sich hervortreibt, um sich für die unvollkommene Realität schadlos zu halten, so wird klar, daß die Gottesidee ihren Ursprung möglicherweise auch in dem Bedürfnis hat, eine Adresse für die Klagen zu haben. Auch noch jede Theodizee würde hiernach der Rache entspringen. Es wird weiter klar, daß, wenn Nietzsche „absolute Flucht aus dieser Welt der Schuld" anstrebt, also auf die „Unschuld des Werdens" hinzielt, er auch d a r u m jeden Gott als übergeordnete „Rechts-
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KAW III, 3 - 7 (167). Was ist vornehm? 293.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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instanz" aufgeben muß. Historische und „systematische" Denknotwendigkeiten verschränken sich. — Mit nichts kann man einen Menschen mehr erbosen, als indem man ihm seine Leiden als nur eingebildete vorhält. Dabei ist schon das alltägliche Leben voller „Beweise" für die Existenz eingebildeten Schmerzes, man braucht nur an das schon von Descartes angeführte Beispiel der Schmerzen in einem amputierten Glied zu denken. Mit dieser „empirischen Stütze" könnte man weitergehen und vermuten, „die ganze Welt" sei auch nur Einbildung. Das ist sie im ausgeprägten Sinn des Wortes ja auch tatsächlich, wenn man an Kants Erörterungen der Einbildungskraft denkt — ein Punkt, an dem seine transzendentalphilosophische Reflexion ihre tiefste Dimension erreicht mit dem Verweis auf eine möglicherweise gemeinsame, wenn schon völlig unerkennbare Wurzel von Anschauung und Begriff als der heterogenen Stämme der menschlichen Erkenntnis. Wohinein aber wird die Welt «'«-gebildet? Und gehört dieses Worin der bildhaften Welt (Apoll) selbst mit zur Welt? Dionysos jedenfalls ist das allem Bildhaften gegenüber Transzendente. Er ist Musik, nicht Wort und Bild. Das Apollinische als der „Weltbestand" ist im Grunde noch schwerer einsehbar als das Dionysische, denn es steckt hier letztlich die Problematik, warum sich überhaupt etwas gestaltet, dahinter, das heißt, das Problem der Existenz des Endlichen im Ganzen (die von Leibniz gestellte, von Schelling wieder aufgenommene und durch Heidegger erneuerte Frage: warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?) Schon Leibniz findet, das Nichts sei einfacher zu machen als das Etwas; aber gilt für Nietzsche auch: Sein gleich Gemachtsein? „Macht" Apoll den Schein? Stellt er ihn sozusagen her, so daß die Welt ein einziges großes Machwerk wäre? Die Welt, aufgefaßt als Kunstwerk, ist jedenfalls für Nietzsche weit davon entfernt, ein Machwerk zu sein. Vielmehr sind Apoll und Dionysos beide ewige Weltmächte. Wenn aber Ewiges ist, so ist gar nicht zu begreifen, wozu es apollinischen Schein, also Gestalthaftes, also Welthaftes gibt, warum es nicht ganz getilgt wird. Weshalb verzehrt Dionysos nicht alles ganz und gar? In der Tat könnte es der einzige „Zweck" der Welt sein, immer neu vom Ewigen aufgezehrt zu werden. Nietzsche sucht im Laufe seines Lebens zu durchdenken, daß auf solche grundsätzlichen „Wozus?" nicht etwa immer neuere, scharfsinnigere, überzeugendere Antworten zu suchen sind — der Scharfsinn hat in diesem Bereich überhaupt jeden Sinn verloren —, sondern daß die ganze Frage des „Wozu?" abgeschafft werden muß, weil sie sich nicht mit der Unschuld des Werdens verträgt. Apoll als der Bildnergott ist im schönen Schein von Kunst und Natur gleichermaßen anwesend. Der ästhetische Genuß ist daher weit davon entfernt, eine moralische Erhebung zu sein. Zwar äußert er sich zuerst als eine
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
solche 134 , weil an der ästhetischen Welt zunächst und vor allem ihr Widerspruch zu unserer eigenen Wirklichkeit empfunden wird, aber im eigentlichen Verstand ist für Nietzsche Ästhetik nur möglich als Naturwissenschaft 135 . Hierzu ist es aber nötig, seinen Begriff der Natur richtig zu sehen. Auch die Auffassung der Welt als sich selbst gebärendes Kunstwerk weist in die Richtung eines irgendwie naturgemäßen Hervorbringens, das kein technisches Machen ist. Was meint in diesen Zusammenhängen „Natur"?
2.5.4.2. Die dionysische Natur Allem zuvor gilt, sich klarzumachen: „ D e n n die Natur ist auch, w o sie das Schönste zu erschaffen angestrengt ist, etwas Entsetzliches." 1 3 6
„Entsetzlich" ist hier im ganz konkreten Sinn als „von seinem Sitze auffahren machen" 1 3 7 zu nehmen. Sich auf die Natur einlassen heißt, von jedem Sitz und Standpunkt aufschrecken. Auch d a h e r ist das „Sitzfleisch gerade die S ü n d e wider den heiligen Geist". Hierin liegt wiederum eine Kritik am philosophischen neuzeitlichen Idealismus, dessen Ausgang vom vorstellenden Ich, das die Welt in Gegenständen vor sich hinstellt, gleichsam ein „Sitz" ist, von dem aus allem, was ist, eine trügerische Ständigkeit verliehen wird. Es ist daher auch nicht erlaubt, „Mensch und Natur" oder „Mensch und Welt" in diesen gängigen Formeln einander gegenüberzustellen, denn „Mensch" ist kein „absolutes Ich", sondern ein „komplexes Geschehen" 1 3 8 und als solches ganz in die Welt hineinverwoben. Uberhaupt kommt viel Unglück des Denkens nach Nietzsche durch unerlaubte „Unds", die Unvereinbares durch logisch-sprachliche Gewaltsamkeit vereinen 139 . „ D i e ganze Attitüde „Mensch g e g e n Welt", der Mensch als „weltverneinendes" Prinzip, der Mensch als Wertmaß der Dinge, als Weltenrichter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet — die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche z u m Bewußtsein gek o m m e n und verleidet, — wir lachen schon, w e n n wir „Mensch u n d Welt" 134
KAW III, 3 — S. 303: „Das ästhetische Genießen äußert sich zuerst als moralische Erhebung: . . .". 135 KAW III, 3 —16 (6): „Ästhetik hat nur Sinn als Naturwissenschaft: wie das Apollinische und das Dionysische." 136 Der griechische Staat, Gedanken zur G . d . T . , in: Kröner Taschenausgabe Bd. 70, S. 208. 137 H. Paul, Deutsches Wörterbuch, Halle 1897. 138 W. Müller-Lauter, Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin 1971, S. 24 / Nietzsche wäre an diesem Punkt kritisch zu befragen, ob so die Rätselhaftigkeit, daß wir uns als ein „Ich" erleben, genügend dargetan ist. 139 Sein Lieblingsbeispiel hierfür ist die Zusammensetzung „Schopenhauer und Hartmann"!
Das dionysische Glück: Welt — Glück - Erlösung
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nebeneinandergestellt finden, getrennt duch die sublime Anmaßung des Wörtchens „und"! . . . " 1 4 0
Auch die Sprechweise einer Entfremdung von „Mensch und Welt" {Hegel, Marx) ist also noch von dieser „sublimen Anmaßung" geleitet und auch zu „idyllisch": mit dem Tod Gottes ist der ganze Horizont der Auslegung von Mensch und Welt weggewischt141, richtungsloses Stürzen — wie in Max Beckmanns „Stürzendem" verbildlicht — und Verlust jeder Orientierung die Folge und „das reine Faktum". Nietzsches Grundfrage geht darauf, ob solches Stürzen sich nicht wider Erwarten in Glück verwandeln könnte. — Nietzsches Deutung der Natur ist aber auch eine Kritik an der Stoa und am Rousseauismus, der mit seiner Parole „Zurück zur Natur!" einmal vergißt, daß der Mensch ja selbst mit zur Natur gehört und also sehr zu fragen ist, ob er sich überhaupt von ihr entfernen und dann zu ihr zurückwollen kann, zum andern aber auch und vor allem dies außeracht läßt, daß die Natur „nichts so Harmloses" ist, „dem man sich ohne Schauder übergeben könnte" 1 4 2 . „ . . . E s fragt sich überhaupt, ob wir etwas können, gegen die Natur, und ob wir uns der Natur überhaupt hingeben können?" 1 4 2
Zur Illustration dessen, was Nietzsche mit dem Entsetzlichen meint, ist ein Gedicht vom Juli 1871 aufschlußreich, dessen Veröffentlichung im Kontext der neuen Werkausgabe (Band III, 3) schon durch die editorische Anordnung anschaulich macht, wie „Dichten und Denken" für Nietzsche keine Gegensätze, sondern notwendige Ergänzungen sind. Und das nicht, weil Nietzsche als zufällige „Doppelbegabung" zwischen den verschiedenen Äußerungsformen hin und her schwankt — die Rede vom „Dichterphilosophen" zeigt hier eine Irritation durch das Phänomen „Nietzsche" an — , sondern weil in der Sache selbst, um die es in der nachidealistischen Philosophie geht, diese Doppelung angelegt ist. Dichten und Denken wären also nicht nur durch ein erlaubtes „und", sondern sogar durch ein gebotenes, weil explikatives, verbunden. Dichten, und das heißt Denken, und umgekehrt 143 . 140 ρ yy 346. Deshalb kann man strenggenommen nicht, wenigstens nicht mit Bezug auf Nietzsche, formulieren, das dreieinige Verhältnis von G o t t , Mensch und Welt habe sich in der gesamten nachchristlichen Metaphysik reduziert auf den Bezug von Mensch und Welt. So Löwith im Vorwort zu: Gott, Mensch und Welt in der Metaphysik von Descartes bis zu Nietzsche, Göttingen 1967. 1 4 1 s. F.W. 125. 1 4 2 KAW III, 3 - 7 (155). 1 4 3 Diese Doppelung liegt im Wesen des Willens zur Macht. Kunst und Erkennen, Schein und Wahrheit gründen beide in ihm, denn es gibt nichts außerdem. Dabei wird aber auch ihr Zwiespalt offenbar, vor dem Nietzsche mit „heiligem Entsetzen" steht; auch Dionysos ist als ein Gott von „zwiespältigem Wesen" (KAW III, 2 - S. 60) ein entsetzlicher Gott, auch der Wille zur Macht erweist sich als dionysisches Prinzip. Erkennen ist selbst eine Kunstübung, die im Willen zur Macht als Schaffen gründet. Denn das Erkennen macht erst erkennbar,
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Interessant ist nebenher, daß das Gedicht, welches überschrieben ist „An die Melancholie", im Sommer konzipiert ist, daß Nietzsche offenbar gerade in dieser sogenannten „schönen" Jahreszeit das jedenfalls nicht Harmlose der Natur eindringlich gespürt hat. Das Gedicht ist also der „Göttin der modernen (das meint romantischen und nachromantischen) Kunst" gewidmet. Der Titel könnte angeregt sein durch Dürers Kupferstich „Melancholie", der offenbar ein Geschenk Nietzsches an Wagners anläßlich eines Besuches in Tribschen war und der in einem Brief Cosima Wagners an Nietzsche vom 24. 6. 1870 eine Rolle spielt. „In tiefer Wüstenei" — der Ort der zweiten zarathustrischen Verwandlung ist vorweggenommen — sitzt der Dichter „einsiedlerisch auf einem Baumstumpf". Hier dichtet schon „der freie Geist", und es wird einmal mehr deutlich, wie alle Periodisierungen ebenso praktisch wie gewaltsam sind. Die Melancholie als „herbe Göttin wilder Felsnatur" — man ist erinnert an Kerners vom jungen Nietzsche vertonte Gedicht „Schmerz ist Grundton der Natur" — spricht zum Dichter, „unfähig Menschentrugs, wahrhaftig, doch mit schrecklich strengen Mienen". Die beiden für den Zusammenhang hier wichtigsten Strophen (deren rein poetischer Rang hier nicht erörtert werden soll, der aber wohl unter der von Nietzsche an anderer Stelle erreichten Dichte des Ausdrucks liegt) lauten: „Du herbe Göttin wilder Felsnatur, Du Freundin liebst es nah mir zu erscheinen; Du zeigst mir drohend dann des Geyers Spur Und der Lawine Lust, mich zu verneinen. Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst: Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen! Verführerisch auf starrem Felsgerüst Sehnt sich die Blume dort nach Schmetterlingen. Dies Alles bin ich — schaudernd fühl' ich's nach — Verführter Schmetterling, einsame Blume, Der Geyer und der jähe Eisesbach, Des Sturmes Stöhnen — alles dir zum Ruhme, Du grimme Göttin, der ich tief gebückt, Den Kopf am Knie, ein schaurig Loblied ächze, Nur dir zum Ruhme, daß ich unverrückt Nach Leben, Leben, Leben lechze!" (Gimmelwald. Sommer 1871)
biegt die Wirklichkeit nach allgemeinen Gesetzen um, „dichtet" sie neu. Dichten und Denken sind beides Kunstübungen im Sinne des Willens zur Macht. Dies schließt jedoch die Einsicht des Kritikers N. nicht aus: „Dichtergedanken sind im Durchschnitt nicht so viel wert, als sie gelten." M . A . II, W . u.Sch. 105.
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In der „Freundin" könnte man eine Vorstufe der anderen, berühmteren aus dem Gedicht „Sils-Maria", die dort unvermutet angesprochen wird, sehen. — Die Natur erscheint „drohend", „voller Mordgelüst" in ihrer dionysischen Lust zu verneinen. Dabei ist es nicht etwa ihr Ziel oder ihre Absicht, den Menschen zu zerstören — nur eine anthropozentrische Fehldeutung könnte das meinen — sondern die Vernichtung ereignet sich, wenn sie sich ereignet, ganz nebenher, sie läuft der Natur bei ihren Lebensäußerungen mit unter. Die Vernichtung geschieht auch nicht zufällig, denn Zufall hat als Kategorie nur Sinn, wo Ordnung, Sinn und Zweck herrschen. Die Bedrohung erwächst unmittelbar aus dem Entsetzlichen der Natur. Ebenso entsetzlich ist aber das Blühen der Blume, also die Schönheit der Natur. Man kann auch mit ihr nicht vertraut werden. Befremdlicher Zielpunkt und gedanklicher Höhepunkt der Aussage des Gedichts ist erreicht in dem „Dies Alles bin ich", dem In-EinsSetzen von Bedrohtem und Bedrohendem. Der Mensch ist selber Entsetzen und entsetzliche Schönheit der Natur. Dies ein „mystisches Einheitserlebnis" zu nennen, wäre doch nur eine hilflose Wendung, ebenso „nutzlos", wie darum zu streiten, ob eines vorliegt oder nicht. Das Gefühl einer Verschmelzung mit der Natur ist nicht ohne weiteres dasselbe wie Mystik überhaupt, sondern nur kennzeichnend für einige Arten von Mystik. Es geht hier nur darum, bestimmte Denkerfahrungen zu machen, und zu sehen, wohin sie führen und was es mit ihnen auf sich hat, nicht primär darum, zu entscheiden, ob sie „mystisch" sind. Man kann hier nicht mehr und auch nichts „Genaueres" sagen als: Dies Alles bin ich. Der Mensch als Vernichtungslust der Lawine und als verführter Schmetterling? Ist dies nicht doch nur poetischer Uberschwang und vielleicht gar ein Entgleisen des Geschmacks? Aber die hier gemeinte Naturerfassung ist kein „Gebiet", in dem es vorgefertigte Bahnen und Geleise gäbe, also auch kein Entgleisen. Es gibt dort nicht einmal Wege. — Die Stellung solcher Aussagen im Gesamten eines Lebens und Denkens und was sie gekostet haben, entscheidet, nicht so sehr die für sich genommene Aussage. — Diese weist voraus auf das späte „Ewiges Ja des Seins, ewig bin ich dein J a " der DionysosDithyramben und auf das „Ich selber bin das Fatum und bedinge seit E w i g k e i t e n das D a s e i n " 1 4 4 . An die Stelle des „nach Leben Lechzens" tritt später das „nach Ewigkeit Brünstigsein". So wären Leben und ewiges Leben dasselbe? Auf keinen Fall ist „ewiges Leben" individuelle Fortdauer nach dem Tode. Wie sollte man auch da dauern können, wo gar keine Zeit mehr ist, sondern Ewigkeit. Leben im eigentlichen Verstände und Dauern haben nichts miteinander zu tun. Deshalb
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K A W V I I , 1 - 2 1 (6).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
gibt es kein dauerhaftes Glück; ein Glück, das dauerte, wäre kein lebendiges Glück, also kein Glück. — Gewiß ist, daß dies frühe Gedicht die Einheit von Nietzsches Denken eindringlich belegt. — Man könnte einwenden, daß der Dichter hier ja gerade nicht ent-setzt ist, sondern „unverrückt", das heißt, sich nicht hat ver-rücken, aus dem Stand bringen lassen wie der tolle Mensch aus der „Fröhlichen Wissenschaft". Es ist in der Tat öfter ein Zwiespalt in Nietzsche zu sehen zwischen dem Vollender und dem Überwinder der Neuzeit. Ganz deutlich in dem Gedicht „Nach neuen Meeren", wo er das „Ungeheuer" Unendlichkeit „in den Griff bekommen" möchte und so an dem Grundlaster des modernen Menschen partizipiert, der alles in den Griff bekommen möchte und nicht erkennt, daß ihm gerade so alles entgleitet. Hier ist aber mit „unverrückt", sofern das Wort nicht überhaupt nur aus Reimgründen dorthin gesetzt ist, „unverwandt", „anhaltendes Lechzen nach Leben" gemeint. Wenn Nietzsche die Natur etwas Entsetzliches nennt, genügt er dann Kants Forderung, „sorgfältig und bescheiden gerade so viel" zu sagen „wie wir wissen" 1 4 5 ? Oder handelt es sich um eine in Kants Sinn „überschwengliche" und das heißt ja auch „dogmatische" Aussage? Kants Denken ist ein für die Menschheit insgesamt nicht mehr rückgängig zu machender Schritt zur Desillusionierung der Erkenntnis. Insofern Nietzsche diese Desillusionierung vervollkommnet und auf ihren Gipfel führt, ist er direkt von Kant abhängig und ohne ihn nicht denkbar. Ergebnis der Kantischen Vernunftkritik ist, überspitzt gesagt: alles, was erkannt werden kann, ist eigentlich gar nicht w e r t , erkannt zu werden, denn alles, worauf es ankäme und worauf die natürliche Metaphysik als Wissenswertes abzielt, kann gerade nicht erkannt werden. Erkennen ist in sich endlich. Übrig bleibt die Moral als Domäne dessen, was als unbedingt geltend und verpflichtend „gewußt" werden kann. Durch Nietzsche verfällt auch dieses Reich unbedingter Geltung dem Schein, allerdings so, daß die Erkenntnis um die Einsicht wächst, daß alles Lebendige einen „Horizont" um sich ziehen muß, innerhalb dessen es allein „gesund, stark und fruchtbar" 1 4 6 werden kann. So läge das Glück doch in der Beschränkung? Der Horizont wird aber auf seine Willkür und wesenhafte Ubersteigbarkeit ( j e d e r Horizont ist übersteigbar!) hin durchschaut. Es ist die Grundeinsicht Nietzsches, daß das Leben Illusionen braucht, um leben zu können. „Die Wahrheit" wäre tödlich. Was ist aber von der Lebenskraft solcher, auf ihren illusionären Charakter hin durchschauten Lebensbedingungen selber zu halten? Welchen Schutz kann eine nur von Gnaden des Denkens 145
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K . d . U . § 68.
2. U.B. 1.
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im Amt erhaltene Illusion gewähren? Der nihilistische Zug des abendländischen Denkens wird offenbar. Kant hat an manchen Stellen — insbesondere in seiner Kritik der Urteilskraft — das Denken so weit vorgetrieben, daß — auch von einem andern Ausgangspunkt her — mit Sinn kaum weiterzugehen ist. Ein solcher Punkt sind zum Beispiel seine Gedanken zu „Naturzweck" und „Zweck der Natur". Hier sind letzte Bastionen des Denkens erreicht, trotz des absoluten Idealismus, die nicht weiter vorgeschoben werden können. Der teleologische Begriff droht schon für Kant selbst das System von innen her zu sprengen. Das Denken wird an diesem Punkt befremdlich, also „ernst", insofern es im Phänomen des Teleologischen auf eine ganz „fremde Kausalität" stößt, die nicht wie die Kategorie der Kausalität die Bedingung für Ermöglichung von Erfahrung überhaupt ist, sondern anderswo hinweist 147 . In Nietzsche und seit ihm vertieft sich die Erkenntnis, daß der Mensch, der als einziges Lebewesen auf diese fremde Kausalität stoßen kann, selber ein Fremdling innerhalb des Organischen ist, das als Ganzes wiederum kaum mehr als eine Randerscheinung im Kosmos darstellt. Nietzsche hatte davon immer ein starkes Wissen. Sein Denken zeigt, daß mit Sinn weder davon gesprochen werden kann, daß es im Ganzen des Kosmos nicht auf den Menschen abgesehen sei, noch — und viel weniger natürlich — von der gegenteiligen Annahme, sondern daß man ganz aus diesen Kategorien heraus muß, daß die Welt nicht als zweckmäßig, auch nicht als unzweckmäßig, sondern allein als zweck-/o5 aufgefaßt werden kann: Unschuld des Werdens. Nietzsche gibt diesem Grundgefühl, das jetzt erst von der modernen Biologie geahnt zu werden beginnt, Ausdruck in der „Fröhlichen Wissenschaft": „ H ü t e n wir uns! — . . . Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten das unsäglich A b geleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, z u m Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es jene tun, die das All einen Organismus nennen? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, daß das All eine Maschine sei; es ist gewiß nicht auf ein Ziel konstruiert, wir tun ihm mit dem Wort „ M a s c h i n e " eine viel zu hohe Ehre an. . . . Die astrale O r d n u n g , in der wir leben, ist eine A u s n a h m e ; diese O r d n u n g und die
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Sie kann, wie Schopenhauer in seinem Nachlaß reflektiert, auch nicht als „unerforschliches Geheimniß der Natur" bezeichnet werden, denn es wäre „eine Kausalverbindung, die da wäre, ohne erkennbar zu sein." Dies ist aber etwas „sogar zu denken Unmögliches: denn alles Objekt ist nur für das Subjekt und seine Gesetzmäßigkeit ebenfalls. Jede unerkennbare und doch vorhandene Kausalität wäre etwas, das zugleich für das Subjekt und doch nicht für das Subjekt wäre." - A. S., mitgeteilt in: Piper-Almanach für 1914, S. 183. So muß konsequent gesagt werden: „ S o oft ein Thier nur ein Glied rührt, geschieht ein Wunder." a.a.O. — Und dies wäre keineswegs ein „sacrificium intellectus", sondern reine „Tatsachen"beschreibung!
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der Gesamtcharakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen. Von unserer Vernunft aus geurteilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heißen darf, — und zuletzt ist selbst das Wort „verunglückter Wurf" schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schließt. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will auch nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht danach, den Menschen nachzuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urteile getroffen! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, daß es Gesetze in der Natur gebe. Es gibt nur Notwendigkeiten: da ist keiner, der befiehlt, keiner, der gehorcht, keiner, der übertritt. Wenn ihr wißt, daß es keine Zwecke gibt, so wißt ihr auch, daß es keinen Zufall gibt·, denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort „Zufall" einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, daß Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das Lebende ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art. — Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es gibt keine ewig dauerhaften Sunstanzen; die Materie ist ein ebensolcher Irrtum wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben? Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen!" 1 4 8 (Hervorhebungen vom Verf.) Die N a t u r entgöttlichen heißt, sie neu erlösen und in dieser Erlösung den Menschen vernatürlichen. Sie muß nicht nur entgöttlicht, sondern auch noch entschieden entkantianisiert werden, denn für Kant ist gewiß, daß in Phänomenen wie den besonderen Naturgesetzen, vor allem in der von der Natur selbst ausgehenden Nötigung zu ihrer teleologischen Auffassung, das Ding an sich, das „ A b s o l u t e " , gleichsam hindurchschimmert. Die Nachfolger Kants — Fichte, Schelling, Hegel — setzen beim Unbegriff des Dings an sich an, gehen über Kant hinaus, indem sie das Wesen der Einheit der transzendentalen Apperzeption, die Ichheit, besser erfassen, und überhaupt indem sie in der kritischen Philosophie noch dogmatische Reste finden und auflösen. Es gibt aber in der Geistesgeschichte keine geradlinigen und einsinnigen Fortschritte 1 4 9 , und so kann es nicht anders sein, als daß der absolute 148 ρ iff 109 / vgl. auch zum Problem „Leben als Randerscheinung": M. 49, 424, W. u. Sch. 14, bereits die Unzeitgemäßen Betrachtungen enthalten Hinweise darauf. 149 K. Löwith sucht dies in dem bereits angeführten Buch sehr eindringlich schon in der Kapitelanordnung zu zeigen, wo Spinoza erst nach Nietzsche erscheint, also die Illusion, daß chronologische Folge immer auch Erkenntniszunahme bedeute, aufgehoben werden soll.
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Idealismus in anderer Hinsicht auch wieder hinter Kant zurückfällt. Seine Redlichkeit ist weniger ausgeprägt, die deutschen Idealisten, besonders Schelling, sind manchmal der Gefahr einer ihnen aus dem romantischen Zeitgeist kommenden Zudringlichkeit im Umgang mit dem Unendlichen erlegen. Zwar genügt auch ihnen die Wissenschaft natürlich nicht, sie verfallen nicht dem Fehler des Sokratismus, aber Wissenschaft als Philosophie genügt ihnen, ihr Genügen am Geist überhaupt ist zu stark. Ein ähnlich ausgeprägtes Gefühl für das Unbegreifliche, wie es Kant auszeichnet, der in der Einleitung (VIII) zu seiner Logikvorlesung schlicht sagt: „. . . alles unser Begreifen ist nur r e l a t i v , . . . s c h l e c h t h i n begreifen wir gar nichts.",
kommt erst in Nietzsche und Kierkegaard als den Erben der Kantischen Redlichkeit wieder auf. (Goethe hatte es übrigens auch nicht oder doch in sehr anderer Weise und wohnte, in Abwandlung von Kafka zu reden, wohl „auf einer anderen Seite der Welt" als Kant.) — Nietzsche fängt an der Grenze des Denkens, an die Kant gelangt ist mit seinem Nachweis, daß es keine „transzendenten Dinge" gibt und geben kann, überhaupt erst an zu philosophieren. Philosophie muß so eine schwindelerregende Gratwanderung werden, ihre Gefährdung ungeheuer sein. Unanfechtbar ist für Kant wie für Nietzsche die absolute Unerkennbarkeit des Inneren der Natur. Will Philosophie nicht verstummen und doch redlich bleiben, so muß sich nicht nur ihr Gehalt, sondern vor allem die Form ihrer Verlautbarung völlig wandeln. Auf der Grenze von Erkennbarem zu Unerkennbarem schlechthin kann nur erraten, erspäht, erblickt werden — die Welt wird zur Sphinx — nicht aber geschlossen und abgehandelt. Dies ist kein Irrationalismus, denn äußerste Steigerung der ratio ist erst der Weg, die Sphinx überhaupt zu Gesicht zu bekommen. „ D i e Sphinx. Hier sitzest du, unerbittlich, wie meine Neubegier, die mich zu dir zwang: wohlan, Sphinx, ich bin ein Fragender, gleich dir; dieser Abgrund ist uns gemeinsam — es wäre möglich, daß wir mit Einem Munde redeten!"
lautet das sechsundzwanzigste Bruchstück zu den Dionysos-Dithyramben. Wesentlicher Wahrheiten können wir nur im Fluge habhaft werden, wichtige Aufhellungen ereignen sich blitzhaft. Auch deshalb schreibt Nietzsche Aphorismen, deshalb fällt jede lehrhafte Darstellung von Philosophie nach Nietzsche in eine überholte Form zurück, bringt nicht das Beste an ihr, ihren „Experi-
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
mentalcharakter", zum Ausdruck. Deshalb auch sind „Abhandlungen für Esel" und wäre Nietzsche mit den „Unzeitgmäßen Betrachtungen" und der „Geburt der Tragödie" hinter sich selbst zurückgeblieben, was er auch nie in Abrede gestellt hat 150 . Es wäre aber falsch, immer auf seiner äußersten Höhe sein zu wollen: „ . . . man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen w o l l e n . " 1 5 1
Die Natur entsetzlich nennen ist also kein „Standpunkt", sondern heißt, die letzte Sprosse der Leiter erreicht haben und wieder zurückgestiegen sein, heißt, nach Einverleibung der transzendentalphilosophischen Kritik einen Wink geben, heißt nicht, die Erkenntnis der Natur erweitern. Im zitierten Gedicht hieß es, „das Auge sank . . . D e s Daseins A b g r u n d blitzend aufzuhellen."
Natur ist für Kant materialiter „Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung" 1 5 2 und formaliter „das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist" 1 5 3 . Im Vollzug der „Kopernikanischen Wende" ergibt sich, daß Gesetze der Natur zwar nicht zugeschrieben, wohl aber vorgeschrieben werden können. Dies ist der weitreichende, aber eigentümlich karge und dürre, von Nietzsche auf seine nihilistischen Implikationen hin durchschaute Naturbegriff des Sokrates 154 , der in der unheimlichen Oberflächlichkeit seines immer „ungesättigten Finderglücks" 155 Natur zu beherrschen sucht und in seinem letzten Produkt, das aber merkwürdigerweise als ein eigenständiges Problem Nietzsche kaum beschäftigt hat, der modernen Technik, seine zerstörerische Wirkung ungehemmt entfaltet, alles unter der Leitung eines falschen, „englischen" Ideals von Glück = comfort. Dieses Glück muß schon deshalb falsch sein, weil es ein Ideal ist. Das Endergebnis dieses Naturbegriffs ist Naturzerstörung. Auch Zerstörung der Natur im Menschen, oder besser, sofern der Mensch ja versuchsweise ganz als Natur bestimmt war, Selbstzerstörung der Natur, und so, unter
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155
Dies wäre auch eine an Heidegger und Jaspers zu übende Kritik. M.A.I 20: „— E i n i g e S p r o s s e n zurück. —" Prol. § 16. Prol. § 14. Sokratismus meint hier sowohl Wissenschaft als auch Philosophie in ihrer neuzeitlichen Ausprägung. Zwar würde die Wissenschaft naiv auf bessere Beschreibbarkeit und Erweiterung der Kenntnis der Naturgesetze gehen, der Philosoph aber fragen: wie sind Naturgesetze, wie ist Natur in ihrer Gesetzlichkeit überhaupt zu erkennen m ö g l i c h ? , was einen erheblichen Unterschied ausmacht, beide Verfahren stehen aber unter der Leitung ein und desselben Naturbegriffs. G . d . T . 23.
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anderem, auch des Menschen, dem heute (ist es schon „der letzte Mensch"?) nichts natürlicher ist als die Technik und der in der Tiefe wahrscheinlich sogar überzeugt ist, man brauche, um Natur zu erhalten oder wiederherzustellen, nur die Technik zu verbessern. Er entwickelt überall Techniken, um sich zu vernatürliehen156, wenn es auch nur ums Wandern oder Atmen geht, ohne den Widersinn zu bemerken. Sein Nihilismus ist Her unumschränkte Glaube an Aktion und Machbarkeit, sein unumschränkter Unglaube an die dionysische, unverfügbare Seite der Natur. Dieser Naturbegriff leitet zu immer häßlicherer Erkenntnis, immer häßlichere Erkenntnisse leiten zu immer größerer Störung und Zerstörung der Natur als Ausdruck nicht etwa wachsender Macht des Menschen, sondern wachsender Ohnmacht. Machtvolle Zerstörung wäre nur da, wo das Zerstörte auch wieder neu geschaffen werden könnte: Dionysos ist ein mächtiger Gott! — Schließlich wird klar: die Wahrheit selbst ist häßlich. Dennoch liegt sogar in einer solchen Feststellung nicht so sehr Verzweiflung als schon wieder ein trügerischer Sieg der theoretischen Heiterkeit 157 , ist man dem Erkannten in einer Hinsicht durch die Aussage auch wieder entschlüpft. So ist die Wissenschaft der eigentliche „Eskapismus" mit tödlichem Ausgang, dionysische Weisheit aber in allen Punkten die umgekehrte Richtung, sie ist lebendige, dem Leben dienende Weisheit. Der sokratische Naturbegriff beherrscht auch Nietzsches Freigeisterei weitgehend, überhaupt seine Versuche mit dem „aufklärerischen" Denken, vornehmlich in der Art einer Kritik 158 . Was heißt jetzt, da die Gefahr des der Natur Vorschriftenmachens erkannt ist, „Rückkehr zur Natur"? Rückkehr des Zerstörten zum Zerstörten? Wie soll hier Heilung möglich sein? In der solcherart zerstörten Natur kann der letzte Mensch geschichtslos dauern, hier kann er „unaustilgbar wie der Erdfloh" sein, wenigstens so lange, bis auch im ganz konkreten Sinn das bereitgehaltene Zerstörungspotential die tatsächliche Vernichtung vollzieht, weil dessen Nihilismus über den der Idee
156 Nebenher bemerkt: Bezeichnend für Autoreklame heute ist, daß fast immer im Hintergrund unberührte Natur dargestellt ist, der man durch das technische Produkt 'nähergebracht werden soll, wobei verdrängt wird, daß es diese gerade auf vielerlei Arten zerstört. - Siehe zu diesem Problem den anregenden Ausstellungskatalog: Naturbetrachtung - Naturverfremdung, Stuttgart 1977 (Württembergischer Kunstverein). 157 Dies ist eine Argumentationskonstante Nietzsches: noch am Ende seiner Schrift „Nietzsche contra Wagner" betont er den heiteren Anstrich der Wissenschaft, den tiefere Naturen als eine Maske wählen können. 158 Zum Verhältnis „Nietzsche und die Naturwissenschaft" sind die Veröffentlichungen von A. Mittasch (s. Lit.verz.) heranzuziehen und neuerdings W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, Der Einfluß von Wilhelm Roux auf F . N . , in: Nietzsche-Studien, Bd. 7, 1978, S. 189-235.
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des comfort gesiegt hat. Es „hilft" hier keine Erkenntnis, so nötig sie ist; Hilfe würde nur Sokrates von ihr erwarten. Der letzte Mensch ist ja gerade sehr klug, er hat sich „das Glück erfunden". Nicht die Wissenschaft kann ihn besiegen — glaubt sie doch selber an Glück = comfort und daran, daß Glück machbar sei — sondern der Ubermensch. Dieser ist kein deus ex machina, keine Patentlösung, kein unter der Leitung der Wissenschaft züchtbarer, also machbarer Supermensch, sondern ein über alles immer schon Hinaussein. Greift solches „Uber hinaus" nicht ins Leere? Damit, daß es gelingt, die „Idee" des Ubermenschen mit Leben und Wirkung zu erfüllen, steht und fällt die Bedeutung von Nietzsches Philosophie. Unkritisches Bauen auf Kritik hilft nicht weiter, man muß sich einmal versuchsweise in den Bereich versetzen lassen, aus dem Nietzsche hier kommt. Man darf den Ubermenschen nicht als Problem nehmen, sondern als Aufgabe. Als solche ist er ein zu denkender Gedanke, der in der Form der ewigen Wiederkehr des Gleichen für Augenblicke über den Abgrund des Pessimismus, der ja nur Realismus ist, hinwegtragen soll. Er ist das dionysische Prinzip, das nicht einiges an der Welt korrigieren, sondern sie im ganzen verwandeln soll. Dieser Gedanke ist nicht machbar, habbar, herbeiführbar, er ist auch nicht „übernehmbar", man könnte zum Beispiel keine Kirche des Ubermenschen gründen wollen. Vielmehr, anders herum, muß er den Menschen überfallen und zwar jeden in einer anderen, nur ihm unmittelbar zugehörigen Gestalt. Die Bedeutung, die Nietzsche dem Uberfallenwerden — und wirklich überfallen kann ja nur Ewiges — zumißt, macht den unheimlichen Doppelsinn seiner Frühschriften als „unzeitgemäßer", als anderem als der Zeit gemäßer, aus. Man kann nicht sich am bohrenden Denken Nietzsches erfreuen und seine andere Seite, die dieses Denken speist, als unzeitgemäß, jetzt im üblichen Sinn genommen, fallenlassen. Zu glauben, daß es mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen „nichts" auf sich hat, ist Nihilismus. Zu glauben, daß es „etwas" mit ihr auf sich hat, ist auch Nihilismus, nur ein ganz anderer. Der vorphilosophische Verstand ist mit Recht eigentümlich unbefriedigt von der schon gestreiften „Kargheit" der Kantischen Naturbestimmungen. Ist nicht all das ausgelassen, was den Geschmack des Wortes „Natur" erst ergibt? Sozusagen der Feld- Wald- und Wiesenbegriff von Natur? Die Frage nach dem Lebendigen überhaupt, die Frage, wieso eine Landschaft nicht nur geologisch beschreibbar, sondern vor allem erlebbar ist, als „schön" empfunden wird, als „bedrohlich", „beruhigend", „tröstend", „erhebend" oder „niederdrückend" wirken kann, scheint ganz und gar vergessen, also alles das, was den Menschen unmittelbar als Natur angeht. So ist es bekanntlich das Phänomen des Schönen wie auch des Organischen, also des Lebens, das Kant nötigt, über seine in der Kritik der reinen Vernunft gegebene Naturbestimmung hinauszugehen zur Bestimmung der
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„Zweckmäßigkeit" in der Kritik der Urteilskraft hin. Ganz schematisch soll zusammengefaßt werden: Das teleologische Denken, zu dem die Natur selbst aufruft, weist ins Unaufhellbare, dahin, wo im Grunde der organischen Natur ein zugleich blind und nicht blind verfahrendes Vermögen anzutreffen ist, eben das ihr eigene Bildevermögen, die bildende Kraft im Gegensatz zur bloß bewegenden Kraft des Naturmechanismus. Der eigentümliche Bildungstrieb, der den Organismen einwohnt und sie treibt, ζ. B. sich nur umgrenzt zu bilden und nicht wie ein Kristall immer endlos neue Formationen anzuschließen, nicht ins Grenzenlose zu wachsen oder etwas ganz anderes zu werden, rückt in befremdliche Nähe zu dem befremdlichen Vermögen der Einbildungskraft als einer blinden, aber allgegenwärtigen und unentbehrlichen Funktion der Seele. (Bild hier immer genommen sowohl in dem Sinn wie in den Redewendungen „über etwas im Bilde sein", „sich wovon ein Bild machen" als auch im transitiven Sinn von „etwas bilden".) Aller Erkenntnis liegt also zugrunde eine blinde Kraft, eben die Einbildungskraft, und, so scheint es, in seltsamer Korrespondenz dazu, aller organischen Natur ein rätselhaftes Bildevermögen (dessen Äußerung vielleicht die Einbildungskraft selber wäre — wirksam im Menschen als einem Naturprodukt im weitesten Sinne?). Es ist von hier der Weg nicht weit zu Nietzsches Bestimmung des Apoll als Bildnergott. — Uberhaupt ist nicht nur viel Kant in Nietzsche, sondern bereits auch viel Nietzschisches in Kant 1 5 9 , der durchaus nicht so undionysisch ist, wie man wohl zunächst meint. Man sieht, wie Nietzsche, in seinem eigenen Bilde zu sprechen, mit dem er das Verhältnis der Griechen zum Orient einmal bezeichnet, den Speer da aufnimmt, wo er nach Kants Wurf liegenblieb. — Wo Nietzsche sich auf die Natur einläßt, ist ihm klar, daß ihr strenggenommen — wie in dem zitierten Gedicht geschieht — keine „Vernichtungslust", keine „Schönheit" o.ä. zugesprochen werden kann, das heißt, daß es sich bei all solchen Zuschreibungen um bloß subjektive Notwendigkeiten bei gleichzeitiger objektiver Unangemessenheit handelt, daß schließlich „subjektiv" und „objektiv" selber hier ihren Sinn verlieren. Naturphilosophie, wo sie nicht sokratisch, sondern dionysisch verfährt, muß also ernstmachen mit dem Prinzip blitzender Aufhellung — deshalb heißt es gegen Ende der „Klage der Ariadne": „Ein Blitz. Dionysos wird in smaragdener Schönheit sichtbar." 159
So, wenn Kant in § 42 seiner „K. d. U . " davon spricht, daß aus einem durch die Natur angeregten Gedankengang, den man sich nie „völlig entwickeln" könne, „gleichsam Wollust für den Geist" zu ziehen sei. Hier ist Nietzsches „Rausch des abstrakten Denkens" (U. d.W. I, 1226) schon vorgezeichnet!
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Sie muß in ganz neuer Weise der Einheit von Leben und Denken auf das antworten, was für Kant als „Ding an sich" hinter den Erscheinungen durch sie hindurchschimmerte, das so nicht angemessen zu fassen war, das aber doch darum nicht einfach nichts wird. Wenn Nietzsches Denken diese Richtung nimmt, werden „Natur" und „Welt" beinahe gleichbedeutend. Er zielt auf das, was von sich her seiend „da" ist, vom Menschen nicht gemacht und nicht machbar ist, in dessen Wirken er sich selbst vorfindet, das er möglicherweise selber ist. Hierhin weist „Natur", wenn Ästhetik als Naturwissenschaft bestimmt wird. Eigentlich kann also Nietzsche nicht in Wett- und Widerstreit mit den Naturwissenschaften geraten. Er sagt von Thaies: „Wenn er dabei die Wissenschaft und das Beweisbare zwar benutzte, aber bald übersprang, so ist . . . dies . . . ein typisches Merkmal des philosophischen Kopfes."160
Der Philosoph braucht eine „fremde, unlogische Macht, die Phantasie" 160 , durch die „gehoben" er „Sicherheiten im Fluge greift" 1 6 0 . — Es ist verständlich, daß einer anderen Art von Geistern, als die Nietzsches es ist, hier leicht schwindelig werden kann und daß sie daher im Satz des Thaies sowohl wie in Nietzsches Auslegung nur den „Schwindel" zu sehen vermögen. So schreibt selbst jemand wie Jakob Burckhardt am 20. Juli 1881 an Nietzsche: „Ich sehe als alter Mann mit einigem Schwindel zu, wie Sie schwindelfrei auf den höchsten Gebirgsgraten sich herumbewegen." — Es ist klargeworden, daß Nietzsches Naturbegriff ein sehr anderer ist als „ D e r w e i c h l i c h e und feige B e g r i f f „ N a t u r " , der von den Naturschwärmern aufgebracht i s t . " 1 6 1
Schönheit der Natur ist kein vages Ideal, kein unbestimmtes Gefühl, kein bloß subjektives Prinzip, sondern Ästhetik als Naturwissenschaft betrieben kommt zu dem Schluß: „Denn was ist Schönheit, wenn nicht das von uns erblickte Spiegelbild einer außerordentlichen Freude der Natur darüber, daß eine neue fruchtbare Möglichkeit des Lebens entdeckt ist? Und was ist Häßlichkeit, wenn nicht der Mißmut über sich selbst, der Zweifel ob sie die Kunst zum Leben zu verführen wirklich noch verstehe." 1 6 2
Es ist auch ein sehr anderer als der von Rousseau, denn dessen Natur ist „abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Zynische auch
160 D i e Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. 161 162
W . z . M . 340. Wiss. u. Weisheit im Kampfe, a . a . O . , S. 359.
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der „schönsten" Aspekte", seine Natur ist nicht „entgöttlicht" und auch nicht „moralinfrei". Rousseau verfälscht die Natur, indem er immer versucht, eine „moralisch-christliche „Menschlichkeit" aus der N a t u r h e r a u s z u l e s e n , . . . wie als ob „ N a t u r " Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, I d y l l sei, — immer K u l t u s d e r c h r i s t l i c h e n M o r a l im G r u n d e " . 1 6 1
Rückkehr zur Natur kann also für Nietzsche nur Sinn haben, wenn sie meint, Rückkehr zu Dionysos. Sonst ist sie verderblich, auch unmöglich. „ A u c h ich rede von „ R ü c k k e h r zur N a t u r " , obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehen, sondern ein H i n a u f k o m m e n ist — hinaus in die hohe, freie, selbst furchtbare N a t u r und Natürlichkeit, eine solche, die mit großen Aufgaben spielt, spielen d a r f . . . " . 1 6 3
Naturwissenschaft treiben heißt, Dionysos und Apoll nachspüren. Wie soll sich also der Mensch zur Natur verhalten? Er soll gar nichts, denn das „Sollen" ist für Nietzsche immer eine anfechtbare und auch zu schwache Nötigung. Er soll sich auch nicht v e r h a l t e n , sondern Natur sein. Das „Sollen" muß ein freies „Müssen" werden, wenn es etwas ausrichten soll: das Kamel muß erst Löwe und dann Kind werden. Gelänge das, so wäre als neue naturgemäße Lebensform die Kultur wiedergewonnen, die die Natur pflegt und unterstützt, weil sie gar nicht anders kann, nicht sie dienstbar macht und ausbeutet wie die technische Zivilisation, um sie endlich zu zerstören. So wäre Dionysos auch ein Gärtner? In der Tat führt von Nietzsche ein direkter Weg zu Hofmannsthals „Leben als Gartenkunst" 1 6 4 und zu dem Lebensgefühl in Kunst und Literatur der letzten Jahrhundertwende. So weist auch Nietzsches schon gestreifter Versuch mit dem Gartenglück (s. Anm. 111, 2.5.4.) „irgendwie in das innere Leben des Gemeinwesens" 165 der Zeit und ist nicht bloß persönliche Anekdote. Die Vorstellung der „Welt als Garten" spielt auch im „Zarathustra" eine Rolle, die Fülle der Gartenbilder zum Beispiel in 163 164
165
G . D . , Streifzüge eines Unzeitgemäßen 48. Das Buch von Peter Altenberg, in: H. v. Hofmannsthal, Prosaische Schriften in drei Bänden, S. Fischer Verlag Berlin o.J., Bd. II - auch in: Insel-Bücherei Nr. 339, 1931, dort S. 27. Siehe dazu J. v. G. u. B., Der freie Geist 25: „Und vergeßt mir den Garten nicht, den Garten mit goldenem Gitterwerk! Und habt Menschen um euch, die wie ein Garten sind . . . " . H. v. Hofmannsthal, Gärten (1906) / darin: „ . . . man kann wirklich hoffen, daß mit der Zeit die Büsche von Jasmin und Flieder und Berberitzen, die großen Tuffen von Rhododendron und die Ranken von Klematis und Kletterrosen den größten Teil der unerträglichen Denkmäler zugedeckt haben werden . . . " — Das Gegenbild einer solchen friedlichen und wohltuenden Rückeroberung durch die Natur bietet die Erzählung von Franz Hohler, Die Rückeroberung, wo die Wucherung der Natur feindlich und lebensbedrohend ist, in: ZEIT-Magazin, Nr. 38, 12. September 1980. Der philosophische Grund der Faszination des 19. Jh.s durchs Pflanzlich-Vegetabilische, die noch die gesamte Jahrhundertwende mit umfaßt — man denkt bei Ranken und Kletterrosen unwillkürlich an den Jugendstil — muß im Zusammenhang mit dem „ Z " noch erörtert werden. In der Gartensymbolik steckt auch die vom verlorenen und vom irdischen Paradies.
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der symbolistischen Malerei und in der der Präraffaeliten wie überhaupt der Gärten in hoher und niedriger Literatur der Zeit ist unübersehbar, man greife nur ganz willlkürlich Jacobsen, Ε. ν. Keyserling, Peter Altenberg heraus. Nur verliert Dionysos in der Folge seinen extrem unheimlichen Charakter; Nietzsches Dionysos ist auch ein Zyniker und jemand, der auch Unkraut pflanzt. Seine „Pflege" schließt Vernichtung ein. Der „unbekannte undeutliche D u f t " , der aus Nietzsches Werk weht, „bläst auch boshaft an und erzählt etwas von verschwiegenen Gärten und Seligkeiten" 166 . Künstlerische Kultur, das meint für Hofmannsthal: „Menschen, die ihre Beziehungen so wie Landschaften genießen und ihre Vergangenheiten wie Gärten und ihre Geschicke wie Schauspiele. Eine heitere Kultur: Menschen, deren Anstand ihnen gebietet, der Schwere der Welt entgegenzulächeln . . . Man ist einmal da, wie die Kinder da sind. . . . Sich als Kinder zu fühlen, als Kinder zu betragen, ist die rührende Kunst reifer Menschen. . . , " 1 6 7 . Nietzsche und seine Ästhetik als Naturwissenschaft leben in diesen Worten, aber die Akzente sind leise verschoben, zum Genießen hin. Daß man nicht nur genießen kann, war die schmerzliche Erfahrung, die das Fin-de-siecle schließlich machen mußte. Dionysos ist — vielleicht — ein glücklicher Gott, aber kein genießender. Glück und Genuß sind nicht dasselbe. Daß man unwillkürlich beides zusammensieht, ist schon eine Wirkung des Nihilismus und eine Verkehrtheit, aus der man heraus muß. Wichtige Zeugnisse gibt es dazu bei Jean Paul, der, was seine metaphysische Phantasie und das enge Zusammengehen von Dichten und Denken angeht, mehr als jeder andere Dichter an Nietzsche heranzurücken ist 1 6 8 . Es gibt unübersehbare Verwandtschaften bei aller Verschiedenheit, und das gern zitierte Urteil Nietzsches über ihn als „ein Verhängnis im Schlafr o c k " 1 6 9 überspielt sie nur. „ W e n n der Genuß eine sich selbst verzehrende Rakete ist, so ist die Heiterkeit ein wiederkehrendes lichtes Gestirn, ein Zustand, der sich, ungleich dem Genüsse, durch die Dauer nicht abnützt, sondern wiedergebiert." 1 7 0 „ E i n g e n i e ß e n d e r Mensch nimmt mich zwar nicht ein, weil der Genuß das selbstsüchtige Selbst entblößt; aber ein sich freuender erfreut mich, weil die Freude ein reiner Äther ist, worin alle Sphärentöne klingen und fliegen k ö n n e n . " 1 7 1
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KAW VIII, 1 - 2 (2). A . a . O . , S. 28 und 29. „Unbefangener und stärker als die übrigen Dichter-Genien der Goethezeit nährt sich Jean Paul . . . aus philosophischer Substanz. . . . Fast alle seine Werke sind daher von denkerischem Geist gleichsam durchzogen." Johannes Hoffmeister im Nachwort zu seinem Kleinen Jean-Paul-Lesebuch, Hameln 1947. Μ. Α. II, W. u. Sch. 99. Jean Paul, Levana, zit. nach Hoffmeister, a.a.O., S. 36. Aus: Titan, a.a.O.
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Nicht darauf kommt es in einer Landschaft an, daß man sie genießt, sondern daß man in die „außerordentliche Freude der Natur" hineingerät und so seines „selbstsüchtigen Selbstes" entblößt wird.
2.5.4.3. Die Natur der dionysischen Lust, ihre Wirklichkeit Die Frage nach der Natur erweist sich als ein beständiges, mehr oder weniger offen zutagetretendes Grundthema Nietzsches. Damit auch die Moral, insofern auf sie der Verdacht fällt, nicht die Befreiung der Natur zu fördern, sondern als Verkehrung ihrer Grundtriebe etwas Widersinniges zu wollen und so, als Ideal konsequent verfolgt, Natur zu vergewaltigen. „Moral als Widernatur" wäre dann geboten, wenn sie zur Erhöhung im Sinne von Befreiung mit dem „Endzweck" der Erlösung führte, der dann freilich kein „Zweck" mehr sein könnte, nicht von außen vorgegeben werden könnte, sondern dessen wesentliche Voraussetzung gerade die Befreiung von allen Zwecken wäre. Moral müßte in diesem Sinne zur Ubermoral werden. Es ist diese Einheit der Sehweise, die auch scheinbar bloß zeit- und kulturkritische Äußerungen Nietzsches mit der philosophischen Dimension seines Denkens verbindet. — Zeit- und Kulturkritik, wenn sie nicht einer Philosophie entstammen, können sehr scharfsichtig und geistreich sein, müssen aber letztlich doch etwas Beliebiges behalten. Willkür der Reflexion ist nicht Philosophie. — „Kultur" und „Bildung" werden von der Natur her gedacht. So kann Philosophie in einem sehr prägnanten Sinn als Gartenkunst 172 bestimmt werden und wird es nötig, auf die Verbreitung der Einsicht hinzuwirken, daß wir „wie ein Gärtner mit seinen Trieben" 173 schalten müssen — das heißt, mit
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Μ 427: „. . . Sie (i.e. die Philosophie) will, was alle Künste und Dichtungen wollen, - vor allem u n t e r h a l t e n : sie will dies aber, gemäß ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz die T ä u s c h u n g d e r A u g e n ist (durch Tempel, Fernblicke, Grotten, Irrpfade, Wasserfälle, um im Gleichnis zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, daß man in ihr „wie in der wilden N a t u r " und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, — das ist kein geringer Ehrgeiz: wer ihn hat, träumt sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung der Unterhaltungskunst abgegeben hat. . . .". Dieses Stück kettet typisch Nietzschisch — und Platonisch! — Scherz und Ernst untrennbar aneinander. Äußerste Hochschätzung wie Geringschätzung von Philosophie und Religion, die beide als etwas hohes „Allzumenschliches" empfunden werden, drücken sich aus. Μ 560.
62
Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
unseren Anlagen und Gedanken — und daß die Aufgabe ist, sie „ s o fruchtbar und n u t z b r i n g e n d " 1 7 3 zu ziehen „wie ein schönes O b s t an Spalieren" 1 7 3 . So ist der Begriff der Natur selber durchaus nichts „ N a t ü r l i c h e s " im Sinne von einfachhin gegeben, wohl aber in dem Sinne, daß es im Wesen der Natur selber liegt, auf ihre Vollendung zu drängen, ihr der Drang nach Selbstdeutung, die für den frühen Nietzsche im „ G e n i u s " geschieht, in dem sie sich selber anschaut, und das heißt zugleich nach Selbstüberwindung und -erhöhung „eing e b o r e n " ist. Dies kann geschehen durch die recht verstandene F o r m der Widernatur Moral, denn das Leben verlangt nach Hindernissen, um in deren Uberwindung seine Kraft steigern zu können, um höher zu steigen und über sich hinaus zu schaffen. So kann von daher Unlust nicht etwas sein, das abzuschaffen wäre — übrigens: nur etwas Geschaffenes kann auch „abgeschafft" werden, Nietzsche denkt aber nie aus dem H o r i z o n t von Sein gleich G e schaffensein heraus — denn sie könnte der Stimulans von Lust sein und damit Lebenssteigerung erst ermöglichen. Auch Nietzsches Bestimmungen von Lust und Unlust werden erst verständlich von seiher Naturauffassung her. „ G ä r t n e r und Garten. — Aus feuchten, trüben Tagen, Einsamkeit, lieblosen Worten an uns wachsen Schlüsse auf wie Pilze: sie sind eines Morgens da, wir wissen nicht, woher, und sehen sich grau und griesgrämig nach uns um. Wehe dem Denker, der nicht der Gärtner, sondern nur der Boden seiner Gewächse wt!"174 (Hervorhebungen vom Verf.) In dem wichtigen letzten Satz, der sich zur „ M a x i m e " eignen würde, liegt zweierlei: einmal, daß ein Denker seine Gedanken nicht selber macht, dann aber auch, daß ohne einen freien Entschluß und entschlossene Förderung bestimmter sowie H e m m u n g anderer nichts gedeiht. Dabei sind der Willkür wiederum „natürliche" Grenzen gesetzt und sind gewisse Gesetze zu beachten. So heißt es scheinbar nebenher und doch von zentraler Bedeutung in der „ M o r g e n r ö t e " , Aphorismus 5 0 0 : „Ein Denker kann sich jahrelang zwingen, wider den Strich zu denken: ich meine, nicht den Gedanken zu folgen, die sich ihm von Innen her anbieten, sondern denen, zu welchen ein Amt, eine vorgeschriebene Zeiteinteilung, eine willkürliche Art von Fleiß ihn zu verpflichten scheinen. Endlich aber wird er krank, denn diese anscheinend moralische Uberwindung verdirbt seine Nervenkraft ebenso gründlich, wie es nur eine zur Regel gemachte Ausschweifung tun könnte." Das Sich-von-Innen-her-Anbieten meint hier eine absolute Nötigung, der in Freiheit nachzukommen ist, andernfalls wird die Natur verdorben. Welcher Nötigung folgt Nietzsche und welche Keime bringt er mit seinen Betrachtungen über Lust und Unlust, über Leiden und Schmerz überhaupt zur Entfaltung? 174
Μ 382.
63
Das dionysische Glück: Welt — Glück - Erlösung W e n n Descartes
in einem Brief an Elisabeth v o m 18. Mai 1 6 4 5 die V e r -
nunft als das b e s t i m m t , was i m m e r die H e r r i n der Leidenschaften bleiben m u ß , u m das v o l l k o m m e n e G l ü c k („parfaite felicite") z u e r r e i c h e n 1 7 5 , so ist es sicher nicht nur diese Saat, die in N i e t z s c h e s Philosophie aufgeht. Dies schon deshalb nicht, weil im U m k r e i s der „ G e b u r t der T r a g ö d i e " und besonders auch des „ Z a r a t h u s t r a " L u s t und Unlust nie als der Vernunft
entgegenstehende
Affekte gesehen w e r d e n , die ein Subjekt M e n s c h „ h a t " und die es zu b e h e r r schen gälte; natürlich gilt erst recht nicht das Gegenteil: sich der H e r r s c h a f t der Affekte unterstellen, was n o c h keine neue Position w ä r e . E s geht vielmehr u m „dionysische E n z ü c k u n g e n " anstelle
„feuriger A f f e k t e " 1 7 6 .
V o n hier aus fällt n o c h einmal neues L i c h t auf N i e t z s c h e s V e r d a c h t , die gesamte Moral lasse sich vielleicht auf das H a b e n - w o l l e n und Η a l t e n - w o l l e n zurückführen. D e r neuzeitliche M e n s c h in der N a c h f o l g e v o n Descartes der, der alles haben
will, u m sich darauf zu stützen,
ist
sogar die W a h r h e i t , n ä m -
lich als Gewißheit. „Sich selber h a b e n wollen: Selbstbeherrschung . . . " ( a . a . O . ) gibt dann den G r u n d z u g der M o r a l ab, also Ausdehnung des Machtbereichs des Subjekts. Diese zuerst in Descartes
sich mit ganzer Deutlichkeit
be-
kundende Grundhaltung führt schließlich dazu, daß der m o d e r n e M e n s c h , w o er auf „ N a t u r " zu stoßen glaubt, also auch auf die N a t u r seiner Affekte, n u r auf eine „ S u m m e v o n Bildungsillusionen" 1 7 7 trifft. W a s N a t u r eigentlich ist,
175
176 177
„. . . Mais il me semble que la difference qui es: entre les plus grandes ämes et Celles qui sont basses et vulgaires consiste, principalement, en ce que les ämes vulgaires se laissent aller a leurs passions, et ne sont heureuses ou malheureuses, que selon que les choses qui leur surviennent sont agreables ou deplaisantes; au lieu que les autres ont des raisonnements si forts et si puissants que, bien qu'elles aient aussi des passions, et meme souvent de plus violentes que Celles du commun, leur raison demeure neansmoins toujours la maitresse, et fait que les afflictions meme leur servent, et contribuent a la parfaite felicite dont elles jouissent des cette vie." G.d.T. 12. G.d.T. 8. Diese Bildungsillusionen dürften inzwischen noch von platten Nützlichkeitsillusionen überwuchert sein, wenn der jetzige Zivilisationsmensch im „Urlaub" und „am Wochenende", den Formen des irdischen Paradieses beinahe!, „in die Natur geht", um einem „widrigen Erholungsbedürfnis", das zu geißeln Nietzsche nicht müde wird (vgl. 1. U.B.), nachzukommen. Natur wird ein Funktionszusammenhang zum Zwecke der Steigerung selbstischer Vitalität und Fitness, um hernach „unsere Naturvergewaltigung mit Hilfe von Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieurerfindsamkeit" (G.d.M., Was bedeuten asketische Ideale? 9) umso besser fortsetzen zu können. Interessant hierzu eine Aufzeichnung Heimito von Doderers in den „Tangenten" vom 19. Juli 1949 — die auch zeigt, wie alle Geister nach Nietzsche durch ihn als das letzte europäische Ereignis hindurchgegangen sind, ihn sich „einverleibt" und anverwandelt haben —: „— In labore quiescere, in der Arbeit ruhen, in ihr allein ist Ruhe und Erholung, man kann in ihr — freilich in einem sublimen Sinne — auch schlafen, wie es von den großen Seevögeln, den Albatrossen heißt, daß sie im Fluge zu schlafen verstehen. Von hier aus versteht man erst
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
ist vergessen. Das sich steigernde Glück des immer besseren Gelingens des Sich-auf-sich-selbst-Stellens, die immer konsequenter sich vollziehende Steigerung des Selbstbewußtseins, der Auslegung von Sein als Subjektivität, geht mit immer größeren, zunächst nicht spürbaren Verlusten einher, vor allem des Verlustes der Offenheit für alles, was außer dem Ich ist, für das, was man im Sinne Struves als absolute Transzendenz bezeichnen könnte, und damit untrennbar verbunden, auch des Verlustes jeder Unmittelbarkeit, zum Beispiel jedes unmittelbaren Naturbezugs. Löwith bezeichnet es im Zuge seiner Auslegung der neuzeitlichen Philosophie ( a . a . O . ) einmal als Aufgabe, sich wieder nach dem Hindurchgang durch die Reflexionsphilosophie in ein naives Verhältnis zur Welt zu setzen, damit sie wieder mehr sein könne als bloß eine transzendentale Idee. Es ist die Frage, wie weit hier eine Änderung überhaupt möglich ist in dem Sinn, daß sie zu bewirken wäre. Seine letzte Konsequenz erreicht das neuzeitliche Denken in Nietzsches Welt des bloßen Willens zur Macht, die eine Welt reiner Aktion und Scheinbarkeit ist. Wie ist es in einer solchen Welt überhaupt auszuhalten? Nur durch den aus diesem Bereich heraustretenden Gedanken des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen, nicht im Sinne einer Anleitung, einer Lehre, eines anzuwendenden Rezepts, sondern viel eher als Aufgabenstellung und Appell, auch als Wegweiser. Die Frage, wie weit in Nietzsche die neuzeitlichen Impulse nur zu ihrer Vollendung gelangen, oder ob sich darüberhinaus grundsätzliche Wandlungen anbahnen, legitime Änderung bei ihm zu spüren ist, etwa im Zug Nietzsches zum Unzeitgemäßen, also Ewigen, wie auch in frappierenden Ähnlichkeiten zu frühbuddhistischen und mystischen Fundamentaleinsichten, die ganze Frage einer „atheistischen Religiosität" bei Nietzsche müßte immer noch den Kern jeder Auseinandersetzung mit dem Phänomen Nietzsche ausmachen. Die Zerstörung der Natur wäre ohne den Vorhergang der „Gartenkunst" des Descartes nicht möglich. Eine weitere Frucht ist die Wandlung der Auffassung von „Bildung": in der Moderne ist sie längst zu einer „nutzbaren M a g d " 1 7 8 „auf dem Weg zu Amt oder Brotgewinn" 1 7 8 verkommen. Demrichtig, was Nietzsche mit dem „widerlichen Erholungsbedürfnis" des Massenmenschen meint. —" Interessant auch das Bild des Albatrosses, das durch Nietzsches Gedicht „Vogel A l b a t r o s " inspiriert sein dürfte. — Nebenher: Doderer zitiert aus dem Gedächtnis, also ungenau: Nietzsche spricht nicht von „widerlichem", sondern „ w i d r i g e m " Erholungsbedürfnis, und er spricht auch nicht eigentlich vom „Massenmenschen" — dieser heißt in seiner Sprache „ d i e Vielzuvielen" —, sondern er zielt auf den „Bildungsphilister", eben den, der nicht bloß Philister ist, sondern dem sich der ganze Gegensatz Philister—Künstler derart verwischt, daß er sich in seinen Kulturgenüssen für den wahren „ M u s e n s o h n " halten kann. Vgl. dazu die erste U . B . 178
K A W III, 2 - S. 207.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
65
gegenüber wagt Nietzsche die Bestimmung: „Das Kennzeichen dieser höchsten Bildung ist N u t z l o s i g k e i t " 1 7 9 , und zwar vom „Standpunkte des Egoismus, der Zeitlichkeit" 179 . Ein Beispiel solch „nutzloser" Bildung ist das Tun des philosophischen Gärtners selber, das dem Wesen des Lebens entspricht, indem er nur bei der Hervorbringung dessen behilflich ist, was in ihm selbst ans Licht drängt. Leben ist niemals „Mittel zu etwas" 180 : — Hier ist Nietzsche wiederum Kant sehr nahe — beide wären in einer Art „Typenlehre" von Philosophen einander zuzuordnen —, der in den berühmten Sätzen seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" formuliert: „ N u n sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen e x i s t i e r t als Zweck an sich selbst, n i c h t b l o ß als M i t t e l zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, . . . " .
Ganz stark kommt Kants innere Anteilnahme an dieser Stelle heraus, wenn er betont: „nun sage ich", wie er hier auch der Bestimmung des Lebens in der Mystik als gekennzeichnet durch das „ohne warum" nahesteht. — „Absicht der Natur zur V o l l k o m m e n h e i t zu k o m m e n . Der Genius insofern zeitlos. Das Ziel ist immer erreicht. Das Ziel der B i l d u n g ist die Unterstützung der Natur für diese zeitlose Vollkommenheit: . . , " 1 8 1
Etwas, das immer sein Ziel erreicht, erreicht es auch nie, das heißt, es verläuft nicht in der Zeit, ist in Wahrheit ziellos. Bildung ist auf Erreichung des Zeitlosen gerichtet, also des Ewigen. Zu diesem „Zwecke" bildet sie den Genius aus und unterstützt so die Natur, nicht etwa ist sie Ansammlung und Mehrung von „Bildungsgütern" im Sinne von Besitz. Der höchste Nutzen besteht also in der Existenz des Genius, und zwar möglichst vieler Genien — Nietzsche sieht sie als eine Art Einheit von Künstler, Philosoph und Heiligem - , also in der Nutzlosigkeit. In der Existenz des Genius rechtfertigt sich überdies erst die Existenz eines Volkes, heute würde man sagen, „der Gesellschaft" 182 , und nicht etwa umgekehrt: der Genius hat sich nicht zu rechtfertigen im Hinblick auf für „die Gesellschaft" zu erbringenden Nutzen, wie sie ihn versteht. Welcher Art ist eine Natur, die Nutzlosigkeit des Nutzens lehrt und umgekehrt den höchsten Nutzen in die Nutzlosigkeit verlegt, so das moderne
KAW III, 3 - 1 8 (3). K A W VIII, 3 - 1 6 (12): „Das Leben selbst ist kein Mittel zu Etwas; es ist bloß Wachsthumsform der Macht." 1 8 1 K A W III, 3 - 1 8 (3). 182 = lei. „Dagegen erwirbt sich durch seine Genien ein Volk das Recht zur Existenz: höchster Nutzen." 179
180
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
„natürliche" Empfinden geradezu vor den Kopf stoßend? 1 8 3 Sie wäre also im Hinblick auf den allgemeinen Verstand und sein Weltverhalten anstößig und paradox, also eminent philosophisch. Dionysos ist selbst Philosoph. Es ist klar, daß insbesondere nach dem Vorhergang Kants der Natur keine Absichten zugelegt oder abgesprochen werden können. Spricht Nietzsche hier dennoch von der Absicht der Natur, zur Vollkommenheit zu gelangen, so handelt es sich um ein uneigentliches, konventionelles Sprechen: die Natur kann so ausgelegt werden. Auch der Mensch, als Naturwesen betrachtet, kann also im Letzten nicht von „Absichten" geleitet sein, also auch nicht von der Absicht, Lust zu erstreben, Unlust aber zu vermeiden. Es wird vielmehr offenbar, wie wenig selbstverständlich diese scheinbar so „natürliche" Auffassung ist und auf wie vielen ungefragten Voraussetzungen sie beruht. Sätze wie „ D e r Mensch strebt nach G l ü c k ! " gehören daher für Nietzsche zu den kardinalen Irrtümern. Er erreicht es zwar auf viele Weisen, ja, man findet „viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen" 1 8 4 , aber er erstrebt es nicht. „ D i e N a t u r will n i c h t s , a b e r sie erreicht i m m e r E t w a s : w i r w o l l e n E t w a s u n d erreichen i m m e r e t w a s A n d e r e s . U n s e r e „ A b s i c h t e n " sind nur „ Z u f ä l l e " . - " 1 8 s
Mit der Auffassung des Hedonismus und Eudämonismus also, die Lust als letztes Ziel setzen und für die Lust und Unlust als Wertfragen überhaupt gelten, ist es nicht recht geheuer. Dies nicht deshalb, weil sie auf unnatürlicher Voraussetzung beruht: es wäre denkbar, daß die Natur selbst der Unnatur bedarf, um sich zu erlösen. Daß ö d i p u s das Rätsel der Sphinx zu lösen verstand, war eine Naturwidrigkeit höchsten Grades, jedoch treibt die Natur selbst eine solche „in einem gewissen Betracht unnatürlichste" 1 8 6 Begabung hervor, eben die philosophische. Sowohl ö d i p u s als auch Dionysos sind Philosophen. Nietzsche hält es immer für eine wesentliche, gegen Piaton errungene Einsicht, daß auch Götter philosophieren. Wohl aber wäre die Weltauslegung von Hedonismus und Eudämonismus nicht mächtig genug und also nicht geistig genug und kann es nicht sein, weil sie dem Grundzug des Willens zur Macht nicht gerecht wird.
183
In Notizen späterer Zeit zeigt sich Nietzsche immer wieder frappiert vom Bild der Sonne, die den größten Teil ihrer Energie „nutzlos" im Weltraum verstrahlt, also verschwendet, also keineswegs strahlt, um Leben auf der Erde zu ermöglichen, aber es eben damit ermöglicht. Die Erzeugung des Lebens liegt dabei weder in der Absicht der Natur, noch liegt sie nicht in ihrer Absicht. - Solche Überlegungen, von Nietzsche nicht veröffentlicht, sondern viel eher einer privaten Mythologie angehörend, die wohl jeder Denker ausbildet, können natürlich nicht in strengem Sinne als „Beweisgrund" gelten, wohl aber als „Erläuterung", um eine Unterscheidung Kants, K . d . r . V. Β 72, aufzugreifen.
184
M . A . I 49. K A W V I I ) 1 - 7 (117); s. auch K A W VII, 1 - 7 (224). Über das Pathos der Wahrheit, KAW III, 2 - S. 251.
186
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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Natur erhält also bei Nietzsche manchmal die alte griechische Weite von „Wirklichkeit überhaupt", von allem, was irgendwie wirklich ist, zurück. Wird durch solche Erweiterung, in der Natur das wird, was Geist und Freiheit erst aus sich heraustreibt, der Antagonismus von Natur und Freiheit gelöst oder gar hinfällig? Dies kann in endlichem Denken, also im Denken, überhaupt nicht geschehen. Nietzsche hat, aus einem vor ihm in der Philosophiegeschichte noch nie so deutlich aufgetretenen Ungenügen an der Reichweite und Gültigkeit auch der letzten, einer höchsten Anstrengung abgewonnenen Begriffe heraus, den Experimentalcharakter des Denkens auf Versuche angewandt, Begriffe so weit auszudehnen, daß sie ihr Gegenteil mit umfassen, daß es zum Beispiel nicht mehr Wahrheit und Schein gibt, sondern nur „Stufen der Scheinbarkeit" 187 . Gegensätze würden also nur Gradunterschiede ein und desselben ausmachen. Denken vollzieht sich aber im „Gegensätze Denken"; so würde hier alles Denken aufhören müssen, weil es ad absurdum geführt ist. Genau dies will Nietzsche mit seinen bohrenden Reflexionsbewegungen erreichen und zeigen: daß Denken auf jedem Weg den Punkt erreicht, wo es sich in sich selbst verstrickt. Aber so ist der Widerspruch nicht wegzubringen, er ist für Nietzsche nicht ein bloß logisches Prinzip: „Woher der Genuß am Widerspruch, im Wesen des Tragischen? Der Widerspruch als Wesen der Dinge spiegelt sich in der tragischen Handlung wieder."188 So kann es nicht anders sein, als daß die scharfe Antithese von Natur und Freiheit sich am End- und Quellpunkt von Nietzsches Philosophie, der „Lehre" von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, am schärfsten auswirkt und sich in ihr ausprägt: wenn ich schon unzählige Male dagewesen bin, so kann ich einerseits gar nichts mehr ändern, ist alles bloß Natur, aber eben weil es um unzählige Male wiederkehrendes Leben geht, bin ich absolut aufgerufen, dem „Es gilt die Ewigkeit!" zu entsprechen. Welchen Realitätsgrad haben nun Lust und Unlust, in welcher Weise entsprechen sie der Wirklichkeit, der Natur, und entsprechen sie ihr überhaupt oder sind sie nicht vielmehr als Bewußtseinsphänomene ganz und gar dem Schein ausgeliefert und ihm verhaftet? Was hat es mit dem befremdlichen Wort einer „Daseinsseligkeit bei pessimistischen Denkern" 1 8 9 auf sich? 187
188 189
J . v . G . u . B . 34 / Zu diesem Problem siehe die bereits angeführte Arbeit von Wolfgang Müller-Lauter., Nietzsche, Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, a.a.O. KAW III, 3 - 8 (2). KAW III, 3 - 3 (77).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Ein Blick auf Descartes kann in diesem Zusammenhang wieder hilfreich sein, wobei natürlich die Dinge auch bei ihm vielschichtiger sind, als es bei einer notwendig pointierend verfahrenden Gegenüberstellung erscheint. — Auch dies ein Beispiel für die notwendige Ungerechtigkeit des Willens zur Macht als Interpretation! — Der Grund, weshalb Descartes sich überhaupt den Affekten zuwendet, liegt in dem Bestreben, den Herrschaftsbereich des sich auf sich selbst stellenden, vorstellenden Ich vor Einbrüchen von außen zu sichern; aus dieser Sicht stellen die Affekte eine ständige Bedrohung seiner Selbständigkeit dar und müssen seiner Herrschaft unterstellt werden: „ . . . leur raison demeure toujours la mäitresse . . . "
hieß es in dem angeführten Brief. Nicht zufällig erfährt die Stoa zu Beginn der Neuzeit eine Neubewertung: der Stoiker sucht sich unempfindlich zu machen gegen Leid und Lust und so gewissermaßen den Stand des Selbst zu sichern und vor Erschütterungen zu bewahren. Diese „Selbst-Tyrannei" 1 9 0 ist jedoch noch keine Freiheit, sondern lediglich eine Dionysos gegenüber „ u n f r o m m e " Haltung, der doch selber ganz Leiden ist. Das „Selbst" Nietzsches erfährt gerade da die Wirklichkeit, wo es erschüttert wird, sein höchster Zustand ist nicht, Herr zu bleiben, sondern „völlige Selbstvergessenheit" 1 9 1 zu erreichen. „ L a philosophie que je cultive n'est pas si barbare ni si farouche qu'elle rejette l'usage des passions; au contraire, c'est en lui seul que je mets toute la douceur et la felicite de cette v i e . " 1 9 2
Wenn Descartes hier „das Glück dieses Lebens" keineswegs allein dem Denken anvertraut und das Gewicht der Leidenschaften in keiner Weise verringert, so erweist er sich durchaus auch als Realist im Sinne Nietzsches. — Seine Spätschrift „ L e s passions de 1* ä m e " ist die in e i n e m Sinn vielleicht schönere und tieferreichende Ergänzungsschrift zu den „Meditationen". — Aber bezeichnenderweise legt Descartes das Glück in den Gebrauch der Leidenschaften („l'usage des passions"). Das Ich, wie es letztlich bestrebt ist, die ganze Welt in Gebrauch zu nehmen zu seinem Nutzen, will auch Gebrauch von seinen Leidenschaften machen. Maßstab für diesen kann nur sein der möglichst perfekte Gebrauch zur Erzielung eines perfekten Glücks („la parfaite felicite" hatte es im Brief an Elisabeth geheißen). Das Glück als das von Haus aus Unverfügbare soll „perfekt" werden, das heißt, „durch und durch gemacht". Diese Perfektion des Glücks ist eine unausdenkbar unheimliche Vorstellung, weil das Leben selber ein „Imperfectum" ist. Es ist nichts unheimlicher als das 190 191
192
J . v . G . u . B . 34: „ . . . Stoizismus ist Selbst-Tyrannei" . . . G . d . T . 1 und KAW III, 3 - 1 0 (1), S. 349. Descartes, lettre ä Newcastle, mars ou avril 1648.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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moderne Bestreben, alles Unheimliche, der Verfügbarkeit durch den Menschen Entzogene, abdrängen zu wollen. Es führt in gerader Linie zum „letzten Menschen", der „das Glück erfunden hat und blinzelt". Alle Versuche, die Welt in ein perfektes Paradies zu verwandeln, jetzt Leiden zu schaffen, um irgendwann einmal Leiden überhaupt abzuschaffen, würden die Hölle bedeuten 193 . Der tragisch-dionysische Zustand bedeutet nicht Perfektion des Glücks, sondern Übermächtigtwerden durch Glück, Glückssteigerung und letzte Aufgipfelung: „Durch Vernichtung auch des schönsten Scheins gelangt das dionysische Glück auf seinen Gipfel." 194
Nietzsche will keine „Affektenlehre" geben. Warum aber nehmen dann im mit der „Geburt der Tragödie" gleichzeitigen und im späteren Nachlaß die Bestimmungsversuche von Lust und Unlust so breiten Raum ein? Weil Nietzsche insgeheim vielleicht doch Hedonist ist? Aus vielen Gründen muß Nietzsche sich diesem Thema zuwenden: einmal, von der späteren Lehre der Perspektivität des Willens zur Macht her gesehen, muß geprüft werden, ob nicht die Affekte gegenüber dem Verstand die weiterreichende Perspektive haben. Nietzsche ist wohl geneigt, sie in einem „direkteren Kontakt" zur „Wirklichkeit" zu sehen als den Verstand. Sodann muß die „Umwertung aller Werte" auch hier erprobt werden: möglicherweise sind die Affekte nichts, das beim Denken stört, sondern etwas, an dem das Denken selber sich zu orientieren hätte? Experimentalphilosophie muß diese Sehweise konsequent verfolgen und mit dem Hammer prüfen, ob nicht vielleicht das in ihr Intendierte auch hohl klingt wie alle bisherigen Begriffsgötzen oder nicht. Weiter, sollte die sich in Lust und Unlust bekundende und vom Ich spontan angenommene Wirklichkeit auch nur Schein sein? Welche Folgerungen ergeben sich dann für eine so geartete, tief in den Schein verstrickte Natur und Welt? Welche Aussagekraft darf etwa einem Diktum wie dem von Jean Paul zuerkannt werden, wonach zwar der Grund unseres Leidens immerhin eingebildet sein mag, niemals aber das Leiden selber? „Dazu kommt, daß vor dem unendlichen Auge zwar der Gegenstand unseres Schmerzes, aber nie dieser selbst als Täuschung erscheinen kann." 195
193
Dies auch der Haupteinwand von Karl Popper gegen Herbert
194
A.a.O.
195
Kampanertal, a.a.O., S. 39 / Nietzsche spricht übrigens interessanterweise gerade in diesen Zusammenhängen (s. KAW Bd. III, 3) von „dem einen Weltenauge". Das „Kampanertal" war ihm bekannt: vgl. KAW V, 1 - 6 (359), Herbst 1880: „. . . Die Dichter haben die Möglichkeiten des Lebens noch zu entdecken, der S t e r n k r e i s steht dafür offen, nicht ein Arkadien oder Campanerthal: ein unendlich kühneres Phantasieren . . . ist möglich. Alle
Marcuse.
70
Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
Der eigentliche, wichtigste Grund aber für diese Erörterungen, zu dem hin man einen Sprung vollziehen muß und der nicht gleichartig den früher angeführten ist, ist darin zu sehen, daß sich für Nietzsche in der Erfahrung einer bestimmten Art von Lust, die er „dionysisch" nennt, eine nicht abzuweisende Wirklichkeit bekundet, die keine Wahl läßt bei den zu beschreitenden Denkwegen. Ähnlich wie Spinoza im zweiten Teil seiner Ethik den gewaltigen Absprang zum Menschen nur deshalb macht, weil er Träger der „mens" ist, in dieser aber die Möglichkeit zur „beatitudo", die im „amor dei intellectualis" besteht, ruht, er also einzig und allein an dieser intellektuellen Liebe zu Gott interessiert ist, mit der Gott sich selbst liebt, also letztlich nur an Gott, wendet sich Nietzsche hier dem Menschen bloß deshalb zu, weil er an Dionysos interessiert ist, Dionysos die höchste Lust der Selbstanschauung und Erlösung aber nur im Genius erreichen kann. - Es soll hier natürlich in keiner Weise die causa sui mit Dionysos in eins gesetzt werden, lehrreich zu sehen ist nur, wie in beiden Fällen bei der Bestimmung des Menschen dieselbe Denkfigur Anwendung findet und beide, Spinoza wie Nietzsche, sich in weitest möglicher Entfernung zu einer irgendwie anthropozentrisch gefärbten Weltauslegung bewegen. — Das philosophisch Konkrete an Nietzsches Erörterungen der dionysischen Lust ist gerade der befremdliche Umstand, daß sie sich in vielfach gesteigerter Entfernung zum alltäglich für konkret genommenen Einzel-Ich bewegen. Dieses wird gerade das Irrealste, was es gibt, wenn der Maßstab für Wirklichkeit die über Welt und Ich hinausliegende, übermenschliche Lust des Dionysos ist. Innerhalb der Natur als „dem Mutterschoß der Menschheit" 196 geht es um den Menschen, weil er besser als das Außermenschliche sich auf die der dionysischen Welt eigentümliche „Wirklichkeit des Scheins" einzulassen versteht, weil er imstande ist, zu träumen. Nietzsche notiert sich 1884197: „Man wird mir sagen, daß ich von Dingen rede, die ich nicht erlebt, sondern nur geträumt habe; worauf ich antworten könnte: Es ist eine schöne Sache, s o zu träumen! Und unsere Träume sind zu alledem viel mehr unsere Erlebnisse, als man glaubt, — über Träume muß man umlernen! . . ."
Die real existierende Menschheit kommt überhaupt nur insofern in Betracht, als ihre „dämmernde Lustempfindung des Traumes sich immer mehr stei-
196 197
unsere Dichtung ist so kleinbürgerlich-erdenhaft, die große Möglichkeit höherer Menschen fehlt noch. Erst nach dem Tode der Religion kann die Erfindung im Göttlichen wieder luxuriieren." KAW III, 3 - S. 348. Nach der Anordnung des Nachlasses von Würzbach, dtv Bd. 2, Nr. 581.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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gert" 1 9 8 „bis zu jenem dem Genius eigenthümlichen Genüsse" 1 9 8 . Der Mensch ist unter diesem Maßstab der Kraft zur erlösenden Traumspiegelung realer als die außermenschliche Natur, der Künstler realer als der Mensch im allgemeinen, und unter den Künstlern ist der realste der dionysische Genius, der den Kulminationspunkt seiner Macht erreicht, wenn er eins wird mit Dionysos. — Von hier aus läßt sich einmal mehr ahnen, wie sehr es an den Intentionen Nietzsches vorbeigeht, wenn man den Willen zur Macht immer wieder mit Gewalt o.ä. verwechselt. — „Eine Grundfrage ist das Verhältnis der Griechen zum Schmerz". 1 9 9
Es gibt also nur ein Faktum: den Urschmerz, die „Wunde des Daseins", man könnte auch sagen, die Endlichkeit. Dieser Urschmerz, im Bestreben, von sich loszukommen, treibt lustvolle Spiegelungen zu seiner Erlösung aus sich hervor. So entsteht um ihn herum „die Welt" — auf die Bedeutung der Präposition „um ... herum" bei Nietzsche ist vielleicht noch nicht genügend geachtet —, „die Natur", „die nichts als eine visionsartige Spiegelung des UrEinen ist." 2 0 0 Zu ihr gehört der gewöhnliche Mensch, der bloß Kunstwerk ist, ohne sich dessen bewußt zu sein. Der Genius aber hat außer dieser ihm als Menschen und Natur zukommenden Bedeutung noch Zugehörigkeit zu „einer anderen Sphäre" 201 . Er besitzt eine eigentümliche Kraft, die Verzückung der Vision selbst zu fühlen. — Von hier aus wäre eine Bestimmung des für Nietzsche so wichtigen Terminus „ f ü h l e n " und „Gefühl", diesem „weiten, negativen Begriff", wie es in der „Geburt der Tragödie" heißt, möglich, der ja nicht auf das psychologische Fühlen zielt. — Er ist „in völliger Selbstvergessenheit mit dem Urgründe der Welt eins geworden" 2 0 2 . In diesem Einswerden liegt das letzte entscheidende Gelingen. Die Wirklichkeit des Menschen — nicht im Sinne faktischer Vorhandenheit, sondern von ihm zukommender Bedeutung — liegt im Grade seiner Selbstvergessenheit. Daher hat der Traum höhere Realität als das Wachen, der apollinische Genius höhere als der normale Träumende, und hat die höchste Steigerung des Scheins den höchsten Realitätsgrad. Dieses Paradox ereignet sich dort, wo der Schein am stärksten ist und dennoch vernichtet wird: in der Vereinigung des Apollinischen und des Dionysischen, welche für den Urgrund „eine ewige und unabänderliche, ja einzige Form des Genusses" 202 ist. Daraus ergibt sich für die Natur einschließlich der Menschheit, sofern sie sich nicht zum Genius erhebt, lediglich der Status einer mißglückten Spiege198
KAW 111,3 - S . 348. 199 Versuch einer Selbstkritik 4. 200 KAW III, 3 - 1 0 (1), S. 347. 201 KAW III, 3 - 1 0 (1), S. 347. 202 A.a.O., S. 349.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
lung, einer großartig mißlungenen Vision. Der Mensch ist „Bruchstück und Rätsel", heißt es im „Zarathustra". Eine „pessimistischere" Weltsicht ist kaum denkbar. Einerseits ist die Bedeutung der Menschheit aufs höchste herabgemindert, andererseits aber auch extrem gesteigert, da sie als Vorbereitung des Genius doch in einen wesentlichen Bezug zum Urgrund gesetzt ist. Es scheint so, als sei die Welt hier von Nietzsche noch unter dem Gesichtspunkt eines letzten „Worum willen" gedacht, sie ist, um Dionysos die Selbsterlösung zu ermöglichen. Späterhin entlarvt Nietzsche jedes Zweckdenken, insbesondere die Frage nach dem Zweck von allem überhaupt, als aus dem Geist der Rache geborene Metaphysik. Selbst in diesem so un- und außermoralischen „ u m . . . z u " der Welt in der „Geburt der Tragödie" wäre vom seiner selbst gewisser gewordenen Nietzsche her gesehen noch ein Schatten Gottes anwesend. Der Mensch muß auch noch die überaus fragwürdige Geborgenheit aufgeben, ein Fehlgriff Gottes zu sein, geschweige denn, daß er sich dem Gedanken hingeben dürfte, daß irgendeiner, hinter der Welt als Gesamtbewußtsein oder wie immer zu denkenden Macht etwas Nennenswertes mit ihm gelungen sei: „ . . . — E s i s t e i n g r o ß e s L a b s a l , d a ß s o l c h e i n W e s e n f e h l t . . . Wir sind n i c h t das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird n i c h t der Versuch gemacht, ein „Ideal von Vollkommenheit" oder ein „Ideal von G l ü c k " oder ein „Ideal von T u g e n d " zu erreichen, — wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte . . , " 2 0 3
Gerade hierin, daß ein letzter Grund der Welt fehlt, liegt nach Nietzsche die Erlösung des Daseins. Dominierende Grundempfindung dabei bleibt die frühe Aufzeichnung vom Sommer 1872: „ E s ist etwas Fundamental-Verfehltes im Menschen, er muß überwunden werden. Versuche!"204
Nebenher: hier ist bereits eine Grundlehre des Zarathustra ausgesprochen. — Nietzsches Philosophie bewegt sich über weite Strecken in der Spannung zwischen „Uberwindungslust" und „Erlösungsstreben".
2.5.4.4. Erlösung Erlösung in der Philosophie? In Nietzsches Philosophie ausgerechnet? Wohin haben sich die Untersuchungen jetzt verstiegen? Gehört dieses Thema, wenn man es nicht überhaupt aufgeben will, was vielleicht das Redlichste 203 204
W . z . M . 765. Nachlaß Würzbach, Bd. 2, 563.
Das dionysische Glück: Weh — Glück — Erlösung
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wäre, nicht in die Religion, und kann es, wenn schon einmal die Rede davon sein soll, nicht bestenfalls eine Erlösung von der Philosophie geben? Vielleicht zielt Nietzsche im Letzten auf so etwas wie eine Erlösung von der Philosophie durch Philosophie, von Religionen aus Religiosität und schließlich auf eine Erlösung von der Erlösung selbst. In jedem Glück ist auch ein Moment der Erlösung. Dies macht es notwendig, beide Phänomene in Beziehung zu setzen. Man fühlt sich erlöst vom vielleicht vorhergegangenen Verdruß, vom Empfinden der Zeit überhaupt, weshalb für Nietzsche, wie er es in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ausführt, überhaupt kein Glück möglich ist ohne das Moment des Vergessens. Glück erlöst vom Geist der Schwere. — Man würde staunen, wenn man einmal die Texte Nietzsches, auch die der Freigeisterei, auf die Häufigkeit der Vokabel „Erlösung" hin durchsehen wollte. Besonders in der „Geburt der Tragödie" taucht sie stupend oft auf. Dies kann bei einem Stilisten und Denker vom Range Nietzsches nicht von beiläufiger Bedeutung sein. Die schon erwähnte Arbeit von Manfred Kaempfert, die die Fülle religiöser und religionsbezogener Wendungen bei Nietzsche eindrucksvoll belegt, sieht diese unter dem Spannungsbogen von Säkularisation und neuer Heiligkeit. Zur Auslegung der philosophischen Dimension dieses Problems ist noch nicht viel geschehen. Was kann der Terminus Säkularisation zur Klärung beitragen, wenn es darum geht, die Legitimation ursprünglich transzendenzbezogener Redeweisen in einer Zeit wachsenden „Transzendenzschwundes" 205 zu erfragen? Wenn sich „die Hinterwelt" auflöst, bleibt nicht „die Welt" zurück, es gibt ohne Jenseits auch kein Diesseits, auch nicht die Einheit von beiden. Der Nihilismus ist in unserer Zeit viel weiter fortgeschritten als zu der von Nietzsche, die äußerlich ein Bild größtmöglicher Sekurität bot. So wäre denkbar, daß das Unpassende von Sprachkonventionen lange Zeit nicht bemerkt wurde, ehemals aussagekräftige Wörter noch lange einen Schein von Verbindlichkeit behielten? An einer „Idee der Erlösung" hielt das neunzehnte Jahrhundert jedenfalls fest, auch als ihre christliche Färbung längst nicht mehr trug 206 . „Das von Skepsis geleitete Unvermögen, die beiden Bereiche Diesseits und Jenseits als Bezugspunkte der Wirklichkeit anzuerkennen, spiegelt sich deutlich in der Kunst des 19. Jahrhunderts." beginnt Hans H. Hofstätter sein Buch „Idealismus und Symbolismus" 207 . Uns fallen noch weit mehr Begriffe, als sie wahrscheinlich Kant aufgezählt hätte, unter die „usurpierten" (wahrscheinlich sogar der Begriff „Geist", den
205 206
207
S. W. Struve, Philosophie und Transzendenz, a.a.O. S. z.B. in: Günter Metken, Die Präraffaeliten, Köln 1974, das Kapitel „Edward BurneJones — Tradition und Erlösungsgedanke". Η. H. Hofstätter, Idealismus und Symbolismus, Wien 1972.
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
das moderne Bewußtsein fast nur noch als eine Übertreibung empfinden kann und bei dem man deshalb zweifeln muß, ob ihm heute überhaupt eine Wirklichkeit entspricht): „Es gibt indessen auch usurpierte Begriffe, wie etwa G l ü c k , S c h i c k s a l , die z w a r mit fast allgemeiner Nachsicht herumlaufen, aber doch bisweilen durch die Frage q u i d j u r i s , in Anspruch genommen werden, da man alsdann wegen der Deduktion derselben in nicht geringe Verlegenheit gerät, indem man keinen deutlichen Rechtsgrund weder aus der Erfahrung, noch der V e r n u n f t anführen kann, dadurch die Befugnis ihres Gebrauchs deutlich w ü r d e . " 2 0 8
Ist Erlösung ein in diesem prägnant Kantischen Sinne „usurpierter Begriff"? Ist sie es bei Nietzsche? Man muß sich hüten zu glauben, die hier auf früher Stufe gleichsam noch nicht abgestreifte Metaphysik weiche später dem Realismus des Willens zur Macht. Vielmehr ist dieser ebenso metaphysisch, wie Nietzsches Erlösungsdenken realistisch ist. — Zudem handelt es sich bei dem „Realismus", auf den der gesunde Alltagsverstand baut und der ihm ungefragt Maßstab aller Kritik ist, weitgehend nur um nicht mehr als solche erkannte, abgestorbene Denkhülsen einer herabgewirtschafteten Metaphysik. — Dionysos macht gleichsam nur eine andere Seite des Willens zur Macht aus, ist dasselbe, nur anders erfahren. Dennoch bleibt der Tatbestand eines schwer zu überwindenden Unbehagens eines modernen Lesers bei Nietzsches Redeweise von „Urschmerz, Urgrund, Genius, Heiligem" etc. Man kann diese jedenfalls nicht als Ausdruck des noch mit bestimmten Konventionen behafteten jungen Nietzsche sehen wollen, der später bestrebt sei, solche unerlaubten Begriffe abzutun. Auch kann man Nietzsche nicht zu einem „hinterlistigen Christen" machen wollen, wie er es Kant nachsagt. 209 Vielleicht hat noch niemand mit feinerem Gehör Begriffsgötzen auf ihre Hohlheit hin abgeklopft als Nietzsche. Und gerade er gibt das, worauf Begriffe wie „Heiliger" etc. hinzielen, niemals auf. Vielmehr hält er mit ihnen, die ihre traditionell festgelegte Bedeutung allerdings völlig verwandeln, den Zugang zu einer Seite der Wirklichkeit offen, die heute abgedrängt wird — später weisen „der Übermensch", die „ewige Wiederkehr des Gleichen" und „amor fati" in diese Richtung — und die man, fragwürdig und vage genug, als das Mysterium des Seins umschreiben könnte. Nietzsche gebraucht im oben angedeuteten Umkreis seiner Erörterungen von Lust und Unlust selber den Ausdruck „Mysterium" 2 1 0 . Keine Philosophie kann ausmachen und entscheiden, 208 209
K . d . r . V . Β 117. Man kann auch nicht sagen, daß Nietzsche zeitlebens ein „Christ wider Willen" geblieben sei. So Paul Fechter in seinem Aufsatz „Nietzsches Bildwelt und der Jugendstil" von 1935, wieder abgedruckt in: Jugendstil, Wege der Forschung CX, Darmstadt 1971, S., 349—357, dort S. 349; wohl bleibt er religiös in einem ganz bestimmten, im Verlauf dieser Darstellung 2 1 0 K A W III, 3 - 1 0 (1), S. 349. erläuterten Sinn.
Das dionysische Glück: Welt - Glück — Erlösung
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welchen Sinn und ob überhaupt einen man diesem Begriff verleihen soll; vielmehr bestimmt diese Vorentscheidung die Art der Philosophie, die man wählt. Es ist, nach der Einsicht Fichtes, also nicht so sehr die intellektuelle Begabung, die Zugang zu einer Philosophie verschafft, sondern der Charakter 2 1 1 des Einzelnen. Von ihm hängt ab, welche Bedeutung diesem Begriff erteilt werden soll, ob er als schief, banal und unerlaubt empfunden wird oder als etwas ganz anderes 212 . Vom Leiden erlösen, heißt nicht, Leiden abschaffen. „Erst der große Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes" heißt es in der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft" von 1886. Hier wie überall wendet sich Nietzsche gegen alle Theorien, denen Leiden als etwas gilt, das abgeschafft werden muß. „ . . . wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswert, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: nun, dann habt ihr, außer eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener: — die R e l i g i o n d e r B e h a g l i c h k e i t . Ach, wie wenig wißt ihr vom G l ü c k e des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmütigen! denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die miteinander groß wachsen oder, wie bei euch, miteinander — k l e i n b l e i b e n ! " 2 1 3
Natürlich ist es ebensowenig ein Ziel, Leiden zu schaffen — dies spräche gegen jede Art von Askese als Selbstkasteiung. Leiden abschaffen heißt, die Relität abschaffen. Was Nietzsche immer weiter durchdenkt, ist die schon berührte, sich radikalisierende Kritik an aller Art Idealismus, weil dieser als Philosophie der Wünschbarkeit die Realität verfälscht. Es geht nicht darum, etwas, vieles, gar alles, anders zu wollen, als es ist, sondern die gesamte Realität dadurch zu verändern, daß sie andere Farbe und anderes Gewicht erhält durch Bejahung und Gutheißen im ganzen: nichts anders haben wollen, nach vorwärts nicht, rückwärts nicht, amor fati. Leiden abschaffen oder möglichst viel Lust zu schaffen suchen, sind idealistische Positionen, die entweder bloß Utopie wären, wenn sie versuchten, die Wirklichkeit an ein imaginäres Idealbild anzugleichen, oder die in der Illusion steckenblieben, wenn sie glaubten, mit ihrer Theorie ein wahres Abbild der Realität zu haben, denn ein solches kann der Intellekt nicht erzielen, weil er, um überhaupt zu erkennen, das ständig Flie-
211
212
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Mangelndes Verständnis für Philosophie wäre also nach der Fichteschen Moral ein Charakterfehler! Interessant hierzu ein von F. Fischer angeführter, unveröffentlichter Brief Max Beckmanns an seinen Sohn Peter vom 1. Juli 1948: „Mysterium ist der richtige Collectivbegriff, das unbekannte X die einzige W i r k l i c h k e i t , die wir Gott oder den Göttern sei dank g l ü c k l i c h sind zu besitzen." F. Fischer, M. Beckmann, Symbol und Weltbild, München 1972, S. 28f. F. W. 338: „ D e r W i l l e zum L e i d e n und die M i t l e i d i g e n . - "
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ßende und Werdende notwendig umbiegen, umdichten, fest machen und so verfälschen muß. Erörterungen eines möglichen Vorrangs des Schmerzes vor der Lust oder umgekehrt sind solche des Grades ihrer wirklichkeitsoffenbarmachenden Kraft.
,,. . .
Unser Schmerz — der gebrochene Urschmerz. Unsre Lust — die g a n z e U r l u s t . " 2 1 4
lautet einer der in Rede stehenden Deutungsversuche. Der Urschmerz wird durch die Lust erzeugende Vorstellung gebrochen, in der Lust aber bekundet sich die Urlust ganz. Ist Wirklichkeit im letzten Sinn aber bestimmt als Leiden, und zwar als das des in die Individuen zerstückelten Dionysos, so kann sich die letzte Aufgipfelung des Glücks nur als Paradox ereignen. Bei dem Versuch, das, was Nietzsche als Dionysos erfahren hat, in Bildern und Gedanken aus sich herauszustellen, können sich aj?q die Widersprüche nicht beseitigen lassen, sondern sie müssen gehäuft auftreten. Dasselbe ist bei Nietzsches Versuchen der Fall, das Gesicht der ewigen Wiederkunft in eine Philosophie zu fassen, ein Anzeichen, daß es hier „Ernst" wird, das Denken mit sich selbst Ernst macht, indem es versucht, die Fesseln des Denkens abzustreifen, und spürt, daß sie immer wieder neu angelegt werden, ohne daß zu fragen wäre, v o n wem? Der tragisch-dionysische Zustand „teilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt." 2 1 5
Den tragischen Zuschauer erfüllt „jenes sichere Vorgefühl einer höchsten L u s t , zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so daß er zu hören meint, als ob der innerste A b g r u n d der Dinge zu ihm vernehmlich s p r ä c h e . " 2 1 6
„Glück" bei Nietzsche bleibt — recht verstanden — immer bis in die späteste Zeit ein „Glück der Verneinung", die als positive Destruktion ihren Wert und Rang aus dem nimmt, was und aus w e l c h e r E r m ä c h t i g u n g h e r a u s verneint wird: „ E s gibt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist . . , " 2 1 7 214 215 216 217
KAW III, 3-7 (171). G.d.T. 24. G.d.T. 21. 3.U.B. 4.
Das dionysische Glück: Welt — Glück — Erlösung
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„Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht s e h e n . " 2 1 8 „Ein verborgenes Ja treibt uns dazu, das stärker ist als alles unsre N e i n s . " 2 1 9
Im Verfolg solcher Verneinung entdeckt Nietzsche sich immer mehr als den „positiven Geist", als den er sich einmal in Abhebung von einer bloß destruktiven Geistesart, wie er sie in der seines Freundes Paul Ree sieht, selbst bezeichnet 220 . Dies meint natürlich nicht, daß sich beim späten Nietzsche alles in einfache, geradlinige Harmonie 221 auflöst; das Gegenteil dürfte der Fall sein. Glück, wie Nietzsche es versteht, ist jedenfalls eines nicht·, eine Harmonisierung von Widersprüchen. Vielmehr ist es ein Erlöstwerden von einem Bedürfnis danach. Jene „Sicherheit im Vorgefühl einer höchsten Lust" bekundet sich eindringlich in dem Dionysos-Dithyrambus „Die Sonne sinkt", in dessen Titel also auch wieder die Untergangssymbolik steckt. Es heißt dort in der letzten Strophe: „Nie empfand ich näher mir süße Sicherheit . . , " 2 2 ?
Dies ist nicht die Sicherheit des Descartes, sondern eine solche, die aus dem höchsten Zustand der Macht derart entspringt, daß plötzlich die Kraft zum Verzicht auf die Warumfrage da ist: „Bleib stark, mein tapfres Herz! Frag nicht: warum? —"
Aber wenn man genau hinsieht, so heißt es ja: „. . . so daß er zu hören m e i n t , als ob der innerste Abgrund der Dinge vernehmlich spräche." (Anm. 216) Unterliegt also Nietzsches Philosophie dem berühmten Verdikt, eine bloße Philosophie des „als o b " zu sein? Nietzsche als der Kantianer, der er ist, bei aller „göttlichen Bosheit", die er seinem großen Vorgänger im Einzelnen angedeihen läßt, weiß natürlich: von der Erscheinung gibt es keine Brücke, „die in die wahre Realität, ins Herz 218 219 220 221
222
F . W . 307. W. z.M 405. G . d . M . , Vorrede 4. „Eine H a r m o n i e ohne eine innerste Noth, ohne einen schrecklichen Untergrund - das suchen unsere „Griechen" in den Alten!" KAW III, 3 - 7 (90). Um zu sehen, daß das Schreckliche des Untergrundes bei N. keine Phrase ist, lese man nur die unglaublich düstere Schilderung der vorhomerischen Welt bei ihm nach. In: „Homers Wettkampf". Der Terminus „empfinden" ist ein für N. zentraler, ähnlich wie „fühlen", „Gefühl". Siehe auch: „Richtige Empfindungen werden noch höchst verschieden sein: und gemeinsam ist, daß sie keine imaginären Faktoren in sich enthalten, das heißt, das was gewogen wird, ist w i r k l i c h : verschieden sind die Wagen, nicht das Gewogene." — KAW V, 1—5 (31).
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Nietzsches Grundintentionen und das Glücksproblem
der Welt führte." 2 2 3 Endet Nietzsche also in einer „Sicherheit des als ob"? Die Reserven, die Nietzsche in dem angeführten Zitat macht, beziehen sich auf die Möglichkeit sprachlicher Verlautbarung, auf die Möglichkeit von Mitteilung über das, was im „Zarathustra" „das Gesicht des Einsamsten" heißt, nicht auf die „Sache" selbst. „Sind wir zugleich das eine Urwesen? Mindestens haben wir keinen Weg zu ihm. Aber wir müssen es sein: und ganz, da es untheilbar sein muß."224 Obwohl es keinen Weg zum „Ureinen" gibt, ist die Aufgabe, mit ihm eins zu werden, und zwar ganz, da hier gilt: ganz oder gar nicht. Es ist das Paradox mystischer Erfahrung, das Nietzsche hier beschreibt. „Ungezügelt in der Wildnis des Gedankens, der Sitte und der Tat leben" 225 läßt die Aufgabe gar nicht erst sichtbar werden, läßt nicht zu dieser Unwegsamkeit gelangen, aus der paradoxerweise dennoch der einzige „Ausweg", der jedoch kein Weg mehr sein kann, führt. Deshalb treibt Dionysos Apoll an, den Geist durch immer neue Bilder zu zügeln und zu mäßigen — solche Bilder können sein: zum Beispiel endliche Zwecksetzungen —, deshalb hat er selber Lust an ihnen und zwingt dennoch, sie immer wieder gleich zu vernichten, das heißt, sich immer wieder neu von ihnen zu erlösen dadurch, daß er sie nicht für absolut nimmt. In diesem Sinn ist die Welt die „in jedem Augenblick erreichte Erlösung Gottes" 226 .
223
G . d . T . 21. KAW III, 3 - 7 (167). 225 G . d . T . 23. 226 Versuch einer Selbstkritik. 224
3. Nietzsche als Erzieher zum Glück? 3.1. Nietzsches frühe Selbstdarstellung in der dritten und vierten Unzeitgemäßen Betrachtung und die Frage nach dem Glück oder Schopenhauer und Wagner als eine „Semiotik" Nietzsches 3.1.1. Die tragische Erziehung Eine Teilung Nietzsches in einen „Denker des Glücks" und einen „Erzieher zum Glück" hat nur eine „systematische", keine „sachliche" Wahrheit. Beide sind vielmehr nur zwei Seiten ein und desselben, die voneinander zu trennen schon heißt, der „Falschmünzerei" 1 verfallen, die in jeder Systematisierung steckt einschließlich eines „Systems in Aphorismen", als welches Löwith Nietzsches Philosophie zu fassen suchte. — Einen Sonderstatus nähmen hier nur solche Aufzeichnungen ein, in denen eine blitzartige Erhellung eines philosophisch nicht faßbaren Sachverhalts geschieht und die somit angewandte dionysische Naturwissenschaft wären. — Der überaus enge Zusammenhang zwischen philosophischen und pädagogischen Erwägungen wurde bereits sichtbar, indem Natur sich nicht bestimmen ließ ohne eine Hinsicht auf Bildung und Kultur. In keinem originären Denken gibt es im Grunde ein Zweierlei von Theorie und Praxis, ebensowenig wie es eines von Philosophie und Erziehung gibt, am wenigsten bei Nietzsche. Wie die theoretische Vernunft in sich praktisch ist, so kann das Denken nicht bei sich stehenbleiben, sondern muß beständig über sich hinausgehen zum Tun, muß ein Handeln werden. Sein ist für Nietzsche als Wille zur Macht selber ein Ober-sich-hinaussein und -schaffen: Sokratische Wissenschaft vollendet sich, wie dargelegt, erst dort, wo sie sich in Handlungen erzieherischer „Einwirkung auf edle Jünglinge zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius entlädt". Nur die Sehne des Bogens des letzten Menschen hat verlernt zu schwirren, er will nicht mehr über sich hinausgelangen und verfälscht so das Sein zum Beharren. Rechte Erkenntnis führt über sich hinaus zu rechtem Tun, ist unter Umständen dieses Tun selber, rechtes Tun verstärkt die rechte Erkenntnis. Ein recht verfolgter Gedanke entfaltet Macht, aus der eine Wirkung naturgemäß, 1
W . z . M 851.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
und das heißt absichtlos, folgt. Ja, es wird überhaupt nur da in der Natur etwas erreicht, wo jede Absicht fehlt. So geht eine erzieherische Wirkung von jedem Satz Nietzsches aus und bedarf es keiner eigens ausgeführten Pädagogik. Erziehung vor dem metaphysischen Hintergrund der „Geburt der Tragödie" und damit der Philosophie Nietzsches überhaupt kann nur bedeuten: „eine Erziehung zur tragischen Erkenntnis" 2 und damit eine Erlösung von allen Erziehern. „ D e r tragische Mensch — als der berufene L e h r e r der M e n s c h e n . " 3
Damit ist aber zugleich eine innige Beziehung von Erziehung und Erlösung gesetzt, Erziehung damit einem Maß unterstellt, das nicht vom Menschen genommen ist. „ D i e Vorstellung, daß sich der Mensch erlösen müsse — als o b es nicht das Weltwesen wäre, das in uns erlöst w ü r d e ! " 4
Auch Erziehung und gerade sie darf nicht anthropozentrisch sein. „ I n d e m die Tragödie eine Welterlösung ahnen läßt, gibt sie die erhabenste Illusion: die F r e i h e i t v o m D a s e i n überhaupt. Hier ist Nothwendigkeit des Leidens — aber ein T r o s t . Der Illusionshintergrund der Tragödie ist der der buddhistischen Religion. Hier zeigt sich S e l i g k e i t i m E r k e n n e n d e s h ö c h s t e n W e h e s . . . . " 5
Tragische Erziehung lehrt, auch die Illusionshaftigkeit ihrer selbst zu ertragen; sie lehrt den Blick in das Zwischenreich des Menschlichen, in dem kein Fußfassen und keine Ansiedlung möglich ist und das doch der dem Menschen allein gebührende „ O r t " ist: ein „Zwischen" zwischen der „Weisheit des Silens", dem Pessimismus, der auf keine Weise zu beschönigen, sondern nur aus Redlichkeit zu vertiefen und der bloß Realismus ist, und jener unausdenkbar anderen Seite der Wirklichkeit, die uns immer wieder erhebt, so daß wir 2 3 4 5
KAW III, 3 - 6 (3). KAW III, 3 - 5 (105). KAW III, 3 - 6 (5). KAW III, 3 - 5 (102). In der vierten U . B . , die ebenso wie die dritte einen Aufriß für Nietzsches eigene Zukunft gibt, nur daß die hier erörterten Grundgedanken statt auf Philosophie auf Kunst angewandt und von dort her beleuchtet werden, sagt Nietzsche, nachdem er geschildert hat, wie die „Nichtgemeinsamkeit des Wissens bei allen Menschen, die Unsicherheit der letzten Einsichten und die Ungleichheit des Könnens" den Menschen „kunstbedürftig" macht, da ohne die Kunst niemand glücklich sein könne, solange um ihn herum „alles leidet und sich Leiden schafft": „Der Einzelne soll zu etwas Uberpersönlichem geweiht werden — das will die Tragödie; er soll die schreckliche Beängstigung, welche der Tod und die Zeit dem Individuum macht, verlernen, denn schon im kleinsten Augenblick, im kürzesten Atom seines Lebenslaufes kann ihm etwas Heiliges begegnen, das allen Kampf und alle Not überschwenglich aufwiegt — das heißt t r a g i s c h gesinnt sein." 4 . U . B . 4. Tragödie und Uberschwenglichkeit: wichtige Stichworte für Nietzsches Rätselhaftigkeit!
Nietzsches frühe Selbstdarstellung und die Frage nach dem Glück
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nicht dem praktischen Pessimismus des Selbstmords verfallen. Aus dieser verzweiflungsvoll gespannten Zwischenlage resultiert erst die Kategorie der Erlösung, die nach der Einsicht Kierkegaards nichts ist als „eine Kategorie der Verzweiflung" 6 . So steht Nietzsche in einer Linie mit dem Denken Pascals, der dem Menschen als Ort die dialektische Schwebe zwischen diesen beiden Spannungspolen bestimmt. Auch er macht eine Kraft aus, die uns, trotz allem, was uns an der Gurgel packt und würgt, doch immer wieder erhebt: „Malgre la vue de toutes nos miseres, qui nous touchent, qui nous tiennent ä la gorge, nous avons un instinct que nous ne pouvons reprimer, qui nous eleve." 7
Fällt die Berücksichtigung dieser Kraft, die uns erhebt, weg und siedelt man sich sozusagen in der Verzweiflung an — gesetzt, das wäre möglich — so ergibt sich ein Nihilismus der Schwäche, der Müdigkeit als Symptom der decadence, den Nietzsche von dem der Stärke wohl zu unterscheiden weiß, der die Realität verfälscht, als hätte sie das Ziel eines Ausruhens im Nichts, der im Grunde bloß ein Faulbett des Denkens darstellt, da in ihm alles erlaubt und alles gleichgültig wäre, der sich selbst getrost zur letzten Ruhe betten könnte, weil nichts mehr ihn aufschrecken kann. Dies hat Nietzsche im Blick, wenn er gegen jedes „buddhaistische Ausruhen im Nichts" polemisiert, nicht eine Kritik des tatsächlichen Buddhismus. Es müßte eine interessante Philosophiegeschichte ergeben, schriebe man sie einmal unter dem Gesichtspunkt des Erhabenen. Das Erhabene ist nicht nur für Kant, sondern auch für Nietzsche eine wichtige Kategorie8, was man leicht übersieht. „Die Philosophie soll den g e i s t i g e n H ö h e n z u g durch die Jahrhunderte festhalten: damit die Fruchtbarkeit alles Großen. Für die Wissenschaft gibt es kein „ G r o ß " und „Klein" — aber für die Philosophie! An jenem Satze mißt sich der Wert der Wissenschaft. Das F e s t h a l t e n des E r h a b e n e n ! " 9
Festhalten an „Groß" und „Klein", an der Rangordnung im ameisenhaften Gewimmel des Daseins 10 kann nicht durch Wissenschaft ermöglicht werden, 6
7 8
9 10
Tagebücher VII A 130: „Vorsehung und Erlösung sind Kategorien der Verzweiflung, d.h. ich müßte verzweifeln, wofern ich sie nicht glauben dürfte, ja sollte. Sie sind nicht das, worüber man verzweifelt, sondern das, was die Verzweiflung fernhält." Pensees 411. S. auch das Kap.: „Von den Erhabenen" im Z. — Hier wie überall kritisiert N. die überkommenen Ideale in der Weise, daß sie als nicht genügend erkannt und überwunden werden sollen: „ein Gehobener soll er mir sein und nicht nur ein Erhabener." — Vgl. dazu die Albatrossymbolik. U . d . W . I , 100. „Uberwindet mir, ihr höheren Menschen, . . . den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das .Glück der meisten' —!" — Ζ, IV, Vom höheren Menschen 3.
Nietzsche als Erzieher zum Glück?
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denn diese kann nicht „befehlen", bloß „beschreiben". Sie dient damit nicht dem Leben, das des Diktats möglicherweise ungerechter Schätzungen bedarf. Das Leben neu abzuschätzen, es überhaupt zu s c h ä t z e n , sieht Nietzsche immer als spezifische Aufgabe des Philosophen an, seine Skepsis trifft nur die Tauglichkeit bisheriger Maßstäbe. Zur Zeit der „Morgenröte", als Nietzsche sich entschiedener als zuvor auf die ihm eigentümliche Höhe des Denkens versetzt fühlt und er seinen philosophischen Weg in neuer Bestimmtheit vor sich sieht — interessanterweise häufen sich gerade in der „Morgenröte" plötzlich die Äußerungen über „Glück" — notiert er: „Sind nicht alle „erhabenen Gefühle" jetzt verdächtig geworden, weil die falsche Schwärmerphilosophie sich so nah seit langer Zeit an sie gelegt hat, daß neben einem erhabenen G e f ü h l fast regelmäßig ein verdrehter Gedanke . . . aufsteigt! Traurig. . . . Daß es Erhebung ohne Phantasterei gibt, bitte beweist es täglich und stündlich! F r e u n d e ! " 1 1
Und in „Jenseits von Gut und Böse", Aphorismus 30 heißt es: „ . . . E s gibt Höhen der Seele, von w o aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken ;"
Diese Höhe ist nicht durch einen Überstieg in eine Hinterwelt zu erreichen; man könnte eher an ein Anwachsen der Macht denken und dieses in Beziehung setzen zu dem, was die Mystiker im Blick haben, wenn sie von einem „Zunehmen" und „Abnehmen" sprechen. „ W a s ist Glück? — Das Gefühl davon, daß die Macht w ä c h s t , — . . .".
heißt es im zweiten Abschnitt des „Antichrist". Wie geschieht dieses Anwachsen der Macht? Wie ist es auszulegen? Oder: wie gelangt die Seele auf ihre Höhe, ohne der Phantasterei zu verfallen? Das ist auf e i n e Weise die Grundfrage Nietzsches. Ein ebenso merkwürdiges wie wichtiges Stück aus dem Nachlaß der Zarathustrazeit muß hier angeführt werden: ,,. . . das neue M a c h t - G e f ü h l : der mystische Zustand, und die hellste, kühnste Vernünftigkeit als ein Weg dahin. Philosophie als Ausdruck eines außerordentlich h o h e n Seelenzustandes." 1 2
Diese Stelle bleibt wichtig auch ungeachtet dessen, daß Nietzsche bei dem Terminus „mystisch" durchaus nicht immer etwas Freundliches im Sinne hat. Hier spricht aber vieles, eigentlich alles, dafür, daß der Begriff nichts Abwer-
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K A W V, 1 - 4 (143).
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K A W VII, 2 - 2 6 (241).
Nietzsches frühe Selbstdarstellung und die Frage nach dem Glück
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tendes enthält, sondern im Gegenteil höchstes Positivum ist: einmal schon die Uberschrift des ganzen Stücks, die Bezug nimmt auf Nietzsches neue Tugend der Redlichkeit: „ D i e n e u e n W a h r h a f t i g e n . —", dann aber auch, daß hier Seelenzustände beschrieben werden, die Nietzsche als ganz persönliche und ihm eigentümliche ansieht: „ h ö c h s t e E r r u n g e n s c h a f t e n (von mir für m i c h ) " . 1 2
— Für alle seine Schriften gilt das gerne von ihm angeführte „mihi ipsi scripsi"! — Am gewichtigsten aber ist die Betonung, daß hellste Vernünftigkeit und Mystik sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig fordern. Daß der Mystiker derjenige ist, der von seiner Vernunft den kühnsten Gebrauch macht, der überhaupt möglich ist, ist wahrscheinlich eine These, der Nietzsche nicht unbedingt widersprochen hätte 13 . Der Erzieher muß den Zögling sicher durch die Klippen „Indien" und „Rom" 1 4 hindurchbringen, das heißt, ihn vor dem „buddhistischen" Weg des Ausruhens im nichtigen Nichts bewahren, wie vor dem, den Nietzsche merkwürdigerweise, obwohl doch solche Redeweise mit dem Tod Gottes sinnlos geworden zu sein scheint, „Verweltlichung" nennt, das meint ein Sich-Uberlassen an den „politischen Wahn"; ebenso muß vor einem „rosaroten" Idealismus etwa Meysenbugscher Prägung bewahrt werden, der heute allerdings wohl die geringste Gefahr sein dürfte. Die Einheit von Nietzsches Werk trotz extremer Vielfalt und Umfänglichkeit seiner Perspektiven ließe sich auf den verschiedensten Argumentationsebenen darlegen, zum Beispiel auf der seines Selbstverständnisses. So schreibt er im Juli 1885 aus Sils-Maria an Overbeck·.
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Nietzsche äußert sich in den Vorarbeiten zur vierten U. B., Richard Wagner in Bayreuth, in aufschlußreicher Weise über das Problem „Mystik"·. Wenn Siegfried sein Schwert schmiedet, so braucht er dazu eine „Kraft der Entäußerung von der Zeit, wovon unsere .Dichter' auch keine Ahnung haben." ( F . N . , Unzeitgemäße Betrachtungen — Schriften für und gegen Wagner, Leipzig 1927, S. 321). „Wenn d i e s e Wunder vorbringen, so schwindeln sie; wie unsere Philosophaster schwindeln, wenn sie sich in ,Mystik" tauchen. Das ist aber der Fluch der jetzigen Philosophierer, daß sie sich mit ihrem phantasieleeren, nüchternen und zugleich verworrenen Kopfe anstellen, als seien sie zur Mystik überhaupt befähigt; weshalb zu raten ist, jedem, der mystische Wendungen macht, als einem unehrlichen Gesellen sechs Schritt fern zu bleiben. Am wenigsten bedenklich ist es, wenn es nur Verlegenheitsmystik ist, dort wo der Verstand unsicher wird, das Auge sich trübt, und der Besonnene sich zurückzieht; fast jeder Denker streift an solche Grenzen an." Es bedarf also einer besonderen Befähigung zur Mystik, die sich ergibt, wenn man die oben hervorgehobenen Prädikate umdreht: man muß von phantasievoller, trunkener Klarheit des Geistes sein. — Zarathustra kehrt am Ende des Kapitels „Mittags" „wie aus einer fremden Trunkenheit" zurück. G . d . T . 21.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
„Das Durchdenken der principiellen Probleme, das unwillkürlich den Inhalt meiner Engadiner Hochgebirgs-Sommer ausmacht, bringt mich immer wieder, trotz der verwegensten Angriffe von Seiten meines innewendigen „Skeptikers" auf dieselben Entscheidungen: sie stehen schon, so verhüllt und verdunkelt als möglich in meiner „Geburt der Tragödie", und Alles, was ich inzwischen hinzugelernt habe, ist hineingewachsen und ein Theil davon geworden."
Ähnliches dürfte von den „Unzeitgemäßen Betrachtungen" gelten, die vielleicht manchmal zu leicht in den Schatten der späteren Schriften geraten. Nietzsche hat in ihnen, besonders in der dritten, immer eine Art Erkennungszeichen für sich gesehen 15 und ihre Lektüre empfohlen, wenn man wissen wolle, worauf man sich mit ihm einläßt. Wiederholt wies er daraufhin, daß man sie unter dem Titel „ N i e t z s c h e als Erzieher" zu lesen habe. Die frühen Schriften, auf denen beinahe ausschließlich Nietzsches bescheidener, zeitgenössischer Ruhm beruhte, enthalten bereits seine ganze Philosophie, wenn das vielleicht auch erst „von hinten her" deutlich wird. Sie mögen daher als Leitfaden zur Bestimmung des Glücks dienen. Es ist dabei geboten, sich auf einige wenige Problemkreise zu beschränken.
3.1.2. Das Glück der Selbstsucht oder Glück und Egoismus „In der dritten und vierten Unzeitgemäßen werden, als Fingerzeige zu einem höheren Begriff der Kultur, zur Wiederherstellung des Begriffs „Kultur" zwei Bilder der höchsten Selbstsucht, Selbstzucht dagegen aufgestellt, unzeitgemäße Typen par excellence . . . — Schopenhauer und Wagner oder, mit einem Wort, N i e t z s c h e . . ."
heißt es im entsprechenden Abschnitt des „Ecce H o m o " . Erziehung meint bei Nietzsche mit der dem Philosophen eigentümlichen Selbstsucht Erziehung zum Philosophen. Diese gibt den Maßstab für Erziehung überhaupt ab, da im philosophischen Genius die Natur sich über sich selber aufklärt und sich von sich selbst erlöst: dieser Gedanke wird in der dritten Unzeitgemäßen nicht aufgegeben, sondern vielfach variiert. Damit
15
So überreichte er auch Lou Salome bald nach Beginn ihrer Bekanntschaft ein Exemplar der dritten U . B . und notierte nach dem Zerwürfnis mit Unmut, daß dieses möglicherweise überhaupt hätte vermieden werden können, hätte Lou S. sich aufgrund dieser Lektüre gleich von ihm zurückgezogen. L.S., der diese Aufzeichnung im Alter zur Kenntnis gebracht wurde, äußerte empört, sie habe damals auf der Reise weder Zeit noch Gelegenheit gehabt, diese Schrift zu studieren. Vgl. dazu wie zu dem ganzen Komplex Nietzsche-Ree—Salome, über den sich ein abschließendes Urteil zu bilden wohl unmöglich ist, da er tief in die Verworrenheit am Grunde aller menschlichen Verhältnisse reicht, die schon angeführte Dokumentation von E. Pfeiffer.
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ergibt sich als Aufgabe der Erziehung der „Vielen", ihnen den Ort anzuweisen, wo sie auf der Stufenleiter der Natur bei der Vorbereitung und Entstehung des Philosophen behilflich sein können. Sie würden so von der jetzt herrschenden „Selbstsucht der Erwerbenden" 16 befreit, die von ihrem Ziel, dem Erreichen des Erdenglücks, angetrieben, zu dessen Vorstellung man durch „jenen beliebten Satz und Kettenschluß" 16 gelangt: „möglichst viel Erkenntnis und Bildung, daher möglichst viel Bedürfnis, daher möglichst viel Produktion, daher möglichst viel Gewinn und Glück" 1 6 , nicht nur zur Ausnutzung aller Dinge, sondern auch zur Vernutzung der diesen Egoismus tragenden „Ego-s" selber führt. „Jede Bildung ist hier verhaßt, die einsam macht, die über Geld und Erwerb hinaus Ziele steckt, die viel Zeit verbraucht; man pflegt wohl solche ernsteren Arten der Bildung als „feineren E g o i s m u s " , als „unsittlichen Bildungs-Epikureismus" zu verunglimpfen. Freilich, nach der hier geltenden Sittlichkeit steht gerade das Umgekehrte im Preise, nämlich eine rasche Bildung, um bald ein geldverdienendes Wesen zu werden, und doch eine so gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können. . . . Kurz: „der Mensch hat einen notwendigen Anspruch auf Erdenglück, darum ist die Bildung notwendig, aber auch nur d a r u m ! " " 1 6
Wer diese Bildung des Philosophen, „jenes wahrhaften Menschen, j e n e s N i c h t - m e h r - T i e r e s " 1 6 als ein unzeitgemäßes Ideal von Humanismus ablehnt, der möge nach Nietzsche ruhig fortfahren, s e i n e Art von zeitgemäßer Erziehung zu betreiben: so bleiben beide, Nietzsche und sein Kritiker, durch einander ungestört. Beim Erscheinen des Philosophen „macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung, und zwar einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, daß sie verlernen müsse, Ziele zu haben, und daß sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt h a b e . " 1 6 „Was sie jetzt mit diesen verklärten Mienen ausspricht, das ist die große A u f k l ä r u n g über das D a s e i n . " 1 6
Also wäre der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen als der Höhepunkt der Philosophie im Sinne Nietzsches, da er eben diese Einsicht der Ziellosigkeit der Natur, die in ihm alle Ziele losgeworden ist, ohne dies als einen Mangel zu empfinden, darstellt, der wahre Anlaß zum Freudensprung für die Natur. „Verklärung" wäre dann die „große Aufklärung", die geschichtliche aber bloß eine „kleine Aufklärung", da ihr der Maßstab für Größe fehlt, sie lediglich auf Herdeninstinkten beruht. Ihre angestrebte Gleichheit tötet die Freude ab und läßt den Verdruß wachsen. Erziehung muß also hinaufbringen auf die Höhe der neuen Aufklärung. 16
3.U.B. 5.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück? „ D i e n e u e A u f k l ä r u n g , Ein Vor- und Fürwort zur Philosophie der ewigen Wiederkunft" ( 1 8 8 4 - 8 6 )
ist ein geplanter Titel, gefolgt von einem Aufriß für eine Darstellung dieser Philosophie: „ D i e e w i g e W i e d e r k u n f t . Eine Wahrsagung. Große Vorrede. Die neue A u f klärung — die alte war im Sinne der demokratischen Herde: Gleichmachung aller. Die neue will den herrschenden Naturen den Weg zeigen; — inwiefern ihnen (wie dem Staate) a l l e s e r l a u b t ist, was den Herdenwesen nicht freisteht. E r s t e s H a u p t s t ü c k . Die neuen Wahrhaftigen. (Aufklärung in betreff „Wahrheit und Lüge" am Lebendigen.) Z w e i t e s H a u p t s t ü c k . Jenseits von Gut und Böse. (Aufklärung in betreff „ G u t und Böse"). D r i t t e s H a u p t s t ü c k . Die versteckten Künstler. (Aufklärung in betreff der gestaltenden, umbildenden Kräfte.) V i e r t e s H a u p t s t ü c k . Die Selbstüberwindung des Menschen. (Die Erziehung des höheren Menschen.) F ü n f t e s H a u p t s t ü c k . Der Hammer und der große Mittag. (Die Lehre der ewigen Wiederkunft als H a m m e r in der Hand des m ä c h t i g s t e n Menschen.)" 1 7
Der im „Ecce Homo" bewußt anstößig gewählte Ausdruck „Selbstsucht", schon dort jedoch erläutert als eine Selbstzucht, soll also letztlich einer Uberwindung des Menschen dienen (siehe viertes Hauptstück). Bei der Lehre der ewigen Wiederkunft als einem „Hammer" in der Hand des mächtigsten Menschen sind alle Vorstellungen von Zerstörung und Gewaltausübung fernzuhalten. Der Hammer ist für Nietzsche ein Werkzeug, um etwas auszumachen, das nicht hohl ist wie alle Götzen (siehe Vorwort zur „Götzendämmerung"). Der mächtigste Mensch ist kein Tyrann und Gewaltherrscher: nur eine Vorstellung, die selber noch nicht sehr mächtig ist, stellt unwillkürlich so vor. „Macht" bedeutet bei Nietzsche immer so etwas wie „Seinsmächtigkeit", „auf die Höhe gelangen", meint letztlich das Angelegtsein auf jenen merkwürdigen höchsten Zustand hin, den Nietzsche in dem angeführten Zitat den „mystischen" zu nennen sich genötigt sieht. Dabei scheint an einigen Stellen des „Zarathustra" Macht empfunden zu sein aus dem Umkreis eines „Höheren" heraus, das sich gnädig herabneigt, von einem Hohen her, das selber nach dieser Macht lüstern ist: „Herrschsucht: doch wer hieße es S u c h t , wenn das Hohe hinab nach Macht gelüstet! Wahrlich, nichts Sieches und Süchtiges ist an solchem Gelüste und Niedersteigen." 1 8
17 18
U . d . W . II, 833. Z, Von den drei Bösen.
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„ W e n n die Macht gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare: Schönheit heiße ich solches H e r a b k o m m e n . " 1 9
Äußert sich hier unvermutet doch wieder ein gottbildender Trieb in Nietzsche? Schlägt er unversehens aus? Eine Frage, von der nicht leicht loszukommen ist und die zu beantworten eine Gesamtbeurteilung des Phänomens Nietzsche voraussetzen würde, die nicht zu gewinnen ist. Handelt es sich bei der ewigen Wiederkunft überhaupt um eine Lehre? Nietzsches Erzieher sind jedenfalls keine Lehrer in dem Sinn, daß sie einen übertragbaren und übernehmbaren Wissensinhalt zu vermitteln hätten. Sie glauben nicht an beliebig wählbare Richtung der Erziehung zum Zwecke der Erzielung einer bestimmten Haltung und Artung des Zöglings. Solche Auffassungen von „Lehre" als Machbarkeit der Erziehung sind inhuman, so aufgefaßtes Lehren wäre eine inhumane Tätigkeit. Auch Piaton glaubte nicht an die Lehrbarkeit von Denkgegenständen, sondern an Anamnesis 20 . Es gibt keine philosophischen Lehrbücher; solche wären ein Widersinn in sich. Deshalb bekennt Nietzsche: „ I c h mache mir aus einem Philosophen gerade so viel, als er imstande ist, ein Beispiel zu g e b e n . " 2 1
und „definiert" er Erziehung als „zauberische Einwirkung von Person auf P e r s o n " 2 2 .
„Zauberisch" deshalb, weil es Mitteilung im letzten Sinne nicht gibt, auch weil der Grundstoff des menschlichen Wesens „etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares" 23 ist. „ I m Grunde von uns, ganz „da u n t e n " , gibt es freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum . . . Bei jedem kardinalen Problem redet ein unwandelbares „das bin i c h " . 2 4
Sind wir aber „un-bildbzr", so läßt sich uns in einem letzten Raum, ganz „da unten", auch nichts „ein-bilden", so ist die Macht Apolls begrenzt, geht uns seine Welt, also „die Welt" eigentlich nichts an? 19 20 21 23 24
Z, Von den Erhabenen. Auch Nietzsche notiert: „ E r i n n e r n , nicht belehren." KAW III, 3 - 1 8 (2). 2 2 KAW III, 3 - 5 (106). 3 . U . B . 3. 3 . U . B . 1. J . v . G . u . B . 231 / Siehe auch U. d.W. I, 660: „Es gibt etwas Unbelehrbares im Grunde des Geistes: einen Granit von Fatum, von vorausbestimmter Entscheidung aller Probleme im Maß und Verhältnis zu uns, und ebenso ein Anrecht auf bestimmte Probleme, eine eingebrannte Abstempelung derselben auf unseren Namen. Der Versuch, sich anzupassen, die Qual der Vereinsamung, das Verlangen nach einer Gemeinschaft, einem m i l i e u . . . Inwiefern Bescheidenheit, Mangel an mutigem „Ich bin" bei einem Denker verhängnisvoll wird. . . . "
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
Dennoch bedeutet Lernen eine Verwandlung 25 , nur eben nicht eine durch Lehren herbeigeführte: „deine Erzieher vermögen nichts z u sein als deine Befreier". 2 6
Bei jedem kardinalen Problem, also auch bei dem des Glücks, redet ein unwandelbares „das bin ich", also gibt es so viele Arten von Glück, wie es „Ich-e" gibt, ist das Glück eine Abstraktion mit der notwendigen Fiktionalität einer solchen, ist Glück in diesem Sinn tatsächlich ein „usurpierter Begriff"· Ist Glück notwendig ichbezogen, so ist der Glückliche also ein Egoist? Es kommt darauf an, was unter „Ich" verstanden wird und entsprechend, was unter „Egoismus". Ähnlich wie in der „Geburt der Tragödie" bleibt der Glückliche gerade der Ich-lose, der, der sein Ich vergißt. „Seine Kraft liegt in seinem Sich-selbst-vergessen." 2 7 W i e das?
Das Problem der Ichheit, der Egoität, ist selber ein „kardinales", vielleicht das menschliche Fundamentalproblem. „Das Problem der Eigenheit und Ichheit: das menschliche Grundproblem; die Mystiker haben es g e w u ß t . " 2 8
Nietzsches Philosophie stellt sich dar als eine Kritik aller Richtungen, in denen das Ego in irgendeiner Form zum Prinzip erhoben wird, also sowohl als Kritik der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität mit ihrem „Ich als Prinzip der Philosophie" als auch dessen, was im alltäglichen Leben als Egoismus praktiziert und gebrandmarkt wird. Dabei erhält aber die Sache, um die es geht, einen ganz neuen „Geschmack". Die Einsicht in die Schein- und Wahnhaftigkeit nicht nur des empirischen, sondern auch und vor allem des transzendentalen und absoluten Ich wächst im Verlaufe der seit Kant immer gefährdeter werdenden Gratwanderung Philosophie. Erkennen von Scheinhaftigkeit bedeutet jedoch nicht, wie wieder Kant sah, Aufhören des Scheins. Vielmehr bleibt dieser — die gesamte als Schein erkannte Welt — eine Realität, die uns zusetzt und bedrängt. Die Verlogenheit und Gewaltsamkeit des Ich als einem synthetisierenden Prinzip tritt besonders dort hervor, wo es sich zum höchsten ihm möglichen Urteil auf-
25
J.v. G . u . B . 231: „Das Lernen verwandelt uns, es thut das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloß „erhält" — wie der Physiologe weiß." 26 3.U.B.I. 27 3 . U . B . 4. 28 W. Struve, Wir und Es, a.a.O., S. 27 / Siehe auch das Kapitel „Ichheit" in: Der andere Zug, a.a.O.
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schwingt, zum Richter über alles überhaupt, und zu dem Schluß gelangt: es ist alles nichts wert. Ein solches Urteil ist, auf seinem Grunde betrachtet, eine Unbescheidenheit des Ich und eine Anmaßung; auch im gewöhnlichen Leben kommen die meisten Fehlurteile mehr durch Unbescheidenheit als durch mangelndes Wissen zustande. Die „Wahrheit" des Pessimismus gründet sich denn auch nicht auf ein Urteilen, sondern auf das Leiden. Dem Denken, der Wissenschaft, gilt Leiden immer nur als „etwas Ungehöriges und Unverständliches", „also höchstens wieder (als) Problem" 2 9 . In einer wirklich „verworfenen Welt" „würde auch das Verwerfen verwerflich sein" 3 0 . Es ist diese profunde Ungerechtigkeit im Ich, des Ich, das sich zum Mittelpunkt von allem machen will, die schon Pascal31 aufdeckte, mehr noch als dessen Scheinhaftigkeit, die Nietzsche, dem Gerechtigkeit so etwas wie ein letztes Wort über die Wirklichkeit überhaupt ist, zu seinem Gegner werden läßt. „ W i r wollen uns von der großen Grundverrücktheit heilen, a l l e s n a c h uns z u messen: . . ."32 „ . . . Ich unterscheide aber: die eingebildeten Individuen und die wahren „ L e benssysteme", deren jeder von uns eins ist; — man wirft beides in eins, während „das Individuum" nur eine Summe von bewußten Empfindungen und Urteilen und Irrtümern ist, ein G l a u b e , ein Stückchen v o m wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt, eine „ E i n h e i t " , die nicht Stand hält. Wir sind Knospen an e i n e m Baume, — was wissen wir von dem, was im Interesse des Baumes aus uns werden kann! Aber wir haben ein Bewußtsein, als ob wir a l l e s sein wollten und sollten, eine Phantasterei v o m „ I c h " und allem „Nicht-Ich": A u f h ö r e n , s i c h als s o l c h e s p h a n t a s t i s c h e s e g o z u f ü h l e n ! . . . Den E g o i s m u s als I r r t u m einsehen! Als Gegensatz ja nicht Altruismus zu verstehen! Das wäre die Liebe zu den a n d e r e n v e r m e i n t l i c h e n Individuen. Nein! U b e r „ m i c h " und „ d i c h " h i n a u s ! K o s m i s c h e m p f i n den!"33
Die synthetische Einheit des Ich wird zur Fabel; synthetische Urteile a priori, kontert Nietzsche gegen Kant, sind wohl möglich, aber sie sind falsch. Wir müssen uns vom Irrtum des Ich zu befreien suchen. Dabei ist dem Egoismus nicht durch Altruismus zu entgehen, denn dieser wird lediglich als eine Spielart desselben entlarvt, indem ein Ich in ihm dadurch auf seine Höhe kommt, daß es seine Kraft an anderen ausläßt. „ N i c h t „ich und d u " ! wie könnten wir „den anderen" (der selber e i n e S u m m e v o n W a h n ist!) fördern dürfen? Das Ichgefühl umschaffen! . , . " . 3 4 „ . . . Es ist etwas Neues zu schaffen: nicht ego und nicht tu und nicht o m n e s ! " 3 4 29 30
31 34
3 . U . B . 6. KAW VIII, 3 - 1 4 (31) = W . z . M . 293 (!) / s. auch: „Alles an der Welt mißfiel mir: am meisten aber mißfiel mir mein Mißfallen an Allem." XIV, 304, 126. 3 2 U . d . W . I I , 445. 3 3 U . d . W . I I , 446 = KAW V, 2 - 1 1 (7). Pensees 455 . U. d. W. II, 447.
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Das „Füreinanderexistieren" 35 wird konsequenterweise zur Komödie. Wohlgemerkt, es heißt nicht, man brauche nicht füreinander dazusein, sondern es geht um die Verurteilung dieses Gebots da, wo es sich zum letzten, absoluten Horizont der Abschätzung der Aufgabe des Daseins und sogar zu ihrer Lösung aufwerfen will. Welche Bedeutung hat für Nietzsche das Ich als Widerprinzip alles Guten, alles dessen, was zur Befreiung führt, wie es die großen Religionen aufgefaßt haben? Damit das Ich als Widerprinzip zum Wirklichen schlechthin, das nur durch Loslassen des Ich zu erreichen ist? Am deutlichsten ist diese Einsicht wiederum in der Mystik und spricht sich dort unmißverständlich aus, zum Beispiel in der „Theologia deutsch": „Was tat der Teufel anderes, denn daß er sich's annahm, er war auch etwas, und wolle etwas sein, und etwas wäre sein und käm ihm z u . " 3 6
Muß Nietzsche nicht, als der Umwerter aller Werte, den von der Moral gescholtenen Egoismus als Wert ansetzen? Würde ein Herabsetzen des natürlichen Lebens in seiner Haupterscheinungsform, dem Egoismus, der kräftigen Wahnvorstellung des Strebens des Einzelnem nach seinem Glück 3 7 , durch das sich das Ganze begrenzt und erhält, nicht bedeuten, dem Nihilismus verfallen, der doch überwunden werden soll mit all seinen Auslegungen dessen, was n i c h t s e i n s o l l ? Es ist jedoch die Frage, ob ungebrochener Egoismus tatsächlich „natürlich" ist und ob nicht vielmehr gewisse Arten von Askese für bestimmte, aufsteigende Formen des Lebens mit zur Natur gehören, ob nicht die Natur erst durch Askese auf ihre Höhe kommt, Macht gewinnt 38 . Der
35
K A W IV, 1—3 (64): „ D i e meisten Menschen sind offenbar z u f ä l l i g auf der Welt; es zeigt sich keine Notwendigkeit höherer Art in ihnen. Sie treiben dies und das, ihre Begabung ist mittelmäßig. Wie sonderbar! Die Art, wie sie nun leben, zeigt, daß sie selbst nichts von sich halten, sie geben sich preis, indem sie sich an Lumpereien wegwerfen (seien das nun kleinliche Passionen oder Quisquilien des Berufs). In den sogenannten „Lebensberufen", welche jedermann wählen soll, liegt eine rührende B e s c h e i d e n h e i t der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen, unseresgleichen zu nützen und zu dienen; und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar auch; und so dient jeder dem andern, keiner hat seinen Beruf, seiner selbst wegen dazusein, sondern immer wieder anderer wegen; so haben wir eine Schildkröte, die auf einer andern ruht und diese wieder auf einer und so fort. Wenn jeder seinen Zweck in einem andern hat, so haben a l l e k e i n e n in s i c h , zu e x i s t i e r e n ; und dies „ f ü r e i n a n d e r e x i s t i e r e n " ist die komischste Komödie."
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Zit. nach Das Büchlein vom vollkommenen Leben, Eine deutsche Theologie, herausgegeben und übertragen von Hermann Büttner, Jena 1907, S. 5. K A W VII, 2 - 2 (231) = W . z . M . 686: „ D a ß es sich einzeln fühlt, ist der m ä c h t i g s t e Stachel im Prozesse selber nach fernsten Zielen hin: sein Suchen für s e i n Glück ist das Mittel, welches die gestaltenden Kräfte andrerseits zusammenhält und mäßigt, daß sie sich nicht selber zerstören." Ein Problem, von dem die dritte Abhandlung der G . d . M . , Was bedeuten asketische Ideale? handelt.
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egoistisch Genießende ist dem allgemeinen Empfinden und besonders dem philosophischen wohl zu Recht in jedem Fall eine widrige Vorstellung, was nicht vom Glücklichen gilt. Umwertung aller Werte bedeutet ja nicht, das bisher Verworfene auf Biegen und Brechen zum Wert erklären, sondern die Werthaftigkeit von Werten überhaupt neu zu bestimmen suchen. So könnte Nietzsche bei der Mißbilligung des niedrigen Egoismus ruhig mit der christlichen Moral übereinstimmen und brauchte deshalb doch nicht auf ihrem Boden zu stehen. Nietzsche will den Egoismus in ganz neuer Weise und Radikalität von dem Taxiertwerden durch die Eckenstehermoral des Menschen des Ressentiment befreien. In dessen Hand verkam die Moral zum Drangsalierungsinstrument, mit dem enge, kleinliche Seelen sich zum Richter aufschwangen über die ihnen unverständlichen Bestrebungen der umfänglicheren, weiteren. Da das Ressentiment diese nicht einfach auf sich beruhen lassen will, da ihm die dazu nötige Kraft fehlt, sucht es sie herabzuziehen auf die Plattform seines Urteilsvermögens, um sie so dennoch in seine Macht zu bekommen, vermittels des moralischen Verdikts. So konnte „Tugendhaftigkeit" das gerade Gegenteil von „Heiligkeit" 3 9 werden. Kaum ein Vorwurf ist oft so gedankenlos, aber desto stärker triebbestimmt, als der des Egoismus. Es kann nur der Egoismus des so Urteilenden selber sein, der etwas als „egoistisch" verwirft, weil er sich in seinen eigenen Ansprüchen zu kurz gekommen sieht. Das Urteil höbe sich also selber auf. „ D i e E g o i s t e n l o b e n d e n U n e g o i s t i s c h e n , weil er s o d u m m ist, ihren V o r t e i l seinem Vorteile voranzustellen."40
Nietzsche möchte das „ e g o " überwinden, aber nicht „der häßlichste Mensch" soll neidisch-hämisch darüber entscheiden, was das Glück des Einzelnen, der in dem Leben gemäßer Weise danach strebt, stärker zu werden, wert ist. „ D e r E g o i s m u s ist soviel w e r t , als D e r p h y s i o l o g i s c h w e r t i s t , d e r ihn h a t . " 4 1
„Physiologisch" 4 2 — ein Haupt- und Lieblingsbegriff Nietzsches, weil er soviel Nebel zerteilen kann — zielt auf die ungeheuer weit reichende Bedingtheit von allem durch den Leib, als den der Mensch sich vorfindet, „ L e i b " allerdings verstanden als „eine große Vernunft". Den „Egoismus an sich" gibt es so wenig wie irgendein „ A n sich". Auch weil es kein „ I c h " gibt, sondern
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3 . U . B . 3. U . d."W. II, 765. W . z . M . 373. Er taucht schon in der 3 . U . B . auf, wo es heißt, Schopenhauer habe einen „gleichsam physiologischen Eindruck" bei ihm hervorgebracht, auffallend oft auch in „ W a s bedeuten asketische Ideale?"
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
nur eine Anhäufung von Willenspunktationen, organisiert durch die große Vernunft: Leib. Je besser sich dieser also „organisiert", umso unangreifbarer sein „Egoismus". Der in diesem Sinn physiologisch Beste, der Übermensch, wäre aber freilich weit davon entfernt, andere Ich-e in ihren Bestrebungen hindern und ihre Kraft schmälern zu wollen, sondern er fiele ganz heraus aus dem Beziehungsnetz des Ameisen-Kribbelkrams. „Über mich und dich hinaus!" hatte es geheißen — wohlgemerkt: hinaus, nicht: hinau/! Das Letztere wäre wieder verbotener Idealismus. Wegen der überall festzustellenden Vergiftung des Lebens durch die oben berührte Beschränktheit des Fühlens und Urteilens sieht sich Nietzsche bestimmt, über den Egoismus umzudenken und die „Selbstsucht" zu preisen. Was wäre überdies ein Lassen des Ich wert, wenn das, was gelassen wird, selber gar nichts wert wäre? Nur ein Baum, der sich voll und frei entfalten kann, will sich nicht an andern wegen seiner ständigen Unzufriedenheit, die ihm zusetzt, rächen; nur er wird in der Lage sein, anderen Wesen Schatten zu spenden. Wird er altruistisch, also egoistisch, beschnitten, verringern sich auch die Erholungsmöglichkeiten anderer Wesen durch ihn43. Nietzsche sucht also den Egoismus in sein Recht zu setzen, wo er vom Ressentiment verleumdet wurde, er sucht, ihn zu überwinden, insofern auch der glückliche, wohlgeratene Egoist noch nicht die höchste Machtstufe darstellt, sondern der Ubermensch (Genius), weil auf jeder Stufe gilt: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß." Loskommen vom Ich kann nicht durch eine neue Theorie geschehen. 1881/82 notiert Nietzsche: „— Und wohin ich auch steige, überallhin folgt mir mein Hund, der heißt „Ich"." 4 4
Also hätte Zarathustra, außer Adler und Schlange, noch ein drittes Haustier, einen Hund? Oder ist er diesem treuen Begleiter entschlüpft? — Was ist das für ein Ich, das hier spricht? Von Ich-spaltungen und Doppelgängern zu reden, kann einen modernen Menschen gar nicht mehr erregen. Er hat zuviel von dergleichen gehört, gleich droht er vor übergroßem Wissen einzuschlafen. Aber handelt es sich um eine Ich-spaltung? Ist das Ich, das sich erfaßt, verschieden von dem, das es erfaßt? Zielt Nietzsche auf eine Unterscheidung von Ich als gewöhnlichem Ich und einem Selbst als dem wesentlichen? Alles solches
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K A W V , 1 — 1 (22): „Gibt es Wichtigeres und Wirksameres, als jeden Menschen seiner Bekanntschaft als einen schwierigen Prozeß anzusehen, vermöge dessen sich eine s p e z i f i s c h e A r t W o h l s e i n durchsetzen möchte: erst wenn dieses Wohlsein erreicht ist, ist das Gleichgewicht zwischen ihm und uns Allen hergestellt; von da an teilt er von seiner Freude mit und drängt sich doch nicht in die Sphäre der Anderen, er steht als kräftiger Baum unter anderen Bäumen, in der Freiheit des Waldes." XII, 304, 378.
Nietzsches frühe Selbstdarstellung und die Frage nach dem Glück
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Uberlegen ist zu plausibel. Es bleibt das Paradox der Icherfassung, daß es das Ich selbst ist, das sich erfaßt, und zwar erfaßt es sich unmittelbar als seinen eigenen Hund, ein geniales Bild für die Treue des Begleiters des „Ich denke", von dem Kant sagt, daß es alle meine Vorstellungen muß begleiten können. „Absolutes Ich" würde bedeuten, daß mein Hund sozusagen immer schon vor mir am Ziel ist und gar nicht zu verjagen, und das, obwohl, wie es sich auf der Reflexionsstufe Nietzsches zeigt, er nicht nur „Erscheinung", sondern ganz und gar „halluziniert" ist. Die Entscheidung über die Art eines Ich, das so sprechen kann, das sich selbst als einen zwar treuen, aber letztlich doch ganz inkommensurablen Begleiter erkennt, der weit unter ihm steht dem Range nach, ist auch eine über den Wert der Selbstsucht in der Erziehung des Philosophen. Mit Hinblick auf „Glück" wäre zu fragen, ob es bloß mein Hund ist, den es nährt, oder mich selber, und wen dieses „mich" eigentlich meint. Wenn es nicht eine neuartige Ich-Theorie sein kann, die vom Ich erlöst, so nur ein Tun, und zwar ein sehr bestimmtes. Zu ihm will Nietzsche als Erzieher hinführen. „ . . . ich erachte jedes W o r t für unnütz geschrieben, hinter dem nicht eine solche Aufforderung zur Tat s t e h t ; " 4 S
Bernhard Bueb, der seinem Nietzsche-Buch mit vielem Recht den Kantischen Titel gab: „Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft" 46 , schreibt in der Einleitung den in Hinsicht auf einen so abstrakten Denker ebenso verblüffenden wie zutreffenden Satz: „Nietzsche bringt hingegen ein Interesse für das theoretische Erkennen überhaupt nur auf, sofern ihm eine praktische Bedeutung z u k o m m t . " 4 7
Natürlich soll Nietzsche hier nicht zu einem Pragmatiker gemacht werden, sondern „praktisch" ist zu nehmen im Sinne Kants als alles, was durch Freiheit möglich ist. Aber, nach der Devise „So viel Mißtrauen, so viel Philosophie"48, ist einem Satz umso eher zu mißtrauen, je einleuchtender er sich gibt: auch das theoretische Erkennen ist in sich praktisch, weil es spontan ist, gerade das Denken, das von dieser Freiheit den ausgiebigsten Gebrauch macht, das philosophische, wäre also auch das praktischste, der Satz enthielte eine Tautologie und wäre leer. Auch wäre er ebenso auf Kant selbst wie auf alle wirklichen Denker, also auch auf Buddha und die Mystiker, anzuwenden. Den-
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3 . U . B . 8 — Aber auch ein Satz von der Notwendigkeit der Tat b l e i b t ein geschriebener Satz, das heißt, man kommt so nicht aus der „Dialektik der Mitteilung" (Kierkegaard) heraus, wonach das, wie ich etwas sage, dem, was ich sage, entsprechen muß. Stuttgart 1970. A.a.O., S. 7. F. W. 346.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
noch bleibt das, worauf Bueb hier zielt, auf einer anderen Ebene durchaus zu bedenken. Wenn auch Denken selbst eine Praxis ist, so bliebe doch zu fragen, ob es nicht ein Tun gibt, das die Praxis der Philosophie überträfe. Gerade von einem von Nietzsche selber geforderten „morgenländischen Uberblick über Europa" her müßte man fragen, ob Nietzsche nicht in letzter Konsequenz hätte aufhören müssen, Werke zu schreiben, und alle Kraft, wie die indischen Einsiedler und möglichen „private buddhas", von denen die Welt nichts zu erfahren braucht, darauf hätte verwenden müssen, sich dem Gedanken der ewigen Wiederkehr zu stellen, wie er es seinen Zarathustra im Kapitel „Der Genesende" tun läßt? Nietzsche sah durchaus die Problematik, blieb aber, von dieser Warte aus gesehen, ein Abendländer und eingefleischter Philosoph. „Große Menschen ohne Werke tun vielleicht mehr not, als große Werke, um die man einen solchen Preis von Menschenseelen zahlen muß. Aber einstweilen versteht man kaum, was ein großer Mensch ohne große Werke ist." 49
Der Egoist im Sinne Nietzsches ist der Selbstsüchtige, das heißt der, der sich selbst sucht und der dieses Suchen als einen Zug und eine Zucht spürt. Aber: „. . . nie soll einer finden, was er suchen muß, lautet der böse Grundsatz der Natur." 50
Was man überhaupt nicht hat, von dem kann man auch nicht bemerken, daß es einem fehlt, man kann es also auch nicht suchen. Der Selbst-süchtige sucht also in der Weise, daß er zu dem kommt, was er schon ist: zu sich selbst. Ein „Selbst", das hoch über ihm steht: „Aber es gibt Augenblicke, w o wir dies begreifen: dann zerreißen die Wolken, und wir sehen, wir wir samt aller Natur uns zum Menschen hindrängen, als zu einem Etwas, das hoch über uns steht." 51
Solches Programm einer Selbstsucht als einem Gezogenwerden zum Höchsten ist das für Nietzsches eigenen Weg maßgebliche. Die Erfahrung dieser „schenkenden Tugend" der Höhe, wie sie Zarathustra als „das Unnennbare" 5 2 dennoch benennt, führt ihn zur Seligpreisung der „heilen, gesunden Selbstsucht,
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50 51 52
KAW V, 1—3 (41). Dies könnte man in Beziehung setzen zu einer merkwürdig zuversichtlichen Stelle im ersten Teil von „Menschliches, Allzumenschliches", (282), wo von einer Zeit „einer gewaltigen Rückkehr des Genius der Meditation" gesprochen wird. Man müßte dem näher nachgehen, was dieser schillernde und jetzt ziemlich herabgekommene Terminus „Meditation" hier bedeuten soll; es ist aber in dem Stück auch von einer vita contemplativa die Rede, wie dieses Thema überhaupt — man könnte es schon vermuten — bei Nietzsche nicht einfach im Allzumenschlichen verschwindet. 3.U.B.4. 3 . U . B . 5. Z, Von den drei Bösen.
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die aus mächtiger Seele quillt: — " 5 2 . Solche Selbstsucht wird Selbst-Lust, wird „Tugend" 5 2 in neuem Sinn. „ . . . mit dem Namen ihres Glücks bannt sie von sich alles Verächtliche." 5 2 „ a l l e Knechts-Art speit sie an, diese selige Selbstsucht." 5 2
Das egoistisch Besitz erstrebende Ich mit dem Ziel, sich auf allem Seinem immer breiter und bequemer hinzusetzen, handle es sich auch um den Besitz philosophischer Einsichten, kann niemals geheilt werden. Dennoch heißt es im angeführten Zarathustra-Kapitel: „ U n d wer das Ich heil und heilig spricht und die Selbstsucht selig, wahrlich, der spricht auch, was er weiß, ein Weissager: „ S i e h e , er k o m m t , er ist n a h e , d e r große Mittag!"
Dieses „Ich" ist ein sehr anderes als alle zuvor beschriebenen Ich-Arten; es bezeichnet den „Punkt" im Menschen, der am großen Mittag, das heißt, wenn die Zeit stillsteht und Ewigkeit hereinbricht, durch ein Sich-Uberlassen an die ewige Wiederkehr des Gleichen absolut verwandelt wird: ego fatum. Es ist aufschlußreich zu sehen, wie Nietzsche sich hier, wo er sich auf seine philosophische Zukunft besinnt, offenbar Rat geholt hat bei so eminent praktischen „Wissenschaften" wie der Mystik und der indischen Philosophie. Nur bedeutet Rat holen bei einem Genie eben nicht systematisches Studium. Er zitiert Meister Eckhard (sie) mit dem Satz: „das schnellste Tier, das uns trägt zur Vollkommenheit, ist L e i d e n . " S 3 ,
verwendet den mystischen Zentralterminus „Gelassenheit" ziemlich zu Anfang, wo er ja ein besonderes Gewicht erhält, weil er den Rahmen abgibt für die späteren Erörterungen — allerdings ist sein Verhältnis dazu zwiespältig; in „Jenseits von Gut und Böse" 5 4 spricht er von „stolzer Gelassenheit", was ja im streng mystischen Sinn eine contradictio in adiectu ist und stoischer Auffassung entspricht — und er weist auf den empörenden Ubelstand hin, daß das indische Altertum seine Tore öffnet „und seine Kenner haben zu den unvergänglichen Werken der Inder, zu ihren Philosophien, kaum ein anderes Verhältnis als ein Tier zur Lyra" 5 5 . Glaubt Nietzsche, diese Lyra spielen zu können? Er ist jedenfalls entschlossen, sich in größtem Stile zu besinnen und selbst „Orient und Okzident" für bloße „Kreidestriche, die uns jemand hinmalt, um unsere Furchtsamkeit zu narren" 5 6 , anzusehen. Man kann gerade am 53
54 ss 56
3 . U . B . 1 / In der F . W . 292 zitiert er auch den ganz zentralen Satz Eckharts: daß er mich quitt mache G o t t e s . " 2 84, Was ist vornehm? 3 . U . B . 8. 3 . U . B . 1.
„ich bitte G o t t ,
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Anfang der dritten Unzeitgemäßen nicht umhin, an den Buddhismus zu denken: so wird zum Beispiel als der dem Menschen aller Erdteile und Zeiten am meisten anhängende Hang der zur Faulheit ausgemacht. Im Buddhismus würde dem die Trägheit entsprechen. Der Mensch ist kein „animal rationale", sondern viel eher ein „animal phlegmaticum". Das Phlegma der Ratio ist es, sich überall bereits vorgefertigten Auslegungsschematen und Verhaltensweisen anzupassen. „Bequemlichkeit, Trägheit, kurz, jener Hang zur Faulheit" hindern den Menschen daran, zur Freiheit zu kommen. Daher muß der Philosoph mehr Erwecker und Erzieher sein als Theoretiker. Die Faulheit, die Nietzsche hier meint, ist natürlich keine, der man durch eine wie immer geartete Aktivität entgehen könnte — diese könnte vielmehr, umgekehrt, ihr gerade erst entspringen und ihr Ausdruck sein. Sie kann nur durch innerste Anstrengung und innerstes Sich-Zusammennehmen aller Kräfte überwunden werden, das aber nicht eine „ A k t i o n " ist; welches Ich sollte auch ihr Träger sein? „ I n w i e f e r n d e r T ä t i g e f a u l ist. — Ich glaube, daß jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine e i g e n e Meinung haben muß, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Tätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. — . . , " 5 7
Pflichterfüllung kann so eine Form von Selbstvergeßlichkeit werden, das macht sie so angenehm. „ D e r Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm z u r u f t : „sei du selbst! D a s bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, b e g e h r s t . " 5 8
Der letzte Satz erinnert an die Grundlehre des älteren Buddhismus, die AnattaEinsicht: „ D a s ist mir nicht zugehörig, das bin ich nicht, das ist nicht mein Ich." (Allerdings würde Buddha nicht auffordern, man selbst zu werden, sondern er bleibt immer einwandfrei negativ dabei, bloß die eben zitierte Formel einzuschärfen.) Bei diesem Zuruf „erzittert" „jede junge Seele", „ d e n n sie ahnt ihr seit Ewigkeiten bestimmtes Maß von G l ü c k , wenn sie an ihre wirkliche Befreiung denkt: zu welchem Glück ihr, solange sie in Ketten der Meinungen und der Furcht gelegt ist, auf keine Weise verholfen werden k a n n ! " 5 8
Der „strengen Konsequenz seiner Einzigkeit" 5 8 zufolge schlägt Nietzsche, der mit Buddha den Ausgangspunkt gemeinsam hat, nämlich die Erkenntnis des Daseins als einer „ W u n d e " und als Leiden, einen anderen Weg ein, indem er 57 58
M.A.I 286.
3 . U . B . 1.
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sich hingebungsvoll dem „Theoriensport" 59 des spekulativen Denkens ergibt, den Buddha konsequent ablehnt als nicht zur Erreichung des Heils nötig. Nietzsche fordert es selbst heraus, daß man als Maßstab zur Beurteilung dieses seit Ewigkeiten bestimmten „Maßes von Glück" den höchstmöglichen anlegt, den des Glücks „absoluter Transzendenz", aufgefaßt nicht als ein Ubersteigen der Welt auf ihren Ursprung hin — für diese Art relativer Transzendenz ist kein Platz bei Nietzsche —, sondern als ein Ubersteigen der Welt mitsamt ihrem Ursprung. Wie nimmt sich unter dieser Perspektive das höchste Glück im Sinne Nietzsches aus? Er kennt keine „systematischen" Stufenleitern der Glückszustände, wie sie in der indischen Tradition mit ihrer Yoga- und Meditationspraxis von je her zur „Wirklichkeit" gehörten und wie sie auch der buddhistische Kanon ausdrücklich bietet, wobei immer das Defiziente der jeweils erreichten Stufe die nächsthöhere aus sich hervortreibt und so von einem noch mit Unlust vermischten Glück zu einem reineren aufsteigt, bis auch Glück selber nur eine Metapher ist, da das höchste eben darin besteht, daß kein Glück mehr empfunden wird: „Das ist ja eben die Wonne, daß es in diesem Zustand kein Empfinden gibt." 6 0
Auch Nietzsches Glück unterliegt der Rangordnung, und seine höchste Form bestimmt sich nach dem Maße der Ewigkeit. Aber was meint er mit Ewigkeit? Die Ewigkeit der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist nicht einfach gleichzusetzen der, für die Nirvana ein Stichwort ist; wie gilt: wieviele Arten Iche, soviele Arten Glück, so gilt auch: wieviele Iche, soviele Arten Ewigkeit. Eine gewisse Stufenvorstellung ist gewahrt, wenn Nietzsche zur Kennzeichnung seines Glücks, oft in ganz kurzen Nachlaßaufzeichnungen, Bilder des „auf breiten Treppen zu ihm Aufsteigens" wählt. „Wie hoch ich wohne? Niemals noch zählte ich, wenn ich stieg, die Treppen bis zu mir: w o alle T r e p p e n a u f h ö r e n , da b e g i n n t mein D a c h und F a c h . " 6 1
Die eigentümliche „Seligkeit des Philosophen" 62 liegt darin, „so hoch zu steigen, wie je ein Denker stieg, in die reine Alpen- und Eisluft hinein, dorthin, wo es kein Vernebeln und Verschleiern mehr gibt, . . . Nur daran denkend wird die Seele einsam und unendlich; erfüllte sich aber ihr Wunsch, fiele einmal der Blick steil und leuchtend wie ein Lichtstrahl auf die
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60 61
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So übersetzt Kurt Schmidt, Buddhas Reden, rowohlts klassiker 87/88, 1961, S. 17: „Dies nennt man Theorien-Gestrüpp, Theorien-Gaukelei, Theorien-Sport, Theorien-Fessel." N. seinerseits bleibt Buddha nichts schuldig, wenn er in der dritten Abhandlung der G. d. M. 17 von „sportsmen der Heiligkeit" spricht. Winternitz, Der ältere Buddhismus, Tübingen 1929, S. 107, Nr. 76. U . d . W . I 1214 / Siehe auch: „Auf breiten langsamen Treppen steigt ihr Glück zu mir: komm, komm geliebte Wahrheit" („Von der Armut des Reichsten"). 3 . U . B . 5.
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Dinge nieder, erstürbe die Scham, die Ängstlichkeit und die Begierde — mit welchem Wort wäre ihr Zustand zu benennen, jene neue und rätselhafte Regung
ohne Erregtheit . . ."62
(Hervorhebung v. Verf.)
Empfindungslosigkeit bedeutet nicht Starre und Tod, sondern höchstes Leben, eben „Regung ohne Erregtheit", wäre streng genommen mit keinem Wort mehr als ein Zustand zu benennen. Um sich in der geschilderten Weise zu erlösen, „bedarf die Natur zuletzt des Heiligen" 6 2 , „an dem das Ich ganz zusammengeschmolzen ist" 6 2 . Heiligung wäre also Schmelzen des Ich. Bei Nietzsche wird — anders als bei Buddha — doch noch etwas empfunden, was mit der Tiefe, die dieser Terminus für ihn erhält, zusammenhängt, nämlich: „ein tiefstes Glücks-, Mit- und Einsgefühl in allem Lebendigen" 62 . Auch Zarathustra im Kapitel „Mittags" fühlt einen „Stich ins Herz". Vielleicht könnte man dennoch sagen, daß Nietzsche sich an extremen Stellen seiner Philosophie zu etwas hinschwingt, was „absoluter Transzendenz" nahekommt, auch wenn, oberflächlich betrachtet, seine Lehre der ewigen Wiederkunft genau das Gegenteil von der Auffassung von Wiedergeburt darzustellen scheint: von dieser ist loszukommen, zu jener aber hinzukommen. Die Frage wird wieder aufzunehmen sein. „Es gibt Augenblicke und gleichsam Funken des hellsten, liebevollsten Feuers, in deren Lkhte wir nicht mehr das Wort „ich" verstehen; es liegt jenseits unseres Wesens etwas, das in jenen Augenblicken zu einem Diesseits wird, . , . " 6 2
3.1.3. Glück, Schein und das freiwillige Leiden der Wahrhaftigkeit Hauptstupendum der tragischen Erziehung ist, daß sie jemanden soll befähigen können, „auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken" 6 3 , indem sie lehrt, „ja" zu sagen zu dem einmaligen, nie — oder, was hier dasselbe besagt — immer wiederkehrenden Knotenpunkt von Kräften, als welcher sich das jeweilige Ego darstellt. Damit läßt er sich auf das Problem von Wahn und Wahrheit ein. Er zieht die Konsequenz aus seiner Einzigkeit, indem er sich klar bewußt für immer so und nicht anders will, indem er so zu werden trachtet, daß er dies wollen kann. Nun ist die Schwierigkeit aber die, daß Ewigkeit
63
G. d . T . 2 3 : „ U n d gerade nur so viel ist ein Volk - wie übrigens auch ein Mensch — wert, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewußte innerliche Überzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d . h . metaphysischen Bedeutung des L e b e n s . " Bei dem Stempel könnte man an die Phaidon-Stelle 75d denken, wo das Ideendenken als ein solches bestimmt wird, das jedem Ding den Stempel aufdrückt des selbst was es ist.
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kein Lehrgegenstand ist. Sie „schmeckt" jedem anders 64 und dies nicht aufgrund perspektivischer Schätzung. Ewigkeit ist keine Perspektive, vielleicht selber das Perspektivenzulassende, gehört einer anderen „Ordnung" an als der Wille zur Macht, der durch Erleiden der ewigen Wiederkunft in diese andere Ordnung übergeht, in der er, „unersättlich da c a p o rufend", sich selber will, jedoch als ewige Wiederkunft. Erziehung kann sich nur vollziehen als ein Ubertragen von Wahnvorstellungen 65 und zwar der stärksten, lebenskräftigsten. Als stärkste erweist sich die neue Tugend der Redlichkeit. Aber ist sie nicht selber nur ein „Schatten Gottes", also ein Nichts des Nichts? Sie ist Äußerung des Nihilismus, aber eines solchen, der sich zu überwinden trachtet, des Nihilismus der Stärke. Sie wäre sofort bereit, auch sich selbst und damit den letzten inneren Halt, der einem freien Geist im Sinne Nietzsches möglich ist, aufzugeben und sich dem daraus resultierenden Grauen zu überlassen, wenn sich herausstellen sollte, daß auch sie unter den Schein fiele. Sie überträgt sich durch jene „zauberische Einwirkung von Person auf Person". Erziehung zum Genius der Redlichkeit ist die zur absoluten Wahrhaftigkeit. Ihr freiwilliges Leiden, das Nietzsche hier auf sich zu nehmen gelobt und von dem er sich torturieren ließ wie kaum ein anderer, ist es, nirgends auf Wahrheit zu stoßen, sondern immer nur auf solches, was bisher fälschlich oder nur relativ berechtigt als Wahrheit galt. „Man selbst werden" erfordert für Nietzsche den Gang in die Wüste der Freigeisterei. Der „freie Geist", der sich vom Unzugehörigen in seiner Natur freimachen will, droht, immer nur neue Häute wie bei einer Zwiebel zu finden, wenn er einen Irrtum abgestreift hat, er droht, am „Glück des Selbstseins" zu erfrieren. Er befolgt die Devise: „Bis ins Äußerste gehen — und darüber hinaus"66; 64 65
66
„Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken", Z, Von den Erhabenen. KAW III, 3 - 5 (106): „Was ist Erziehung?" W. Struve, Der andere Zug, a.a.O., S. 139 / Dieser Zug Nietzsches schon gespürt bei Alois Riehl, F . N . , Der Künstler und der Denker, 1. Auflage Stuttgart 1897, 8. Aufl. 1928, Frommanns Klassiker der Philosophie, hrsg. v. R. Falckenberg, 6. Aufl. 1920, S. 7: „ E r hat Sinn nur für das Äußerste, überall muß er ein Äußerstes sagen." Gerade dies verstärkt aber auch seinen Sinn für Maß und Mitte, und man darf das eine nicht ohne das andere sehen. Das Buch von Riehl ist übrigens immer noch im ganzen eine sehr lesenswerte Einführung in Nietzsche, wenn auch Einzelnes inzwischen anders gesehen werden müßte; vor allem ließ er sich von jener sympathetischen Stimmung ergreifen, ohne die es nach Jaspers kein Eindringen in Nietzsches Philosophie gibt. Übrigens gebührt dem Herausgeber des Buches, Richard Falckenberg, das Verdienst, wohl als erster im Rahmen einer offiziellen Philosophiegeschichte Nietzsche ernstgenommen zu haben, sehr im Gegensatz zu dessen Freund Deussen, der zwar, als Nietzsches Ruhm zu steigen begann, seine Erinnerungen an ihn herausgab, der ihn aber nicht erwähnte, sobald er als Verfasser von akademischen Veröffentlichungen wirkte. Im Ernst kam Nietzsche ihm da nicht in Betracht, nur Schopenhauer.
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er löst sich aus Redlichkeit von allem los und befolgt überdies das Gebot: „nicht an seiner eigenen Loslösung hängenbleiben" 6 7 .
Ein Aufgeben aller „ S i t z e " des Denkens ist schlimm, aber keine allgemeine Gefahr, da es nur sehr schwer zu erreichen und nur für Augenblicke festzuhalten ist. In solchen äußersten Augenblicken kann Grauen umschlagen in ein neues Glück. — Gewichtiger von der Wirkung her und damit von größerer Gefährdung für das Leben ist der praktische Bereich: wie, wenn sich die Einsicht verbreitete, daß der Mensch sich auch in bezug auf das Glück allzulang getäuscht hätte und er sich jetzt nur vor die Wahl gestellt sähe, entweder ein schales Glück zu genießen oder gar keins? Es strotzt hier alles vor der Gefahr, dem tiefsten modernen Hange zu erliegen, nämlich dem, „einzustürzen und zu explodieren" 6 8 . Die andere, geistigere Gefahr wäre die, daß der „Geist der Schwere" über das Leben Herr wird und es erdrückt. Und beinahe die schlimmste Gefahr wäre die, allem auszuweichen und sich in durch und durch verlogener Behaglichkeit abzukapseln. — Hier würde Nietzsche wieder eine seiner „Anmerkungen für Esel" machen: dies muß noch lange nicht der Einsicht widersprechen, daß das natürliche Leben nicht ohne Momente der Behaglichkeit auskommen kann. — Beides, seiner Einzigkeit folgen wie ihr ausweichen und in bequemen Konventionen Zuflucht suchen, ist gleichermaßen gefährlich. „ U n d so kann einer an dieser Einzigkeit ebenso wie an der Furcht vor dieser Einzigkeit verderben, an sich selbst und im Aufgeben seiner selbst, an der Sehnsucht und an der Verhärtung: und Leben überhaupt heißt in Gefahr s e i n . " 6 9 „ D a s war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der W a h r h e i t . " 6 9
Dennoch ist die Aufgabe des Philosophen, „zwischen den wirklichen und scheinbaren Beförderungen des Menschenglücks" 6 9 zu unterscheiden. Wie das? Auf ganz äußerlicher Ebene — wobei allerdings zu bedenken ist, daß nach Nietzsche ja gerade über „innen und außen" sowie über die Bedeutung der nächsten Dinge umgelernt werden muß — soll der philosophische Adept lernen, „ w i e weder Reichwerden, noch Geehrtsein, noch Gelehrtsein den einzelnen aus seiner tiefen Verdrossenheit über den Unwert des Daseins herausheben kann, und
67 68
Falckenberg schreibt in seiner „Geschichte der neueren Philosophie", Leipzig 1886, S. 423: Nietzsche „nehme neuerdings (Also sprach Zarathustra, 3 Hefte) eine religiös-mystische (sie!) Wendung". J . v . G . u . B . , Der freie Geist 41. 6 9 3 . U . B . 3. 3 . U . B . 4.
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wie das Streben nach diesen Gütern nur Sinn durch ein hohes und verklärendes Gesamtziel bekommt: Macht zu gewinnen, um durch sie der Physis nachzuhelfen und ein wenig Korrektur ihren Torheiten und Ungeschicktheiten zu sein."70
Bereits hier taucht also der bedeutungsvolle Terminus Macht auf: man ist versucht, wenn sich einmal der Blick dafür geöffnet hat, jenen „Zustand der Regung ohne Erregtheit", jenes „höchste Machtgefühl", jenen „mystischen Zustand" in eins zu setzen, wobei wiederum — schon hier — Macht — Höhe — Verklärung — Physis auf eine „Erhebung ohne Phantasterei" zu deuten scheinen. Ein unangefochtener Maßstab für „Wahrheit" der Empfindung ist für Nietzsche immer das Gefühl eines tiefen Ungenügens an allem Menschlichen, diesem „Stäubchen vom Staube". Deshalb, so wie der Sündige der alten Welt sich nach dem Heiligen sehnt, trägt das intellektuelle Wesen ein tiefes Verlangen nach dem Genius in sich 6 9 . „ W o wir Begabung ohne jene Sehnsucht finden, . . . macht sie uns Widerwillen und E k e l . " 6 9
Selbstgenügsam sich auf sich selbst versteifende und sich spreizende Intelligenz ist Nietzsche wider den Geschmack. Er nennt sie auch „dumm-stolze Arbeitsamkeit", versehen wiederum mit einer „Anmerkung für E s e l " , wonach natürlich Fleiß und Arbeitsamkeit in einem anderen Sinn gerade für den Genius nicht zum Uberflüssigen gehören. Philosophie selber wäre eklig, wo sie sich als ein Prunken mit Begriffen und nicht als ein Leiden am Ungenügenden aller Begriffe darstellte. Die wesentlich unerfüllbare Sehnsucht nach einer „Versöhnung von Erkennen und Sein" 6 9 darf — unter der Optik des Lebens gesehen — nicht zerstören und auch nicht verhärten. „Was das heißen will, wird jeder nach dem Maße dessen verstehen, was und wieviel er ist: und ganz, wie alles Schwere, wird es keiner von uns verstehen." 6 9
Der Sinn für die Leiden der Wahrhaftigkeit, dafür, daß die Wahrheit im letzten Sinn häßlich ist und nicht auszuhalten für das Leben, stirbt freilich ab; die modernen Menschen, auch die Gelehrten und sogenannten Gebildeten, „bewegen sich mit künstlicher Lustigkeit. Ihre Art, Glück zu heucheln, hat mitunter etwas Ergreifendes, weil ihr Glück so ganz unbegreiflich i s t . " 6 8 70
3 . U . B . 3 / Die „ L e b e n s r e g e l " Tersteegens ist also auch die Nietzsches: „ N i c h t gelehrt und nicht geehrt, Unbekannt und eingewandt, Nichts mehr haben, nichts mehr sorgen, Willenlos in Gott verborgen, N u r der Ewigkeit gemein: Dies soll meine Regel sein." G . T . , Eine Auswahl aus seinen Schriften, hrsg. v. W. Nigg, Basel 1948, S. 60. Auch Sebastian Francks Paradoxon: „ J e gelehrter, je verkehrter" scheint bei Nietzsche nachzuwirken. Er notiert: „ G e l e h r t e - V e r k e h r t e . " K A W VII, 1 - 3 2 (19), S. Franck ist in der ersten U . B . erwähnt.
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Sie glauben, durch „ein politisches Ereignis das Problem des Daseins verrücken" oder gar „lösen" 68 zu können. „ W i e sollte eine politische Neuerung ausreichen, um die Menschen ein für allemal zu vergnügten Erdenbewohnern zu machen?" 6 8
Wir leben die „Periode des atomistischen Chaos" 6 8 , ohne Perspektiven für Zukunft wie Vergangenheit. So wird „die Jagd nach Glück nie größer sein, als wenn es zwischen heute und morgen erhascht werden muß: weil übermorgen vielleicht überhaupt alle Jagdzeit zu Ende ist." 6 8 Aber es bleibt bestehen: nie soll einer finden, was er suchen, oder in diesem Sinne gar erjagen muß. Das Problem der Wahrheit bei Nietzsche ist vielleicht das tiefste und umfänglichste und bedürfte einer langen und sorgfältigen Darstellung. Es ließe sich auch von dort her das Problem des Glücks entfalten. Die vorliegende Arbeit geht diesen Weg nicht. Es muß jedoch die Frage festgehalten werden: ist eine Scheinbarkeit von allem auszumachen, ohne daß es eine — absolute — Wahrheit gäbe, aufgrund deren sie zu erkennen wäre? Kann ich der Wahrheit überhaupt derart in den Schein entgehen? „. . . denn daß das Scheinen Notwendigkeit ist, hassen solche Naturen (i.e. die Einsamen) mehr als den Tod." 6 9
— Zum Terminus „hassen": an anderer Stelle der dritten Unzeitgemäßen wird betont, daß man sich hassen müsse wegen der Ferne zum Genius im gewöhnlichen Leben. Das mutet Pascalisch an. In der Spannung zwischen „sein Ich hassen" und es lassen hat Nietzsche Mühe, sich für eine Seite zu entscheiden. „Hassen" bliebe ja auf das Ich bezogen und machte nicht wirklich frei, könnte aber die Voraussetzung für den Absprung zum Lassen werden. Durch die Einwirkung der Genien vergangener und gegenwärtiger Zeiten sollen wir unsere Beschränktheit hassen lernen, aber ohne uns im Verdruß über uns selbst zu verhärten, sondern um von uns loszukommen. — Die im Denken nicht festzuhaltende absolute Klarsichtigkeit über das Leben äußert sich auf praktischem Gebiet „als die verneinende Kraft aus Güte, als der eigentliche gleichsam religiöse und dämonische Genius des Umsturzes" 6 8 , die etwas sehr anderes ist als „skeptische Bosheit und Verneinung" 68 . Das Heraussagen des Wahren erscheint den Menschen allerdings als Ausfluß der Bosheit, „denn sie halten die Konservierung ihrer Halbheiten und Flausen für eine Pflicht der Menschlichkeit" 68 . „ A b e r es gibt eine Art zu verneinen und zu zerstören, welche gerade der Ausfluß jener mächtigen Sehnsucht nach Heiligung und Errettung ist, als deren erster philosophischer Lehrer Schopenhauer unter uns entheiligte und recht eigentlich verweltlichte Menschen trat.
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Alles Dasein, welches verneint werden kann, verdient es auch verneint zu werden, und wahrhaftig sein heißt: an ein Dasein glauben, welches überhaupt nicht verneint werden könnte und welches selber wahr und ohne L ü g e i s t . " 6 8
Nietzsche beschreibt hier so etwas wie eine Grenze für das Verneinen: die absolute Wahrheit könnte nicht verneint werden. Zwar ist das Verneinen schwerer geworden: „ D i e V e r n e i n u n g d e s L e b e n s ist nicht mehr so leicht zu erreichen: man mag Einsiedler oder M ö n c h sein — was ist da verneint! Dieser Begriff wird jetzt tiefer: es ist vor allem e r k e n n e n w o l l e n d e V e r n e i n u n g , g e r e c h t s e i n w o l l e n d e V e r n e i n u n g , n i c h t m e h r in B a u s c h u n d B o g e n . " 7 1
Aber die Nötigung zum Verneinen dessen, was verneint werden kann, bleibt bestehen. Dies enthält eine Tragik für Nietzsche, der zum Bejahen dieser Welt, wie sie ist, hinwill. Dabei — und das gilt bis zuletzt — „empfindet der Wahrhaftige den Sinn seiner Tätigkeit als einen metaphysischen, aus Gesetzen eines anderen und höheren Lebens erklärbaren und im tiefsten Verstände bejahenden: so sehr auch alles, was er tut, als ein Zerstören und Zerbrechen der Gesetze dieses Lebens erscheint. Dabei muß sein Tun zu einem andauernden Leiden werden; . . . (es folgt das bereits angeführte Zitat von Meister Eckhart)."68
So vernichtet der Philosoph sein Erdenglück; aber ein glückliches Leben ist ohnehin unmöglich und das Höchste ein heroischer Lebenslauf, stimmt Nietzsche mit Schopenhauer überein. Wohl aber gibt es glückliche Augenblicke; es sind jedoch nicht jene in Gier und Versäumnisangst erhaschten, sondern sie sind nur unter ruhigem Verzicht auf alles, was gewöhnlich „Glück" heißt, zu erlangen. Dieses kann sich dann unversehens mit einstellen, aber es bleibt dann ohne Gewicht, erhält nicht mehr jene unanständige Wichtigkeit für den Einzelnen. Der freie Geist ergibt sich mit allen Kräften der Freiheit, demselben „wunderbaren und gefährlichen Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen durften" 7 2 . Unfreiheit bestimmt Nietzsche geradezu als „Schwindsucht des Philosophen" 73 ! Die Gefährdung durch Freiheit spürte Nietzsche vielleicht am stärksten in jenem Winter, dem dieses letzte Zitat entstammt und den er als seinen sonnenärmsten bezeichnet hat. Erst mit der „Morgenröte" siegt über die Skepsis jenes merkwürdige „Positive", von dem schon die Rede war und das tiefste Skepsis nicht ausschließt, sondern zur Voraussetzung hat. 71 72
KAW IV, 1 - 5 (26). 3. U. B. 8 / Am stärksten ist dieser Geschmack der Freiheit vielleicht durch die Lektüre der Mystiker zu gewinnen. Vgl. hierzu auch Ψ. Struve, Der andere Zug, a.a.O., S. 136, Aphorismus 1 - 3 . '3 M . A . II, W.u.S. 171.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück? „ D a ß jemand selbst die Moral als Vorurtheil nehmen kann, und hinterdrein gar noch in diesem Sieg der Skepsis ein morgenröthliches Glück genießen kann — " 7 4
Die Gewißheit eines in diesem Sinne „Jenseits"-Glückes ist vielleicht für Nietzsche in der Zarathustra-Zeit am stärksten. Unter der Uberschrift „ W i r H y p e r b o r e e r . " notiert er, nach einem Zitat von Pindar: „Jenseits des Nordens, des Eises, der Härte, des Todes — u n s e r L e b e n ! U n s e r Glück!"75
Dem freien Geist steigert sich die Einsicht in den Schein, seine Ausbreitung wie seine Notwendigkeit für das Leben, damit die Entfernung von der Wahrheit und damit die Aufhebung jeder Lebensmöglichkeit „am Scheine" 76 und durch den Schein bis zur verzweiflungsvollen Aufhebung der Wahrheit aus Wahrhaftigkeit. Kann es im Sinne des Lebens sein, Erziehung an diesem Ziel auszurichten? Für den, dessen Weg zu diesem Ziel führt, besteht gar kein anderer Weg, und immerhin ergeben sich selbst dort gewisse Freuden und Siege der Erkenntnis. Aber die Frage bleibt: was sind sie w e r t ? „ M a n trachte immerhin nach allen Freuden . . . welche Dauer haben und keine Unlust nach sich ziehen und anderseits intensiver sind als die schwächsten. Insofern haben Plato und Aristoteles Recht, in den Freuden der Erkenntnis das E r strebenswerteste zu sehen — vorausgesetzt daß sie damit eine persönliche Erfahrung und nicht eine allgemeine aussprechen wollen: denn für die meisten Menschen gehören die Freuden der Erkenntnis zu den schwächsten und stehen tief unter den Freuden der M a h l z e i t . " 7 7
Diese Freude muß jedoch eingeschränkt werden: „ . . . einstweilen wäre diese F r e u d i g k e i t nur den U n r e d l i c h e n m ö g l i c h . R e s i g n a t i o n und jene h e r o i s c h e L u s t am T r o t z u n d am Siege sind die einzigen F o r m e n unserer Freudigkeit: wenn wir Erkennende sind."78 „ M a n hat mir etwas v o m ruhigen Glück der Erkenntnis vorgeflötet — aber ich fand es nicht, ja ich verachte es, jetzt w o ich die Seligkeit des Unglücks der E r kenntnis k e n n e . " 7 9
Vor der Seligkeit dieses Unglücks rettet sich der Wissenschaftler durch die metaphysische Stärke seines Glaubens an die facta bruta bis zur Unvornehmheit. Er ist deshalb nur bedingt dem freien Geist gleichzusetzen, nämlich nur insofern es heute in der Wissenschaft allerdings oft philosophischer zuzugehen 74 75
76 77 78 79
K A W VIII, 1 - 5 (28). KAW VIII, 1 - 5 (46) / Dies ist allerdings keine Wahrheit für „schwärmerisches Hornvieh"! a.a.O. 5 (48). „Alles was lebt lebt am Scheine" KAW III, 3 - 7 (167). K A W V, 1 - 3 (9). K A W V, 1 - 6 (274). K A W V, 1 - 7 (165).
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scheint als in der Schulphilosophie, das heißt — und hier ergibt sich nebenher eine wichtige Charakterisierung von Philosophie — „logischer, behutsamer, bescheidener, erfindungsreicher." 8 0 „ . . . Was ist also Erkenntnis? Ihre Voraussetzung ist eine irrtümliche Beschränkung. . . . Denkt man sich diese Beschränktheit weg, so ist Erkenntnis auch weggedacht — ein Auffassen von „absoluten Relationen" ist Unsinn. D e r Irrtum ist also die Basis der Erkenntnis, der Schein. . . . (durch Vergleichung vieler Scheine entsteht Wahrscheinlichkeit, also Grade des Scheins) . . . Erkenntnis ist wesendich S c h e i n . " 8 1
Erkenntnis ist also immer nur relational, hat keinen Raum im Absoluten, ist wesentlich bloß ein „Spinnen-Glück" 82 . So ist Erkenntnis der Scheinhaftigkeit von Glück auch bloß ein Spinngewebe? Glück und Wohlbefinden beweisen nichts für oder gegen irgendetwas; wie kann es also eine „Beförderung des wirklichen Menschenglücks" geben? Gott, die absolute Wahrheit, ist tot. Diese, die Transzendenz, kann man nicht kritisieren, der Tod Gottes ist nicht durch Kritik auszumachen. Folgerichtig stellt Nietzsche ihn dar als ein geschichtliches Geschehen, in dessen Verlauf sich die obersten Werte entwerten, als Nihilismus. Alle Wahrheit wird zur bloßen Wahrscheinlichkeit. Im Nachlaß der Zeit zwischen Juli 1882 und Winter 1883/84 bezeichnet Nietzsche den freien Geist als „den religiösesten Menschen, den es gibt." 8 3 Das ist stupend, denn Wahrscheinlichkeit war noch nie das Element des Religiösen. So spricht Nietzsche vielleicht bloß in säkularisierter Weise, um auf die Bedeutung dieses Philosophentypus hinzuweisen? Die sich unmittelbar anschließende Notiz lautet: „ G o t t hat G o t t g e t ö d t e t . " 8 4
So wäre Gott im Tode Gottes anwesend, Transzendenz auch im Transzendenzschwund wirksam? Oder muß Gott sterben, damit die Gottheit offenbar wird im Sinne der extremen Stelle bei Meister Eckhart, die Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft zitiert, wonach man Gott um Gottes willen lassen müsse?
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3 . U . B . 8. KAW V, 1 - 6 (441). KAW V, 1—9 (15): „. . . die vollkommene Erkenntnis würde uns mutmaßlich kalt und leuchtend wie ein Gestirn um die Dinge kreisen lassen — eine kurze Weile noch! Und dann wäre u n s e r Ende da, als das Ende erkenntnisdurstiger Wesen, welche am Ziehen von immer feineren Fäden von Interessen ein Spinnen-Dasein und Spinnen-Glück genießen — ". KAW VII, 1 - 1 (74). KAW VII, 1 - 1 (75).
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Nietzsche als Erzieher zum Glück? „ M ö c h t e man nicht heute in Hinsicht der Moral sagen, wie Meister Eckhardt: „ich bitte G o t t , daß er mich quitt mache G o t t e s ? " 8 5
Ist Nietzsche der Auffassung, daß der christliche Gott sterben muß, damit Göttlichkeit wieder auferstehen kann? Kennt Nietzsche „absolute Transzendenz"? Eine schwierige Frage. Man könnte sie auch stellen als die nach der — eigentlich religiösen — Dialektik des „Alles ist nicht alles" 8 6 . Die Grundschwierigkeit solcher Reflexionen bleibt die: woher nimmt der Satz „ E s gibt keine Wahrheit, alles ist Schein." selber seine Wahrheit? Ist von der „Geburt der Tragödie" her gesehen für Nietzsche alles alles? „ A l l e s " ist dort Dionysos-Apoll mit ihrer gegenseitigen Aufreizung zu immer stärkerem Schein, ist Dionysos als Grund der Gesamtheit scheinhafter Gebilde, der Natur oder der Welt, und diese selbst. Entweder ist nun Dionysos als innerstes Prinzip einer scheinhaften Welt selber Schein, oder er ist das Andere des Scheins, Wirklichkeit, die den Schein aufhebt. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Entweder wäre also alles Schein, oder es wäre die Gesamtheit von Schein und Wirklichkeit. Aber: i s t alles alles? Spürt Nietzsche gelegentlich, daß Dionysos und die Welt nicht alles sind? Kommt er noch über Dionysos hinaus? Man kann nicht Wirklichkeit und Schein in oben angedeuteter Weise zu einer Art „Uberwirklichkeit" „addieren" wollen, denn Wirklichkeit, wenn sie ist, tilgt den Schein. Nietzsches Weltgefühl ist in einer Hinsicht auf wohl immer noch nicht eingeholte oder gar überholte Weise vom modernen Immanenzbewußtsein getragen, wenn er zum Beispiel formuliert und in seinen Folgen zu durchdenken sucht, daß, „wenn es überhaupt etwas anzubeten gibt, es der S c h e i n ist, der angebetet werden m u ß . " 8 7 Es zeigt jedoch die immer wieder in Erstaunen versetzende Singularität von Nietzsches Geistigkeit, daß er nicht bei der Aussage „ D e r Schein (die Leere) ist Alles" 8 8 stehen bleibt. In dem berühmten Stück in der Götzendämmerung, „Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde", wird klar zum Ausdruck gebracht, daß mit der wahren zugleich auch die scheinbare Welt abgeschafft ist, das heißt, daß Nietzsche hier mit seiner Weltlosigkeit dem älteren Buddhismus sehr nahekommt in seiner Einsicht, daß die Welt,
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F.W. 292. W. Struve, Der andere Zug, a.a.O., S. 142. W.z.M. 1011. „Es gibt auch eine gewisse exzentrisch werdende Bescheidenheit, welche das Gefühl der Leere selber wieder wollüstig empfinden läßt: ja einen Genuß an der ewigen Leere aller Dinge, eine Mystik des Glaubens an das Nichts . . . " KAW VII, 2—25 (13) - Hier bezeichnet Nietzsche hellsichtig den Punkt, wo gewisse zenbuddhistische Strömungen und das moderne europäische Weltgefühl übereinkommen. Diese Mystik ist nicht die von Nietzsche, sofern man bei ihm von Mystik reden will, sie hat überhaupt nichts mit Transzendenz zu tun, sondern betet die Welt als Gott an.
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wenn sie einmal als leer erkannt ist, als Partner gar nicht mehr in Betracht kommt, daß „absolute Immanenz" eine unvollziehbare Position ist. Mit der Transzendenz schwindet auch die Immanenz, schwindet die Transzendenz aber nicht, so gibt es keine Rettung vor ihr, so bleibt sie allein übrig, ist absolut. Das bedeutet kein „Verschwinden" der Welt; wohin sollte sie verschwinden? Sie bleibt bestehen, aber sie erhält in ihrer durch keinerlei Auslegungen mehr vermittelten „Nähe" oder „Ferne" eine ganz neue Realität, wird Ort für das Glück auf Erden69, das kein Erdenglück ist. Stößt Nietzsche im Gedanken des Fatum auf eine solche absolute Transzendenz? „Vor dem Gedanken der Notwendigkeit gibt es keine Zuflucht." 9 0
Von Buddha und Christus vermutet Nietzsche, daß sie nicht durch ihre Religion glücklich waren, sondern daß gerade umgekehrt ihr inneres Glück es war, welches sie religiös machte 91 . Wie kann dann der freie Geist überhaupt konkurrieren, ja sogar der religiöseste Typus sein, den es gibt? „der Freigeist gefährdet die Seele für alle Ewigkeit." 9 2
Der freie Geist ist gerade in seiner Gefährdung auf Ewigkeit bezogen; das factum brutum, daß man die Welt aus sich erklären müsse, bleibt für Nietzsche nichts, mit dem man sich behaglich im Nihilismus einrichten könnte, sondern eine metaphysische Katastrophe. Was den freien Geist religiös macht, ist nicht sein zweifelhaftes, wenngleich unabdingbares Glück der Erkenntnis, sondern die Beziehung auf ein — letztes — Glück, das ihm die Kraft zum Verneinen verleiht und für das Glück und Lust nur Namen und Metaphern sind, weil es weit über sie hinausliegt: „Die alten Denker suchten mit allen Kräften das Glück und die Wahrheit. . . Wer aber Unwahrheit in allem sucht und dem Unglücke sich freiwillig gesellt, dem wird vielleicht ein anderes Wunder der Enttäuschung bereitet: etwas Unaussprechbares, von dem Glück und Wahrheit nur götzenhafte Nachbilder sind, naht sich ihm, die Erde verliert ihre Schwere, die Ereignisse und Mächte der Erde werden traumhaft, wie an Sommerabenden breitet sich Verklärung um ihn aus. Dem Schauenden ist, als ob er gerade zu wachen anfinge und als ob nur noch die Wolken eines verschwebenden Traumes um ihn her spielten. Auch diese werden einst verweht sein: dann ist es Tag. — " 9 3 (Hervorhebungen vom Verf.)
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Z, Der freiwillige Bettler. X I I I , S. 73, 181. K A W VIII, 1 - 1 (5). K A W V, 1 - 1 (34). 3 . U . B . 4.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
3.2. Ausblick auf den
Zarathustra
3.2.1. Allgemeine Bemerkungen „— Innerhalb meiner Schriften steht für sich mein Zarathustra." 9 4 Die Schwierigkeit einer Interpretation des „Zarathustra" liegt darin, daß sie ebenso unumgänglich wie wesentlich unabschließbar ist. Dies Letztere hängt mit seiner besonderen Symbolstruktur zusammen, was zu erörtern sein wird. Nietzsche mit seiner ganzen Vieldimensionalität, Umfänglichkeit, Verstecktheit und Fähigkeit zum Erproben entgegengesetzter Denkrichtungen, ohne an einer hängenzubleiben, ist ganz darin wie vielleicht in keiner seiner anderen Schriften, auch mit seiner Fragwürdigkeit. Man muß nicht jedes Wort im „Zarathustra" „heiligsprechen", aber gerade das tut seiner Bedeutung keinen Abbruch, im Gegenteil. Nietzsche zeigt hier, was er mit dem Willen zur Macht als Interpretation, als „Erhaltung und Steigerung" meint: Zarathustra erhält sich als ein freier Geist mit immer neu zu vollziehenden Loslösungen und überbietet sich zugleich im freien und machtvollen Spiel mit allen bisherigen Gedanken und Symbolen, einschließlich seiner Loslösungen selber. Bei einer Ausdeutung dieser Symbole kann man nie zu tief loten: die gesamte Menschheitsgeschichte ist irgendwie darin enthalten — wenn man nur an die Höhlensymbolik denkt —, aber in ihrer zarathustrischen Verwandlung zeigt sie jäh ein neues Gesicht. So muß man „Also sprach Zarathustra" als ein Grundbuch des Abendlandes bezeichnen. Es ist ein Beispiel dafür, was Nietzsche unter dem dionysischen Spiel ständiger Selbstauslegungen versteht, als welches er Leben überhaupt auffaßt, und was unter einer Uberwindung des Geistes der Schwere, diesem Teufel in der zarathustrischen Welt. So rührt die Unabschließbarkeit seiner Ausdeutung letztlich daher, daß er ein lebendiger Spiegel des Lebens selber ist und als solcher wesentlich ein „Imperfectum", als solches wiederum eine „Unzeitgemäße Betrachtung" in einer Zeit, die die Perfektion anbetet und die, wäre sie nur konsequent, zuletzt Leben selber abschaffen müßte. Sie rührt auch daher, daß „des Lebens Lebendigstes", der Geist, als „Glück des Messers" 95 selber ins Leben schneidet, der Geist als im Sinne Kants „das lebendige Prinzip im Gemüte" 9 6 hier auf beinahe unheimliche Weise lebt 9 7 . Dazu stimmt Nietzsches Selbsteinschätzung:
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Ε. H . Vorwort 4. Z, Vom bleichen Verbrecher. „ G e m ü t " hier genommen im älteren Sprachsinn als Einheit aller inneren Kräfte / „ G e i s t , in ästhetischer Bedeutung, heißt das belebende Prinzip im Gemüte. Dasjenige aber, wodurch dieses Prinzip die Seele belebt, der Stoff, den es dazu anwendet, ist das, was die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt, d.i. in ein solches Spiel (sie), welches sich von selbst
Ausblick auf den Zarathustra
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„ I c h möchte wissen, ob dies Buch von Jemandem verstanden ist: seine Hintergründe gehören zu meinem persönlichsten Eigenthum. Zarathustra hat die W e r t h schätzung von ein paar Jahrtausenden gegen sich; ich glaube absolut nicht daran, daß Jemand heute im Stande ist, seinen G e s a m m t - T o n klingen zu hören: auch setzt sein Verstehen eine solche philologische und mehr als philologische Arbeit voraus, wie sie heute Niemand daran setzen wird, aus Mangel an Z e i t . " 9 8
Es gilt vom „Zarathustra" in gesteigertem Maße, was Nietzsche von seinen Schriften überhaupt sagt, daß er sie nämlich jederzeit mit seinem ganzen Leib und Leben geschrieben habe: „ich weiß nicht, was „rein geistige" Probleme sind" 9 9 . Und es zeigt auch Nietzsches Fähigkeit, nicht an sich selbst klebenzubleiben, wenn er am 20. Mai 1885 aus Venedig an seine Schwester schreibt: „Alles, was ich bisher geschrieben habe, ist Vordergrund; für mich selber geht es erst immer mit den Gedankenstrichen los. Es sind Dinge gefährlichster Art, mit denen ich zu thun habe; daß ich dazwischen in populärer Manier bald den D e u t schen Schopenhauer oder Wagner anempfehle, bald Zarathustras ausdenke, das sind Erholungen für mich, aber vor allem auch Verstecke, hinter denen ich eine Zeit lang wieder sitzen k a n n . "
Zwei Aspekte sollen hervorgehoben werden, weil sie den „Zarathustra" vornehmlich zu charakterisieren scheinen und daher auch seine Glücksauffassungen notwendig färben, nämlich sein Durchtränktsein mit Bildern der großen Natur und seine symbolistische Struktur.
3.2.1.1. Die Bedeutung der Natur im Zarathustra Natur ist nicht mehr ein Problem, sondern Element des Denkens. Das ergibt einen ganz neuen Ton auf der philosophischen Farbskala, ein ganz neuer Philosophentypus wird geboren aus der Einsicht in die wesentliche Unbestimmbarkeit der Natur durch Begriffe wie in ihre gänzliche Unverzichtbarkeit für das Denken. Der Einfluß von Ort und Klima 100 auf die philosophierende „Pflanze Mensch" wird eindrucksvoll belegt, hier besonders der von Riviera und Oberengadin. Dies hat vielleicht Karl Jaspers am deutlichsten gesehen als der mit „Physiologie" vertrauteste unter Nietzsches Auslegern:
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erhält und selbst die Kraft dazu stärkt." K. d. U.§ 49. Wieder ein Beleg für das „dionysische Element" bei Kant. Die Lebendigkeit des „ Z " kann man auch daran sehen, daß er immer noch eine gewisse Art von Geistern zu Schmähschriften reizt: siehe W. Resenhöfft, Nietzsches Zarathustra-Wahn, Bern 1972. KAW VII, 3 - 3 8 (15). KAW V, 1 - 4 (285). E . H . , Warum ich so klug bin, 2.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
„Hier (i. e. in den Landschaften) ist der leichteste Zugang zum Zauber Nietzsches und zu der Stimmung, welche Voraussetzung allen Verstehens ist. In seiner Welt sind Natur und Elemente nicht nur wie anschauliche Gemälde oder wie gehörte Musik, sondern wie undarstellbarer Typus des Wirklichen, das unmittelbar als es selbst spricht.' 101
Dies ist eine im „Zarathustra" neu erreichte Stufe; vorher gibt es bei Nietzsche durchaus „Landschaftsgemälde" mit Berufung auf Poussin oder Claude Lorrain wie zum Beispiel in „Et in Arcadia ego", M.A.II, Der Wanderer und sein Schatten 295. Im „Zarathustra" ist Landschaft immer mehr als bloß Szenerie, ist Natur keine Bühne, auf der sich Vorgänge begeben, sie ist nicht bloß ein Hintergrund (Jaspers), sie ist kein Arsenal zum Entnehmen von Symbolen, vielmehr ist alles von ihr durchzogen und durchfärbt. Nietzsche zeigt so, was er unter dem geforderten „ K o s m i s c h e m p f i n d e n ! " versteht. Es spricht sich darin ein Grundgefühl aus, von dem auch die Mystiker als die Realisten, die sie sind, getragen sind, nämlich das Empfinden, daß die Wirklichkeit zwar nicht in der Natur, aber an der Natur ist 102 . Zarathustra hält sich vornehmlich in den beiden Formen großer Natur, am oder auf dem Meer und im Hochgebirge, auf. Diese waren auch schon Symbole für die geistige Landschaft des freien Geistes wie auch die Wüste, aber jetzt werden sie mehr und Stärkeres als bloß ein Symbol, werden vom „Symbol-Sein" erlöst zum sinnlich-konkreten Raum der inneren Vorgänge. Zur Zeit der „Morgenröte" hieß es im Anschluß an die bereits zitierte Abweisung des „ruhigen Glücks der Erkenntnis": „Ich will keine Erkenntnis mehr ohne Gefahr: immer sei das tückische Meer, oder das erbarmungslose Hochgebirge um den Forschenden." 103
Dieser Regel folgt Nietzsche-Zarathustra, der als ein freier Geist doch zugleich auf Loslösung von sich selber aus ist, von der Stufe des „ich will" auf die des „ich bin" gelangen möchte.
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K. Jaspers, Nietzsche, Berlin und Leipzig 1936, S. 326f. J. faßt diese Seite Nietzsches als „Naturmythik". „Denn die Wirklichkeit ist das alles n i c h t , was du bist und was die Welt ist. Dieses Nicht ist leibhaftig nur in menschenloser Natur." — W. Struve, Unglaubliche Wirklichkeit, Salzburg 1972, S. 115. Dort S. 117: „Mit solcher Natur eins zu werden und von dem her sein, von dem sie her ist, und an das rühren, an das sie rührt. — Sie ist n i c h t die Wirklichkeit, a b e r diese ist ihr ,Nachbar';" Und Der andere Zug, S. 54: „Zwar wird das Andere nur empfindlich an großer Natur, zu welcher im leidenschaftlichen Bezug auch ein Mensch werden kann, aber es ist nicht etwa in der Natur oder gar die Natur selbst." K A W V, 1 - 7 (165).
Ausblick auf den Zarathustra
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3.2.1.2. Beziehungen zum Symbolismus Es ist aufschlußreich, den „Zarathustra" vor dem Hintergrund der Zeitströmung des Symbolismus zu sehen, wenn er auch in ihr nicht aufgeht wie er überhaupt von keiner Strömung her adäquat zu fassen ist. Dieser umfangreiche Komplex soll hier nur gestreift werden 104 . Nietzsche verwandelt den Symbolismus zu seinem eigenen Instrument, auf dem er in weiter Entfernung von einigen Richtungen (ζ. B. von Moreau und Huysmans) mit ihrer Neigung zu extremer Künstlichkeit spielt. Das hängt eng mit der angedeuteten Naturauffassung zusammen, die bewirkt, daß hinter allen Bildern immer der Nachklang eines wirklich erlebten „Draußenseins" zu spüren ist. Mit dem „Zarathustra" hat Nietzsche den Kreis der Probleme, die auf seinen Namen „eingebrannt und abgestempelt" 105 sind, abgeschritten. Wenn es auch so scheint, als ob später der Wille zur Macht ganz in den Vordergrund träte, so lehrt ein Blick in den Nachlaß, daß dieser nie mit der ewigen Wiederkunft als einem letzten Umfassenden konkurriert, sondern daß beide ihr Recht behalten. Nietzsche zeigt später seine Probleme in neuer Beleuchtung, neuen Relationen und neuer Akzentuierung, auch steigert sich das leidenschaftliche Tempo der Darstellung bis zu einem „tempo feroce" — dieser Zug zum Uberbieten auch noch des unüberbietbar Scheinenden übrigens wieder ein platonischer Zug am Anti-Platoniker Nietzsche, denkt man an das Symposion, wo selbst noch die Rede der Diotima nochmals überboten wird durch die des trunkenen Alkibiades —, aber wenn Nietzsche mit Hinblick auf Piaton mit Recht vermutet: „Die Kürze unseres Lebens verlangt, daß an einem Punkte die Höhe eintritt und das Ziel erreicht ist: sonst bleiben wir ewig in der Schwebe und das hält man vor Ungeduld nicht aus. Individuell n o t w e n d i g der Anschein der W a h r h e i t . " 1 0 6 ,
so hat er selber seine Höhe sicherlich zur Zeit der Entstehung des „Zarathustra" erreicht wie auch die individuelle Notwendigkeit im Anschein der Wahrheit dort am stärksten erlebt. Anschein der Wahrheit meint natürlich nicht Beliebigkeit in der Wahl metaphysischer „Sitze", das dürfte bisher klar geworden sein.
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Auf diesen Zusammenhang weist 1897 A. Riehl, a.a.O., S. 35 hin: „Auch vom „Symbolismus", einer augenblicklichen Strömung in der Kunst und Poesie der Gegenwart, zeigt sich Nietzsche (in den letzten Teilen des Zarathustra) erfaßt." - Riehl kennzeichnet dann noch beiläufig den Symbolismus als „den Stil der Andeutungen und Winke, der Vermischung der Sinne" und als „die indirekteste aller Stilgattungen" (a.a.O.). Siehe Anm. 24 in 3.1.2. KAW V, 1 - 4 (286).
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
Da sich in Nietzsche die Erfahrung vertieft und radikalisiert, die in gewisser Weise schon Heraklit trug, daß keinerlei Statuierung irgendeines „Ansich" und keinerlei Substantialisierung im Denken zulässig ist, und so ein ganz neues Realitätsgefühl entsteht, in dem alle inneren Stützen wegzusinken drohen, die bisher den Menschen als ein geistiges Wesen überhaupt möglich machten, es also auch kein wahres Allgemeines mehr gibt und geben kann, muß sich die Art symbolischer Verlautbarung grundlegend ändern. Die klassisch-idealistische Symbolauffassung Goethes, wonach „das Besondere das Allgemeine repräsentiert, . . . als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen" 107 , kann nicht verbindlich sein für ein solches Realitätsbewußtsein. An die Stelle dieser — inneren — Unendlichkeit der Totalität der Bedeutung des klassischen Symbols tritt so etwas wie eine zur individuellen Ausdeutung hin offene Unendlichkeit des symbolistischen Verfahrens, das seinerseits Symbole verwendet, ohne die Kunst überhaupt nicht möglich ist, die aber keine allgemein verbindliche und ablösbare Bedeutsamkeit haben, sondern „im Gegensatz zu symbolischer Kunst . . . haben wir es beim Symbolismus also mit einer Kunst zu tun, die nicht klar determiniert werden kann. Die Symbolrichtung kann bestimmt werden, aber das symbolistische Bild bleibt rätselhaft und unauflösbar . . . Nur in der Resonanz der Symbole kann ein symbolistisches Bild verstanden werden." 1 0 8 Dies ist eine Entwicklung, die für Edward Lude-Smith109 bereits in der Frührenaissance beginnt — er führt vor allem das Giorgione-Bild „Tempesta" an, das zunächst, rein vom Gegenständlichen her, keine Rätsel aufzugeben scheint, auch nicht in seiner Symbolik, die auf Gebräuchliches zurückgreift, das „bekannt" vorkommt und sich in seiner Gesamtaussage dennoch entzieht. „ T h e spectator completes the work for himself, with s o m e element, which he discovers within himself. This suggestiveness and ambiguity were the very essence of Symbolist poetry . . . and they were necessariliy important to Symbolist art as well."110
Dieser Bezug zur Renaissance ist hier deshalb interessant, weil ja in ihr das Diesseits einen neuen „Geschmack" bekam, weshalb Nietzsche sich vorzüglich und mit Vorliebe auf diese Epoche berief, und weil in der Entdeckung der Perspektive — man denke an Nietzsches Perspektivismus — sich das Erlebnis einer Vertiefung der sichtbaren Welt aussprach. 107 Yg| hierzu die Symbolerörterungen bei Hans H. Hofstätter Kunst der Jahrhundertwende", Köln 1965, S. 30 ff. 108 Hofstätter, a.a.O., S. 46. 1 0 9 Symbolist A n , London 1972, reprinted 1977. 110 Ε. Lude-Smith, a.a.O., S. 15.
in: „Symbolismus und die
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Nietzsches Symbole wollen die „willlkürlichen Auslegungen, die den Dingen wehe tun" 1 1 1 , das heißt, die Gewaltsamkeit im interpretierenden Wesen des Willens zur Macht gleich mitberücksichtigen. In ihnen sollen sie „auf dem Wege der Gerechtigkeit" 111 absterben und neuen, gerechteren Platz machen. „ D i e Menschen sehen allmählich einen W e r t und eine Bedeutung in die N a t u r hinein, die sie an sich nicht hat. . . . U n d ebenso sehen wir auf andere C h a r a k t e r e : sie sind für mich etwas anderes als für dich: Relationen und Phantasmen, unsere Grenzen gegeneinander sind darin — Was heißt da Gerechtigkeit! Die Fülle der Relationen wächst fortwährend, a l l e s was wir sehen und erleben, w i r d b e d e u t u n g s t i e f e r . Beim Anblick der Sonne ζ. B . — aber eine Unzahl von alten Bedeutungen und Symbolen s t e r b e n auch fortwährend ab, . . . (auf dem Wege der Gerechtigkeit sterben die willkürlichen Auslegungen, die den Dingen wehe tun.)"111
So ist es nicht zufällig, daß es keinen modernen Zarathustra-Kommentar gibt. Das Faktische, das zu wissen interessant und wichtig wäre, etwa ob mit den „glückseligen Inseln" möglicherweise Ischia gemeint sei usw., ist in den älteren Kommentaren ausführlich dargelegt, ein „Wörterbuch" der NietzscheSymbole ist jedoch nicht zu geben, weil sie in jeweils neuen Bezügen sich neu erschließen müssen. Dabei bedeutet unendliche Ausdeutbarkeit der Symbolismen natürlich nicht, daß sie andererseits nicht wieder auf ganz bestimmt Faßbares zielen; sie verschwimmen nicht im Vagen und Beliebigen, aber es muß nicht unbedingt ihre Faßbarkeit eine solche für Interpretationen sein. Es gibt vielleicht noch einen feineren Sinn, Komplexes zu erfassen: Pascals „esprit de finesse" zum Beispiel. Damit stünde also jede symbolistische Richtung vor der Aufgabe, eine „Privatmythologie" zu schaffen 112 . Als eine solche muß man Nietzsches Dionysos- und Ariadnesymbolik bezeichnen wie auch ganz vorzüglich die vom Minotaurus und seiner Höhle, Chiffren für seine secretissima. Seine Vorliebe für die „Sphinx" erhält vom Bezug zur Malerei vom Ende des 19. Jahrhunderts her (Moreau, F. Khnoppf u.v.a.) eine neue Facette, ohne daß doch, wie gesagt, der Symbolismus durch Nietzsche oder Nietzsche durch den Symbolismus erklärt werden könnten. Seinen Gedanken der ewigen Wiederkunft bezeichnet er als „Medusenhaupt" 113 , und wenn man an den Perseus-Zyklus von Bume-Jones denkt, wird dies eben mehr als eine Anleihe des Professors für klassische Philologie bei der griechischen Mythologie.
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KAW V, 1 - 6 (239). Dies wurde deutlich in der großen Ausstellung in Baden-Baden 1976 / S. den Ausstellungskatalog „Symbolismus in Europa". KAW VII, 3 - 3 1 (4): „In Zarathustra 4: der große Gedanke als Medusenhaupt: alle Züge der Welt werden surr, eingefrorener Todeskampf."
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Nietzsche als Erzieher zum Glück? N a c h den K u n s t l e x i k a handelt es sich u m eine K u n s t r i c h t u n g , v o r allem
der M a l e r e i 1 1 4 , die u m 1 8 8 0 in F r a n k r e i c h b e g r ü n d e t w u r d e , also genau m i t der E n t s t e h u n g des „ Z a r a t h u s t r a " parallel lief. D a s stiftet eine
Gemeinschaft,
die nicht d u r c h „influxi p h y s i c i " n a c h z u w e i s e n sein m u ß . So ist a u c h das G l ü c k , v o n dem N i e t z s c h e i m „ Z a r a t h u s t r a " sagt, es solle „ n a c h E r d e r i e c h e n " 1 1 5 , wesentlich v o n diesen beiden M o m e n t e n her bes t i m m t , v o n der Ö f f n u n g z u r u n d d e m G e s c h m a c k der g r o ß e n N a t u r her wie v o n der aus seinem symbolistischen C h a r a k t e r h e r r ü h r e n d e n U n ü b e r t r a g b a r keit. „ E r d e " ist dabei ein V e r s u c h N i e t z s c h e s , das, w a s das W o r t f r ü h e r im christlichen K u l t u r b e r e i c h bezeichnete,
ganz neu als ein
„weltverlorenes"
A u ß e r h a l b v o n Diesseits u n d Jenseits zu fassen, ist ein S y m b o l für sein neues R e a l i t ä t s b e w u ß t s e i n . Soll sein G l ü c k nach E r d e riechen, s o darf es nicht „ n a c h G ö t t e r n lüstern h i n a u s s c h n ü f f e l n " , darf auch nicht „ i m J a m m e r t a l " w o h n e n , s o n d e r n es m u ß dieser n e u e n Realität in b e s o n d e r e r W e i s e e n t s p r e c h e n . H i e r liegt auch der m e t a p h y s i s c h e G r u n d für die V o r l i e b e des n e u n z e h n t e n u n d f r ü h e n z w a n z i g s t e n J a h r h u n d e r t s für die S y m b o l z u s a m m e n h ä n g e v o n F r a u u n d B l u m e 1 1 6 , v o n B a u m e t c . (s. A n m . 165 i n 2 . 5 . 4 . ) . D e n n einmal verbildlichen die Pflanzen a m sinnfälligsten das allgemeine G e f ü h l , daß es einen freien Willen
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Es gibt bereits in der G . d . T . Formulierungen, die symbolistische Bilder heraufbeschwören: So wenn er im Abschnitt 9 die „jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens" nur als „ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See von Traurigkeit spiegelt", bezeichnet. Solche schwarzen Seen gibt es viele in der symbolistischen Malerei, man denke an den schwarzen Schwan von Degouves de Nunques, von Lefebre, an „Stille Wasser" von F. Khnoppf u. v. a. — Oder das eindringliche Bild für den gegenwärtigen Zustand der Kultur (20): „Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck fruchtbaren und gesunden Erdbodens: überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten." Solche „Landschaft" bieten z.B. 1889 Eugen Bracht, „Das Gestade der Vergessenheit" oder Alexandre Seon, „Klage des Orpheus", 1896. Das Leben als „kindsäugige Sünderin" (Z, Das andere Tanzlied 1): Stucks „Innocentia" von 1889; man denke an die Vorliebe dieser Epoche für das „Kindweib" überhaupt.
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Z, Von den Erhabenen und KAW VII, 1 — S. 444: „. . . soll mein Glück nach Erde riechen". Vor diesem Hintergrund ist es auch zu sehen, wenn Henry van de Velde in „Arno", Inselbücherei Nr. 3, Leipzig o. J . , S. 14 schreibt: „Ich liebe die Blumen, die Augen der Erde, die sich bei ihrem Erwachen öffnen, um uns durch ihre Pracht der Erde kindliches Entzücken zu offenbaren; um uns von dem Ernst ihrer schweren, erdrückenden Gedanken, ihrer ungestillten Wünsche zu reden, von der Ironie ihrer Grausamkeit und von ihrer unendlichen Süße." Auch an Gustav Mahler ist zu denken, wenn er einen Satz seiner dritten Symphonie überschreibt: „Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen" und der in Anlehnung an und als Huldigung für Jean Paul seiner ersten Symphonie eine „Blumine" einfügt, die er allerdings später wieder herausgenommen hat. Und wenn er seine große Komposition „Das Lied von der Erde" mit einem wiederholten „ewig" ausklingen läßt, so ist das der Geschmack Nietzschischen Weltempfindens. Eingedenk der Tatsache, daß solche Überlegungen eigentlich sinnlos sind, könnte man sagen, daß, wenn Nietzsches kompositorische Begabung seiner philosophischen dem Range nach entsprochen hätte, er wie Mahler hätte komponieren müssen, das heißt, der „transzendenzlosen Transzendenz" Ausdruck verleihen.
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nicht gibt, für Nietzsche eben deshalb nicht, weil alles Wille zur Macht ist. Dann sind sie die einzigen Lebewesen, die sich unmittelbar aus der Erde nähren. Hier ist mit ein Ursprung für das endlose Rankenwerk des Jugendstils, das die Ausweglosigkeit einer Immanenz durch das Ineinanderbiegen und kurvige Ineinanderschmiegen verbildlicht, also als Symbol für in sich zurücklaufende Endlosigkeit der Endlichkeit aufgefaßt werden kann, als Verstrickung ins Endliche. Diese sieht Nietzsche durch das ganz anders geartete „Kreisen" der ewigen Wiederkunft gesprengt. Es wäre noch interessant, sich zu fragen, wie es bei Nietzsches Vorliebe für Frankreich um sein Verhältnis zum anerkannten Hauptmeister des Symbolismus, Paul Gauguin, bestellt ist? Wieder eine Frage, die nur berührt werden soll. Der Symbolismus wandte sich ab von der fortschrittsgläubigen Oberfläche des neunzehnten Jahrhunderts und setzte diesem Positivismus eine andere Seite der Wirklichkeit entgegen. Er versuchte zu verhindern, daß der Zugang zum „Mysterium" verschüttet wurde. Ein bekanntes in Holz geschnitztes Relief Gauguins trägt den Titel „Soyez mysterieuses" 117 ; man könnte ihn an Hand eines anderen Reliefs, „Soyez amoureuses . . .", ergänzen zu „Soyez mysterieuses et vous serez heureuses". Glück entspränge dort, wo man „als . . . Verehrer des Unbekannten und Geheimnisvollen an sich das Fragezeichen selbst als Gott" anbetet118, oder dort, wo man sich dem Mysterium fraglos öffnet? Es ist eine Frage, wie weit Nietzsche zuletzt das Fragezeichen verehrt oder ob er andere Erfahrungen hat. Beide haben wohl nichts voneinander gewußt, obwohl sie zeitweise indirekt durch einen gemeinsamen Briefpartner, August Stnndberg, miteinander in Beziehung standen, der durch seine Briefe beide maßgebend stützte und ermutigte 119 , wie sich auch durch Georg Brandes eine Verbindung hätte herstel117
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Gauguin schreibt in ,,L'£glise catholique et les Temps Modernes": „Das unergründliche Mysterium bleibt, was es gewesen ist und was es sein wird: unergründlich." (zit. nach Raymond Charmet, P . G . , Berlin—München 1965, S. 78) - Vgl. dazu Nietzsche: „In dein Auge schaute ich jüngst, ο Leben! Und ins Unergründliche schien ich mir da zu sinken." (Z, Das Tanzlied). Mallarme zum Mysterium bei Gauguin (vor einem Bilde, das den weiten Weg von den Marquesas nach Paris gemacht hatte): „Es ist erstaunlich, daß man ein so tiefes Mysterium mit soviel Brillanz ausdrücken kann." (Zit. nach P. G., eingeleitet und erläutert von E. Göpel, Welt in Farbe 1954, zu Tafel 26 und 27). G . d . M . , Was bedeuten asketische Ideale? 25. Gauguin bat den - selber auch malenden — Strindberg Anfang 1895, vor seiner endgültigen Ubersiedlung nach Tahiti, ein Vorwort zum Versteigerungskatalog seiner Bilder zu schreiben. Strindbergs ablehnenden Antwortbrief vom 1. Februar 1895 aus Paris ließ Gauguin im Katalog anstelle eines Vorworts abdrucken. Er ist in seinen wesentlichen Partien wiedergegeben in: Daniel 'Wildenstein — Raymond Cogniat, P . G . , München 1973. Die hier interessantesten Partien daraus zu den Bildern Gauguins: „Ich habe Bäume gesehen,
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len können, neben dessen Haus in Kopenhagen Gauguin wohnte und der mit seinen Vorlesungen über Nietzsche diesem über eine kritische Zeit hinweghalf. Aber das Hauptwerk Gauguins, sein künstlerisches Testament von 1897, „Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?", trifft in einer Weise Nietzsches Weltempfinden, bei dem sich seltsam entsprechende Formulierungen finden. So heißt es in der ersten Unzeitgemäßen (8) bei der Charakterisierung des Wissenschaftlers als einem paradoxen „Müßiggänger des Glücks", der Zeit findet, die Staubfäden einer Blume zu zählen, während ihm nicht bewußt ist: „ R i n g s u m s t a r r e n ihn, den E r b e n w e n i g e r S t u n d e n , die schrecklichsten A b s t ü r z e , j e d e r T r i t t sollte ihn e r i n n e r n : W o z u ? W o h e r ? W o h i n ? " ,
und wenig später: „ N u n meint P a s c a l ü b e r h a u p t , daß die M e n s c h e n s o angelegentlich ihre G e s c h ä f t e u n d ihre W i s s e n s c h a f t e n betrieben, u m n u r d a m i t d e n w i c h t i g s t e n F r a g e n z u entf l i e h e n , die j e d e E i n s a m k e i t , jede w i r k l i c h e M u ß e ihnen a u f d r i n g e n w ü r d e , eben j e n e F r a g e n nach d e m W a r u m , W o h e r , W o h i n . "
Und im „Zarathustra", Teil IV, Das Honigopfer: „ . . . fragend nach W o und Woher? und W o h i n a u s ? "
Beide spüren die Notwendigkeit, über Europa hinauszugehen, wobei für Nietzsche allerdings der Weg zu etwas Neuem über die Griechen führen soll, während für Gauguin das Griechische der große Irrtum ist, „si beau qu'il soit", und er auf der Suche nach einem neuen Primitivismus, nach einer neuen Wildheit für die europäisch gezähmte Kunst ist. Ein Hauptbild Gauguins von 1892 mit dem Titel „Arearea", meist wiedergegeben mit „Heiterkeit", zeigt etwas von dem Geschmack Nietzschischer Heiterkeit, die er in der dritten Unzeitgemäßen wohl abzusetzen weiß gegen die „Heiterlinge", die die Abgründe gar nicht sehen. Nach der Liniensymbolik der Symbolisten bedeutet eine sich herabneigende Linie Traurigkeit: ein vorn abgebildeter Hund drückt sie also aus, andie kein Botaniker je in der Natur zu finden vermöchte, . . . einen Himmel, in dem kein Gott je wohnen könnte. —" und: „ G u t e Reise, Meister! — Vielleicht habe ich bis dahin gelernt, Ihre Kunst besser zu verstehen . . ., denn auch ich sehne mich unendlich danach, wild zu werden und eine neue Welt zu schaffen." Der Briefwechsel Nietzsche-Strindberg ist jetzt wieder leicht zugänglich im „InselAlmanach auf das Jahr 1980", „August Strindberg - nichts als Dichter". Es belegt eindringlich das geistige „ F o r m a t " Strindbergs, wie er es versteht, auf Nietzsches Brief vom 31. 12. 1888, aus der Zeit seines geistigen Zusammenbruchs, einzugehen und genau den richtigen T o n zu treffen. Nietzsche schreibt aus einem Zwischenreich, die Zarathustra-These belegend, wonach etwas Wahnsinn in jeder Vernunft ist und Vernunft in jedem Wahnsinn. Strindbergs Antwort vom 31. Dezember beantwortete Nietzsche nochmals mit einer kurzen N o t i z , die später aufgefunden wurde, gleichsam schon von ganz anderswoher.
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zeigend, daß „das Glück des Tieres" kein Ziel für den Menschen sein kann. Trauer ist also wie bei Nietzsche aufgefaßt als eine notwendige Komponente des Glücks. Die große, im Meditationssitz auf einer Wiese verharrende weibliche Gestalt — angeregt durch Photographien der Reliefs von Borobudur, Java, die Gauguin in Tahiti bei sich führte — stellt mit dem Zitat der Erdberührungsgeste der klassischen Buddhabilder eine Beziehung her zu Nietzsches Aufforderung: „Bleibt der Erde t r e u ! " 1 2 0 , wie auch die Tatsache als solche, daß östliches derart mitschwingt, beide einander nähert. Die erwähnte Figur lauscht dem Flötenspiel einer etwas kleineren, hinter ihr und wie diese direkt auf dem Boden unter einem Baum zwischen Blumen hockenden zweiten Gestalt. Im Hintergrund tanzen Eingeborene vor einem fremdartigen Götterbild. Kunst wird also im Kunstwerk selber thematisch, und zwar in ihren von der Jahrhundertwende am meisten geschätzten Formen von Musik und Tanz. Darüberhinaus fehlt nicht ein Verweis auf Religion wie bei Nietzsche. Dieses Rasenstück Gauguins ist keine „Wiese des U n h e i l s " 1 2 1 und auch kein Paradies. Wie bei Nietzsche handelt es sich nicht um die Statuierung eines Jenseits: der Horizont ist weggeschnitten, das Götterbild ragt nicht in den Himmel, in keine „Hinterwelt", die Erde grenzt an keinen Himmel. Alles ist Erde, ist Natur. Alle diese Elemente zusammen ergeben einen Gesamtklang der Heiterkeit, der in seiner Rätselhaftigkeit vorzüglich im Blick der vorderen Figur Ausdruck findet, die den Betrachter anzublicken scheint und sich ihm doch entzieht. In bezug auf seine Schauerlichkeit wird er aber von Nietzsche übertroffen, bei dem diese eine ganz spezielle und ganz persönliche Färbung des Glücks ausmacht. Er schreibt am 22. Februar 1884 aus Nizza an Erwin Rohde über die ersten drei Teile des „Zarathustra": „ E s ist eine Art Abgrund der Zukunft, etwas Schauerliches, namentlich in seiner Glückseligkeit."
und an Peter Gast am 1. Februar 1883 aus Rapallo, wo das ganze erste Buch des „Zarathustra" in zehn Tagen entstand: „ E s gibt nichts Ernsteres von mir und auch nichts Heitreres; ich wünsche mir von Herzen, daß d i e s e F a r b e — welche nicht einmal eine Mischfarbe zu sein braucht — immer mehr zu meiner „ N a t u r " f a r b e w e r d e . " 1 2 2
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Am 25. August 1902 schreibt Gauguin an Monfreid: „Continuez en attendant ä jouir paisiblement de la vie: l'animalite qui est en nous n'est pas tant ä mepriser qu'on veut bien le dire — Ces satanes Grecs qui ont tout compris, ont imagine Antee qui reprenait ses forces en touchant la terre — La terre, c'est notre animalite, croyez-le bien —". Erde ist also auch für Gauguin unsere Lebenskraft. M . A . II, W.u.S. 6. Dies Ineinander von Heiterkeit und Ernst, das keine trübe Mischung darstellt, übrigens wieder ein platonischer Zug bei Nietzsche!
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
3.2.2. Zarathustra als Lehrer des Glücks 3.2.2.1. Das Problem einer Lehrbarkeit des Glücks Glück kann niemals Erziehungsziel sein, wohl aber E r z i e h u n g s e r g e b n i s und Begleiterscheinung. Es stellt sich unvermutet ein. Aber: der Lehrer ist ein notwendiges Übel, wie eine Aphorismusüberschrift aus „Menschliches, Allzumenschliches" belehrt 1 2 3 . Auch der Lehrer des Glücks? Warum lehrt Zarathustra überhaupt? Dem allgemeinen Verstand scheint nichts einleuchtender zu sein, als daß jemand, der etwas Tüchtiges weiß Und versteht, verpflichtet sei, dieses sein Wissen weiterzugeben, eben zu lehren. Andernfalls gilt er als egoistisch. Auf welch schlüpfriges Gebiet man jedoch mit diesem Verdikt gerät, wurde bereits anzudeuten versucht. Das Füreinanderexistieren entlarvt Nietzsche als bloße Komödie, dennoch scheint diese Meinung — sieht man davon ab, daß sich philosophischer Reflexion, wie sie Nietzsche vor allem in „Menschliches, Allzumenschliches" betreibt, der ganze Begriff einer „unegoistischen Handlung" als Phantasma verflüchtigt, weil sie gar nicht möglich ist, wie ebenso schließlich das ganze Prinzip „ E g o " selber — auf alltäglich-empirischer, sozusagen „innerweltlicher" Ebene ihre „unbedingte" Gültigkeit zu haben. Die Schwierigkeit ist jedoch die: wird Innerweltliches fälschlich „absolut" gesetzt, so liegt dem uneingestanden die Annahme zugrunde, daß es Unbedingtes gar nicht gebe, sondern immer bloß Relatives, dem eine allgemeine Schätzung nur auf Widerruf verliehen werden kann. Auch . die Meinung, daß jemand, der etwas wisse, selbstverständlich den Drang haben müsse, dies lehrend mitzuteilen, abgesehen davon, daß sie, wenn auch ziemlich selten, durch die Empirie widerlegt wird, wird so zur bloßen Konvention. Ein vollständiges Leben im durch und durch Relativen, in dem nichts verpflichtet und alles beliebig ist, ist aber nicht auszuhalten. Also gibt der natürliche Verstand der fatalen Neigung nach, irgendetwas, etwa „die Aktion", zu verabsolutieren, sie mit der falschen Würde eines Absolutum auszustatten. Die Warnung vor dieser Haltung gehört folglich zu den „Hauptlehrgegenständen" Zarathustras: „Niemals noch hängte sich die Wahrheit an den Arm eines Unbedingten." 1 2 4 ,
ebenso wie die vor einer „Wahrheit", die mit „Einem Sprunge zum Letzten will", die nicht etwa einer besonderen Kraft entstammt, sondern der Müdigkeit:
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M . A . I I , W . u . S . 282. Z, Von den Fliegen des Marktes.
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„Müdigkeit, die mit Einem Sprunge zum Letzten will, mit einem Todessprunge, eine arme unwissende Müdigkeit, die nicht einmal mehr wollen will: die schuf alle Götter und Hinterwelten." 1 2 5
Natürlich aber weiß Zarathustra, daß die Wurzeln dieser Müdigkeit tiefer liegen, als daß sie durch äußere Appelle zum Verschwinden gebracht werden könnte: letztlich im zum Transzendenzschwund gesteigerten Transzendenzfehl des Todes Gottes. Wenn es aber Transzendentes gäbe, so wäre der Drang nach einer Belehrung über heilige Gegenstände im Grunde noch unverständlicher: warum ist zum Beispiel ein Wüstenheiliger, der göttliches Glück geschmeckt hat, nicht so gesättigt, daß er seine einzige Aufgabe nur noch darin sieht, sich ganz still zu verhalten und immer mehr seine Einsamkeit zu genießen, sie zu „schlürfen", wie Zarathustra das nennt? Warum entsteht immer wieder der Trieb, andere zu bekehren? Das erlangte „Transzendente" läßt sich nicht in der Zeit festhalten, oft ist gerade Religion selber in dem Sinne bloß „menschlich, allzumenschlich", daß jemand, der von ihr erfaßt ist, vermittels ihrer und der Zukehrung zu religiösen Dingen besser in der Welt Einfluß zu gewinnen und Macht auszuüben sucht. Für einen konsequent auf „absolute Transzendenz" gerichtete und aus ihr gespeiste Religiosität kommt lehren und bekehren im Ernst gar nicht in Betracht. Aber sind nicht selbst von Buddha Lehrreden überliefert? Das Problem der Lehre im älteren Buddhismus ist ein zu seinem Verständnis ganz zentrales, das hier nicht erörtert werden kann. Nur soviel sei gesagt, daß Buddha seine Hauptkraft nicht der Lehre, sondern der Meditation widmete; gelehrt wurde nur in den Abendstunden und auf ausdrückliches Befragen durch solche, die ihn eigens zu diesem Zweck aufsuchten und oft weite Wege in Kauf nahmen. Ansonsten war die Lehre etwas, das den Mönchen, selbst Nonnen, übertragen wurde. Das Motiv Buddhas, überhaupt zu lehren, ist in einem transzendental zu verstehenden Mitleid zu sehen, nicht in einem sozialen, denn die Beziehung auf Welt und Mitmensch behält nach der erlösenden Erkenntnis keinerlei Werthaftigkeit, sie wäre für Buddha wie für Nietzsche Phantasma. Wie nimmt sich aus dieser Sicht Nietzsches Zarathustra aus? Nietzsche bleibt immer zutiefst überzeugt von der völligen Unmitteilbarkeit des Wesentlichsten und Innerlichsten einer „Lehre", denn für jede Seele ist jede andere Seele bereits eine „Hinterwelt". Aber er bekennt von sich in einem Brief an Peter Gast vom 26. August 1883: „ W o r u m ich Epikur beneide, das sind seine S c h ü l e r in seinem G a r t e n ; . . . Denn zuletzt: der Trieb des Lehrens ist s t a r k in m i r . "
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Z, Von den Hinterweltlern.
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Man könnte dies leicht daraus erklären, daß Nietzsche, der am besten die Bedeutung seiner Gedanken kennen mußte, unter der vollständigen Echolosigkeit 1 2 6 seiner Schriften extrem leiden mußte. Ein starker Gedanke drängt nach Mitteilung; nur der allerstärkste — vielleicht — nicht mehr. Auch war Nietzsche zu dieser Zeit, wenigstens nach platonischen Maßstäben, noch ein junger Mann, der in der Welt wirken will. Mit Beziehung auf die ewige Wiederkunft des Gleichen notiert Nietzsche im August 1881: „ W i r l e h r e n d i e L e h r e , — es ist das stärkste Mittel, sie uns selber e i n z u v e r l e i b e n . Unsere A r t Seligkeit, als Lehrer der größten L e h r e . "
Nietzsche ist sich immer bewußt, wie wenig ein bloßer Kopfvorgang genügt, um eine Änderung des ganzen Menschen hervorzurufen, daher seine ständige Betonung der Notwendigkeit des „Einverleibens". Wäre aber eine ständig anhaltende Meditation nicht geeigneter, Zarathustras Anliegen, sich die ewige Wiederkunft des Gleichen einzuverleiben, zu erfüllen? Meditation als Form der Einverleibung erörtert Nietzsche nicht explizit. Die Frage trat so wohl nicht in seinen Gesichtskreis. Wohl könnte man die Erörterungen von „Was bedeuten asketische Ideale?" hierzu in Beziehung setzen wie auch eine Stelle im „Zarathustra" im Kapitel „Von der unbefleckten Erkenntnis". Denken muß danach in der gleichen realistischen Einschätzung des Menschen durch Nietzsche wie durch Buddha gleichsam auch die Eingeweide erfassen, wenn etwas ausgerichtet werden soll. So liest es sich wie eine Begründung der Notwendigkeit von Meditation, wenn Nietzsche dort sagt: „ Z u r Verachtung des Irdischen hat man euren Geist überredet, aber nicht eure Eingeweide: d i e aber sind das Stärkste an euch! . . . D a s wäre mir das H ö c h s t e — also redet euer verlogener Geist zu sich — auf das Leben ohne Begierde zu schauen und nicht gleich dem H u n d e , mit hängender Zunge: 126
Zu Nietzsches Lesern gehörten zwar Männer wie Jakob Burckhardt und Gottfried Keller, die wohl seine Begabung erkannten, die aber seinem Denken keinen Raum in ihrem Lebens- und Vorstellungskreis einräumen mochten und konnten, weil es ihnen wesensfremd war. — Auch denke man an die seltsam dumme und gehässige Charakterisierung von Nietzsches Buch „Menschliches, Allzumenschliches" durch Cosima Wagner, mitgeteilt bei W. Wurzer, a.a.O., S. 44, Anm. 1: „. . . Von den negativen Ansichten seiner Freunde ist vielleicht Cosima Wagners Wort über MA merkenswert (sie). Sie ärgerte sich nicht nur über den Inhalt, sondern auch über den Stil des Werkes: „Traurig, nenne ich es sowohl durch seinen Inhalt als durch seine Form. Den Dünkel ganz unerwähnt lassend, welcher sich durch das Betiteln eines jeden, noch so nichtssagenden Satzes kund giebt, will ich nur bemerken, daß Aphorismen beinahe einem Jeden gelingen, während das Bedeutende eines Buches eben in dem Zusammenhang besteht." Von Buddha her gesehen wäre allerdings auch nicht zu verstehen, warum Nietzsche seinen Wiederkunftsgedanken all den Damen ins Ohr flüstern mußte wie L. Salome, Resa v. Schirnhofer und Meta v. Salisl
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(nebenher: ein drastisches Bild für die Lebensgier!) Glücklich zu sein im Schauen mit erstorbenem Willen, ohne Griff und Gier der Selbstsucht — kalt und aschgrau am ganzen Leibe, aber mit trunkenen Mondesaugen! . . . U n d das heiße mir aller Dinge u n b e f l e c k t e Erkenntnis, daß ich von allen Dingen nichts will: außer daß ich vor ihnen daliegen darf wie ein Spiegel mit hundert A u g e n . " —"
Man könnte dies als eine Beschreibung des meditativen Zustands lesen, aber der sich — wohl auch im Sinne Buddhas — glücklich Wähnende, weil „ohne Griff und Gier der Selbstsucht" Seiende, kann für Nietzsche nur ein Heuchler sein, dem Mond vergleichbar, der zwar aschgrau und erstorben, aber nur umso lüsterner nach Erde und Sonnenlicht ist, weil er beides nicht offen, sondern heimlich begehrt. Dies ist nicht die „fremde Trunkenheit", aus der Zarathustra erwacht, sondern ein lüsterne Mondestrunkenheit 1 2 7 . Nietzsches Kritik meint hier nicht den wirklichen buddhistischen oder christlichen Heiligen, sondern die Form des Menschen, in der die Heilslehren geschichtliche Wirklichkeit geworden sind. Sie zielte dann auf die, die zu schwach für das Ideal des heiligen Lebenswandels dennoch in ihm eine Form ihrer Machtsteigerung zu erblicken wähnen. N u n können sie ihre Gier nicht zum Erlöschen bringen, ihr Asketentum bleibt immer an ihr „Schweinetum" gebunden, ist ein bloßes „Anti-Schwein" und keine Freiheit. Wirklich ist an ihnen nur die Lüge und die Lüsternheit. Früher sah Zarathustra „eines Gottes Seele" in den Spielen der Rein-Erkennenden. N u n aber wird ihm ihre reine Erkenntnis eine „empfindsame Heuchelei", Nietzsche will nicht solch „entmanntes Schielen" „Beschaulichkeit" nennen müssen. Also kennt er offenbar eine andere männliche Beschaulichkeit, die sich nicht für einen reinen Spiegel der Dinge hält, sondern die Gier anders losgeworden ist? Es wird darauf zurückzukommen sein. Nietzsches Ziel, Heiligung durch Wiedergewinnung der Unschuld in der Begierde zu erreichen, wäre für Buddha nach seiner Einsicht in die Wirklichkeit ein widersinniges. Auch wäre es wohl nicht im Sinne Buddhas, von „Verachtung des Irdischen" zu sprechen. Verachten schließt nach Nietzsche immer ein Achten ein, weshalb es nie verächtlich sein kann. Buddha aber verachtet weder das Irdische, — Verachtung wäre auch noch eine Bindung und nicht die schwächste —, noch achtet er es, sondern seine Achtsamkeit richtet sich 127
Der Mond kommt in diesem Stück trotz seiner voll erfaßten sinnlichen Schönheit merkwürdig schlecht weg: „Als gestern der Mond aufging, wähnte ich, daß er eine Sonne gebären wolle: so breit und trächtig lag er am Horizonte." Aber er ist „lüstern und eifersüchtig", „ein Kater auf den Dächern", der „um halbverschlossene Fenster schleicht". Ebenso geht der Geist der Rein-Erkennenden Schleich- und Lügenwege. Sie schleichen um die Erde, den Gegenstand ihrer Liebe, statt offen um sie zu werben. Solche Mondesliebschaft wird beendet durch N.s neue Morgenröte, bei der der Mond „bleich und ertappt" dasteht: „Denn schon kommt sie, die Glühende, - ihre Liebe zur Erde kommt! Unschuld und Schöpfer-Begier ist alle Sonnen-Liebe!"
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darauf, es nur insoweit zu beachten, als er es wahrnehmen muß, um sich von ihm zu entidentifizieren. Ansonsten läßt er es auf sich beruhen. Dies nicht, weil Irdisches Endliches ist, Endlichkeit aber Leiden bringt, sondern vor allem, weil es mit dem gefundenen „summum bonum", Nirvana, überhaupt nichts zu tun hat. Dennoch: auch Nietzsche will die Erde weder achten noch verachten, sondern lieben. Mit „Liebe" meint er immer einen ganz neuartigen „Bezug" zu den Dingen, der sich aus der ewigen Wiederkehr des Gleichen ergeben muß. Er will das Irdische anders empfinden. Hier dürfte die Differenz zu Buddha nicht sehr groß sein, der auch nicht „nach Göttern lüstern hinausschnüffelt", sondern selbst die Existenz der Götter auf sich beruhen läßt. Nietzsche erstrebt im Innersten eine „unbefleckte Erkenntnis", wie ihm Erkenntnis durchaus ein Kennzeichen der Heiligkeit 128 zu sein hat; gelangt er zu einer solchen, die nicht nur ihr innewendiges Gewürm zu verdecken versteht, sondern wirklich rein ist? Auch noch der Befreite des Geistes muß sich reinigen 129 , denn auch er ist allzumenschlich. Es bleibt zu beachten: Nietzsche lehrt die Lehre nicht selber, sondern dichtet einen Zarathustra, den er offenbar dazu nötig hatte — „Man hat nur, was man nötig hat" 130 — und der seinerseits zum Lehrer der ewigen Wiederkunft erst w e r d e n muß, worüber er von seinen Tieren aufgeklärt wird. „Glück" ist kein Lehrgegenstand, erst recht nicht das höchste, beglückendste und unheimlichste zugleich: das Glück, das in der ewigen Wiederkehr beschlossen liegt. Zarathustra sagt nirgends: „Ich lehre euch das Glück der ewigen Wiederkehr!" Wohl aber hält er eine Rede ans Volk auf dem Markt über das, was es besser und von Grund aus versteht und dem es vergnügt mit „unfreien Zwinkeraugen" 131 lauscht, nämlich über das Zerrbild des Glücks, das des letzten Menschen, so indirekt auf ein anderes verweisend, von dem gesagt werden könnte: „Aber mein Glück sollte das Dasein selber rechtfertigen!" 132
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M . A . I 1 4 4 : Nietzsche hebt hier von seinem „nach dem Durchschnitt der Gattung entworfenen" Heiligenbild durchaus Einzelne ab und nimmt sie aus, etwa Jesus selber. „Ebenfalls habe ich abgesehen von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: Die Erkenntnis . . . die Erhebung über die andern Menschen durch logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der christlichen Welt als Kennzeichen der Unheiligkeit abgelehnt und verketzert wurden."
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Z, V o m Baum am Berge: „Reinigen muß sich auch noch der Befreite des Geistes: Viel Gefängnis und Moder ist noch in ihm zurück . . .". K A W VIII, 3 - 1 8 (1) = W . z . M . 1040 / In G . d . M . II, 25 bezeichnet er Z. als einen „Stärkeren", als er selbst es ist. Z, V o n den drei Bösen. Z, Vorrede 3 / Das Stück über den letzten Menschen spricht f ü r sich selbst als eine immer noch bedrückend aktuelle Beschreibung gegenwärtigen Weltzustands. Der letzte Mensch kann sich nicht mehr selbst verachten, sein Bogen hat keinerlei Spannung mehr. Dabei ist er
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— Diese wesentliche Indirektheit des Glücks, die sich auch im Stil des „Zarathustra" spiegelt: „Gleichnisse sind alle Namen . . .: sie sprechen nicht aus, sie winken nur. Ein Tor, welcher von ihnen Wissen will." 1 3 3 , ist auch die fundierende Einsicht bei Heimito von Doderers Kategorie des „Hinzugegebenen", nur daß solches Sprechen doch noch im Bereich eines imaginären „ G e b e r s " sich aufhält, aus dem man nach Nietzsche herausmuß: „ N i e nehmen wollen, was nur hinzu gegeben werden kann. N i e suchen, was uns nur besuchen k a n n . " 1 3 4
Diese wahrhaft unzeitgemäße Lebensmaxime des indirekten Weges, das Empfinden dafür, daß das Wesentliche — gesetzt man glaubt überhaupt daran, daß es Wesentliches gibt — gerade verfehlt wird, wenn man es direkt anstrebt, fordert, vielleicht gar auf ein „Recht auf G l ü c k " pochend, ist ganz und gar nietzschisch 1 3 5 . Und so ist die zentrale Glücksstelle im „Zarathustra", das Kapitel „ M i t t a g s " , eben keine Rede Zarathustras, sondern die Schilderung eines außerordentlichen Zustands der Entrückung, der ihm widerfährt, als er allein in der Natur ist 1 3 6 . Deshalb auch trägt kein Kapitel die Überschrift „ V o m G l ü c k " o. ä., wie überhaupt in der Regel gerade die Stücke, die im Titel Bezug nehmen auf Glück, nicht die wichtigsten zum Thema bei Nietzsche sind. — Zarathustra macht zunächst den Fehler, viele, ja alle ohne Unterschied, das Volk auf dem Markt, mit dem Höchsten belehren zu wollen, das ihn dafür verspottet, wobei er noch von Glück sagen kann, daß sie gerade keine Lust haben, ihn umzubringen. Ist Nietzsches Philosophie nur ein geringes Fahrzeug wie der Hinayanabuddhismus oder ist sie ein Fahrzeug, das geräumig genug ist für alle (Mahayana)? Man muß sich durchaus darüber klar werden,
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aber klug genug, sich selbst zu durchschauen, wie er überhaupt der Gewitzte par excellence ist. So schauspielt er seine Zufriedenheit in seinem „erfundenen Glück", aber dieses Schauspielertum ist seine einzige Wirklichkeit. Ohne dies ist er nichts. Z, Von der schenkenden Tugend / Die schenkende Tugend heißt also „Winken", nicht „Propaganda machen". H, v. Doderer, Tangenten 1964, S. 594, Aufzeichnung vom 4. Juni 1948. Siehe auch: Z, Von alten und neuen Tafeln 5: „Genuß und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: beide wollen nicht gesucht sein. Man soll sie haben —, . . . " Z, Von der Seligkeit wider Willen: „ D a naht schon der Abend: die Sonne sinkt. Dahin mein Glück! — Also sprach Zarathustra. Und er wartete auf sein Unglück die ganze Nacht: aber er wartete umsonst. Die Nacht blieb hell und still, und das Glück selber kam ihm näher und näher. Gegen Morgen aber lachte Zarathustra zu seinem Herzen und sagte spöttisch: „das Glück läuft mir nach. Das kommt davon, daß ich nicht den Weibern nachlaufe. Das Glück aber ist ein Weib." Vgl. W. Struve; Der andere Zug, S. 184: „ .Transzendieren' kann man nur allein, nicht zu mehreren."
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daß ein solches zur Erlösung aller nötiges Uber-Floß, das alle behaglich und ohne große Anstrengung ans „andere Ufer" brächte, nicht existiert, weder in Philosophie noch in Religion, und daß solche realistische Einsicht nichts mit Menschenverachtung oder Elitedenken zu tun hat. Deshalb sagt Nietzsche und muß es Zarathustra lernen, daß man „den schlechten Geschmack durchaus von sich abtun müsse, mit vielen übereinstimmen zu wollen" 1 3 7 ; solche Ubereinstimmung wäre ohnehin selbst in belanglosen Dingen nur obenhin zu erzielen, gar nicht aber in denen, zu deren Beantwortung man erst ein Einzelner werden muß. Zarathustra ist ein Buch „ f ü r alle und keinen": für alle ist es, nicht insofern eine Gleichmacherei durch Bekehrung zum Ubermenschen betrieben werden soll, sondern insofern grundsätzlich jeder aufgerufen ist, seine Trägheit zu überwinden; und für keinen, insofern Nietzsche noch auf niemanden, einschließlich seiner selbst und Zarathustra, getroffen ist, der ganz und gar zum „Menschen", das meint aber, zum Ubermenschen geworden wäre. Auch weil der Gedanke der ewigen Wiederkehr eben nicht in dem Sinne eine Religion ist, daß er Gemeinde, Kultus und Bekehrung verlangte, sondern all das ausdrücklich ausschließt. „Glauben" genügt nicht. So sucht Zarathustra, sich Freunde und Gefährten zu erwerben, wohl wissend, daß die Ewigkeit ihn nur allein überfallen kann 1 3 8 . Im letzten Teil umgibt er sich ausschließlich nur noch mit „höheren Menschen", die sowohl ein Zeitpanorama ergeben als auch die innere Pluralität Nietzsches widerspiegeln. Er gibt allen seinen inneren Möglichkeiten ein Fest in Zarathustras Höhle, w o diese ihren Gastgeber unhöflicherweise in Versuchung führen zu seiner „letzten Sünde", nämlich zum Mitleid mit ihrem Glück 1 3 9 , w o sie ihm zeitweise die Luft zum Atmen nehmen, seine Gastfreundschaft schlecht belohnend. Dennoch duldet er sie mit boshafter Zärtlichkeit, die auch schon mal zum Stock greift — die Szene mit dem Zauberer! — um die Luft zu reinigen und zu erfrischen. Denn schlechte Luft herrscht bei den höheren Menschen, und Zarathustra hält es nicht lange bei ihnen aus: er entschlüpft ihnen ins Freie vor der Höhle 1 4 0 , was mit einer Erleichterung der Zurückgebliebenen quittiert wird, die Nietzsche unübertrefflich durch ihren Ausruf charakterisiert: „Er ist hinaus!". Sie fühlen sich sofort von dem unerträglichen Anspruch befreit, den Zarathustras Gegenwart für sie bedeutete; sie fallen sofort hinter ihre schon für Augenblicke er-
J . v . G . U . B . 43. 138 Vgl. ψ Struve, Der andere Zug, a.a.O., S. 184: „ E i n Leben in Geistigkeit heißt es in Einsamkeit f ü h r e n . Geist - nicht Intellekt — ist einsam." u n d : „ . . . bestimmende G r u n d situation des Menschen als des animal metaphysicum bleibt doch die Alleinheit, die innere wie die äußere." 139 „ D i e Axt aber, die Zarathustra darniederschlug — M i t l e i d e n hieß diese Axt, Mitleiden mit dem G l ü c k dieser höheren Menschen." K A W VII, 3 - 3 2 (14). 140 Z, Das Lied von der Schwermut. 137
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reichte Höhe zurück — wieder ein Platonisches Gestaltungsprinzip — und verfallen dem Geist der Schwere und der Schauspielerei des Zauberers. Lehren durch ein dauerhaft erzieltes Ergebnis rechtfertigen zu wollen, wäre von vornherein illusionistisch und unredlich. In diesem vierten Teil, den man auch als ein Buch über das Glück lesen kann, in dem es darum geht, Glück und Unglück der höheren Menschen als das solcher, die auf einen höchsten, ganz andersartigen Glückszustand angelegt sind, durch eben diesen zu erlösen, auf den indirekt hingewiesen wird, ist Zarathustra kein Lehrer mehr, sondern eine beispielhafte Gestalt, die durch ihr Dasein mehr noch als durch ihr Tun und Reden wohltuend wirkt 1 4 1 . Es war eine „Einsiedler-Torheit" 142 , sich auf den Markt zu stellen; wer zu allen redet, redet zu keinem. Nicht: „wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen", sondern: „wer alles allen bringen will, bringt keinem etwas". „Auf dem Markt glaubt niemand an höhere Menschen." 1 4 2 Die Vielen sind Nivellierer, für sie besteht keine Rangordnung; ihre — wohl auch heute noch insgeheim herrschende — Uberzeugung ist die, daß man doch allesamt, mit Schopenhauer zu reden, zu der gleichen Art „rücksichtsvoller Lumpe" gehört. „Der Pöbel aber blinzelt: „wir sind alle gleich"." 142
Der „Pöbel-Mischmasch", womit Nietzsche natürlich keine soziale Klasse meint, sondern den Pöbel als geistige Verfassung, zehrt mit diesem seinem Glauben noch von der Theologie, dem letzten Menschen ist Gott gestorben, ohne daß er sich bemüßigt sieht, es zur Kenntnis zu nehmen. Er merkt es nicht und will es nicht merken. So kann alles seinen gemütlichen Alltags-TiktakGang 1 4 3 weiter gehen. Nietzsche will, wo er solche „Uhren" findet, sie mit seinem Spotte aufziehen, und sie sollen ihm dabei noch schnurren. Nur vor Gott wären alle Menschen gleich. Wenn Gott tot ist, so muß Nietzsches Gerechtigkeit gerade reden: die Menschen sind n i c h t gleich. „Ihr Prediger der Gleichheit, der Tyrannen-Wahnsinn der Ohnmacht schreit also aus euch nach „Gleichheit": eure heimlichsten Tyrannen-Gelüste vermummen sich also in Tugend-Worte!" 1 4 4
Aber der letzte Mensch, unaustilgbar wie der Erdfloh, beharrt auf seiner Meinung. Dieses Beharren erst ist seine metaphysische Möglichkeit. Auf die Frage: „Wie ist der letzte Mensch a priori möglich?" wäre zu antworten: „Da-
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Der vierte Teil war bekanntlich nicht als ein letzter, abschließender Teil geplant. Das hängt wieder mit der wesentlichen Unabschließbarkeit seiner Symbolketten zusammen. Der „Zarathustra" ist ins Spätwerk hinein offen. Z, Vom höheren Menschen. Z, Von den Tugendhaften. Z, Von den Taranteln.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
durch, daß der primär metaphysisch angelegte Mensch degenerieren kann, indem er sich auf sich selbst versteift und beharrt, sich gar nicht aus seinem Sitz und Stand bringen läßt, alle dionysische Fähigkeit zur Verwandlung verliert." Der letzte Mensch besiegt den Geist allein schon durch sein einfaches Dauern, nach Doderer ist dies auch die eigentliche Antwort der Dummheit auf jede Intelligenz 1 4 5 und macht ihre „Überlegenheit" aus. Die von ihm verwendete Anrede verrät, daß der letzte Mensch es durchaus besser weiß, seine Trägheit ist jedoch stärker als seine Einsicht. Aber seine Klugheit reicht aus, um ihm ein schlechtes Gewissen zu bereiten; so wird er rachsüchtig, um sich schadlos zu halten. Er wird „Tarantel", friedlich, wo er auf seinesgleichen trifft, giftig, wo er Unterschiede wittert. Zarathustra als Lehrer hätte den letzten Menschen aus seiner Bequemlichkeit, von der er verlangt, daß man sie „ T u g e n d " heiße, aufzuschrecken, die Aufgeklärten unter ihnen, die Atheisten, hätte er eine Vertiefung ihres Unglaubens zu lehren. Aber er ist letztlich unheilbar, und am Unheilbaren soll man nicht Arzt sein wollen. Was ist also mit den letzten Menschen anzufangen? Soll man sie zwingen, bekriegen? Es ist eine tiefe Weisheit, die aus Zarathustras der Macht entstammenden Milde entspringt, daß er nicht selber zum Richter über sie wird und zur Tarantel. „ W o man nicht mehr lieben kann, da soll man — v o r ü b e r g e h e n ! " 1 4 6
Der Mystiker würde sagen, man muß die letzten Menschen „lassen". Es sind gute Leute, aber „von innen sind sie E s e l " 1 4 7 , so Meister Eckbarts Meinung. Es bedarf für Nietzsche einer unmäßigen Kraft, an der Vorstellung, daß der eklige kleine Mensch immer wiederkehrt, nicht zugrunde zu gehen, ja daraus sogar sein Glück zu saugen. Man darf nur die lehren, die insofern gutartig sind, als sie von sich selbst her schon auf den Inhalt der Lehre hin angelegt sind, aber eines Anstoßes bedürfen. Es ist wiederum Buddhas Einsicht, daß einige unheilbar sind, andere von selbst den Weg finden, und daß nur an die dazwischen sich mit Lehre zu wenden Sinn hat. So wendet sich Zarathustra an den höheren Menschen als an den, der sich noch gegen die sich aus dem Tode Gottes ergebende „verkleinernde T u g e n d " wehrt, dessen Verachtung seiner selbst so groß ist, daß er ein Meer brauchte, um sich darin zu ertränken, ohne etwas zu beschmutzen. Daß es ein solches Meer nicht zu geben scheint, in dem er sich selbst loswerden
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Commentarii, 28. Januar 1951 / „Dummheit" würde hier bei Doderer „Geistlosigkeit" meinen, „Apperzeptionsverweigerung", „Intelligenz" das, was früher hier „Geist" genannt wurde, nicht etwa die Klugheit des letzten Menschen. Z, Vom Vorübergehen. Beati pauperes spiritu.
Ausblick auf den Zarathustra
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könnte, ist seine Tragik. Diese befähigt ihn überhaupt erst, Zarathustras Schüler zu werden. Er hält es nicht aus in der Art „höheren Wurschtigkeit", wie sie Nietzsche vor allem in seinem eigenen Erfahrungsbereich, den Universitäten und der Welt der Gelehrten und Gebildeten, ausmachte. Zarathustra kann ihnen nur „winken", nicht sie „führen", denn: „Das — ist nun mein Weg, — wo ist der eure?" so antwortete ich denen, welche mich „nach dem Wege fragten". D e n Weg nämlich, den gibt es n i c h t ! " 1 4 8
Sein Wink lautet: „Überwindet mir, ihr höheren Menschen, die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das „Glück der meisten" — ! " 1 4 9
Warum aber bleibt Zarathustra nicht in seiner Einsamkeit? Warum macht er sich mit den höheren Menschen gemein —, allerdings so, daß er sie zu Zeiten gehörig erschreckt? Zum Beispiel in der Szene mit dem Löwen 1 5 0 , die andeutet, daß es ihm gelungen ist, die Stufe des Löwen aus seiner ersten Rede, das „Ich will", zu überwinden und zu zähmen. Aber diese beiden Löwen sind nicht ganz deckungsgleich. Der erste ist eine Metapher, der zweite ein Symbol für die Zarathustra gelungene Versöhnung mit der Natur und „Höheres als alle Versöhnung" 151 ; darüberhinaus ist es wieder ein Verweis auf den Bereich von Legende und Einsiedler. Von einem Heiligen gilt immer: „Denn alle Tiere liebten ihn." 1 5 2 Ist Zarathustra also ein „Wüstenheiliger", der zur ewigen Wiederkehr des Gleichen bekehren will? Die Frage kehrt zurück. Nietzsche hat immer den Typus des Zarathustra bewußt in die Nähe der alten Religionsstifter gerückt, allerdings so, daß M. Kaempfert153 in seinem Kapitel „ „Also sprach Zarathustra" als religiöses Werk" sagen kann, Nietzsches Äußerungen darüber geschähen in einer Weise, daß sie — ohnehin spärlich — „vielleicht nie ganz ernst gemeint" seien. Solche Vermutungen verkennen jedoch das eigentümliche Ineinander von Scherz und Ernst bei Nietzsche, verkennen, daß solche „secretissima" zugleich auch immer ein „pudendum" sind 154 , verkennen, daß sein Ernst gerade da hervortritt, wo er 148 149 150
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Z, Vom Geist der Schwere. Z, Vom höheren Menschen. Z, Das Zeichen / Diese Szene möglicherweise angeregt durch Carpaccios „Ciclo di San Giorgio degli schiavoni, San Gerolamo e ie leone nel convento" in Venedig, der von Nietzsche so geliebten Stadt, Scuola di San Giorgio: Mönche fliehen in panischer Angst vor dem Löwen in Begleitung des Heiligen. Z, Von der Erlösung. Z, Außer Dienst. A.a.O. Brief an Gersdorff, 18. September 1871: „Wie vieles darf man nicht aussprechen! Und gerade religiöse und philosophische Grundanschauungen gehören zu den pudendis. Es sind die
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ein hintergründiges Spiel treibt. Dabei macht Nietzsche keine Witze, so witzig auch seine Formulierungen sein können, vielmehr zeigt sein Stil unmittelbar, was es heißt, den Geist der Schwere zu bekämpfen. Zarathustra will niemanden bekehren: Nietzsche schreibt bereits ziemlich früh, im Frühling 1870, an seinen Freund Deussen: „ D i e geistige Einsiedelei u n d gelegentlich ein G e s p r ä c h m i t G l e i c h g e s i n n t e n sind u n s e r L o s : w i r b r a u c h e n m e h r als a n d e r e W e s e n die T r ö s t u n g e n d e r K u n s t . A u c h w o l l e n w i r n i e m a n d e n b e k e h r e n , w e i l w i r die K l u f t e m p f i n d e n als e i n e v o n der Natur gesetzte."
Zarathustra will nicht als ein müder Unbedingter die Kluft zu überbrücken trachten. Das „Brückenschlagen", das noch dem Kant der „Kritik der Urteilskraft" so wichtig war, ist für Nietzsche kein Feld der Philosophie mehr. Aber er will hinüberrufen, wissend um die Chance, daß es zu einer Einigung mit dem Hörenden kommen kann, von der W. Struve155 sagt: „ B e t r e f f s d e r w e s e n t l i c h s t e n D i n g e ist eine K o m m u n i k a t i o n w e d e r m ö g l i c h n o c h n ö t i g . N i c h t m ö g l i c h , w e i l sie nicht m i t t e i l b a r s i n d ; n i c h t n ö t i g , w e i l d i e , die i h r e r i n n e s i n d , u n v e r g l e i c h l i c h m e h r u n d t i e f e r geeint s i n d , als es d u r c h i r g e n d w e l c h e K o m m u n i k a t i o n je g e s c h e h e n k ö n n t e . "
Der „Zarathustra" ist ein Spiel der Anspielungen aufs Legendenhafte, Religiöse im weitesten Sinne. Allerdings hat Nietzsche nicht im Ernst geglaubt, eine neue Bibel zu schreiben, auch keine „für Ausnahmemenschen", als welche sein Bewunderer Peter Gast den „Zarathustra" bezeichnete. Auch hielt er seinen Zarathustra nicht für einen alten Religionsstifter im neuen Gewand. Deren geschichtliche Zeit ist unwiederholbar vorbei. Aber das Religiöse ist nicht an eine bestimmte geschichtliche Erscheinungsform gebunden. Es gibt für Nietzsche „Buddhas in Griechenland"156. Es muß zu denken geben, wenn Kaempfert an anderer Stelle, im Kapitel „Mystisches Erlebnis", eine Darstellung des Problems des Mystischen bei Nietzsche zu einem dringenden Desiderat der Nietzsche-Literatur erklärt und sagt: „Daß Nietzsche „die Brücke zur Mystik überschritten" hat, daran kann,
Wurzeln unseres Denkens und Wollens: deshalb sollen sie nicht ans grelle Licht gezogen werden. —" iss w i r U nd Es, a.a.O., S. 95 (letzter Aphorismus des Buches). 1 5 6 Eine mehr kuriose Stelle aus dem Nachlaß, die aber doch mitgeteilt sein soll, da sie viel Literatur, z . B . über Nietzsches Verhältnis zu seiner „unheilvollen Schwester" (Schlechta), überflüssig macht, lautet: „— P h i l o s o p h Pyrrho, der mildeste und geduldigste Mensch, der je unter Griechen gelebt hat, ein Buddhist obschon Grieche, ein Buddha selbst, wurde ein einziges Mal außer Rand und Band gebracht, durch wen? — durch seine Schwester, mit der er zusammenlebte: sie war Hebamme. Seitdem fürchteten sich am Allermeisten die Philosophen v o r der Schwester — die Schwester! Schwester! s' klingt so fürchterlich! — u n d vor der Hebamme! . . . (Ursprung des Zollibats)".
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nach Sichtung des Materials, kein Zweifel bestehen;" 157 . Die vorliegende Arbeit hat sich der Aufgabe, dieses „Stigma auf allen seinen Gedanken" 1 5 8 aufzuzeigen, wohl hin und wieder angenommen. Es ist nun nicht ganz zu verstehen, wie Kaempfert bei solcher Klarsicht in die Bedeutung des Mystischen dennoch nicht glauben mag, daß Nietzsche „Also sprach Zarathustra" im Ernst für ein religiöses Buch gehalten habe, es sei denn, er setze Religion ausschließlich mit konventioneller Religion gleich. Entscheidendes hinge auch von der Beantwortung der Frage ab, ob „Mystik" bei Nietzsche ausschließlich auf „Welttiefe" bezogen ist oder was er eigentlich mit „Welt" meint; diese Welttiefe hebt Kaempferts Interpretation der Mittagsstücke vorzüglich als „mystische Züge" hervor. Und wenn er Nietzsche am Schluß seines Buches als „religioid" bezeichnet, so ist das doch nur eine hilflose Wendung. Zarathustra verwirklicht Religion in ganz anderem Sinne, sie ist in keiner Weise mehr Rückbindung an ein Schöpferprinzip, an einen wie immer gearteten transzendenten Ursprung der Welt, sondern sie ist das paradoxe Gefühl einer „Ewigkeit der Welt" trotz und gerade wegen ihrer Vergänglichkeit, ist schließlich Öffnung in Richtung der so Nietzschischen Steigerung: „hinauf, hinaus, h i n w e g " 1 5 9 .
Das heißt, es verlangte Nietzsche zunächst hinauf zum Idealismus, dann aus ihm hinaus zur dionysischen Ekstasis und schließlich auch von dieser hinweg. Diesen Zug zum „Ganz-weg-von-allem" könnte man als einen zur „absoluten Transzendenz" in geschildertem Sinne auffassen. Ist es bloß eine Sehnsucht, letztlich unerlaubt, weil aus der Schwäche stammende Wünschbarkeit, oder ist sie Mächtigkeit, Wille zur Macht, der sich als ewig erfährt? Das ist eine Grundfrage zur Einschätzung Nietzsches, an der sich immer die Geister scheiden werden. Meint Nietzsche mit der Stufe der dritten Verwandlung, dem „Ich bin", die nach Vorhergang der Anatta-einsicht gewonnene Unversehrbarkeit des Nirvana? Hier ist nichts vorschnell gleichzusetzen, sondern es müssen vor allem Sichtweisen gewonnen werden. Im Nachlaß der Zarathustrazeit schreibt Nietzsche:
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a.a.O., S. 294. XII, 259, 116 = KAW VII, 1 - 3 (1), hier Teil eines „Sentenzen-Buches" mit mehreren geplanten Titeln, z.B.: „Schweigsame Reden", das 445 durchgehend numerierte Sentenzen enthält, bisher verstreut abgedruckt: „Wessen Gedanke nur Ein Mal die Brücke zur Mystik überschritten hat, kommt nicht davon ohne ein Stigma auf allen seinen Gedanken." (Sommer-Herbst 1882). Z, Von der Menschenklugheit: „Ach, ich ward dieser Höchsten und Besten müde: aus ihrer „Höhe" verlangte mich hinauf, hinaus, hinweg zum Ubermenschen!"
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
„Die Religion will die Menschen fröhlich machen und an Stelle des „du sollst" ein „ich muß" setzen: sie will von der Menschen-Unmöglichkeit in der Moral befreien." 1 6 0
Das Absolute nicht als Forderung, sondern als Nötigung, als Notwendigkeit, als alles durchherrschende machtvolle Gerechtigkeit, zu der das einzig zulässige „Verhältnis" ist: amor fati, das ist der „Inhalt" von Nietzsches Religion. Es kommt bei der Religion darauf an, ob man zu ihr aufsieht, oder auf sie herabsieht, allerdings in einem sehr spezifischen Sinn: ob die Transzendenz so hoch, das heißt so mächtig wird, daß sie auf Gott und Religion herunterblicken lernt: „ E r s c h w e r u n g als E r l e i c h t e r u n g und umgekehrt. — Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennengelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: So hat zum Beispiel die Religion ein Doppelgesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufblickt, um von ihr sich seine Last und Not abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht: wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige." 161
3.2.2.2. Glück, Wille zur Macht und Mystik Der Begriff des Willens zur Macht wird beachtenswerterweise nicht in einer Schrift der ausgesprochenen „Freigeisterei" gewonnen, sondern in dem soeben als religiös bezeichneten Buch „Also sprach Zarathustra", und zwar an drei Stellen explizit: 1 „Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke. Siehe, es ist seiner Überwindungen Tafel; siehe, es ist die Stimme seines Willens zur Macht."162
So leitet sich der Begriff offenbar aus Politik und Moral ab? Man darf nicht vorschnell urteilen. Wenn man den Willen zur Macht nicht mystisch nennen will, so wäre er aber immer noch weit entfernt davon, einen Leitfaden für Völkerpsychologie und politischen Wahn abzugeben; er bliebe als ein Wort über das Sein im Ganzen ein metaphysischer Begriff, eine „Spekulation", eine „Erhebung ohne Phantasterei". Nietzsche will auf einer Ebene durchaus, daß man ihn mißversteht; es ist dies der beste Schutz für Gedanken. Sieht man näher zu, so wird klar, daß es in diesem ganzen Kapitel um den zentralen Zusammenhang von „Schätzen", „Wert" und „Schaffen" geht, so den Willen zur Macht von vornherein ganz spezifisch einfärbend. 160
161
K A W VII, 1 - 4 (64).
M.A.I, 280.
162
Z, Von tausend und Einem Ziele.
Ausblick auf den Zarathustra
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2 „ W o ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht·, und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu s e i n . " 1 6 3
Dies die zentrale, immer angeführte Stelle. Der Sinnkreis des Willens zur Macht wird hier umschrieben durch die Leitbegriffe „Wille zur Wahrheit", „ L e b e n " , „Selbstüberwindung" und wieder „Schätzen": „ N u r , w o Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille z u m Leben, sondern — s o lehre ich's dich — Wille zur Macht\ „Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet — der Wille zur Macht!"163 3 „ H ö h e r e s als alle Versöhnung muß der Wille wollen, welcher der Wille zur Macht ist —: doch wie geschieht ihm das? Wer lehrte ihn auch noch das Zurückwollen?"164
Dies die dritte Einführung — im Umkreis des Problems der Erlösung. Nach diesen Worten hält Zarathustra „plötzlich inne" und sieht „ganz einem solchen gleich, der auf das äußerste erschrickt". „Aber nach einer kleinen Weile lachte er schon wieder" . . . D a s Plötzliche, die kleine Weile und das äußerste Erschrecken verweisen auf einen Durchbruch durch die Zeit, denn wer ist der Lehrer, der den Willen zur Macht seine Rache vergessen lehrt und ihn zum Schaffenden macht? Dies kann nur als ein Verweis auf die Ewige Wiederkunft gemeint sein, die ja aber erst im nächsten, dem dritten Buch, ins Thema kommt, von dort aus aber auf alles ausstrahlt. Der Wille zur Macht ist also der Schüler der Ewigkeit. Das „Ich m u ß " ist das des Ubermächtigen, Schaffenden. Das meint, in Nietzsches Welt muß Religion eine Erscheinungsform des Willens zur Macht sein, weil es nichts außer ihm gibt. Entweder muß dann dieser vom „mystischen Zustand" als höchster Machtäußerung her zu fassen sein, oder es gibt Religion nur als metaphysik- und gottgebärende Rache, als bloßen Schein, dem der Wille zur Macht in der Form der Ohnmacht, des dekadenten Lebens, verfällt, das sich vermittels der Aufgabe, seine Wunde durch Religion zu heilen oder besser, bloß zu pflegen, mühsam, aber in gewisser Weise „glücklich" am Leben erhält, sich der Lust des Philosophen, des Künstlers, des Priesters und Asketen hingebend, wie es in der „Genealogie der M o r a l " aufgewiesen wird. Die Belege weisen eindeutig darauf hin, was Nietzsches Meinung bei diesem Entweder-Oder ist: der Wille zur Macht als „Affekt des Kommand o s " 1 6 5 , der als Wollen schon immer als solcher befreit 1 6 6 , kann nicht anders, 163 164 165 166
Z, Von der Z, Von der J.v. G.u.B. Z, Auf den Freiheit."
Selbstüberwindung. Erlösung. 19. glückseligen Inseln: „.Wollen befreit': das ist die wahre Lehre von Wille und
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
als sich als Freiheit zur höchsten Machstufe zu steigern, also zu jenem mystischen Zustand, der ein Bild des „Hinweg-Seins" ist. Wo diese Richtung verfehlt wird, der Wille zur Macht nicht diesen „Weg der Größe" 167 geht, auf dem ihm die ewige Wiederkehr des Gleichen begegnet — und „Größe" heißt eben für Nietzsche: „Richtung geben" 168 —, da erfolgt die Steigerung, ohne die Leben als Wille zur Macht überhaupt nicht zu denken ist, als Steigerung der verfehlten Macht, der Schwäche, der Dekadenz. Solcher Wille zur Macht in der Form der Ohnmacht würde dann erst all das entfalten, weil er es nötig hat, was man gemeinhin mit „Macht" identifiziert, nämlich Gewalt, Tyrannei und alle die bekannten Formen der Herrschaft über andere. Diesen Assoziationen verdankt die suggestive Formulierung Nietzsches ja ihre Breitenwirkung. Der andere, gesunde, aufsteigende Wille zur Macht würde zunehmend gerechter, freier, milder, das aber heißt eben: mächtiger. Er wäre die Fülle und der andere bloß die Sehnsucht, übrigens wieder ein Hinweis, daß Sehnsucht und Hoffnung sowie Utopie Fehlformen der Macht und unmystisch sind. Aber wenn solche Steigerung des Willens zur Macht lediglich als Selbststeigerung gedacht wäre, keinerlei Transzendenz und Umwandlung mit hereinkäme, so bliebe offenbar alles eine Art „höherer Schwindel". Ich kann meine Zustände, durch Rauschgift oder andere Mittel, noch so steigern, ich bleibe immer ich. Es muß ein Punkt kommen, wo der Wille zur Macht zum absoluten Erleider wird: in der Tat bestimmt Nietzsche ihn auch als ein Pathos 169 . Auf der Stufe der „Geburt der Tragödie" erlitt der Wille zur Macht dionysische Entzückungen, jetzt erleidet er die ewige Wiederkehr und ist auf sie angelegt. Seine Freiheit ist, sie zu „ergreifen" oder sie zu versäumen. Was „will" aber der aufsteigende, mächtige Wille zur Macht? Anders gefragt: wie wird er seinen Willen los? Erlösung durch Verneinung des Willens zum Leben ist für Nietzsche kein Weg (Schopenhauer, „Buddhismus"); schon deshalb nicht, weil es diesen Willen zum Leben gar nicht gibt (s. Zitat 163). Das „ich will" als „unmittelbare Gewißheit" ist zudem bloß ein „Aberglaube Schopenhauers" 170 . Wie will also der Wille zur Macht? Er will nicht etwas, das außer ihm läge, er will auch nichts, was in ihm wäre, er will auch nicht sich selber in der Form, daß er sich begehrte — begehren als „lüstern" sein nach etwas, das man nicht hat, kommt dem Willen zur Macht nur in der Form der Ohnmacht zu.
167
Z, Der Wanderer.
168
M.A.I 521.
169
KAW VIII, 3—14 (79): „der Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Tatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergibt . . . " = W . z . M . 634 (!) und W . z . M . 635 (!). J . v . G . u . B . , Von den Vorurteilen der Philosophen 16.
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Gesetzt, Wille sei tatsächlich ein Affekt des Kommandos, woraus erhellt, daß, wenn Nietzsche sagt: „Alle Lust will Ewigkeit", er nicht meinen kann, sie ersehnt und begehrt sie, sondern eben, so paradox es scheinen mag, sie „kommandiert" sie, „hat" sie, ist von ihr spontan angenommen und bewegt sich in ihr, und wenn weiter gilt, daß „Wollen befreit", so muß jede Vorstellung auch nach Analogie eines Zwanges und einer Gewalt ausgeschlossen werden. „Wollen" im üblichen Sinn als „etwas wollen" ist immer eine Äußerung des dekadenten Willens zur Macht, der nicht auf seine Höhe gelangt; für ihn gilt, daß er „lieber noch das N i c h t s will, als nicht will" 1 7 1 . Für den zu sich selbst befreiten Willen zur Macht gilt die ganze Intentionalität des gewöhnlichen Wollens nicht mehr, er „heiligt" sich so, er wird ein Ordnungsgefüge, das überhaupt nur da befehlen kann, wo Nichtgehorchen zum ganz und gar Unmöglichen gehörte, wo befehlen und gehorchen so eng „verkettet, verfädelt, verliebt" 172 sind, daß ,,a priori" gehorcht werden muß, wo es nicht Subjekt und Objekt gibt, wo ununterscheidbare untrennbare Einheit ist. Ein solcher Befehl ist immer schon im Voraus befolgt, ein solches Gehorchen — alles Lebendige ist für Nietzsche ein Gehorchendes, da es worauf hören muß, unter einem Diktat stehen muß — hat sich immer schon selbst befohlen. Von solchem Willen zur Macht, der unter dem „Diktat" der Freiheit steht und der daher Nietzsche oft geradezu zum Synonym für Freiheit 173 wird, kann gesagt werden: „ O Wille, Wende aller N o t , du m e i n e Notwendigkeit. . . . D u Schickung meiner Seele, die ich Schicksal heiße! D u In-mir! Uber-
mir!" 174
Er wird identisch mit amor fati, er „will" sich selber als eine Ursache des Fatum, er will sich als Notwendigkeit. So wird er in die Ordnung der ewigen Wiederkehr des Gleichen versetzt, total verwandelt. Man findet oft diese beiden „Prinzipien" als einander widersprechend aufgefaßt: der geradlinig auf Steigerung bedachte Wille zur Macht und das Kreisen der ewigen Wiederkunft. Aber solches Vorstellen verbleibt letztlich im Bereich der Erfahrung vom Verhalten ontischer Kräfte. Diese Gedanken können sich nicht widersprechen, weil es sich um zwei „Dinge" völlig verschiedenen Ranges handelt — widersprechen kann sich immer nur Gleichartiges —; Wille zur Macht und ewige Wiederkehr verlaufen so lange unberührt und voneinander unberührbar nebeneinanderher, wie zwei Parallelen sich niemals treffen, solange
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Schluß der G . d . M . Z, Das Zeichen 10. „jener Instinkt der F r e i h e i t (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht)" — G . d . M . II 18. Z, Von alten und neuen Tafeln 30.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
der Wille zur Macht nicht auf Ewigkeit stößt, sie fallen aber zusammen, wenn ihm seine letzte Aufgipfelung gelingt: „in der V e r n i c h t u n g auch des s c h ö n s t e n S c h e i n s k o m m t das d i o n y s i s c h e G l ü c k auf seinen G i p f e l . " 1 7 5 notiert sich Nietzsche nach der Entstehung des „Zarathustra", sich so des Zusammenhangs mit dem Glück der „Geburt der Tragödie" vergewissernd. Der Wille zur Macht hat sich die ewige Wiederkunft einverleibt. Zarathustra wird ein „Verwandelter", ein „Umleuchteter". Der dekadente Wille zur Macht mündet in den Nihilismus der Schwäche, den passiven Nihilismus, und hat mit dem aktiven der Stärke gar nichts mehr zu tun, ist nicht einmal dessen Gegensatz. Nach der Herkunft dieser wesensmäßigen Zweiteilung im Grunde des Willens zur Macht fragt Nietzsche ebensowenig wie Buddha nach dem Ursprung und Ende der Welt: schon Dionysos war als Gott des Zwiespalts bestimmt. „ D a ß z u r B e r u h i g u n g d e s G e m ü t s die L ö s u n g d e r l e t z t e n u n d ä u ß e r s t e n t h e o r e tischen Fragen gar nicht nötig sei"176,
ist für Nietzsche „jene wundervolle Einsicht", die nach ihm Epikur hatte — es wäre noch naheliegender, sie Buddha nachzurühmen — und die „heutzutage immer noch so selten zu finden ist" 1 7 6 . Aber wollte Nietzsche überhaupt zuletzt eine solche Beruhigung? Wahrscheinlich war auch seine Seligkeit wie die Zarathustras eine „Seligkeit wider Willen", waren seine letzten Impulse nicht unbedingt die, die er in den Vordergrund seiner philosophischen Reflexion stellte und die er deren Helle aussetzte. Das Leben muß vieles nicht wissen wollen, eine Weisheit, die der Wissenschaft abhanden kam. Auch weiß diese vor allem eines nicht, nämlich warum sie überhaupt herrscht. Nihilismus der Stärke müßte aus seinem Glück heraus ihre Herrschaft in Frage stellen, ihr einen Wert erst zumessend, den sie bis dahin nur usurpiert. Es ist also eine tiefe, letztlich unheilbare Dualität im Grunde des Lebens, im Willen zur Macht, angelegt. Nach ihrer Vereinigung und Versöhnung ist nicht zu suchen. Heilung für das Leben gibt es nur dort, wo es sich ganz und gar auf die Seite der „ewigen Lebendigkeit" 177 des Lebens schlägt und sich der ewigen Wiederkehr des Gleichen überläßt. Dualität aber ist wieder ein Hinweis auf Mystik: Rudolf Otto nennt Meister Eckhart einen „schroffen Dualisten". Dem „Zweck", einen Anstoß zu geben zur Wahrnehmung dieser Dualität, dient alles Lehren Zarathustras, das in diesem Sinn „befreien" will. Wirklich 175 176 177
K A W VIII, 1 - 2 (110). M . A . I I , W . u . S . 7. M . A . II 4 0 8 : „ A u f die e w i g e L e b e n d i g k e i t aber kommt es an. Was ist am „ewigen L e b e n " und überhaupt am Leben gelegen!"
Ausblick auf den Zarathustra
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anstößig für die Natur ist aber nur das Religiöse. Noch einmal: warum will Zarathustra das? Eine Nachlaßnotiz deutet an, daß seine Lehrerleidenschaft doch nicht gar zu groß gewesen sein kann: Zarathustra lobt dort nämlich den Einsiedler, daß er nicht sein Schüler wurde 178 . Eine Antwort zeigt sich vielleicht von der erwähnten Machtauffassung her: wahre Macht strahlt aus und erfaßt, entfaltet eine Mächtigkeit ganz unwillkürlich — man denke an die gemein indische Auffassung, wonach jeder Asket Segen auf die Erde herabzieht, auf Wegen, die man nicht kennt. Die Fülle kann nicht anders als sich mitzuteilen. „Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchsten Werte? Darum daß es ungemein ist und unnützlich und leuchtend und mild im Glänze; es schenkt sich i m m e r . " 1 7 9
Diese schenkende Tugend ist die wichtigste in Zarathustras Welt. Sie ist auch der Sonne eigen, die er am Beginn der Vorrede mit den Worten anredet: „ D u großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest!"
Hierbei ist noch wichtiger als die Abhängigkeit auch des Großen vom Kleinen der Aspekt des Uberreichen und des Uberfließens, das im Bilde der Sonne als eines überreichen Gestirns mitbeschlossen liegt. Man denke an das Bild eines überfließenden Gefäßes für die Emanation bei Plotin. Ähnlich wie Meister Eckhart, der von sich bekennt, daß er, wäre niemand zugegen gewesen, seine Predigt dem Opferstock hätte halten müssen 180 , will Zarathustra aus Überfluß und übergroßem Reichtum „untergehen", er kennt das „Glück des Nehmens" nicht und auch nicht das des „Für-sich-behaltens", weil ein übermächtiges „Muß" ihm keine Wahl läßt. Er hofft, ein Auge zu finden, das wie die Sonne „ohne Neid auch ein allzugroßes Glück sehen kann" 1 8 1 . Aber gerade durch sein Glück wird Zarathustra den Menschen verdächtig und unheimlich. Sie haben am liebsten Leidende und „Trauersäcke" um sich, die sie nicht beneiden müssen, sondern die sie bemitleiden und an denen sie ihre Macht durch Aufmunterung auslassen können. In dem Maße jedoch, wie ihre Macht wächst, wächst auch ihnen das begleitende Gefühl des Glücks, wächst ihre Einsicht in dies Glück, zu der es nur kommen kann durch inneren Ubertritt auf seine Seite, niemals durch Kritik oder Partei nehmen für oder gegen. Dann schwindet auch der Neid, dieser stärkste Affekt des Menschen, wie Piaton meinte. Spielt auch jenes andere bedeutsame Gefäß der Mystik bei Zarathustra eine Rolle, jener Becher, mit dessen Hilfe Meister Eckhart im „Buch der gött178
KAW VII, 1 - 4 (167).
180
Dies eigentlich, verglichen mit Buddha, den es nie übermäßig zur Lehre drängte, sondern den man drängen mußte, ein „professoraler" Zug an Meister Eckhart? Z, Vorrede 1.
181
Z, Von der schenkenden Tugend.
Nietzsche als Erzieher zum Glück?
136
liehen Tröstung" „absolute Transzendenz" so bestechend verbildlicht? Wenn es gelänge, heißt es dort, einen Becher völlig zu leeren, so ergösse sich nicht etwa die Gottheit in ihn, wie man wohl erwarten würde, sondern er würde augenblicklich emporgerissen. Wäre er weggerissen,
„hinweg" im Sinne
Nietzsches? Gelingt es Zarathustra, sich in diesem Sinne ganz zu leeren? A m Schluß der Vorrede heißt es: „Segne den Becher, welcher überfließen will, daß das Wasser golden aus ihm fließe und überallhin den Abglanz seiner W o n n e trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch w e r d e n . " Also begann Zarathustras U n t e r g a n g . "
Dieses „Leerwerden" ist ein anderes als bei Meister Untergang Zarathustras ist nur ein U m w e g
182
Eckhart,
aber dieser
zu einem Ubergang, es gibt
andere Stellen, die ein solches Gefühl des Emporgerissenwerdens in nicht mehr zu steigernder Weise ausdrücken. Zarathustra bekennt im Kapitel „Von der Menschen-Klugheit": „. . . mit Ketten binde ich mich an den Menschen, weil es mich hinaufreißt Übermenschen: . . ."
zum
(Hervorhebung v o m Verf.)
und wenig später: „ A c h , wenn ich auf der H u t wäre vor den Menschen: wie könnte meinem Balle der Mensch ein A n k e r sein! Zu leicht risse es mich hinauf und h i n w e g ! " 1 8 3
Ein Gehoben-Gezogen-Genssenwerden
zieht sich durch Nietzsches sämtliche
Schriften, besonders aber durch den „Zarathustra". In dem hier zuletzt heraufgerufenen Bild des Ballonfahrers ist ein Bezug zur Symbolik des Fliegens überhaupt und des Vogels bei Nietzsche angelegt 1 8 4 . Ganz stark spricht sich
182
183
184
„Ein Umweg" lautet ein Romantitel Doderers\ aus schon angedeuteten Gründen der Notwendigkeit der Indirektheit könnten alle seine Romane so heißen, insofern solcher Umweg, wie ihn hier auch Zarathustra macht, der direkteste Weg zur „Menschwerdung" ist: ein anderer Kernbegriff Doderers, wie auch Nietzsches, für den der Mensch erst werden muß, der er ist, der Ubermensch. Hier scheint Nietzsche an eine Luftschiffgondel gedacht zu haben, er, der von den „Luftschiffahrern des Geistes" spricht, was vielleicht auch eine bewußte oder unbewußte Reminiszenz an Jean Pauls „Des Luftschiffahrers Gianozzo Seebuch" darstellt. Auch die Gondel Jean Pauls landet nicht mehr auf der Erde. - Es ist überhaupt anzunehmen, daß jemand wie Nietzsche, vor allem in der Jugend, nicht nur Goethe, sondern auch Jean Paul ausgiebig gelesen hat. Bernoulli gibt auch einen Hinweis, daß Nietzsche durch Rohde erneut auf ihn hingeführt wurde.
Belege zur Symbolik von Fliegen und Vogel bei Nietzsche:
„Jetzt bin ich leicht, jetzt fliege ich, jetzt sehe ich mich unter mir, jetzt tanzt ein Gott durch
mich." 2, Schluß von „Vom Lesen und Schreiben"
Ausblick auf den Zarathustra
137
dieses extreme Gefühl eines „ s o n n e n t r u n k e n e n E n t z ü c k e n s " aus im Kapitel „ V o n alten und neuen T a f e l n " 2 : „ U n d oft riß sie (i.e. seine weise Sehnsucht) mich fort und hinauf und hinweg u n d mitten im Lachen: flog ich w o h l schaudernd, ein Pfeil, durch sonnentrunkenes Entzücken." E s gibt K r i t i k e r 1 8 5 , die glauben, N i e t z s c h e habe sich, und gerade im „ Z a r a t h u s t r a " , oft m e h r v o m Sprachfluß hinreißen lassen als v o n seinen G e d a n k e n . Stellen wie diese zeigen jedoch, daß kein W o r t umsonst steht; w o h l k ö n n t e einem m o d e r n e n , durch Viellesen neutralisierten A u g e das E p i t h e t o n „ s o n n e n t r u n k e n " als beliebiger Sprachüberschwang, als zufällig aufgelesene M e t a pher erscheinen. A b e r N i e t z s c h e vergreift sich nie: das E n t z ü c k e n , das früher dionysisch hieß, wird jetzt von dem sehr prägnanten Bild- und B e d e u t u n g s feld d e r Sonne aus der V o r r e d e her neu z u bestimmen versucht, und i m m e r e n t s t a m m t der Sprachüberschwang letztlich dem Gefühl, daß die Sprache der „ S a c h e " nicht Genüge tun kann. Die Trunkenheit ist jene „ f r e m d e " , „ s o n d e r W e i n s " , auf die man schon mehrmals stieß, und das Bild v o m Pfeil stellt außer
„Aus der Liebe allein soll mir mein Verachten und mein warnender Vogel auffliegen: aber nicht aus dem Sumpfe." 2, Vom Vorübergehen „Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen - als „die Leichte". . . . „Wer aber leicht werden will und ein Vogel, der muß sich selber lieben: - also lehre ich." 2, Vom Geist der Schwere „. . . — man erfliegt das Fliegen nicht." 2, Vom Geist der Schwere „Es ist Weisheit darin, daß vieles in der Welt übel riecht: der Ekel selber schafft Flügel und quellenahnende Kräfte!" 2, Von alten und neuen Tafeln Ein Beleg zum Geist der Schwere als Anti-Vogel: „Nizza, den 25. März 1888 Kunst. Vorrede Über Kunst zu reden, verträgt sich bei mir nicht mit sauertöpfischen Gebärden: ich will von ihr reden, wie ich mit mir selber rede, auf wilden und einsamen Spaziergängen, wo ich mitunter ein frevelhaftes Glück und Ideal in mein Leben herunter erhasche. Sein Leben zwischen zarten und absurden Dingen verbringen; der Realität fremd, halb Künstler, halb Vogel und Metaphysikus; ohne Ja und Nein für die Realität, es sei denn, daß man sie ab und zu in der Art eines guten Tänzers mit den Fußspitzen anerkennt; immer von irgendeinem Sonnenstrahle des Glücks gekitzelt; ausgelassen und ermutigt selbst durch Trübsal — denn Trübsal erhält den Glücklichen —; einen Schwanz von Posse auch noch dem Heiligsten anhängend — dies, wie sich von selbst versteht, das Ideal eines schweren, zentnerschweren Geistes, eines Geistes der Schwere . . .". KAW VIII, 3 - 1 4 (1). iss ρ Fechter, a.a.O., S. 350: „Nietzsches natürliches Medium der Wesensverwirklichung war das Wort, so sehr, daß in späteren Jahren oft die Kurve des Wortverlaufs, nicht des Denkverlaufs seine Äußerungen beherrscht."
138
Nietzsche als Erzieher zum Glück?
dem Heraufrufen des alten, „ehrwürdigen" Bildfelds von Pfeil und Bogen auch einen indirekten Verweis dar auf die Ferne dieses Entzückens vom Glück des letzten Menschen, dessen „Sehne verlernt hat zu schwirren". „ A l s o sprach Zarathustra" ist ein Text, der Spuren des „mystischen Stigmas" deutlich aufweist: „— der Äther selber sollte ihn heben, den Willenlosen!" 1 8 6
Wer seinen Willen losgeworden ist, wer nichts hat, nichts weiß und nichts will, braucht kein Luftschiff, keinerlei Zurüstung, er braucht nicht einmal mehr Vogel zu sein. „ E i n Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut w e r d e n . " 1 8 7 „ W o h l zog ich den Schluß; nun aber zieht er mich. — " 1 8 8
Zeugnis einer paradoxen Umkehrung, Erfahrung eines „anderen Z u g s " : der höchste Wille zur Macht ist willenlos. Dennoch ist das „flair" eines rein mystischen Textes wie zum Beispiel „ T h e cloud of unknowing" ein anderes; Nietzsche liegt innerlich im Kampf mit seiner anderen, neuzeitlichen Seite, für die in bezug auf Zähmung des „Ungeheuers Unendlichkeit" immer gilt: „denn ich traue mir fortan und meinem Griff". Uber die Liebe zur Ewigkeit siegt manchmal eine Zukunftsbesessenheit, so moderne Zerrissenheit spiegelnd. Dennoch: Mystiker kann man nur ganz sein oder gar nicht, es führt davon kein Weg zurück, das bedeutet aber vielleicht nicht, daß man es immer sein muß, das meint, kontinuierlich in jedem Zeitaugenblick. Das ist vielmehr unmöglich und Schwärmerei. N o c h ein Zeugnis für Nietzsches Empfinden des „VogelSeins" von Grund aus sei angeführt: „ I h r seid keine Adler: so erfuhrt ihr auch das Glück im Schrecken des Geistes nicht. U n d wer kein Vogel ist, soll sich nicht über Abgründen l a g e r n . " 1 8 9
Die Stimmung, der Einklang aller Affekte Nietzsches einschließlich seines metaphysischen Affektes ist der Gehalt des Gedichtes Vogel A l b a t r o s 1 9 0 Ο Wunder! Fliegt er noch? Er steigt empor, und seine Flügel ruhn! Was hebt und trägt ihn doch? Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun?
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Z, Von den Erhabenen. Z, Das Nachtlied. Z, Auf den glückseligen Inseln. Z, Von den berühmten Weisen. Der Albatros ist bekanntlich ein Vogel, der sich am wohlsten in der Luft, fern vom festen Lande, fühlt. Er kann tagelang über dem Meer schweben, Schwierigkeiten kennt er nur beim
Ausblick auf den Zarathustra
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E r flog zuhöchst — nun hebt der Himmel selbst den siegreich Fliegenden: nun ruht er still und schwebt, den Sieg vergessend und den Siegenden. Gleich Stern und Ewigkeit lebt er in Höh'n jetzt, die das Leben flieht, mitleidig selbst dem Neid: und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht! Ο Vogel Albatros! Zur Höhe treibt's mit ew'gem Triebe mich. Ich dachte dein: da flöß mir Trän' um Träne, — ja, ich liebe dich!
Ein wunderbarer Ausdruck einer seltsamen Ruhe in der Bewegung, einer Ruhe, die, wie es ein alter mystischer Text sagt, „kein G r a b " ist, einer vielleicht über-dionysischen Verwandlung, die für sich selbst spricht. Ein Leben, das das Leben flieht, ist dargestellt, eben ein solches in ewiger Lebendigkeit, die kein Leben in ewiger Seligkeit o . a . meint, wie ja überhaupt diese letzte Vorstellung immer hedonistisch-eudämonistische Verflachung der ursprünglich in den alten Religionen angelegten Sicht auf ein ewiges Leben ist. Die geheimnisvolle Identität von Ziel und Zug und Zügel, das meint ein Hinausgekommensein über das Zielesetzen an dem Punkt, wo eine zuvor nötige „ A k t i o n " (Zügel!) und Anstrengung zur Passion wird, ein Zug, der kein „ I c h " mehr als Träger hat. Aber ist das „Albatros-Sein" nicht nur „ I d e a l " , ewiger Wunsch? Das Ich des Gedichts sagt: Ich dachte dein, es ist also nicht selber der Albatros. Also ist dieser bloß eine Wunschvision Nietzsches? Schon die Interpretation der „Geburt der Tragödie" zeigt, daß man es mit einer Vision bei Nietzsche nicht leicht nehmen darf. Realität liegt gerade in den visionsartigen Spiegelungen des Ur-Einen. Davon abgesehen aber hat Nietzsche immer betont, wie er bloß von Bekanntem redet, von Dingen, worin er seine Erlebnisse hat. Wünschen kann man überdies nach ihm nur das, was man zugleich „kommandiert", sonst ist es bloße Illusion und belanglos. Der Zustand des siegreichen Schwebens, dessen Glück im Vergessen des Siegs und des Siegenden besteht, kann nicht als Zustand eines Ich geschildert werden, denn gerade dieses ist dort verschwunden. Mit dem Vogel Albatros hat Nietzsche ein Symbol gefunden, das auf die Strahlkraft aller seiner Äußerungen verweist, die es möglich macht und gebietet, selbst ein so „aufklärerisches" Buch wie „Menschliches, Allzumenschliches" als ein „religiöses" zu lesen. Es ist allerdings eine Religion, die zu allen Zeiten den rosaroten Idealismus
Landen, und auf dem Land wirkt er sehr unbeholfen und ungeschickt: die Kehrseite seiner außerordentlichen Fähigkeit! So ist er geeignet zum Bild des wahren Philosophen.
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Nietzsche als Erzieher zum Glück?
Meysenbugscher Art ärgern 1 9 1 und verstören wird. Nietzsche ist ihm aber trotzdem durchaus milde gesinnt. In diesem Sinne ist Zarathustra ein Lehrer und Erzieher, der von sich sagt: „ D e r nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einmal zusprach: „Werde, der du bist!" 1 9 2
Hier schließt sich der Bogen zum Glück des Selbstseins, wie es die dritte Unzeitgemäße Betrachtung als Erziehungsziel aussprach. Das meint „Nietzsche als Erzieher". Von hier aus versteht man besser, was Nietzsche im Blick hat, wenn er Zarathustra in den Entwürfen sagen läßt: „Ich bin so übervoll des Glücks . . ." 1 9 3 ,
und zu welchem Glück Zarathustra hinaufziehen will. Aber: „Zarathustra ( stellt hat." 1 9 4
) kann nur beglücken, w e n n er erst die R a n g o r d n u n g herge-
Wenn es nicht gelingt, trotz des Todes Gottes auf redliche Weise an der Idee einer Rangordnung festzuhalten, ist für Nietzsche jede Gerechtigkeit und damit auch jedes wahre Glück, das nur sie spenden, erhalten und mehren kann, unmöglich geworden, führt der Weg unwiderruflich in die Wüste, und zwar in eine solche, in der keinerlei Verwandlung mehr möglich wäre. Aus der skizzierten „Morphologie" des Willens zur Macht ergibt sich nun eine sehr bestimmte Rangordnung hinsichtlich des Glücks, obschon oder besser gerade weil es ihm nie Motiv sein kann 195 . Zunächst einmal schärft Nietzsche überall das Bewußtsein dafür, daß zu jedem Ding und jeder Art Sein überhaupt auch ein spezifisches Glück gehört, wenn es auch „sonderbare Menschen-Bienen" 196 gibt, „welche aus dem Kelche aller Dinge immer nur das Bitterste und Ärgerlichste zu saugen verstehen — und in der Tat, alle Dinge
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Gerade wegen dieses Ärgers jedoch braucht man jemanden noch nicht verloren zu geben, ist er doch ein sehr lebendiger, affektiver Bezug zur Sache! Vgl. dazu Heimito von Doderer, Tangenten, 27. Juni 1948: „ D i e M o d e r n e n . Auch im heutigen Menschen ist die transzendentale Ansprechbarkeit meistens so weit noch vorhanden, daß er über die Ansprache in Zorn geraten kann, was immerhin noch einiges bedeutet: mindestens ein Lebenszeichen." Z, Das Honigopfer — Hier wird auch deutlich, wie platt es ist, Nietzsches Gedanken zu Zucht und Züchtung darwinistisch zu verstehen. KAW VII, 3 - 2 9 (26). KAW VII, 3 - 3 5 (71). KAW VIII, 3 - 1 3 (2): „. . . Psychologie (Affektenlehre) als Morphologie des Willens zur Macht, (nicht „Glück" als Motiv)". M.A. II 179.
Ausblick auf den Zarathustra
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enthalten etwas von diesem Nicht-Honig in sich". 1 9 6 , eben weil Weltliches als solches nie rein, sondern immer gemischt auftritt. Freilich haben die Philosophen und Priester aller Zeiten verschwiegen, daß es ein „Glück des Bösen" gibt, das nicht gering vorzustellen ist, wie überhaupt ihre im Dienste ihres Vorentscheids für Moral und Religion tätigen Absichten, ihre Befangenheit in unbewußter Falschmünzerei mit dem Ziel einer letzten Ruhe, eines „Sabbats der Sabbate", wie Nietzsche diese verspottet, eine „Verleumdung", „Vergiftung", „Anbröckelung aller Natur-Werthung" 197 betreibt statt eines Loskommens von der Natur, und daher auch immer das Bestreben hat, das Glück, das aus den Leidenschaften wächst, als viel zu gering anzusehen. Wenn es aber zu jedem Zustand und zu jeder Tat eine besondere Art des Gelingens, also des Glücks, gibt, so käme dessen Betrachtung einer solchen aller Phänomene selber gleich und würde sich so als eine undurchführbare Aufgabe erweisen. Aber einiges, das meiste für „Glück" Gehaltene, fällt von vornherein aus einer philosophischen Betrachtung heraus, da es belanglos und beliebig ist. Glück ist grundsätzlich immer Begleiterscheinung bei allen Lebensäußerungen des Willens zur Macht, auch wenn dieser Hindernisse und Unlust sucht, um sie zu überwinden. Aus der wesenhaften Spaltung des Willens zur Macht in einen dekadenten, niedersteigenden und einen kräftigen, aufsteigenden aber ergibt sich auch eine solche des Glücks. Uber seinen Rang entscheidet zunächst und fundamental, welchen Willen zur Macht es begleitet. Ergibt es sich auf der Seite des gesunden, fällt es sofort in eine andere Rangordnung, von der alle biologistischen, vitalistischen Vorstellungen fernzuhalten sind; es ist dem des absteigenden nicht einmal entgegengesetzt, sondern unterliegt einem ganz anderen Maße. Sein Rang bestimmt sich allein aus der Nähe oder Ferne zu jenem höchsten, mystischen Zustand der Macht. So muß bei jedem Glück, seinem Wert und seiner Wahrheit, das heißt aber gerade seiner Macht, zuvor jene Überlegung angestellt werden, die Nietzsche in bezug auf die Kunst formuliert: „ I s t die Kunst ein Ausdruck des U n g e n ü g e n s am Wirklichen? O d e r ein A u s druck der D a n k b a r k e i t ü b e r g e n o s s e n e s G l ü c k ? . . . * ' 1 9 8
197 198
KAW VIII, 3 - 1 4 (5). KAW VIII, 1 - 2 (144).
4. Nietzsche als „Taxator" 1 des Glücks Abschätzen, Schätzen überhaupt ist für Nietzsche die eigentliche Aufgabe des Philosophen. Aber: man kann nur schätzen, was sich schätzen läßt, was „seine Taxe hat" 2 , und: „. . . nur das Gewöhnliche hat eine Taxe" 2 . Hat das Glück eine Taxe? Es ist nicht anzunehmen, daß Nietzsche das Glück der freien Geister, jener „Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen"3, jener „Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft" 3 für etwas Ordinäres hält. Das Problem des Schätzens ist ein fundamentales mit aller Gefährdung eines solchen: Nietzsche begreift die ganze bisherige Geschichte als ein Sich-Vergreifen im Maßstab für die Schätzung überhaupt. „Urteile, Werturteile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur W e r t als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, — an sich sind solche Urteile Dummheiten. Man muß durchaus seine Finger danach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche Finesse zu fassen, d a ß d e r W e r t d e s L e b e n s n i c h t a b g e s c h ä t z t w e r d e n k a n n . V o n einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von einem Toten nicht, aus einem andren Grunde. — " 4
So ist der Philosoph eine notwendig unmögliche, eine komische Figur? Bis zu einem gewissen Grad würde Nietzsche als der letzte eingefleischte Philosoph des Abendlandes dies immer zugeben und allen Ernst in das Gefühl legen, daß der bisherige Philosoph einschließlich seiner selbst in höchstem Sinne komisch sein muß. Der neue Philosoph muß sich häuten, um zu jener „großen Gesundheit" 5 zu kommen, die der „Medizin Moral" 6 entraten kann, die „ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und G ö t t l i c h e m " 7
entdeckt hat, daß sie sich nicht am gegenwärtigen Menschen genügen lassen kann und die deshalb doch nicht revolutionärer Utopie verfällt. Ihr neues Ideal ist das 1
2 3 4 5 6
Eine Wendung aus F . W . 85; dort heißt es nebenher: „Taxatoren des Glücks und des Glücklichen". M.A. II, W.u.Sch. 334. F . W . 382. G. D., Das Problem des Sokrates 2. F . W . 382. 7 F . W . 382. F . W . 345.
Nietzsche als „Taxator" des Glücks
143
„eines Geistes, der naiv, das heißt ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hieß; . . . das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste, unfreiwillige Parodie hinstellt — und mit dem, trotzalledem, vielleicht der große Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt . . . " 8 (Hervorhebungen vom Verf.) Diese Stelle aus dem fünften Buch der „Fröhlichen Wissenschaft",
dem
„Zarathustra" noch als Verdeutlichung „beigegeben", beschreibt noch einmal sehr präzise und doch dabei wie nebenher das eigentliche „ A n l i e g e n " Zarathustras, das Aufweisen eines ungewollten, aus überströmender Mächtigkeit quellenden übermenschlichen Wohlseins, das als Notwendigkeit die Wende zum amor fati bringt. „Von Seiten eines Philosophen im Wert des Lebens ein Problem sehen, bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit." 9 Schätzen ist zugleich ein Werten; wenn Nietzsche den Weg „umgekehrter Schätzungen" geht, so ist zu fragen: was ist er wert? O d e r : wer ermächtigt ihn zu dieser Umkehrung? Auch diese ist bloß ein S y m p t o m , und zwar, da es der Wille zur Macht ist, der aus allen Schätzungen redet, eines für dessen Instinkt der Freiheit, der Nietzsche immer mehr zum Synonym für diesen wird. J e doch der Nihilismus, das Geschehen, daß alle obersten Werte sich entwerten, ist in vollem Gange und ist für Nietzsche die klar einsehbare Konsequenz der Art dieser Werte selber. So muß die Aufgabe sein, neue Werte zu schaffen. Aber: „. . . In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles, wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert — und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert." 1 0 Die Aufgabe müßte also auch die des Schaffens dessen, was Werte erst zu Werten macht, ihrer Werthaftigkeit selber, mitumfassen. Wie soll dem aber der unaustilgbare Erdfloh Mensch gewachsen sein? W i e soll aus ihm solcherart transzendental legitimierte Werthaftigkeit aufsteigen? Läuft nicht alles auf eine bloße Kraftmeierei des Willens zur Macht hinaus, auf eine allem zuvor schon vergebliche Anstrengung? Nietzsche hat immer ein starkes Gefühl für das Befreiende jedes wirklich philosophischen Gedankens wie auch und ganz ebenso für die Befangenheit, 8 9 10
ebenda. G.D., Das Problem des Sokrates 2. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 6.41.
144
Nietzsche als „Taxator" des Glücks
die jede Philosophie mit sich bringt. Aber ein vollständiges Wahrnehmen einer Befangenheit setzt ein Heraustreten aus ihr voraus. Es gibt nur „die Welt", keine „Hinterwelt", so kann für Nietzsche also das Abwägen der Welt als ganzer konsequenterweise nur als ein Traumgeschehen dargestellt werden, wie es im Zarathustra-Kapitel „Von den drei Bösen" geschieht: „Im Traum, im letzten Morgentraume stand ich heute auf einem Vorgebirge, — jenseits der Welt, hielt eine Wage und w o g die Welt."
Nur aufgrund eines Heraustretens, einer Ekstasis irgendwelcher Art, kann sich die Welt als Ganzes darbieten, sich zum Ganzen ründen. In diesem Kapitel ist es bloß ein Sich-Ründen des „Als ob". „Meßbar für den, der Zeit hat, wägbar für einen guten Wäger, erfliegbar für starke Fittiche, erratbar für göttliche Nüsseknacker: also fand mein Traum die Welt: —"
Im Grunde werden hier Wissenschaft, Moral und Metaphysik als Traumtätigkeiten hingestellt, als ein Befangensein im Schein, das sich herausgetreten dünkt. „Wie sicher schaute ich in meinem Traum auf diese endliche Welt, nicht neugierig, nicht altgierig, nicht fürchtend, nicht bittend: — — als ob ein voller Apfel sich meiner Hand böte, ein reifer Goldapfel, mit kühlsanfter samtener Haut: — so bot sich mir die Welt: —"
Der „Apfel" wird hier durch die Symbolik des Goldes mit in das Bild- und Bedeutungsfeld der Sonne hineingenommen, „das Herz der Erde ist von Gold"11, alles Gold, alles überreiche Glück stammt nicht aus einer Hinterwelt, sondern es wird aus dem Innern der Welt genommen; Buddha zum Beispiel findet zu seiner erlösenden Erkenntnis aus einem eigentümlichen, weltlichen Glück heraus. So gesehen ist die Erde nicht bloßer „Vorort" für Transzendenz, für ein Jenseits, sondern Ort des möglichen Einbruchs von Transzendenz, die frei von aller Hinterwelt ist. Nietzsche kennt Momente, wo solche Sicherheit des Traums zerstiebt und einer ganz anderen „süßen Sicherheit" Platz macht, Augenblicke eines „Tods mit wachen Augen", eines „Vergrabenseins ins Glück", das sich aus einem Herausschwingen aus allen gewöhnlichen, weltlichen Zuständen ergibt. Transzendenz ist nicht gleichbedeutend mit der Existenz einer „wahren Welt", die Nietzsche immer entschieden kritisiert, weil ihre Annahme das Leben entwertet und vergiftet, auch weil es sie nicht gibt, was aber gar nicht das Schlimmste an ihr wäre, denn wie heilsam könnten bloße Annahmen und Möglichkeiten wirken, wenn sie die „richtigen" wären! Gelingt solcher Absprung, so ist das Rundwerden der Welt kein Traum mehr, sondern ein Gesicht, an dem zu zweifeln sinnlos wäre: 11
Z, Von großen Ereignissen.
Nietzsche als „Taxator" des Glücks
145
„ W a s sich erst beweisen lassen muß, ist wenig w e r t . " 1 2
Diese Erfahrung drückt sich aus im Kapitel „Mittags" im vierten Teil des „Zarathustra": „— Wie? Ward die Welt nicht eben vollkommen? R u n d und reif? Ο des goldenen runden Reifs — wohin fliegt er wohl? . . . "
Es gibt ein Schätzen, das sich nicht im Bereich des Messens und Wägens abspielt, sondern das als ein Symptom der großen Gesundheit aus einer wesenhaften Einheit mit dem Geschätzten heraus, die im Schaffen besteht * fraglos um den Wert weiß. So setzt nicht die Philosophie und ihr Wille zur Macht die wahre Schätzung des Lebens fest, sondern jene höchste, nicht determinierbare Mächtigkeit. Gibt Philosophie Zeugnis für ein Abgestempeltsein auf deren Namen, so ist sie nicht länger Symptom der Dekadenz, sondern für etwas anderes, ist Machtbekundung der Macht, die das „Heraustreten" fertigbringt — Dekadenz bringt es nicht dazu, sondern immer nur zum „Krieg machen" 13 —, sie läßt das Taxieren des Lebens und des Glücks unter der Leitung jenes Instinktes der Freiheit geschehen, der der Wille zur Macht ist und der in einer offenkundigen und zugleich änigmatischen Weise mit Glück identisch wird. Also ist es das Glück selber, das sich taxiert, ist Glück etwas, das sich nur selbst taxieren kann. „jener I n s t i n k t Macht)"14
der
Freiheit
(in meiner Sprache geredet: der Wille z u r
„ D i e Instinkte bekämpfen m ü s s e n — das ist die Formel für decadence: solange das Leben a u f s t e i g t , ist Glück gleich Instinkt. — " 1 5
Es gilt also die Identität im aufsteigenden Leben von Instinkt der Freiheit, Wille zur Macht und Glück. Kann aber das Glück solcherart abgeschätzt werden, so ist es nicht als eine letzte Befangenheit zu denken, sondern muß es möglich sein, sich aus ihm herauszuschwingen: die künstliche Aufblähung von Begriffen, und seien sie noch so „ehrwürdig" wie zum Beispiel der der Erlösung, zu sogenannten „letzten Begriffen" bekämpft Nietzsche jederzeit. Eine Transzendenzerfahrung ganz eigener Art ist ihm Taxameter bei der Bestimmung von Glück. Das wird ganz deutlich in einer Notiz aus dem Sommer-Herbst 1882 in jenem schon erwähnten „Sentenzen-Buch" „schweigsamer Reden":
12 13 14 15
G. D., Das G . D . , Das G . d . M . II S. Fußnote
Problem des Sokrates 5. Problem des Sokrates 11. 18. 13.
Nietzsche als „Taxator" des Glücks
146 „ M e i n G l ü c k beginnt, sehe."16
wenn ich mich unter mir, als Wesen neben anderen Wesen
Glück ist also für Nietzsche nichts Statisches (seine Polemik gegen die, die eigentlich „ S c h l a f " , „Erstarrung", meinen, wenn sie „ G l ü c k " sagen, gehört hierher), sondern etwas Lebendiges, was in dem „ b e g i n n e n " deutlich z u m Ausdruck k o m m t . Glück ist dem späten Nietzsche vor allem Wachstumsform der Macht. H a t es auch ein Ende, ist es ein endliches Glück? Es kann etwas, von der Zeit her gesehen, enden und dennoch sein Ziel nicht in diesem E n d e haben, sondern es anderswo erreichen: „ E n d e u n d Z i e l . — Nicht jedes Ende ist das Ziel. D a s Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber t r o t z d e m : hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichnis." 1 7
Glück endet gewissermaßen auf einer anderen Ebene, als es beginnt. E s könnte sein, daß der Wille zur Macht ein Phänomen ist, das überhaupt nur zunehmen, nur wachsen kann, aber nicht abnehmen. Wohl könnte er aus der Zeit schwinden: Glück läßt sich nicht immer erhalten. Etwas, das nur zunehmen kann, braucht noch nicht etwas zu sein, das „ i m m e r " dauern müßte: der illusionistische Charakter der Zeit 1 8 als bloße Anschauungsform aller Iche verschärft sich für Nietzsche in dem Maße, wie die Realität des „Ich als Prinzip der Philosophie" selber schwindet, unbeschadet seiner unbedingten Gültigkeit auf dem Felde relationaler Bedeutsamkeit überhaupt. Etwas, zu dessen Wesen Dauer nicht gehört, kann in der Zeit vergehen, ohne daß es deshalb überhaupt aufhören müßte. Wenn es aber nicht nur eine geringe Dauer hat, sondern ganz ohne Dauer wäre, könnte es auch nicht vergehen; es könnte die Bestimmung des Willens zur Macht sein, das zu sein, was selber mit seinem Glück vor dem Glück der ewigen Wiederkunft weicht. Hierin könnte eine Erklärung dafür gesehen werden, warum weder Nietzsches noch Buddhas Weltsicht in tiefstem Sinne eine p e s s i m i s t i s c h e genannt werden dürfen entgegen allem Anschein der Oberfläche. Sieht man einmal davon ab, daß von Pessimismus in streng philosophischem Sinne überhaupt nur auf dem Boden einer Weltauslegung als Schöpfung gesprochen werden kann, weil man nur dort mit Sinn von einer besten aller möglichen oder einer schlechtesten Welt sprechen kann und schon aus diesem Grunde die Bezeichnung bei Nietzsche sowohl als bei Buddha unangemessen wäre, so ist ja der Impetus und die Erfahrung Buddhas gerade die von der Uberwindbarkeit des Leids, des Pessimismus in seiner landläufigen
16
17 18
KAW VII, 1 - 3 (1), 247. Sentenz, von N. in Anführungszeichen gesetzt, Zitat? = U . d . W.I 1157. M.A. II, W.u.Sch. 204. Zum Problem der Zeit bei Nietzsche siehe ]. Stambaugh, a.a.O.
Nietzsche als „Taxator" des Glücks
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Bedeutung genommen, der nach Nietzsches Einsicht immer unter dem Kommando des Eudämonismus steht, im Grunde selber Eudämonismus ist, nur ein enttäuschter. Auch Nietzsches Befund ist die absolute Sinn- und Bedeutungslosigkeit von allem, die Leiderfülltheit von allem — nach der Konzeption der „Geburt der Tragödie" ist es ja gerade die Erlösungsbedürftigkeit von Dionysos, die die Welt erst hervorbringt —, auch bei ihm ist das Ergebnis seiner alles durchbohrenden und durchdringenden Reflexion dieses, daß auf dem Felde des interpretierenden Willens zur Macht nichts auszumachen ist, das von absoluter Werthaftigkeit wäre, mit dem ein Ich sich identifizieren könnte, das mit Buddha zu reden, w e r t wäre, mein Ich zu heißen. Dennoch versinkt nicht alles in düsterer Hoffnungslosigkeit — und niemals saß nach Nietzsches Bekenntnis jemand in solchem Abgrund einer metaphysisch klarsichtigen und begründeten Verzweiflung wie er —, sondern es gibt ein Entrinnen. Die Bestimmung des Lebens, der leid- und unheilvollen Existenz ohne Sinn, Zweck, Aufgabe und Zukunft, ohne jedes höhere Ziel, ist nicht, dem Tod zu verfallen und in einer kosmischen Katastrophe zugrundezugehen, was auf e i n e r Ebene natürlich unumstößliche Tatsachen sind, sondern es ist die, vor dem Entnommenwerden ins Nirvana (Buddha), vor dem Blick der ewigen Wiederkunft 1 9 (Nietzsche) auf sich zu beruhen und jede Bedeutung für den Geretteten zu verlieren. Ist jene „paradoxale Wonne" 2 0 des Sich-selbst-unter-sich-Sehens die höchste für Nietzsche? Jene des Glücks des Selbstseins durch Sich-selbst-Ver-< lieren? Kennt er noch ein höheres? Oder läßt er überhaupt ein höchstes zu? Der Zauberer im vierten Teil des „Zarathustra" bezieht für sein Singen vom „letzten Glück" Prügel, andrerseits nimmt Nietzsche aber sein Lied in sein philosophisches Vermächtnis der Dionysos-Dithyramben auf. Uber jene höchste Wonne des „sonnentrunkenen Entzückens", des „Hinwegseins", ist streng genommen überhaupt nichts zu sagen, „Glück der ewigen Wiederkehr des Gleichen" wäre bloß ein Stichwort für solche, die sich daran erkennen, ähnlich wie es von „Nirvana" gesagt werden kann, es ist kein philosophischer oder religiöser Terminus. Religion und Philosophie können immer nur ein „Ich" interessieren, „dort" aber würde kein Ich mehr sein, auch nicht jenes paradoxale sich selber setzende oder, wie hier, sich unter sich sehende, ohne daß doch „Nichts" wäre: das aber meint das Glück des Ubermenschen. Der Ubermensch ist ein ganz neuartiger Typus Mensch, keine soziale Realität, auch nicht bloß ein Gedanke, sondern der, der überhaupt
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Nietzsche spricht in einem Brief an Gersdorff vom 21. Juli 1875 von einem „Blick des Glücks". Eine Wendung aus Doderers Commentarii, 28. Januar 1951, a.a.O., S. 25.
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nicht mehr als Mensch und als Ich bestimmt werden kann 2 1 . Er ist ein Hinaussein über den Menschen, ein Hinwegsein von jeder Art biologisch, soziologisch, psychologisch, philosophisch und religiös determinierbarem Menschen, der sich nicht in seinen Instinkten vergreift und aus seiner Macht heraus keine Götter bildet, denn „ G o t t und Jenseits" sind „fehlerhafte Griffe des gestaltenden Dranges" 2 2 . Der Ubermensch wäre reiner Erleider der letzten Aufgipfelung des Willens zur Macht, er wäre als der Untergang des Menschen sein Übergang in die Ordnung der ewigen Wiederkunft. Von hier aus wird klarer, was jene schwerste Last ist, jener Geist der Schwere: „ D u suchtest die schwerste Last: da fandest du d i c h —, du wirfst dich nicht ab von dir . . , " 2 3
Das Ich ist die schwerste Last, die der Geist, der erst Kamel werden muß, suchen und auf sich laden kann. Das Ich ist also keineswegs einfachhin gegeben, das kann nach dem Vorhergang der idealistischen Philosophie nicht mehr behauptet werden, sondern es ist etwas, das gesucht und gefunden werden muß, aber nur, um es abzuwerfen. Im „Zarathustra" wird es vom Zwerg, der ihm beim Steigen auf den Nacken springt, verbildlicht; dessen Abwerfen ist keine Aktion, nichts Mach- und Betreibbares, der Zwerg muß von selbst abspringen. Dazu kann er nur gebracht werden durch die Ubermacht der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Das bedeutet das „ K i n d werden" des Geistes: ein solches ich-loses Glück, das sich nicht mehr einer „überseligen Blindheit" verdankt wie das des „zwischen den Zäunen der Vergangenheit und der Zukunft spielenden" Kindes aus der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. Dieser Zustand ist streng genommen auch nicht mehr im Bilde eines Kindes, weil sprachlich überhaupt nicht zu fassen. Von hier aus wird einmal mehr bedeutsam, daß Nietzsche die Darbietungsform von Philosophie überhaupt verändert hat. „ K i n d " sein, die Stufe des „ich bin" ist eben kein Philosophem, sondern ein Symbolismus. Der Glückliche ist immer „ K i n d " , ist „ I d i o t " , ist unendlich weit entfernt von der versatilen Wendigkeit des letzten Menschen. Dennoch und trotz allem: welche Relevanz können überhaupt die Glücksphantasien jenes „lebenden Ausschlags" 2 4 einiger weniger Planeten im 21
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Interessant, daß Gilles Deleuze von ganz anderen Interpretationsinteressen her auch zu dem Ergebnis kommt: „Der Übermensch hat nichts mit dem Gattungswesen der Dialektiker, nichts mit der Gattung Mensch und nichts mit dem Ich gemein." — Nietzsche und die Philosophie, München 1976, S. 178 (aus dem Französischen). XIV, S. 329. Zwischen Raubvögeln. M.A. II, W.u.Sch. 14.
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Universum, den die meisten Sterne nie gekannt haben und von dem andere längst wieder „genesen sind" 2 4 , haben? Und jenes Bild der Sonne, das Nietzsche, dem das In-der-Sonne-Liegen in jeder Form immer ein Hochwert war, im „Zarathustra" beruft, um das Höchste, Überreiche, Uberquellende des Lebensprinzips, die ewige Lebendigkeit selber zu verbildlichen, ist sie nicht „in Wirklichkeit" nur eine häßliche, Leben nicht zulassende schwarze Masse, eine fortwährende kosmische Katastrophe, die langsam, aber unaufhaltsam ihrem und unserem Ende entgegenexplodiert 25 ? Sie zum Bilde des Glücks zu machen, ist das nicht unerlaubtes „Schwärmertum" 2 6 , ein „fanatisches Schönfärben der Dinge"? Mag auch die Sonne schwarz sein, so geht sie ungeachtet unserer wissenschaftlichen Einsichten in ihr Wesen für uns jeden Morgen wärmend und lebenspendend auf, „so breit wie ein Menschenfuß" (Heraklit), das heißt, wir sind auf die Naivität natürlicher Perspektiven angewiesen, trotz Wissenschaft und Philosophie. Bedeutungen werden nicht vorgefunden, sondern geschaffen. Die Sonne hat also soviel Wert und Bedeutung wie der, der in ihr liegt. „ B e i m W i e d e r s e h e n . — A : „Verstehe ich dich noch ganz? D u suchst? W o ist inmitten der jetzt wirklichen Welt d e i n Winkel und Stern? Wo kannst d u dich in die Sonne legen, so daß auch dir ein Uberschuß von Wohl k o m m t und dein Dasein sich rechtfertigt? M ö g e das jeder für sich selber tun — scheinst du mir zu sagen — und das Reden ins Allgemeine, das Sorgen für den andren und die Gesellschaft aus dem Sinne schlagen." — B : „ I c h will mehr, ich bin kein Suchender. Ich will für mich eine eigene Sonne schaffen."27
Hier werden zwei Stufen des Wohl-Findens, des Wohlbefindens, aufgezeigt: die erste ist, sein Wohl zu finden wissen, und dafür gilt immer: „ W e r keinerlei Paradies auf dieser Erde kennt, wird anderswo schwerlich eines finden."28
Die zweite Stufe ist über das Suchen und Zu-Finden-Wissen der Sonne noch hinaus, ist Schaffenkönnen seiner eigenen Sonne. Ein Paradies wird niemals
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Man denke an Max Beckmanns Erschütterung darüber, als er in A. v. Humboldts „Kosmos" las, daß die Sonne dunkel ist: „Las abends bei Humboldt Erstmaliges über die Sonnenflecken. Nie gewußt, daß die Sonne dunkel ist — Sehr erschüttert." (Tagebücher, New York, 3. September 1949) — Beckmann malt in seinem letzten Triptychon „Die Argonauten" die Sonne dunkel. „Schwärmer" sind für Nietzsche ebenso unreinliche „Tiere" wie Schweine, weshalb er sie auch in einem Atemzug im „ Z " nennt. Sie sind so unreinlich im Denken wie Schweine im Leben, das heißt, sie halten keine Erkenntnisgrenzen ein. Dieses Empfinden für die Reinheit im Erkennen ist wieder ein Kantisches Erbe bei Nietzsche. F.W. 320. W. Struve, Wir und Es, a.a.O., S. 22.
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einfach vorgefunden und erlaubt keine Trägheit, ist kein Schlaraffenland. Wie wird aber der Wille zur Macht ein wahrhaft schaffender? Wer lehrt ihn dieses Schaffen? Die Mächtigkeit der ewigen Wiederkunft, sie ist Quelle allen Bedeutungsreichtums der Welt, aber nicht so, daß die Welt aus ihr quillt, sondern so, daß er ihr verliehen wird. Ginge man allen Äußerungen Nietzsches über das Glück chronologisch nach, so stieße man auf eine Uberfülle von Aspekten und Perspektiven ebenso wie auf eine merkwürdige Eintönigkeit der Grundzüge seiner Glücksauffassung. Es wäre nach Ludwig Klages29 ohnehin viel logischer, man würfe Nietzsche seine Eintönigkeit vor als seine Zerrissenheit und angebliche Widersprüchlichkeit wie immer wieder geschehen und noch geschieht. Auch hier verrät sich jeweils im Urteil mehr das Wesen des Urteilenden als das des Beurteilten. Eintönigkeit aber ist immer Abzeichen des Genies und ganz besonders einer mystischen Denkweise. „Begriff des Mystikers: der an seinem eigenen Glück genug und zuviel hat und sich eine Sprache für sein Glück sucht; er möchte davon w e g s c h e n k e n ! " 3 0
Nietzsches Schriften sind in hohem Maße ein solcherart mystisches Wegschenken des Glücks der Erkenntnis, aber sie sind keine Systematisierung des Glücksproblems. Glück, Lust und deren Gegenteil gehören für Nietzsche zu den schamhaftesten Dingen, die keinerlei systematischen Zugriff dulden. Noch weniger einen wissenschaftlich-positivistischen, sind für Nietzsche doch Positivisten und Erkenntnistheoretiker enttäuschte Romantiker, die, ermüdet von der Unfaßlichkeit der Welt, sich nunmehr nur noch auf die Dummheit der Fakten versteifen, vor jedem „fait accompli" auf dem Bauche liegend. Ein Positivist möchte am liebsten Glück nicht zulassen, da es zu abweisend gegen Begriffe sich verhält. Er verschätzt sich in bezug auf die „vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag." 3 1 Er verkennt auch folgenden Sachverhalt: „ W i r , die Denkend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort etwas m a c h e n , das noch nicht da ist: die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen,
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L . K . , Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, 2. Aufl. Leipzig 1930, S. 15: „So außerordentlich fürwahr ist die Folgerichtigkeit und Einstimmigkeit der Leitgedanken in den verschiedensten Schriften dieses Seelenforschers, daß seine Gegner mehr noch als mit der üblichen Bestreitungsart einige Aussichten hätten, wenn sie ihm zu häufige Wiederholungen vorwürfen!" Klages behauptet dann in der Folge „den Selbstwiderspruch", der furchtbar jeden Hauptgedanken und oft sogar den einzelnen Satz spalte. Es ist aber bei Nietzsche nur insofern ein „Selbstwiderspruch" zu finden, als Denken selber sich immer wieder selbst widerspricht. Diese Punkte sucht Nietzsche aus Redlichkeit immer wieder auf. KAW VII, 2 - 2 5 (258).
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Farben, Gewichten, Perspektiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen."31
Die Nietzsche eigene Unerbittlichkeit des Denkens ist gerade die Voraussetzung, die Notwendigkeit einzusehen, einen Takt des Denkens zu entwickeln. „ D e n n ich halte es mit tiefen Problemen wie mit einem kalten Bade — schnell hinein, schnell hinaus. . . , " 3 2 „ U n d nebenbei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden, daß sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt w i r d ? " 3 2
Nietzsche ist ein „Freund der Blitze und Blicke" 3 3 : „ Z u m mindesten gibt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man nicht anders habhaft wird als plötzlich, — die man ü b e r r a s c h e n oder lassen muß . . . " 3 2
Das Leben verträgt keinerlei Zudringlichkeit, „Glück" als eine Äußerung des Lebens hat es mit Transzendenz in irgendeiner Form zu tun, ist gegenüber einem schematisierenden Zugriff noch „kitzlicher" als andere philosophische Probleme, ein solcher würde bereits das Phänomen verwandeln, ähnlich wie die Bedingungen eines Experiments immer auch das Ergebnis beeinflussen, weil sie das zu Untersuchende verändern. Klassische Hauptkennzeichen des Glücks sind leicht zu finden und nach Art von Vokabeln lernbar, Dietrich Weber zum Beispiel findet sie auch bei Doderer34, nämlich „Passivität" („Empfangsamkeit" in Doderers eigener Terminologie), Indirektheit des Weges, Unerstrebbarkeit, Nicht-Machbarkeit, Flüchtigkeit, Paradoxie. Wollte man nun jeweils zu untersuchende Texte daraufhin befragen, ob solchermaßen als klassisch ausgewiesene Glücksmerkmale vorliegen oder nicht, geriete man in die Gefahr, ein „Gedankenherbarium" anzulegen, in dem sich die Lebendigkeit des Glücks verflüchtigte. Auch könnte man auf solche Weise immer nur schon zuvor Gewußtes wiederfinden oder vermissen; die spezifische Färbung des Glücks jedoch, die bei jedem Denker eine sehr andere sein wird trotz scheinbarer Ubereinstimmung, ergibt sich erst aus dem Hineingeraten in die Denkwege des Betreffenden, aus einem Nachzeichnen der „Verkettung und Verfädelung" mit allen seinen anderen Problemen. Das Auffinden typischer Glücksstrukturen wäre eine Einförmigkeit im schlechten Sinne.
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F . W . 301. F . W . 381. Dionysos-Dithyrambus „Letzter Wille". D. Weber, Doderers Ästhetik des Glücks, in: H . v . D . , 1896-1966, Symposium anläßlich des 80. Geburtstags, Wien 1976, Salzburg 1978, S. 2 5 - 4 0 .
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Es gibt kein Glück an sich: soviele Iche, soviele Arten Glück und soviele Abstufungen der Arten des Glücks bei einem Individuum, je nachdem welches ihm entsprechend der von ihm gewählten Gartenkunst bei der Verwaltung seiner Triebe als erlaubt und geboten und welche als unerlaubt und schädlich gelten. Es läßt sich auch aus Nietzsches Werk kein „Glück Nietzsches an sich" isolieren: dies schon nicht wegen seines „zuvor noch nicht dagewesenen Reichtuns an gedanklichen Fern- und Tiefblicken, angesichts dessen es verwegen erschiene, von einem Hauptbefund seines Forschens zu sprechen und den gar fassen zu wollen in einem einzigen Satze." 3 5 Dennoch weist alles bei Nietzsche in ein Zentrum, und wenn Glück sich auch auf keine Weise vergegenständlichen läßt, so kann man sehr wohl doch einen sehr bestimmten Blick von ihm auffangen. Gewöhnlich sind es zwei Argumente, die im Umkreis einer Diskussion des Glücksproblems auftauchen und die den Beifall auf ihrer Seite haben: daß nämlich 1. ein Sich-Ausrichten am „großen Glück" das kleine, erreichbare entwerte und so das Leben verarme und daß 2. kein Glück erlaubt sei, solange es Unglück gibt. Nicht ein Mehren des Glücks wird hier als Aufgabe gesehen, sondern ein Mindern des Unglücks. Ad 2) Glück und Unglück wachsen und verkümmern nach Nietzsche miteinander, man wird immer zugleich glücklicher und unglücklicher. Ein Einebnen des Unglücks läßt auch die Glücksfähigkeiten verkümmern, daher ist Nietzsche immer bestrebt, dem Glücklichen sein gutes Gewissen zu erhalten. Zudem: überall dort, wo Glück das eines anderen zu schmälern scheint, ihm etwas vorenthält, handelt es sich gar nicht um Glück, sondern um mögliche Bedingungen zum Glück, um grundsätzlich beschaffbare, habbare Genüsse. Glück selbst ist immer unvergleichlich, einzig, als solches ohne Bezug auf Ähnliches, deshalb unfähig, dieses zu beeinträchtigen. Im Gegenteil: alles Glück ist darauf aus zu beglücken36. Allerdings: Glück ist lange nicht so eine ansteckende Krankheit wie Trübsal 37 , eben wegen seines selbstgenügsamen, in sich ruhenden Charakters. „ D a s Glück ist kein guter Stoff für Dichter. Es ist zu selbstgenügsam. E s braucht keinen K o m m e n t a r . Es kann in sich zusammengerollt schlafen wie ein I g e l . " 3 8
Nur Negatives, weil es Ungestilltes ist, hat den Drang, sich auszubreiten, ist „ansteckend", weil es darauf angewiesen ist, sich selbst zu entfliehen. Es ist a priori ungenügsam. Glück dagegen enthält niemandem etwas vor, sondern
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Ludwig Klages, a.a.O., S. 12. Siehe das Gedicht „Meine Rosen": „alles Glück will ja beglücken". F.W. 239: „ D e r F r e u d l o s e " . Robert Walser in: Carl Seelig, Wanderungen mit R. W., Bibliothek Suhrkamp 1977, S. 17.
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bereichert immer, es kann nicht anders, das in sich ruhende Uberquellen ist sein Wesenszug. Wenn aber — auch dies wieder ein Gedanke Robert Walsers aus der Dichtung „Der Spaziergang" — im Ernst jemand mit dem Glücklichsein warten wollte, bis alles Unglück aufgehoben sei, „so müßte er bis an das graue, unausdenkbare Ende aller Tage und bis ans eisigkalte, öde Ende der Welt warten, und bis dahin dürften ihm die Lust und das Leben selber gründlich vergangen sein." Glück ist ein Zug des Lebens, wer forderte, zuvor alles Unglück abzuschaffen, bevor ein „Recht auf Glück" bestehen könne, könnte ebensogut fordern, es dürfe nicht mehr gelebt werden, solange immer noch gestorben wird. „Glück schaffen" bedeutet nicht „Leiden abschaffen", Nietzsche schärft es immer wieder ein, sondern es ist wie jede gerechte Handlung grundsätzlich positiv 39 . Allerdings müßte man streng genommen nicht von „schaffen" sprechen, denn es ist nicht schaffbar, es sei denn, „schaffen" bedeute „dem Glück in sich Raum geben", es „wachsen lassen", es „nähren". — Wie kann aber solche falsche Meinung sich so ausbreiten? „Die moralische Entrüstung ist die perfideste Art der Rache." 40
Ad 1) Der erste Einwand übersieht ganz offenbar, daß es sich bei dem „großen Glück" nicht um etwas handelt, das im Belieben des Menschen stünde, und er will er übersehen. Wäre es auf einer Stufe mit den sonstigen Phänomenen, ein Etwas in der Welt, wäre es auch diskutierbar und damit zerschlagbar (wer diskutiert, zerschlägt rein dem Wortsinn nach die Sache). Glück ist aber eine sich von sich her zeigende, sich bekundene und ergreifende Wirklichkeit, etwas Unantastbares, das zwar störbar, aber nicht eigentlich zerstörbar ist, eine Wirklichkeit, die alle Hinsichten, auch die bezüglich ihrer Berechtigung, überholt und die Ebene des Fragens und Problematisierens unendlich übersteigt 41 . In diesem Sinne gilt: „Das Glück des Menschen beruht darauf, daß es irgendwo für ihn eine undiskutierbare Wahrheit gibt." 42
Und: „Aber es könnte gar kein größeres und verhängnisvolleres Mißverständnis geben, als wenn . . . die Glücklichen, die Wohlgeratenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfingen, an ihrem R e c h t auf G l ü c k zu zweifeln." 4 3
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G.d.M. II 11: „Gerecht-sein ist immer ein positives Verhalten." KAW VII, 1 - 3 (1), Sentenzenbuch 54. Wenn man dies nicht sieht und eine Transzendenzerfahrung nicht zugeben will — von der es auch bei Doderer eindeutig Reflexe gibt — so muß man allerdings all die Einwände erheben gegen das exzeptionelle Glück, wie es D. Weber gegen Ende seines genannten Aufsatzes tut. U . d . W . I , 189. G.d.M. III 14.
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Man könnte hier einwenden, daß der Glückliche nie zweifelsüchtig ist; Zweifel am Recht auf Glück, wie ganz ebenso eine Berufung darauf, können sich erst einstellen, wenn man schon aus dem Glück herausgefallen ist. Der Glückliche hat zum Zweifeln keine Zeit, weil er überhaupt keine Zeit hat, er ist nicht reflexiv. Nicht „der Staat", nicht „die Gesellschaft" machen unglücklich, sondern „ . . . die Art G l ü c k , deren die Allermeisten bloß fähig sind, macht aus ihnen intelligente Maschinen." 4 4
Sie machen aus dem Leben ein „Stubenhockerproblem für Mathematiker", ihre falsche Bescheidenheit lehrt sie, zu glauben: „ D a s Glück . . . sein rechter Name sei auf Erden „ S o ! S o ! " " 4 5 V o n ihnen gilt: „ B e s c h ä f t i g t wollen die Menschen noch mehr als glücklich sein. Also ist jeder, der sie beschäftigt, ein W o h l t ä t e r . Die Flucht vor der Langeweile! —" 4 6
Weil sie sich im Maßstab fürs Schätzen vergreifen, ist den „Allermeisten" Langeweile etwas Unerträgliches, die Flucht vor ihr in die Zerstreuung um jeden Preis zehrt ihre Kraft auf, sie sind schlechte Taxatoren des Glücks. „ M a n könnte die Menschen darnach a b s c h ä t z e n , wie hoch das Glück eines Jeden ist, das ihm überhaupt m ö g l i c h ist: wiederum, wie viel Glück er mitzutheilen vermag, wie viel Unbehagen und Unglück u s w . " 4 7
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Antichrist 57. K A W VIII, 1 - 5 (7). K A W V, 1 - 4 (91) / Das Zitat geht weiter: „ I m Orient findet sich die Weisheit mit der Langeweile ab, das Kunststück, das den Europäern so schwer ist, daß sie die Weisheit als unmöglich verdächtigen." K A W V, 1 - 4 (90).
5. „Morgenländischer Überblick" über Nietzsche Die in dieser Arbeit hin und wieder auf Nietzsche geworfenen „morgenländischen" Blicke 1 könnten als Bestandteil einer philosophischen Arbeit befremden. Nietzsche selber allerdings sah zu allen Zeiten klar die Notwendigkeit ein, sich mit der östlichen Philosophie und Religion auseinanderzusetzen und sich von daher anregen zu lassen, eine Aufgabe, die auch für unsere Zeit, trotz der enorm angewachsenen Literatur jeden Ranges, durchaus zu dem noch nicht bewältigten „Pensum" des Denkens gehört. Er notiert: „Ich muß o r i e n t a l i s c h e r denken lernen über Philosophie und Erkenntnis. Morgenländischer Überblick über E u r o p a . " 2
und: „Eine u n t e r g e h e n d e Welt ist ein Genuß. . . . Europa ist eine untergehende Welt." 3
Der „Morgenröte" ist ein Motto aus „Rigveda" vorangestellt, das einen Bezug herstellt zwischen der für Nietzsche so zentralen Metapher, mit der er entschiedener als zuvor zu sich selbst fand, und der indischen Welt und Philosophie. Auch die Identifikation mit dem Columbus-Bild gehört hierher und jene berühmten Schlußzeilen des letzten Aphorismus der genannten Schrift: „— Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b e r das Meer? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgendeine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, w o bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r g e g a n g e n sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , ein I n d i e n zu e r r e i c h e n h o f f t e n , — daß aber unser Los war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? —"
Man könnte ergänzen: „Sollten wir unverhofft eine neue Welt erreichen?" Diese neue Welt wäre dann kein neues Amerika, aber auch kein Indien oder gar Uber-Indien, sondern — vielleicht — etwas, das der glückseligen Insel zu vergleichen wäre, die in der buddhistischen Literatur eine wichtige Bedeutung hat. Jenes „mächtige Gelüst", stärker als irgendeine Einzel-Lust, vermöchte 1
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Zu Buddha und Buddhismus siehe S. 12, 41, 64, 81, 93f., 9 5 - 9 7 , 106f., 117, 1 1 9 - 1 2 2 , 123, 126, 128, 129, 134, 135 (Anm.), 144, 146f. K A W VII, 2 - 2 6 (317). K A W VII, 2 - 2 6 (434).
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dann den Menschen dazu zu bestimmen, sich selbst diese Insel zu sein. „Seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene", heißt es im „Zarathustra" 4 . Wenn Nietzsche Verse aus den Veden zitiert, so gewiß nicht aus Effekthascherei und vordergründiger Lust am Exotischen und Fremdartigen, so sehr diese mitgespielt haben mag. Jeder neuzeitliche Philosoph hielt seine Philosophie für unüberholbar und endgültig, man denke an die Worte, mit denen Kant seine „Kritik der reinen Vernunft" beschließt. Dieser Anspruch hängt mit dem Systemgedanken zusammen. Diesen gab Nietzsche zwar auf, aber er selber mochte spüren, daß seine Denkarbeit als Ganzes nicht mehr zu überbieten war in der Art traditionellen Denkens. Auch von daher wurde er wahrscheinlich auf das indische Denken gewiesen als auf eine mögliche neue „Quelle in der Wüste". Äußerungen über Buddha, die Veden etc. sind zahlreich in Werk und Nachlaß. Es ist nun interessant zu sehen, daß schon in dieser Schrift, die Nietzsche so programmatisch in die Nähe der Inder rückt, der Zusammenhang von Macht und Glück ganz stark herauskommt, ohne daß doch das philosophische Prinzip des Willens zur Macht schon ausdrücklich gewonnen wäre. Dies mag wiederum als ein indirekter Beweis dafür gewertet werden, daß Macht bei Nietzsche in engstem Zusammenhang mit seinem neuen Sinn von Religion steht, von der er im schon angeführten Zitat mit merkwürdiger Rigorosität sagt: „ E n t w e d e r sterben wir an dieser Religion — (gemeint ist die bisherige) — oder die Religion an u n s . "
So findet sich in der „Morgenröte", Aphorismus 113, bereits die Bestimmung des Glücks als „das lebendigste Gefühl der Macht gedacht", wobei „fühlen" eine Form des Dennoch-Offenbarwerdens von etwas wird, das „ungewußter, vielleicht unwißbarer, aber gefühlter Text" 5 ist. Aber niemals verwischt Nietzsche die Kluft zwischen orientalischem und europäischem Weltempfinden: „ D a s Bedürfnis der Aktivität trennt uns von der indischen Weisheit." 6
Zu einer umfassenden Darstellung des weitreichenden Themas „Nietzsche und der Buddhismus" fehlt im Grunde noch jede Vorarbeit 7 . Es wären die Quellen 4 5
6 7
Z, Von den drei Verwandlungen. Μ 119 / Siehe auch Μ 262: „ D e r D ä m o n der M a c h t " . Überhaupt auffällig die Häufung von Glücksstellen gerade in der „ M . " : Μ 356: „Die erste Wirkung des Glückes ist das G e f ü h l der Macht: . . . " . Μ 215: „der Rausch des Gedankens, . . . eins zu sein mit dem Mächtigen . . .". KAW V, 1 - 6 (263), Nachlaß der Zeit der „ M . " . Es liegen zu dem Thema vor: Max Ladner, Nietzsche und der Buddhismus, Zürich 1933, eine wertlose Arbeit, da der Verfasser die schlimmsten Vorurteile über Nietzsche teilt und voller Ressentiments steckt.
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zu untersuchen, die Nietzsche vorlagen, und die Frage, wie weit sein Buddhabild aufgrund von deren Qualität reichen konnte, wobei außerdem immer zu berücksichtigen wäre, daß Nietzsche nicht als Indologe liest, auch nicht als interessierter Laie, sondern als produktiver Philosoph, weshalb dann die Quellenfrage doch wieder nur zweitrangig wäre. Man muß auf die Suche nach Entsprechungen und Unterschieden in der Sache selbst gehen. Die Seitenblicke dieser Arbeit bezogen sich ausschließlich auf den philosophisch interessanten älteren Buddhismus, in deutscher Sprache immer noch am besten zugänglich in den Anthologien von Winternitz und Seidenstücker. — In der „Genealogie der Moral" zitiert Nietzsche Oldenberg8 wörtlich, ohne es eigens anzumerken. Es wäre zu untersuchen, wie stark er sich von den Ansichten seines Freundes Deussen bestimmen ließ, dem er in einem Brief an Overbeck vom 17. September 1887 nachrühmt, „ein Kenner der indischen Philosophie von Innen her zu sein". Dessen philosophische Grundhaltung konnte jedoch nicht die seine sein, sie blieb bei Deussen zeitlebens ein etwas handfester Schopenhauerianismus. All dem kann hier nicht nachgegangen werden. Es ist aber klar, daß jene Stellen, an denen Nietzsche gegen ein populäres Buddhismusverständnis mit seinem Ungedanken eines Endens in einem nichtigen Nichts polemisiert, auszuschließen wären sowie alle jene positiven Äußerungen über Buddha, die sich bloß seiner Absicht, gegen das Christentum Krieg zu machen, verdanken und denen daher wenig Gewicht zuzumessen wäre. Hält man an dem heuristischen Prinzip fest, daß Nietzsche zu seiner ganz einzigartigen und durchdringenden Kritik alles Abendländischen nur durch die Erfahrung eines stärksten Absolutum, hier öfters behelfsmäßig als „absolute Transzendenz" bezeichnet, befähigt werden konnte, so ergibt sich der Hinweis auf den Buddha der ältern Pali-Uberlieferung beinahe von selbst, in dessen Äußerungen sich vielleicht das Erfahren der Absolutheit der Transzendenz und die Konsequenz des „Festhaltens" an ihr und ihrer Auswirkung auf alles Weitere innerhalb der Denkgeschichte der Menschheit am deutlichsten bekundet.
Dann ein Aufsatz von Ryogi Oköchi über einen speziellen Aspekt: Nietzsches amor fati im Lichte von Karma des Buddhismus, in: Nietzsche-Studien, Bd. 1, 1972, S. 3 6 - 9 3 . Ansätze zu einer Wahrnehmung einer möglichen Beziehung Nietzsche-Buddha finden sich in der Literatur der Zwanzigerjahre, vor allem bei Wegwitz (s. Literaturverzeichnis). Einen wichtigen Schritt in die geforderte Richtung stellt die — nach Abschluß dieser Monographie erschienene — solide und ausführliche Untersuchung in englischer Sprache von Freny Mistry dar: Nietzsche and Buddhism, Berlin—New York 1981, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 6. Die Darstellung gibt jedoch keinen Anlaß zu einer Verschiebung des Schwerpunkts der obigen Ausführungen. 8
Hermann Oldenberg, Nietzsches Besitz).
Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde, Berlin 1881 (in
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.Morgenländischer Überblick" über Nietzsche
Unter diesem Horizont sollen nun drei Gesichtspunkte kurz erörtert werden im Bewußtsein des Vorläufigen und notwendig Fragmentarischen solchen Vorgehens.
5.1. Glück und. rechte
Erkenntnis
Vom Glück der Erkenntnis sagt Nietzsche, wie berichtet, daß man ihm viel davon vorgeflötet, daß er es aber nicht gefunden habe. Aber ist jenes, nicht beliebige, weil jede Erkenntnis begleitende, sondern „letzte" Glück der Erkenntnis, das Nietzsche im Grunde allein interessiert und das er nicht fand, notwendig dasselbe wie das dem Geist überhaupt erreichbare Glück? Ist Glück gleich Erkenntnis? Glück und Armut des Geistes gehen für das Volksempfinden zusammen, die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln. Auf der Ebene intellektuellen Dafürhaltens liest sich dieser Sachverhalt so wie in Paul Klees Tagebüchern (Aufzeichnung von 1901): „ D e r G l ü c k l i c h e , das ist ein halber Idiot, dem alles gedeiht und Früchte trägt. Steht auf seinem kleinen Besitz, die eine H a n d hält die Gießkanne, die andere zeigt auf sich selber, als den N a b e l der Welt. E s grünt und blüht. Von Früchten schwere Zweige neigen sich auf i h n . "
Von derselben Anschauung, die ein Zerrbild des Nietzschischen Gärtnertums ist, ist auch die Schopenhaueräußerung getragen, die Nietzsche sich notiert: „ M a n ist u m s o unglücklicher als man intelligent i s t " S c h o p . " 9 ,
und auch Nietzsche meinte ja 1 0 , daß man sich vielleicht zu den Armen des Geistes gesellen müsse, wenn man Glück wolle. Auch er spricht vom „Idiotikon des Glücks" 1 1 . Aber er weiß zugleich, daß man aus sehr verschiedenen Gründen „Idiot" sein kann. Es gibt eine Idiotie „unterhalb" des Geistes, deren „Glück" ihn überhaupt nicht erreicht und deshalb unangefochten durch dessen Unglück des Erkennens ist, und es gibt eine solche „ober-" und „außerhalb" des Geistes, zu der er hindrängt. Diese letztere stellt sich dar im Meditativen, der dem Weltmenschen immer als Idiot erscheinen muß, weil er die Hin- und Rücksichten auf seinen kleinen Vorteil, auf den Ameisen-Kribbel-Kram, verlernt hat. In diese Richtung zielt auch, was Doderer mit seinem „Denkschlaf" meint, für dessen Erfindung er seiner Romanfigur Melzer aus der „Strudlhofstiege" immer dankbar blieb: 9 10 11
KAW VIII, 3 - 1 4 (2). S. S. 5, W . z . M . 395. „Fall Wagner", Nachschrift.
Glück und rechte Erkenntnis
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„Augenblicklicher Gehorsam: . . . aus jeder wachen und flachen Verfassung jederzeit abzustürzen in einen Denkschlaf, der uns mit Reichtum umwölkt und uns mit allem beschenkt, wovon wir getrennt schienen: dem ist doch gern zu opfern die pointierteste Antwort und gleich ein Bündel bester Anekdoten. Seien wir lieber der Umwelt langweilig oder gar Idioten, als dem Geiste."12 (Hervorhebung vom Verf.)
Die Leidenschaft der Erkenntnis führt Nietzsche auf einen unheilvollen Zwiespalt im Wesen der Dinge, indem er findet, daß die Fähigkeit des Erkennens als des Sich-einfügens und Anpassens an vorgefundene Lebensverhältnisse den Menschen, das heißt solche „klugen Tiere", die sich „in irgendeinem abgelegenen Winkel" des „Sonnensystems" „für eine Minute das Erkennen erfanden" 13 , überhaupt erst ermöglicht, daß aber andererseits dieser so erfundene Intellekt grausam gezwungen ist, das Lügnerische, Vergewaltigende seines Treibens selber einzusehen und so, bei fortschreitender Reflexion, das Leben gefährden muß. Für einen konsequenten Buddhisten stellt sich die Frage nach der Erkenntnis jedoch immer als die nach der rechten Erkenntnis. Ist Nietzsche in diesem Sinne ein „ S a m m ä d i t t h i k a " 1 4 , das heißt, ein Mensch, der „eine richtige Erkenntnis der fundamentalen Tatsachen des Lebens besitzt" 14 ? Nietzsche ist wie Buddha davon überzeugt, daß „dieses Leben" eine Wunde ist, die geheilt werden muß. In Buddha stieg nach dem Aufgeben seiner jahrelang betriebenen vergeblichen Selbst-Kasteiung die heilbringende, erlösende Erkenntnis auf, die Klarsicht in das leidvolle Wesen des Kreislaufs und die Möglichkeit des Entrinnens. So ist nicht Erkenntnis überhaupt Quelle des Glücks, wohl aber eine sehr bestimmte, eben diese, der vierten Meditationsstufe nach Beschreiten des achtfachen Pfades entspringende. Ist Nietzsche, wie noch Spinoza, überzeugt, daß wir zwar insgesamt nur verschwindend wenig wissen, aber doch alles wissen können, was zum Heil nötig ist? Für Nietzsche wäre, hätte er diese Uberzeugung gehabt, ihr Aussprechen in dieser Form nicht mehr legitim gewesen, sondern sie wäre, wie alle Bewußtseinsphänomene, dem Schein verfallen. Solche Gewißheit müßte sich anders verlautbaren in einer von innen her völlig gewandelten Form und Art von Philosophie, als welche Erneuerung sich sein Werk darbietet. Buddha lehnt in einmaliger Konsequenz trotz sicherlich bestehender starker persönlicher Neigung zu spekulativem Denken jede philosophische Betätigung ab — was nur aus einer im Sinne Nietzsches „übermenschlichen" Kraft heraus zu erklären ist — weil alle metaphysischen Urteile nur ein Ich interessieren 12 13
14
Commentarii, Tagebücher aus dem Nachlaß, München 1976, S. 15. Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873. Änanda Metteyya, Rechte Erkenntnis, übersetzt v. Karl Seidenstücker, 1925, S. 11.
München-Neubiberg
160
.Morgenländischer Uberblick" über Nietzsche
können, das in der Anatta-Einsicht jedoch verschwindet samt allen seinen Urteilen. Nietzsche hingegen widmet sein Leben dem „Spinnenglück" 1 5 der philosophischen Erkenntnis. Glaubt er aber deshalb auch, daß die Philosophie genügt und, wie Kant meinte, „die menschliche V e r n u n f t . . . zu völliger Befriedigung . . . bringen" kann? Nietzsche hat nicht teil an dem, was Carus als den „Unbedingtheitsstolz" 1 6 der zeitgenössischen (idealistisch-romantischen) Philosophie empfand und was Jean Paul zum Spott reizte: „Ich halte jetzt die Luftschlösser der philosophischen Lehrgebäude für eigentliche Spitzbubenherbergen und Schwefelhütten." 1 7
Dies könnte von Nietzsche selber stammen, der über weite Strecken mit Pascal empfindet: „Se moquer de la philosophic, c'est vraiment philosopher" und der in einzigartiger Weise immer wieder die Reichweite und Gültigkeit der Philosophie aus Philosophie in Frage stellt. Ein starkes Gespür für das Absolute erzeugt in Jean Paul den Humor als ein Ermessen der irdischen Kleinheit und Gebrechlichkeit und als ein Drüberhinschweben über sie und bei Nietzsche seine Kritik. Alles, was für Buddha zur Erlösung gehört: „eigentliche Macht der Geistigkeit" 1 8 , „eigentliche T i e f e des geistigen Blicks" 1 8 , nennt Nietzsche kurz: „Philosophie" 1 8 . Sie ist ihm ein Mittel, um aus der „Selbst-Betäubung der Wissenschaft" 1 9 aufzuwecken. „Was verlangt der Philosoph am ersten und letzten von sich? Seine Zeit in sich zu überwinden, „ z e i t l o s " zu werden." 2 0
Gehört die — vielleicht — ein „Vielleicht", das nach einem Wortspiel Nietzsches aus der vierten Unzeitgemäßen eher ein „Vielschwer" ist — erreichte 15 16
17 18 19 20
K A W V , 1 - 9 (15). Paul Stöcklein, Carl Gustav Carus, Hamburg 1943, S. 25. Zu Nietzsches Reflexionen über die Annahme eines Unbedingten vergleiche: „ E i n Intellekt nicht möglich ohne die Setzung des Unbedingten. N u n gibt es Intellekte und in ihnen das Bewußtsein des Unbedingten. Aber das letztere als Existenz-Bedingung des Intellekts: — jeden Falls kann das Unbedingte dann n i c h t s Intellektuelles sein: das Funktionieren des Intellekts auf eine Bedingung hin spricht gegen die Möglichkeit des Unbedingten a l s Intellekt. — Schließlich könnte das Logische möglich sein in Folge eines Grundirrtums, eines fehlerhaften Setzens ( S c h a f f e n s , E r d i c h t e n s eines Absoluten). K A W V I I , 2 - 2 6 (216). „ . . . das Unbedingte kann n i c h t das Schaffende sein. N u r das Bedingte kann bedingen." K A W V I I , 2 - 2 6 (203). „ A u s dem Unbedingten kann nichts Bedingtes entstehen. N u n aber ist alles, was wir kennen, bedingt. Folglich gibt es gar kein Unbedingtes, es ist eine überflüssige A n n a h m e . " K A W VII, 2 - 2 6 (429). Brief an Paul Thieriot, 7. Dezember 1799. J . v . G . u . B . 252. G . d . M . III 23. „Fall Wagner", Vorwort.
Das Glück der Erlösung durch die ewige Wiederkehr des Gleichen
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Zeitlosigkeit, also Ewigkeit, für Nietzsche noch der Philosophie an? Diese schafft die unerläßliche Voraussetzung zur rechten Sichtweise auf die Dinge, philosophische Erkenntnis ist zwar bloß ein Spinnenglück, aber eines, von dem ein Faden genügt, um sich fest an die Erde anzubinden21, so jedes unerlaubte Entschlüpfen ins Nichts oder eine Hinterwelt, was dasselbe wäre, verhindernd und so erst Raum schaffend für ein Glück auf Erden. Solches Spinnen führt nicht die ewige Wiederkunft des Gleichen herbei, aber es bereitet sie vor, es ermöglicht die Empfänglichkeit, die Bereitschaft zum Überfallenwerden durch sie.
5.2. Das Glück der Erlösung durch die ewige Wiederkehr
des Gleichen
Für Buddha wie für Nietzsche zielt alles auf die Erlösung hin, die eng mit einem bestimmten Wissen, einem Für-Wahr-Halten und Das-WahreSchmecken des ganzen Menschen verbunden ist und die bei beiden keine „Erlösung aus eigener Kraft" ist. Vielmehr ist sie etwas, das nach Vorhergang eines äußersten Zusammennehmens aller inneren Kräfte — bei Buddha durch Meditation, bei Nietzsche durch recht angewandte Gartenkunst im geschilderten Sinne — sich in mir, aber nicht von mir ausgehend, zuträgt, jedoch so, daß keinerlei transzendent vorgestellte Macht dabei eingreift und doch alles eine „Wirkung" „absoluter Transzendenz" ist. Es ist eine „Erlösung des Menschen von sich selber" 22 , aber keine durch sich selber. „Gleichwie, ihr Mönche, das große Meer (nur) einen Geschmack hat, den Geschmack des Salzes, ebenso auch, ihr Mönche, hat diese Lehre und Disziplin (nur) einen Geschmack, den Geschmack der Erlösung." 2 3
Diese großartig eintönige Bestimmtheit nur durch Eines, die Erlösung, ist etwas typisch Indisches im Buddhismus und von einem Denken, dessen Wurzeln im Logos des Griechentums stecken, so wohl überhaupt nicht zu erreichen, einem Denken, dem es zuletzt und von Anbeginn um das „Wissenwollen", um das Analysieren der Dinge zum Zwecke ihrer Beherrschung ging. Dennoch ist sie für Nietzsche immer ein „ehrwürdiges Problem" 2 4 geblieben, und wenn seine Philosophie auch noch nach vielem anderen schmeckt, so ver21
22
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Z, Mittags: „Wie solch ein Schiff sich dem Lande anlegt, anschmiegt: — da genügt's, daß eine Spinne vom Lande her zu ihm ihren Faden spinnt. Keiner stärkeren Taue bedarf es da." U . d . W . I , S. 347, 1108. Siehe auch: „dafür jetzt meine Lehre von der Erlösung des Menschen von sich selber" XII, 213, 448. Udana 5,5 (Eine kanonische Schrift des Pali-Buddhismus, übers, v. K. Seidenstäcker, Augsburg 1920) und Winternitz, S. 106. „Fall Wagner" und so an mehreren Stellen / Christentum und Buddhismus wurden von Nietzsche immer geschätzt als Mittel zum Glück.
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.Morgenländischer Uberblick" über Nietzsche
liert sie doch nie diesen Geschmack der Erlösung. Sie steht nicht mit einer Erkenntnis als einem Begreifen von etwas in Zusammenhang, aber steht sie deshalb überhaupt nicht mit Erkenntnis in Zusammenhang? „Alles ist.Notwendigkeit — so sagt die neue Erkenntnis: Und diese Erkenntnis selber ist Notwendigkeit. Alles ist Unschuld: Und die Erkenntnis ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit n o t w e n d i g zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüte, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntnis — war der Irrtum und die Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte — wer dürfte jene Mittel geringschätzen?" 2 5
Ist Erlösung für Nietzsche eine Selbsterlösung? Erkenntnis wäre der Weg zur Erlösung, die Gerechtigkeit der Erkenntnis, die auf ein Reklamieren eines „Rechts auf Glück" verzichten lehrt, führt zum letzten Glück. Dies ist aber die ewige Wiederkehr des Gleichen. Ist sie aber eine Form der Ewigkeit, so kann sie keine Selbsterlösung meinen, vielmehr muß diese sich in ihrem Sinn total verwandeln. Diese Sprechweise kann lediglich als eine Absetzung von jeder Art Erlösung durch eine einbrechende, transzendente Macht ihren Sinn behalten. Nur so wäre ihre „Transzendenz" für Nietzsche überhaupt erst gewährleistet. Das meint bei ihm: „Erlösung von Erlösern" 2 6 . Durch die ewige Wiederkehr des Gleichen, die kein ontisches Prinzip, keine naturwissenschaftliche Hypothese, auch kein philosophischer Gedanke, sondern ein „Gesicht" 2 7 ist, wird die Aufgabe gelöst, dem Leben, nachdem jeder Gedanke eines Unbedingten aus Redlichkeit aufgegeben werden mußte, dennoch das Diktat eines Unbedingten zu verschaffen und so sein Wesen als Gehorchendes zur Erfüllung zu bringen. Sie ist ein Jenseitserlebnis, das aus keinem „Jenseits" stammt, auch aus keinem Diesseits, sondern das dem neuen Sinn der Erde entspricht. Zu Nietzsches Jenseitsglück — „6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit" 2 8 kam ihm dieser Gedanke — bedarf es eines leiblichen Kontaktes mit dieser letzten Besiegelung des Nihilismus der Schwäche und dem daraus resultierenden Ekel: die Bilder des „Handgebens" und des „DerSchlange-den-Kopf-Abbeißens" im „Zarathustra" deuten darauf hin. Nach solcher „Enthauptung" der endlichen Nichtigkeit wird die ewige Wiederkehr stärkste Form der Bejahung, kommt mit ihr die absolute Gerechtigkeit zur Herrschaft, nicht als eine Instanz außer und über dem Leben, sondern als ein alles durchgreifender Grundzug, der, mit Meister Eckhart zu reden, alles gleich von Gott empfangen heißt. Sich rechtfertigen durch sein Glück kann so 25 26 27 28
M . A . I 107. K A W VII, 1 - 1 3 (20). Z, Vom Gesicht und Rätsel. E . H . , Also sprach Zarathustra, 1.
Das Glück der Erlösung durch die ewige Wiederkehr des Gleichen
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nicht vor einer Instanz „Gerechtigkeit" geschehen, die außer dem Leben über ihm wachte, sondern muß Äußerung dieser Gerechtigkeit selber sein. Sie kann solchermaßen nur eine Selbstbestätigung sein. — Es wird in der buddhistischen Literatur die These vertreten, daß sich Art und Anliegen des Buddhismus in einem Wort zusammenfassen lasse: justice, Gerechtigkeit. — „ W e r dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu d e m jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiet der M o r a l ist g e w o r d e n , wandelbar, s c h w a n k e n d , a l l e s i s t i m F l u s s e , es ist wahr —: A b e r a l l e s i s t a u c h i m S t r o m e : nach e i n e m Ziele h i n . " 2 9
Zeigt sich Nietzsche hier als einer, der, mit der Sprache der Buddhisten zu reden, ,,in den Strom eingetreten" ist? Für Buddha steht fest, daß alles, was entsteht, auch vergeht. (Nicht etwa ist seine Weisheit: „Alles ist vergänglich"!) Deshalb darf man sich nach ihm diesem nicht zuwenden, wenn man Leid vermeiden will. Der eigentliche Grund für ein völliges Auf-sich-beruhenlassen der Welt durch Buddha, der, Nietzsches Weisung aus der Götzendämmerung gemäß, das Leben überhaupt nicht schätzt, weder hoch noch gering, so ein ganz neues Realitätsgefühl sich erwerbend, das durch keinen Bezug von Schätzung vermittelt ist, sondern ganz unmittelbar, liegt im Aufgefundenhaben von etwas, Stichwort Nirvana, das mit der Welt überhaupt nichts zu schaffen hat und sie an Werthaftigkeit unendlich überragt. „ A l l e s ist i m Flusse, es ist wahr —
Die Vergänglichkeit von allem ist für Buddha der Garant der Wertlosigkeit alles Weltlichen einschließlich seiner selbst. Die Endlichkeit und Erlösungsbedürftigkeit ist auch für Nietzsche nichts, das eigens bewiesen werden müßte. Solches Vorhaben wäre absurd. Der Tod Gottes, als vollzogene Rache am Zeugen der menschlichen Häßlichkeit durch den häßlichsten Menschen, kann nicht die Endlichkeit aufheben. Man weiß sie innerlicher als jeden Beweis, erfaßt sie mit jenem schon erwähnten „esprit de finesse". Aber Nietzsche möchte nicht zulassen, daß „die Welt", diese „verlockende Feindin" 3 0 , ein „christliches Schimpfwort" 3 1 bleibt. Ihm ist alles viel zuviel wert, als daß es vergehen dürfte, die Vergänglichkeit wird eine Steigerung der Kostbarkeit des Irdischen. Nietzsche sucht daher eine Ewigkeit für jegliches. Schärfe und Bedeutung dieses einzigen, einmaligen, in keine Dimension hinein zu verlängernden irdischen Lebenslaufs für alle Ewigkeit wird durch Nietzsches „Lehre" von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen aufs Äußerste gesteigert, dieses eine Leben entscheidet für alle Ewigkeit, denn es kehrt „immer" wieder; und es ent29 30 31
M.A.I 107. 4. U . B . 8. Epilog zum „Fall Wagner".
164
.Morgenländischer Uberblick" über Nietzsche
scheidet jeder Lebensaugenblick, denn jeder kehrt wieder. So erhält das Leben, das man durch Streichung des jenseitigen um seine Pointe gebracht hat, ein neues Schwergewicht, dem gegenüber die buddhistische und allgemein indische Auffassung eines Kreislaufs des Wiedergeburten eine Abschwächung darstellt. Denn dort wird man solange wiedergeboren, in einer der Gerechtigkeit entsprechenden Form (Karma), bis die Rettung gelingt. Hier ist Buddha eindeutig „optimistischer" als Nietzsche.
5.3.
amorfati
Nietzsches Philosophie mündet gleichsam in die „Idee" des amor fati. Sie ist Ausdruck und Nachhall erlebter Erlösung, wenn Erlösung nicht als die Uberzeugung genommen wird, daß etwas, alles, anders sein sollte, als es ist, und diese Änderung erfahren hätte. Solches Sollen gehört der Moral an, der Nietzsche den Boden entzieht, jedoch so, daß der ihr von Haus aus zukommende Unbedingtheitscharakter nicht etwa preisgegeben, sondern noch enorm gesteigert wird, bis das Absolute keine Angelegenheit der Moral mehr ist. Amor fati, diese letzte Liebe, zu der Nietzsche gelangt, empfindet nirgends mehr: es sollte ganz anders sein!, sondern: so wie es ist, wollte ich es seit Ewigkeiten. Damit ist amor fati auf ganz neue Weise ein Ausdruck dessen, was sich in dem buddhistischen Gleichmut und in mystischer Gelassenheit bekundet. Ich lasse mich ganz los und überlasse mich dem fatum, weil ich es selbst seit Ewigkeiten bedinge. Das bedeutet ein reflexionsloses Eingelassensein in „alles", das jedoch ein „Mehr als alles" ist, da es als der Wille zur Macht stets ein „Mehr-in-der-Macht" ist. Es ist alles Wünschen, Hoffen 3 2 und Sehnen losgeworden. Ist Kant immer mehr an der Glückswürdigkeit33 als am Glück interessiert, so könnte man von Nietszsche her „Glücksmächtigkeit" einsetzen und würde dasselbe sagen. Diese neue und letzte Liebe ist keine Liebe zu etwas, das so und so seiend außer ihr existierte. Es ist die, die im „Zarathustra" so häufig berufen wird als ein ganz neuartiger Bezug zu den Dingen. Dort ist es die Liebe, die erst schaffen muß, was würdig wäre, geliebt zu werden. Nicht eine irgendwie als arithmetisches Mittel aus allen erlebten Lust- und Unlustzuständen gewonnene imaginäre Größe entscheidet über die Frage, ob ein Leben geglückt ist, sondern ob es zu amor fati gelangt ist als Reflex eines Herausgenommenseins aus allem, das sich als Notwendigkeit erweist. Notwendigkeit aber ist eine 32 33
Nietzsches Prinzip ist nicht das „Prinzip Hoffnung". Siehe Kants Eintragung in Ernst Theodor Langers Stammbuch von 1772: „Die erste Sorge des Menschen sey nicht, wie er glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werde."
Amor fati
165
„Kategorie" von Transzendenz. So sagt Okochi 3 4 : „Nietzsches „Wende der N o t " scheint uns auch dasselbe zu bedeuten, also nichts anderes als Transzendenz". Er faßt dann jedoch Transzendenz wieder als eine bloß relative, als eine „ z u m Ursprung, zum eigentlichen Selbstbewußtsein" 3 4 . Lehnt Nietzsche „merkwürdigerweise „gedanklich" beinahe hartnäckig" 3 4 die Transzendenz ab, „obwohl er sie wirklich erlebt" 3 4 ? Nietzsches Transzendenz ist keine, bei der ein „ W o h i n " zu fassen wäre. Sie ist ein „Weg von allen Wohins". Darüberhinaus muß der Gedanke als Gedanke Transzendenz immer ablehnen, er hat nichts mit ihr zu schaffen. Das Unbedingte bedingt auf keine Weise das Denken. Also kann das Denken es auch nicht wegbringen. Das Glück des amor fati beantwortet eindeutig die gern gestellte Frage, ob Nietzsche nicht letztlich doch gescheitert sei. Fragen, Fragezeichen setzen, Fragezeichen anbeten, all das hat amor fati hinter sich gelassen. Ist Fragen aber nicht die Frömmigkeit des Denkens? 3 5 Es ist nur die des philosophischen Denkens, wer nach Vorhergang einer inneren Anstrengung auf dem Felde eines sehr besonderen Denkens zur Sicherheit des amor fati gelangt ist, fragt nicht mehr. Nicht weil sich ihm alle Fragen beantwortet hätten, sondern weil er ganz aus dem Bereich von Frage und Antwort herausgefallen ist. So wäre Nietzsche also nicht nur ein Philosoph? Amor fati hat alles „Unsterblichkeitswesen" 3 6 und „pfuscherhaftes Glücklichseinwollen" 3 6 überwunden. Auch Nietzsche erlangt die hier im Zusammenhang mit Buddha erörterte ganz neue Nähe zu den Dingen, die durch keinerlei Beziehung und auch nicht durch Beziehungslosigkeit vermittelt ist. Auch Nietzsche erreicht eine ganz neue Realität. Im Amor-fatiGedanken gelingt ihm eine Uberwindung seines „Uberwindungspathos", dessen Fragwürdigkeit er selbst sieht: „ W e n n du blau siehst, was nützt es dir, dich selber z u überwinden und zu dir zu sprechen: du sollst nicht blau s e h e n ! " 3 7
Auch „verneinen" oder „bejahen" treibt im Grunde zuviel Aufwand mit der Realität und ist eine Bindung an die Welt. Amor fati bedeutet, „ohne Ja und Nein für die Realität sein", „ n u r gelegentlich mit den Fußspitzen sie anerkennend" 3 8 . „ M a g in uns die vererbte Gewohnheit des irrtümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluß der wachsenden Erkenntnis 34
35
36 37
38
A . a . O . , S. 91. Martin Heidegger, Schlußsatz von „Die Frage nach der Technik", Vorträge und Aufsätze I, Pfullingen 1954, S. 36. Gottfried Keller an Ferdinand Freiligrath, Berlin, den 22. September 1850. U . d . W . I , S. 284, 851. Siehe auch: „Was haben die Philosophen vom Glücke derer phantasiert, welche die Welt überwunden haben!" KAW V, 1 - 3 (165). KAW VIII, 3 - 1 4 (1).
166
.Morgenländischer Uberblick" über Nietzsche wird sie schwächer werden: Eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nichtliebens, Nichthassens, Uberschauens pflanzt sich allmählich in uns . . . an . . , " 3 9
Amor fati bedeutet, jene Nähe zu den Dingen erreicht zu haben, wo sie einen nicht mehr bekümmern, weil sie einen angehen, ohne einen anzugehen. Das bedeutet eigentlich für Nietzsche Freiheit des Geistes: „ . . . — „ E i n freier G e i s t " — dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe, der Mensch ist zum Gegenstück derer geworden, welche sich u m Dinge bekümmern, die sie nichts angehen; den freien Geist — giengen lauter Dinge an, die ihn nicht mehr „ b e k ü m m e r n " . " . . . 4 0
Amor fati ist für Nietzsche die Gewähr für ein sehr bestimmtes „Heil der Seele", während es nicht mehr erlaubt ist, in alter Weise sich die Ereignisse als Winke auszulegen, wie als ob irgendeine Macht es damit auf unser Seelenheil abgesehen hätte. Es deutet manches daraufhin, daß Nietzsche über die Erscheinungsform des Glücks als eines Begleitens beim Wachsen der Macht hinaus noch ein anderes Glück kannte: „ D a s „ H e i l der Seele" ist ein viel vollerer Begriff als das G l ü c k , von dem alle Moralisten schwätzen. Es soll gemeint sein die ganze wollende schaffende fühlende Seele und deren Heil — nicht nur eine Begleiterscheinung wie „ G l ü c k " usw. — D a s Begehren nach „ G l ü c k " charakterisiert die halb- oder nicht gerathenen Menschen, die ohnmächtigen — alle andern denken nicht an's „ G l ü c k " , sondern ihre K r a f t will h e r a u s . " 4 1
Hier wird jede Form einer Auffassung des Glücks als Begleiterscheinung, was früher Nietzsche eine enorme Einsicht dünkte, zu einem Glück bloß in Anführungszeichen, so weit diese auch selber schon entfernt ist von jenem „albernen Auslegen des Glücks als Genuß" 4 2 . Ebenso wie das Glück der erlösenden Erkenntnis bei Buddha einer äußersten Handlung entspringt, die jedoch keinen Träger mehr hat, die keine „ A k t i o n " eines Ich ist, entspringt das Glück des amor fati einer solchen. Man könnte grundsätzlich drei Stufen des Handelns unterscheiden, wobei das hier gemeinte Glück allein der dritten entstammte: „Stufen des Handelns. Erste Stufe: D a s Machen und Bewirken. Man vermag es immer. Als „ S c h a f f e n " von der modernen Gesellschaft sanktioniert. D e r Arbeiter. — Fleiß, Tüchtigkeit, Aktion, Erfolg. 39 40 41 42
M.A.I 107. KAW VII, 3 - 4 0 (65) August-September 1885. KAW VII, 2 - 2 7 (13). KAW VII, 1—7 (176): „Das Streben nach Glück wird alberner Weise von den Menschen als Streben nach Genuß interpretiert . . . "
Amor fati
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Zweite Stufe: Verzicht auf das Machen und Bewirken. Hervorbringen. Man vermag es nur gelegentlich. Gesellschaftlich geduldet. Der Künstler und der Philosoph. — Muße, G u n s t , Produktion, Werk. Dritte Stufe: Verzicht auch noch auf das Produzieren. Änderung des Ganzen. Man vermag es überhaupt nicht. Außer dem Gesichtskreis der Gesellschaft. Der Prophet und der Heilige. — Abgeschiedenheit, Gnade, Inspiration, T a t . " 4 3
Wie weit hat Nietzsche diese dritte Stufe erreicht? Das Glück der zweiten Stufe verwirklicht er in so vollkommener Weise, daß rein von seinem Werk her gesehen, vom Glück seiner Produktion, jede Kritik an seiner Person und Lebensführung schweigen muß. Gelingt ihm aber auch der Verzicht aufs Produzieren und damit „Änderung des Ganzen"? Dionysos war als Gott der Weltverwandlung bestimmt. Auch die Philosophie Nietzsches ist vielleicht nicht der ganze Nietzsche? Sondern ein Versteck, in dem er sitzen kann? Gegenüber Overbeck betont Nietzsche, daß er über seine Schriften wie im Grunde über alles „Litteratur = Machen" (sie) lache. Alles in allem habe er nur die miserabelsten Jahre seines Lebens dazu verwendet, und er unterzeichnet den Brief 44 mit „Treulich Dein alter Freund homo
N.
illiterates".
Spielt sich für Nietzsche vielleicht doch alles auf der Bühne der Literatur ab? Eine Frage, die nicht einfach entschieden werden kann. Daß er noch andere Erlebnisse solcher Art hatte, die kein Werk aus sich entspringen lassen, daher könnte jenes extrem Unheimliche, auch Schauerliche an seiner Person rühren, das Zeitgenossen wahrnahmen und das ihn bis heute nicht zu einem Philosophen werden ließ, der wirklich Heimatrecht in der akademischen Philosophie genösse, ganz anders als etwa Hegel. So kann es geschehen, daß selbst jemand wie Robert Walser gegenüber Nietzsche den ungerechten Vorwurf der Lieblosigkeit erhebt 45 , obwohl dieser doch von sich bekennt: „ I c h habe den heiligen N a m e n der Liebe nie e n t w e i h t ! " 4 6
Allerdings ist es eine Liebe, die eine große „Verachtung" 4 7 einschließt. Aus „Verlusten", die Nietzsche reichlich zu erleben hatte, „kommt die volle und mächtige Seele" „nur mächtiger, mit einem Wachsthum in der Seligkeit der
43 44
45 46 47
W. Struve, Wir und Es, a.a.O., S. 58f. vom 23. Februar 1887. Seelig, Wanderungen, a.a.O., S. 37. KAW VIII, 1 - 1 (216). KAW VIII, 1 - 2 (164).
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„Morgenländischer Uberblick" über Nietzsche
Liebe" 4 8 heraus. Allerdings ist diese Fähigkeit zur „Selbstregeneration" der Seele nicht unendlich, wie Nietzsches eigenes Schicksal zeigt. „Ich liebe die Menschen: und am meisten dann, wenn ich diesem Trieb widerstrebe." 4 9
Dionysos ist ein Versucher-Gott, dessen halkyonisches Lächeln nicht gerade Behagen und heimeliges Glück verheißt. Dionysos und die ewige Wiederkunft sind durchaus verschiedene Chiffren und fallen nicht unterschiedslos zusammen. Bringt Dionysos es überhaupt zu einer Begegnung mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen? Ist er so klug wie Zarathustra und kennt das Geheimnis des Lebens? Es ist dionysische Weisheit, die Zarathustra verkündet, und für Nietzsche kann Dionysos als Philosoph nicht anders, als auf die ewige Wiederkehr zu stoßen. Dann gilt von ihm: „ D i e unbedingte Notwendigkeit des Geschehens enthält nichts v o n einem Zwange: der steht hoch in der Erkenntnis, der das gründlich eingesehen und eingefühlt h a t . " 5 0
So kann Nietzsche sagen: „Dionysisch zum Dasein stehen —: meine Formel dafür ist amor f a t i . " s l
Nebenher: auch amor fati ist durchaus bloß Formel, nicht etwa eine magische Silbe wie zum Beispiel Om, aber sie ist so meisterhaft geprägt mit ihrer beschwörenden Lautfolge a-o-a-i, daß sie einer solchen „Magie" in ihrer Wirkung sehr nahekommt. — Die Ewigkeit entpuppt sich für Nietzsche immer als ein Ungeheuer: „Yorick — Columbus U n d das schönste Ungeheuer Lacht mir zu: die Ewigkeit." 5 2 ,
aber als eines, das sich bei den Sinnen einzuschmeicheln weiß: „ A u s der Tiefe quillt herauf ein Geruch, der keinen Namen hat, ein heimlicher Geruch der Ewigkeit O h Mitternacht! O h Ewigkeit!" 5 3 „ N u n , heitre Himmel der Ewigkeit berühren meine Sinne, — " 5 4
48 49 50
51 52 53 54
K A W VIII, 1 - 7 (39). U . d . W . I , 1151 (aus der Z-Zeit). K A W VIII, 1 - 1 (114).
W.z.M. 680.
K A W VII, 3 - 2 8 (63). K A W VII, 3 - 3 2 (21). K A W VII, 1 - 1 5 (1).
Amor fati
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Dionysos ist Zeichen für das änigmatische, unheilvolle, unheimliche Glück der Wirklichkeit der Erde, es weist auf die Lösung des Rätsels der Sphinx Welt auf dem Wege seiner Entmächtigung durch das Geheimnis der ewigen Wiederkunft. Auf diesen Änigmatismus stößt Nietzsche von allen Seiten her und legt ihn frei. Nietzsche schreibt im November 1888, also kurz vor seinem Zusammenbruch, aus Turin an Strindberg: „Ich habe vielleicht schlimmere und fragwürdigere Welten des Gedankens kennengelernt, als irgend jemand, aber nur weil es in meiner Natur liegt, das Abseits zu lieben. Ich rechne die Heiterkeit zu den Beweisen meiner Philosophie."
Bibliographie Nietzsches Werke und Briefe Die von Nietzsche veröffentlichten oder zum Druck vorbereiteten Werke werden mit Angabe des betreffenden Aphorismus oder Abschnitts unter Verwendung folgender Abkürzungen zitiert: G.d.T. U.B. M.A. W.u.Sch. M. F.W. Z. J.v. G.u.B. G.d.M. G.D. A. E.H.
= = = = =
= = = = = = =
Die Geburt der Tragödie Unzeitgemäße Betrachtungen Menschliches, Allzumenschliches Der Wanderer und sein Schatten Morgenröte Fröhliche Wissenschaft Also sprach Zarathustra Jenseits von Gut und Böse Zur Genealogie der Moral Götzen-Dämmerung Der Antichrist Ecce homo
'Werkausgaben Friedrich Nietzsches Werke, Groß- und Kleinoktavausgabe, 20 Bde., Leipzig 1899-1926. Friedrich Nietzsches Werke, Musarion Ausgabe, 23 Bde., München 1920—1929. Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, 5 Bde., München (Beck) 1933 ff. (nicht abgeschlossen). Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke, Kröners Taschenausgabe, Leipzig 1930 und Stuttgart 1965. Nietzsches Werke, Kritische Gesamtausgabe (KAW), hrsg. v. G. Colli und M. Montinari, Berlin 1967 ff.
Nachlaßzitierung Die Zitate aus dem Nachlaß folgen in der Regel der KAW, unter Angabe der Abteilung, des Bandes und der Nummer des einzelnen Stückes oder der Seitenzahl bei längeren Stücken. Da nicht alle Notizen Nietzsches einwandfrei zu datieren sind und überdies die Aufgabe bleibt, den umfangreichen Nachlaß beim Lesen in Sinngruppen zu ordnen, behalten auch die älteren Ausgaben ihren Wert und wurden hinzugezogen: Der Wille zur Macht (W. ζ. M.), Anordnung von Peter Gast unter Mitwirkung von E. FörsterNietzsche, mit einem Nachwort von Alfred Bäumler, Stuttgart 1964. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Werke, Naumann, Leipzig, Bd. X I , 1901 / Bd. XII, 1901 / Bd. XIII, 1903 / Bd. XIV, 1904. Das Vermächtnis Friedrich Nietzsches, Friedrich Würzbach, Salzburg—Leipzig 1940.
Bibliographie
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Personenregister (* = Anmerkung) Altenberg, Peter 59*, 60 Balmer, Η. P. 27* Beckmann, Max 47, 75*, 149* Bollnow, Otto Friedrich 4 * Bracht, Eugen 114* Brandes, Georg 115f. Bueb, Bernhard 93 f. Büttner, Hermann 90* Burckhardt, Jacob 58, 120* Burne-Jones, Edward 113 Carpaccio 127* Carus, Carl Gustav 160 Deleuze, Gilles 148* Descartes, Rene 10, 22, 28, 31, 45, 63, 64, 68, 77 Deussen, Paul 99*, 128, 157 Doderer, Heimito von 63*, 123, 126, 136*, 140*, 147, 151, 153, 158f. Dürer, Albrecht 48 Epikur 39, 39*, 119 Falckenberg, Richard 99 f . * Fechter, Paul 74*, 137* Fichte, Johann Gottlieb 32, 52, 75 Fink, Eugen 17*, 29* Fischer, Friedhelm 75* Franck, Sebastian 101* Gast, Peter 39*, 117, 119, 128 Gauguin, Paul 115 ff. Gersdorff, Karl Frhr. von 127*, 147* Giorgione 112 Goethe, Johann Wolfgang 53, 112, 136 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 47, 52, 167 Heidegger, Martin 45, 54*, 165 Heraklit 41, 112, 149 Hofmannsthal, Hugo von: 59, 60 Hofstätter, Hans H . 73, 112
Hohler, Franz 59* Huysmans, Joris-Karl 111 Jacobsen, Jens Peter 60 Jaspers, Karl 6*, 34, 54*, 109f. Jean Paul 60, 69, 136*, 160 Kaempfert, Manfred 4*, 33*, 73, 127, 128f. Kafka, Franz 7, 53 Kant, Immanuel 18, 25, 28, 32, 33, 42, 44, 45, 50ff., 57*, 65, 66, 66*, 73f., 77, 81, 88, 89, 93, 108, 128, 149*, 157, 160, 164 Kaufmann, Walter 4 * Keller, Gottfried 120*, 165* Khnoppf, Fernand 113, 114* Kerner, Justinus 48 Keyserling, Eduard von 60 Kierkegaard, Sören 15, 32f., 53, 81 Klages, Ludwig 150, 150*, 152 Klee, Paul 158 Klemp, Charlotte 5 f . * Ladner, Max 156* Lechter, Melchior 6 Leibniz, Gottfried Wilhelm 29, 45 Lessing, Gotthold Ephraim 22 Löwith, Karl 2, 48*, 52*, 64, 79 Lorrain, Claude 110 Lucie-Smith, Edward 112 Mahler, Gustav 114* Maillol, Aristide 6 * Marcuse, Herbert 69* Martersteig, Max 42* Marx, Karl 47 Meister Eckhart 95, 105, 126, 134, 135f., 135*, 162 Metken, Günter 73* Meysenbug, Malwida von 37*, 140 Mistry, Freny 157* Mittasch, Alwin 55* Moreau, Gustave 111, 113 Müller-Lauter, Wolfgang 46*, 55*, 67*
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Personenregister
Nunques, Degouves de 114"' ödipus 66 Oköchi, Ryogi 157«·, 165 Oldenberg, Hermann 157 Otto, Rudolf 134 Overbeck, Franz 39*, 83, 167 Overbeck, Ida 39* Pascal, Blaise 23*, 81, 89, 102, 113, 116 Pfeiffer, Ernst 39*, 84* Piaton 10, 35, 61*, 87, 98*, 111, 117*, 125 Plotin 40, 135 Popper, Karl 69* Poussin, Nicolas 110 Ree, Paul 35, 77 Riehl, Alois 99*, 111* Rohde, Erwin 117, 136* Rousseau, Jean-Jacques 58 f. Salis, Meta von 120* Salome, Lou von 39*, 84*, 120* Schelling, Friedrich Wilhelm 45, 52, 53 Schirnhofer, Resa von 120* Schmidt, Hermann Josef 26 Schmidt, Kurt 97*
Schlechta, Karl 5*, 128* Schopenhauer, Arthur 4*, 6, 17*, 18, 25, 38f., 44, 51*, 91*, 99*, 103, 125, 132, 158 Seelig, Carl 152*, 167* Seidenstücker, Karl 157, 159* Seon, Alexandre 114* Sokrates 19ff., 23, 26ff., 35f., 41, 54 Spinoza, Benedictus de: 3*, 5*, 52*, 70, 159 Stambaugh, Joan 2*, 6*, 146* Strindberg, August 115, 115f.*, 169 Struve, Wolfgang 7*, 9*, 10*, 22*, 32*, 37*. 64, 73*, 88*, 99*, 103*, 106*, 110*, 123*, 124*, 128, 149, 167 Stuck, Franz von 114* Tersteegen, Gerhard 101* Thaies 58 van de Velde, Henry 114* Wagner, Cosima 48, 120* Walser, Robert 152f., 167 Weber, Dietrich 151, 153* Winternitz, M. 157 Wittgenstein, Ludwig 9, 11*, 143 Wurzer, William 5*, 120*
Sachregister (* = Anmerkung) Achtsamkeit 12, 121 Affekte 63, 68, 69f., 138 Amor fati 2, 22, 74, 75, 130, 133, 143, 164ff. Apoll, apollinisch 19, 20, 26, 38, 45, 87 Aufklärung 23, 35, 85 f. Auslegung 31 f., 35 Buddha, Buddhismus 12, 41, 64, 81, 93f., 9 5 - 9 7 , 106f„ 117, 119-122, 123, 126, 128, 129, 134, 135'·, 144, 146f„ 156f., 159f., 161, 163f., 165, 166 Christentum 42, 44, 157, 161'-' Destruktion 34, 41; — positive 35, 76 Dichten und Denken 47, 60 Dionysos, dionysisch 17, 17*, 18, 19, 19*, 20, 26, 29, 30, 3 2 - 3 4 , 37, 39, 41, 43, 47*, 55, 56, 57, 59, 60, 63, 66, 68, 69, 70, 74, 76, 79, 106, 113, 129, 132, 134, 147, 167ff. Egoismus 24, 65, 84ff. Ekstasis, ekstatisch 29, 37, 144 Empfindung, empfinden 9, 77*, 97 Endlichkeit 10f., 29, 71, 115, 122, 163 Erde 18, 114, 116, 117*, 121, 121*, 122, 144, 149, 161, 162, 169; Erdenglück 23, 25, 85, 103, 107; Glück auf Erden 107, 161 Erhabenes, erhaben 37*, 38, 81, 101 Erkenntnis, Erkennen 20f., 2 4 - 2 7 , 29, 31*, 33f., 35, 45, 50, 54, 55f., 57, 79, 93f., 104f., 119, 121, 122*, 149*, 150, 158ff., 162, 166 Erlösung 17, 17*, 18, 38, 52, 61, 70, 71, 72ff., 80, 81, 124, 125, 131, 132, 145, 161ff., 164 Ewige Wiederkunft des Gleichen 2, 15,18, 41, 43, 56, 64, 67, 74, 76, 85, 87, 94, 95, 98, 99, 111, 113, 115, 120, 122, 124, 127, 131, 132, 133, 146, 147, 148, 150, 161 ff., 168f. Ewigkeit 2, 9, 10f„ 22*, 23, 41, 43, 49, 67, 95, 97, 98f., 107, 124, 129, 131, 133, 138, 161, 163, 168 Eudämonismus 1, 4*, 66, 139, 147
Garten 39*, 59f., 59*; - g l ü c k 59; Philosophie als Gartenkunst 61, 65, 152, 161 Geist 32, 53, 67, 73, 108, 124*, 126, 138, 148, 158; - der freie 48, 73, 99, 103f., 105, 107, 108, 110, 142, 166 Genius 21, 23, 62, 65, 70f., 84, 92, 101 Genuß, Genießen 1, 9, 60, 71, 90, 123*, 166 Glück —sgüter 6, 12; — sumstände 1; — kleines und großes 10, 152f.; - Recht auf 123, 153f., 162; - Streben nach 6f., 6*, 66, 90, 166*; - und Unglück 12f., 27, 75, 125, 152f.; — wirkliches und scheinbares 2, 10, 100 f. Gerechtigkeit, gerecht 16, 38, 41, 89, 113, 125, 130, 140, 153, 162f„ 164 Hedonismus 1, 5*, 30, 66, 69, 139 Heilig, Heiligkeit, Heiliger, Heilung 17, 36, 55, 65, 73, 74, 76, 80*, 97, 97*, 98, 101, 121, 122*, 122, 127, 134 Ich 46*, 52, 64, 68, 69, 70, 88f„ 90, 91 f., 95, 98, 139, 146, 147f., 152, 159, 166; - absolutes 46, 88, 93 Ideal 36, 54, 58, 81*, 139, 142 Idealismus 37, 38, 38*, 75, 83, 92, 129, 139; — absoluter 51, 52f.; — neuzeitlicher 35, 46 Idylle 38*, 47, 59 Jugendstil 59*, 115 Leben 18f., 23, 27, 32, 50, 55, 56, 58, 65, 67, 68, 82, 90, 92, 100, 102, 108, 131, 134, 139, 142, 145, 147, 151, 153, 163, 168; - ewiges 49..139; - ewige Lebendigkeit 134, 139, 149 Lehre, Lehrbarkeit 87, 118 ff. Leiden 68, 69, 75, 76, 80, 89, 95, 96, 99, 101, 103, 122, 146, 153, 163 der letzte Mensch 14, 18, 22f., 55, 69, 79, 122, 122*, 125, 126, 138, 148 Logik 3, 16, 20, 21, 22, 23, 26, 27, 28, 31, 32, 44, 67
180
Sachregister
Lust, Unlust 4*, 13, 16f., 39, 44, 62f., 66, 67f., 69, 70, 74, 75, 133, 141, 150, 155, 164 Macht 9, 32, 55, 65*, 71, 77, 79, 82, 86, 90, 101, 119, 126, 132, 135, 141, 145, 146, 156, 166 Meditation 94*, 97, 119, 120, 161 Metaphysik, metaphysisch 20, 24, 25f., 31, 32*, 34, 42, 44, 50, 60, 72, 74, 107, 111,126, 130, 138, 144 Mitleid 119, 124, 125 Moral, moralisch 8f., 26, 42, 45f., 50, 59, 61 ff., 80, 91, 130, 141, 142, 144, 146 Mysterium 74, 75*, 115, 115* Mystik 35*, 36, 43*, 49, 65, 83, 83*, 95, 106*, 128f., 134, 135,; Mystiker 35, 82, 83, 88, 93, 103*, 110, 126, 138, 150; mystisch 29, 49, 64, 78, 82, 86, 95, 100*, 101, 130, 131f., 138, 141, 150, 164 Natur, natürlich 19, 20, 21, 31, 43, 45, 46ff., 61 ff., 84f., 90, 109, 110, 123, 127, 135, 141 Nihilismus, nihilistisch 13, 22*, 25, 40, 51, 54, 55f., 60, 73, 81, 90, 99, 105, 107, 134, 143, 162 Optimismus, optimistisch 16, 20, 21, 22, 24, 25, 27, 164 Perspektivismus 29, 32, 34*, 69, 99, 112 Pessimismus, pessimistisch 4*, 13, 15, 16, 21, 30, 56, 57, 80, 81, 89, 146 Philosoph 34, 38, 82, 84f., 97, 100, 103, 109, 131, 139*, 141, 142, 157, 165 Philosophie, philosophisch 1, 3, 10, 26—29, 32*, 33, 34, 39, 47, 52, 53, 54*, 58, 61, 61*, 66, 72, 74f., 77, 79, 81, 9 3 f „ 95, 101, 105, 124, 127*, 128, 143 f., 145, 147, 148, 149, 151, 155, 156, 159f., 165, 167 physiologisch 91 Positivismus 18*, 35, 115, 150 Präraffaeliten 60 Rache 44, 72, 131 Reflexion 10, 18, 61, 147, 159 Religion, religiös 16, 42, 42*, 61*, 70*, 73, 74*, 105 f., 107, 117, 119, 124, 127, 127*, 128 f., 130, 131, 135, 139, 141, 147, 155, 156 Rousseauismus 47
Schein 10, 17*, 29, 40, 45, 50, 67, 69, 70, 71, 88, 102, 104, 106, 131, 144, 159 Sokratismus 20, 2 5 - 2 8 , 29 Stoa, Stoiker, Stoizismus 1, 47, 68, 95 Symbolismus, symbolistisch 60, 103, 111 ff., 111*, 115, 148 System 18*, 51, 79, 156 Technik 54f., 63* teleologisch 27*, 51 f., 57 Theorie, theoretisch 21, 24, 30, 55 Tod Gottes 2, 13, 14, 16, 18, 105, 119, 125, 126, 140, 163 Tragödie, tragisch 18, 19, 20, 21, 24, 25, 28, 30, 36, 37f., 39, 41, 43, 67, 69, 76, 80*, 82, 143 Transzendenz 5, 5*, 22, 37, 105, 114*, 130, 132, 144, 145, 151, 153*, 162, 165; - absolute 64, 97, 98, 106f., 119, 129, 136, 157, 161; - S c h w u n d 22, 23, 24, 73, 105, 119 Übermensch 2, 18, 37, 42, 56, 64, 74, 92, 124, 147 Unbedingtes 118, 128, 160, 160*, 162, 164, 165 Vernichtung 19*, 24, 25, 36, 40, 49, 55, 60 Wahrheit, absolute 102, 103, 105 Welt 18, 19, 24, 29*, 36, 38, 40f., 42, 43, 45, 51, 53, 56, 58, 61, 69, 70, 71, 72, 87, 88, 97, 106 f., 119, 129, 144, 150, 163, 165, 169; — Rechtfertigung der 16, 18; —Vernichtung 2 3 f . ; Verweltlichung 22, 24 Wille zur Macht 2, 18, 19, 31, 39, 47*, 64, 66, 69, 71, 74, 79, 99, 108, 111, 113, 129, 130f., 134, 138, 140, 143, 145, 146, 147, 148, 150 Wissenschaft 3, 18, 19, 19*, 20, 22, 23, 24, 25, 26, 2 7 f . , 30, 53, 54*, 5 5 f „ 55*, 81, 89, 104f., 116, 134, 144, 149, 160 Wissenschaftstheorie 19, 28 Wirklichkeit, wirklich 21, 26, 27, 29, 30, 38, 41, 42, 43, 67, 69, 70, 71, 73, 74, 76, 80, 89, 106, 110, 115, 121, 153 Zeit 2, 9, 10, 36, 38*, 43, 49, 56, 65, 73, 80*, 131, 146, 154 Zenbuddhismus 106* Zufall 1, 1*, 49, 52, 66
Friedrich Nietzsche Sämtliche Werke Kritische Studienausgabe Herausgegeben von Giorgio Colli f und Mazzino Montinari
Band 1—6: Werke und Schriften Band 7—13: Nachgelassene Fragmente Band 14—15: Kommentar, Chronik, Register Die Kritische Studienausgabe der Werke Nietzsches, die textidentisch ist mit der Kritischen Gesamtausgabe, macht den gesamten philosophischen Nachlaß Nietzsches von 1869—1889 (also von den Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie bis zu Nietzsches geistigem Zusammenbruch) einem breiteren Publikum zugänglich. Auf Juvenilia, Philologica und die Basler Vorlesungen wurde in dieser Ausgabe verzichtet. Die Kommentarbände bringen eine Auswahl aus dem kritischen Apparat der Gesamtausgabe. Eine ausführliche Chronik zu Nietzsches Leben von 1869—1889 mit zahlreichen Briefzitaten von Nietzsche, seiner Familie und von Zeitgenossen und ein ausführliches Register zu Werken, Nachlaß und Kommentar beschließen die Ausgabe.
15 Dünndruck-Bände in Kassette, ca. 8800 Seiten dtv/de Gruyter
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Preisänderung vorbehalten
Walter
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Berlin · New York
Mazzino Montinari
Nietzsche lesen Oktav. Χ , 214 Seiten. 1982. Kartoniert D M 2 8 , (de Gruyter Studienbuch) Der Herausgeber der neuen kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken und Briefwechsel teilt hier einige Resultate aus seiner eigenen Nietzsche-Lektüre mit, und zwar aus der Werkstatt der Edition. Er behandelt Fragen der Biographie, der Entstehungsgeschichte von Nietzsches Werken, der Interpretation, sowie auch der Editions· und Rezeptionsgeschichte.
Wolfgang Müller-Lauter
Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie Groß-Oktav. VIII, 195 Seiten. 1971. Ganzleinen D M 5 6 , In der Nietzsche-Forschung spielt das Problem der Gegensätze von Nietzsches Philosophieren eine entscheidende Rolle. Es ist jedoch bisher kaum beachtet worden, daß Nietzsche den Gegensatz als konstitutiv für sein eigenes Denken herausgearbeitet hat: so in seiner Lehre vom Willen zur Macht. Insofern nur von dieser aus die Lehren vom Übermenschen und von der ewigen Wiederkunft verstanden werden können, wirft die Ausarbeitung des Problems der Gegensätzlichkeit ein neues Licht auf Nietzsches Philosophie.
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