Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche 9783110216639, 9783110209181

Since the early period of German Idealism, the phenomenon of the tragic has been in the focus of philosophical self-unde

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German Pages 688 Year 2011

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Table of contents :
Einleitung
Sektion I. Konstellationen des Tragischen
Tragik und Dialektik. Zur Genese einer Grundkonstellation nihilistischer Daseinsdeutung
Konstellationen und Grenzen des Tragischen. Figuren der Negativität
Existential-Semantik. Überlegungen über das Verhältnis von Tragödie, Theodizee und Philosophie
„Die Politik ist die wahre Tragödie“. Versuch, eine Bemerkung Platons zu verstehen
Sektion II. Das Tragische in der Antike
Über das Tragische bei den Griechen
Medea, Dea ex Machina. Aristoteles über Euripides
Der Staub und das Denken. Zur Faszination der sophokleischen Antigone nach dem Krieg
Sektion III. Das Tragische in der Philosophie des Deutschen Idealismus
Schelling und die Epochen des Tragischen
Das tragische Absolute bei Schelling und Hölderlin
Freiheit und Notwendigkeit. Zur Poetik und Philosophie des Tragischen bei Aristoteles und Schelling
Die Notwendigkeit des Scheiterns oder das Tragische als Struktur der Philosophie Schellings
Der kommende Gott. Dionysos bei Nietzsche und Schelling
Tragödie, Komödie und Farce. Zur geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Tragödie bei Hegel und Marx
Wissen und Wahrheit im Widerstreit. Zu Hegels Theorie der Tragödie
Sektion IV. Das Tragische zwischen Schopenhauer und Nietzsche
Nietzsche, Schopenhauer und Dionysos
Die Philosophie des Tragischen bei Schopenhauer
Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer
Von der Philosophie als Vollenderin der Kunst. Schopenhauer und das Tragische
Leidenschaftliche Individualität. Zur tragischen Verfassung gesteigerten Lebens bei Schopenhauer, Nietzsche und Camus
Sektion V. Nietzsche und das Tragische in der Moderne
Ist das Leben tragisch? Überlegungen zu Platon und Nietzsche
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Deutschen. Nietzsches Antikenprojekt
Nietzsche und die Wiedergeburt der Tragödie
Das Leben lebenswert machen: Nietzsche über die Kunst in Die Geburt der Tragödie
Die Schönheit ist falsch, die Wahrheit hässlich: Nietzsche über die Kunst und das Leben
Das Tragische in Nietzsches Spätwerk
Die tragische Überwindung des Nihilismus. Nietzsches ,Philosophie des Tragischen‘ von der Geburt der Tragödie bis zum Spätwerk
Ein Begriff des Tragischen „zum Hausbedarf“. Julius Bahnsen schreibt an Friedrich Nietzsche
Die Dichtung der Wahrheit. Nietzsches tragische Weltansicht im Kontext seiner Sprachauffassung
Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Personenregister
Register der literarischen Figuren und mythologischen Gestalten
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Die Philosophie des Tragischen: Schopenhauer – Schelling – Nietzsche
 9783110216639, 9783110209181

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Die Philosophie des Tragischen

Die Philosophie des Tragischen Schopenhauer - Schelling - Nietzsche

Herausgegeben von Lore Hühn und Philipp Schwab

De Gruyter

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Schopenhauer-Gesellschaft (Frankfurt a. M.) und der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau.

ISBN 978-3-11-020918-1 e-ISBN 978-3-11-021663-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Die Philosophie des Tragischen : Schopenhauer - Schelling - Nietzsche / herausgegeben von Lore Hühn und Philipp Schwab. p. cm. Proceedings of a symposium held May 21-24, 2008 at Albert-LudwigsUniversität. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-020918-1 (hardcover : alk. paper) 1. Tragic, The - History - Congresses. 2. Schopenhauer, Arthur, 1788-1860 - Congresses. 3. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von, 1775-1854 - Congresses. 4. Nietzsche, Friedrich Wilhelm, 1844-1900 Congresses. I. Hühn, Lore. II. Schwab, Philipp. BH301.T7P44 2011 128-dc23 2011035021

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Die hier versammelten Beiträge gehen zurück auf ein internationales Symposium, das vom 21.–24. Mai 2008 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau von der Schopenhauer-Gesellschaft in Kooperation mit der Internationalen Schelling-Gesellschaft, der Nietzsche-Gesellschaft sowie der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Freiburg) und dem Philosophischen Seminar Freiburg ausgerichtet wurde. Ergänzt werden die hier in Überarbeitung vorgelegten Tagungsbeiträge des Symposiums durch einige Aufsätze aus der anglo-amerikanischen Forschung, die erstmals in deutscher Sprache erscheinen (David Farrell Krell, Martha C. Nussbaum, Richard Schacht, Dennis J. Schmidt), sowie den Wiederabdruck eines inzwischen „klassisch“ zu nennenden Beitrags zur ,Philosophie des Tragischen‘ von Klaus Heinrich. Das Zustandekommen des Symposiums wie auch dieses Bandes wurde durch die Unterstützung einer Vielzahl von Personen und Institutionen ermöglicht, denen hier ein herzlicher Dank ausgesprochen sei. Wir danken insbesondere der Schopenhauer-Gesellschaft (Sitz Frankfurt a.M.) und ihren Präsidenten Prof. Dr. Matthias Koßler (Mainz) und Prof. Dr. Dieter Birnbacher (Düsseldorf), die das Symposium wie auch die Buchpublikation durch ihre tatkräftige und nicht zuletzt finanzielle Unterstützung erst möglich gemacht haben. Danken möchten wir auch der Internationalen Schelling-Gesellschaft (Sitz Leonberg), die die Organisation der Tagung mitgetragen und mitfinanziert hat. Ferner gilt unser Dank der Nietzsche-Gesellschaft (Sitz Naumburg a. d. Saale), ihrer Vorsitzenden Prof. Dr. Beatrix Himmelmann (Tromsø) und Prof. Dr. Andreas Urs Sommer (Freiburg) von der Forschungsstelle „NietzscheKommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Nicht zuletzt möchten wir Herrn Prof. Dr. Jochen Schmidt (Freiburg), dem Leiter der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“, für die Kooperation und die finanzielle Beteiligung danken. Der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg im Breisgau gilt ebenfalls unser Dank für die großzügige Bezuschussung der Druckkosten des Bandes. Herr Robert Simon, M.A. (Freiburg) hat die organisatorische Durchführung der Tagung übernommen und keine Mühe gescheut, für ihren reibungslosen und gelungenen Ablauf Sorge zu tragen. Dafür sei

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Vorwort

ihm herzlich gedankt. Danken möchten wir auch all denen, die in Freiburg an der Redaktion des Bandes und der Korrektur der hier versammelten Beiträge mitgearbeitet haben: Herrn Alexander Bilda, M.A., Herrn Christoph Rüßler, Herrn Franz Straubinger, Herrn Sören Wulf, B.A. und insbesondere Frau Eva Bucher und Frau Lisa Egloff, M.A. Ein besonderer Dank gilt Herrn Philipp Höfele, M.A. (Freiburg), der in der Abschlussphase der Redaktion an der Vereinheitlichung des Druckmanuskripts mitgearbeitet hat. Er hat entscheidenden Anteil daran, dass der insgesamt doch recht umfänglich gewordene Band in einer leserfreundlichen Form vorliegt. Gedankt sei schließlich dem Verlag Walter De Gruyter, namentlich Frau Dr. Gertrud Grünkorn und Herrn Christoph Schirmer für die hervorragende Betreuung und Beratung. Freiburg, im Sommer 2011 Die Herausgeber

Inhalt Lore Hhn / Philipp Schwab Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Sektion I Konstellationen des Tragischen Lore Hhn Tragik und Dialektik. Zur Genese einer Grundkonstellation nihilistischer Daseinsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Emil Angehrn Konstellationen und Grenzen des Tragischen. Figuren der Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Wilhelm Schmidt-Biggemann Existential-Semantik. Überlegungen über das Verhältnis von Tragödie, Theodizee und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Volker Gerhardt „Die Politik ist die wahre Tragödie“. Versuch, eine Bemerkung Platons zu verstehen . . . . . . . . . . . .

83

Sektion II Das Tragische in der Antike Bernhard Zimmermann Über das Tragische bei den Griechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Anselm Haverkamp Medea, Dea ex Machina. Aristoteles über Euripides . . . . . . . . .

143

Klaus Heinrich Der Staub und das Denken. Zur Faszination der sophokleischen Antigone nach dem Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

VIII

Inhalt

Sektion III Das Tragische in der Philosophie des Deutschen Idealismus Claus-Artur Scheier Schelling und die Epochen des Tragischen . . . . . . . . . . . . . . . .

187

David Farrell Krell Das tragische Absolute bei Schelling und Hölderlin . . . . . . . . .

203

Juichi Matsuyama Freiheit und Notwendigkeit. Zur Poetik und Philosophie des Tragischen bei Aristoteles und Schelling . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Katia Hay Die Notwendigkeit des Scheiterns oder das Tragische als Struktur der Philosophie Schellings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Damir Barbaric´ Der kommende Gott. Dionysos bei Nietzsche und Schelling . .

263

Christian Iber Tragödie, Komödie und Farce. Zur geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Tragödie bei Hegel und Marx . . . . . . . . .

281

Tilo Wesche Wissen und Wahrheit im Widerstreit. Zu Hegels Theorie der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Sektion IV Das Tragische zwischen Schopenhauer und Nietzsche Martha C. Nussbaum Nietzsche, Schopenhauer und Dionysos . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Brigitte Scheer Die Philosophie des Tragischen bei Schopenhauer . . . . . . . . . .

357

Barbara Neymeyr Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

369

Inhalt

IX

Markus Scheffler Von der Philosophie als Vollenderin der Kunst. Schopenhauer und das Tragische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

393

Asmus Trautsch Leidenschaftliche Individualität. Zur tragischen Verfassung gesteigerten Lebens bei Schopenhauer, Nietzsche und Camus . .

417

Sektion V Nietzsche und das Tragische in der Moderne Gnter Figal Ist das Leben tragisch? Überlegungen zu Platon und Nietzsche .

441

Gnter Zçller Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Deutschen. Nietzsches Antikenprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

Dennis J. Schmidt Nietzsche und die Wiedergeburt der Tragödie . . . . . . . . . . . . .

473

Richard Schacht Das Leben lebenswert machen: Nietzsche über die Kunst in Die Geburt der Tragçdie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

Christopher Janaway Die Schönheit ist falsch, die Wahrheit hässlich: Nietzsche über die Kunst und das Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . .

531

Andreas Urs Sommer Das Tragische in Nietzsches Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

553

Philipp Schwab Die tragische Überwindung des Nihilismus. Nietzsches ,Philosophie des Tragischen‘ von der Geburt der Tragçdie bis zum Spätwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

575

Domenico M. Fazio Ein Begriff des Tragischen „zum Hausbedarf“. Julius Bahnsen schreibt an Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

623

X

Inhalt

Mirko Wischke Die Dichtung der Wahrheit. Nietzsches tragische Weltansicht im Kontext seiner Sprachauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

637

Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben . . . . . . . . . . . . . . . .

653

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . .

657

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Register der literarischen Figuren und mythologischen Gestalten

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Einleitung Lore Hhn / Philipp Schwab Es kennzeichnet die Tragödie in ihrer mehr als zweieinhalbtausendjährigen Geschichte, dass sie immer wieder totgesagt und als eine anachronistische Gattung verworfen worden ist.1 Zugleich wird sie aber wie keine andere Form des Dramas stets aufs Neue als Strukturmodell und als Projektionsfläche herangezogen, auf der sich unser modernes Denken gewissermaßen im vormodernen Horizont der antiken Tragödien mit sich selbst konfrontiert und spiegelt.2 Es ist das Spezifische dieser Selbstkonfrontation, dass gerade im Lichte dieser Brechung allererst zu Tage kommt, was sich anders womöglich gar nicht sagen oder darstellen ließe: sei es, weil es uns bewusst gar nicht zugänglich ist, sei es, weil es abgespalten oder verdrängt wurde, sei es, weil man es allzu leichtfertig 1

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George Steiner zufolge stellt die Tragödie eine Errungenschaft allein der griechisch-hellenistischen Kultur dar; dem jüdisch-christlichen – auf Gerechtigkeit und Berechenbarkeit basierenden – Welt- und Gottesverständnis sei die Tragödie dagegen von Grund auf fremd. Mit Ausnahme einzelner ,unzeitgemäßer‘ Dramatiker wie Shakespeare oder Racine sei somit spätestens seit dem 17. Jahrhundert und dem Triumph des Rationalismus ein Verstummen der Tragödie zu konstatieren. Vgl. George Steiner: The Death of Tragedy. London 1961, bes. S. 4 u. S. 193 f. – Zu dieser mittlerweile schulbildend kolportierten Interpretation vgl. Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Eine ästhetische Aufklärung. In: Neue Rundschau 111 (2000), S. 85 – 95; ders.: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005; Terry Eagleton: Sweet Violence. The Idea of the Tragic. Oxford 2003; Karl Heinz Bohrer: Das Verschwinden der Tragödie. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 684 (2006), S. 346 – 353; Daniel Fulda/Thorsten Valk: Einleitung. In: dies. (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Berlin/New York 2010, S. 1 – 20 sowie Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung. Weilerswist 2011, S. 29 – 32. Vgl. Roland Galle: Tragisch – Tragik. In: Karlheinz Bark u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart/Weimar 2000 – 2010, Bd. 6, S. 117 – 170; ders.: Existentialismus und Tragödie. In: Fulda/Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne, S. 235 – 257; Michel Maffesoli: The Return of the Tragic in Postmodern Societies. In: Rita Felski (Hg.): Rethinking Tragedy. Baltimore 2008, S. 319 – 336 sowie Ette: Kritik der Tragödie, S. 9 – 33.

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Lore Hühn / Philipp Schwab

hinter sich gebracht und erledigt zu haben glaubte, oder sei es schließlich, weil eine tragische Auslegung unseres Daseins am konsequentesten der Illusion widerstreitet, die Moderne mit ihren fortschrittsgläubigen Emanzipationsimperativen könne in Wahrheit existentielle Erfahrungen tragischen Scheiterns zum Verschwinden bringen und die Aporetik der Konflikte, die im Tragischen zentriert sind, überflüssig machen.3 Unbeeindruckt von dem Hegelschen Diktum, dem zufolge es die christliche Moderne in ihrer Abgrenzung zur heidnischen Antike geradezu definiert, das Tragische überwunden und den Vergangenheitscharakter der klassischen Kunst als unüberbietbar höchste Form der hellenistischen Epoche besiegelt zu haben,4 ist die kulturelle Erinnerung an das Tragische und seine Geschichte heute präsenter denn je. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die von Hegel in seiner Dialektik unterbreitete Binnendifferenzierung dessen, was Negativität bedeutet, ihre Überzeugungskraft eingebüßt hat. Die von ihm als fundamental erachtete Differenz zwischen einer die griechische Welt charakterisierenden Negativität, die im Schicksal des Sokrates als „echt tragisch“ alles heidnische Denken ante Christum natum kennzeichnet,5 und jener auf dem 3

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Vgl. Ludger Heidbrink: Ende des tragischen Zeitalters? Zur Ambivalenz eines kulturgeschichtlichen Deutungsmusters. In: Günter Meuter/Henrique Ricardo Otten (Hg.): Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert. Würzburg 1999, S. 209 – 231 sowie Rita Felski: Introduction. In: dies. (Hg.): Rethinking Tragedy, S. 1 – 25. Zum Vergangenheitscharakter der Kunst vgl. Hegel, Ästh. I, TWA 13, S. 22 – 25, wo es u. a. heißt: „In allen diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes“ (Ästh. I, TWA 13, S. 25); vgl. auch Ästh. I, TWA 13, S. 141 f. sowie die Parallelstellen in Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen. Bd. 2: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst: Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert. Hamburg 1998, S. 6, S. 36 – 38, S. 198 – 204, S. 311 f. – Vgl. zum Ganzen Michael Theunissen: Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat. Berlin/New York 1970, S. 175 – 215; Arthur C. Danto: Kunst nach dem Ende der Kunst. Aus d. Engl. v. Christiane Spelsberg. München 1996; Brigitte Hilmer: Scheinen des Begriffs: Hegels Logik der Kunst. Hamburg 1997; Eva Geulen: Das Ende der Kunst: Lesarten eines Gerüchts nach Hegel. Frankfurt a.M. 2002; Bernhard Lypp: Einleitung. KunstPhilosophie. Reflexionen zu einem Gedankenstrich. In: ders.: Die Erschütterung des Alltäglichen. Kunst-Philosophische Studien. München 1991, S. 9 – 28. „Das Schicksal des Sokrates ist so echt tragisch. Dies ist eben das allgemeine sittliche tragische Schicksal, daß ein Recht gegen ein anderes auftritt, – nicht als ob nur das eine Recht, das andere Unrecht wäre, sondern beide sind Recht, entgegengesetzt, und eins zerschlägt sich am anderen; beide kommen in Verlust, und so sind auch beide gegeneinander gerechtfertigt. […] Das Prinzip der

Einleitung

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Boden der Moderne erst möglich gewordenen Form von Negativität, welche im Horizont christlichen Versöhnungsdenkens wahrhaft tragische Konstellationen gar nicht mehr zulässt, ist nicht zufällig zum Stein des Anstoßes geworden und hat heute ihre kanonische Geltung weithin verloren. Sowenig diese Fundamentaldifferenz mit Hegels Geschichtsphilosophie freilich erst in die Welt gekommen ist und auf die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus etwa beschränkt bliebe, sowenig erweist sie sich als wirklich tragfähig, wenn es gilt, die mehr als bloß rhetorische Wirkmächtigkeit und tief greifende Überzeugungskraft, die das tragische Vokabular in der kulturellen und philosophischen Selbstverständigung der Moderne besitzt, zu erklären. Die Frage nach der allgegenwärtigen Präsenz dieses Vokabulars heute ist die Frage nach dem Subtext tragischer Grundbegrifflichkeiten inmitten dieses Verständigungsprozesses selbst.6 Zweifelsohne weist und führt diese Frage, auf so prinzipielle Weise gestellt, grundlegend über die von Hegel auf den Weg gebrachte und bis in die allerjüngste Vergangenheit anhaltende Debatte um die spezifische Epochenqualität des Tragischen hinaus.7 Kein Zweifel auch, dass im Horizont dieser Fragestellung jene gegenwärtig so ambitioniert vorgetragenen Versuche, die Moderne durch eine prinzipielle Abgrenzung zur Tragödie zu definieren, sich vergleichsweise naiv ausnehmen. Schließlich ist das Tragische in einer maßgebenden Art und Weise für unsere kulturelle und philosophische Selbstbeschreibung konstitutiv geworden, und dies nicht in dem Sinne, dass das in der abendländischhellenistischen Tradition ursprünglich ausgebildete Vokabular durch die Geschichte unverändert hindurchgereicht würde, wohl aber dergestalt, dass es aus dem Zeit- und Selbstverständnis des jeweiligen Rezipienten

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griechischen Welt konnte noch nicht das Prinzip der subjektiven Reflexion ertragen; so ist es als feindlich zerstörend aufgetreten“ (Hegel, GeschPh I, TWA 18, S. 514). Vgl. hierzu Lore Hühn: Ironie und Dialektik. Zur Kritik der Romantik bei Kierkegaard und Hegel. In: Kierkegaard Studies. Yearbook (2009), S. 17 – 40. Vgl. Daniel Fulda: Dialektik der Dialektik. Das nicht nur dramaturgische Problem einer ,modernen Tragödie‘ und die ,Tragödie der Moderne‘ bei Ibsen, Hauptmann, Maeterlinck und Hofmannsthal. In: Werner Frick (Hg.): Europäische Jahrhundertwende – Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium. Göttingen 2003, S. 7 – 30. Vgl. Fred Lönker: Der Verfall des Tragischen. In: Werner Frick (Hg.): Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur. Göttingen 2003, S. 316 – 334; vgl. auch die in Anm. 1 genannte Literatur.

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Lore Hühn / Philipp Schwab

und der jeweiligen Rezipientin heraus je neu interpretiert wird, und dies mit all den semantischen Verschiebungen und Brechungen, die ein solcher Aneignungsprozess mit sich bringt. *** Wer gegenwärtig die Frage nach der Präsenz des tragischen Vokabulars in unseren kulturellen Selbstbeschreibungen stellt, stößt hierzulande auf eine Auseinandersetzung, die bis in die überregionale Tagespresse hinein ein überraschend breites Echo gefunden hat. Es ist Botho Strauß, der die Kontroverse um das Tragische im Spannungsfeld des modernen Selbstverständnisses geradezu berühmt machte, als er noch in jüngster Vergangenheit in seinem im Spiegel erschienenen Essay „Anschwellender Bocksgesang“ zu einer erneuten und vertieften Ursprungsbesinnung dessen herausforderte, woraus die hellenistisch-abendländische Kultur ganz wesentlich hervorgegangen ist, nämlich blutige Opferhandlungen und damit einhergehende Riten. Schließlich bedeutet Tragödie, griechisch ,tqac\d¸a‘, wie der Titel des kontrovers diskutierten Essays schon anzeigt, zunächst nichts anderes als „Gesang anläßlich eines Bockopfers“.8 Strauß fährt fort: „Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien, darin unterscheidet sie sich kaum von früheren Welten, sondern allein das unerhörte Moderieren, das unmenschliche Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlung.“9 Botho Strauß hat einmal mehr versucht, als Querdenker unserer Zeit sich einen Namen zu machen, als er gegen die „Totalherrschaft der Gegenwart“10 mit ihren verflachenden Theorien von schamloser Medialisierung und rückhaltlos globaler Vermittlung den Erfahrungsprozess des Tragischen aufbot und mobilisierte. Sein Plädoyer für eine derartige Ursprungsbesinnung gibt sich betont unzeitgemäß, und dies zumal darin, dass es quer zum Zeitgeist globaler Vernetzungen eine immer wieder als anachronistisch herabgestufte literarische Gattung zur kulturellen Selbstbeschreibung unserer Gegenwart heranzieht, – eine Selbstbeschreibung, die im Spiegel einer tragischen 8 Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Eine Einführung. 2., erw. Aufl., Düsseldorf/Zürich 1992, S. 13; vgl. auch die Erläuterung des Essay-Titels bei Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel (1993), H. 6, S. 202 – 207, hier S. 203. 9 Strauß: Anschwellender Bocksgesang, S. 206. 10 Ebd., S. 204.

Einleitung

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Auslegung des Daseins die „Schande der modernen Welt“ als solche bewusst machen will und für den unverständlich gewordenen Erfahrungsprozess, der eine tragische Ausdeutung des menschlichen Daseins zur Sprache bringt, zu sensibilisieren versucht. „Verhängnisvoll ist es, keinen Sinn für Verhängnis mehr zu besitzen, unfähig zu sein, Formen des Tragischen zu verstehen.“11 Man kann darüber streiten, wie unzeitgemäß es wirklich ist,12 zur Formulierung eines hoch aktuellen Problems unserer Gegenwart die literarische Gattung der Tragödie zu nutzen. Schließlich konnte Strauß seinem Ruf als Seismograph unserer Zeit gerade dadurch alle Ehre machen, dass er wie bestellt und quer durch alle politischen Lager hindurch ein Echo herausforderte, das öffentlichkeitswirksamer die Frage nach dem Status einer tragischen Auslegung menschlichen Daseins in der Moderne gar nicht aufrollen konnte.13 Natürlich weist die Frage als solche über die in der Presse geführte Debatte,14 bei der man sich bisweilen schon an längst vergangen geglaubte und von Polemik nicht ganz freie Seminardiskussionen der Literaturwissenschaft in den achtziger Jahren zurückversetzt fühlte, weit hinaus. Kein Zweifel, die Frage ist sehr viel älter und von sehr viel elementarerer Bedeutung. Wer sie jedoch heute und vor diesem Hintergrund stellt, trifft auf Meinungen und Polemiken, begegnet Erwartungen und Voreingenommenheiten und wird alleine schon deshalb gut daran tun, die ganze Konstellation des Tragischen in der Moderne noch einmal gründlich zu durchdenken. Ihr Scherflein dazu möchten die in diesem Band versammelten Aufsätze beitragen, indem sie

11 Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.): Die selbstbewusste Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. 3., erw. Aufl., Berlin/Frankfurt a.M. 1995, S. 19 – 42, hier S. 26 [längere Fassung des Essays]. 12 Es ist vielleicht nicht ganz überflüssig, an die Bestimmung des ,Unzeitgemäßen‘ zu erinnern, wie sie sich bei Friedrich Nietzsche mit Blick auf die klassische Philologie findet: „[D]enn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken“ (Nietzsche, UB II HL Vorwort, KSA 1, S. 247). 13 Vgl. Bodo Kirchhoff: Die Mandarine werden nervös. Einige kurze Bemerkungen zu Botho Strauß’ Aufsatz „Anschwellender Bocksgesang“ und dem Echo darauf. In: Die Zeit, Nr. 9, 26. 02. 1993 sowie die Rezension von Robert Leicht: Vom Bockshorn und vom Bocksgesang. In: Die Zeit, Nr. 41, 07. 10. 1994. 14 Vgl. Ralf Havertz: Der Anstoß. Botho Strauß’ Essay „Anschwellender Bocksgesang“ und die Neue Rechte. Eine kritische Diskursanalyse. 2 Bde. Berlin 2008.

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Lore Hühn / Philipp Schwab

aus unterschiedlichen Perspektiven und Fachdisziplinen das Ganze dieser Konstellation beleuchten und kritisch diskutieren. *** Wer heute die Frage nach der Präsenz tragischer Grundbegrifflichkeiten und operationaler Schlüsselfiguren im philosophischen Diskurs der Moderne stellt, betritt wahrlich ebenso wenig Neuland. Man sieht sich vielmehr mit gerade in den letzten Jahren ins Unübersehbare angewachsenen Forschungsbeiträgen der Kultur- und Literaturwissenschaften, der Philosophie und insbesondere der Psychoanalyse konfrontiert, die das Thema jeweils für das eigene Fach fruchtbar machen.15 Dies ist nicht zuletzt als symptomatischer Ausdruck dafür zu werten, dass mit der kulturellen Selbstbeschreibung der Moderne sich zeitlich ein Gegendiskurs zu verharmlosenden Theorien des Fortschritts und der Pluralität mit ausgebildet und unmerklich etabliert hat, – ein Gegendiskurs, der aus dem Fundus tragischer Grundbegrifflichkeiten nicht zufällig schöpft und aus diesem seine modernitätskritischen Potentiale entscheidend bezieht. In welch hohem Maße gerade aus einer tragischen Auslegung menschlichen Daseins dieser Diskurs seine Operations- und Argumentationsfiguren gewinnt, dürfte sich wohl an kaum einer anderen Gestalt eindringlicher bezeugen und exemplarisch ablesen lassen als an der Dialektik der Aufklärung.16 Von Schellings Theorie des Bösen,17 Schopenhauers nihilis-

15 Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Mythe et tragédie en Grèce ancienne. 2 Bde. Paris 1982 – 1986; Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt a.M. 1996, S. 367 – 408; ders.: Vom Sinn des Sinnlosen. Die Herausforderung der Psychoanalyse für die Philosophie. In: Wolfram Mauser/Joachim Pfeiffer (Hg.): Freuds Aktualität. Würzburg 2006, S. 85 – 96; Joachim Küchenhoff: Einleitung. Erinnerung und Neubeginn – eine Einführung. In: ders. (Hg.): Erinnerung und Neubeginn. Gießen 2002, S. 7 – 14; Fulda: Dialektik der Dialektik. In: Frick (Hg.): Europäische Jahrhundertwende, S. 7 – 30; David Scott: Tragedy’s Time: Postemancipation Futures Past and Present. In: Felski (Hg.): Rethinking Tragedy, S. 199 – 217; Karl Heinz Bohrer: Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009; Peter-André Alt: Katharsis und Ekstasis. Die Restitution der Tragödie als Ritual aus dem Geist der Psychoanalyse. In: Fulda/Valk (Hg.): Die Tragödie der Moderne, S. 177 – 206; Mark W. Roche: Formen der Tragödie in der Moderne. In: ebd., S. 339 – 354. 16 Vgl. hierzu Lore Hühn: Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs. Tübingen 2009, S. 236 – 244.

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tischer Daseinsdeutung, Nietzsches Kritik der Dialektik in ihrer sokratischen Gestalt18 bis hin zu Heidegger und Adorno, um nur die prominentesten Beispiele zu nennen, bedient man sich ihrer nur allzu umstandslos als einer Art operationaler Schlüsselfigur, ja eines Explikationsrahmens, gerade um Entfremdungsphänomene ihrer ganzen abgründigen Negativität nach bewusst zu machen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist man gut beraten, sich des tragischen Vokabulars als der Vorgeschichte der dialektischen Grundoperationen in all seinen Facetten zu versichern. Es ist Peter Szondi, mit dessen Namen eine derartige philosophische Auseinandersetzung mit dem Tragischen aufs Engste verbunden ist und der in seiner Habilitationsschrift Versuch ber das Tragische im Ausgriff auf das Ganze einer Philosophie des Tragischen mit dem programmatischen Diktum anhebt: „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.“19 Erst mit Schellings „Deutung des König Ödipus und der griechischen Tragödie im Allgemeinen“ beginne, so der Berliner Literaturwissenschaftler, „die Geschichte der Theorie des Tragischen, die ihr Augenmerk nicht mehr auf dessen Wirkung, sondern auf das Phänomen selber“ richte.20 Zweifelsohne hat es schon vor Schelling eine philosophische Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Tragischen und der Tragödie gegeben: Nicht zuletzt die Erörterungen Lessings im Briefwechsel ber das Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai und in der Laokoon-Abhandlung 17 Die einschlägige Textstelle bei Schelling lautet: „Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß es creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, Alles zu seyn, ins Nichtseyn fällt“ (Schelling, SW VII, S. 390 f.). 18 Vgl. hierzu insbes. Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 101: „Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so trifft doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, d i e t r a g i s c h e E r k e n n t n i s s , die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht.“ 19 Peter Szondi: Versuch über das Tragische (1961). In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260, hier S. 151. 20 Ebd., S. 157 f.

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weisen über rein poetologische Fragestellungen hinaus;21 insbesondere auch vonseiten Schillers sind vor Schellings Philosophischen Briefen ber Dogmatismus und Kriticismus von 1795 Abhandlungen erschienen, die das Tragische zum Gegenstand philosophischer Betrachtung machen.22 Erst in der Philosophie des nachkantischen deutschen Idealismus aber tritt die Erörterung des Tragischen in den Rang einer philosophischen Prinzipienreflexion: Das Tragische ist hier nicht mehr ein Gegenstand philosophischer Ästhetik unter mehreren, sondern der ausgezeichnete Ort einer Selbstverständigung der Philosophie über ihre eigenen Grundlagen und methodischen Operationsfiguren. Das Tragische wird gerade deshalb für das Denken des Idealismus und Nachidealismus zum Austragungsort einer Grundlagenreflexion, weil es als Strukturmodell dient, um Aspekte von Negativität und Leiden, Schicksal und Zufall, von Scheitern und Krise, Schuld und Verhängnis, Entfremdung und Unverfügbarkeit ins Zentrum der Philosophie zu rücken.23 Nicht zuletzt gewinnt in der Auseinandersetzung mit dem Tragischen die Kritik des neuzeitlichen Autonomiegedankens – die sich bei Schelling und Hegel insbesondere an der Frühphilosophie Fichtes entzündet – Gestalt, bietet doch die antike Vorlage mit ihren Konzeptionen von Hybris und Übermaß das Modell, um die heillose Selbstverstrickung und Selbstüberforderung auszubuchstabieren, in welche die neuzeitliche Subjektivität mit ihrem Anspruch, sich allein aus und durch sich selbst zu begründen, notwendig gerät. In scharfer Abgrenzung zu verharmlosenden Theorien des Fortschritts und der Autonomie spricht sich in der Konstellation des Tragischen zwischen Idealismus und 21 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing/Moses Mendelssohn/Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Hg. v. Jochen Schulte-Sasse. München 1972 sowie Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. v. Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchges. u. verm. Aufl., besorgt durch Franz Muncker. Stuttgart/Berlin/Leipzig 1886 – 1924, Bd. 9, S. 1 – 177. 22 Vgl. Friedrich Schiller: Ueber die tragische Kunst (1792). In: ders.: Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schillerarchivs, des SchillerNationalmuseums und der deutschen Akademie hg. v. Julius Petersen u. a. Weimar 1943 ff., Bd. 20, S. 148 – 170; ders.: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792). In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 133 – 147 sowie ders.: Ueber das Pathetische (1793). In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 196 – 221. 23 Vgl. systematisch zu diesen Aspekten des Tragischen Karl Jaspers: Über das Tragische. München 1952, bes. S. 17 – 19 u. S. 22 – 29.

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Nachidealismus eine Philosophie aus, die den Verhängnischarakter der Moderne analysiert. Vor diesem Hintergrund gibt die Formation von Gestalten, in der die ,Philosophie des Tragischen‘ von ihren Anfängen bei Schelling und Hegel über Schopenhauer bis hin zu Nietzsche jeweils erscheint, geradezu den hermeneutischen Schlüssel an die Hand, um das krisenhafte Selbstverständnis der Moderne in seiner Genealogie nachzuvollziehen und zugleich das Verhältnis von klassischer deutscher Philosophie und nachidealistischem Denken in seinen Brüchen wie in seinen Kontinuitäten zu diskutieren: Auf Schelling und Hegel trifft zweifelsohne Szondis These zu, nach der das Tragische das Vormodell spekulativer Dialektik bilde.24 Bei beiden Idealisten stehen – wenn auch freilich auf je verschiedene Weise – in ihrer Analyse des Tragischen die Momente von Negativität, Selbstentzweiung und Widerspruch im Zentrum, um von dort aus in die Grundlagen ihrer jeweiligen philosophischen Systemkonzeptionen überführt und eingezeichnet zu werden. Zugleich aber bleibt in der Sphäre der klassischen deutschen Philosophie bei aller unhintergehbaren Härte der Negativität die Perspektive auf eine Lösung des tragischen Konflikts und eine Überführung in eine höhere Ordnung noch gewahrt: In Schellings zehntem Brief bewhrt und behauptet sich die Freiheit gerade in ihrem Untergang;25 in allen differentiellen Analysen des Tragischen bei

24 Im Ausgriff auf eine ,Philosophie des Tragischen‘ im Ganzen allerdings ist Szondis Identifikation des Tragischen mit der Dialektik schon früh kritisiert worden, vgl. Szondis – seinen Versuch ber das Tragische verteidigende – Bemerkungen in dem Brief an Siegfried Unseld, Suhrkamp Verlag, vom 10. 09. 1960. In: Peter Szondi: Briefe. Hg. v. Christoph König/Thomas Sparr. Frankfurt a.M. 21994, S. 103 – 105 sowie die Kritik von Ludwig Marcuse: Das Tragische, wiederbefragt. Dialektik als Sesam-öffne-dich (1961). In: ders.: Wie alt kann Aktuelles sein? Literarische Porträts und Kritiken. Hg. mit einem Nachw. u. einer Auswahlbibliogr. v. Dieter Lamping. Zürich 1989, S. 390 – 392; vgl. neuerdings auch Bohrer: Das Tragische, bes. S. 24. 25 Vgl. hierzu Claus-Artur Scheier: Kants dritte Antinomie und die Genese des tragischen Gedankens. Schelling 1795 – 1809. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 103 (1996), S. 76 – 89; Lore Hühn: Die Philosophie des Tragischen. Schellings „Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus“. In: Jörg Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 95 – 128. Vgl. zu der These, dass beim mittleren Schelling hingegen die Lösung des tragischen Konfliktes eher in den Hintergrund trete und sich als lediglich scheinhafte erweise Wolfram Hogrebe: Prädikation

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Hegel26 zwischen dem Naturrechtsaufsatz und der sthetik ist die tragische Kollision und Selbstentzweiung auf die Möglichkeit einer Selbstversçhnung bezogen.27 Im pessimistischen bzw. nihilistischen Horizont Schopenhauers und Nietzsches erfährt der negative Aspekt des Tragischen demgegenüber eine Vertiefung und Verschärfung, die einen jeden Versuch, der Negativität, dem Leiden und der Nichtigkeit des Daseins ein sinnkonstituierendes Moment abzuringen, zunächst einmal unterläuft. Hier zeichnet sich das spezifisch moderne Verständnis des Tragischen ab, jene von Ludwig Marcuse so genannte „tragische Tragödie“, deren „[a]bsolute Tragik“ sich im „Leid ohne Sinn“ ausspreche.28 Gleichwohl prägt sich auch bei Schopenhauer und Nietzsche – obschon auf höchst eigentümliche und radikale Weise – der Zugriff auf eine ,Bewältigung‘ oder ,Überwindung‘ des Negativen aus. Für Schopenhauer bildet die Tragödie deshalb den ,Gipfel der Dichtkunst‘, weil sie uns die Erkenntnis von der vollkommenen Nichtigkeit und Schuldhaftigkeit des Daseins und der heillosen Konfliktualität des gegen sich selbst streitenden blinden Willens eröffnet. Als einzige ,Bewältigung‘ dieses Leidens erscheint dann nur noch die schlechthinnige Verneinung des Willens, zu der die Tragödie hinleite. In unmittelbarem Anschluss an Schopenhauer, aber der Grundtendenz in dessen Auslegung der Tragödie widersprechend, entwirft Nietzsche eine ,tragische Weltsicht‘ in seiner Erstlingsschrift Die Geburt und Genesis. Metaphysik als Fundamentalheuristik im Ausgang von Schellings „Die Weltalter“. Frankfurt a.M. 1989. 26 Vgl. zu den verschiedenen Konzeptionen des Tragischen bei Hegel Michael Schulte: Die „Tragödie im Sittlichen“. Zur Dramentheorie Hegels. München 1992; Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996. 27 Obgleich Szondi diese ,Versöhnungsperspektive‘ im Hinblick auf Schelling und Hegel ausdrücklich einräumt (vgl. bes. Szondi: Versuch über das Tragische, S. 167) und zugleich seinen Hegel-Kommentar als „Grundlage“ für alle weiteren Interpretationen ausweist (ebd., S. 153), ist es seiner Untersuchung selbst offensichtlich um eine Struktur des Tragischen zu tun, die der ,Aufhebung‘ des Konflikts widersteht: „[D]er tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten – sei’s immanenten, sei’s transzendenten Sphäre“ (ebd., S. 209, vgl. auch zur Abgrenzung von Hegels Systematik ebd., S. 159 Anm.). Vgl. hierzu auch Fulda/Valk: Einleitung. In: dies. (Hg.): Die Tragödie der Moderne, bes. S. 17. 28 Ludwig Marcuse: Die Welt der Tragödie. Berlin 1923 (Nachdruck München 1977), S. 17 f.

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der Tragçdie. Die Aufgabe, die Nietzsche sich in diesem Werk vornimmt, besteht darin, Schopenhauers pessimistische Grundeinsicht von der Nichtigkeit des Daseins festzuhalten und zugleich in eine tragische Lebensbejahung zu verwandeln – eine Aufgabe, für die Nietzsche die von der Antike her tradierte Duplizität der Kunstmächte des Apollinischen und Dionysischen in Anspruch nimmt. Zugleich deutet sich schon in der Geburt der Tragçdie ein Verständnis des Tragischen an, das dieses nicht mehr von der Struktur einer dialektisierbaren Kollision her denkt, sondern von der Performativität eines unmittelbaren Betroffenseins im Pathos. Nietzsches späteres Werk wird diesen Ansatz vertiefen: Schopenhauers pessimistische Grundeinsicht wird durch eine Analyse des ,europäischen Nihilismus‘ abgelöst, der wiederum durch den tragischen Gedanken der ,Ewigen Wiederkunft‘ als ,Formel der höchsten Bejahung‘ überwunden werden soll. Die Geschichte der ,Philosophie des Tragischen‘ kann mithin als Prozess einer zunehmenden Verschärfung von Negativitätsdiagnose und Krisenbewusstsein gelesen werden, die sich in divergierenden, der jeweiligen Gegenwartsdiagnose entsprechenden Anläufen zu deren Bewältigung ausspricht. *** Die hier versammelten Beiträge nehmen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven die bis zu diesem Punkt skizzierte Konstellation der ,Philosophie des Tragischen‘ in den Blick. Sie setzen dabei Schwerpunkte insbesondere in der Frage nach dem systematischen Gehalt und der Aktualität des Tragischen (Sektion I), dem Tragischen in der klassischen Antike (Sektion II) und schließlich in der Linie einer ,Philosophie des Tragischen‘, die vom Idealismus zu Schopenhauer und Nietzsche führt (Sektionen III-V). Die Beiträge der ersten Sektion dieses Bandes suchen die spezifischen Merkmale und Grenzen der Konstellation des Tragischen systematisch zu bestimmen. Der einführende Beitrag von Lore Hhn verfolgt einerseits das Interesse, die Grundbegrifflichkeiten des Tragischen – allen voran die Umschlagskategorie der Peripetie – als das organisierende Zentrum der Dialektik Schellings und Hegels zu entfalten, um sie andererseits auch als die den Diskurs über die Grenzen des neuzeitlichen Autonomieprojektes strukturierenden Operationsfiguren herauszustellen. In der Philosophie des 19. Jahrhunderts werde dagegen das Tragische aus der Klammer

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dialektisch verharmlosender Negativitätskonzepte herausgebrochen und – bei Schopenhauer und Nietzsche – ins Zentrum der nihilistischen Daseinsdeutung eingeschrieben. Emil Angehrn erörtert weiterhin das Verhältnis von Tragik und Negativität, welche sich – trotz der dem Tragischen wesentlich inhärierenden Negativität – in zweifacher Hinsicht nicht vollständig decken: Auf der einen Seite ist nämlich nicht jede Leiderfahrung per se eine tragische. Auf der anderen Seite zeigen sich als Alternativen zum Tragischen drei Möglichkeiten des Umgangs mit der Negativität: eine immanente Versöhnung, eine das Tragische transzendierende Aufhebung oder Auflösung sowie ein die Negativität der Erfahrung ernstnehmender Negativismus. Wilhelm Schmidt-Biggemann fragt danach, inwieweit die Philosophie den Kriterien der Tragödie entspricht und daher als tragisch begriffen werden kann, wobei er vier Möglichkeiten in Erwägung zieht: Die Philosophie könne erstens als Erzählung mit noch offenem, möglicherweise tragischem Ausgang, zweitens als Tragikomödie, drittens als Zuschauerin beim tragischen ,Schiffbruch‘ der Geschichte oder aber viertens – indem sie sich einer gelingenden Theodizee widersetze – als strukturelle Tragödie begriffen werden. Volker Gerhardt legt hingegen den Akzent auf die Konstellation von Politik und Tragödie, indem er die Bemerkung in Platons Nomoi, die Politik sei „die einzig wahre Tragödie“,29 zu erhellen sucht. Nach Platon sei die tragische Verfassung des Politischen gerade als Auszeichnung der Freiheit des Menschen zu verstehen, insofern allein diesem die Kompetenz zufalle, eine auf nicht empirischen Prinzipien basierende politische Ordnung zu schaffen, deren tragisches Scheitern dafür aber auch nur ihm anzulasten sei. Die zweite Sektion wendet sich dem Tragischen in der klassischen Antike zu. Im Ausgang von den in Aristoteles’ Poetik angeführten Merkmalen der Tragödie geht Bernhard Zimmermann der Frage nach, ob sich auch in Texten des 5. Jahrhunderts v. Chr. selbst ein Bewusstsein von Tragik im Aristotelischen Sinne nachweisen lasse. Anselm Haverkamp untersucht dagegen umgekehrt die Spuren von Euripides’ Medea im Text der Aristotelischen Poetik, anhand derer Haverkamp zu zeigen sucht, dass Euripides sich in besonderem Maße als – gleichwohl nur randständig erwähnter – Gewährsmann für Aristoteles’ These eigne, nach welcher die Tragödie von der permanenten Latenz der Geschichte im Mythos handle. Klaus Heinrich schließlich geht in einer gleichsam subversiven Lektüre von Sophokles’ Antigone den sich komplementär zueinander verhaltenden 29 Platon, Nomoi, 817b.

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Begriffen ,Staub‘ und ,Denken‘ nach. Sophokles suche mit der Antigone das Denken der ,Heilslehre‘ Philosophie auf die tragische Schuld aufmerksam zu machen, die darin liege, den ,Staub‘ und die ihn begleitenden tödlichen Phantasien weder denken zu können noch zu wollen. Dem Tragischen in der Philosophie des deutschen Idealismus widmet sich die dritte Sektion. Claus-Artur Scheier, David Farrell Krell, Juichi Matsuyama, Katia Hay und Damir Barbaric´ wenden sich in erster Linie Schelling, dem ,Begründer‘ der Philosophie des Tragischen, zu. Peter Szondis These von dem Beginn der Philosophie des Tragischen bei Schelling präzisierend, blickt Claus-Artur Scheier von Schelling aus gleichsam zurück. Dabei zeigt er, dass eine Theorie des Tragischen, welches im Scheitern einer möglichen Vermittlung aufgrund der verweigerten rechtzeitigen Einsicht liege, bereits bei Solon aufscheine, um bei Schelling bis ins Böse hinein eine Ausweitung zu erfahren. Unter dem oxymoronischen Titel des ,tragischen Absoluten‘ geht David Farrell Krell der – in der nachkantischen Philosophie vor allem bei Schelling und Hölderlin zu beobachtenden – Doppelbewegung einer Ausweitung des Tragischen ins Absolute sowie umgekehrt des Verfalls im Absoluten selbst nach. Juichi Matsuyama vergleicht anschließend Aristoteles’ und Schellings Ansichten zum Wesen des Tragischen, wobei er Zweifel gegenüber Aristoteles’ These äußert, der zufolge der Untergang des Helden die Folge menschlichen Irrtums sei; vielmehr sei dieser Untergang auf das Eingreifen einer göttlichen Macht zurückzuführen, weshalb Schelling das Wesen der Tragödie als Überwindung des Streites zwischen Freiheit und Notwendigkeit auffasse. Dass Schelling nicht nur Begründer einer Philosophie des Tragischen ist, sondern zugleich die Notwendigkeit tragischen Scheiterns zu einem Strukturmoment der Philosophie selbst erhoben hat, sucht Katia Hay zu zeigen. Damir Barbaric´ blickt dagegen von Schelling aus nach vorn auf die – wohl gleichen Quellen geschuldete – Verwandtschaft von dessen Lehre des Dionysos und des Dionysischen mit derjenigen Nietzsches, wobei im Gegensatz zu der umfassenden Bedeutung des Dionysos für Nietzsches Gesamtwerk diesem bei Schelling nur in der Philosophie der Mythologie eine zentrale Rolle zukomme. Ausgehend von der geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Tragödie bei Hegel, zeichnet Christian Iber sodann die Marxsche Selbstkritik an seiner an Hegel anschließenden Geschichtsphilosophie in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte nach, um abschließend danach zu fragen, ob die Moderne angemessenerweise als Tragikomödie verstanden werden müsse. Eine Rekonstruktion der Hegelschen Tragödientheorie im Ausgang von der Phnomenologie des Geistes unternimmt

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schließlich Tilo Wesche, um von dort aus – über die Formulierung eines Einwandes gegen Hegels These vom Ende des Tragischen – die Aktualität der Tragödie als Kunstform aufzuzeigen. Die vierte Sektion stellt Schopenhauers nachidealistische Konzeptionen des Tragischen ins Zentrum und verfolgt deren Nachwirkungen in der Philosophie Nietzsches. Martha C. Nussbaum zeigt hierbei die enge Verbindung zwischen Schopenhauer und dem frühen Nietzsche auf und arbeitet eine Ambivalenz in diesem Verhältnis heraus: Einerseits greife Nietzsche auf Schopenhauerische Begriffe und Kategorien zurück, andererseits aber suche er Schopenhauers Argumentationen und Unterscheidungen – gerade auch dessen Auffassung von Erkenntnis und Begehren – schon in der Geburt der Tragçdie zu unterlaufen. Brigitte Scheer beleuchtet dagegen den Status des Tragischen in Schopenhauers Werk selbst. Dabei zeigt sie, dass Schopenhauer über eine Totalisierung und Anonymisierung des Tragischen die Entwicklung hin zu einer tragischen Weltanschauung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorbereitet habe. Barbara Neymeyr analysiert des Weiteren den Antagonismus zwischen Nietzsche und Schopenhauer anhand der divergierenden Deutungen des Tragischen in beiden Philosophien. Während bei Schopenhauer das Tragische als ,Quietiv des Willens‘ fungiere, stelle es bei Nietzsche gerade das ,große Stimulans des Lebens‘ dar. Dass die Kunst – insbesondere die Tragödie als ,Gipfel der Dichtkunst‘ – an der Schnittstelle zwischen Willensmetaphysik und Ethik anzusetzen sei, zeigt Markus Scheffler. Obgleich die Kunst der Welt der Vorstellung zugehört, vermöge diese von jener aus kritisch betrachtet zu werden und damit einen Vorausblick auf die der Philosophie allein vorbehaltene Erlösung zu gewähren. Ausblickshaft versucht Asmus Trautsch schließlich den Zusammenhang von Tragödienreflexion und Individualitätsproblematik zu rekonstruieren, indem er die ästhetisch-epistemische Rolle der Tragödie bei Schopenhauer, die Idee des individuellen Pathos bei Hegel, die ästhetisch-praktische Funktion der Tragödie bei Nietzsche und die Konzeption eines tragischen Selbstverständnisses bei Camus in eine vergleichende Perspektive rückt. Die Beiträge der fnften und letzten Sektion des Bandes widmen sich dem Tragischen in der Moderne, insbesondere bei Nietzsche. Im Ausgang von der Rede über die „umfassende Tragödie des Lebens“30 in Platons Philebos und einer Kritik an der Entgrenzung des dadurch ,heimatlosen‘ Begriffs des Tragischen in Nietzsches Geburt der Tragçdie sucht 30 Platon, Philebos, 50b.

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Gnter Figal das Verhältnis von Tragik und Leben genauer zu bestimmen. Nietzsches früher Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie und dem Denken der Vorsokratiker widmet sich im Anschluss Gnter Zçller, indem er die parallele Entwicklung von Tragödie und Philosophie bei den Griechen sowie die Verwandtschaft von griechischer und moderner Kultur, wie sie von Nietzsche in Anspruch genommen wird, in den Blick nimmt. Sowohl Dennis J. Schmidt als auch Richard Schacht und Christopher Janaway wenden sich Nietzsches Verständnis der Kunst in der Geburt der Tragçdie zu. Dennis J. Schmidt geht dazu von Nietzsches 1878 vorgenommener Änderung des Titels sowie von dessen „Versuch einer Selbstkritik“ aus, um die zentralen Gedanken und Problemstellungen des Frühwerks zu erhellen. Richard Schacht nähert sich Nietzsches Geburt der Tragçdie dagegen aus der zeitlich umgekehrten Richtung, indem er Nietzsches Leitgedanken in der Behandlung der Kunst im Ausgang von einer schopenhauerisch-existenzialistischen Weltsicht gerade auf ihre heilende illusionäre Wirkung und ihre Bedeutung für das Leben hin untersucht. Christopher Janaway nimmt ebenfalls das Verhältnis von Kunst und Leben in den Blick und kommt dabei zu einem zweifachen Ergebnis: Zwar verdunkle nach Nietzsche die Kunst einerseits die Wahrheit kraft der von ihr produzierten Illusionen, um das Leben erträglich zu machen, andererseits aber lege sie auch allererst die Wahrheit durch die Ermöglichung einer Konfrontation mit ihr offen. Andreas Urs Sommer geht sodann der Frage nach, ob auch der Nietzsche des Jahres 1888 noch ein tragischer Philosoph oder ein Philosoph des Tragischen sei, wobei er eine Entdifferenzierung und Ausweitung des Begriffs des Tragischen konstatiert, mit der dieser sich im Spätwerk als zentrale philosophische Größe möglicherweise erledigt habe. Der Beitrag von Philipp Schwab verfolgt die These, dass Nietzsches Denken im Ganzen als ,Philosophie des Tragischen‘ zu lesen sei, die aber im Zuge seines Denkweges erhebliche Modifikationen erfahre: Die frühe Auffassung des Tragischen in der Geburt der Tragçdie werde in der kritischen Phase von Nietzsches mittlerer Philosophie durch eine ,Tragik der Erkenntnis‘ abgelöst; diese bereite den Boden für die ,Wiederkehr‘ der tragischen Affirmation im Spätwerk, welche als Nietzsches Antwort auf den Nihilismus Kontur gewinne. Domenico M. Fazio beleuchtet Nietzsches Konzeption des Tragischen von einem weniger bekannten Zeitgenossen Nietzsches her, dem Schopenhauerianer Julius Bahnsen. Er zeichnet den von diesem entwickelten Begriff eines Tragischen ,zum Hausbedarf‘ nach und rekonstruiert, wie Bahnsen diesbezüglich 1878 mit

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dem Verfasser der Unzeitgemssen Betrachtungen brieflichen Kontakt sucht. Ausgehend von Nietzsches Verständnis von Wahrheit und Sprache fokussiert Mirko Wischke abschließend auf Nietzsches Entwurf eines tragischen Sprachbildners. Diesem komme die Aufgabe der ,Umwertung‘, der neuen Wertschöpfung zu; da er aber zugleich die Notwendigkeit der Lüge für das Leben erkannt habe, stehe er zwischen Bejahung und ,tragischer Trauer‘.

Sektion I Konstellationen des Tragischen

Tragik und Dialektik. Zur Genese einer Grundkonstellation nihilistischer Daseinsdeutung Lore Hhn I. Tragische Peripetie und Dialektik: Peter Szondis Versuch ber das Tragische Habilitationsschriften haben ihr eigenes Schicksal. Als Peter Szondi am 21. Juni 1960 das Manuskript Versuch ber das Tragische 1 am Fachbereich Germanistik der Freien Universität Berlin einreichte, hatte er große Mühe damit, die Grundthese der Arbeit vor dem mehrheitlich literaturwissenschaftlich besetzten Prüfungsausschuss der Fakultät zu verteidigen. Es war die spekulativ ambitioniert vorgetragene Überzeugung des damals Einunddreißigjährigen, dass die Handlung der Tragödie in ihrem Kern dialektisch strukturiert sei und die der dramatischen Peripetie abgelesene Verlaufsform eines ,Umschlags‘ als Urszene der idealistischen Dialektik begriffen werden müsse. Das erkenntnisleitende Interesse galt zum einen dem Nachweis, dass die Geschichte des Tragischen und die der Tragödie die Geschichte ihrer Selbstaufhebung sei, und zum anderen verfolgte die Arbeit den strukturellen Zusammenhang, der seit den Anfängen der ,Philosophie des Tragischen‘ bei Schelling, Hegel und Hölderlin sich zwischen Tragik und Dialektik, zwischen literarischer Gestalt und philosophischer ,Umbesetzung‘2 des Tragischen spiegelt. Die auf schmaler, aber repräsentativer Textbasis entfaltete These einer derart durchgängig zu verzeichnenden Nähe zwischen Tragik und 1 2

Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische (1961). In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260. Wenn hier von ,Umbesetzung‘ und nicht von ,Umsetzung‘ gesprochen wird, dann in dem von Hans Blumenberg explizierten Sinne, wonach sich ein solcher Prozess – analog zu dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang – „als Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten beschreiben [lässt], deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten“ (Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt a.M. 31997, S. 75).

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Dialektik fand zunächst ein recht geteiltes Echo. Und dies offenkundig nicht nur, weil Szondi diese Nähe weniger erklärte als durch die Zusammenstellung einschlägiger Texte aus Philosophie und Literatur vorzuführen versuchte. Zum Stein des Anstoßes wurde darüber hinaus vor allem, dass er eine hoch spezialisierte Philologie herausforderte, die in ihrer auf Tragödien beschränkten literaturwissenschaftlichen Betrachtung des Tragischen sich letztlich erschöpfte und die sich augenfällig schwer damit tat, über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaus den Anschluss an die Grundfragen der eigenen Zeit überhaupt zu finden. Szondi ist an einem solchen Anschluss jedenfalls leidenschaftlich interessiert. Zwar vermeidet er die Namen Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, doch er fragt mit jeder Zeile aus einem spezifisch modernen Denkhorizont heraus und ganz konsequent nach der Verlaufsform aporetisch und dialektisch verfasster Konflikte und deren Vorgeschichte in der abendländischen und zumal auf die aristotelische Poetik zurückgehenden Tradition. Weit entfernt von jeder Positivierung, die dem Tragischen insbesondere aus lebensphilosophischer und psychoanalytischer Sicht zu Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts zufiel,3 beerbt Peter Szondi die ideologiekritische Dekonstruktion des klassischen Tragikbegriffs durch Walter Benjamin, der mit seiner Kritik an der „so ganz vergebliche[n] Bemühung, das Tragische als allgemeinmenschlichen Gehalt zu vergegenwärtigen“,4 offene Türen einrannte und ein ungeteiltes Echo hervorrief. Nicht zufällig wird die Auswahl der herangezogenen Tragödien implizit durch die an der Dialektik der Aufklrung (1944) abgelesene Grundfigur bestimmt, der zufolge die Aporetik der Moderne darin zutage tritt, dass sie zwanghaft alle Formen tragischer Verstrickung und Ausweglosigkeit ausmerzen und zum Verschwinden bringen will und diese gerade darin erst so recht erzeugt.5 Dass ein modernes Selbst- und 3 4 5

Roland Galle: Tragisch – Tragik. In: Karlheinz Bark u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart/Weimar 2000 – 2010, Bd. 6, S. 117 – 170. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1978, S. 82. Vgl. Fred Lönker: Der Verfall des Tragischen. In: Werner Frick (Hg.): Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur. Göttingen 2003, S. 316 – 334, hier S. 331; Daniel Fulda: Dialektik der Dialektik. Das nicht nur dramaturgische Problem einer ,modernen Tragödie‘ und die ,Tragödie der Moderne‘ bei Ibsen, Hauptmann, Maeterlinck und Hofmannsthal. In: Werner Frick (Hg.): Europäische Jahrhundertwende – Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in grenzüberschreitender Wahrnehmung. Erstes Kolloquium. Göttingen 2003, S. 7 – 30.

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Weltverständnis, das sich einer definitiven Überwindung des Tragischen zu verdanken glaubt, gerade von der fatalen Logik ereilt wird, die es vorderhand aus dem Universum seiner Diskursformen ausgrenzt, gehört nach Szondi ganz selbstverständlich zu einer gemeinsamen Problemgeschichte von Literatur und Philosophie – einer Geschichte, die bei allen Brüchen, Transformationen und Revisionen doch eine schon bemerkenswerte Kontinuität aufweist. Und es spricht ja wohl für sich, dass die noch so renitent betriebene Kritik an tragischen Grundbegrifflichkeiten menschlicher Daseinsdeutung diese nicht nur nicht zum Verschwinden hat bringen können, sondern deren hartnäckiges Überleben heute mehr denn je sich als mitlaufender Subtext unserer kulturellen und philosophischen Selbstbeschreibung offenbar aufdrängt.6 Wilhelm Emrich argumentierte noch vergleichsweise moderat, als er in dem aus seiner Feder stammenden Gutachten über die Qualifikationsschrift des Schülers von Emil Staiger urteilte: Die „Analysen“ von acht Tragödien […] stellen, wie der Vf. bemerkt (S. 57), keine „Interpretationen“ dar, sondern den Versuch, in diesen Werken die „dialektische Struktur“ des Tragischen nachzuweisen […]. Wiederum werden dadurch die Werke ihrer eigentümlichen schweren Gewichte beraubt und auf allgemeine Formeln reduziert, deren Richtigkeit zwar kaum bestritten werden kann, die aber auch wenig zur Erkenntnis der spezifischen gehaltlichen und formalen Eigentümlichkeiten der Werke hergeben. […] Der alte Streit zwischen philologischer Akribie und philosophischer Abstraktion wird hier nicht mehr dialektisch durchgestanden, sondern undialektisch mit einer Formel des Dialektischen „beendet“, indem sich die historischen Konkretionen restlos ins Allgemeine verflüchtigen, was sich methodisch darin ausdrückt, dass der Autor nicht mehr mit seinen historischen Gegenständen ringt, sondern Abzugsbilder aus ihnen fertigt in Form von Kurztexten mit entsprechenden Kurzkommentaren.7

Bei allem Respekt für die Nähe zur Philosophie fällt vor allem die Härte auf, mit der Wilhelm Emrich sich jeder Anmaßung der Philosophie entgegenstellt und die Domäne der spezifisch dramatischen Gattung, die „historischen“ und dichtungsgeschichtlichen „Konkretionen“ gegenüber Vereinnahmungen durch dialektische Modelle und Strukturbeschreibungen verteidigt. Der Affront gegenüber einer Philosophie, welche die Literaturwissenschaft darüber belehrt, was in der systematisch 6 7

Vgl. hierzu in diesem Band Lore Hühn/Philipp Schwab: Einleitung, S. 1 – 16, hier S. 4 – 11. Wilhelm Emrich: Zweites Gutachten über die Habilitationsschrift von Dr. Peter Szondi: „Das Tragische“ (03. 11. 1960). Freie Universität Berlin, Universitätsarchiv, Sammlung Personalia, ohne Signatur, S. 4 – 6.

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begrifflichen Blindheit der Tragödie eigentlich vor sich geht, indem sie sich die Statthalterschaft ihrer wahrhaften Auslegung und Aktualität anmaßt, ist unüberhörbar. Dieser Affront ist überhaupt kennzeichnend für die Tonlage, in welcher der Versuch ber das Tragische von Peter Szondi in den sechziger Jahren im Literaturbetrieb und den etablierten Institutionen innerhalb der Wissenschaften Aufnahme gefunden hat.8 Die damaligen Kollegen9 und ersten Rezensenten10 ließen es an deutlichen Worten der Ablehnung jedenfalls nicht fehlen. Es passt auch ins Bild, dass Siegfried Unseld mit seinen Vorbehalten gegenüber dem spekulativen Entwurf des späteren Gründungsvaters des Instituts fr Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin (1965) nicht hinter dem Berg hielt und sogar soweit ging, die Aufnahme der Habilitationsschrift in das Programm des Suhrkampverlages abzulehnen.11 Heute wird man es wohl als Ironie des Schicksals einstufen, dass Szondis Versuch ber das Tragische im Suhrkampverlag bereits in mehrfachen Ausgaben und Auflagen zugänglich ist, mittlerweile als Klassiker gehandelt wird und die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der

8 Vgl. Christoph König: Engführungen. Peter Szondi und die Literatur. Unter Mitarbeit v. Andreas Isenschmid. Marbach am Neckar 2004, S. 47 – 52. 9 Vgl. die Briefe Karl Kerényis an Peter Szondi, 31. 07. 1958 u. 23. 08. 1958. In: Peter Szondi: Briefe. Hg. v. Christoph König/Thomas Sparr. Frankfurt a.M. 2 1994, S. 76 – 79 sowie Szondis Antwortbriefe an Kerényi, 07. 08. 1958 u. 29. 08. 1958. In: ebd., S. 75 – 78; weiterhin den Brief Szondis an Bernhard Böschenstein, 31. 01. 1959. In: ebd., S. 81 f.; vgl. hierzu auch König: Engführungen, S. 50. 10 Vgl. Ludwig Marcuse: Das Tragische, wiederbefragt. Dialektik als Sesam-öffnedich (1961). In: ders.: Wie alt kann Aktuelles sein? Literarische Porträts und Kritiken. Hg. mit einem Nachw. u. einer Auswahlbibliogr. v. Dieter Lamping. Zürich 1989, S. 390 – 392. 11 Vgl. den Brief Siegfried Unselds, Suhrkamp Verlag, an Peter Szondi, 5. 09. 1960. In: Szondi: Briefe, S. 105 – 107: „Sie liefern im jetzigen Manuskript Einzelstudien, Versuche, Materialien, aus denen einmal eine wirklich runde, ausgewogene Arbeit werden könnte, und so möchte ich Sie eigentlich darin bestärken, diese Arbeiten, die für mich kein publikables, weil in sich nicht geschlossenes und rundes Buch darstellen, als Vorstufe zu einer größeren zu nehmen. In der jetzigen Form veröffentlicht, brächten sie Ihnen nach meinem Urteil nur schwaches wissenschaftliches Echo und nur geringe literarische Wirkung“ (ebd., S. 107). Vgl. auch die Antwort Szondis an Unseld vom 10. 09. 1960. In: ebd., S. 103 – 105 sowie den Brief Unselds an Thomas Bernhard, 26. 11. 1971. In: Thomas Bernhard/Siegfried Unseld: Der Briefwechsel. Hg. v. Raimund Fellinger u. a. Frankfurt a.M. 2009, S. 253 f.

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Schrift kaum noch überschaubar sind.12 Das Thema ist von unbezweifelbarer Aktualität. Wo in den sechziger Jahren nur mit Mühe ein Verlag gewonnen werden konnte, findet sich heute eine bis in den Feuilletons der überregionalen Tagespresse hinein ausgetragene Debatte um die spezifische Epochenqualität des tragischen Vokabulars in der Moderne.13 Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass dieser Debatte eine ganze Reihe philologischer Kärrnerarbeiten und historische Studien vorangegangen sind, die den Grundstein für eine jede zukünftige Beschäftigung gelegt haben. Peter Szondi hat jedenfalls das Seine dazu beigetragen, dass die strukturelle Nähe von Tragik und Dialektik, von antiker Vorgeschichte und deren Wirkmächtigkeit in den dialektischen Grundoperationen seit Schelling und Hegel noch einmal gründlich durchdacht und aufgerollt wurde.14 Sein Befund, dass das Tragische, freigesetzt aus seiner poetischen Form, gerade in Gestalt der tragischen Peripetie die Urszene des dialektischen Umschlags bildet, wirft ein bezeichnendes Licht auf die antike Vorgeschichte der idealistischen Philosophie. Zudem unterstreicht dieser Befund die zentrale Rolle, die das tragische Vokabular als Interpretati12 Vgl. Manfred Krüger: Wandlungen des Tragischen. Drama und Initiation. Stuttgart 1973, S. 9 – 21; Claus-Artur Scheier: Kants dritte Antinomie und die Genese des tragischen Gedankens. Schelling 1795 – 1809. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 103 (1996), S. 76 – 89; Lore Hühn: Die Philosophie des Tragischen. Schellings „Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus“. In: Jörg Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 95 – 128; Dennis J. Schmidt: On Germans and Other Greeks. Tragedy and Ethical Life. Bloomington, Ind. 2001, bes. S. 77; Fred Lönker: Der Verfall des Tragischen, S. 316 – 334; Horst Turk: Tragödienphilosophien der Neuzeit: Kant, Hegel, Nietzsche, Benjamin. In: Frick (Hg.): Die Tragödie, S. 277 – 295; Thomas Martinec: Von der Tragödientheorie zur Philosophie des Tragischen. Poetikgeschichtliche Skizze eines Umschwungs. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 49 (2005), S. 105 – 127; Karl Heinz Bohrer: Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009, bes. S. 24; Daniel Fulda/Thorsten Valk: Einleitung. In: dies. (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Berlin/New York 2010, S. 1 – 20, hier bes. S. 17; MarieChristin Wilm: Ultima Katharsis. Zur Transformation des Aristotelischen Tragödiensatzes nach 1800. In: ebd., S. 85 – 106. 13 Vgl. in diesem Band Hühn/Schwab: Einleitung, S. 1 – 16. 14 Vgl. Bernd Seidensticker: Peripetie und tragische Dialektik. Aristoteles, Szondi und die griechische Tragödie. In: ders.: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama. Hg. v. Jens Holzhausen. München/ Leipzig 2005, S. 279 – 308.

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onsrahmen sowohl für die Ausbildung der Prinzipienreflexion als auch für die methodisch einschlägigen Operationsfiguren der klassischen deutschen Philosophie nach Kant innehat. Es ist nicht nur die tragische Spannung von Hybris und Harmatia, die eine Geschichte nachhaltiger semantischer Verschiebungen und radikalisierender Überbietungen durchläuft. Es ist vielmehr auch und vor allem die dramatische Peripetie, die zur bleibenden Herausforderung einer jeden Dialektik geworden ist, welche an der in die äußerste Konsequenz getriebenen Dynamik eines Selbstwiderspruchs ihre innere Verlaufsform und deren Richtung abliest. Der in der äußersten Spitze eines Selbstwiderspruchs vermutete Umschlag, der aus dem Höchstmaß aporetischer Dichte nicht nur den Zusammenbruch, sondern vielmehr unweigerlich auch den Übergang zu einem Neuanfang freisetzt, ist der Kern der idealistischen Dialektik in ihrer Hegelschen Gestalt. Diese bezieht ihre Überzeugungskraft daraus, dass – wie Adorno es in seiner Negativen Dialektik einmal treffend formulierte – der „Vollzug der immanenten Dialektik […] den Zug hat, sich zu transzendieren“.15 Und diese sich selbst transzendierende Potentialität des Negativen ist es denn letztlich auch, von der die Dialektik in all ihren Facetten zehrt und die sie – so die mich leitende Überzeugung – als Hypothek aus ihrer im Tragischen fundierten Vorgeschichte mit übernommen hat. Das Urvertrauen, das die idealistische Philosophie in die sich selbst transzendierenden Potentiale antinomisch verfasster Konflikte ihrer ganzen Negativität nach setzt, denen zufolge das Negative sein eigenes Gegenprinzip und seine Selbstaufhebung hervortreibt, – dieses Urvertrauen bezieht seine Überzeugungskraft gerade aus der rhetorischen Eingängigkeit des tragischen Vokabulars und seiner Überlieferung. Es ist dieses in der kulturellen Erinnerung unserer griechisch-abendländischen Kultur tief verankerte Vokabular, das – so die These – für die Überzeugungskraft einer Konstruktion aufkommt, der es um den Aufweis einer treibenden Dynamik als Zuspitzung antinomischer Widersprüche bis zum Punkt ihrer Selbstaufhebung zu tun ist. Wie weit der im Eskalieren eines Selbstwiderspruchs angesiedelte dialektische Umschlag sich auch von der dramatischen Peripetie entfernt haben mag, hier wie dort geht es um eine grundlegende Wende in der Handlungsrichtung, und zwar in das gerade Gegenteil dessen, was diese Handlung zumal in den Augen ihres Trägers erwirken soll. Keinem 15 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann/Gretel Adorno. 20 Bde. Frankfurt a.M. 1970 – 1986, Bd. 6, S. 183.

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Zweifel unterliegt, dass der „complete swing in the direction of the action“,16 wie Halliwell die dramatische Peripetie übersetzt, gerade im Identitätsabsolutismus Hegelscher Gestalt – ungeschützt genug und über alle Gebühr – spekulativ aufgeladen wurde, ja dass die Kategorie des Widerspruchs hier als „Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit“17 und organisierendes Prinzip der ganzen logischen Kategorienentwicklung auftritt.18 Keinem Zweifel unterliegt aber auch, dass der in der äußersten Spitze einer antinomischen Konstellation angelegte Umschwung die Handlung in ihrem bisherigen Verlauf gegen sich selbst kehrt und dabei ans Licht bringt, was als ermöglichendes und gleichzeitig richtungsweisendes Prinzip ihr zuvorkommt und der ganzen Konstellation zugrunde liegt. Der äußerste Punkt tragischer Konfliktualität stellt bekanntlich den Gipfelpunkt einer spannungsreichen Entwicklung dar, die zu diesem hinaufführt, sowie den Ausgangspunkt eines Weges, der zwar wieder hinabführt, aber so, dass er den Blick auf die Antriebspotentiale (vbqir) freigibt, durch die die Handlung aufgrund eines tragischen Fehls ("laqt_a) scheitert. Schon in der Gründungsurkunde der abendländischen Literaturtheorie, nämlich im elften Kapitel der aristotelischen Poetik, lässt sich nachlesen, dass dieser Weg nach Maßgabe einer dramatisch hoch komplexen Handlungsanweisung der Weg eines Wiedererkennens (!macm¾qisir) darstellt19 und einen Übergang von Unwissen zu Wissen vorstellig macht.20 Dialektisch strukturiert ist dieser Übergang, insofern ihn Aristoteles – auf der Folie der Sophokleischen Tragödie des Kçnig dipus – als eine Handlung begreift, bei der die personae dramatis das Gegenteil dessen erreichen, was sie bewusst als Handlungsziel anstreben.21 Nach Aristoteles definiert es bekanntlich eine tragische Handlung, dass aufgrund eines tragischen Fehls ("laqt_a) diese Handlung scheitert und im Prozess des Scheiterns gewissermaßen auf einer zweiten, wirkungsästhetischen Ebene, nämlich aus der ästhetischen Distanz des Zu16 The Poetics of Aristotle. Transl. and Comm. by Stephen Halliwell. Chapel Hill, North Carolina 1987, S. 42. Vgl. auch Aristoteles: Poetik. Übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt. Berlin 2008, S. 429. 17 Hegel, WdL II, TWA 6, S. 75. 18 Vgl. hierzu Lore Hühn: Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs. Tübingen 2009, S. 113 – 136 u. S. 165 f. 19 Vgl. Aristoteles: Poetik. Übers. u. erl. v. A. Schmitt, S. 427. 20 Vgl. Wolfgang Janke: Anagnorisis und Peripetie. Studien zur Wesensverwandlung des abendländischen Dramas. Köln, Univ., Diss. 1953, bes. S. 50 ff. 21 Vgl. Aristoteles: Poetik. Übers. u. erl. v. A. Schmitt, S. 430 f. sowie Seidensticker: Peripetie und tragische Dialektik, S. 279 – 308.

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schauers heraus, Furcht und Mitleid (5keor ja· v|bor) mit dem Ziel der Reinigung (j\haqsir) erwirkt werden sollen. So geläufig und eingängig Figuren dieser Art sich auch ausnehmen, es versteht sich schon im Horizont der Grundbegrifflichkeiten der Peripetie und der mit ihr verbundenen Konnotationen der Katharsis durchaus nicht von selbst, was in seiner philosophisch umbesetzten Gestalt erst recht Probleme aufgibt. Der Verdacht jedenfalls drängt sich nicht zufällig auf: dass nämlich die nur allzu naturwüchsig sich ausnehmende Dynamik einer dialektischen Selbstaufhebung bei dem Vokabular des Tragischen in aller Ungebrochenheit Anleihen macht, gerade weil die idealistische Philosophie überspielen muss, wie explikationsbedürftig im Grunde die Erwartungen doch sind, aus denen der ansonsten nämlich leerlaufende Automatismus jener Selbstaufhebungen seine Überzeugungskraft letztlich schöpft. Dieser Automatismus macht seinem Namen dadurch alle Ehre, dass ihm – nach immer gleichem Schema ablaufend – der Weg genauso wie das auf diesem Weg zu verfolgende Ziel vorgezeichnet wird. Nicht von ungefähr kommt es, dass man diesen Selbstaufhebungsfiguren auf den ersten Blick gar nicht mehr ansieht, dass sie ihre Evidenz nicht selber aufbringen, sondern dass es insgeheim durch tragische Grundkonstellationen besetzte, rhetorisch nur allzu eingängig gewordene Vorstellungen sind, die in einem mikrologischen Sinne in jene Figuren hineinspielen und einwandern, welche dialektische Übergänge und Selbstaufhebungen insgeheim organisieren sollen.

II. Tragische Anleihen in den dialektischen Grundoperationen der Idealisten Nach Beispielen, die diesen Befund bestätigen, braucht man jedenfalls nicht lange suchen. So hält sich der im Jahr 1795 zwanzigjährige Schelling schon insofern an die Grundbegrifflichkeit des Tragischen und an den von ihrer Geschichte ererbten Problembestand, als er im nur allzu großen Vertrauen auf anderswo verbürgte Abfederungen auf den Selbstlauf einer Dynamik setzt, nach deren Maßgabe aus der äußersten Zuspitzung des antinomisch verfassten Grundkonflikts zwischen Kritizismus und Dogmatismus sich ein Prinzipienwechsel zu einer „im Princip des absoluten

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Seins, oder der absoluten Seligkeit“22 fokussierten Identitätsphilosophie erzwingen lasse.23 Es ist mithin dieser Wechsel, der – bei Lichte besehen – durch eine Umkehrung der bisherigen Konstellation den Weg zu einer positiv zu charakterisierenden Wahrheit einer Vernunfterkenntnis führen soll, mit der sich der Prinzipienwechsel zu einer nicht mehr im subjektivitätstheoretischen Rahmen verbleibenden absoluten Vernunfterkenntnis gezielt ins Werk setzen lasse. Seit Schellings Philosophischen Briefen ber Dogmatismus und Kriticismus (1795) gehört die Umbesetzung genuin tragischer Gehalte, deren Problemstellungen über die angestammte Gattungs- und Geltungsgrenze hinaus in jene operationalen Schlüsselfiguren hineinragen, welche Kehren, Konversionen, Umbrüche plausibilisieren sollen, denn auch regelrecht zum Themenbestand des Diskurses idealistischer24 und nachidealistischer Selbstverständigung.25 Seit diesem Werk – dem vermutlich frühesten Dokument einer ,Philosophie des Tragischen‘ – eilt dem damals zwanzigjährigen Verfasser nicht zufällig der Ruf voraus,26 richtungsweisend für die ganze an diese programmatische Schrift des Idealismus27 anschließende Tradition jene Umbesetzung vorgeführt zu haben. Mit dieser Schrift hat Schelling der ,Philosophie des Tragischen‘ in der Tat zunächst einmal die Plattform eines Strukturmodells verschafft, welches es erlaubt, verharmlosenden Theorien der Pluralität und des Fortschritts mit 22 Schelling, AA I,3, S. 98 f. (SW I, S. 328 f.): „Beide Systeme gehen daher nothwendig auf absolute Identität […]. In beiden Systemen aber sind doch Moralität und Glückseligkeit zwei verschiedene Principien. […] Sie wären vereinigt in Einem Princip, das eben deßwegen hçher sein muß als sie beide, im Princip des absoluten Seins, oder der absoluten Seligkeit. Gehen aber beide Systeme auf ein absolutes Princip als das Vollendende im menschlichen Wissen, so muß dieß auch der Vereinigungspunkt für beide Systeme sein.“ 23 Vgl. Hühn: Die Philosophie des Tragischen, S. 114 ff. 24 Vgl. Michaela Boenke: „Wäre er, so wären wir nicht“. Zu Schellings Apologie der Freiheit im Horizont der Postulatenlehre Kants. In: Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein, S. 129 – 159; Jean-François Courtine: Tragödie und Erhabenheit. Die spekulative Interpretation des „König Ödipus“ an der Schwelle des deutschen Idealismus. In: ebd., S. 161 – 201. 25 Vgl. Max Scheler: Zum Phänomen des Tragischen (1914). In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Maria Scheler. Später hg. v. Manfred S. Frings. 15 Bde. Bern/ München/Bonn 1954 – 2008, Bd. 3, S. 149 – 169, hier S. 158 sowie ferner Karl Jaspers: Von der Wahrheit (1947). In: ders.: Philosophische Logik. München 1980, Bd. 1, S. 915 – 960. 26 Vgl. Annemarie Pieper: Editorischer Bericht. F. W. J. Schelling, Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. In: Schelling, AA I,3, S. 3 – 44. 27 Vgl. Hühn: Die Philosophie des Tragischen, S. 95 – 128.

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Rücksicht auf die agonale Struktur des Tragischen zu begegnen und ihnen gezielt eine alternative Darstellungsfolie entgegenzustellen. Es ist zweifelsohne Hegel, der wie kein anderer unter den Mitstreitern in der nachkantischen Generation an diese Schrift in eigener Sache anschließt. Schließlich betreibt er in der Folge ganz konsequent keine Entschärfung, sondern vielmehr eine Verschärfung des in der agonalen Struktur des Tragischen angelegten Widerspruchsgedankens: So stehen Hegel zufolge die sich gegenseitig ausschließenden Rechtsansprüche zweier Individuen als grundlegend gleichberechtigte Mächte einander gegenüber, weshalb die streitenden Individuen […] an sich selbst jedes als Totalität auftreten, so daß sie an sich selber in der Gewalt dessen stehen, wogegen sie ankämpfen, und daher das verletzen, was sie ihrer eigenen Existenz gemäß ehren sollten. […] So ist beiden an ihnen selbst das immanent, wogegen sie sich wechselweise erheben […].28

Dabei lebt sein berüchtigtes Ja zu jener an der Sophokleischen Antigone abgelesenen, selbstbezüglichen Form von Negativität, der zufolge jede Seite unter Ausschluss ihrer anderen nur sein kann, was sie in ihrer hypostasierten Selbständigkeit zu sein beansprucht, von einer nicht minder berüchtigten philosophischen Hoffnung – nämlich der Hoffnung, aus der Verschärfung des Widerspruchs heraus und durch die Eskalierung hindurch zu etwas zu gelangen, das nicht allein etwa in der Einsicht besteht, die Wahrheit eines logischen Sachverhalts müsse korrigiert und widerrufen werden – und zwar gerade dann, wenn gegenseitig sich ausschließende Bestimmungen in eins gesetzt werden und hierbei keine übergreifenden Hinsichtsunterscheidungen zur Entschärfung eines solch ruinösen (Selbst-)Ausschlusses mehr zur Verfügung stehen.29 Jener Widerruf ist für Hegel nämlich kein Letztes. Dieser zeitigt in den Augen des Stuttgarters vielmehr ein Resultat, und zwar ein ausgezeichnetes, über das es sich schon wegen des Verdachts seiner fundamentalontologischen Überdeterminierung zu verständigen lohnt. Denn er begründet ein Resultat, das zweifelsohne nicht zu jenen Gewissheiten gehört, von denen man, wie es Hegel nahe legt, offenbar getrost ausgehen kann. Es ist Sören Kierkegaard, der entschiedener als jeder andere in der nachidealistischen Generation in Vorwegnahme einer Grundintuition 28 Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 549 [Herr. v. Verf.]. 29 Vgl. Michael Theunissen: Rekonstruktion der Realität. Hegels Beitrag zur Aufklärung von Reflexionsbestimmungen. In: Marcello Stamm (Hg.): Philosophie in synthetischer Absicht. Stuttgart 1998, S. 375 – 416.

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Adornos die von Hegel bis zur Unkenntlichkeit verdrängte Präsenz des tragisch-heidnischen Subtextes seiner Dialektik beim Namen genannt hat und gegen den Selbstanspruch des Idealisten, christliches Versöhnungsdenken in der Dialektik explizieren zu wollen, in großem Stil mobilisierte.30 Um es kurz zu machen: Keine noch so verstiegene Begriffsbildung kann die Schwierigkeit verbergen, in die eine jede Lektüre gerät, welche den kontextuellen Hintergrund tragischer Erfahrungsgehalte abstreifen zu können glaubt, zumal dann, wenn diese Erfahrungsgehalte in der begrifflichen Klammer eines dialektischen Schemas untergebracht werden und dieses zu einer Art Generalschlüssel der Wirklichkeitserschließung avanciert oder als Strukturmodell dient, um in der Moderne einen Prinzipienwechsel aus antinomisch verfassten Konflikten der Philosophie heraus plausibel zu machen. Schließlich zeigt die in der Frühphase des deutschen Idealismus sich etablierende ,Philosophie des Tragischen‘ zur Genüge die tragende Wirkmächtigkeit der Überlieferung und die Geschichtlichkeit ihrer Begriffe; denn jene Begriffe sind ja nie nur Instrumente, vertauschbare Vehikel zur Formulierung, sondern bringen immer auch ein Wirklichkeitsverständnis, das in ihnen zur Sprache kommt, als Voraussetzung mit ein. Wie weitreichend dies geschieht, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Rolle der Dialektik sich unmöglich als (wert-) neutrale Methode auf der Ebene zeitlos-apriorischer Geltung etwa einfach abhandeln ließe, zumal sie offenkundig keine Naturkonstante darstellt, sondern ihrerseits einem historischen Wandel unterliegt, der in seinem unsteten Erscheinungsbild immer wieder und in anderer Weise genügend Anlass zum Nachdenken aufgegeben hat. Schon ihre mit der Tragik eng verbundene Geschichtlichkeit muss dagegen Bedenken aufkommen lassen, wollte man die Dialektik zu einer Art Generalschlüssel ansichseiender Gesetze umfunktionieren, die womöglich auf alle nur denkbaren Begriffsverhältnisse des wirklichen Seienden angewendet werden können. Die Umbesetzung tragischer Erfahrungsgehalte in die Klammer des dialektischen Schemas gibt natürlich Probleme noch ganz anderer Art auf. Schließlich enthält deren Anverwandlung durch die idealistische Philosophie ein verstecktes Werturteil über die Erfahrungen, die das Tragische gerade gegen die sokratische Gleichung von Rationalität und glücklichem Leben, von Fortschritt und ,Idee des Guten‘ von Anfang an aufbot. 30 Vgl. Lore Hühn: Ironie und Dialektik. Zur Kritik der Romantik bei Kierkegaard und Hegel. In: Kierkegaard Studies. Yearbook (2009), S. 17 – 40.

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Es ist kein Zufall, dass Aristoteles der Tragödie als ein Gattungsmerkmal gewissermaßen ins Stammbuch ihrer mehr als zweieinhalbtausendjährigen Geschichte geschrieben hat, dass sie das leidbringende Tun (p\hor)31 in einer Weise zur Darstellung bringen solle, die das Leiden als solches gerade nicht verharmlose, leugne oder gesellschaftlich anderweitig einspanne und darüber ihm seine ganze abgründige Härte doch nehme.32 Und Zufall ist es sicherlich auch nicht, dass Hegel bis heute dem Verdacht ausgesetzt ist, in seinem Negativitätsdenken das Leiden als Inbegriff dessen, was nicht sein sollte, auf ein zwar vorläufiges, aber doch notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer zunächst ausstehenden, doch auf christlichem Boden stets schon geleisteten Versöhnung seiner Dialektik herabgestuft zu haben. Und es spricht Bände, dass Hegel in der privatio boni-Lehre in ihrer Leibnizschen Gestalt gerade nicht – wie etwa sein idealistischer Mitstreiter Schelling und in dessen Nachfolge Schopenhauer – die verharmlosende und zynische Depotenzierung des malum, verstanden in der ganzen Weite des Nichtseinsollenden, anprangert, sondern vielmehr die Vorlage der eigenen, auf Versöhnung hin angelegten Dialektik wahrnimmt und dies ausdrücklich würdigt: Unsere Betrachtung ist […] eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibniz metaphysisch auf seine Weise in noch unbestimmten, abstrakten Kategorien versucht hat, so daß das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen versöhnt werden sollte. […] Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes Negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet, durch das Bewußtsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils daß derselbe in ihr verwirklicht worden sei, und nicht das Böse neben ihm sich letztlich geltend gemacht habe.33

31 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 11, 1452b9 – 13; vgl. ferner Aristoteles: Poetik. Übers. u. erl. v. A. Schmitt, S. 432 f. u. 560 f. 32 Vgl. Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Lehre von der Katharsis in der „Poetik“ des Aristoteles. In: ders.: Von der Wahrheit der Dichtung. Interpretationen. Hg. v. Wolfgang Janke/Raymund Weyers. Würzburg 1984, S. 71 – 88, hier bes. S. 75 – 83. 33 Hegel, PhGesch, TWA 12, S. 28.

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III. Tragik und nihilistische Daseinsdeutung „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.“34 Mit diesem Paukenschlag, der dem Leser gleich zu Beginn des Versuchs ber das Tragische das Äußerste an Konzentration abverlangt, verweist Szondi auf den geheimen Fluchtpunkt einer im Tragischen zentrierten Geschichte der Philosophie des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts. Unbeeindruckt von der seit Karl Löwith über den engen philosophischen Horizont hinaus verbreiteten Rede von einem ,revolutionären Bruch‘ im Denken des 19. Jahrhunderts35 hebt der Berliner Literaturwissenschaftler im Spannungsfeld von idealistischem Systemdenken und metaphysischer Daseinsdeutung im Nihilismus Schopenhauers und Nietzsches vor allem auf das Gemeinsame ab: Im Spiegel des in der abendländischen Tradition entwickelten Vokabulars tragischer Grundbegriffe bilden Schelling, Schopenhauer und Nietzsche – wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise – ihr eigenes philosophisches Selbstverständnis in der Abgrenzung von bagatellisierenden Modellen des Fortschritts und der Emanzipation aus, und zwar dergestalt, dass dieses Vokabular selbst – immer auffälliger – in den Status eines organisierenden Zentrums für eine metaphysische Auslegung unseres Daseins aufrückt. Es kennzeichnet diese Auslegung, dass Schopenhauer und in seiner Nachfolge der frühe Nietzsche ganz bewusst am genuin tragischen Entzweiungscharakter des Daseins als dessen grundlegender Verfassung festhalten und dabei von einer gänzlichen Desillusionierung über eine durch und durch nichtige Wirklichkeit unserer menschlichen Existenz ausgehen. Und es ist wiederum Schopenhauer, der im Ausgriff auf das Ganze des europäischen Nihilismus das Tragische – freigesetzt aus der Klammer eines dialektischen Schemas – zum hermeneutischen Schlüssel fortbestimmt, nach dessen Maßgabe unser menschliches Dasein als ein universaler Zwangszusammenhang gedeutet wird, der sich gar nicht anders als in der Rhetorik von Verhängnis und Zwang thematisieren lasse.36 34 Szondi: Versuch über das Tragische, S. 151. 35 Vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts (1941). Mit erg. Gesamtbibliogr. Karl Löwith v. Klaus Stichweh. Hamburg 91986. 36 Vgl. hierzu genauer: Lore Hühn: Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Lichte der Kritik Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos. In: Günter Figal (Hg.): Interpretationen der Wahrheit. Tübingen 2002, S. 143 – 181.

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Den semantischen Gehalt dieser Rhetorik haben Schopenhauer und Nietzsche gleichermaßen für den geschichtsphilosophischen Befund des Nihilismus bis zur Neige ausgeschöpft, und beide haben – wie vielleicht nur noch Heidegger nach ihnen37 – den Versuch unternommen, das Paradigma ihrer eigenen Philosophie auf der Folie des vorsokratischen Urtextes aller Tragik, dem Spruch des Anaximander, noch einmal abzubilden.38 Doch zunächst: Schopenhauer hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass das Trauerspiel in seinem Denken eine Schlüsselrolle spielt, ja dass es das Strukturmodell bildet, an dem seine eigene Daseinsdeutung sich ausgebildet und zeitlebens orientiert hat. Schließlich ist es doch in seinen Augen das Trauerspiel, das den „Widerstreit des Willens mit sich selbst […] auf der höchsten Stufe seiner Objektivität am vollständigsten entfaltet“.39 Seine am Paradigma des Tragischen orientierte Daseinsdeutung ist der Kern seiner gesamten Willensmetaphysik. Nicht zufällig hat Schopenhauer sich von der Grundannahme leiten lassen, dass man mit der Erklärung unserer menschlichen Willenstätigkeit zugleich den Schlüssel zum Verständnis des Seienden im Ganzen in der Hand halte. Es ist das diesem Beitrag zugrunde liegende Interesse zu zeigen, dass Schopenhauers Willensmetaphysik im ganz großen Stil vorführt, was eine ,Philosophie des Tragischen‘ kennzeichnet,40 indem sie bis in ihre tiefsten Filiationen hinein ausbuchstabiert, was Autoren etwa wie Max Scheler

37 Vgl. Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander (1946). In: ders.: Holzwege. Frankfurt a.M. 1950, S. 321 – 373. 38 Hierauf weist Nietzsche hin, wenn er die Textstelle zitiert, in der Schopenhauer selbst auf das Fragment des Anaximander zu sprechen kommt. Dieses in die von Frauenstädt besorgte Ausgabe der Parerga und Paralipomena (1862) aufgenommene Fragment lautet: „,Der rechte Maßstab zur Beurtheilung eines jeden Menschen ist, daß er eigentlich ein Wesen ist, welches gar nicht existieren sollte, sondern sein Dasein abbüßt durch vielgestaltetes Leiden und Tod: was kann man von einem solchen erwarten? Sind wir denn nicht alle zum Tode verurtheilte Sünder? Wir büßen unsere Geburt erstlich durch das Leben und zweitens durch das Sterben ab‘“ (Nietzsche, PHG 4, KSA 1, S. 818). 39 Vgl. Schopenhauer, Werke (ZA), W I, § 51, S. 318 (Schopenhauer wird zitiert nach: Arthur Schopenhauer: Werke. Zürcher Ausgabe. Hg. v. Angelika Hübscher. 10 Bände. Zürich 1977). 40 Vgl. Alexis Philolenko: Schopenhauer. Une philosophie de la tragédie. Paris 1980; Antonio Bellingreri: La Metafisica Tragica Di Schopenhauer. Mailand 1992.

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oder auch Karl Jaspers41 einmal glaubten als Kern des Tragischen festschreiben zu dürfen: „Im ausgesprochensten Sinne tragisch ist es […], wenn ein und dieselbe Kraft, die ein Ding zur Realisierung eines hohen positiven Wertes (seiner selbst oder eines anderen Dinges) gelangen läßt, auch im Verlaufe dieses Wirkens selbst die Ursache für die Vernichtung eben dieses Dinges als Wertträger wird“.42

IV. Die Auslegung des Willens nach Maßgabe des Zirkels perennierenden Selbstverfehlens Dem monistischen Anspruch der Willensmetaphysik Schopenhauers dürfte es vor allem geschuldet sein, wenn diese stets beides auf einmal will: ein über die Selbstverkehrung des Willens gesteuertes, in sich lückenlos organisiertes Deformationssystem, das Schopenhauer als unsere vorstellungsmäßig strukturierte Erfahrungswirklichkeit begreift, und außerdem die Aufhebung dieser Selbstverkehrung durch eben den Willen selbst. Es liegt auf der Hand, dass die Frage, ob diese Aufhebung mit oder gegen jenen Willen zu erreichen ist,43 zu den kontrovers diskutiertesten Fragen des Schopenhauerschen Monismus gehört; stellt sie doch eine Frage dar, über die sich verantwortlich natürlich erst befinden lässt, wenn man die gegenläufigen Fundierungsoptionen, welche Schopenhauer unter dem Dach eines einzigen Strukturprinzips – des Willens also – glaubt unterbringen zu können, in ihrer ganzen Gegenläufigkeit durchmessen hat. Zu klären ist fürs erste die Grundannahme selbst, wonach ein über die eigene Selbstverkehrung sich herstellendes und fortan sich erhaltendes Wollen das Paradigma der ganzen nihilistischen Daseinsdeutung bildet, – eine Annahme, der gemäß Schopenhauer ein und dasselbe Paradox, nämlich dasjenige perennierenden Selbstverfehlens, variantenreich durchspielt und als Zentrum seiner ganzen Willensmetaphysik zur Entfaltung bringt. 41 Vgl. Scheler: Zum Phänomen des Tragischen, S. 149 – 169 sowie Jaspers: Von der Wahrheit, S. 915 – 960. 42 Scheler: Zum Phänomen des Tragischen, S. 158. 43 Vgl. Rudolf Malter: Erlösung durch Erkenntnis. Über die Bedingung der Möglichkeit der Schopenhauerschen Lehre von der Willensverneinung. In: Wolfgang Schirmacher (Hg.): Zeit der Ernte. Studien zum Stand der Schopenhauer-Forschung (FS Arthur Hübscher). Stuttgart-Bad Cannstatt 1982, S. 21 – 59; vgl. auch Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996, S. 125 – 139.

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Letzterer ist es von vorneherein ins Stammbuch geschrieben, dass der Wille gegenüber seinem eigenen Selbstvollzug nicht frei ist und – in sich selbst verkehrt – das von ihm Gewollte grundsätzlich nicht erreichen kann, gerade weil er es, paradox genug, erreichen will. Das Syndrom eines Wollens, welchem strukturell die Aporie eingezeichnet ist, im selben Atemzug zu vereiteln, was es erstrebt, und sich derart in einem fort um den Erfolg des von ihm Gewollten zu bringen, ist die bloß fassbare Gestalt eines Selbstwiderspruchs, der performativ darum genannt zu werden verdient, weil man ihm nicht nur nicht entkommen kann, sondern weil man bei jedem Versuch, sich willentlich von ihm frei zu machen, ihm um so nachhaltiger verfällt.44 Ja mehr als dies: Man verschärft diesen Widerspruch geradezu krisenhaft – eine Verschärfung, über deren destruktive Härte man sich nach Schopenhauer nicht einmal mehr um den Preis planmäßiger Selbsttäuschung betrügen darf. Denn jede Anstrengung, ihm – und sei es unter Aufbietung aller verfügbaren Willenskraft – zu entkommen, verstärkt nur, was die Ursache seines unablässig von vorne anhebenden Selbstvollzuges ist. Jeder Versuch zieht einen weiteren nach sich – eine Kette von Versuchen, die allesamt den ruinösen Zirkel perennierenden Verfehlens durch sich hindurch fortschreiben und seine Logik bis in die letzten Verästelungen unseres Umgangs mit uns selbst und der Welt hinein verlängern und ausweiten. Nach der bekannten Maxime der Dialektik schlecht-unendlicher Progression ist diesen Versuchen die Richtung vorgegeben, in zwanghaft auf der Stelle tretenden Wiederholungen stets gleichen Wollens solcherart zu stagnieren, dass es zu einer dynamisch sich um ein Vielfaches noch einmal beschleunigenden Wiederkehr ein und desselben Wollens kommt, eines ins schier Endlose sich steigernden Wollens, das offenkundig die Züge einer zwanghaften Ro44 Strukturell vergleichbar ist diese Triebdynamik mit dem, was Schelling unter dem Titel des Bösen in seiner Schrift Philosophische Untersuchungen ber das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) als Phänomen der Sucht ausbuchstabiert hat: „Das Princip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist, ist der Eigenwille der Creatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Princip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille ist“ (Schelling, SW VII, S. 363). Und Kierkegaard hat im Anschluss an Schelling diese in sich verkehrte, weil nicht aus eigener Vollmacht unterhaltene Handlungsstruktur als Trotz des Verzweifelten charakterisiert: „Insoweit arbeitet sich das Selbst, in seinem verzweifelten Streben, es selbst sein zu wollen, in das gerade Gegenteil hinein, es wird eigentlich kein Selbst“ (Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Emanuel Hirsch u. a. 38 Abt. in 32 Bde., Simmerath 2003 f., Bd. 17, S. 180).

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tationsbewegung annimmt. Die Metaphorik schlechter Unendlichkeit („Rade des Ixion“45), von der Schopenhauer in einem mehr als nur rhetorischen Sinne weidlich Gebrauch macht, ist beredt genug, ist dieser doch die Grundstruktur abgelesen, die sich immer wieder in jedem Willensakt auf abgründige Weise reproduziert. Schon der Versuch, jenem Selbstwiderspruch einer permanent sich selbst durchstreichenden Vollzugsform endlosen Wollens durch immer neue Anstrengungen zu entkommen, wird von jenem in einer Weise ereilt, die einen immer nur tiefer in das hineingeraten lässt, was man, wenn man sich nur recht versteht, gar nicht wollen kann. Schopenhauer hat diesen Selbstwiderspruch so tief in die Fundamente seiner Metaphysik eingebaut, dass dieser Widerspruch regelrecht zum Motor eines sich selbst reproduzierenden Willensgeschehens avanciert, zu einem Motor, der die Dynamik dieses Geschehens in Gang hält, welcher aber auch der Sand im Getriebe dieses Geschehens ist, insofern als er einen Prozess auf den Weg bringt, der – wie folgt – vor allem dafür verantwortlich ist: Hat der Wille als ganzer die Bedingungen der eigenen Selbstgefährdung von vorneherein in sich aufgenommen, so dass kein Willensakt ausgespart und übrig bleibt, in den hinein sich diese Gefährdung nicht fortsetzt, dann erstreckt sich diese Gefährdung erst recht auf die von ihm konstituierte Wirklichkeit, deren vorstellungsmäßig strukturierte Seite nach Schopenhauer nicht kontingenterweise, sondern notwendig auf den Zusammenbruch einer jeden, zumal konsistenten und tragenden Ordnung zutreibt. Die Iterationsstruktur des Willens macht die Gesamtverfassung der Welt – letztere rein als Vorstellung betrachtet – zu einer anfälligen Konstellation in einem Prozess, der von Beginn an in der Gefahr steht, überhaupt nicht in stabilen, gegeneinander abzugrenzenden Bestimmtheitsverhältnissen zu terminieren. Und weil dieser Prozess sich immerfort um die Konstanz einer wirklichen Vollendung bringt, ja ihr nur vergeblich hinterherläuft, erreicht er erst gar nicht das Niveau einer qualitativen Bestimmtheit, etwa in der Weise, dass die jeweils eine Vorstellung sich von der anderen tatsächlich unterscheiden, d.i. gegen sie abgrenzen und als selbständige festhalten ließe. Das Bild, das Schopenhauer von der ,Welt der Vorstellung‘ – übrigens in der doppelten Lesart des Genitivus subiectivus und obiectivus – gibt, gleicht nicht zufällig einem lückenlosen System relationaler Vermittlungen, welche in ihrer durchgängig kausal45 Schopenhauer, Werke (ZA), W I, § 38, S. 252: „So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus.“

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mechanischen Bestimmtheit den Dingen keine in sich gegründete, vielmehr nur eine scheinhafte und von woanders erborgte Realität zukommen lassen.46 Das ,Wirkliche‘, weit gefehlt, das qualitativ in sich bestimmte, konkrete Seiende zu sein, wird ganz und gar aufgelöst in ein nur „relatives Daseyn“.47 Auf diese Formel bringt Schopenhauer selbst seinen Grundgedanken, wonach unser vorstellungsmäßig bedingtes Dasein auf einer Unendlichkeit von solchen Vermittlungen aufruht, bei denen sich gar nicht absehen lässt, wie die Dinge im Kreisgang des stets Gleichen noch vor dem Leerlauf schlechter Unendlichkeit zu bewahren sind. Soll die Rede über ein Wollen, das in einem fort sich um das Gewollte bringt, mehr sein als der Versuch, laufend das unvermeidliche Scheitern nur vor sich herzuschieben, mit eben der Folge, auf diese Weise einem auf der Stelle tretenden Automatismus zu erliegen, wo am Ende gar nichts außer einem konturlosen Oszillieren übrig bleibt, dann fordert dies allerdings zu einer Deutung heraus, die es nicht dabei bewenden lässt, in paradoxalen Satz- und Begriffskonstellationen zu kreisen und sich in ihnen womöglich noch einzurichten. Sowenig sich ohne diese Sprachfiguren und der ihnen eigenen Rhetorik von Verhängnis und Tragik etwas bei Schopenhauer ausrichten lässt, sowenig kann man es bei ihnen belassen. Denn der Wille, dessen antinomische Verfassung in ihrer ganzen Abgründigkeit es zu durchmessen und dessen Repressivität es ungeschminkt aufzudecken und zu kritisieren gilt, muss erst einmal in seiner Wirklichkeit stiftenden Potentialität aufgebaut und als dominantes Strukturprinzip alles Seienden zur Entfaltung gebracht werden. Der Doppelrolle jenes monistischen Strukturprinzips, verantwortlich zu sein für den Aufbau wie zugleich für die Subversion dessen, was er aufbaut und generiert, kommt man nicht bei, wenn man – wie so häufig – die eine Seite gegen die andere bloß auszuspielen versucht. Selbst da, wo Schopenhauer auf die antinomische Grundverfassung des Willens einseitig abhebt, um dessen selbstdestruktiven Leerlauf um so eindringlicher kritisieren und destruieren zu können, kann er nicht umhin, zunächst einmal dasjenige zu affirmieren, zu dem er dann schließlich nein sagen will. Wie tiefgreifend die nicht auflösbare Spannung dieser Ambivalenz bis in die feinsten begrifflichen Verästelungen der Schopenhauerschen Willensmetaphysik hineinwirkt, zeigt sich auch daran, dass diese Ambivalenz auf den Ort ausgreift, an dem der Mensch sein Wesen noch als in Freiheit 46 Vgl. Schopenhauer, Werke (ZA), W I, § 31, S. 224. 47 Schopenhauer, Werke (ZA), W I, § 3, S. 34.

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gegründet erfährt. Zur Semantik dieses Ortes gehört es, dass er jenseits und außerhalb, jedenfalls nicht in dem alles zersetzenden Fluidum eines stets gleichen Wollens liegen kann und dass man diesen Ort unweigerlich verfehlt, sofern man seiner vorsätzlich habhaft zu werden trachtet. Auch dann nämlich, wenn wir uns als Nichtwollende wollen, kommen wir beständig uns selbst in die Quere, ja es meldet sich eine uns überhaupt nicht zur Disposition stehende Tiefenstruktur unseres Tuns und Lassens zu Wort – eine Struktur, welche unserem Handeln immer schon zuvorkommt, ja die wir gar nicht loswerden und aufheben können, ohne sie im selben Atemzug voraussetzen zu müssen; denn selbst im Wollen eigenen Nichtwollens wollen wir. Der Zirkel perennierenden Selbstverfehlens ist die operationale Schlüsselfigur, nach deren Maßgabe Schopenhauer seinen modernitätskritischen Befund unterbreitet, das ganze Dasein des Menschen stehe unter der Optik eines unvordenklichen Schuldzusammenhangs. Dieser Befund führt freilich zu einer Verschärfung gewissermaßen auf beiden Seiten: In dem Maße, wie diese Optik die Grundverfallenheit des Menschen ihrer Ausweglosigkeit nach festschreibt und negativistisch zuspitzt, in dem Maße radikalisiert sie auch die Ansprüche an die Befreiung – eine Befreiung, welche nur in der entschiedenen Abkehr von allen bisherigen Selbstdefinitionen, im Loskommen von dem, was wir jeweils geworden sind, liegen kann. Dem radikalen Befund universal gewordener Nichtigkeit korrespondiert der ebenso radikale Aus- und Fluchtweg, mit sämtlichen Weisen unseres In-der-Welt-Seins zu brechen, und zwar im buchstäblich Äußersten eines Selbstvollzuges, der vor der grundlegendsten Verfassung menschlichen Daseins, nämlich der voluntativen, nicht nur nicht Halt macht, sondern diese Verfassung selbst in einem ganz fundamentalen Sinne von innen her angeht. Und dies mit der Folge, dass diese derart in einen Widerspruch mit sich und damit in den Zusammenbruch treibt. Begreift man – wie augenfällig Schopenhauer dies tut – die Welt als eine bereits auf ihrem Grunde nichtige, d.i. als eine, die besser gar nicht sein und schon gar nicht fortwähren sollte, dann steht dieser Grund selbst und nicht das nachträgliche Wissen um die verheerenden Folgen, die er zeitigt, zur Debatte. Schopenhauer hat in seiner Theorie der Willensverneinung diese Grenzsituation eines äußersten Neinsagens zum Leben eindringlich beschrieben. Und auch hier ist es mit Händen zu greifen, dass dieses Nein von dem praktisch motivierten Interesse zeugt, welches auf eine tiefgreifende, kathartische Befreiung zielt, die in mehr als einer Hinsicht der tragischen Grundbegrifflichkeit entnommen ist.

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Doch worauf es hier bloß ankommt: Dieses Neinsagen hat Schopenhauer bis in die äußerste Konsequenz hinein als Paradox ausbuchstabiert, nämlich als Paradox eines Freiheitsvollzuges, der regelrecht das aufzuheben sucht, was doch die eigene Voraussetzung ist, nämlich das Dasein, in dem wir uns zunächst als individuell Wollende zunächst vorfinden. Es bedarf ja wohl keines Beweises, dass mit diesem ins Paradoxe gesteigerten Widerspruch, der durch den Verlust menschlicher Freiheit eben diese Freiheit beweist, Schopenhauer genau besehen die Ansprüche an das menschliche Freiheitsvermögen nicht minimalisiert, sondern umgekehrt höher schraubt: Denn er verlangt diesem Vermögen das menschenmöglich buchstäblich Äußerste ab, nämlich einen Selbstanfang zu stiften, der die Grenzen unserer Erfahrungswirklichkeit so übersteigt, dass er all jene Bedingungen ausstreicht und negiert, unter denen wir allein als individuell Existierende überhaupt sein können. Und von hier aus lohnt sich ein Blick zurück zum Anfang der ,Philosophie des Tragischen‘, nämlich zum zehnten der Philosophischen Briefe ber Dogmatismus und Kriticismus: Orientiert an der Sophokleischen Tragödie des Kçnig dipus bringt dort der zwanzigjährige Schelling emphatisch das Freiheitsvermögen des Menschen über eben dieses Paradox als ein solches zu Bewusstsein, das gerade „durch den Verlust seiner Freiheit selbst eben diese Freiheit beweist“.48 Und es lässt sich mühelos zeigen, dass Schopenhauer in Radikalisierung einer schon bei Schelling am Gefühl des Erhabenen abgelesen Grundfigur des Tragischen auf die Freisetzung einer ausgezeichneten Freiheitserfahrung zielt, die freilich die Grenzen eines Trauerspiels grundlegend überschreitet. Diese Freiheitserfahrung ist zugleich die Grenzerfahrung des Tragischen, der zufolge das Äußerste an Lebensintensität an die Erfahrung ihrer lebensweltlichen Unrealisierbarkeit gebunden ist. Unbestreitbar ist es Friedrich Nietzsche, der diese emphatische Grenzerfahrung in ganz großem Stil seiner ,Philosophie des Tragischen‘ gewissermaßen als Erbe mit auf den Weg gegeben hat.49

48 Schelling, AA I,3, S. 107 (SW I, S. 337). 49 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus d. Franz. v. Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 21977, S. 10 ff.

Konstellationen und Grenzen des Tragischen. Figuren der Negativität Emil Angehrn Das Scheitern ist den Menschen vertrauter als das Gelingen, das Leiden näher als das Glück. Auch die aktuelle Konjunktur der Beschäftigung mit Glück und Lebenskunst erscheint eher wie eine temporäre Gegenbewegung in der Geschichte der Besinnung auf den Menschen. Die Befindlichkeiten, in denen der Mensch seines Seins gewahr wird, sind nach der Existenzphilosophie vorzugsweise Negativaffekte wie Angst, Verzweiflung, Langeweile. Unter vielfältigsten Abschattungen wird die Negativität menschlicher Existenz erfahren und beschrieben. Vergänglichkeit, Haltlosigkeit, Entfremdung sind Facetten solcher Beschreibung. Es sind Indizien eines fundamentalen Ungenügens, eines Verfehlens, das konstitutiv zur menschlichen Existenz gehört. Vielfach ist solches Verfehlen im Zeichen des Tragischen gedeutet worden. Maurice Maeterlinck hat von einer „Tragik des Alltags“ gesprochen, die mit dem Leben als solchem verflochten ist und von der er meint, dass sie „viel wahrer und tiefer ist und unserem wahren Wesen weit mehr entspricht als die Tragik der großen Abenteuer“, der ewigen Konflikte und überwältigenden Schmerzen.1 Allerdings scheint klar, dass in einem engeren Verständnis nicht all diesem die Aura des Tragischen zukommt. Nicht alles, worunter wir leiden oder was wir als schicksalhafte Versagung erleben, ist als tragisch zu bezeichnen. Die Frage, der ich im Folgenden nachgehen möchte, gilt den spezifischen Merkmalen des Tragischen und genauer dem Verhältnis von Tragik und Negativitt. Sie fragt danach, was die besondere Negativität des Tragischen auszeichnet und wie dessen Ort im menschlichen Dasein bestimmt ist. Sie fragt auch danach, welches die Grenzen des Tragischen sind. Zwischen existentieller Negativität und Tragik besteht nicht einfach Deckungsgleichheit, sondern gleichsam eine zweifache Inkongruenz. 1

Maurice Maeterlinck: Le Tragique quotidien. In: ders.: Le Trésor des humbles. Essai (1896). Brüssel 1986, Neuaufl. 1998, S. 99 – 110, hier S. 101 [Übers. v. Verf.].

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Nicht jede Erfahrung des Schmerzes, des Verlusts und Vergehens ist tragisches Bewusstsein. Umgekehrt ist das Tragische nicht notwendig ein Letztes. In der Moderne wird das tragische Bewusstsein teils überwunden oder aufgelöst; teils kommt ein Negatives jenseits des Tragischen in den Blick. In Frage steht nicht eine bloße Begriffsklärung; die Verdeutlichung des Verhältnisses von Tragik und Negativität gilt zugleich dem Bemühen, sich im Ausgang vom Tragischen über Bedingungen menschlichen Selbstseins und dessen konstitutive Negativität zu verständigen. Es liegt auf der Hand, dass jede differenzierende Verhältnisbestimmung von Tragik und Negativität Schematisierungen in Anspruch nimmt, die nicht zuletzt einen historischen Index haben. Die Geschichte der Tragödie – etwa in der modernen Transformation der antiken Tragödie – ist selbst ein Prozess, in dem Aspekte auseinandergehalten und neu konstelliert werden, die sich je nachdem im Binnenraum des Tragischen situieren oder als dessen Anderes auftreten. Die angedeutete Nichtkongruenz lässt sich zum Teil auch als eine zwischen Versionen des Tragischen oder der Tragödie lesen. Jede Diskussion geht explizit oder implizit von idealtypischen Modellen aus, sei es, dass sie sich an der griechischen Tragödie selbst (von der uns ohnehin nur ein geringer Teil überliefert ist), an herausgehobenen klassischen Werken (etwa Kçnig dipus oder Antigone), an der Geschichte der Tragödie im Ganzen oder an klassischen Theorien der Tragödie (etwa von Aristoteles oder Hegel), die ihrerseits selektiv angelegt sind,2 orientiert. Für das Folgende ist von einem Paradigma auszugehen, das im Wesentlichen durch die klassische griechische Dichtung gegeben ist, wobei als exemplarische Bezugspunkte die Dramen von Aischylos und Sophokles dienen. Mit Bezug auf sie ist zu fragen, welches die charakteristischen Merkmale des Tragischen sind. Zu diesen zählen zuerst Merkmale, welche die conditio humana auszeichnen, sozusagen die tragische Verfassung des menschlichen Seins ausmachen (1.). Zugleich thematisiert die Tragödie, in welcher Weise Subjekte sich zu dieser Verfassung verhalten, wie sie sich handelnd, erkennend und deutend mit der Tragik der Existenz auseinandersetzen und in dieser Auseinandersetzung ihr Selbstsein gewinnen (2.). Im Blick auf diese Gesamtkonstellation ist nach den Grenzen des Tragischen (3.) und dem Verhältnis von Negativismus und Tragik (4.) zu fragen.

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Für die Festlegung durch Aristoteles (z. B. im Vergleich mit Gorgias) vgl. in diesem Band: Bernhard Zimmermann: Über das Tragische bei den Griechen.

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1. Die tragische Verfassung der Existenz Die Verfassung des menschlichen Seins kommt in der Tragödie unter vielfältigen Aspekten zum Ausdruck, die sich um drei Gravitationszentren gruppieren lassen. Die Tragik der Existenz ist durch die Endlichkeit alles Menschlichen, die innere Konfliktualität des Handelns und die unhintergehbare Schuldhaftigkeit des Daseins bedingt.

1.1 Endlichkeit, Ohnmacht, Leiden Die Urerfahrung, die sich schon im Mythos Ausdruck verschafft und in der Tragödie ihren Widerhall findet, ist die der Nichtigkeit alles Menschlichen. Sie ist sowohl die Erfahrung der Ohnmacht gegenüber der Willkür der Götter und der Herrschaft des Schicksals wie das Erleben der eigenen, inneren Hinfälligkeit des menschlichen Seins. Dass die Menschen sterblich sind, ist ihr basalstes Leiden und ihr erstes Differenzmerkmal gegenüber den Göttern. Die Herrschaft der Zeit ist die erste Fremdherrschaft über den Menschen: „allein die Götter sind vom Alter allezeit verschont und auch vom Tod. Das übrige zerstört die Allgewalt der Zeit.“3 Die Sterblichkeit ist die elementarste Hinfälligkeit des Menschen, tiefer noch als die Zerbrechlichkeit von Glück und Ansehen, die das Elend des Menschen bedingt. Allem zugrunde liegt der Antagonismus von Sein und Nichtsein, der in den Gegensätzen von Bestehen und Vergehen, Festigkeit und Wandel wiederkehrt (wie Antigone den menschlichen Satzungen die „ewige[n], göttliche[n] Gesetze“ gegenüberstellt, die „immerdar bestehn“).4 Die Urangst vor dem Nichts, die sich ebenso im Schrecken vor dem Chaos, dem Gestalt- und Grenzenlosen äußert, die Erfahrung der Haltlosigkeit und Leere sind Erlebensformen dieser Bedrohung, die nicht einem bestimmten Ziel oder Zustand, sondern dem Sein des Subjekts als solchem gilt. Nietzsche hat dieses Bedrohtsein in entgegengesetzten Gestalten in die Tiefenschicht des Tragischen eingezeichnet. Die Dynamik des Apollinischen und Dionysischen verknüpft gegenläufige Utopien – die 3

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Sophokles, Oidipus auf Kolonos, V. 607 – 609 (Sophokles’ Werke werden zitiert nach: Sophokles: Dramen. Griech. u. dt. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Bayer. Mit Anm. u. e. Nachw. v. Bernhard Zimmermann. München/Zürich 21985). Sophokles, Antigone, V. 454 – 456.

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Sehnsucht des Aufgehens im Ganzen und das Streben nach der individuierenden Gestalt –, denen gleichzeitig Formen des Selbstverlusts und des Schreckens innewohnen: das „ungeheure Grausen“ angesichts des Verlusts von Form und Bestimmtheit auf der einen Seite, die trennende Individuation als „Quell und Urgrund alles Leidens“ auf der anderen.5 Das Einssein mit dem Ganzen und die Befreiung aus ihm werden in abgründigem Zwiespalt sowohl als Erlösung wie als Vernichtung erlebt. Im Negativen sind es entgegengesetzte Formen des Selbstverlusts, die in ihrer Gegenläufigkeit eine Art Fatalität des unausweichlichen Untergangs verkörpern. Das Individuum ist sowohl durch die Vereinigung wie die Trennung in seinem Sein bedroht. Nach einer dritten Hinsicht ist der Mensch nicht nur in seiner Existenz und in seiner Individuation, sondern in seinem subjektiven Selbstsein dem Scheitern ausgesetzt. Als Subjekt, das in seinem Selbstverhältnis mit sich eins werden will, droht ihm ein zweifaches Sichverfehlen. Das Subjekt will einerseits sein eigener Ursprung sein, sich selbst bestimmen und entwerfen, andererseits in seinem Tun mit sich zur Deckung gelangen und seine Ziele verwirklichen. Dem Streben nach Ursprünglichkeit entspricht auf der Gegenseite das Verlangen nach Erfüllung und Ganzheit. Doch nach beiden Seiten entgleitet ihm die Selbstkoinzidenz. Uneinholbar bleibt die retrospektive wie die prospektive Selbstpräsenz, die Identität des Anfangs wie des Abschlusses: Der Mensch kommt nie ganz aus sich und gelangt nie ganz zu sich. Auch diese ,Schwäche‘ des Selbst, die in neueren Theorien reflektiert wird, steht für ein ursprüngliches Defizit und ein originäres Leiden, mit dem das Selbst in seinem Tun und Wollen konfrontiert ist. All dies sind Formen des Mangels, die mit dem menschlichen Sein als solchem gegeben sind. Es sind Erfahrungen des Leidens, des Ausgeliefertseins und der Haltlosigkeit, des unstillbaren Begehrens und der Nichtganzheit der Existenz. All diese Aspekte werden in der alten Literatur – teils im Mythos, teils in der archaischen Lyrik, teils in der Tragödie – thematisch und zum Kern der Reflexion über den Menschen. Im Ganzen repräsentieren sie eine seinsmäßige Negativität, die sich dem Ideal wahrhaften Seins und erfüllten Lebens widersetzt. Für sich genommen, sind es noch nicht spezifische Merkmale des Tragischen, sofern ihnen der Zug der inneren Widersprüchlichkeit, der das Tragische kennzeichnet, nicht anhaftet. Doch kommen sie innerhalb der Tragödie mit zur Sprache, gehören sie mit zur Negativität der tragischen Kon5

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28 u. GT 2, KSA 1, S. 72.

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stellation. Die Hinfälligkeit und konstitutive Mangelhaftigkeit der Existenz bildet den Rahmen und gleichsam den seinsmäßigen Grund jener spezifischen Ausweglosigkeit, in welche sich das tragische Handeln verstrickt. In einem schwächeren Sinn können wir zwar auch in diesen Erfahrungen eine Art Gegenläufigkeit des Strebens, ein konstitutives Sich-nicht-Erfüllen-Können ausmachen, das mit der strukturellen Verfassung des Tragischen verwandt scheint. Doch ist es eine Unstimmigkeit, die in der Endlichkeit als solcher liegt und noch nicht jene Härte und Unversöhntheit besitzt, die das Tragische in seinem Kern bestimmt.

1.2 Konfliktualität des Handelns Über solche Defizienz gehen jene Formen der Nichtidentität hinaus, die nicht der Ohnmacht, sondern der inneren Konfliktualität und Zerrissenheit des menschlichen Seins geschuldet sind. Ein Kern des Tragischen liegt für die klassische Tragödientheorie in der Kollision der Werte und Pflichten, die sittlichem Handeln innewohnt. Nicht der Kampf feindlicher Mächte oder der Antagonismus zwischen Gut und Böse, sondern die unausweichliche Kollision positiver Werte, die ob ihrer Einseitigkeit nicht nebeneinander bestehen können, macht das Tragische des Konflikts aus. Tragisch ist das Handeln, das in der Verfolgung eines Zwecks notwendig einen andern Wert oder berechtigten Anspruch verletzt. Paradigmatisch sind Konstellationen, in denen nicht einfach die Unvereinbarkeit partikularer Wertsetzungen, sondern gleichsam notwendiger Gegensätze, die in ihrem Spannungsverhältnis ein Ganzes umreißen, ausgetragen wird – so etwa der Gegensatz zwischen der natürlichen Pietät der Familie und der Allgemeinheit des Staats in Sophokles’ Antigone. Generell ist der mythische Polytheismus Sinnbild dieser „Grundunstimmigkeit der Welt“,6 welcher der Mensch ebenso ausgeliefert ist wie der Übermacht des Schicksals und die Max Weber analog in „unlöslichem Kampf“ der pluralen Wertordnungen wahrnimmt.7 Die Unvollendetheit und Partialität ist nicht einfach eine strukturelle, sondern eine normative, eine Selbstverunmöglichung des Guten, die auf das Subjekt zurückschlägt und seine ethische Selbstverwirklichung untergräbt. Der Mensch kann 6 7

Karl Jaspers: Über das Tragische. München 1952, S. 13. Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen 41973, S. 582 – 613, hier S. 603.

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nicht einfach in der einseitigen Realisierung des Sittlichen aufgehen und darin seine Erfüllung finden. Dieser Verwirklichung, auch wenn sie einen Idealtypus heroischer Existenz zeichnet, haftet die Unversöhntheit des Ganzen als eigener Makel an, der das Subjekt am Ende dem Untergang weiht – wie nicht nur Antigone das Unheil ereilt, sondern auch Kreon, der sich in unlösbare Schuld verstrickt und zuletzt ganz vernichtet ist, „nicht mehr als ein Nichts.“8 Unter verschiedenen Aspekten wird das Tragische als Einheitsverlust erfahren. War es zunächst die Erfahrung der Unerfülltheit, so geht es nun um eine Inkonsistenz und einen inneren Zwiespalt, in verschärfter Form um ein in sich widersprüchliches Wollen. Darin äußert sich eine Aporetik, die in analogen Figuren auch unabhängig von der Tragik in Konzepten subjektiven Selbstseins im Nebeneinander unvereinbarer Selbstbeschreibungen herausgestellt wird.9 Im Fall der tragischen Konfliktualität geht es um die Verstrickung in einen Selbstwiderspruch, worin das Leiden als Resultat des eigenen Tuns und Wollens erscheint. Tragisch ist nicht, dass die Durchsetzung unserer Vorhaben immer unzulänglich bleibt, sondern dass das Wollen sich in sich selbst verkehrt und das Tun zur Zerstörung wird. Die tragische Konfliktualität steht für einen Selbstwiderspruch, der in Zerrissenheit und Selbstentfremdung resultiert.

1.3 Schuldhaftigkeit des Daseins Einen Schritt weiter geht die Exploration des Tragischen dort, wo die Negativität nicht nur als faktisch erlittene und selbst bewirkte, sondern als Folge von Schuld und Unrecht erfahren wird. Dabei tritt die Qualität des Schuldhaften in variierenden Abschattungen in Erscheinung. In basalster Weise wird das Leiden als Folge, teils als Sühne eines Vergehens, teils aber auch als Folge eines bloßen Schuldspruchs, als grundlos erlittenes Unrecht erfahren. Für Nietzsche ist das ursprüngliche Leiden als Folge der Individuation die Kehrseite eines ursprünglichsten Frevels, ist der unausweichliche Untergang die Buße für die Ursünde eines Abfallens vom 8 9

Sophokles, Antigone, V. 1325. Dieter Henrich verweist auf gegenläufige Orientierungen und theoretische Ausgriffe, in denen das Subjekt seine Stellung im Ganzen reflektiert und die es nicht zur durchsichtigen Einheit zusammenzubringen vermag: Vgl. Dieter Henrich: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Frankfurt a.M. 2007, S. 44 f. u. S. 49 f.

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Ganzen.10 In Schöpfungsmythen wird die Sterblichkeit zuweilen als grausam über die Menschen verhängtes Los, als Unrecht der von den Göttern vorgenommenen Teilung angeprangert. In grundlegender Weise begegnet uns in der Tragödie die Unausweichlichkeit des Schuldigwerdens als Moment des Menschseins. Das Tragische steht im Zeichen der Schuld, es kennzeichnet den Stand der Unerlöstheit.11 Das Leiden des tragischen Helden, das nach Aristoteles Furcht und Jammer erregt, ist nicht einfach ein ihm von außen zugefügtes Unheil, sondern das Büßen für ein Vergehen, das Abtragen einer Schuld:12 doch einer Schuld, die wie ein Verhängnis am Handelnden haftet, sei es, dass sie einem göttlichen Fluch entstammt, sei es, dass er durch seine Herkunft in sie verstrickt ist oder dass er durch sein eigenes Handeln, wie Ödipus, unwissentlich-unfreiwillig Schuld auf sich geladen hat – die aber nach Sühne verlangt und für die er einzustehen hat. Nicht einfach, dass er für die Fehler anderer einzustehen, ohne moralisches Verschulden13 die Strafe für fremdes Vergehen zu tragen hat, sondern dass er die Schuld und das Vergehen selbst auf sich nehmen muss, macht die wirkliche Härte des tragischen Schicksals aus. Zugespitzt formuliert: Nicht das schuldlose Leiden, sondern die schuldlose Schuld bildet den Kern jener Aporetik, die sich im Tragischen offenbart. Sie ist ein Stein des Anstoßes nicht nur für ein modernes Moralverständnis, sondern für das tragische Bewusstsein selbst. Von der Unzulänglichkeit des eigenen Seins und Könnens gelangen wir hier zu einer abgründigeren, inneren Defizienz des Subjekts, die ein 10 So Nietzsches (strittige) Lesart des Anaximander-Fragments: Nietzsche, PHG 3, KSA 1, S. 817 f. 11 Walter Benjamin bezeichnet das Verhältnis der Sprachen nach dem Sündenfall und der Sprachenzerstreuung nach Babel als „tragische[s] Verhältnis der Sprachen“ (Walter Benjamin: Über Sprache überhaupt und über die Sprache der Menschen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. a. Frankfurt a.M. 1972 ff., Bd. II.1, S. 140 – 157, hier S. 156). 12 Anders Christoph Menke, der in der Vorstellung einer Schuld des tragischen Helden ein Missverständnis der aristotelischen Rede von einem Fehler (hamartia) sieht (vgl. Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005, S. 80). Klar ist allerdings, dass es nicht um ein ,technisches‘, sondern ein normatives Verfehlen geht, so dass auch der „Umschlag ins Unglück“ nicht eine bloß äußere Handlungsfolge oder Fatalität ist. 13 Der tragische Held erleidet nach Aristoteles (Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a9) „nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück“ (Aristoteles’ Poetik wird zitiert nach: Aristoteles: Poetik. Griech. u. dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982).

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spezifisches Merkmal des Tragischen ausmacht. Ihre Abgründigkeit ist jener verwandt, die in der Metaphysik den Ursprung und die Intelligibilität des Bösen kennzeichnet. In letzter Zuspitzung kommt das Negative in der Verflechtung zwischen dem Leiden und dem Bösen in den Blick. Für das normale Empfinden wie den Anspruch der Vernunft ist das Leiden Unschuldiger das Unerträgliche. Hiob ist eine Herausforderung für die Religion wie das Erdbeben von Lissabon für die Aufklärung und das Leiden der Kinder unter der Pest für die existentialistische Sinnfrage. Vertieft wird das Leiden durch die Übernahme der nicht-verschuldeten Schuld, durch welche das Subjekt gewissermaßen zum Urheber des eigenen Leidens wird – eine Negativität, die ihrerseits gesteigert wird, wenn solche Schuld dem Schuldspruch einer missgünstigen Gottheit entstammt. Es ist dies nach Ricœur die abgründigste Erfahrung der Sinnlosigkeit, die nicht nur im Fehlen von Sinn, sondern in dessen Verunmöglichung durch die Negativität des Grundes, letztlich in der Urangst vor einem bösen Urgrund liegt. In der Angst, ob nicht der Gott böse sei, sieht Ricœur die tiefste Verunsicherung, der der Mensch ausgesetzt sein kann.14 Auch wenn die Konfrontation mit dem Bösen und dem Übel in der Tragödie und im Mythos nicht in gleicher Weise wie in der spekulativen Philosophie und der Theodizee begrifflich entfaltet wird, ist sie im Medium von Erzählung, dramatischer Handlung und Symbol in prägnanter Weise gegenwärtig.15 Die Erfahrung des Negativen wird darin in seiner Tiefe aufgenommen und in das Verständnis des Menschen und der Welt integriert. Das tragische Bewusstsein ist eines, das die Unhintergehbarkeit von Ohnmacht, Konfliktualität, Schuld und Leiden auf sich nimmt und als Kern und Grund des menschlichen Seins anerkennt.

14 Vgl. Paul Ricœur: Vraie et fausse angoisse (1953). In: ders.: Histoire et vérité. Paris 31967, S. 357 – 377, hier S. 373 – 375. 15 Vgl. Paul Ricœur: Philosophie de la volonté. Tome II. Finitude et culpabilité. – I. L’homme faillible; II. La symbolique du mal. Paris 1960. Vgl. Emil Angehrn: Compréhension de soi et altérité. Entre phénoménologie et herméneutique. In: Raphaël Célis/Muriel Gilbert (Hg.): Paul Ricœur interprète de la tradition occidentale. Erscheint Paris 2011.

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2. Die Auseinandersetzung mit dem Tragischen Zur Charakterisierung der Tragik gehört die Auseinandersetzung mit ihr: Zu präzisieren ist, wie sich der Mensch erkennend, deutend und handelnd zur tragischen Verfassung der conditio humana verhält. Dieses Verhalten wird in der Tragödie als Teil des tragischen Erlebens und Handelns mit gegenwärtig. 2.1 Auflehnung und Selbstbehauptung Eine erste Reaktion ist die Auflehnung und Selbstbehauptung des Menschen gegen das über ihn verhängte Los. Schon die Schilderung der Unerbittlichkeit des Schicksals, des grundlosen Leidens und schuldlosen Schuldigseins ist ein Einspruch gegen die mythische Rechtsordnung. Die Tragödie selbst ist nicht nur Darstellung von Ausweglosigkeit, Schuld und Leiden, sie ist ebenso Ausdruck des Unrechts, das dem Helden geschieht, der Härte, Anstößigkeit der Ordnung, der er ausgeliefert ist. Vielfach bringt sie die direkte Auflehnung zum Ausdruck: die Klage, der Protest, ja, die Schmähung der Götter (etwa bei Prometheus) sind Reaktionen auf erlittenes, nicht-gerechtfertigtes Leid. Nicht selten gehen sie mit Charaktereigenschaften wie Eigensinn, Eigenwilligkeit, Unnachgiebigkeit einher, teils negativen Abschattungen der Charakterstärke und Selbstbehauptung, die zur Selbstwerdung des Subjekts gehört.

2.2 Integration des Negativen und Versöhnung Kehrseite der Auflehnung ist das Aufsichnehmen des Negativen. Die Endlichkeit, die Konfliktualität, die Sterblichkeit auszuhalten und ins eigene Sein zu integrieren macht die tragische Größe aus und bildet eine Forderung an das menschliche Leben. Emphatisch bringt sie Hegel zur Sprache: Nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.16

16 Hegel, Phän., TWA 3, S. 36.

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Die Kraft, mit der „ungeheure[n] Macht des Negativen“ zurechtzukommen, wohnt nach Hegel nur jenem Leben inne, das „dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.“17 Doch ist das Ziel nicht nur eine Bewältigung und ein Bezwingen, ein Aushaltenkönnen ohne Selbstauflösung, sondern eine Integration, in welcher das Subjekt in seinem Verhältnis zum Anderen und Negativen zugleich mit sich eins wird. Im Naturrechtsaufsatz hat Hegel diese Figur als „Tragödie im Sittlichen“ beschrieben, worin die Versöhnung durch die Einsicht in die Notwendigkeit und das Recht des Anderen zustande kommt: Die Sittlichkeit, die dem Negativen und Fremden „einen Teil ihrer selbst überläßt und opfert“, kommt aus der Trennung zur Vereinigung mit sich selbst zurück.18 Es ist die allgemeine Figur der Entäußerung und Rückkehr, des Hinaustretens in die Objektivität und der Wiederaneignung, die Hegel hier zur letzten Negativität zuspitzt – worin „das Absolute […] sich ewig in die Objektivität gebiert, in dieser seiner Gestalt hiermit sich dem Leiden und dem Tode übergibt und sich aus seiner Asche in die Herrlichkeit erhebt.“19 Mit unterschiedlicher Akzentuierung wird in Variationen dieses Modells das Andere in ein Ganzes aufgenommen und zwischen den antagonistischen Potenzen ein geregeltes Verhältnis etabliert. In der attischen Tragödie sieht Nietzsche die beiden Urtriebe des Dionysischen und des Apollinischen zu einem „geheimnissvolle[n] Ehebündniss“ zusammenwirken, worin die Auflösungskraft nur in dem Maße tätig wird, wie sie von der Verklärungs- und Gestaltungsmacht wieder aufgenommen und zusammengehalten werden kann.20 Georg Simmel hat die Vergegenständlichung des Lebens, die in der kulturellen Produktion stattfindet, in den Horizont einer „Tragödie der Kultur“ gerückt und darin die Verselbständigung des Anderen betont, das nicht umstandslos in den Kreislauf des Lebens zurückgeführt werden kann.21 Dieser ,tragischen‘ Lektüre des Äußerungsmodells stehen andere Konzepte gegenüber, welche die Objektivation des Lebens als Medium des Selbstausdrucks und der Selbstverständigung zur Geltung bringen (Dilthey, Ricœur, Herder, Charles Taylor) und darin Simmels Sichtweise teils 17 18 19 20 21

Hegel, Phän., TWA 3, S. 36. Hegel, NR, TWA 2, S. 494 f. Hegel, NR, TWA 2, S. 495. Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 42. Vgl. Georg Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur. In: ders.: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hg. v. Michael Landmann. Frankfurt a.M. 1968, S. 116 – 147.

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direkt widersprechen (Cassirer).22 Im Ganzen wird es zu einer offenen Frage, in welcher Weise solche Entzweiung zustande kommt und inwiefern das Leben die Trennung zu übergreifen, den Widerspruch zu versöhnen vermag. In äußerster Zuspitzung ist die Figur bei Hegel gezeichnet, wenn er die Konfrontation mit Schmerz und Tod mit dem Anspruch auf höchste Vereinigung verknüpft. Die kritische Rückfrage – etwa bei Adorno – betrifft das Ernstnehmen der Differenz wie die postulierte Einheit gleichermaßen.

2.3 Aufsichnehmen der Schuld und Läuterung Wie die Schuldhaftigkeit eine Vertiefung des erlittenen Negativen darstellt, geht das Aufsichnehmen der Schuld weiter als das Ertragen des zugefügten Leids. Es beinhaltet ein in sich gebrochenes, sich gleichsam widersprechendes Zustimmen: Die Strafe ist nicht bloße Folge, sondern Beweisgrund der Schuld, welche der Held eingestehen und auf sich nehmen muss, wie Antigone aus der Tatsache, dass die Götter in die Bestrafung des gottesfürchtigen Tuns einwilligen, „duldend wohl gestehn“ muss, dass sie fehlte.23 Zur schicksalhaften Unentrinnbarkeit gehört nicht nur das Eintreten von nicht-intendierten Folgen des Handelns, sondern dessen eigene Umdefinition, gegen die ursprüngliche Intention, in ein schuldhaftes Tun. Indem der Mensch die Verantwortung für die Tat auf sich nimmt, wird er selbst zum Urheber des ihm zugefügten, dadurch noch potenzierten Leidens: „von allem Leid am meisten schmerzt, was sich als selbstgewählt erweist.“24 Das Selbst-GewähltHaben des Nicht-Gewollten ist der Kern des tragischen Handelns, das darin nicht nur der Abgründigkeit der Schuld, sondern zugleich des Leidens begegnet. Dazu stehen zu können macht die fast übermenschliche Größe des tragischen Helden in seinem Eigensinn aus. Zugleich ist dieses Einstehen für die eigene Schuld und das eigene Leiden eine Weise der Bewältigung. Das Anerkennen der Notwendigkeit nicht nur als eines Äußeren, den Menschen Überwältigenden, sondern als eines aus ihm selbst Kommenden und seinem Wesen Zugehörigen, ist eine Weise der

22 Vgl. Ernst Cassirer: Die „Tragödie der Kultur“. In: ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (Göteborg 1942). Darmstadt 1961, S. 103 – 127. 23 Sophokles, Antigone, V. 926. 24 Sophokles, König Oidipus, V. 1230 f.

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Befriedung, die im Maße der Versöhnung mit der Welt auch eine Versöhnung mit sich selbst bewirkt.

2.4 Erkenntnis und Deutung „[N]icht das Leiden selbst war das Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage ,w o z u leiden?‘“, meint Nietzsche im Blick auf die Funktion der asketischen Ideale: „Die Sinnlosigkeit des Leidens“ war das Problem, das durch eine Deutung bewältigt wurde, welche das Leiden auslegte und die Leere ausfüllte: „[D]er Mensch war damit gerettet, er hatte einen Sinn“.25 Wenn Leiden generell etwas ist, das dem Subjekt nicht nur widerfährt, sondern zu dem es sich immer auch verstehend-interpretierend verhält, so werden Erkenntnis und Deutung zum eigenen Moment, das die erlebte Negativität mit ausmacht und verschieden prägt – je nachdem ob solches Verstehen zur Bewältigung, zur versöhnenden Erkenntnis, zur resignierenden Akzeptanz, zur rationalisierenden Verdrängung oder im Gegenteil zur Verzweiflung angesichts des Nichtbewältigbaren führt. Solche Deutung des Leidens wird sowohl individuell geleistet wie in kulturellen Mustern tradiert, sie kristallisiert sich in Formen der künstlerischen Darstellung wie der theoretischen Reflexion. In einem gewissen Maße ist kulturelle Arbeit im Ganzen, sofern sie der Selbstverständigung des Menschen dient, auch mit Leiden befasst. Die Beschreibungen der Welt und des Menschen durchdringen sich mit unserem Verständnis des Negativen und Nichtseinsollenden. Gleichzeitig steht Negativität für jene Grenze, an welcher kulturelle Konstruktion und Nichtkonstruierbares aufeinander stoßen, wenn Leiden – etwa im physischen Schmerz – als ursprüngliches, nicht durch Deutung zu bewältigendes begegnet. Neben der kulturellen Praxis im Allgemeinen sind es spezifische Formen der Reflexion, die mit der Frage nach dem Leiden befasst sind. Religionen und Philosophien sind Bemühungen, mit der Konfliktualität des Lebens und den Aporien widersprüchlicher Selbstbeschreibungen zurechtzukommen. Theodizeen sollen die Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt leisten und damit ein im Ganzen rationales Wirklichkeitsverständnis herstellen. In prägnanter Weise ist moderne Geschichtsphilosophie nach Kant und Hegel dem Anspruch verpflichtet, im Schicksal der Menschheit den Gang der Vernunft aufzuweisen und 25 Nietzsche, GM III, 28, KSA 5, S. 411.

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damit über Resignation und Trostlosigkeit hinwegzukommen; allgemein hat Hegel das Ziel der Philosophie darin gesehen, den Menschen mit der Welt zu versöhnen. In alledem kann die aporetische Erfahrung des Sinnlosen selbst zum Movens kultureller Sinnstiftung werden.26 Dieser Zusammenhang ist von U. Wolf als Leitidee einer Philosophie ausgearbeitet worden, welche sich durch die Frage nach dem guten Leben bestimmt, worin die Sinnfrage als Antwort auf existentielle Aporien fungiert.27 A fortiori ist ein Denken, das sich der Erfahrung des Absurden und Negativen aussetzt, auf diesen Weg gewiesen. Immer ist dabei die Frage gestellt, wieweit Erkenntnis und Deutung eine echte Bewältigung ermöglichen oder in Täuschung und Verdrängung münden. Unverkennbar gehört der Ausblick auf Versöhnung vor dem Hintergrund eines Wohlwollens der Götter (auch wenn deren Wille undurchschaubar bleibt) zum Ausgang klassischer Tragödien.28

2.5 Selbstwerdung im Tragischen In all diesen Bestimmungen erweist sich das Tragische als Ort und Medium subjektiver Selbstwerdung. Es ist eine Selbstwerdung aus dem Negativen, die sowohl im Tun und Erleiden wie im Verstehen und Deuten stattfindet. Das Tragische liegt nicht nur in der objektiven Verfassung menschlicher Existenz, sondern beinhaltet ebenso die Art und Weise, wie Subjekte mit dieser handelnd, erkennend und deutend umgehen, wie sie Negativität erfahren, diese Erfahrung ausformulieren und in ihr Wissen und Verstehen integrieren. Erst über diese Reflexivität gewinnt Tragik ihre Pertinenz und Tiefe. Menschliches Selbstsein vollzieht sich über eine Hermeneutik des Selbst, die einen vielschichtigen 26 Jörn Rüsen bringt dies auf die Formel: „Leiden gebiert Sinn“ (Jörn Rüsen: Sinnverlust und Transzendenz – Kultur und Kulturwissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts. In: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 3: Themen und Tendenzen. Stuttgart 2004, S. 533 – 544, hier S. 542); vgl. Emil Angehrn: Hermeneutik und Kritik. In: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 319 – 338. 27 Vgl. Ursula Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben. Reinbek 1999, S. 19 – 21, S. 123 – 139 u. S. 152 – 154. 28 Zumal trifft dies zu für Sophokles und Aischylos, während bei Euripides (z. B. in Hippolytos und Die Bakchen) teils eine negativ-pessimistische Theodizee vorherrscht, worin die Menschen als bloßer Spielball der Willkür und Grausamkeit der Götter erscheinen. Vgl. hierzu in diesem Band den Beitrag von Bernhard Zimmermann: Über das Tragische bei den Griechen.

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Prozess der Selbsterkenntnis, Selbstinterpretation und Selbstaneignung umfasst. Es ist eine Bewusstwerdung, in welcher Aporien reflektiert und Konflikte durchlebt werden und die nicht als einfache Introspektion zustandekommt, sondern als langwieriger, schmerzvoller Prozess der Einsicht und Erfahrung gegen inneren wie äußeren Widerstand realisiert werden muss. Hegel spricht geradezu von einer zweiten Hauptkollision des Tragischen – neben der ersten zwischen natürlicher Sittlichkeit und Staat –, die durch das „Recht des wachen Bewußtseins“29 gegeben ist, welches sich nicht nur von der bewusstlosen Ausführung des Willens der Götter emanzipiert, sondern auch gegen Verhüllung und Verblendung durchsetzen muss. Der Topos von Blindheit und Sehen (exemplarisch im Ödipus-Drama) ist ein eindrucksvolles Zeugnis dieses Motivs. Inhaltlich hat die Bewusstwerdung den zweifachen Fokus einer Verständigung über den Menschen als solchen wie über die Identität des Einzelnen und sein individuelles Los. Ödipus’ Antwort „Es ist der Mensch!“ ist nur eine unzulängliche Überwindung der bedrängenden Unwissenheit, hohl und abstrakt gegenüber dem, was zu wissen nottut und was das Individuum mit sich selbst, in seiner Singularität, konfrontiert.30 Dass das Wissen Widerstand zu überwinden hat, ist in der Negativität begründet, die den Kern der gesuchten Selbsterkenntnis ausmacht. Wie der tragische Held im Leiden lernen und aus der Zerrissenheit zur Läuterung gelangen soll, so ist sein Verständnis des Menschen eines, das seine Wurzel in der Erfahrung des Negativen, des Nichtseinsollenden und Nichtgewollten, hat. Die Tragödie inszeniert einen Weg der Selbstwerdung im Modus einer negativistischen Erkenntnis seiner selbst in seiner Ohnmacht und Widersprüchlichkeit. Nur ein Wissen, das von dieser Negativität nicht absieht, kann Grundlage einer Selbstdeutung werden, in welcher der Mensch ein wirkliches Verständnis seiner selbst gewinnt. Nur auf diesem Weg kann Verdrängtes zurückgewonnen, Ausgeschlossenes wiederaufgenommen werden. Außerhalb der klassischen Tragödie schließt sich die Frage an, in welcher Dimension solche Negativität in den Blick kommt – im Negativen der realen Welt, in der konstitutiven Endlichkeit des Daseins oder in der von Religion und Metaphysik reflektierten, die Grenze des philosophischen Begriffs be29 Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 545. 30 Vgl. Klaus Heinrich: arbeiten mit ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft (Dahlemer Vorlesungen 3). Hg. v. Hans-Albrecht Kücken u. a. Basel/Frankfurt a.M. 1993, S. 112 – 114 u. S. 134 – 136.

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rührenden Faktizität des Leidens und des Bösen. Die Frage verbindet sich mit jener nach der Reichweite und den Grenzen des Tragischen selbst.

3. Grenzen des Tragischen 3.1 Immanente Vollendung des Tragischen – Läuterung und Versöhnung Es mag zum Teil eine Frage der Terminologie sein, ob man die zuletzt sichtbar gewordene Umkehrung als eigene Vollendung des Tragischen oder als dessen Überwindung bezeichnet. Im Blick auf klassische Tragödien wie dipus auf Kolonos oder die Eumeniden liegt es nahe, in der Wiedervereinigung und Versöhnung ein immanentes Telos, ein ZuEnde-Führen des Tragischen zu sehen. Dem entspricht nicht zuletzt die Bestimmung, die Aristoteles von der Wirkung der Tragödie gibt. Durch „Jammer und Schaudern“ bewirkt sie „eine Reinigung“ von der Angst und vom Schrecken, welche die tragische Verwicklung hervorruft.31 Die Tragödie als kultische Veranstaltung erfüllt für die Gemeinschaft eine bestimmte Funktion, zu der sowohl die Erschütterung wie deren Überwindung, die Beruhigung und Versöhnung gehören. Im Hindurchgehen durch den Schrecken und das Mitleiden soll die Seele geläutert werden, im Aushalten von Angst soll sich der Mensch von Ängsten befreien. Dieser Ausblick geht über die innere Sühne des Helden hinaus. Er meint in umfassendem Sinn eine Wiederherstellung der Einheit auf höherer Ebene, wie sie exemplarisch in Sophokles’ letztem Werk, dipus auf Kolonos, begegnet: als Versöhnung des Helden mit sich, mit seinem Schicksal, mit der Welt und den Göttern, schließlich als kosmische Versöhnung zwischen irdischen und himmlischen Mächten und, nach Ödipus’ Sterben, als Versöhnung mit dem Tod und Verzicht auf Klage und Trauer.32 Es ist eine Versöhnung, die nichts von der Tiefe der Schuld, der Härte des Leidens und der Zerrissenheit rückgängig macht und doch im Ganzen eine Lösung, eine Befriedung bewirkt. In diesem Zu-EndeFühren des Tragischen kann man die Vollendung der Tragödie sehen, die zugleich ihr Abschluss und ihr Ende ist. Von dieser immanenten Vollendung sind jene Formen des Umgangs mit dem Tragischen zu unterscheiden, die gleichsam von außen, in je 31 Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b27. 32 So die abschließende Ermahnung des Theseus an Ödipus’ Töchter (Sophokles, Oidipus auf Kolonos, V. 1751 – 1753).

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anderer Weise, zu dessen Negativität Stellung nehmen: als dessen Überwindung und Aufhebung, als seine Auflösung, als Restitution des Negativen jenseits tragischer Vermittlung und Versöhnung.

3.2 Überwindung und Aufhebung des Tragischen Die erste Linie, auf der sich gleichsam das Potential des Tragischen in affirmativer Form weiter- und höherentwickelt, ist durch Hegels Negativitätstheorie angedeutet. In der spekulativen Dialektik ist die Tragik aufgehoben – überwunden und in ein Höheres aufgenommen. Diese Aufhebung lässt sich in systematischer wie historischer Perspektive lesen. Systematisch geht sie mit dem Übergang von der Individualität zur Subjektivität einher, zu jener Form des Selbstverhältnisses, das in der Lage ist, die Beziehung zum Anderen und zum Negativen innerhalb seiner zu enthalten und zu übergreifen. Sie verbindet sich mit dem Ende des Mythos und dem Wissen vom notwendigen Untergang der Individualität, wie es Hegel als Melancholie der Schönheit im stillen Zug der Trauer an den griechischen Götterbildern wahrzunehmen meint.33 Die Aufforderung an die Philosophie, den „unendlichen Schmerz“ als „Moment der höchsten Idee“ zu denken, ist von der Überzeugung getragen, dass erst aus dem absoluten Leiden „die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde […] in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muß.“ Der ,spekulative Karfreitag‘ weist auf den Konvergenzpunkt von christlicher Religion und moderner Philosophie, der zugleich deren gemeinsame Distanz vom tragischen Bewusstsein markiert.34 Die Versöhnung, welche die Erlösung gewährt und welche die spekulative Philosophie zu fassen sucht, ist von anderer Tiefe als die Läuterung, zu der die immanente Bewältigung des Schmerzes im Tragischen führt. Die Moderne ist jenseits des Tragischen, sofern dessen radikale Entzweiung nur ein Vorletztes, nicht das abschließende Ganze ist und die im Geiste erreichte Vereinigung die tragische Versöhnung transzendiert.

33 Vgl. Hegel, Ästh. II, TWA 14, S. 85 f. u. S. 104. – Ähnlich stellt Schelling den „Zug tiefer Schwermuth, der durch das ganze Heidenthum geht“ in der Ahnung vom Untergang der Götter heraus (Schelling, SW XII, S. 346). 34 Hegel, GuW, TWA 2, S. 287 – 433, hier S. 432 f.

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3.3 Auflösung des Tragischen Der andere Ausgang des Tragischen ist seine Auflösung und Unterlaufung. Sie tritt in dem Maße ein, wie die Konfliktualität und Entzweiung ihre innere Notwendigkeit, der Wille seine Selbstwidersprüchlichkeit verliert. Wenn Hegel das Schicksal des Sokrates als „echt tragisch“ bezeichnet, weil es aus der Notwendigkeit des höheren Prinzips und dem damit verbundenen Konflikt berechtigter Ansprüche resultiert – „tragisch nicht im oberflächlichen Sinn des Worts, wie man jedes Unglück – wenn jemand stirbt, einer hingerichtet wird – tragisch nennt; dies ist traurig, aber nicht tragisch“35 –, so wird der immanente Widerspruch zum entscheidenden Merkmal. Schon in der Transformation der alten Tragödie, wenn „bei Euripides die Götter sozusagen nach oben, in völlige Unbegreiflichkeit, die Heroen nach unten, in allzu krasse Menschlichkeit“ auseinandergehen,36 wird die Einheit, welche der Antithetik vorausliegt, gelockert. In vielen Varianten kann die Wendung ins Kontingente und Unverbindliche, die Abschwächung der Konfliktualität zum Oberflächenphänomen, die Überführung ins Ästhetische durchgespielt werden, wodurch die Widersprüchlichkeit des menschlichen Selbstseins ihren Stachel, die tragische Konstellation ihre Härte verliert. Einen Aspekt dieses Wandels repräsentiert der Übergang von der Tragödie zur Komödie. Im Ganzen geht es um einen Prozess, der mit der Aushöhlung des substantiellen Grundes auch dessen Zerrissenheit suspendiert. In gesteigerter Form haben Konzepte der Postmoderne in der Bejahung von Differenz und Pluralität, im Lob des Zufalls und der Oberfläche diese Gegenwendung zum Ausdruck gebracht, in welcher die Differenz ihr konfliktives Potential, das Negative seine aporetische Intransigenz verliert.

35 Hegel, PhGesch I, TWA 18, S. 514 u. S. 446. – Zum Verhältnis von Trauer und Tragik in der neueren Dichtung und Philosophie vgl. Marc Sagnol: Tragique et tristesse. Walter Benjamin archéologue de la modernité. Paris 2003; ders.: Tragik und Trauer bei Benjamin. In: Kathy Zarnegin (Hg.): Buchstäblich traurig. Basel 2004, S. 55 – 85. 36 Fritz Graf: Griechische Mythologie. Eine Einführung. München/Zürich 1985, S. 167.

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4. Negativismus und Tragik Schließlich ist eine dritte Denkform jenseits des Tragischen zu nennen, die sich von dessen Aufhebung in ein Höheres wie von seiner Suspendierung und Unterlaufung gleichermaßen abhebt. Es geht um ein Denken, das die im Tragischen erfahrene Negativität ernst nimmt, ohne sie in eine – sei es der Tragik immanente, sei es sie transzendierende – Versöhnung zu überführen. Zur Diskussion steht ein ,negativistisches‘ Denken,37 das sich über den Menschen und die Wirklichkeit im Ausgang von der Konfrontation mit dem Negativen verständigt38 und darin wesentliche Motive des tragischen Denkens teilt. Von der Tragödie wie von der Erlösungsreligion und der spekulativen Dialektik unterscheidet es sich dadurch, dass es weder von der Gewissheit des letztlichen Versöhntseins der Welt – wie die Religion und Hegels System – noch vom Vertrauen in die zuletzt herrschende Gerechtigkeit des Schicksals und der Götter – wie die Tragödie bei Aischylos und Sophokles – getragen ist. Es setzt sich der Erfahrung eines Negativen aus, das als nicht-versöhntes das irreduzibel Andere des rationalen Begriffs bleibt und – so Adorno – „dem spekulativen metaphysischen Gedanken die Basis seiner Vereinbarkeit mit der Erfahrung“ entzieht.39 Es geht um die Konfrontation mit einem Negativen, das nicht in ein umfassenderes Ganzes aufgehoben oder – so Marx’ Vorwurf an Hegel – auf eine tiefere Einheit im Wesen zurückgeführt werden kann,40 sondern fern jeder diskursiven und praktischen Bewältigung allein Gegenstand der Abwehr, der „unbeirrten Negation“41 ist. Gleichwohl gehört es zu den Herausforderungen an eine Hermeneutik des Selbst, auch dieses Negative in den Kreis dessen einzubeziehen, wovon das Subjekt Rechenschaft ablegen muss, wenn es sich über sich selbst und über die Welt verständigen will. Das Selbstverhältnis des Subjekts ist nicht nur mit dessen konstitutivem Bezug zum Anderen, 37 Zum Begriff vgl. Michael Theunissen: Negativität bei Adorno. In: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt a.M. 1983, S. 41 – 65. 38 Vgl. Emil Angehrn: Negativistische Hermeneutik. Zur Dialektik von Sinn und Nicht-Sinn. In: Andreas Hetzel (Hg.): Negativität und Unbestimmtheit. Beiträge zu einer Philosophie des Nichtwissens Festschrift für Gerhard Gamm. Bielefeld 2009, S. 21 – 40. 39 Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1975, S. 354. 40 Karl Marx: Kritik des Hegelschen Staatsrechts (1843). In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957 ff., Bd. 1, S. 203 – 333, hier S. 290 u. S. 295 f. 41 Adorno: Negative Dialektik, S. 162.

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sondern mit jener Vertiefung der Alterität zusammenzudenken, für welche die Negativität steht. Das beschädigte Leben, Krankheit, Leiden und Tod müssen in das Verständnis des Selbst aufgenommen werden. Dabei ist zu differenzieren, welchen Status das Negative hat, mit dem wir in solchem Verstehen konfrontiert sind. Teils ist es die konstitutive Negativität der Existenz, die Endlichkeit und der Mangel, die menschlichem Leben unabdingbar sind, teils das Negative der bestehenden Welt, das als Entfremdung, Unrecht, Gewalt und Destruktion erfahren wird, teils das ,metaphysische‘ Negative: die unerlöste Natur, das Böse, die Sinnlosigkeit der Existenz und des Alls. Es hängt gewissermaßen von einer fundamentalphilosophischen Option ab, in welcher Tiefe und Durchgängigkeit subjektives Selbstsein dem Negativen ausgesetzt ist und sich in der Auseinandersetzung mit dem Negativen behauptet. In radikalster Form tritt uns dieses in Gestalt des Bösen und des Leidens entgegen – Herausforderungen für das praktische Leben wie für die Religion und den philosophischen Begriff. P. Ricœur hat diese Herausforderung in seiner Schrift Finitude et culpabilit (1960) so formuliert, dass die philosophische Reflexion über den Menschen nur in der Lage ist, die Fehlbarkeit als Wesensmerkmal der menschlichen Existenz, d. h. die Möglichkeit, aber nicht das Faktum der Schuld und das kontingente Ereignis des Bösen zu denken.42 Über dieses verständigt sie sich vielmehr auf dem Umweg über die kulturellen Dokumente der Menschheit, in der Lektüre der Erzählungen, Mythen und Symbole, in denen die Völker Zeugnis ablegen von ihrer Erfahrung von Schuld und Leid. Es ist eine Erfahrung, die sich der rationalen Bewältigung entzieht und von der sie nur unzulänglich Rechenschaft ablegen können. In gewisser Weise stellt das Übel, das die Menschen nicht verschulden, sondern das sie erleiden – das ,Leiden‘, nicht das ,Böse‘ –, die noch radikalere Herausforderung für das Denken dar. Das unschuldige Leiden ist der Skandal der Vernunft und Inbegriff des Sinnlosen – nach E. Lévinas das Nichtassimilierbare und Unannehmbare – „l’inassumable“ –, das sich nicht nur faktisch dem rationalen Diskurs entzieht, sondern sich ihm antithetisch entgegensetzt. Es ist nicht nur ohne Rechtfertigung und Sinn, das Sinn-lose, sondern steht gewissermaßen für die aktive Bestreitung, „Verneinung und Verweigerung des Sinns“,43 die jeder logi42 Vgl. Paul Ricœur: Philosophie de la volonté. Tome I: Le volontaire et l’involontaire. Paris 1950; Tome II: Finitude et culpabilité. Paris 1960. 43 Emmanuel Lévinas: La souffrance inutile. In: ders.: Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre. Paris 1991, S. 107 – 120, hier S. 107 [Übers. v. Verf.]. Vgl. Paul

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schen Negation vorausliegt.44 Hier scheinen wir auf eine äußerste Grenze, eine letzte Negativität zu stoßen, die in keiner Weise transzendiert oder vom Denken in eine höhere Synthesis aufgehoben werden kann. Abstrakt können wir den Ausgang vom Negativen unter zwei Perspektiven, einer internen und einer externen, thematisieren. Auf der einen Seite haben wir die in der Existenzphilosophie reflektierte Erfahrung der Nichtigkeit – der Haltlosigkeit, Angst, Verzweiflung, Sinnlosigkeit –, in welcher das Subjekt mit dem eigenen Sein, der ontologischen Verfassung seiner Existenz zu tun hat. Das Andere ist das ihm von außen entgegentretende Negative, dem es ausgesetzt ist – Gewalt, Vernichtung, Leiden, das Böse. Traumatische Erlebnisse verkörpern diese Erfahrung in extremer Gestalt, exemplarisch auch darin, dass sie typischerweise nicht nur jede rationale Bewältigung unterlaufen, sondern radikaler sich der Erinnerung, der Erzählung, der Repräsentation als solcher verweigern. In der Sprach- und Bildlosigkeit scheint das Nichtverstehenkönnen absolut. Darin zeigen sich Nähe und Ferne zum Tragischen. Die Nähe liegt im ungeschützten Exponiertsein, im Ernstnehmen der radikalen Infragestellung, in der Begegnung mit Unrecht und Tod. Wie in der Tragik geht es dem Negativismus um eine Konfrontation mit dem Negativen, die sich nicht kontingenterweise einstellt, sondern die gleichsam aus einer inneren Unstimmigkeit des Wirklichen, einer Widersprüchlichkeit des menschlichen Seins und Wollens erwächst und die gleichwohl den Menschen in seinem Wesen betrifft. Die Distanz zum Tragischen liegt in der Verschärfung des aporetischen Umgangs mit solcher Negativität: darin, dass es sich um ein Negatives handelt, das nicht im tragischen Leiden irgendwie pazifiziert, eingedämmt werden kann. Es geht um ein unversöhntes und nicht-versöhnbares Leiden, um eine nicht-dialektisierbare Negativität, die nicht innerhalb einer im Ganzen herrschenden Rechtsordnung, eines göttlichen Kosmos ertragen und aufgenommen, zum Medium eines Höheren geläutert werden kann. Wie das Negative einerseits, als existentielle Nichtigkeit, der spezifischen Konflikt- und Schuldhaftigkeit des Tragischen vorausliegt, so weist es andererseits, in der Abgründigkeit des Bösen und des Leidens, über die tragische Konstellation hinaus. Die Vertiefung des Negativen radikalisiert die Aporetik

Ricœur: Le Mal, un défi à la philosophie et à la théologie. Genf 1986; ders.: Le scandale du mal, in: Esprit (Juli/August 1988), S. 59 – 63. 44 Vgl. Lévinas: La souffrance inutile, S. 108: „Cette négativité du mal est, probablement, source ou noyau de toute négation apophantique.“

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der Deutung, die ohne integrierenden Sinnhorizont und ohne abschließende Einwilligung bleibt. Indessen ist das Negative trotz der Nichtintegrierbarkeit nicht das berührungslos Andere. Das im Extrem nicht-repräsentierbare, ,namenlose‘ Leiden bleibt eines, das dennoch das Subjekt in seinem Innersten betrifft, das sein Verstehenkönnen und sein Verstehenmüssen herausfordert. Für Lévinas ist es der Perspektivenwechsel von der theoretischen zu einer zwischenmenschlich-ethischen Haltung, der dem Leiden seine Sinndimension zurückgibt.45 Doch kann man sich fragen, ob eine solche Restitution nicht auch unabhängig vom Übergang zu einer Ethik der Verantwortlichkeit, innerhalb der Hermeneutik des Selbst als solcher, möglich ist. Wenn zu dieser Hermeneutik nach Ricœur die Dialektik zwischen dem Selbstverständnis und dem Bezug zum Anderen gehört, so scheint es richtig, diesen Bezug auf jene letzte Alterität hin auszuweiten, die im Negativen als solchem liegt. Auch wenn sich dieses dem Bemühen widersetzt, es rational zu durchdringen und in ein affirmatives Ganzes aufzunehmen, sondern es im strikten Sinne fremd, nicht-assimilierbar bleibt, so ist es doch eines, dessen das Selbst gedenken, von dem es Rechenschaft ablegen muss, wenn es sich über sich und die Welt Klarheit verschaffen will. In seiner Selbstbesinnung kann das Subjekt weder von dem Übel absehen, dessen es schuldig ist, noch von jenem, das es erleidet: Zu seinem Selbst gehört das Gedächtnis dessen, was es weder wollen und ertragen noch verstehen oder rational bewältigen kann. Eine negativistische Hermeneutik, deren Kern das Verstehen seiner selbst im Angesicht des Negativen bildet, ist angestoßen durch Motive, die sie mit der Tragik teilt, und entfaltet sich in einem Raum, der sie zugleich über das tragische Denken hinausführt.

45 Vgl. ebd., S. 118 f.

Existential-Semantik. Überlegungen über das Verhältnis von Tragödie, Theodizee und Philosophie Wilhelm Schmidt-Biggemann Vorweg: Es geht hier um zweierlei: Einmal darum, was denn tragisch bedeutet, zum andern darum, wie spezifisch Philosophie respektive Philosophieren als tragisch begriffen werden kann. Dabei ist die Frage, ob sich Philosophie in dem Sinne inszenieren kann, dass sie den Kriterien der Tragödie entspricht, und wenn ja, wie diese Inszenierung aussieht. Wird Philosophie dadurch selbst zur Kunstform und ist sie in diesem Sinne sowohl Theater als auch Katastrophe?

I. Formale Elemente des Tragischen Es ist notorisch: Die Bedeutungen von „tragisch“ sind unüberschaubar vielfältig. Nicht einmal in der Entgegensetzung gegenüber dem Komischen ist das Tragische gewiss, wie die „Tragikomödie“ zeigt. Aber vielleicht kann man ein paar Unterscheidungen einziehen, um die Unübersichtlichkeit der Begriffe des Tragischen formal zu strukturieren.

a) Das „tragische Geschehen“ und der erzählende Bericht Beim tragischen Geschehen handelt es sich ja gar nicht nur um eine Handlung, sondern um eine Folge von Ereignissen und Handlungen (Pragmata) und diese Folge steht uns nur insofern zur Verfügung, als sie erzählt wird. Keine Erzählung, auch keine tragische, ist blanke sprachliche Abbildung des Geschehens. Das ist schon deshalb nicht möglich, weil dann die „Realität“, was immer das ist, verdoppelt werden müsste, das kann und das tut keine Erzählung. Also muss ausgewählt werden; es wird „im Bezug auf“ berichtet (und die intentionale „Richtung“ von „Bericht“ ist Teil des Erzählkonzepts). Diese durch die Reihung bedingte Auswahl der Ereignisse des Geschehens bestimmt den Sinn der Erzäh-

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lung; und in diesem Sinne ist die Erzählung mimetisch. Eine Intentionalität ist für die Erzählung nötig, denn sonst könnte sie keine Sinnstruktur haben; der Sinn ist die finis, das, worauf es bei der Erzählung hinausläuft. Man könnte sich ja auch vorstellen, dass jemand, der an Geschehnissen teilnimmt, die für einen andern tragisch sind, von dieser Tragik gar nichts merkt. Ein Geschehen wird nur als Erzählung sinnvoll, sofern es dadurch existentiell bewältigt und kommunikativ verarbeitet wird. b) Das erzählte Geschehen und die literarische Gattung Die Realität, die sich ereignet, wird durch die Bewertung – das heißt also im Verlauf des tragischen Erzählsinns in ihrem Tragödiencharakter deutlich. Dabei wird „Sinn“ als Richtungs-Urteil, als klassifizierende Propositionalität, d.i. als Intentionalität und Wertung der Erzählung begriffen. Wenn diese Erzählung als Ganze erfasst, isoliert und dadurch „ständig“ gemacht, mithin topisch wird, dann kann sie auch als kultische Handlung der Tragödie die tragische Geschichte repräsentieren. Sie wird zur Gattung. Die Tragödie als Theater ist dann die vergegenwärtigende, erneuernde, topisch sich festigende Mimesis dessen, was in der Erzählung als tragischer Zusammenhang repräsentiert wird. Als Struktur eines so stabilisierten topischen Zusammenhangs ist Tragödie dann gattungshaft literarisch und in der charakteristischen Schematik der dargestellten Handlung fassbar. Sobald die Tragödie als ganze Geschichte verwaltet und erzählt werden kann, ist das dargestellte Geschehen existentiell schon halb bewältigt. Wer noch in der Tragödie gefangen ist, ist außerstande, sie als Ganze zu erzählen, weil er sie als Ganze gar nicht überblickt. Denn einmal muss ein Geschehen – das ist eine unüberbietbar richtige platonische und aristotelische Einsicht – als Ganzes gesehen werden, damit es überhaupt bewältigt werden kann; und dazu, etwas als Einheit und Ganzes zu sehen, ist ein Urteil erforderlich. Zugleich muss dieses Ganze in seiner Handlungsstruktur inhaltlich bewertet werden – nämlich als sinnlos und katastrophal; und in diesem Sinne ist die Beurteilung selbst Teil des mimetischen Prozesses.

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c) Die narrativen Binnenstrukturen der Tragödie Die Zeitstruktur der Geschichte zielt auf ihr Ende – und in dieser Finalität liegt auch ihre Sinnhaftigkeit – sofern Sinn das ist, was sich am Ende herausstellt. „[O]mne agens agit propter finem.“1 Die qualitative Strukturierung der Geschichten durch semantische Träger des Binnensinns tendiert auf die Vollendung der Geschichte. Wenn noch einmal die Definition des Aristoteles zitiert werden darf, dass ein Ganzes einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat, dann sind diese Binnensinn-Topoi die innere Struktur der Mitte, die das Ganze von Innen zusammenhält. Wenn die Tragödie in ihrer Handlungsstruktur selbstbezogen sein soll und damit die formalen Bedingungen der ästhetischen Autonomie erfüllen soll, braucht sie topischen Kitt, Strukturen, die die Erzählung beieinanderhalten. Diese Topoi konstituieren die Binnenstruktur der tragischen (und auch der anderen) Erzählungen und konstituieren zugleich ihre Zeitlichkeit. Es gibt keine Narrative ohne solche Strukturen, denn Erzählungen brauchen eine Zeitlichkeit, die qualifiziert ist. Das reine Aufzählen von „und dann“, wie es im „Erzählen“ und in der Zahlhaftigkeit liegt, ist zwar nötig, aber nicht zureichend. Narrative brauchen eine qualifizierte Zeitlichkeit. Die wird durch die Semantik der Unerfülltheit erzeugt. Die Begriffe des inneren Sinns von Erzählungen sind konsekutive – sogar handlungskausale, folgenheischende Begriffe: sie warten auf ihre Erfüllung. Schuld: Sofern die böse Tat Schuld erzeugt, sind Folgen erwartet: Nemesis, Sühne, Strafe, im besten Falle Verzeihung. Das Opfer setzt eine Instanz voraus, die durch die Gabe versöhnt werden soll und will, dass ihr etwas dargebracht wird. Die Opfer-Gabe symbolisiert die Unterwerfung unter den Willen dieser Macht nachhaltig. Das Opfer muss angenommen werden; darum betet der Opfernde. Und selbst wenn das Opfer nicht angenommen wird, wenn es sinnlos ist, so ist es selbst doch ein Sinnangebot, das in rückhaltloser Unterwerfung besteht. Erwartung des Unbekçmmlichen: Fluch In der Erwartung des Unbekömmlichen stellt sich die die Frage nach Bedrohung durch die Zukunft. Wie sieht die Erwartung der Unbekömmlichkeit der Zukunft aus? Die Erwartung wird bestimmt als Fluch. 1

Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 44 a. 4 u. ö. (Thomas’ von Aquin Summa Theologiae wird zitiert nach: S. Thomae Aquinatis Summa theologiae. Cum textu ex recensione leonina. Hg. v. Petrus Caramello. Turin 1948 – 1963).

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Fluch ist das Schema der Erwartung des Schlimmen, das Beschwören des Verhängnisses; denn der Fluch schließt das Heil in der Zukunft und damit die Bekömmlichkeit aus. Der Fluch hat den Charakter der beschwörenden bösen Prophetie. Der Fluch prophezeit das Ende der sinnvollen Zukunft und damit das Ende der Zukunft überhaupt. Wenn sie eintritt, wird man sie nicht unbeschadet überstehen. Insofern die tragische Geschichte wie jede Geschichte eine Binnenstruktur hat, erfüllt sie die Kriterien von Sinn. Sinnträchtig ist sie, weil sie ein Ganzes ist und weil sie innerlich durch die Erzählstruktur verkittet und verleimt ist. Solche narrativen Binnenstrukturen kennt die Philosophie nicht, sie kann auf einer anderen Metaebene die konstitutiven Begriffe einer narrativen Binnenstruktur identifizieren; aber sie unterliegt ihnen nicht selbst. Sie ist wahr, ohne das Gute und Schöne zu mimetisch zu repräsentieren. Allerdings kann die Philosophie für die Tragödie feststellen: Sofern die Frage nach dem Sinn das Gute meint, das sich in der Erzählung zeigt, ist die Tragödie sinnlos. Jeder Sinn des Guten ist in der Tragödie widersinnig. Aber solche Aussagen sind für Philosophen bestimmt, es sind Aussagen über Tragik, und mit dieser Metasprache entlasten sich die Philosophen von der Mimesis. Sie ziehen sich in den metasprachlichen selbstbezogenen Überbau zurück.

d) Tragik ist wirkliches Unglück Die Erzählstrukturen machen das Tragische reproduzierbar; aber sie sind nicht das Tragische. Tragisch ist gewiss nicht nur die Beurteilung einer Sache, es wäre eine Verhöhnung derjenigen, denen Tragisches zustößt, zu sagen, beim Tragischen handle es sich nur um die Beurteilung von eigentlich indifferenten Ereignissen, die auch ganz anders interpretiert werden könnten. Man nennt Unglücke tragisch – dann fehlt offensichtlich das Glück – d. h. etwas geht nicht gut aus, sondern schlecht. Man nennt Irrtümer tragisch, wenn sie schlimme Konsequenzen haben – auch hier geht es offensichtlich um das Ziel resp. das Ende von falschen Erkenntnissen. Zufälle und Umstände können tragisch sein, wenn sie katastrophal sind. Tragisch ist offensichtlich, wenn etwas falsch und sinnlos verläuft und am Ende katastrophale Folgen hat. Man weiß es, wie bei Geschichten immer, erst am Ende. Hier gilt eben nicht: Ende gut, alles gut. Jedes tragische Ende ist eine Katastrophe. Es gibt keine Katastrophen, die nicht Unglücke sind; und das Unglück ist, insofern es unverschuldet ist, offensichtlich tragisch.

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e) Das Tragische nicht unbedingt böse Das Tragische ist nicht unbedingt böse. Das Böse will das schlechte Ende, in der Tragödie tritt aber die Katastrophe auch dann ein, wenn die Helden das Gute wollen. Offensichtlich ist aber das Tragische schlecht – sofern „schlecht“ unbekömmlich für die Menschen meint. Das Ereignis, in dem sich die Unbekömmlichkeit zeigt, ist die Katastrophe; und es ist unmöglich, diese Katastrophe gesund zu rationalisieren. Beim Tragischen scheint nicht zu gelten, was nach Bonaventura für das strukturelle Böse gilt: „malum auget decorem in universo.“2 Aber auch das willentliche Böse, der Widerwille gegen das Gute, ist nicht tragisch. Dem Bösen ist sein Handlungsziel ein relatives Gut, und wenn er es erreicht, dann ist die Struktur seiner Handlung zumindest rational – und damit sinnvoll. Der Widerwille gegen das Gute macht noch keine Tragik.

Erwägung 1: Ist Philosophie eine Erzählung? Erfüllt Philosophie diese Begriffe von Tragik? Ist sie eine intentionale, abgeschlossene Erzählung, deren Ende katastrophal und deshalb sinnlos ist? Solange die Philosophie noch besteht, ist sie in keiner Katastrophe untergegangen. Sie kann sich aber selbst als Teil der noch nicht abgelaufenen Geschichte begreifen; dann sieht sie sich nicht allein als beobachtend, sondern auch als handelnd. Ist sie dann eine Handlung, die die verhängte Katastrophe verhindern will? Ist sie in diesem Sinne die Inszenierung ihres eigenen Vollzugs gegen das, was als Fluch prophezeit ist? Dann besteht ihre Rolle darin, dass sie sich selbst zum Garanten des Guten und Bekömmlichen erklärt, der gegen das böse Verhängnis der Welt insgesamt kämpft. Ob dieser Kampf tragisch endet, ist unklar. Tragisch ist er solange nicht, als das Verhängnis nicht eingetreten ist. Immerhin handelt es sich hier nicht um ein Konzept von Philosophie, das Wissen verwaltet, sondern um eines, wo Philosophie Teil der Geschichte ist. Sie erkennt hier nicht nur, sondern ihre Einsicht ist bereits Handlung. Diese Philosophie ist gut, sie will die Bekömmlichkeit und agiert als Hand2

Bonaventura, I Sent., d. 46, a. un., q. 5, a. 5. (Bonaventura wird zitiert nach: Doctoris Seraphici S. Bonaventurae S. R. E. Episcopi Cardinalis opera omnia. Ad plurimos codices mss. emendata anecdotis aucta prolegomenis scholiis notisque illustrata. Florenz 1883 – 1902).

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lungswissen final und sinnvoll. Vielleicht ist sie erfolglos – aber das weiß man erneut erst wieder am Ende.

II. Handlung und Verhängnis a) Finalität ist Sinn: „Omne agens agit propter finem“ Das Tragische unterstellt Sinn und negiert ihn zugleich. Sinn ist eine Antwort auf die Frage nach dem Wozu einer Handlung oder eines Geschehens. Wenn diese Frage nicht positiv beantwortet werden kann, dann geht die Geschichte nicht gut aus. Dass die Geschichte nicht gut ausgeht, bedeutet im Sinne der Finalität, dass sie ihren Sinn nicht erreicht. Das bedeutet freilich nicht, dass sie nicht in einem anderen Sinne sinnvoll ist. Aber in welchem? Aristoteles hat die Struktur sinnvoller Handlungen als final beschrieben; die scholastische Fassung lautet: „Omne agens agit propter finem.“3 Diese Handlungsstruktur ist selbst der negative Maßstab des Tragischen. Sie wird im Tragischen immer verfehlt; das ist banal. Aber wieweit die Sinnlosigkeit geht, ist selbst wieder ein Maßstab des Tragischen. Ob es sich beim Tragischen um Haupt- und Staatsaktionen handelt oder ob es um banale Tragik des Alltags geht: Immer stellt sich die Frage nach dem Warum – Warum musste das sein? Dieses Warum ist immer final, und es setzt deshalb die Sinnfrage immer voraus. Das heißt natürlich auch, dass es hätte anders kommen können. Es ist eine Merkwürdigkeit – in fast allen Fällen wird das Tragische als die schlimmste vorstellbare Variante von Sinnlosigkeit oder Widersinnigkeit vorausgesagt. Diese Voraussage ist ein prophetisches Verhängnis; es wird so kommen, obgleich es auch hätte anders kommen können. Damit wird eine doppelte Realitätskonzeption unterstellt: Erstens die sinnvolle Realität, die wegen ihrer finalen Handlungsstruktur sinnvoll ist und damit – um es diätetisch auszudrücken – von der Zukunft Bekömmlichkeit erwartet, und eine zweite, die sich vollziehen wird, ohne auf diese Bekömmlichkeit Rücksicht zu nehmen. Die Zukunft lässt sich in diesem zweiten, tragischen Falle von keiner vor-sichtigen Handlung der Helden verhindern, sie ist schlechterdings Verhängnis. Und doch meint man, es hätte auch anders kommen können. Diese Verdopplung des Realitätsbegriffes durch den Konjunktiv – „es hätte ja auch anders sein können“ – 3

Thomas von Aquin, Summa Theologiae I, q. 44 a. 4 u. ö.

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ist eine Bedingung der tragischen Realität. Ohne diesen doppelten Realitätsbegriff gibt es keinen Sinn, etwas tragisch zu nennen.

b) Verhängnis: der hoffnungslose Charakter des Kommenden Was ist nun Verhngnis? Wohl der hoffnungslose Charakter des Kommenden. Hoffnungslos gilt in zweierlei Hinsicht: Hoffnung setzt Kontingenz voraus. Es kann gut oder schlecht kommen, und weil beides sein kann, kann es eben auch gut sein. Genau diese Alternative kennt das Verhängnis nicht mehr. Verhängnis ist blinde Kausalität. Die Tragik besteht darin, dass das Verhängnis sich um gut und schlecht nicht kümmert. Es kümmert sich gar nicht, weil es nicht zielgerichtet ist, weil es keine Handlungsstruktur hat. Es ist weder gut noch schlecht – es kommt, wie es kommt. Diese blinde Kausalität ist in ihrer Beziehung zum Kommenden im Prinzip freilich genau so unbekannt wie jede andere kontingente Zukunft, aber sie negiert die Kontingenz der Zukunft. Unausweichlich ist die Zukunft für den, der ihre Kontingenz unterstellt, ebenso wie für den, der sie als Verhängnis versteht. Denn schließlich wird die Zukunft erst real, wenn sie tatsächlich sich als Gegenwart vollzieht, d.i. exekutiert (als Zukunft beendet) und verwirklicht, um dann in die Vergangenheit – das heißt das Geschehene – umzukippen. Beim Verhängnis ist auch die letzte erhoffte Möglichkeit ausgeschlossen, die Zukunft handelnd beeinflussen zu können. Wahrscheinlich ist es sinnvoll, hier auf eine Banalität hinzuweisen, die allerdings für unseren Zusammenhang bedeutsam ist: Das Umkippen der Zukunft in die Vergangenheit geschieht nicht im luftleeren Raum, sondern am Menschen, der die Zukunft hoffend und bangend erwartet. Wenn die Zukunft bekömmlich ist, besteht und übersteht er sie, wenn sich die Zukunft als unbekömmlich erweist, wird der, der sie erträgt, verrückt oder stirbt. Es gibt keine Alternative. Die Verlaufsform der tragischen Geschichte liegt also fest: Es tritt immer das Schlimmste ein. Man lernt daraus – und das ist die existentialistische Zeitigung der Umkehrung von Erfahrung in Erwartung –, dass man immer mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Hier zeigt sich die Topik des Pessimismus: Es tritt immer das Schlimmste ein; also rechnet mit dem Schlimmsten. Die Evokation dieser Topik gilt als tragisch schön; und wer sich dieser Logik des Schlimmsten stellt, gilt als heroischer Pessimist. In diesem Sinn ist Nietzsches berühmtes Diktum, dass die Welt nur ästhetisch zu rechtfertigen sei, verstehbar. Entscheidend ist, dass sie

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überhaupt noch zu rechtfertigen ist. Die Frage nach dem Warum bzw. Wozu ist selbst noch nicht verboten. Es gibt ihn noch, den Sinn, meinen jedenfalls die Philosophen. Aber die Philosophen sind bei der Frage des Narrativs ausgeschlossen; sie erzählen keine Geschichten, sie berichten metasprachlich vom Erzählen und vom Erzählten.

c) Gegen Fluch und Verhängnis: der menschliche Handlungssinn Gegen den Fluch ist die menschliche Handlung zwar ohnmächtig, aber die Menschen versuchen gleichwohl alles, dem Fluch zu entgehen. Dabei ist vorausgesetzt, dass die Kontingenz der Zukunft solange gilt, bis die Zukunft Gegenwart und dann absolut wird. Solange das nicht geschieht, bleibt, auch angesichts des Fluchs, die verzweifelte Hoffnung. Verzweiflung heißt hier, dass die Zukunft doppelt erwartet wird: als Fluch wird sie gefürchtet, als menschlich „human“ gestaltet wird von ihr erwartet, dass sie sinnvoll und das heißt bekömmlich ist, actio propter finem. Der ohnmächtige, in der menschlichen Handlung gleichwohl intendierte gute Sinn stellt sich gegen die überwältigende Macht des ohnehin kommenden verfluchten Verhängnisses. Dass der Mensch es trotz des Fluchs versucht, dem Verhängnis zu entrinnen, macht die Struktur seiner zukunftsgerichteten sinnvollen Handlung aus. Mit seiner Handlung glaubt er, die Kontingenz der Zukunft positiv für sich entscheiden zu können. Gegen das „blinde“, also sinnlose Verhängnis, das sich im Fluch auf die Zukunft anzeigt, wird eine „sinnvolle“, zielgerichtete, den Fluch unterlaufende Handlung aufgebaut: Die Protagonisten, denen das Verhängnis droht, werden entfernt, vertauscht, verborgen, damit sie dem Verhängnis entgehen. Unterstellt ist, dass auch in Fluch und Verhängnis die Kontingenz der Zukunft nicht endgültig aufgelöst ist. Man hofft trotz allem, es könne auch anders kommen als prophezeit. Dass genau dieses nicht eintritt, dass die menschlich sinnvollen Handlungen sich angesichts des Verhängnisses als ohnmächtig erweisen, erniedrigt die Menschen und inszeniert die verhängnisvolle Macht jenseits des menschlich bemessenen Sinns. Dabei ist es gleichgültig, als welche Instanz diese den Menschen und seine Sinnsetzung erniedrigende Macht dargestellt werden kann. Es kann die blinde Notwendigkeit sein, es können die Götter sein, die mit dem Menschen spielen – die Konsequenz: Es fürchte die Götter Das Menschengeschlecht!

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Sie halten die Herrschaft In ewigen Händen Und können sie brauchen Wie’s ihnen gefällt.4

In keinem Fall kann der christliche Gott, sofern er als liebend bestimmt ist, mit dem Verhängnis gleichgesetzt werden. Der Christengott ist gerade dadurch definiert, dass die göttliche Macht eben nicht gegen den Menschen, sondern für ihn inszeniert wird.

d) Die Katastrophe Im Falle des Tragischen ereignet sich das Sinnlose als Realität und wird so zur Katastrophe. Was ist die Katastrophe? Dass das Unheil als Ende unausweichlich hereinbricht. Die Katastrophe beendet eine Geschichte und lässt die Betroffenen in ihrem Unheil zurück, endgültig, ohne Hoffnung auf Heil, zukunftslos. Formal bedeutet das: Die Zukunft wird zur unbekömmlichen endgültigen Realität. Jetzt werden im Bezug auf die Realitätsstrukturen des Tragischen die Zeitverhältnisse erneut wichtig: Wem die Zukunft als Katastrophe begegnet, der hat keine Zukunft mehr. Das tragische Ende ist die Realität der heillosen Zukunft, die als Fluch prophezeit wurde und die durch die menschliche Handlung nicht sinnvoll gemacht werden konnte. Die Realität – das heißt das Gegenwärtigwerden der schlimmen Zukunft – zerbricht die Akteure, die die Zukunft sinnvoll gestalten wollten. In diesem Zerbrechen am Realwerden des Sinnlosen besteht die Gegenwart des Tragischen – was bleibt, ist seine Vergangenheit, die zur ständigen Zumutung wird. Von Ödipus bis Rigoletto klagen die Gebrochenen über den Fluch des Verhängnisses; in der Katastrophe „erfüllt“ sich das Verhängnis, ihre Geschichte ist zu Ende, sie sind am Ende, ihnen bleibt keine Zukunft mehr. Deshalb starren sie rückwärts auf die Zumutung der Vergangenheit; ihre Existenz wird zeitlos „dumpf“. Die hoffnungslose Trauer, das zukunftslose Brüten ist die Reaktion auf das eingetretene, endgültige, vergangene verhängnisvolle und katastrophale Ereignis, das nur als Zumutung der Vergangenheit gegenwärtig bleibt. Die Katastrophe überwältigt Protagonisten wie Kassandra, Elektra oder Gretchen. Wer in 4

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris. In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. München 101974 ff., Bd. 5, S. 7 – 67, hier S. 54.

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diesem tragischen Sinne die Zukunft radikal nicht besteht, wird dergestalt unfähig, die Erfahrungen der Vergangenheit zu verarbeiten, zu topisieren und in Zukunftserwartungen zu wenden. Er bleibt im Ereignis des Tragischen gefangen, er verkommt und vergeht ohne Hoffnung, er verliert die Zeit und wird verrückt. Es ist gleichgültig, ob er sich umbringt oder dumpf und zukunftslos weiter existiert. Er lebt nicht mehr, weil er sich nicht mehr zeitigt.

Erwägung 2: Philosophie als Tragikomödie Wenn Philosophie tragisch wird, kann sie diesen Begriff von Tragik tatsächlich erfüllen? Kann Philosophie eine solche Elementarität von Handlungsstrukturen, die mit Sinn, Fluch, Verhängnis geschehen, überhaupt erzeugen? Ist sie nicht immer schon eher begriffliche Bewältigung als elementare Betroffenheit? Wenn Philosophie begriffliche Bewältigung von in Erzählung gefasster Erfahrung ist, dann kann sie zugleich die unmittelbare Betroffenheit des Ereignisses darstellen, sie kann die Erzählungen nur begrifflich verwalten, sie ist vom Ereignis viel zu weit entfernt. Damit Philosophie tragisch sein kann, muss sie selbst zum Ereignis werden, von dem dann tragische Geschichten erzählt werden können. Deshalb stellt sich hier die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie im Verhältnis zu Ereignis und Erzählung. Die Frage im Bezug auf die tragische Philosophie lautet also: Wann wird Philosophie selbst zum Ereignis? Wann ist der Bericht über das Schicksal der Philosophie selbst eine topische Distanzierung, wie wird vom misslingenden Versuch der Bewältigung der philosophischen Aufgabe als von einem tragischen Ereignis, gar von einer Katastrophe berichtet? Wann wird Philosophie hoffnungs- und zukunftslos? Philosophie ist dann geschichtlich, wenn von ihr als einem Ereignis berichtet wird; und dann werden Erzähltopiken für diese Geschichte entwickelt. Die Beispiele sind selbst topisch: dass nämlich die Philosophien sich in ihrem Wahrheitsanspruch ständig widersprechen, dass die je nächste Philosophie die Katastrophe der vergangenen ist, dass die Geschichte der Philosophie ihr Fluch ist, weil sie den Wahrheitsanspruch veralten lässt. Die komische, groteske Dramatik der Geschichte im Bezug auf die philosophischen Ewigkeits-Geltungsansprüche besteht darin, dass trotz des Fallierens dieser Ansprüche immer wieder weiter philosophiert wird. Die Philosophie überlebt trotz dieser ständig sich wiederholenden Selbstparalysierung ihrer Wahrheits- und damit Absolutheitsansprüche.

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In diesem Sinne kann man die Philosophiegeschichte als eher komische Tragödie, eben als Tragikomödie auffassen. Denn die Katastrophe der Philosophie findet ja nicht dergestalt statt, dass am Ende alle Wahrheiten tot sind, sondern die toten Philosophien leben als historistische Wiedergänger weiter, als Kuriositätenkabinett vergangener Wahrheiten – und ihre Lehren sind nicht einmal unwahr. Denn nach welchem Wahrheitsbegriff sollte man feststellen, dass die Philosophie des deutschen Idealismus den Tod für die Lehren des Aristoteles bedeutet hätte; oder dass die analytische Philosophie dergestalt eine Katastrophe für den Existentialismus Heideggers gewesen wäre, dass von Heidegger kein Gran Glaubwürdigkeit übrig geblieben wäre? Und diejenigen, die sich streiten, überleben sämtlich, kaum ein Philosoph stirbt an der Lehre seines Nachfolgers, eher an der eigenen. Die vergangene Philosophie stirbt einen Scheintod – sie kann immer wiederbelebt werden. Die Bühne, auf der diese Tragikomödie seit 2500 Jahren aufgeführt wird, ist die Philosophiegeschichte. Hier wird zwar jede neue Philosophie zum Ereignis – aber wie das bei Ereignissen so ist, erst im Nachhinein wird klar, dass es sich um eines handelte.

III. Auswege in die Erträglichkeit a) Der Sinn im Tragischen; ein Paradox? Und wenn man noch so sehr die Sinnlosigkeit und das Katastrophale betont, man versucht das Tragische doch zu verstehen. Das bedeutet, dass man einen Sinn im Tragischen sucht. Dabei ist es sinnvoll, zwischen der Frage zu unterscheiden, ob denn die Finalität einer Geschichte als Bekömmlichkeit begriffen – und eventuell verfehlt – wird, oder ob die Binnenstruktur der tragischen Geschichte selbst schon einen, dann tragischen Sinn ergibt. Die Suche nach dem Sinn im definitionsgemäß Sinnlosen ist entweder komisch oder tragisch. Wenn diese Suche als philosophisch ausgegeben wird, dann bekommt Philosophie etwas Don Quichotte-haftes, dass nämlich angesichts der Inszenierung des Sinnlosen und der Katastrophe doch noch nach Sinn gesucht wird. Der Philosoph wäre dann eine tragikomischer Sinnsucher – der auch dort sucht, wo per definitionem nichts gefunden werden kann. In diesem Falle wäre Sinnverzicht für den Philosophen sinnvoll. Freilich hat dieser Sinnverzicht durchaus eine Dimension, die sich nicht in der Interpretationsaskese von Farce oder

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Tragödie erschöpft. Worin besteht Sinnverzicht? Darin, auf das Kommende als Gutes nicht zu hoffen, darauf, das Handeln nicht final zu bestimmen, sondern es sich selbst genug sein zu lassen. Kann man das, wenn man begreifen will? Das ist zwar zunächst nur eine Analyse der Handlungsstruktur, der das Ziel des Handelns (und damit die aristotelische Definition) abhanden gekommen ist. Gleichwohl wird ein solches zielloses Handeln als autark, als selbstbezogen, als Spiel – und als schön – bestimmt. Hier inszeniert sich der Philosoph als derjenige, der den Selbstbezug als Vollendung fasst.

b) Was macht die Tragödie interessant? Was macht die Tragödie interessant? Warum erzeugt sie Faszination und Schrecken? Weil ihr Inhalt eine Zumutung ist, etwas, was von sich aus den Rezipienten, den Erzähler, die Zuhörer anspringt. Die Geschichte macht ihm klar: Das ist auch deine Geschichte, das könnte dir „im Prinzip“ auch passieren. Es ist die Zukunftsangst, die hier aus der Vergangenheit gespeist wird. Die Erwartungsschemata, die man aus diesen Geschichten zieht, sind Unglücksschemata. Man kann diesen Schemata nicht entfliehen, weil man selbst seine Zeit zeitigt, indem man sie qualifiziert, das heißt, indem man vergangene Erfahrungen als Zukunftsschemata verarbeitet. Die Gegenwart der Vergangenheit, die unentrinnbar und deshalb eine Zumutung ist, liegt genau in diesem verarbeitenden, verzeitlichenden Umschlag in die Zukunft. Das vorliegende Schema: sinnloses Unglück, das jedem, folglich auch mir passieren kann. Deshalb entsteht existentielles Interesse, also Teilnahme am dargestellten Unglück. Es ist nicht das dargestellte Unglück als historisches Ereignis, das Interesse erzeugt, es ist die Zumutung, mit dem Sinnlos-Tragischen semantisch zu Rande zu kommen. Zu Rande kommen heißt: fertig werden, mich vom Charakter der Zumutung zu entlasten. Probleme sind, wenn sie gelöst sind, keine mehr; und der Geist beruhigt sich. Diese Entlastung geschieht durch Unterstellung der Handlungsstruktur, nach der selbst das Sinnlose einen Sinn bekommen soll. Die regulative Idee heißt: Omne agens agit propter finem.

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c) Warum ist die Tragödie wahr und schön? Eine schnelle, formale und bequeme Antwort heißt, weil sie ein Spiel ist – und das Spiel ist selbstbezogen und deshalb autonom. In der Autonomie erweist es sich als schön. Allerdings ist dieser spielerische Selbstbezug, der Autarkie und Vollendung indiziert, ein theologischer Leihbegriff. Gerade im Spielbegriff haben Kant und Schiller die Selbstgenügsamkeit der Tat herausgestellt. Es geht also um das Handeln als solches. Das ist eine theologisch durchaus riskante Übertragung der göttlichen Selbstgenügsamkeit auf die Kunst. Im Bezug auf die Tragödie bedeutet das: Der Selbstbezug der Tragödie auf sich selbst, der als Spiel interpretiert wird, ist todernst. Zugleich begreift er sich in seinem Selbstbezug als schrecklich schön, jenseits von Gut und Böse, weil im Schrecken das Erhabene, Selbstbezogene sich spiegelt. Das tragisch Schöne ist ein reduziertes Theologicum: Wenn das WahrGut-Schöne eine Qualifikation der göttlichen Vollkommenheit war und wenn die göttliche reflexive Autarkie darin bestand, dass es Gott mit sich selbst genug war, wenn er mit seiner Braut, der Sophia spielte (nach Sap. Salomonis), dann ist die Tragödie der schreckliche Abglanz dieser selbstbezogenen Perfektion. In der Tragödie ist dem göttlichen Spiel des Wahren, Guten, Schönen das Gute abhanden gekommen – und die sinnsuchenden Menschen, die die Tragödie als Zumutung erfahren, versuchen, das Gute, den Sinn der Handlung, dennoch wiederzufinden. Auch die Frage nach dem Schönen der Tragödie ist keinesfalls schon klar. Tragödien sind sinnlos und autonom-selbstbezogen, eben Spiel. Machen Sinnlosigkeit und Selbstbezug schön? Aber Tragödien gelten als „schön“. Inwiefern? Sind sie immer noch der entfernte Abglanz des Absoluten, der reinen Macht, des moralisch Gleichgültigen, das gerade wegen dieses Schreckens schaurig-schön ist? Das Schöne muss, wie man am Tragischen sieht, nicht mehr das Gute sein; aber es bleibt, meint man, das Wahre. Aber in welchem Sinne bleibt es wahr? Offensichtlich in dem Sinne, dass immer dieselbe Kerngeschichte erzählt wird: Das Gute trete eben nicht ein. In diesem Narrativ, dass das Gute abhanden gekommen sei, stimmen die tragischen Geschichten überein. Man hat hier, formal gesehen, den Anspruch auf mindestens drei Wahrheitsbegriffe vereinigt: 1. den Anspruch auf Adäquation (Referenz); so, wie dargestellt, „sei es“. 2. Die Darstellung sei stimmig (konsistent und selbstbezogen). 3. Die Übereinstimmung und Zustimmung derer, die an und mit dieser Geschichte kommunizieren: „So sehe ich das auch“.

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d) Die Diätetik des Zuschauers: Unbekömmlichkeit und Katharsis Die Theorie der Katharsis bietet einen typisch philosophischen, mindestens einen typisch aristotelischen Ausweg: Hier inszeniert sich die philosophische Theorie als escape behaviour aus dem Tragischen, indem sie die Teilhabe am Tragischen zum Zuschauen entschärft und das Tragische zum Bekömmlichen uminterpretiert. Wenn die philosophischen Sinnsucher ihren Sinn, sofern er Nutzen und Gutes ist, schon nicht im Ganzen der dargestellten tragischen Handlung finden können, dann suchen sie ihn in der Wirkung auf den Zuschauer. Ohne das Gute scheint man eben nicht auskommen zu können. Jedenfalls hat Aristoteles das Unglück und die tragische Katastrophe der Erzählung bekömmlich zu machen versucht. Das Schlimme und Unsinnige, an dem die Figuren in der Tragödie zerbrechen, wird dadurch, dass es nach außen, auf die Wirkung beim Zuschauer verschoben wird, zu etwas Gutem: Es führt zur Reinigung der Affekte. Das in sich schlechterdings Unbekömmliche, eben Katastrophale wird zur geistigen Diät des Zuschauers: So wird das Tragische mehr als bekömmlich, es wird heilsam. Dieses Aufmachen einer neuen Ebene, bei der die Geschichte nicht erzählt und ertragen, sondern Anlass zum Guten wird, ist der eigentliche Entlastungstrick bei Aristoteles. So wird die schlimme Geschichte zum Anlass des Guten. Phobos kai Eleos – Furcht und Mitleid werden entschärft, sie werden zum Abführmittel, die Tragödie wird zur seelischen Diät. Welche Furcht kann das sein, die entlastet? Offensichtlich nicht die selbst erlebte, sondern die der Anderen. Das ist die Furcht, die mir in ihrer Realität erspart bleibt. Hier steht die Rampe des Theaters zwischen dem Zuschauer und dem, den die Tragödie unvermittelt erfasste. Die Bewusstheit davon, dass es sich hier um theatralische Topik und nicht um Realität handelt, erspart mir die unmittelbare Teilhabe am Tragischen; mea res agitur gilt nur noch vermittelt. Es handelt sich nicht mehr wirklich um meine Geschichte sondern um eine, die meine sein könnte. Der Indikativ verwandelt sich in einen Konjunktiv, die Wirklichkeit in die Möglichkeit, meine Geschichte in die Geschichte eines Anderen, die erste Person in die dritte, die unmittelbare Belastung der Angst um die eigene Existenz in das entlastende Mitleid mit Anderen. Den Tod sterben die Andern. Mit der aristotelischen Umdeutung von Teilhabe in Wirkung ist die Doppelung der Realität in wirkliche und mögliche mitinszeniert. Mit dieser Doppelung wird die Tragödie auf der einen Seite erträglich, auf der anderen Seite sogar noch positiv gedreht: Ihr Konsum, ein durchaus doppeldeutiger Genuss, bewirkt die Abfuhr der Affekte, was immer das im Einzelnen heißen mag: Aggressionsabbau,

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Mitleid, Moral. Die Doppeldeutigkeit des Genusses der tragischen Kunst bleibt, denn das Vergnügen, die Lust, die Erleichterung setzen Belastung und Schmerz voraus und schließen sie ein. Man kann das nach zwei Richtungen hin auslegen: Entweder, dass man sagt, die Amplitude der Gefühle werde größer – und ich bin stark genug, sie auszuhalten. Das ist die durchaus abgeleitete, sekundäre Freude an der eigenen Stärke; vielleicht auch eine Variante der Schadenfreude. Man muss wohl davon ausgehen, dass in der Tragödie die reine, unschuldige Freude an der Verbindung von Wahr, Gut und Schön verloren ist, dass diese optimistische Verbindung aber auch durch die sekundäre Moralisierung der Tragödienwirkung nicht kompensiert werden kann. Katharsis ist auch nur Kompensation.

Erwägung 3: Philosophie, Zuschauer beim Schiffbruch Ist die Philosophie interessant, weil sie eine sinnlose Geschichte hat, die als Zumutung erscheint? Ist sie ästhetisch, weil sie selbstbezogen ist? Und ist sie schön? Wahr will sie wohl sein – aber nicht im Sinn eines Narrativs, sondern wohl eher als Urteil. Aber was heißt das? Sie bleibt Zuschauer beim tragischen Schiffbruch. Philosophie bleibt theoretisch, konstatiert den Sachverhalt, dass sowohl das Verhängnis als auch das sinnstiftende Handeln gegen das Verhältnis Teil des tragischen Geschehens sind, sie konstatiert dass, wenn sich das Geschehen als tragisch erweist, die Handlung in der Katastrophe endet. Ist Philosophie damit selbst Teil dieses Prozesses? Nein, sie bleibt draußen, sie konstatiert – mehr oder minder resignativ, vielleicht auch neugierig – diesen Sachverhalt. Sie ist nicht tragisch, sie interpretiert die Struktur des Tragischen und seine Wirkung, aber gerade deshalb ist sie jenseits des Geschehens, in der zweiten, der theoretischen Ebene. Schließlich überlebt die Philosophie den Schiffbruch als Zuschauer, eben theoretisch.

IV. Theodizee: Aufhebung der Möglichkeit jeder Tragödie a) Die Frage nach dem Warum und die Heilsgeschichte In der jüdischen Tradition wird kein Theater gespielt, Tragödien stammen aus der griechischen Antike. Im Verlauf der Christentumsgeschichte war deshalb die Frage danach unvermeidlich, warum Tragödien sein

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müssten. (Nietzsche hat das mit der ihm eigenen polemischen Rhetorik dargestellt). Gegen den „ästhetischen“ griechischen tragischen „Pessimismus“ entwickelte sich der rationale Optimismus des Christentums. Sein theologisch-philosophisch stabilisiertes Motto: Am Ende siegt das Gute. Dieser Optimismus ist durch die lange Tradition monotheistischer Theologie gestützt, der Theologie, die die Lehre von den göttlichen Prädikaten entwickelt hat. Es handelt sich hier sicher um den Prozess, bei dem Gott philosophisch perfektioniert wird: „quo maius cogitari nequit.“5 Dieser Prozess gipfelt in Leibniz’ Konzept der Theodizee. Die Theodizee beansprucht, die Frage nach dem Warum ein für alle mal zu klären. Genau diese Frage nach dem Warum ist in der Tragödie aufs Äußerste strapaziert. Die Frage nach dem Warum ist die Sinnfrage. Auch wenn man davon ausgeht, diese Frage stelle eine Überbeanspruchung der menschlichen Interpretationsfähigkeit dar – gerade, sofern der Gottesbegriff abhanden gekommen ist –, so bleibt die Sinnfrage doch erhalten, sie verschärft sich sogar. Die Behauptung, diese Sinnfrage sei ihrerseits sinnlos, zeigt nur die Ratlosigkeit derjenigen, die diese Behauptung aufstellen. Ein einmal erreichtes Anspruchsniveau an Sinn, gleichgültig, ob es als Komfort oder Belastung begriffen wird, kann man nicht einfach negieren. Das hieße, man könnte beliebig über den eigenen Begriffshaushalt verfügen. Die Entscheidung über den Sinn von Heils- und Unheilsgeschichten liegt erst in ihrem Ende. Wenn die Geschichten noch nicht abgeschlossen sind, ist diese Sinnerwartung ein Wechsel auf die Zukunft. Bei abgeschlossenen Heilsgeschichten, wie bei Märchen (,wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute‘) liefern die Heilsgeschichten den doppeldeutigen, durchaus topischen Beleg dafür, dass das Heil möglich war, indem zumindest vom eingetretenen Heil erzählt wird. Mit der Heilsgeschichte ist eine Gegenposition zur pessimistischen Tragödie aufgebaut; das Märchen, das eine Heilsgeschichte ist, endet nach der Logik des Tragischen zu gut, um wahr zu sein. Schön, im ästhetischen Sinne, sind offensichtlich beide, das Märchen ebenso wie die Tragödie. Die Heils-Erzählungen, die die funktionierende Theodizee als Hintergrund haben, sind märchenhaft, eben weil das Gute siegt. Die Tragödienfrage nach dem schlimmen Ende wird dergestalt variiert, dass ja auch ein gutes vorstellbar sei. Dafür sorge der „liebe Gott“. Die Frage nach der Tragödie, dem Übel in der Welt angesichts der Allmacht des guten Gottes definiert prima vista die Theodizeefrage. Das 5

Anselm von Canterbury: Proslogion. Untersuchungen. Lat. u. dt. Übers. v. Franciscus Salesius Schmitt. Stattgart-Bad Cannstatt 1962, cap. 2, S. 84.

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Problem dahinter heißt: Warum überhaupt Sinn? Diese Sinnfrage hat Leibniz unvergleichlich radikal gestellt. Sie heißt: cur potius aliquid quam nihil. Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts.

b) „Cur potius aliquid quam nihil“ und der Monotheismus „Cur potius aliquid quam nihil?“6 Schelling hat die Frage leicht erweitert, „Warum ist überhaupt etwas, warum ist nicht nichts?“ und auch Heidegger hat sie dann variiert. Die Frage Cur potius aliquid quam nihil ist für Leibniz die Kernfrage der Metaphysik überhaupt. Sie fragt zunächst nach dem Gottesbegriff und in einem zweiten Schritt nach der Schöpfung. Sie ist die Kernfrage seines Optimismus’ ebenso wie seines Rationalismus’. An der Beantwortung dieser Frage hängt auch die philosophische Bewertung der Möglichkeit und Unmöglichkeit des Tragischen. Der Gott, der sich nach dem Warum fragen lässt, ist in seinem Wesen rational. Schon seine Existenz erfüllt den Satz des Widerspruchs. Die Formel: Wenn Gott möglich ist, dann ist er notwendig. Dieser Gott ist der, der durch seine Existenz die Geltung des Satzes des Widerspruchs bestätigt: Er existiert wegen der Kompossibilität seiner Prädikate notwendigerweise. Insofern bestätigt Gottes Existenz den Satz des Widerspruchs. Dieser Gott ist zugleich möglich und notwendig, weil seine Gerechtigkeit Güte und Weisheit widerspruchslos miteinander verbindet. Für Leibniz ist die universale Geltung der widerspruchsfreien Vernunft die Bedingung dafür, dass wir vernünftig von Gott reden können und dass wir ihn auch in seinem vernünftigen Wesen erfassen. Das vernünftige menschliche Denken und die Existenz einer universalen Vernunft, die durch Gott repräsentiert ist, sind für Leibniz die Bedingung des wahrheitsfähigen Denkens überhaupt. Dieses Kalkül hat unmittelbare Folgen für das Konzept der Tragödie: Mit einem existenten allmächtigen Gott, dessen Gerechtigkeit als caritas sapientis begriffen wird, ist keine Tragödie, die katastrophal endet zu beschreiben.

6

Gottfried Wilhelm Leibniz: De rerum originatione radicali (23. Nov. 1697). In: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. Carl Immanuel Gerhardt. Berlin 1875 ff., Bd. 7, S. 303.

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c) Das Prinzip des Optimismus und die Schöpfung Den berühmten Kernsatz des leibnizschen Optimismus’, die Welt sei die beste aller mçglichen, deduziert Leibniz aus seinem Gottesbegriff, der ja Liebe und Gerechtigkeit, Allwissen und Allmacht miteinander verband. Wenn Gott gut, allwissend und allmächtig ist, konnte er gar nicht anders als diese beste Welt schaffen. Wenn Gott in diesem Sinne, also in metaphysisch notwendiger Weise das Beste, was möglich ist, schafft, dann kann die Welt nur die beste aller möglichen sein. Gegenüber einem Erfahrungswissen, von dem aus auf eine schlechte Welt geschlossen werden könnte, sind diese apriorischen Optimismus-Argumente völlig immun. Das gilt exakt auch für die Tragödie: Jedes Erfahrungswissen verliert seinen allgemeinen Geltungsanspruch angesichts der Schlüssigkeit apriorischer Beweise. In der Welt, wo alle Fragen nach dem Warum immer schon beantwortet sind, ist eine Tragödie unmöglich. In der besten aller möglichen Welten gibt es keine wirkliche Handlung, die unverhofft, unerwartet, die ereignishaft ist. Ereignisse sind nur scheinbar überraschend, weil doch alles zum Besten vorhergesehen und dann geworden ist – und da gibt es nichts wirklich Unvorhergesehenes, das eine Ordnung durcheinander brächte, das sogar katastrophal wäre. Es gibt im Prinzip nichts Neues, sofern das Neue das wirklich unvorhergesehen Erfahrene ist. Deshalb kann es auch gar keine wirkliche, das heißt eigenständige, nicht vorhergesehene Geschichte geben. In der Theodizeewelt gibt es nichts wirklich Böses. Wenn alles vom allmächtigen Gott aufs Beste vorhergesehen ist, dann sind wirkliche Katastrophen ausgeschlossen. Tragödien sind, wenn sie denn eintreten, Scheintragödien, am Ende erweisen sie sich als göttliche Komödien. Freilich bleiben bei der Empfehlung, man solle nur bis zum Komödien-Ende abwarten, einige Fragen. Was soll uns dieses apriorische Wissen? Wie können wir bis zum Ende warten, wenn sich das scheinbar Tragische als gut und letztendlich bekömmlich erweist? Ist die Weltgeschichte nicht das, was sich an uns in unserer Erfahrung vollzieht, was sich wesentlich mit dem Menschen ereignet? Ist nicht die Erfüllung der Weltgeschichte, sei es als wiedergefundenes Paradies, sei es als Jüngstes Gericht weit weg, so schön der endgültige Beweis der göttlichen Allmacht und Güte auch sein mag? Gilt, angesichts dessen, was geschieht, nicht: Hic Rhodos, hic salta?

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d) Die tragische Inszenierung der Freiheit Das Dilemma der Tragödie angesichts der Theodizee ist zwischen den beiden Versen von Heinrich Heine und Wilhelm Müller aufgespannt: Heine fragt angesichts der menschlichen Erfahrung des Bösen: Woran liegt die Schuld? Ist etwa Unser Herr nicht ganz allmächtig? Oder treibt er selbst den Unfug? Ach, das wäre niederträchtig.7

Und Wilhelm Müller zieht die Konsequenz: Lustig in die Welt hinein Gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, Sind wir selber Götter.8

Der entscheidende Begriff, um den es angesichts der Theodizeefrage geht, ist der der Freiheit. Wenn das menschliche Handeln autonom ist, wenn es sich, wie das im Einzelnen auch immer gedacht sein mag, seine eigene Welt politisch macht, wie steht es dann mit der Tragödie? Ist unter diesen Bedingungen die theologische Rahmung der Geschichte, die die Tragödie am Ende als göttliche Komödie entschärfte, aufgehoben? Theologisch heißt das: Mordet die Philosophie der Freiheit den guten, allmächtigen und allweisen Gott? Fichte hat die Setzung des Willens als radikale Autonomie treffend – und sich selbst denunzierend – beschrieben. Er sieht Freiheit als Selbstzweck: „Der wesentliche Charakter des Ich, wodurch es sich von allem, was ausser ihm ist, unterscheidet, besteht in einer Tendenz zur Selbstthätigkeit um der Selbstthätigkeit willen; und diese Tendenz ist es, was gedacht wird, wenn das Ich an und für sich ohne alle Beziehung auf etwas ausser ihm gedacht wird.“9 Was Fichte hier nicht bedenkt, und er wird es später bereuen, ist: Dieser höchste Selbstbezug ist zugleich die Ermor7 8 9

Heinrich Heine: Zum Lazarus. In: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe. Hg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg 1973 – 1997, Bd. 3,1, S. 198 – 205, hier S. 198. Wilhelm Müller: Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. v. Maria-Verena Leistner. Berlin 1994, Bd. 1, S. 185. Johann Gottlieb Fichte: Das System der Sittenlehre nach den Principien der Wissenschaftslehre. In: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Reinhard Lauth u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. I,5, S. 45 [i. Orig. Herv.].

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dung Gottes. Diese reine Beziehung des Willens auf sich lässt, wenn die eigene Freiheit das höchste Gut ist, keinen anderen Gott zu als das Ich. Es ist die Pointe der Emanzipation, Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Das Ich ist sein eigenes höchstes Gut und sein eigener Herr, wer sonst. Es ist zugleich der Ursprung jedes Immoralismus, denn das Ich bestimmt gut und böse allein im Bezug auf sich – es geht ihm um nichts als um Freiheit, zum Guten wie zum Bösen. Schon bei Fichte, noch vor Hegel wird deutlich: Ist die Philosophie der Freiheit und der Autonomie subjektiver Agent dieses phänomenologischen Theaters, in dem sich das transzendentale Ich selbst zur Erscheinung bringt, dann kann sie nur die Rolle des Bösewichts, des Gottesmörders spielen. Denn sie verteidigt ihre eigenständige Handlungsfähigkeit gegen alles Andere, sie macht sich selbst zum Absoluten, ihre Selbstbehauptung ist, theologisch gesprochen, ihre Sünde. Der Geist stellt fest, dass seine eigenen Strukturen göttlich sind und er nicht weiß, was ein Absolutes außer ihm sein soll. Wie sieht es mit Hegels Weltgeschichte aus? Angenommen, die Weltgeschichte ist wirklich das Welttheater der Theodizee und das Weltgericht, angenommen, die Geschichte geschieht, dann zeigt sich der Geist als geschichtlicher und beansprucht, der göttliche zu sein. Gott ist, das wäre die Hegelsche Option, nicht mehr oberhalb von Geschichte, er vollzieht und findet sich in ihr, er ist, was in der Geschichte wirkt. Wenn er in der Geschichte wirkt, dann wirkt er zusammen mit dem Geist, der auch das Subjekt ist. Er ist zugleich jenseits und mit uns, und die Philosophen denken ihm nach, sie begreifen ex post: Was vernünftig ist, ist wirklich. Sie begreifen, auch bei individuellen Tragödien, dass es sich um individuelle Perspektiven auf das große Ganze handelt, das sich um die tragischen Kleinigkeiten nicht kümmert. Dieser absolute Geist ist nicht der moralische Christengott. Konkurrierende Wirklichkeiten zur Phnomenologie des Geistes gibt es nicht, kann es nicht geben, schließlich ist der Geist das Absolute, das sich selbst zur historischen Erscheinung bringt – ein Jenseits dieses Absoluten ist widersinnig. Nicht nur der Gegenstand dieser Theorie, sondern auch ihr Anspruch ist absolut. Was ist, wenn dieser Anspruch ungerechtfertigt ist? Wie immer dieser Verdacht entstehen mag, es gibt ihn, sei es als Gefühl, sei es als Unbehagen an der Unausweichlichkeit der Machtfülle und der Unzärtlichkeit des Geistes. Das Unbehagen, dass da etwas nicht stimme, dass es mit dem Geist nicht alles sein könne, kann nicht selbst vom Charakter dieses Geistes sein. Es muss die Ahnung davon sein, dass die Fülle und Macht des

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Geistes nicht ohne Preis zu haben ist, eine Sensibilität, eine Art Phantomschmerz von etwas unbestimmt Verlorenem, davon, dass etwas – keiner weiß genau was – fehlt. Was könnte dieses Unbestimmbare sein? Der Zufall. Es fehlt beim hegelschen Geist die Doppeldeutigkeit der Kontingenz: das Unberechenbare, der Reiz des Zufalls. Der Weltgeist ist unmenschlich. Das Menschliche ist die positive Seite der Zukunftsunsicherheit; der Komfort derer, die bislang überlebt haben, sich des Überlebens freuen und sich feiern. Es fehlt dem Weltgeist das Fest des Glücks, das auch von der Spannung und Erwartung des Kontingenten lebt. Der Mut zur Kontingenz ist zugleich die Erwartung des Glücks, und auch das Glück gehört zur Erwartung, nicht nur die Angst. Das Erwartete ist das unwiderstehlich Kommende, das mich – hoffentlich zu meinem Glück – bestimmen wird und das erhoffte Glück besteht darin, dass man diesem Glück gegenüber passiv zu sein sich traut. Denn Glück ist, wegen seiner Kontingenz, am Ende immer ein empfangenes, passives, entgegengenommenes; wenn man mit der Etymologie spielen will: als Angenehmes, das, was angenommen wird, ein angenehm Zukommendes. Es macht das Glück der Passivität aus, dass man sich traut, neu zu werden, dass man als potentia passiva Sehnsucht danach hat, geformt zu werden. Dieses Erleben ist nicht nur ein Überstehen, sondern ein Neu-Werden, ohne die Eigentlichkeit zu verlieren. Es ist das Passivmoment des Liebens, dass man, wenn man denn geliebt wird, das Glück hat, dass man verändert wird, ohne absorbiert zu werden. Es ist die Hoffnung, das Risiko und das Glück der Passivität. Daraus erwächst Gelassenheit. Setzt man diese ,Sensibilität‘ fürs Passive voraus, dann ist die Frage, was denn das Welttheater ist, die „Theorie“, was die Anschauung dessen ist, was zur Erscheinung kommt, doppeldeutig. Das Welttheater kann das Gemachte des Geistes in seiner Selbstverwirklichung sein, aber auch das unerwartet zur Erscheinung Kommende, der Zufall, das Ereignis. Sofern sich Philosophie selbst zum Teil des Welttheaters macht und dieses auch will, wird sie zum Teil des sich selbst mächtig zur Erscheinung bringenden Geistes. Sobald sie glaubt, den Zufall, die Andersheit des Andern vorherbestimmen zu können, und es nicht lässt, wie es ist, wird sie anmaßend – d. h. zum Maß des andern. Hier zeigt sich nun ein schier auswegloses Dilemma: Philosophie, sofern sie frei, das heißt spontan, also handelnd ist, kann gar nicht anders, als sich die Objekte in ihrem eigenen philosophischen Selbstverwirklichungsprozess anzueignen. Sie ist zur Vereinnahmung verdammt, wenn sie ihr Geschäft vollzieht. Und weil sie sich selbst dabei notwendig als Teil des Weltprozesses inszeniert, wird sie, theologisch gesprochen, sündhaft.

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Sie sündigt am Andern, sofern dieses Andere nicht vereinnehmbar zu sein beansprucht, sie sündigt am Göttlichen in seiner untingierbaren Absolutheit. Das Andere muss sich, wenn es sich denn überhaupt zur Erscheinung bringen will, als das zeigen, was nicht erwartet und vorweg geistig konstituiert ist. Dieser Anspruch erhält die unaufhebbare Fremdheit des Zufalls aufrecht. Diese Gedankenfigur ist insgesamt die Umkehrung des Kontingenzschreckens der Zukunft, man gibt sich mit der Endlichkeit zufrieden, es handelt sich um freiwillige intellektuelle Knechtschaft. Es ist die Sehnsucht nach Passivität, und die hängt damit zusammen, dass der Zufall auch das Glück bringen kann, dass in der Beschenkung die Sehnsucht liegt, nicht alles selbst machen zu müssen, sondern Objekt – nach erwünschter Möglichkeit ein geliebtes – zu sein.

Erwägung 4: Philosophie als strukturelle Tragödie Was ist, wenn ich mich will? Was ist, wenn ich mich nur wollen kann? Was ist, wenn all mein Denken sich der Theodizee des Göttlichen widersetzt? Ist der Akt meines Denkens notwendig böse, weil frei? Das ist die Dialektik der Sünde. Setzt die Dialektik der Sünde als der performativen Freiheit die Theodizee voraus? Ist Philosophie ein Handeln, das sich als gut begreift und sich doch immer als böse erweist, weil es wahrnehmungsunfähig ist? Das ist der Vorwurf der Philosophie gegenüber, den Schelling seit der Freiheitsschrift variiert und den Kierkegaard aufnimmt. Freiheit ist dann eine ständige Entzweiung ohne Katastrophe, kein Ende mit Schrecken, sondern nur ein ständiges Knirschen, dass die Entzweiung unvermeidlich ist, eine ständig ungestillte Sehnsucht. Ist eine solche unvermeidliche Entzweiung tragisch? Oder ist sie nur menschlich? Ist es die Entzweiung im Gottesbegriff, dass wir an Gottes Prädikaten teilzuhaben glauben, ohne sie wirklich identifizieren zu können, weil jede begriffliche Festlegung unsere, d.i. die menschliche Definition des Göttlichen, fromm anmaßend zugleich ist? Dieses Dilemma könnte die Philosophie am Ende doch zur strukturellen Tragödie machen.

„Die Politik ist die wahre Tragödie“. Versuch, eine Bemerkung Platons zu verstehen Volker Gerhardt Als Lore Hhn mir diesen Vortragstermin antrug, musste ich es fr mçglich halten, ab Mai 2008 in Hamburg selbst zu den amtierenden Politikern zu gehçren. Ich habe dennoch fr Freiburg zugesagt, weil ich das Thema, das in meinen Schriften bisher nur beilufig Erwhnung findet, sehr gern ausdrcklich behandeln wollte. Nun, da ich Hochschullehrer geblieben bin und meine politische Leistung sich weiterhin auf die Rolle als Brger beschrnkt, bin ich nicht gençtigt, mich auf eine Bltenlese aus lteren Texten zu beschrnken. Im alten Status habe ich die Chance, etwas Neues vorzutragen. Dafr nehme ich den Nachteil, nicht direkt ber meine eigene tragische Existenz als Politiker sprechen zu kçnnen, gerne in Kauf. Der Nachteil hlt sich freilich in Grenzen. Denn was man vom Politiker sagen kann, hat auch fr den Brger zu gelten, und was dem Brger Recht ist, muss die Pflicht des Politikers sein. Der Titel des Vortrags ist ein Platon-Zitat. Was sich dahinter bei Platon verbirgt, den man als „Anti-Tragiker“, aber gewiss nicht als „Anti-Politiker“ verstehen kann, gilt den Kennern als Rtsel. Ich maße mir nicht an, es aufzulçsen, schlage aber vor, es nicht allein vor dem Hintergrund von Platons Kritik an den tragischen Dichtern, sondern im Licht seiner eigenen politischen Erwartungen zu deuten. Dann enthlt die Einsicht in die tragische Verfassung des Politischen eine Auszeichnung der Freiheit des Menschen und sie fhrt auf den ohne Illusion vertretenen Anspruch, sich der Politik nicht zu entziehen. 1. Die Wirklichkeit des Tragischen. Das Tragische ist unausweichlich, wenn das Notwendige, das man mit besten Gründen wirklich tut, sich als das Unmögliche erweist. Wenn nun aber die Realität dasjenige ist, worin ohnehin schon alles mit Notwendigkeit geschieht, und wenn es so ist, dass stets nur das Mögliche wirklich werden kann, gibt es das Unmögliche in Wahrheit nicht. Folglich kann es auch das Tragische nicht geben. Mit derart zwingenden Beweisgängen wird man rechnen müssen, wenn die Neurophysiologen, die derzeit die Philosophie und das Strafrecht unsicher machen, eines Tages das Tragische entdecken sollten. Dann wird ihnen niemand die Freiheit verwehren können, nach der

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Wirklichkeit der Freiheit, der Schuld und der Strafe auch die des Tragischen in Abrede zu stellen. Zu einer Tagung, auf der es um das Problem des Tragischen geht, brauchte man nur einen jener famosen Hirnforscher einzuladen,1 die sich nicht scheuen, die Bedingungen ihrer eigenen Rede zu bestreiten, und schon wäre das Problem des Tragischen (obgleich vom selben Personal im selben Moment vorgeführt) in den Bereich der bloßen Illusion verwiesen. So bliebe vom Tragischen nur der Phantomschmerz übrig, in dem etwas weh tut, was man gar nicht mehr hat. Im Interesse der Freiheit gibt es bekanntlich Widerspruch gegen Seichtigkeiten dieser Art. Wer aber wäre bereit, sich für die Wirklichkeit des Tragischen in die Bresche zu werfen? Wer möchte im Ernst für die Unumgänglichkeit des Leidens plädieren? Oder dafür, dass es nicht nur das existenzielle Scheitern des Einzelnen, sondern auch die schauerliche Anteilnahme der Vielen gibt, die sich das Tragische aus sicherer Distanz zu Gemüte führen? Wirklich begrüßen kann man beides nicht. Wem also sollte daran liegen, dass es das Tragische gibt? Nur dem, der sich um die Erkenntnis des Wirklichen bemüht. Die Wirklichkeit steht nun leider selbst unter Philosophen nicht hoch im Kurs. Ist sie erst einmal zur „Erscheinung“ oder zur „Vorstellung“ verflüchtigt, kann sie mit Leichtigkeit zum bloßen Schein erklärt und als Effekt von Interpretationen oder als Attribut von Medien verharmlost werden. In einem solchen Umfeld muss es dann verwundern, dass vom Tragischen überhaupt noch die Rede ist. Denn in der Tragik meldet sich die Wirklichkeit zu Wort. Sie folgt aus den Widersprüchen, die es wirklich gibt – vorausgesetzt, es gibt die Freiheit, die ihre Bedingung ebenfalls in den Gegensätzen hat, aus denen die Realität besteht. Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, die das Tragische mit der Freiheit verbindet. Daraus resultiert dann auch ihre Beziehung zur Politik. 2. Leben aus dem Gegensatz. Für das Freiheitsproblem gibt es keine Lösung, solange die Wirklichkeit nach dem Modell einer Natur gedacht wird, in der es keine Gegensätze gibt. Wenn alles Geschehen auf miteinander verknüpfte Ursachen zurückgeführt wird, die ein festes Gewebe durchgängiger Determination erzeugen, ist alles mit allem harmonisch 1

Um nicht anonym zu reden, seien jene für den Selbstwiderspruch so unempfindlichen Kollegen namentlich erwähnt. Ich denke vornehmlich an Gerhard Roth und Wolf Singer, möchte aber auch einen ihnen verfallenen Strafrechtler wie Reinhard Merkel nicht vergessen. ,Verfallen‘ muss es heißen, wenn es die Freiheit, aus der heraus man einer Einsicht folgt, nicht gibt.

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nach Ursache und Wirkung verbunden. Dann kann von Zufall nur sprechen, wem der Überblick fehlt, und Freiheit ist tatsächlich nur eine Illusion von Individuen, die keinen Durchblick haben. Ich gebe gerne zu, dass es reizvoll, ja, verführerisch ist, eine solche monolithische Theorie des kausalen Harmonismus aller Naturprozesse zu vertreten. Sie wäre vom Standpunkt Gottes aus geschrieben, der alles schon per definitionem überblickt und den daher nichts überraschen kann. Aus seiner Sicht ist mit jeder Ursache die Kette ihrer Wirkungen im Voraus bestimmt, weil Gott auch die Ursachen ihrer möglichen Störungen und deren notwendige Folgen im Voraus kennt. Von Tragik kann unter solchen Bedingungen keine Rede sein. Wesen, denen diese panoramatische Draufsicht fehlt und die als Naturwesen vollkommen in Natur befangen sind wie der Mensch, ist das Wissen von einer totalen Verknüpfung aller Ereignisse durch eine vorab bestehende Ursachenkette verstellt.2 Sie befinden sich inmitten der Natur, sind unablässig den auf sie selbst einwirkenden Kräften ausgesetzt und erfahren sich im Gegeneinander der Kräfte selbst als eine Kraft. Die Zahl der Kräfte, die in jedem Augenblick von außen und von innen auf ein Naturwesen wirken, dürfte gegen unendlich gehen, und man kann sagen, dass diese Kräfte alles andere als einheitlich sind. Denn zu jeder Kraft gehört eine Gegenkraft. Beide stehen sich in actio und reactio gegenüber, und hinter ihnen steht die Vielfalt kosmischer Gewalten, die sich planetarisch multiplizieren, sich mit jedem Organismus potenzieren und im gesellschaftlichen Zusammenhang erneut vervielfachen. Nur im Rückblick, wenn das Geschehene zum festen Gewebe einer zur Notwendigkeit erstarrten Geschichte einzelner Fälle geworden ist, erhalten die gewesenen Kräfte ihren unverrückbaren Platz. Im Moment ihrer Wirksamkeit hingegen stehen sie in offensichtlichem Widerstreit, in dem es von der jeweiligen Kombination der Kräfte abhängt, was geschieht und was nicht. Die Determination von Ursache und Wirkung steht dazu nicht in Widerspruch. Sie lässt ja auch die Vielfalt sich durchkreuzender, sich aufhebender, aber sich eben auch verstärkender Kräfte zu, die dem Geschehen jederzeit eine unerwartete Wendung geben können. So kommt 2

Dass es auch physikalisch durch nichts gerechtfertigt ist, von einer in sich geschlossenen Determination der Natur auszugehen, zeigt Brigitte Falkenburg: Was heißt es, determiniert zu sein? Grenzen der naturwissenschaftlichen Erklärung. In: Dieter Sturma (Hg.): Philosophie und Neurowissenschaft. Frankfurt a.M. 2006, S. 43 – 74.

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es im tatsächlichen Geschehen, trotz der kausalen Zwangsläufigkeit in jedem ungestörten Vorgang, trotz der benötigten Verlässlichkeit der Kausalverbindung in jedem einzelnen Fall, zu einem unablässigen Wechselspiel rivalisierender Kräfte, die sichere Prognosen über den konkreten Fortgang der realen Ereignisse unmöglich machen. Und da aus ihnen das Naturgeschehen besteht, hat man festzustellen, dass die kausal determinierte Natur dem Chaos ähnlicher sieht als den Messreihen kausaler Ordnung. In jedem einzelnen Akt ist mehr möglich, als die kleine Zahl der bekannten Antezedenzien erwarten lässt. Den Widerstreit und die Vielfalt möglicher Folgen macht sich das Leben zunutze. Es bindet und bündelt einige Kräfte, um sie erstmals ,organisiert‘ gegen andere einzusetzen. Diese erstmals auf sich selbst und gegen anderes ihrer selbst bezogene Organisation von Kräften nennen wir ,Organismus‘. Man kann auch vom ,Lebewesen‘ sprechen, das seine Besonderheit darin hat, dass es sich ,von selbst‘ bewegt. Seine Selbstbewegung geschieht zwar unter dem Druck äußerer und innerer Verhältnisse sowie in Geltung des Kausalprinzips, aber gleichwohl aus eigenem Impuls und nach eigenem Prinzip, also nach den in der spezifischen Organisation des Organismus vorgegebenen Bedingungen. Auch diese Bedingungen sind von inneren Gegensätzen geprägt, die nach Maßgabe der jeweiligen Situation und der individuellen Organisation vermittelt werden müssen. Hier von ,Determination‘ zu sprechen, würde die Eigenart des Lebendigen verkennen. Die Biologen sagen, die Selbstbewegung erfolge „spontan“ und „autonom“.3 Gleichwohl dient sie der Selbsterhaltung des jeweiligen Lebewesens und mit ihr in der Regel auch der Erhaltung seiner Art. 3. Freiheit im bergang zur Politik. In der autonomen Spontaneität lebendiger Selbstbewegung liegt der Ursprung der Freiheit, deren Auftritt mit dem des Lebens zusammenfällt. Wer behauptet, dass es keine Freiheit gibt, der muss bestreiten, dass es Leben gibt.4 Darin liegt die Tragik der

3

4

Gerhard Roth: Gehirn und Selbstorganisation. In: Wolfgang Krohn/Günter Küpper (Hg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution. Braunschweig/Wiesbaden 1990, S. 167 – 180. Zur Bedeutung der spontan entstehenden Selbstorganisation und ihrer Bedeutung für die Evolution des menschlichen Verhaltens vgl. Gerhard Neuweiler: Und wir sind es doch – die Krone der Evolution. Berlin 2008, S. 23 ff. Dazu: Volker Gerhardt: Leben ist das größere Problem. Philosophische Annäherung an eine Naturgeschichte der Freiheit. In: Jan-Christoph Heilinger (Hg.):

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Biologen, die mit ihrem Verdikt gegen die Freiheit die Eigenständigkeit ihres Forschungsgebiets in Abrede stellen. Es steht der Tragik von Strafrechtlern, die daran zweifeln, ob es Schuld und Verantwortung gibt, um gar nichts nach.5 Das Leben hat lange gebraucht, um sein Prinzip der Selbstorganisation bis zum Prinzip der menschlichen Selbstbestimmung zu entwickeln.6 Doch das Grundmuster der spontanen Selbstbewegung ist geblieben. Freiheit ist Selbstbewegung, die am Menschen und mit ihm zum Bewusstsein kommt, indem auch er sie ,von sich aus‘ – und das heißt für ihn: ,aus eigener Einsicht‘ – vollzieht.7 In diesem Sinn kann er die Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ definieren – eine Definition, der eine Nähe zur tragischen Verfassung des menschlichen Daseins nicht abzusprechen ist. Entscheidend bei dieser Bestimmung der Freiheit ist, dass sie auf das Verhalten des Organismus insgesamt bezogen ist. Nur als Ganzer organisiert er die Kräfte, die sich in seiner Selbstbewegung durchsetzten. Als diese Ganzheit ist das Lebewesen durch seine innere physiologische Organisation und durch die physischen Konditionen seiner natürlichen Umwelt bestimmt. In seinem spezifischen Charakter ist es immer auch durch die Individuen geprägt, von denen es stammt und mit denen es zusammenlebt. Im Vorgang der ,Prägung‘ hat das eminente Folgen für das Überleben und für die Verhaltenssicherheit des Individuums. Wie also ein Lebewesen reagiert, hängt wesentlich von den konkreten Bedingungen seines Zusammenlebens mit seinen Artgenossen ab. Das ist für die Formierung der sich in Selbstbestimmung äußernden Selbstorganisation des menschlichen Handelns von besonderer Bedeutung. Ob ein Verhalten als selbstbestimmt – und somit als frei – erscheint,

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Naturgeschichte der Freiheit. Humanprojekt 1. Berlin/New York 2007, S. 457 – 479. Dazu: Volker Gerhardt: Freiheit, die wir meinen. In: Claus Langbehn (Hg.): Recht, Gerechtigkeit und Freiheit. Aufsätze zur politischen Philosophie der Gegenwart. Festschrift für Wolfgang Kersting. Paderborn 2006, S. 187 – 200. Vgl. Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999. „Dasjenige Ding heißt frei, das aus der bloßen Notwendigkeit seiner Natur (ex sola suae naturae necessitate) da ist und allein von sich her (a se sola) zum Handeln bestimmt wird.“ So definiert Spinoza in seiner Ethik. Unfrei nennt er hingegen alles, was von „einem Anderen bestimmt wird, auf gewisse und bestimmte Weise zu sein und zu wirken“ (Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch u. dt. Übers. u. hg. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg 2007, I, Definitio 7, S. 6 [Übers. v. Verf.]).

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hängt immer auch von den artspezifischen Üblichkeiten und von den wechselseitigen Erwartungen ab, die im sozialen Kontext der Individuen bestehen. Was im menschlichen Handlungszusammenhang als Freiheit verstanden wird, ist somit nicht unabhängig von den Ansprüchen und Normen, unter denen die Individuen stehen. Man darf also nicht bloß auf das sehen, was mit Blick auf die Disposition über physikalische Kräfte und ihre Umsetzung in die biochemische Dynamik eines Organismus möglich ist, sondern hat zugleich die soziale Dimension der Beziehung der Individuen untereinander in Rechnung zu stellen. Ob ein Mensch frei handelt, kann letztlich nur in Relation zu den gesellschaftlichen Regeln entschieden werden, unter denen er sich zu verhalten hat, wenn seine Selbstbewegung überhaupt als ,Handeln‘ begriffen werden soll.8 Von hier aus wird besonders deutlich, wie abwegig es ist, über Freiheit lediglich mit Blick auf ein isoliert betrachtetes ,neuronales Substrat‘ befinden zu wollen. Von hier aus aber wird auch bewusst, dass die Freiheit, die beim Menschen als unhintergehbarer Ursprung seiner Individualität begriffen werden kann, an mitmenschliche Bedingungen gebunden ist. Nicht genug, dass jeder erst unter dem Einfluss der Erziehung zu einem freien Verhalten gebracht werden kann; er ist auch im Verständnis dessen, was er aus eigener Einsicht und aus eigenem Anspruch tut, an die semantischen und pragmatischen Regeln gebunden, an die sich jeder halten muss, wenn er verstanden werden will. Damit ist die Indikation von Freiheit sowohl an die ganzheitliche Disposition eines Organismus als auch an die Gegenseitigkeit von Aktion und Reaktion in einem sozialen Ganzen gebunden. In ihr kommt mit der Eigenart einer naturgeschichtlich gewachsenen physis auch die Natur eines sozialgeschichtlich entwickelten nomos zum Tragen. Sie zeigt, wie und was ein Individuum ist und hat damit beim Menschen stets auch eine personale Qualität. Da wir in der christlichen Exposition allein vor Gott dazu neigen, den Menschen als Person aus seinen gesellschaftlichen Bezügen zu lösen, sei erneut hinzugefügt, dass diese personale Qualität immer auch Momente unterschiedlicher Rollenerwartungen umfasst. In der Freiheit des Individuums kommt seine soziale Natur zum Ausdruck. Der Einzelne ist gerade in dem, was ihm wesentlich ist, mit seinem historisch konturierten sozialen Umfeld verknüpft. Das kann man als eine tragische Konstellation 8

Dazu in einer (gemessen an früheren Abgrenzungen) überraschenden Annäherung an die Anthropologie: Jürgen Habermas: Freiheit und Determination. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), H. 6, S. 871 – 890.

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begreifen: Gerade in seiner Freiheit, in der sich der Einzelne selbst zum Ausdruck bringt, trägt er nicht nur die Insignien seiner physiologischen und psychischen Konstitution, sondern ist auch auf die habituellen Regularien seiner sozio-historischen Disposition festgelegt. Das gilt es zu beachten, wenn der Mensch seine politische Freiheit in Anspruch nimmt. In ihr ist er dem, worauf er sich bezieht, immer schon auf das Engste verbunden. 4. Ein tragischer Gegensatz. Gesetzt, der Mensch muss als zo¯on politikon begriffen werden, dann ist seine Freiheit, auch wo er nur einen privaten Gebrauch von ihr macht, nicht ohne politische Bezüge. Wenn die Politik beansprucht, dem Menschen das soziale Ganze bereitzustellen, in dem er sich in Übereinstimmung mit seinesgleichen nach eigenen Zielen erhalten und entfalten kann, bietet sie die gesellschaftliche Einheit an, die er zum Verständnis seiner Freiheit benötigt. Gehen wir nun in Übereinstimmung mit der politischen Theorie (die überhaupt erst mit Platon beginnt) davon aus, dass die Politik selbst auf Freiheit beruht, stoßen wir auf eine Dialektik, in der das Leben des Einzelnen mit dem Schicksal seiner politischen Gemeinschaft innerlich und äußerlich verbunden ist: Die Freiheit, die ein Mensch in Anspruch nimmt, muss bereits im Selbstverständnis seiner politischen Organisation verankert sein. In der aber kann sie nur zur Geltung kommen, wenn Einzelne für sie ein Beispiel geben. Diese Notwendigkeit, in der das Selbstverständnis des sich als frei begreifenden Menschen mit der als Garant seiner Freiheit auftretenden Politik verschwistert ist, kann jederzeit einen tragischen Konflikt erzeugen. Wann immer das Individuum sich gegenüber dem Staat auf seine Freiheit beruft, während der Staat ihm unter Berufung auf seine Aufgabe, die Freiheit zu schützen, widersteht, kommt es zu einem existenziellen Gegensatz. Beide Seiten nehmen Freiheit für sich in Anspruch, und verweisen damit auf das, was ihnen selber wesentlich ist. Beide erklären, das zwingend Gebotene, das ihrer Einsicht Entsprechende und insofern Notwendige zu tun – und stehen damit in unversöhnlicher Opposition. Das ist die Grundkonstellation eines tragischen Konflikts, der verhängnisvolle Konsequenzen für beide Seiten haben kann. Sie zeigen sich meist im tödlichen Scheitern des Individuums, das aktuell über die schwächeren Kräfte verfügt. Sie können aber auch die Macht des Staates zerrütten, wenn er im Konflikt sein Ansehen verliert. Dann können innere Kämpfe die Folge sein, die ihn schwächen und zum Opfer anderer Mächte werden lassen.

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Damit sind wir an dem Punkt, an dem die allgemeine Betrachtung über die Freiheit und ihre tragische Einbindung in die Politik zum Urheber der Einsicht übergehen kann, die dieser Betrachtung den Titel gibt: Im Prozess gegen Sokrates hat Platon die sein Leben bestimmende Erfahrung gemacht, dass der tragische Konflikt zwischen der individuell praktizierten und der autoritativ behaupteten Freiheit für beide Seiten tödlich endet. Der Angeklagte verliert sein Leben, weil er auf die öffentliche Ausübung der Freiheit nicht verzichten will, auf die noch Perikles die Größe Athens gegründet hatte.9 Die Stadt Athen aber demonstriert mit der Vollstreckung des Todesurteils ihre innere Schwäche, verliert ihre Autorität und büßt innerhalb eines Menschenalters ihr Selbstvertrauen derart ein, dass es Demosthenes noch nicht einmal mehr gelingt, den Athenern Mut zu machen.10 Der Prozess gegen Sokrates ist paradigmatisch für ein tragisches Geschehen, das nicht in mythischer Ferne liegt und nicht von Schauspielern zur Aufführung gebracht werden muss. Es hat sich mitten im Athen der Athene abgespielt, in der Stadt, die sich theoretisch wie praktisch als ,Schule von Hellas‘, als Beispiel politischer Praxis und als Schule politischer Theorie empfohlen hatte.11 In diesem Geschehen hat zunächst der tugendhafteste aller Bürger sein Leben lassen müssen, dann folgte der Niedergang der ganzen Stadt. Das ist die reale Tragödie der Politik, die den Bürger mehr betrifft als das Schauspiel, das man bühnenwirksam vor seinen Augen zur Aufführung bringt. Dass es hier tatsächlich um den konkurrierenden Anspruch auf die Freiheit des Einzelnen einerseits sowie auf die sich darauf gründende Macht der Gesetze andererseits geht, hat Platon in einem seiner ersten der Politik gewidmeten Texte dargelegt. Im Kriton steht der auf die Vollstreckung des Todesurteils wartende Sokrates vor der Frage, ob er die Chance der ihm angebotenen Flucht aus dem Gefängnis ergreift. Die Umstände machen deutlich, dass es nur auf seine Entscheidung ankommt. Er trifft sie im Bewusstsein seiner zwar auf vielen natürlichen und geschichtlichen Bedingungen beruhenden, letztlich aber auf seiner Freiheit gründenden Zugehörigkeit zur Bürgerschaft Athens. In der bekannten Traumszene erinnern ihn die Gesetze daran, dass er alle „Verträge und Versprechungen“ (synthe¯ka kai homologia), in denen er zeit seines Lebens seine Treue zur Stadt bekundet hat, brechen würde, wollte er ihnen nun, 9 Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II, 39. 10 Vgl. Demosthenes, Erste Rede gegen Philippos (vermutlich 351 v. Chr.), 1 – 7. 11 Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II, 41.

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da sie seinem Willen widersprechen, die Gefolgschaft aufkündigen.12 Zugleich aber ist klar, dass sich die Gesetze in ihrem autoritativen Auftritt auf nichts anderes stützen können als eben auf diese „Verträge und Versprechungen“, die es möglich machen, dass die Bürger ihren Schutz suchen. „Denn wem würde eine Stadt wohl gefallen ohne die Gesetze!“13 5. Das Monogramm der Freiheit. Wenn die Freiheit ursprünglich im Vollzug der lebendigen Bewegung angelegt ist, muss sie der Politik bereits in jenen Zeiten zugrunde liegen, in denen noch kein Begriff für sie gefunden ist. Deshalb ist es verkürzt, den historischen Auftritt des Politischen an den emphatischen Gebrauch des Begriffs bei den Griechen zu knüpfen.14 Der Geist der Freiheit findet in der Literatur Ägyptens schon mehr als tausendfünfhundert Jahre vor den griechischen Tragikern einen derart beredten Ausdruck, dass wir Grund haben, die bereits weitere tausend Jahre früher erfolgte Gründung des altägyptischen Reiches mit dem Freiheitsverlangen Einzelner zu verbinden.15 Doch man kann sich von den vermutlich auf immer im Dunkel der Geschichte liegenden Anfängen des Politischen lösen, wenn man festhält, dass Freiheit bereits in der Spontaneität wirksam ist, in der sich etwas nach seiner eigenen Natur, d. h. nach der Eigenart seiner spezifischen Organisation bewegt. Denn nach eigener Einsicht zu handeln und sich so lange frei zu wissen, wie man von Anderen nicht gezwungen wird,16 ist keine Erfahrung, die sich auf Individuen beschränkt. Als frei kann auch der 12 Platon, Kriton, 52c/d [alle Übers. Platons v. Verf.]. 13 Platon, Kriton, 53a. 14 Das ist der Fehler in den verdienstvollen Arbeiten von Christian Meier, insbesondere in ders.: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt a.M. 1980. Dazu kritisch: Volker Gerhardt: Zur Herkunft der Politik. In: Merkur 708 (2008), S. 430 – 435 (vollständig in: ders.: Exemplarisches Denken. Aufsätze aus dem Merkur. München 2008, S. 285 – 295). In einer früheren Studie konnte Meier zeigen, welchen bedeutenden Beitrag die Dichter der Tragödien, namentlich Aischylos und Sophokles, zur Entfaltung des politischen Bewusstseins der Griechen geleistet haben (vgl. Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988). 15 Verwiesen sei auf die Klage des Lebensmden sowie auf die Beschwerde des Oasenmanns, zwei Texte aus dem Mittleren Reich kurz nach 2000 v. Chr. 16 So lautet auch die genuin politische Bestimmung der Freiheit bei Bodin: „Natürliche Freiheit bedeutet für uns, […] keinem lebenden Menschen unterworfen zu sein und von niemandem anderen Befehle entgegenzunehmen zu haben als von sich selbst“ (Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Buch I-III. Übers. u. mit Anm. versehen v. Bernd Wimmer. München 1981, Buch I, Kapitel 3, S. 115).

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Anspruch von gesellschaftlichen Gruppen gelten, sich als Ganze zu organisieren. Sobald sie sich unter der Leitung von Räten und Regenten Ziele setzen, sobald sie Grenzen ziehen und sich selbst Gesetze geben, bestimmen sie sich als Ganze selbst und wollen keinem fremden Willen unterworfen sein. Das kann schon in kleinen Gruppen geschehen, wann immer eine Anzahl von Menschen sich in der Verfolgung gemeinsamer Zwecke zusammentut. Sie haben ihre Gründe für die engere Kooperation, der sie in Abhängigkeit von ihren Zielen und Mitteln Regeln geben, denen dann jeder Einzelne zu folgen hat. Auch hier wird man die Freiheit in der Mitwirkung erkennen, sofern die einzelnen Individuen nicht mit Gewalt zur Teilnahme an gemeinsamen Aktivitäten gezwungen werden. Die Organisation eines politischen Ganzen setzt kooperative Leistungen der Individuen und einer größeren Zahl verschiedener Gruppen voraus, geht im spezifisch politischen Anspruch aber über die Kooperation im Arbeitszusammenhang hinaus. Sie ist deshalb umfassender, weil sie eine Lebensform erhalten oder durchsetzen will, die gegebene Aktivitäten insgesamt einer Vorstellung von einem Ganzen unterwirft. Ihr Ziel ist darauf gerichtet, dem Ganzen einer Stadt, eines Volkes oder eines Landes eine Form zu geben, die nicht nur sachliche Erträge, sondern auch repräsentative Leistungen erbringt, in denen sich die Einheit des Ganzen symbolisch darstellen kann. Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass die politischen Formen gesamtgesellschaftlicher Einheitsbildung nicht ohne Einsatz von Gewalt entstanden sind, können sie dennoch so lange als freier Zusammenschluss der Menschen gelten, wie es zu nicht erzwungenen Handlungen im Interesse des Ganzen kommt. Im Zeichen einer Einheit stiftenden Vorstellung geschieht dann etwas ,von selbst‘. Eine Vielfalt von Kräften wird gegen eine Vielfalt von Widerständen ins Feld geführt, um unter einem leitenden Willen etwas zu erreichen, dessen Realisierung von der überlegenden Kombination von Kräften abhängt. Freiheit äußert sich im Einfluss auf diese Kombination und damit in der Fähigkeit, in einem Feld von Möglichkeiten eigene Optionen zu verfolgen. Nach allem, was wir wissen, kommt es zur Organisation politischer Verbände erst, wenn eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist: Vorausgesetzt, es gibt eine größere Besiedlungsdichte und bei nomadischen Eroberern einen Innovations- oder Bevölkerungsdruck; vorausgesetzt, es gibt eine verstärkte Arbeitsteilung, erhöhte Leistungen im Bau- und Kriegswesen, in Handel und Verkehr, in Rechtspflege und schriftlicher Kommunikation, in Medizin, Erziehung und kalendarischer Ordnung

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sowie im Fest- und Totenkult; vorausgesetzt, die Macht habenden Personen wollen ihrem Willen Dauer verleihen, so dass er über ihre Lebensgrenze hinaus wirksam bleiben kann; vorausgesetzt schließlich, dass die Akteure sich als eigenständige Individuen begreifen, muss Politik als der Versuch verstanden werden, dem Willen von Menschen eine institutionelle Form zu geben. Das aber ist nichts anderes als der auf die Mitwirkung von Vielen gegründete Versuch, die Freiheit von Menschen in eine Ordnung zu bringen, die nur zu begründen ist, wenn jeder in ihr seine eigene Freiheit finden kann. Das Monogramm der Freiheit ist in jeden politischen Anspruch eingetragen, selbst dort, wo von ihr noch nicht die Rede ist. So verdächtig idealistisch diese Beschreibung der Politik auch erscheinen mag: Sie sucht nur die in der Selbstdarstellung der politischen Akteure in Anspruch genommene Logik des Politischen auszusprechen: In der öffentlichen Präsentation politischer Absichten wird die Einheit des Volkes so beschworen, dass darin ein Appell an die Einsicht eines jeden liegt, nicht abseits zu stehen. Damit wird die Selbstbestimmung aller in Verbindung mit der Selbstbestimmung eines jeden herausgefordert. Wie viel Freiheitspathos darin von Anfang an liegt, zeigen uns die politischen Reden, wie sie von Herodot und Thukydides, von Isokrates und Demosthenes, von Livius und Cicero überliefert sind. Selbst noch die Ansprachen Caesars und die Res gestae des Augustus sind voll davon. Dass darin durchaus der moderne Sinn von Freiheit getroffen ist, tritt hervor, sobald man erkannt hat, dass der humane Sinn von Freiheit in der Unabhängigkeit des eigenen Willens vom Zwang durch den Willen eines Anderen liegt. Dann besteht die Aufgabe der Politik in der Entfaltung und Erhaltung eben dieser Freiheit – gerade auch unter der Bedingung der Lenkung einer größeren Gemeinschaft durch einen leitenden Willen. Das Ganze soll einer Direktive folgen, der alle aus eigener Einsicht zustimmen können. Die Herrschaft soll dem Ganzen eine Richtung geben, der jeder mit seinen besten Kräften folgen kann. Das ist der Grundgedanke der Partizipation, in der jeder Einzelne sich von selbst als Teil des Ganzen versteht, das Ganze aber seinen Sinn aus der Sorge um den Bestand seiner Einheit bezieht, in der die Bedeutung der Teile wächst. Die unter Zwang getroffene Einwilligung muss als Ausnahme gelten, die später zumindest eine stillschweigende Zustimmung erforderlich macht. Die Politik ist damit, längst bevor sie sich ihr konstitutionell verschreibt, auf Freiheit gegründet. Ihr eigener Anspruch, dem sie zwar oft genug zuwider handelt, öffentlich jedoch nicht widersprechen kann, macht es ihr zur Auflage, die Menge von Menschen so zu organisieren,

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dass die Freiheit eines jeden mit der Freiheit aller Anderen zusammen bestehen kann. Das ist das in jeder politischen Vereinigung liegende Versprechen. In ihm liegt die Größe des politischen Anspruchs, aber auch, wie sich zeigen wird, die Tragik des politischen Tuns. Wenn man die Politik im Anschluss an Kant (und in leichter Abwandlung von Rudolf von Jhering) als „Kampf um das Recht“ definiert,17 liegt ihr sich bislang unablässig wiederholendes Unglück auch darin, dass keine Bemühung des Menschen so viele Rechtsbeugungen und Rechtsbrüche nach sich zieht wie die Politik, obgleich sie es ist, der wir die Institutionalisierung des Rechts verdanken. Deshalb ist es so wichtig vom Kampf ums Recht zu sprechen, der, wie jeder Kampf, auch vergeblich sein kann. 6. Das Versprechen der Freiheit. Schon die ältesten Berichte über das politische Geschehen geben zu erkennen, wie wichtig das Versprechen von Sicherheit und Unabhängigkeit ist. Könige, Tyrannen und ihre Widersacher fordern, man möge ihnen vertrauen; nur dann könnten sie wirksam Schutz und Hilfe gewähren und am Ende auch das Leben erleichtern. Sie unterstellen, dass der politische Gehorsam allen Vorteile bietet und für die Lebensführung des Einzelnen günstig ist. Um Freiheit geht es vor allem dort, wo die Abwehr von Fremdherrschaft gefordert wird. Aber auch der Reichtum, der vornehmlich den Wort- und Truppenführern in Aussicht gestellt wird, an dem aber letztlich alle Bürger teilhaben sollen, schließt die Möglichkeit ein, mit Hilfe der eigenen Mittel tun zu können, was man will. Das in der Politik von Anfang an verheißene Glück, insbesondere wenn es mit materiellen Gütern verbunden ist, schließt immer auch ein Freiheitsversprechen ein. Herodots Historien sind voll von Zusicherungen, die Machthaber ihren Vertrauten und der Menge geben, um sich deren Unterstützung zu sichern. Im weiteren Verlauf der Geschichte wird dann deutlich, wie leichtfertig die Verheißungen gewesen sind. Eine Erfolgschance haben die Akteure ohnehin nur, wenn sie auf den Vertrauensvorschuss der Mittäter und des Volkes rechnen können. Politik, auch wenn sie primär auf das Handeln der Mächtigen setzt, ist zu allen Zeiten darauf angewiesen, Andere zur Mitwirkung zu gewinnen, und ihnen, im Fall ihrer Beteiligung (oder ihres Stillhaltens), Anteile am erwarteten Gewinn in Aussicht zu stellen. 17 Dazu: Volker Gerhardt: Partizipation. Das Prinzip der Politik. München 2007, S. 325.

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Partizipation ist das erstmals von Platon und Aristoteles exponierte, seit Wilhelm von Morbeke und Nicole Oresme im spätmittelalterlichen Denken verbreitete, später in das politische Denken der Neuzeit als selbstverständlich übernommene und alles andere als idealistische Grundprinzip allen politischen Handelns. Partizipation also setzt zwar auf den tatsächlich erbrachten Beitrag der zur Mitwirkung benötigten Menschen, kommt dabei aber niemals ohne einen Vorgriff auf Kommendes aus. Sie muss drohende Gefahren beschwören und deren Abwendung für möglich halten; sie muss von Zielen sprechen, die unter Umständen Opfer kosten, dann aber günstigere Verhältnisse schaffen oder einen gelobten älteren Zustand wiederbringen. Die zuständigen Personen müssen nicht nur verlässlich, sondern auch zuversichtlich wirken, und die Menge, die ihnen trauen soll, hat den in Aussicht gestellten Erfolg für möglich zu halten. Die Gegenwart des Politischen ist wesentlich auf eine Zukunft gegründet, die keiner kennt. Diese Grundstruktur des Politischen lässt das Schlimmste befürchten, das nur durch die sich tatsächlich ereignende Geschichte übertroffen wird: Denn die prinzipiell nicht zu behebende Ungewissheit über das Kommende wird von den Macht habenden (oder nach Macht strebenden) Akteuren mit stärksten Vorstellungen besetzt. Dadurch, dass sie Andere bewegen möchten und bewegen müssen, neigen sie zur Behauptung eines Wissens, das sie gar nicht haben können. Da die Politiker überzeugen müssen, wenn ihnen jemand folgen soll, geben sie sich sicherer als es ihre beschränkten Kenntnisse erlauben. Und wenn sich, was meistens der Fall ist, ihre Vorhersagen nicht erfüllen, setzen sie alles daran, die Schuld bei ihren Widersachern zu suchen. Das führt dann dazu, dass sich die Realität als noch schlimmer erweist, als sie es nach dem Scheitern ohnehin schon ist. Die strukturelle Selbstüberschätzung der politisch Handelnden erhöht ihre Irrtumsanfälligkeit auch dadurch, dass sie, zumindest in öffentlicher Rede, die ihnen entgegenstehenden Widerstände kleinreden müssen. Das kann so weit führen, dass sie gar nicht mehr glauben können, ernsthafte Widersacher zu haben; sie vergessen insbesondere die Feinde in ihrer nächsten Nachbarschaft, die sich vorzüglich unter ihren politischen Freunden finden. Das erklärt sich leicht, weil es um viel für Viele geht und mit der Konkurrenz auch die Gelegenheiten für den Opportunismus zahllos sind. So gibt es neben der Politik kein anderes Handlungsfeld des Menschen, in dem jedem mit so großer Verlässlichkeit Gegner entstehen. Und wo sie nicht von vornherein sind, werden sie im Gang des Geschehens gemacht, weil die unvermeidlich in vielem irrenden politischen

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Akteure nur zu oft Andere benötigen, denen sie im Fall ihres Versagens die Schuld zuschieben können. Das ist die Kehrseite der Sicherheit, mit der sie über die Zukunft zu gebieten suchen. Das führt zu vielfältigen Verwerfungen, die sich dadurch verschlimmern, dass die politischen Akteure durch die angemaßte Sicherheit ihrer Prognosen schuld daran sind, dass nach ihrem Scheitern auch die Enttäuschung maßlos ist. Die siegesgewisse Propaganda beflügelt die Erwartungen und führt im Fall des Versagens zu einem besonders tiefen Sturz. Entweder kommt es alsbald zum Wechsel des herrschenden Personals, mit dem der Kreislauf des Versprechens in eine neue Runde geht, oder die Machthaber müssen sich der Unzufriedenen erwehren, so dass ihre Herrschaft, wenn sie es nicht schon vorher war, in ein Regime der Unterdrückung umschlägt. 7. Das weltgeschichtliche Elend des politischen Handelns. Die politische Hoffnung ist, dass der Umschlag von der Verheißung in die Unterdrückung durch periodische Machtwechsel, reguläre Kontrollen, Gewaltenteilung und öffentliche Aufmerksamkeit verhindert werden kann. Die Geschichte der politischen Ereignisse gibt freilich allen Anlass, die Erwartungen nicht zu hoch zu stecken. Gleichwohl verpflichtet die Tatsache, dass Menschen das Leben unter politischen Bedingungen nicht fliehen, in vielen Fällen geduldig ertragen und nicht selten sogar begeistert begrüßen, in der Anstrengung nicht nachzulassen. Es gibt offensichtliche Vorteile des Politischen, die bewirken, dass Menschen die staatsförmigrechtliche Ordnung dem Dasein ohne politische Herrschaft vorziehen. In der die Politik von Anfang an begleitenden Alternative zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit optiert die überwiegende Zahl von Menschen für das Gesetz. Dennoch hat sich das dafür ausschlaggebende Sicherheitsverlangen nie dauerhaft erfüllt. Das gute oder angeblich bessere Leben, sofern man es unter politischen Konditionen denn wirklich führen konnte, war mit großen Nachteilen verbunden. Die Chance, zu gesichertem Besitz, vielleicht auch zu Reichtum zu gelangen, war augenscheinlich größer, blieb aber großen Risiken ausgesetzt. Die Verteilung der im politischen Raum mächtig anwachsenden Güter war großen Schwankungen unterworfen; überdies hat sie den Kriterien der Gerechtigkeit nie entsprochen. Gewiss haben sich im Gang der Jahrtausende die Freiheitsgrade in den politischen Populationen erhöht. Doch der erreichte Stand kann schon deshalb nicht zufriedenstellen, weil die Ansprüche mit der er-

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reichten Technisierung und der weit verbreiteten Individualisierung gewachsen sind. Hinzu kommt, dass die wichtigste Neuerung in der Weltgeschichte des Politischen überhaupt – die Positivierung des Natur-, Vernunft- und Menschenrechts – ein kodifiziertes Grundrecht auf Freiheit, Gleichheit und menschliche Würde geschaffen hat. Man kann nicht bestreiten, dass es dadurch größere Sicherheiten gegenüber willkürlichen Übergriffen der Staatsmacht gibt und dass auch die Übermacht von Interessengruppen kontrolliert werden kann. Gleichwohl reichen die seit zwei Jahrhunderten gemachten Erfahrungen aus, um zu erkennen, dass uns die verbrieften Menschenrechte auf lange Sicht und in allen Feldern des Politischen vor Augen führen, wie groß die Lücke zwischen programmatischen Verheißungen und realen Leistungen ist. Mit Blick auf die großen Ziele, die bereits im Gerechtigkeitsideal der Pharaonen festgehalten sind und von denen die sumerischen Gesetzbücher, die alttestamentlichen Propheten, Solons Weisheitssprüche und die Lehren des Konfuzius künden, mit Blick also auf die bereits die Anfänge der Politik begleitenden, Freiheit und Gleichheit einschließenden Konzeptionen von Recht und Rechtmäßigkeit kann man von einem beinahe mit jedem Herrscher wiederkehrenden Scheitern sprechen. Herodot ist der erste Chronist dieses fortgesetzten Versagens. Damit wollte er den Griechen auf ihrem eigenen Weg in die polis-Welt Mut zusprechen; sie sollten die Chance haben, es anders und besser zu machen. Doch die auf diesen ersten kritischen Historiker folgenden Geschichtsschreiber haben, von Thukydides bis in die Gegenwart, immer nur das Scheitern politischer Pläne konstatieren können. Sigmund Freud hat von drei großen „Kränkungen“ der Menschheit gesprochen. Die erste verband er mit der Leistung des Kopernikus, die zweite mit der Darwins und die dritte, bescheiden wie er war, hat er mit seiner eigenen Leistung, der Psychoanalyse verknüpft. Die Auguren des 20. Jahrhunderts haben das nicht nur gerne wiederholt, sondern auch noch weitere Kränkungen angeführt. Ich erwähne nur die drohende Selbstvernichtung in der Folge einer Freisetzung der Kernenergie, die Selbstentmachtung des Menschen im Zuge der elektronischen Revolution oder seine Selbstüberholung in der Anwendung der Gentechnologie. Mir liegt es fern, die Schraube modernistischer Selbstverletzung weiter anzuziehen. Das hat auch damit zu tun, dass es einen viel älteren Vorgang der Selbstkränkung des Menschen gibt, nämlich den durch den Aufbau politischer Institutionen. Die manifesten Verführungen und Verletzungen, die Verheerungen und Verwüstungen, die durch sie in die

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Welt gekommen sind, haben eine ganz andere Dimension als das, was Kopernikus, Darwin und Freud einer vergleichsweise kleinen Zahl von rückständigen Geistern abverlangt haben. In der Politik sind von Generation zu Generation Tausende, ja Millionen und Abermillionen Menschen damit beschäftigt, ihr Leben für Ziele einzusetzen, die sie günstigsten Falls am Leben lassen. In unzähligen anderen Fällen aber werden nicht nur die Protagonisten und ihre Helfer, sondern vor allem die ihnen folgenden Massen Opfer ihres Einsatzes für die von ihnen verfolgten Ziele. Es gibt keinen anderen Vorgang mit vergleichbarer Dramatik. Nirgendwo sonst gibt es so hohe Verluste an Blut und Leben. Auf keinem anderen Terrain der kulturellen Evolution wird mit größerem Einsatz an Individuen und Ideen um Vorteile gerungen. Das Ausmaß der Niederlagen ist gewaltig, der Fortschritt ist gering und jederzeit gefährdet. Hinzu kommt, dass sich der Mensch nirgendwo anders so spektakulär in Szene zu setzen versucht. Nirgendwo anders wird der Mund so voll genommen und mit so viel Aufwand von einer besseren Zukunft gesprochen. Doch auf keinem anderen Feld des menschlichen Handelns folgt die Enttäuschung mit so hoher Wahrscheinlichkeit. Man braucht viel guten Willen, um den Eindruck abzuwehren, die politische Welt bestehe letztlich nur aus selbstverschuldeten Katastrophen, wobei es unerheblich zu sein scheint, ob die Menschen guten oder bösen Willens sind. 8. Kein erlçsendes Ziel in Sicht. Der politischen Selbstverletzung des menschlichen Geschlechts geht die technische Kränkung voraus. Sie besteht darin, dass jede zum Zweck der Lebenserleichterung gemachte Erfindung auch zum Schaden des Menschen gereichen kann. Diese Dialektik verunsichert das menschliche Dasein zutiefst, und sie verändert es, weil sie eine strenge Disziplin im Umgang mit seinen eigenen Leistungen verlangt. Aber erst unter der Anleitung der Politik, die sich übrigens selbst als eine Technik der Institutionen beschreiben lässt, führt die technische Selbstgefährdung des Menschen zu verhängnisvollen Umbrüchen. Das zeigt sich allein daran, dass die Geschichte der Politik wesentlich durch die Innovationen in der Waffen- und Kriegstechnik vorangetrieben wird. Wir brauchen nur an die Erfindungen des 20. Jahrhunderts zu denken, um uns klar zu machen, wie leicht es kommen kann, dass wir an ihnen zugrunde gehen. Die damit gestellte Diagnose bezieht sich auf den ganzen Raum der politischen Geschichte, die bis in die Zeit der ersten Burgsiedlungen und Reichsgründungen des Vorderen Orients vor gut sechstausend Jahren

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zurückreicht. Die Politik ist keine europäische Erfindung. Europa hat sich nur als besonders produktiv im Umgang mit seinen inneren Gegensätzen erwiesen und hat sie rechtstechnisch effektiviert. Der rastlosen Rationalität der Europäer verdanken wir nicht nur die spirituelle, ästhetische, szientifische und ökonomische Unruhe, sie ist nicht nur in der Entfesselung der Vernichtungskräfte hervorgetreten, sondern hat überdies die rechtliche Domestikation des Politischen ermöglicht, der wir den Prozess der formellen Konstitutionalisierung verdanken. Darin liegt eine große politische Hoffnung. Wir dürfen aber nicht verschweigen, dass dieser Vorgang, der uns auf eine globale Wende im politischen Geschehen setzen lässt, eine der verlustreichsten und blutigsten Perioden der Weltgeschichte eingeleitet hat: Die Französische Revolution schlug in den Terror um. Darauf folgte der ganz Europa in Mitleidenschaft ziehende napoleonische Furor. Im Widerstand gegen ihn blühte die so harmlos erscheinende romantische Abkehr von der Aufklärung, sie führte Begabungen wie Marx und Nietzsche herauf und begünstigte den Radikalismus kommunistischer und rassistischer Bewegungen. Zwar gelang es, den Nationalstaat mit der Idee des Rechts zu verknüpfen, so dass er im Verhältnis zu seinen Bürgern durch Rechtssprechung gezähmt werden konnte. Doch umso ungehemmter entlud sich seine technisch-ökonomische Potenz in einer Kaskade von Kriegen. Sie mündete 1914 in einen finalen Krieg der alten europäischen Mächte, von dem sie sich nie mehr erholten, und führte ab 1931 in den ersten echten Weltkrieg im globalen Maßstab, in dessen Mittelpunkt zwar die Raubzüge Hitlers standen, der aber erst mit dem Koreakrieg 1953 wirklich zu Ende war.18 Ein über zwanzig Jahre dauernder Weltenbrand ist kaum geeignet neue Hoffnungen zu beflügeln. Trotzdem halten wir an ihnen fest. Neben den Kriegen, die auf die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit versprechende bürgerliche Revolution in Europa folgten, ist der zweite große koloniale Schub nicht zu vergessen, der die Identität vieler überseeischer Völker zerstörte und ihnen den größten Teil ihrer Reichtümer nahm. Die Folgen der Willkür des Kolonialismus haben schließlich den weltweiten Terrorismus ausgelöst und machen einen Atomkrieg wahrscheinlicher als je zuvor. Dennoch gilt, dass, wer die Moderne zum Hort des Bösen erklärt, fast alles vergessen muss, was vorher geschehen ist. Überdies gerät er mit Blick 18 Bernd Wegner: Wann begann und wann endete der Zweite Weltkrieg? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 185, 12. 8. 2009, S. N 3.

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auf die Zukunft in eine ausweglose Lage, denn er hat so zu tun, als könne der Verzicht auf die Neuerungen der Moderne eine Wende zum Besseren nach sich ziehen. Denken wir allein an die von der konservativen Kulturkritik benannten Hauptverdächtigen wie den Rationalismus, den Individualismus, den Liberalismus, die Aufklärung, die Wissenschaft, die Technik oder die Säkularisierung, dann ist bei nüchterner Betrachtung leicht zu sehen, dass ein Versuch, das mit ihnen erreichte kulturelle Niveau wieder zu verlassen, eine Katastrophe nach sich ziehen würde, die alles in den Schatten stellte, was bislang an Opfern erbracht worden ist.19 Ich versage es mir, dies angesichts einer Weltbevölkerung von bald 7 Milliarden Menschen auszumalen. Es genügt zu wissen, dass sich ohne das technische Instrumentarium der wissenschaftlichen Zivilisation nur noch ein geringfügiger Prozentsatz der Weltbevölkerung am Leben halten könnte. Hier tritt das Schwergewicht des politischen Handelns in vollem Umfang hervor: Derzeit bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als den Raubbau an der Natur und an ihren eigenen Kräften fortzusetzen, um wenigstens die zu ernähren, die derzeit am Leben sind. Ob man ihnen nicht eben durch den Versuch, ihr Überleben zu sichern, die Zukunftschancen nimmt, ist eine ernsthafte Frage. Man kann auch nicht einfach zu einer rigorosen Geburtenkontrolle übergehen, weil damit das Grundrecht der Freiheit verletzt wäre. Das ist das Dilemma, in dem die Menschheit heute lebt: Verzichtet sie auf den Einsatz selbstzerstörerischer Mittel, hat sie nicht mehr genug, um überleben zu können; unternimmt sie es, das Leben aller zu sichern, kann sie den Überlebenden keine Aussicht auf eine bessere Zukunft geben. Mit ihrer bloßen Selbsterhaltung beschleunigt sie ihren Untergang; stemmt sie sich ihm durch Konsum-, Produktions- und Energieverzicht entgegen, verstößt sie gegen das Recht auf Leben. Das ist eine verzweifelte Lage, in der keine bestimmte Handlung eine Rettung verspricht, Nichtstun aber unverzeihlich wäre. 9. Blick zurck auf Platon. Was machen wir mit der gewonnenen Einsicht? Kehren wir der Politik den Rücken? Überlassen wir sie jenen, die weniger grundsätzlich urteilen? Vielleicht denen, die wie Hans Jonas meinen, man könne sich erlauben, weniger an der Freiheit des Einzelnen 19 Henning Ottmann, so scheint mir, übersieht die hier aufgezählten Risiken seiner so scharfsinnigen wie gelehrten Kritik an der Moderne in: ders.: Geschichte des politischen Denkens. Bd. 3.3: Die Neuzeit. Die politischen Strömungen im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 2008.

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interessiert zu sein? Oder denen, die glauben, dass es sie gar nicht gibt? Entschließen wir uns, auf Politik ganz zu verzichten, vielleicht mit dem Argument, ohne sie könne es nicht viel schlimmer kommen als mit ihr? Die Fragen gebe ich an Platon weiter, und dies aus zwei Gründen: Erstens hat er die Politik expressis verbis als „Tragödie“ bezeichnet, und zweitens ist er der erste politische Denker, dessen Theorie uns überliefert ist. Zwar lassen die Weisheitsbücher der Ägypter, die Gesetzbücher Hammurabis, die Schilderungen Homers, die Sprüche Heraklits, die Einsichten Solons und die Beispiele des Konfuzius keinen Zweifel daran, dass es schon lange vor Platon tiefe Einsichten in das Wesen des Politischen gegeben hat. Gewiss ist er nicht der erste, der sich der Sache systematisch angenommen hat. So ist eine Abhandlung des Protagoras bezeugt, in der sich der bedeutende Sophist eine Generation vor Platon mit den Fragen der politischen Ordnung und den Problemen der Gerichtsbarkeit befasst. Aber das Werk ist verloren, und auf welche Literatur es sich stützt, ist nicht bekannt. Davon abgesehen ist Platons Leistung so überragend, dass man es nicht für Zufall halten möchte, wenn alles, was vor ihm an philosophischen Betrachtungen über die polis geschrieben wurde, der Vergessenheit anheim gefallen ist. Sollte sich zeigen, dass es kongeniale Vorläufer gibt, würde das unserer Wertschätzung der älteren Tradition der Politik entgegenkommen und dennoch Platons Stern nicht geringer strahlen lassen. Es versteht sich von selbst, dass Platon vor beinahe zweitausendvierhundert Jahren noch nicht über die geschichtliche Erfahrung verfügen konnte, die ein Autor zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben kann. Dennoch findet sich schon bei ihm das Urteil über den tragischen Charakter der Politik. Er bezeichnet die Politik als die „einzig wahre Tragödie“ (trago¯idian te¯n ale¯thestate¯n) und nennt die Bürger, die sich um die Errichtung eines Staates bemühen, „Dichter einer Tragödie“, welche die „denkbar beste und schönste“ ist .20 So steht es im 7. Buch der Nomoi, Platons letzter und umfangreichster Schrift über die Politik, die heute immer noch zu wenig Aufmerksamkeit findet.21 In ihr schildert der greise Autor eine Unterredung zwischen 20 Platon, Nomoi, 817b. 21 Eine 2007 von Barbara Zehnpfennig veranstaltete Tagung über die Nomoi hat dem für den deutschen Sprachraum abzuhelfen versucht. Die Ergebnisse finden sich in: Volker Gerhardt u. a. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2008. Berlin 2008. Im Übrigen verweise ich auf Glenn R. Morrow: Plato’s Cretan City. A Historical Interpretation of the Laws. Princeton 21993 sowie auf Trevor J. Sa-

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einem Athener, hinter dem man Solon, Sokrates, aber auch ihn selbst vermuten kann, und zwei Gesprächspartnern aus Knossos und Sparta. Thema ist die Gründung einer neuen Stadt, die den Namen Magnesia tragen soll und in deren Anlage, Aufbau und Verfassung die politischen Erfahrungen der Athener, der Kreter und der Spartaner eingehen sollen. Das ausladende Vorgespräch, das eine Natur- und Kulturgeschichte des Politischen bietet, macht klar, dass die Gründer und die Siedler aus allem lernen sollen, was überhaupt an historischen Erfahrungen vorliegt. Im Ganzen sind die Nomoi die umfassendste theoretische Abhandlung über die Politik, die uns die Antike hinterlassen hat. Sie erörtern die Probleme der Konstitution und der Legitimation, stellen die Verbindung zur Erziehung des Menschen her, heben die Bedeutung der Tugend heraus, erkennen in der Beteiligung der Bürger die zentrale Aufgabe der Politik, behandeln alle Grundsatzfragen der politischen Organisation bis in die Einzelheiten der Gesetzgebung, befassen sich mit den Verpflichtungen gegenüber den Göttern und enden mit der alle drei Gesprächspartner verbindenden Einsicht, dass der Mensch die alleinige Verantwortung für das Gelingen seines politischen Handelns hat. Das alles setzt außer Zweifel, dass Platon auch in seinem dritten großen Dialog über die Politik die höchste Meinung hat. Während er im ersten Werk, der Politeia, die politische Ordnung zum paradeigma der Tugend erhebt und sie so wichtig nimmt, dass die Philosophen ihre Erfüllung darin finden, sie nach der Art von Königen zu leiten, erkennt er im zweiten großen Dialog, dem Politikos, dass sich der Mensch erst im selbstbestimmten Zusammenleben mit seinesgleichen zu der seiner Vernunft gemäßen Form entwickelt. Man wundert sich, dass hier die Aristotelische Formel vom Menschen als zo¯on politikon noch nicht verwendet wird, und findet in der Beschreibung des leitenden Staatsmanns alle Attribute vor, die den besten Menschen auszeichnen.22 Die Tugenden müssen ihn befähigen, über die Gegensätze, deren Produktivität ein Staatswesen braucht, zu gebieten. Er muss natürlich über Vernunft verfügen, benötigt vor allem aber Urteilskraft, um in der Disposition über die widerstrebenden Kräfte in einer politischen Gemeinschaft situativ das Richtige für deren Einheit zu tun.23 unders: Plato’s Later Political Thought. In: Richard Kraut (Hg.): The Cambridge Companion to Plato. Cambridge 1992, S. 464 – 492. 22 Platon, Politikos, 292b ff. 23 Platon, Politikos, 279a ff. Dazu: Stanley Rosen: Plato’s Statesman. The Web of Politics. New Haven/London 1995.

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In den Nomoi schließlich sind es die Institutionen, denen die Aufmerksamkeit gilt, und es sind die Bürger insgesamt, denen Vernunft, Urteilskraft und Selbstbeherrschung abverlangt wird. Sie brauchen nur in der Lage zu sein, dem Ganzen ihrer Stadt Rechnung zu tragen und sich frei zu entscheiden, dann sind die elementaren Voraussetzungen für das Gelingen der Politik erfüllt. Es bleibt also bei der denkbar höchsten Auszeichnung des politischen Handelns. Der Vergleich mit der Tragödie kann daher nicht auf eine Disqualifikation des Politischen hinauslaufen. Er dient im Gegenteil dazu, der Politik das höchste Prädikat auszustellen. Sie bietet mehr, als die höchste Kunst zu bieten hat. Das sagt ein Autor, der selbst einmal Tragödiendichter werden wollte, es aber vorzog, ein Denker in der Nachfolge des Sokrates zu bleiben. Dabei stand er immer in Versuchung, wenigstens als Ratgeber politisch tätig zu sein. So glaubt man noch für die Nomoi sagen zu können, dass Platon mit diesem Buch Einfluss auf die Strafgesetzgebung in Athen nehmen wollte.24 Zugleich ist unstrittig, dass Platon ein Künstler ersten Ranges war. Nietzsche schätzt die Kunst der Platonischen Dialoge derart hoch, dass er in ihnen „das Vorbild einer neuen Kunstform“, das „Vorbild des Roman’s“ erkennt.25 Alles das macht die Erklärung der Auszeichnung der Politik als der „wahren Tragödie“ nicht leichter. Den wichtigsten Hinweis gibt der Mythos von der Spindel, im Politikos, der deutlich macht, dass der Mensch zur Politik verpflichtet, ja verurteilt ist, ohne die Aussicht auf einen bleibenden Erfolg zu haben. 10. Der Mythos von der Spindel. Im Politikos, dem Dialog, in dem Platon die Aristotelische These vom zo¯on politikon sachlich vorwegnimmt, die Einbindung der polis in die Natur beschreibt, kenntlich macht, dass es der Gegensätze zwischen den Individuen bedarf, um eine von einem urteilsfähigen Einzelnen geleitete politische Einheit zu erwirken, und schließlich zeigt, dass der beste Politiker jener ist, der die größten Selbstwidersprüche aus eigener Kraft zu disziplinieren versteht, wird ein Mythos vom Anfang und Ende alles Politischen erzählt.26 24 Klaus Schöpsdau: Platon als Reformer des Strafrechts – zu den Strafgesetzen in den Nomoi. In: Gerhardt u. a. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2008, S. 185 – 206. 25 Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 94. 26 In der Wertschätzung des Mythos, der von einflussreichen Interpreten als „fanciful Orphic myth“ (A. E. Taylor) oder als „fanciful story“ (J. A. Stewart) beiseite getan wird, folge ich Hans Herter: Gott und Welt bei Platon. In: Bonner Jahrbücher 158 (1950), S. 106 – 117, wieder in: ders.: Kleine Schriften. Hg. v.

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Der Mythos handelt von der Tragödie der politischen Existenz des Menschen: Das Weltgeschehen besteht im Ganzen aus zwei immer wiederkehrenden Perioden: In der ersten wickeln die Götter den neu gesponnenen Schicksalsfaden aller Menschen auf einer Spindel auf; in der zweiten Periode lassen sie den Faden los, so dass er bis zum Anfang zurückschnurrt und die Rolle der Spindel so blank ist wie zuvor. In der ersten Phase regieren die Götter, in der zweiten sind die von ihnen geschaffenen Wesen ihrem eigenen Schicksal überlassen. Das ist die weltgeschichtliche Stunde des Menschen. Während er in der ersten Periode unter der Obhut (epimeleia) der Götter steht, ist er in der zweiten seiner eigenen „Selbstbewegung“ (auto kine¯sis) überantwortet und seiner „Sorge für sich selbst“ (epimeleia he¯ autou) überlassen.27 Es ist die menschliche Freiheit (eleutheria; heko¯n), welche diese zweite Epoche bestimmt. In ihr ist er – als Gattung und als Individuum – sein eigener Herr (autepitaktike¯).28 In der Epoche des zurückschnurrenden Schicksalsfadens hat der Mensch das von den Göttern losgelassene Ruder29 selbst in die Hand zu nehmen. Und so liegt es allein an ihm, dass Staaten entstehen, sich eine gerechte Verfassung geben und sich gut regieren. Als politische Wesen sind die Menschen Stellvertreter der Götter. Sie rücken in die Funktionen ein, die von den Himmlischen aus Überdruss nicht wahrgenommen werden. In dieser Stellung herrschen sie nicht nur über sich selbst, sondern über alles, was zu ihrer Natur gehört. Die politische Herrschaft erstreckt sich folglich auf alle menschlichen Dinge. Sie führt neue Gestalten des Lebens herauf, ohne etwas absolut Neues zu schaffen. Alles, so muss man den Mythos verstehen, ist schon einmal da gewesen; alles kehrt, nach seinem definitiven Verfall, wieder zurück. Dabei gehört es zu den eindrucksvollen Lehren der Erzählung von den zwei Weltumläufen, dass der Mensch die volle Verantwortung für sein Schicksal zu übernehmen hat, obgleich er es sich nicht selber verdankt. Auch die Gewissheit, dass sein Handeln den für ihn günstigen Ernst Vogt. München 1975, S. 316 – 329. Ähnlich: Damir Barbaric´ : Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie. In: Gerhardt u. a. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2008, S. 225 – 241. Zur Deutung des Politikos verweise ich auf: Christopher J. Rowe (Hg.): Reading the Statesman. Proceedings of the III. Symposium Platonicum. St. Augustin 1995; Joseph B. Skemp: Plato’s Statesman. London 1952. 27 Platon, Politikos, 272e ff. 28 Platon, Politikos, 260e. 29 Platon, Politikos, 272e.

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Zustand der Welt nicht auf Dauer sichern kann, nimmt ihm nichts von seiner uneingeschränkten Zuständigkeit für seine Gegenwart. Sie schließt die Sorge für die künftigen Generationen ein, ist aber auf die Präsenz der Herrschaft über sich und seinesgleichen beschränkt. Über die geschichtlichen Folgen seines Tuns hat er ebenso wenig Macht wie über das Ganze, in dem er sich befindet. Nach dem Mythos von der Spindel besteht die Tragödie darin, dass alles politische Handeln, es mag noch so gut begründet sein, unabänderlich in einer Katastrophe endet, selbst wenn der Mensch nach besten Kräften alles richtig macht. Die Politik führt mit Notwendigkeit an das Ende der menschlichen Kompetenz. Eine heilsgeschichtliche Erfüllung ist nicht in Sicht. Wenn der Schicksalsfaden abgewickelt ist, steht die Selbstbewegung des Menschen still, seine Selbstbeherrschung – das Göttliche in seiner Seele – geht ins Leere. Die Möglichkeiten des nomos, des selbstgegebenen Gesetzes, sind erschöpft, so dass sich alle Hoffnung auf die Wiederkehr der physis – in diesem Fall: auf die Rückkehr der Götter – richtet. Die Götter freilich, diesen Trost hat der Mensch, gibt es, weil es im Wandel der Welt schon aus epistemischen Gründen etwas geben muss, das sich gleich bleibt. Tragisch ist bereits, dass der Mensch da einsetzen muss, wo er sich gerade befindet. Die Anfangsbedingungen seines Tuns liegen nicht in seiner Hand. Woher er kommt, wer er ist, welche Mittel ihm zu Gebote stehen, bestimmen die Götter. Er hat die Lage nicht geschaffen, für die er ohne sein Zutun gleichwohl die uneingeschränkte Verantwortung trägt. Ihm muss es wie eine Laune der Götter erscheinen, wenn er das weiterzuführen hat, worum sie sich nicht mehr kümmern. Die Überforderung liegt auf der Hand, erst recht, wenn ihm nunmehr auch die Schuld für Untätigkeit und Versagen aufgebürdet wird. Und am Ende wird ihm die Verantwortung wieder entzogen. Es bleibt kein Werk, keine bleibende Veränderung, kein definitiv erreichtes Ziel zurück. Die Götter rollen den Schicksalsfaden wieder von Neuem auf und die epochale politische Leistung war umsonst. Wenn es nicht die Götter wären, die das Lebenswerk zahlloser Generationen in Nichts auflösen, könnte man sagen, es sei sinnlos gewesen. Nur die Gegenwart der Götter, so unberechenbar sie sein mögen, vermag den Sinn der Geschichte zu retten. Umso mehr hätte Platon die Maßlosigkeit gewundert, mit der dem Menschen die Zuständigkeit für die Erhaltung des ,Seins‘ zugesprochen und am Ende sogar die Aufgabe für die Vollendung der Schöpfung überantwortet wird. Der Mythos von der Spindel korrigiert die Schwindel erregende Selbstautorisierung der Menschheit zur kosmischen

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Verantwortung, wie sie Hans Jonas – notfalls unter Verzicht auf die Freiheit – postuliert.30 11. Pragmatischer Distanzgewinn gegenber dem Ideal. Man kann die Nomoi als Platons Durchbruch zu einer auf Realisierbarkeit angelegten Theorie des Politischen lesen. Auch wenn die Politeia mit ihrer Lehre von der Entstehung des Politischen aus dem mit der Arbeitsteilung fortschreitenden System der Bedürfnisse und mit ihrer grundlegenden Parallele zwischen Person und Institution der Politik ein auf die gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten gegründetes Fundament verschafft, erregt ihr Plädoyer für den Verzicht auf Eigentum, für die Aufhebung der Rollendifferenz zwischen den Geschlechtern, für die schichtenspezifische Umsetzung der Seelengliederung sowie für die Philosophenherrschaft den Verdacht, sie habe die menschlichen Dinge aus den Augen verloren. So konnte der Eindruck entstehen, Platon sei der Idealist, der seine politische Utopie allein auf gedankliche Spekulationen gründet; deshalb halten ihn einige bis heute für einen Vorboten des Totalitarismus, den seine parteiliche Option für das dorische Sparta genötigt habe, ein Zwangssystem für alle zu entwerfen.31 In den Nomoi spricht ein gereifter Autor: Ein Athener führt das Wort, der sich auf die Tradition seiner Stadt beruft, um mit seinen Gesprächspartnern aus Sparta und Knossos nach einem viele Erfahrungen aufnehmenden gemischten Modell für eine Stadtgründung zu suchen. 30 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a.M. 1979. Die darin vertretene Auffassung, zur Rettung der „Sein“ genannten Natur notfalls (und natürlich nur zeitweilig) auf Freiheit zu verzichten, hat Hans Jonas 1991 noch einmal in einem Interview mit Hans-Jörg Sandkühler bekräftigt (vgl. Hans Jonas/ Christian Marzahn (Hg.): Hans Jonas im Gespräch mit Rainer Hegselmann, Gerhard Roth und Hans-Jörg Sandkühler. Wissenschaft und Verantwortung. Bremen 1991, S. 39 – 42). Die von ihm vorgetragene Theologie nach Auschwitz (vgl. Hans Jonas: Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt a.M. 1987) ist in den Motiven bewegend und in der Aussicht erschütternd, entzieht sich aber einer philosophischen Bewertung. Wie soll man als Mensch über einen Gott urteilen, der des Menschen bedarf, um seiner Schöpfung gerecht zu werden? 31 Ich teile die Platon-Kritik Karl R. Poppers nicht, halte sie aber für bedenkenswert. Die Platon-Forschung darf sich ihr nicht entziehen; sie sollte sie in Verbindung mit Poppers Lob für die Akteure der ersten griechischen Aufklärung sehen. Die Nomoi scheint Popper übersehen zu haben. Sie werden lediglich in einer Fußnote am Ende einer Reihung aller politisch relevanten Dialoge erwähnt und werden in ihrer Originalität nicht erkannt. Vgl. ders.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1: Der Zauber Platons. Bern u. a. 1957, S. 425.

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Von Anfang an stehen die Zeichen auf Verständigung und Vermittlung. Der geplanten Gründung von Magnesia geht eine Beratung voran, die unterschiedliche Erfahrungen aufnimmt, und die, wie der Gang des Gespräches zeigt, in ihrer Verfassung ebenfalls wesentlich auf Beratung setzt. Die Vielfalt der Positionen ist die erste und bleibende Prämisse dieser Politikkonzeption. Alle Verbindlichkeit ist auf die begründete Einsicht der Individuen und auf ihre erklärte Zustimmung gegründet. Vernunft und Urteilskraft vorausgesetzt, sind die tragfähigen Lösungen für die Stadt und in der Stadt durch Deliberation und Kompromiss ermittelt. Wie weit Platon dabei zu gehen bereit ist, zeigt seine Abstufung der Verfassungsmodelle, die aus der Sicht der Politeia wie der Gegenentwurf eines Antiplatonikers erscheint: Zwar wird zunächst an den Grundgedanken der Politeia erinnert und gesagt, dass die beste Verfassung eines Staates diejenige ist, die dem göttlichen Gesetz des Kosmos folge.32 Zwar wird einmal mehr betont, dass die kosmische Ordnung ihr Gegenstück in der Seele des einzelnen Menschen hat, woraus erneut ersehen werden kann, wie nahe sich Individuum und polis sind – und dies ausdrücklich im Zusammenhang der alles umfassenden Natur. Doch dann fügt der Athener der Nomoi hinzu, dass der Mensch die göttliche und sich immer gleichbleibende Ordnung nur „nachahmen“ (mimein), niemals aber erreichen könne. Als Werk des Menschen befinde sich die polis bestenfalls in einer Bewegung der Annäherung an einen idealen Zustand. Dabei müsse klar sein, dass es dem Menschen schon deshalb nicht möglich ist, die göttliche Ordnung nachzuahmen, weil er bereits mit seiner Erkenntnis hinter der Vollkommenheit der kosmischen Gesetzgebung zurückbleibt. Was der Mensch als beste Verfassung zu denken vermag, fällt bereits im Akt der begrifflichen Einsicht hinter das Ideal zurück. Bis hierher könnte man noch glauben, Platon referiere die in der Politeia vertretene ideale Position und markiere nur den Abstand zwischen der göttlichen und der menschlichen Erkenntnis schärfer als zuvor. Das ließe sich dadurch erklären, dass er im ersten Werk das politische Wissen dem kleinen Kreis der Philosophen-Könige vorbehält, im letzten hingegen davon ausgeht, dass jeder Bürger einsehen soll, wie unzureichend die menschliche Erkenntnis ist, um jeden gleichermaßen aufzufordern, sich in den Dienst des Ganzen zu stellen. Doch die Revision der Nomoi geht viel weiter. 32 Platon, Nomoi, 713a ff.

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12. Der Realittsgewinn des politischen Handelns. Bemerkenswert ist, dass in den Nomoi nicht nur das unzureichende Wissen, sondern auch die defizitäre menschliche Praxis Erwähnung findet. Die Stadt- und Staatsgründer sollen nicht meinen, dass sich die vom Menschen nur unvollkommen gedachte „beste Verfassung“ auch nur annähernd vollkommen realisieren ließe! Denn selbst wenn es ihnen möglich wäre, die unzulänglich erkannte göttlich-kosmische Ordnung in einen Plan zu übersetzen, wären sie nicht in der Lage, diesen Plan angemessen umzusetzen. Die politische Praxis der Verfassungsgebung verlangt zahlreiche Zugeständnisse, die eine vergrößerte Distanz zum Ideal nach sich ziehen.33 In der Beratung mit Anderen, die jeweils über eigene Erfahrungen verfügen und zu anderen Einsichten gelangen als man selbst, kommt, trotz strikter Ausrichtung an der Idee einer „besten Verfassung“, nur die „zweitbeste Verfassung“ zustande. Aber damit nicht genug: Was aus der „zweitbesten Verfassung“ tatsächlich wird, ist nicht mit dem ausgehandelten Entwurf identisch, sondern weicht aufgrund der geographischen, historischen und religiösen Besonderheit der Bevölkerung gewiss in mehr als einem Punkt von der beschlossenen Ordnung ab. Beste Absichten und größtes Geschick der leitenden Männer vorausgesetzt, kommt man so lediglich zu einer „drittbesten Verfassung“. Doch auch damit hat es nach dem Platon der Nomoi nicht sein Bewenden. Die erfahrenen Berater aus Athen, Sparta und Knossos halten es für selbstverständlich, dass nach der Einrichtung dieses „drittbesten Staates“ (wohlgemerkt: ein besserer kann von Menschen prinzipiell nicht geschaffen werden) immer wieder Änderungen nötig sind. Denn die Bürger machen Erfahrungen mit ihrem neu gegründeten Staat, und da sie es sind, von deren Urteil das Ganze abhängt, werden Korrekturen unvermeidlich sein. Was sich auf diese Weise ergibt, ist dann – in Relation zur Idee einer „besten“ Verfassung – die „viertbeste“ Verfassung, die sich nicht zuletzt durch das Bemühen um sukzessive Verbesserungen erhält. Sie ist das Optimum einer politischen Ordnung, wenn sie unter einer umsichtig-ausgleichenden Leitung steht. Gleichwohl ist sie nicht denkbar ohne die Idee, auf der sie beruht. Im konzeptionellen Abstand dieses pragmatischen Umgangs mit der Verfassung zum kategorialen Utopismus des idealen Programms der 33 Den politischen Realismus des späten Platon bringt Trevor J. Saunders in der Deutung dieser Passage unter den Titel eines „Prinzips“: „the principle of the sliding scale“ (Saunders: Plato’s Later Political Thought, S. 471).

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Politeia wird bewusst, welche Abstriche der Philosoph zu machen hat, wenn er politisch wirken will. Zwar bleibt der Anspruch auf die Erkenntnis der Idee in Kraft; es gibt auch keinen Verzicht auf die Wahrheit, auf die Leitung durch die Vernunft und auf Anleitung durch das Wissen. Aber ihre Anwendung erzwingt eine Ausrichtung auf die konkreten Umstnde, und zu denen gehören die Meinungen derer, um die es in der polis geht. Es geht nun nicht mehr bloß um die Philosophen, die mit ihrer Einsicht alles umfassen, sondern um alle Bürger, die selbst die Bedingungen dafür sind, was sich politisch erreichen lässt und was nicht. Aus der Sicht der Politik ist dies ein Gewinn. Auch ein Philosoph wie Aristoteles hat darin einen Erkenntnisfortschritt gesehen, den er sich freilich selbst zugeschrieben hat, weil er von der posthumen Edition der Nomoi noch nichts wusste.34 Aber aus der Perspektive von Platons idealem Entwurf ist das ein Rückfall, der offenbar auch heute noch als solcher erlebt werden kann.35 Doch ganz gleich, ob Platon sich hier untreu wird: Der letzte ganz der Politik hingegebene Dialog macht offenkundig, was die politische Realität von einem eigenständig denkenden und handelnden Menschen verlangt: Er hat die Ansichten und Einstellungen der Anderen als einen Tatbestand anzusehen, den er im Augenblick der politischen Entscheidung zu achten hat, auch wenn ihm klar ist, dass hier vielleicht nur eine Ausflucht, eine Lüge oder ein schlichter Irrtum vorliegt. Das aber heißt: Die Politik ist eine Zumutung für jeden, der nach Wahrheit strebt. Zwar wird die Wahrheit auch in der Politik benötigt, wenn sich Menschen auf Tatbestände und logische Schlussfolgerungen einigen können sollen. Aber in den grundlegenden Entscheidungen für oder gegen eine politische Ordnung, für oder gegen ein Gesetz oder ein neues Amt gibt sie keineswegs immer den Ausschlag. Es geht daher nicht einfach darum, den Missbrauch der Wahrheit aufzudecken. Die Politik verlangt vom Menschen, vom Anspruch auf sicheres Wissen und klare Beweisbarkeit abzurücken und sich unter Umständen auf bloß Geglaubtes, vielleicht nur durch geschickte Demagogie Erzeugtes, nämlich auf die bloße Meinung einer Menge von Menschen einzulassen. 34 Zur Zeit der Entstehung der Nomoi in Platons letztem Lebensjahrzehnt war Aristoteles dessen Schüler in der Akademie. Insofern dürfte er mit der Konzeption des späten Platon vertraut gewesen sein. 35 Das dokumentiert eine philosophische Verteidigung der Politeia gegenüber der politischen Bevorzugung der Nomoi durch eine junge Autorin: Sarah Hegenbart: Platons Nomoi. Die Ansprache an die Siedler – Populärphilosophie für die breite Masse. In: Gerhardt u. a. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2008, S. 349 – 360.

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Man muss kein Philosoph sein, um dies als leichtfertig und gefährlich anzusehen. Jeder, der weiß, wie groß und ernst die Dinge sind, die in der Politik verhandelt und entschieden werden, wird dies als tragisch empfinden – und dies je mehr er weiß, wie unumgänglich es ist, jede Meinung zu achten und keine Stimme auszulassen. 13. Die Tragçdie als Paradigma der Politik. Platons politische Philosophie ist eine Theorie der Freiheit. Das kann jeder wissen, der das Gespräch des Sokrates mit seinem treuen Anhänger Kriton kennt. Es geht um die Flucht aus dem Gefängnis, mit der sich der Lehrer der Vollstreckung des Todesurteils entziehen soll. Doch Sokrates weigert sich und beruft sich auf seinen freien Willen, mit dem er sich den Gesetzen der Stadt Athen unterworfen hat. Ihnen hat er aus freien Stücken zugestimmt, hat in guten Zeiten ihren Schutz genossen und geriete in Widerspruch zu sich selbst, wenn er sich ihnen widersetzen würde. Diese Selbstbindung aus eigener Einsicht ist das Schlüsselargument einer jeden politischen Philosophie, die den sich selbstbestimmenden Einzelnen in seiner Mitwirkung in einem handlungsfähigen Ganzen ernst zu nehmen sucht. In den Nomoi wird wiederholt und mit dem größten Nachdruck sowohl das göttlich-kosmische als auch das politisch-gesellschaftliche Ganze (panta; panta ochlos) beschworen und mit der Freiheit (eleutheria), in der sich das Individuum dem Ganzen zuwendet, verknüpft.36 Alle zwölf Bücher sind vom Pathos individueller Entscheidung für den Frieden, für die Vernunft, für die Selbstbeherrschung, für die selbstbestimmte Lebensführung, die Übereinstimmung mit sich selbst und eine damit vereinbare gesetzliche Ordnung getragen, in der man sich, nach der Einsicht in das Ganze, einzurichten hat – vorausgesetzt man will nach der Art von Menschen leben. Denn was immer Menschen erstrebenswert erscheint – die Lust, das Spiel, das Wissen, die Kunst, die Festlichkeiten und mit ihnen die Verehrung der Götter – wächst ihnen nur in Gemeinschaft zu. Also muss es das Bestreben eines jeden Einzelnen sein, sich aus eigenem Entschluss als ein „Freier“ (eleutheros) unter Freien einzurichten.37 36 Platon, Nomoi, 817c, 903d, 904a. 37 Es ist ein schwerer Makel in Platons Verfassungskonstruktion, wenn sie davon ausgeht, es sei mit dem Freiheitspathos vereinbar, dass es auch „Unfreie“ gibt. Man kann das weder rechtfertigen noch entschuldigen. Man kann nur betroffen feststellen, dass Platon in der Existenz von Sklaven keinen Einwand gegen die Schlüssigkeit seines Vorschlags gesehen hat, und muss mit Bedauern hinzufügen, dass dies wohl beim größeren Teil der Zeitgenossen ähnlich gewesen sein dürfte. Heute kann die Aufteilung in zwei Klassen von Menschen, von denen nur die

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Platon trägt dem Individualismus seiner Ausgangsposition38 nicht nur im dialogischen Verfahren, in der Lehre von der Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen, sondern ausdrücklich auch im Prozess politischer Entscheidungsfindung Rechnung. Exponiertes Beispiel ist die in den Nomoi angestrebte Legitimation durch Zustimmung. Allen, die sich aufgrund ihrer eigenen Entscheidung dazu bereit finden, in Magnesia zu siedeln, werden die Ziele und die Prinzipien der Verfassung vorgetragen. Das geschieht zunächst in lehrhafter Absicht, hat aber eine bedeutsame ethisch-politische Konsequenz: Alle sollen die Gründe und die Ziele der Verfassung verstehen, um sich dann, ausdrücklich ohne Zwang und allein nach ihrem eigenen Urteil, zu entscheiden, ob sie zustimmen.39 Tun sie es nicht, sind sie frei zu gehen, wohin sie wollen; bleiben sie, haben sie „zu tun, was gerecht ist“ (pantas panta tas dikaia), aber „nicht unter Zwang (bia), sondern freiwillig“ (heko¯n).40 Vor diesem Hintergrund wird man verstehen, was es dem Autor bedeutet, den freien Bürgern Einschränkungen der Freiheit zumuten zu müssen. Dort, wo sie wechselseitig vorgenommen werden, um jedem denselben Rahmen von Freiheit zuzugestehen, ist das unter Berufung auf Gleichheit und Gegenseitigkeit zu begründen. Bei einem Verstoß gegen Gesetze, die anerkannt für alle gelten, ist daher im Fall eines Schuldspruchs auch ein Freiheitsentzug gerechtfertigt. Hier ist alles durch die freie Zustimmung der Bürger gedeckt. Was aber ist mit den Gefahren, die aus dem Missbrauch der Freiheit erwachsen, ohne dass damit ein bestimmtes Gesetz verletzt ist? Vielleicht eine als frei und politikfähig, die andere hingegen als prinzipiell abhängig gilt, nicht mehr hingenommen werden. Gleichwohl gehört sie nach wie vor zur politischen Realität, wenn auch nicht mehr ausdrücklich unter dem Begriff der Sklaverei. Heute verläuft die Trennung zwischen den reichen und den armen Kontinenten oder zwischen denen, die Arbeit haben, und jenen, die ohne Arbeit sind. In vielen Gesellschaften kommt noch die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen hinzu, an deren Aufhebung Platon immerhin gedacht hat. Theoretisch ist es von unschätzbarem Wert, dass er die Politik allein auf die Freiheit der Bürger zu gründen sucht, und wir unterscheiden uns von ihm in der Überzeugung, dass prinzipiell jeder als freier Bürger anzusehen ist. 38 Dazu: Dorothea Frede: Der Mangel als principium individuationis bei Platon. In: Jan-Christoph Heilinger u. a. (Hg.): Individualität und Selbstbestimmung. Berlin 2009, S. 37 – 54. 39 Platon, Nomoi, 723a/b. 40 Platon, Nomoi, 663e. Es fehlt der Platz, um deutlich zu machen, dass Platon hier größeren und sachlich gehaltvolleren Entscheidungsraum lässt als die Vertragstheorien neuzeitlicher Provenienz.

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auch, weil es niemandem auffällt oder nicht ernst genommen wird? Was ist mit denen, die sich mit Hilfe der politischen Macht persönliche Vorteile verschaffen und dazu die bestehenden Gesetze nutzen? Die Zustimmung bekommen, ohne die Wahrheit zu sagen? Die sich Mehrheiten verschaffen, indem sie falsche Versprechungen machen? 14. Die Tragik des Umschlags ins Gegenteil. Es gibt einen Missbrauch der Freiheit, der die gesetzliche Ordnung nutzt, um private Gewinne zu erzielen. Da die Politik die Möglichkeit bietet, über viele Menschen zu disponieren, wachsen mit ihr auch die Chancen, viele zu täuschen und einer großen Menge Schaden zuzufügen. Sie kann daher das alle anderen überbietende Mittel sein, ein ganzes Volk ins Unglück zu stürzen. Dabei muss der politische Verführer noch nicht einmal verbrecherische Absichten hegen; es genügt die gutgläubige Ansicht, dass die Mehrheit der Bürger in einem Irrtum befangen sei, aus dem nur er sie befreien kann, sobald er selbst an die Macht gelangt ist. Dann muss er so tun, als gehe es ihm selbst um nichts anderes als die Freiheit, und kann, wenn die Täuschung gelingt, seine die bestehende Ordnung umkehrenden Ziele realisieren. So zieht er Gewinn aus dem Missbrauch der Freiheit, der, wie die Geschichte lehrt, in keinem Fall zu ihrem Vorteil gewesen ist. Im Gegenteil: Die politische Macht, das größte, aufwändigste und umfassendste Mittel, das Menschen sich erschaffen, um ihre Kräfte zu mehren, ihre technischen Fertigkeiten zu erhöhen und ihre kulturellen Leistungen zu steigern, wird zur Gegenkraft, die alles dies hemmt und dem Menschen, wenn sie ihm denn das Leben lässt, die Freiheit nimmt. Das ist der profane Vorgang in der Tragödie der Politik. Er findet sich dort, wo Freiheit zwar am hoffnungsvollen Anfang, aber Unfreiheit am bitteren Ende steht. Der Umschlag kann nicht ein für allemal vermieden werden, weil jedes Mittel, das ihn verhindern soll, selbst wieder die Chance zum Missbrauch bietet. Platon ersinnt eine Vielzahl von Kontrollen, setzt auf die Konkurrenz der Behörden, der Stadtbezirke und ihrer Vertreter, setzt hohe Bedingungen für die Auswahl der Amtsinhaber, schlägt kurze Amtszeiten vor und installiert einen nächtlichen Rat aus erfahrenen Bürgern (von denen jeder einen jungen Assistenten an der Seite hat). Alles dient der Überwachung und Bewahrung der Ordnung sowie der Abwehr ihres Missbrauchs durch jene, die sich weder dem Ganzen ihrer Seele noch dem ihrer Polis verpflichtet wissen. Das Instrument der Gewaltenteilung, die Installation unabhängiger Gerichte und die Institutionalisierung einer Opposition stehen noch nicht zu Gebote. Aber die in den Nomoi empfohlene Mischverfassung macht einen

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Anfang und der Gedanke einer Überprüfung aller Handlungen nach Maßgabe der Verfassung bildet die Grundidee. Umso größer ist die Furcht vor der politischen Verkehrung der politischen Freiheit in ihr Gegenteil. Diese Gefährdung der politischen Ordnung steht im Hintergrund von Platons Rede von der Politik als der „einzig wahren Tragödie“, und wir begreifen nun besser, warum er die Bürger, die sich um die Errichtung eines Staates bemühen, „Dichter einer Tragödie“ nennt.41 Sie wirken an etwas Großem mit, das der Mensch, ganz gleich wie die Götter dazu stehen, von sich selber fordert. Die Nomoi stellen nämlich klar, dass es nicht die Götter, sondern die Menschen sind, die politische Gemeinwesen gründen.42 Wenn sie ihrem Selbstanspruch auf ein Leben nach eigener Einsicht folgen wollen, haben sie sich politische Gesetze zu geben, die ihnen ein Leben nach der Vernunft möglich machen. So, wie sich die menschliche Kultur nach der großen Flut43 mit ihren zahllosen technischen Elementen entwickelt hat, ist das nur in Gemeinschaft möglich. Also folgt die Politik dem Gebot der Vernunft. Wenn sie dabei scheitert und ins Unvernünftige umschlägt, muss es der sich gegen sich selbst kehrenden Vernunft angelastet werden. Darin liegt die Tragik. 15. Die Tragik des politischen Lebens. Aber warum sollte die Politik die „denkbar beste und schönste Tragödie“ sein?44 Wir würden verstehen, wenn sie als die ,größte‘ bezeichnet würde. Denn die Tragik, in der sich alle befinden, die sich im Streben nach Freiheit um die Freiheit bringen, ist prinzipiell nicht überbietbar. Wodurch aber sollte sie sich das Attribut des ,Schönsten‘ verdienen? 41 Platon, Nomoi, 817b. 42 Vgl. Platon, Nomoi, 624a, 968a ff. Die beiden Gesprächspartner glauben anfangs, noch in der Tradition der Städte Sparta und Knossos befangen, das Gegenteil, sind am Ende aber, als sei es selbstverständlich, davon überzeugt, dass es von ihrem Einsatz als handelnde Menschen abhängt, ob die Neugründung gelingt. – Siehe dazu den Schlussabschnitt der vorliegenden Abhandlung. 43 Vgl. Platon, Nomoi, 677a ff. 44 Zu Platons Verständnis der Tragödie und zur Deutung der hier von mir herangezogenen Stelle immer noch überragend: Helmut Kuhn: Die wahre Tragödie. Platon als Nachfolger der Tragiker. In: Konrad Gaiser (Hg.): Das Platonbild. Zehn Beiträge zum Platonverständnis. Hildesheim 1969, S. 231 – 323. Für Kuhn ist Platon u. a. auch deshalb ein echter Nachfolger und Überbieter der großen Tragiker, weil er der Furcht (phobos) eine so große Rolle zuweist. Dazu auch: Barbaric´ : Die möglichst schöne und zumal beste Tragödie, S. 240.

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Zwei Antworten sind möglich. Die erste beruht auf Platons Kritik an jenen Tragikern, die das Göttliche entwürdigen, die Helden lächerlich machen und an die Stelle der Erkenntnis die bloße Erdichtung setzen. Das ist die Kritik, die in der Politeia die Verbannung der Dichter nach sich zieht und bei der uns die Philologen zu berücksichtigen bitten, dass es damals in Athen viele schlechte Tragödien gab, von denen wir heute gar nichts mehr wissen. In den erhaltenen Stücken ist der weinende Ajax ein Beispiel für das, was Platon anstößig findet.45 Der Politik hingegen gesteht Platon zu, dass sie allemal mit großen und ernsten Problemen zu kämpfen hat. Die Gefahr einer Verwechslung von Tragödie und Komödie besteht daher nicht. Da die Politik es naturgemäß mit dem wahren Geschehen zu tun hat, kommt das Gute, um das sie sich bemüht, unverfälscht zum Ausdruck. Also steht sie auch dem wahrhaft Schönen näher als der trügerische Schein, den der Chorgesang erzeugt. Wenn an dieser Auskunft etwas überzeugend ist, dann ist es die Auszeichnung der Realität des Geschehens. Tragisch im strengen Sinn des Wortes ist nicht das, was unter diesem Titel berichtet wird, sondern was man selbst erlebt. Tragisch ist das Leben, das einem widerfährt, und nicht das Theater, das man sich vorführen lässt. Damit sind wir bei der zweiten möglichen Antwort. Sie führt uns auf den Kern der Rede von der Tragik des Politischen: Nach Platon verdient die Politik die hohe Auszeichnung, die „wahre“, die „größte und schönste Tragödie“ zu sein, weil sie eine Nachahmung des „schönsten und ehrenhaftesten Lebens“ ist, eines Lebens also, wie es ernsthafte Menschen (spoudaios) führen.46 Nur weil die Politik aus der Zustimmung und Anteilnahme Einzelner besteht, nur weil die polis als „groß geschriebener Mensch“ Ausdruck der Tugend, d. h. der Tüchtigkeit von Individuen ist, und nur weil die Existenz des Menschen, der nach seiner Einsicht lebt und deshalb als glücklich bezeichnet werden kann (dann wahrhaft tragisch genannt werden muss, wenn er, wie Sokrates, am Unverstand seiner Mitbürger scheitert), kommt auch der Politik diese Eigenart zu. Die „wahre“, die „größte und schönste Tragödie“ ist sie, weil sie in ihrem Anspruch auf Recht und Allgemeinheit aus der richtigen Einsicht und dem besten Willen hervorgeht und immer wieder an denen zerbricht, für die sie gedacht ist. Auch wenn Platon die Dualismen hinter sich 45 Zu den Gründen des Verbots in der Politeia und in den Nomoi siehe: Morrow: Plato’s Cretan City, S. 374 f. 46 Platon, Nomoi, 817a/b.

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lässt, die bei den Dichtern den tragischen Konflikt erzeugen, auch wenn er das Göttliche, das Gute, das Vernünftige und das Glück metaphysisch versöhnt, kann er den Unverstand und die Schwäche nicht übersehen, die ihrer Verbindung im politischen Leben entgegenstehen. An der Figur des hoffnungsvollsten politischen Talents im demokratischen Athen, an Alkibiades, hat Platon das Ineinander von hohen Ansprüchen und niedrigen Beweggründen anschaulich gemacht. Er hat erkennen lassen, dass Alkibiades’ Schicksal sowohl als tragisch als auch als komisch begriffen werden kann.47 Da Platon den Dichtern ihre Unfähigkeit zum Vorwurf macht, nicht beides zu können, nämlich Tragödien und Komödien zu schreiben, haben wir einen weiteren Grund für seine Auszeichnung der Politik als der größten Tragödie: Wenn an ihr die besten Menschen zugrunde gehen und Generationen von Menschen leiden, bleibt sie als Tragödie ohne Alternative. Zwar kann man den Katastrophen der Politik auch Stoff für Komödien abgewinnen, aber sie sind Tragödien. 16. Die Prferenz des eigenen Daseins. Nach dem bisher Gesagten verstehen wir gut, warum Platon vor den Dichtern warnt. Sie übertreiben und setzen Emotionen frei, die das nüchterne politische Urteil beeinträchtigen. Jeder, der heute vor den schädlichen Folgen der Darbietung von Gewalt in den Medien warnt, muss Verständnis für Platons Befürchtung haben. Denn das Theater war eine Macht in der polis. Durch ihre direkte Wirkung auf die versammelte Menge barg sie vielleicht mehr Gefahren als die in der Regel über den Einzelnen vermittelte Medienpräsenz der Gegenwart. Anzuerkennen ist, dass in den Nomoi die Aufführung von Tragödien nicht mehr autoritativ verboten wird. Den Bürgern wird von den Gesetzgebern lediglich angeraten, die Dichter nicht in die Stadt zu lassen. Sie sollen sich das Theater ersparen, weil sie mit der sie tagtäglich beschäftigenden Politik ein umfassenderes und sie ungleich stärker betreffendes Drama vor Augen haben. In diesem Vergleich wirkt es weniger befremdlich, dass Platon die Politik als „besser“ und „schöner“ denn ein Bühnenschauspiel bezeichnet. Die Bürger sind näher dran, sie sind selbst eingebunden und können an sich selbst den großen Ernst erfahren, der in der Erwartung und im Scheitern ihres eigenen Handelns liegt. Wir wissen überdies zu schätzen, dass Platon den Bürgern die Beteiligung an dem von ihnen selbst aufgeführten Drama mit bezwingender 47 Vgl. Platon, Symposion, 223d.

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Rhetorik zu schildern vermag. Er kennt die Trägheit der Menge und ist mit der Politikverdrossenheit seiner Zeitgenossen wohl vertraut. Deshalb ruft er die Spannung in Erinnerung, die mit dem Auftritt der Schausteller verbunden ist. Der Aufbau der Bühnengerüste auf dem Markplatz erregt die Vorfreude auf die verführerischen Stimmen, mit denen die Theatermacher den sonst der Politik vorbehaltenen öffentlichen Raum erfüllen.48 Dann aber fordert der Athener das kritische Urteil der Bürger heraus und erwartet von ihnen, die Texte der Schauspieler zu prüfen.49 Da, so meint er, würden sie feststellen, dass diese zwar „lauter“ und „schöner“ reden. Aber, so unterstellt seine Aufforderung, reden sie auch wahr? Sagen die Schausteller in der Regel nicht das „Gegenteil“ (to enantion) von dem, was in den Versammlungen gesprochen wird? Bieten sie mehr als Paradoxien, mit denen sie den Hörer verblüffen? Und müssen sie nicht alles so sprechen, wie es die Rolle von ihnen verlangt? Wo ist hier die Freiheit, die dem menschlichen Handeln überhaupt erst seine Bedeutung gibt? Platon misstraut den rhetorischen Künsten der Dichter und sieht in ihnen Überraschungseffekte, denen aufgeklärte Bürger, wie er sie sich wünscht, nicht auf den Leim gehen. Aber warum überlässt er ihnen das Urteil nicht selbst? Warum traut er ihnen nicht zu, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden? Hier liegt nach wie vor das größte Ärgernis der Dichterkritik, das durch die Inkonsequenz im Zugeständnis der Freiheit nicht geringer wird: Die Bürger sollen entscheiden, was in ihrer Stadt geschieht, aber sie sollen hinnehmen, dass man ihnen das Theater verbietet. Doch ganz so schlimm ist es nicht: Sollten sie nach Prüfung der von den Schauspielern eingereichten Texte zu der Auffassung gelangen, das Stück könne aufgeführt werden, dann soll es geschehen. Für diesen Fall scheinen die Gesetzgeber zu unterstellen, dass die Bürger im Vergleich mit der dürftigen Nachahmung auf der Bühne schon von selbst erkennen, was sie an der lebendigen Gegenwart des politischen Dramas haben, in dem sie selbst die Akteure und die Zuschauer sind. Die Gesetzgeber in den Nomoi sind sich sicher, wie die Bürger entscheiden. Sie vertrauen auf die Eigenständigkeit und das Selbstinteresse der Siedler, so wie es heute alle tun, die eine direkte Aktion per se für besser 48 Vgl. Platon, Nomoi, 817c. 49 Das war tatsächlich die Praxis in Athen. Hier unterzog man den Text des Chores einer behördlichen Überprüfung, ehe die Genehmigung zur Aufführung erteilt wurde. Platon macht daraus eine hochrangige Angelegenheit des Magistrats der zur Gründung vorgeschlagenen Stadt.

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halten, als die Aufführung eines zum Klassiker gewordenen Stücks. Platon ist also der fiktive Charakter der Tragödie bewusst50 und er unterstellt, dass für den ernsthaft tätigen Bürger keine Fiktion auch nur im Ansatz so interessant sein kann wie die Realität, mit der er es selber zu tun hat. Hier, so meine ich, unterliegt er einem Irrtum. Er unterschätzt die Macht der Phantasie, auf die auch der Tätige nicht verzichten kann. Er lässt sich das kritische Potential entgehen, das schon für den Umgang mit der Differenz zwischen Fiktion und Realität benötigt wird. Gleichwohl denken heute viele ebenso, wenn sie ganz allgemein vor der Macht der Medien warnen und mit dem Angebot fiktiver Stoffe das Realitätsbewusstsein schwinden sehen. Unfreiwillige Platoniker dürften auch jene Zeitgenossen sein, die alle Politik von einer Mobilisierung der Betroffenen abhängig zu machen suchen. Dramatiker, die von einer Dokumentation mehr erwarten als von der phantastischen Erzählung, und Konsumenten, die das eigene Video höher schätzen als eine Studioproduktion, suchen die Dichterschelte Platons ästhetisch umzusetzen. Sie vergessen, dass die Kunst erst im Kontrast zur erfahrenen Realität lebendig wird. Überhaupt ist uns manches in Platons Urteil aus den gegenwärtigen Debatten geläufig: die Präferenz für das (früher einmal „prall“ genannte) Leben, die Bevorzugung der politischen Aktion sowie die Überzeugung, die eigenen Angelegenheiten seien allemal interessanter als die der Anderen. Platon scheint davon überzeugt zu sein, die ernsthaften Bürger würden lieber zu einer politischen Versammlung gehen als zu einer Theatervorstellung, sie würden es vorziehen, über ihr eigenes Leben zu beraten als sich auf der Bühne die Bruchstücke aus dem Leben der Anderen anzusehen. Die Wertung verrät eine gewisse Nähe zur direkten Demokratie, und man wird es weniger überraschend finden, dass es Platon (und nicht erst Aristoteles) ist, der die Politik als Teilnahme an Versammlung und Gericht (to metechein kriseos kai arche¯s), somit als Partizipation versteht.51

50 Den Karl Heinz Bohrer gegen moderne Interpreten der Tragödie verteidigt. Vgl. ders.: Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009, S. 271. 51 Dazu des Näheren: Volker Gerhardt: Die erste Lehre von der Verfassung. Der Beitrag der Nomoi zur Theorie der Politik. In: Gerhardt u. a. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2008, S. 13 – 31, hier S. 29. Ich verweise hier vornehmlich auf zwei Formulierungen in Platon, Nomoi, 768a/b.

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17. Der Vorrang des realen Geschehens. Die Teilhabe an den politischen Aufgaben gilt schon einem der großen Praktiker der athenischen Demokratie als Wesensmerkmal des Bürgers. Wer, so sagt Perikles nach dem Zeugnis des Thukydides, nicht an den Staatsgeschäften teilnimmt (metechein), der gilt nicht als „untätig“, sondern als „unnütz“ (achreios).52 Das sagt der Politiker aus Anlass eines politischen Akts, den er selbst nach Art einer Tragödie inszeniert. Im geschichtlichen Rückblick wird klar, dass der von Perikles zur Darstellung gebrachte Akt nicht nur eine Tragödie zelebriert, sondern eine viel größere einleitet: nämlich den Untergang der Athenischen Demokratie. Das ist die größte Tragödie des klassischen Altertums. In seiner Grabrede, dem von Thukydides so bewegend wiedergegebenen Epitaphios aus dem ersten Jahr des Peloponnesischen Krieges, gibt Perikles der Überzeugung Ausdruck, dass die Wirklichkeit ihrer dichterischen Gestaltung allemal überlegen ist: „Wir brauchen keinen Homer als Künder unserer Taten noch sonst jemanden, der mit schönen Worten für den Augenblick ergötzt – der Wirklichkeit (ergon) hält der Schein der Wahrheit (hyponoia he ale¯theia) nicht Stand.“53 Die Kunst gilt hier als das Vergängliche, während die politischen Taten, also die befestigten Städte, die gegründeten Kolonien und der Ruhm der gefallenen Helden unvergänglich sind. Wäre das ars longa, vita brevis im Jahr der Totenfeier schon gesprochen,54 es würde für das Leben der Politik von Perikles nicht akzeptiert. Denn die Politik genießt einen Vorzug, den nur das Dasein selber bieten kann. Ihm gegenüber ist alles, was auf einer Schriftrolle steht oder von einem Kothurn herunter gesprochen wird, sekundär. Die Kunst kann in der ausschmückenden Erzählung, in der übertreibenden Darstellung, in der wahrsagenden Ankündigung und in manchem anderen bestehen. Man kann ihr auch zugestehen, dass sie im Augenblick ihrer Darbietung selbst den Charakter eines Geschehens hat. Aber im Stoff, den sie zur Anschauung bringt, hat sie eine wiederholende, nachahmende Funktion und steht damit im Dienst der Wirklichkeit, auf die sie verweist. Darin liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen Achill und Homer, zwischen Perikles und 52 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II, 40. 53 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, II, 41. 54 Was nicht unmöglich ist, denn das Wort findet sich in einer ersten Form bei einem viel jüngeren Zeitgenossen des Perikles und einem etwas älteren des Thukydides, nämlich beim Arzt Hippokrates (460 – 370). In Umlauf scheint es aber erst drei Jahrhunderte später bei lateinisch schreibenden Autoren gekommen zu sein.

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Thukydides und somit auch zwischen dem Krieg, den Athen gegen die Perser geführt hat, und dem Bericht, den Aischylos in den Persern davon gibt. So sehr Platon als Theoretiker des Wissens die Wirklichkeit als Schein oder Schatten qualifiziert: Ihr gegenüber bietet die mimetische Leistung der Maler und Dichter nur den Schein des Scheins.55 Dieser epistemische Nachteil bleibt; er kann durch das lebhafteste Spiel der Tragöden nicht ausgeglichen werden. Gesetzt, das politische Geschehen hat überhaupt einen tragischen Charakter, muss er per se als überlegen angesehen werden. So gesehen lässt sich Platons Satz von der Politik als der „besseren“, der „wahren Tragödie“ auch aus der Sicht des großen Politikers verstehen. 18. Die Tragçdie der Politik als çffentlicher Vorgang. Platon streift zweimal beiläufig eine selten beachtete Gemeinsamkeit zwischen Politik und Tragödie, nämlich die Tatsache, dass sich beide çffentlich vollziehen.56 Öffentlichkeit gehört zu den tragenden Prinzipien von Recht und Politik, aber theoretisch ernst genommen wird sie erst von Kant. Die empirische Wissenschaft nimmt die Öffentlichkeit wahr, nachdem sie durch Massenmedien bedroht erscheint, aber erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts wird bewusst, dass Öffentlichkeit bereits zu den großen Topoi des antiken Denkens gehört.57 Welche Konsequenzen das für den Begriff des Politischen hat, ist derzeit eine offene Frage.58

55 Vgl. Platon, Politeia, 596e ff. 56 In Platon, Nomoi, 817c wird zunächst davon gesprochen, dass es den Schauspielern nicht leicht gemacht werden dürfe, „öffentlich (de¯me¯gorein) zu den Kindern und Frauen und zum ganzen Volk“ zu sprechen. De¯me¯goria ist die Rede vor dem Volk mit einem ausdrücklich politischen Sinn. Darauf wird wenig später noch einmal Bezug genommen, jetzt unter Verwendung von to meson, was „Parteilosigkeit“ und „Neutralität“, aber eben auch „Öffentlichkeit“ bedeutet. 57 Vgl. Lucian Hölscher: Artikel: Öffentlichkeit: In: Otto Brunner u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1978 – 1997, Bd. 4, S. 413 – 466. Hannah Arendt kommt das Verdienst zu, hier bereits in The Human Condition (1958; dt. Vita activa oder Vom ttigen Leben, 1962) erste Hinweise gegeben zu haben, die sich auf die Öffentlichkeit als die Sphäre des Ruhms bezogen. Auch damit ist eine Gemeinsamkeit zwischen den Größen der Politik und den Helden in der Tragödie angezeigt. 58 Dazu in Kürze: Volker Gerhardt: Öffentlichkeit. Die Form des Bewusstseins. München 2011.

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Vollkommen offenkundig ist die Tatsache, dass die klassische Tragödie ein Publikum benötigt, um wirksam zu sein. Es wäre falsch, darin eine Belanglosigkeit zu sehen, eine Äußerlichkeit, die den Gehalt und den Aufbau der Dramen nicht berührt. Das mag zwar so erscheinen, wenn man lediglich die Texte zur Kenntnis nimmt, allein an die dramatis personae denkt und den tragischen Konflikt, dem sie ausgesetzt sind, oder sich Gedanken über die Wirkung allein auf den einzelnen Zuschauer macht. Ihn aber hat man sich als Teil einer großen Menge vorzustellen, an deren Reaktionen er beteiligt ist. Die Menge agiert bereits als Öffentlichkeit, die benötigt wird, damit eine Tragödie überhaupt als Tragödie in Erscheinung treten kann. Der in der Literatur mit Recht betonte „ErscheinungsCharakter“ der großen Gestalten der antiken Tragödie wäre nicht denkbar, ohne den Raum der Öffentlichkeit, in dem sie ihren Auftritt haben.59 Öffentlichkeit ist dabei freilich nicht auf die Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Raum des Theaters beschränkt, meint nicht allein, dass die Rollen vor einem Publikum zur Aufführung kommen, sondern besagt, dass sie immer auch in der Welt wahrgenommen und als Beispiele menschlichen Schicksals verstanden werden. Öffentlich ist, was Menschen und Göttern gleichermaßen gegenwärtig sein kann. Dass die Tragödie etwas vor aller Augen bringen kann, ist wesentlich für die Erkenntnis des Unausweichlichen, und erst im Bewusstsein dieser Einsicht kommt es zu der von Aristoteles beschriebenen kathartischen Erschütterung des Betrachters. Im Erleben und Erleiden des gemeinsamen Geschicks sind Politik und Tragödie auf das Engste verbunden. Die Partizipation, die Teilhabe und Teilnahme an einer Aufgabe, die das Politische trägt, ist ohne die wechselseitige Anteilnahme am Ergehen der Anderen nicht möglich. Damit ist nicht gesagt, dass man mit jedem auf gleiche Weise mitfühlt; häufig genug ist das genaue Gegenteil der Fall. Aber man muss sich überhaupt mit Anderen verbunden wissen und sich im Übrigen denken können, wie die Lage aller Anderen ist. Öffentlichkeit ist der Raum der wechselseitigen Teil- und Anteilnahme und damit die Voraussetzung dafür, dass man sich über gemeinsame Vorhaben und Ziele verständigen, aber auch, dass man von der Tragik ihres Leidens ergriffen werden kann. Zusammen mit der Tragödie und der Demokratie kommt die Öffentlichkeit in Athen zu ihrer ersten historisch manifesten Wirksamkeit. Sie ist die Bedingung dafür, dass die Menschen in der Form des Publikums 59 Vgl. Bohrer: Das Tragische, S. 185 ff.

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miteinander fühlen und miteinander handeln können, ohne dass die Einzelnen ihren Status als eigenständige Individuen verlieren. Das ist die Voraussetzung dafür, dass man die Tragik eines Ereignisses erkennt, sich mit ihm identifiziert und dennoch weiß, dass man als Person in einer anderen Lage ist. Diese Unterscheidung zwischen sich und den Anderen muss man machen können, wenn man sich als selbstbewusstes Individuum auf politisches Handeln einlässt, weil anders alles entweder nur kollektive oder nur private Bedeutung hätte. 19. Der Ernst des politischen Geschehens. Platon ist der erste, der den Zusammenhang von Person und politischer Institution theoretisch aufarbeitet. Die Beweisführung für die dominierende Rolle der Gerechtigkeit in der Politeia ist auf diese Parallele gegründet. Dass daraus eine in jedem Akt des politischen Geschehens wirksame Korrelation, eine aktuelle Repräsentation des einen durch das andere werden muss, macht den Erkenntnisfortschritt der Nomoi gegenüber der Politeia aus. Die Menschen müssen in gemeinsamer Absicht zusammenkommen, um als freie Individuen zu beraten und zu beschließen. Das Verfahren der Abstimmung belegt, dass jeder eine Stimme hat, die der aller anderen gleich ist. Damit sind sie als Gleiche anerkannt. Als gleichberechtigte Bürger haben sie das sie mit Gründen Verbindende zu erkennen, in dessen Schutz und Dienst sie selbst zu ihrer individuellen Größe finden. Die Einzelnen schaffen die Institution, in deren Rahmen sie selbst zu Institutionen, nämlich zu Personen werden. Das führt zu einer für die Griechen neuen Aufgabe der Politik, nämlich Frieden zu stiften.60 Nur im Frieden können die Vernunft des Einzelnen und die des politischen Ganzen zusammenstimmen. Diese Botschaft ist Platon so wichtig, dass er mit ihr das erste Buch der Nomoi beginnt und das zwölfte beschließt. Und er setzt, wie gesagt, am Ende mit Nachdruck die für seine Zeit nicht weniger befremdliche Einsicht hinzu, dass diese Aufgabe nicht von den Göttern, sondern nur von Menschen bewältigt werden kann. Seine Auszeichnung der Politik als tragisch verlöre jeden Sinn, wenn die Verantwortung (aitia) bei den Göttern läge. Und in allem wird nicht nur unterstellt, sondern immer wieder auch gesagt,61 dass es sich in der Politik um ein çffentliches Geschehen handelt, in 60 Vgl. Platon, Nomoi, 628b/d. 61 In der Ansprache an die Siedler (Platon, Nomoi, 715e ff.) wird deutlich, dass Platon der Öffentlichkeit eine legitimierende Funktion zuschreibt. Sie ist der Raum, in dem sich die das Gemeinwesen tragende gemeinsame Überzeugung

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dem die Beteiligten auch die Zuschauer sind. Das ist eine elementare Voraussetzung für die Differenzierung zwischen Person und Institution, für die Ausbildung eines eigenständigen Urteils bei vielen Menschen, aber auch für die Möglichkeit ihrer ausdrücklichen Übereinstimmung. Nur weil Politik ein öffentlicher Vorgang ist, lässt sie sich mit dem Schauspiel vergleichen. Politik wird nicht nur durch und fr die Bürger gemacht; sie findet auch vor ihren Augen statt. In der Verbindung dieser Eigenschaften erkennt man, was sie für den Vergleich mit der Tragödie qualifiziert. Die Überzeugung von der allgemein wahrgenommenen Zuständigkeit des Einzelnen prägt die politischen Schriften Platons insgesamt, was sogar für den brieflichen Bericht über das mehrfache Scheitern seiner Mission als politischer Berater in Syrakus gilt. Ganz gleich, ob seine Dialoge eine utopische Vision (Politeia), ein analytisches Programm (Politikos) oder eine pragmatische Konzeption (Nomoi) erörtern: Platon scheint unbeirrt auf der Seite der Politik zu stehen, um aus ihrer Sicht für die Selbsterziehung des Menschen zur Tugend zu werben. Seine Auffassung ist, dass nur in einem selbst geschaffenen, selbst gelenkten und für alle offenen polis-Raum die Chance zur ethisch-politischen Selbstorganisation der menschlichen Freiheit besteht. Der Gedanke eines unabwendbar tragischen Konflikts scheint einem solchen Denken völlig fremd zu sein. Die Furcht vor einem Scheitern kann sich auf bestimmte Regierungsformen, auf die Erziehung zur Tugend oder auf das Gelingen einer angemessenen Erkenntnis beziehen – nicht aber auf die Politik überhaupt. Und wenn wir an das neue Ideal des Friedens,62 an die Leitung durch den goldenen Draht der Vernunft63 oder an die angestrebte Harmonie zwischen psyche¯, polis und kosmos denken,64 der Bürger bildet. Giovanni Panno nennt die Proömien „das auffälligste Beispiel eines Versuchs, die Selbstbewegung der Seele in die Empirie zu versetzen“ (Giovanni Panno: Gesetz und Andersheit in Platons Nomoi. Phil. Diss. Tübingen 2005, S. 191). Er beachtet leider nicht, dass darin eine nicht weniger auffällige Form der Herstellung von Öffentlichkeit zu sehen ist, die gleichermaßen von innen wie von außen gesehen werden muss, also ebenfalls Seele und faktisches politisches Geschehen verbindet. Dafür hat Panno einen Sinn für den theatralischen Aspekt der Proömien, die es Platon vermutlich leichter machen, auf das Bühnenschauspiel der Tragödie zu verzichten. Die legitimierende Ansprache an die Siedler ist eine politisch eminente, aber eben doch auch theatralische Veranstaltung, die es Platon leichter macht, auf die Inszenierung bloß gedichteter Tragödien zu verzichten. 62 Vgl. Platon, Nomoi, 628d/e. 63 Vgl. Platon, Nomoi, 644b ff. 64 Vgl. Platon, Nomoi, 896d ff.

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scheint die Rede vom tragischen Charakter der Politik zu Platon nicht zu passen. Deshalb kann man sich am Ende die Frage nicht ersparen, ob es nicht ein Missverständnis ist, in Platons Wort von der Politik als der größten Tragödie eine generelle Auszeichnung zu sehen? Vielleicht ist sie doch nur ein situativer Einfall, eine rhetorische Volte, eine Parodie, um sich mit den Mitteln der Störer deren Störung vom Leibe zu halten? Ausschließen lässt sich das beim bedeutendsten Schüler des bedeutendsten Ironikers nicht. Aber wahrscheinlich ist es ebenfalls nicht. Denn es darf als gesichert gelten, dass es in Platons Augen keine größere Aufgabe für den Menschen gibt, als ein politisches Gemeinwesen aufzubauen, das der Vernunft, dem Frieden und der Entfaltung der besten menschlichen Kräfte eine Zukunft gibt. Dabei hat die Kunst eine stützende und fördernde Rolle zu spielen. Nach Platon kommt ihr ohnehin diese Aufgabe zu, da dem Schönen, neben dem Wahren und dem Guten, eine regierende Stellung im Aufbau der polis zuerkannt werden muss. Aber auch im Aufbau der politischen Ordnung ist sie unverzichtbar. Sie hat ihren Ort in der Gestaltung der Stadt, in den Gesängen und bei den zahlreichen Festlichkeiten. Auch in den die Stadt als Ganze legitimierenden Proçmien, die zwar auf reale, freiwillige Zustimmung setzen, aber gleichwohl als eine Inszenierung angesehen werden können, liegt ein theatralisches Moment. Aber es ist politisch notwendiger Akt. Alles in allem liegt somit keine Verachtung des Schönen darin, wenn Platon der Realität des politischen Handelns die höhere Dignität zuerkennt. Die polis schafft den Raum, in dem das Schöne seinen Auftritt haben kann. Also muss man es verstehen, wenn er die von so unerhörten Risiken belastete, unablässig durch sich selbst bedrohte Politik als die größte Aufgabe ansieht, die alle anderen Leistungen des Menschen in den Schatten stellt. Wie soll man es nennen, wenn der Mensch an dieser nur ihm gestellten und nur von ihm zu bewältigenden Aufgabe durch eigenes Verschulden scheitert? Muss nicht gerade dem, der die tragische Weltsicht seiner Vorgänger in einer einheitlich-vernünftigen Konzeption des Ganzen überwindet und der überzeugt ist, dass der Mensch in der göttlichen Ordnung des Kosmos und im Streben nach dem Guten und Schönen die Wahrheit seines eigenen Wesens findet, das Misslingen des größten menschlichen Vorhabens, als die eigentliche Tragödie erscheinen? Die „schönste“ ist die Tragödie des Politischen vermutlich, weil sie sich tagtäglich, in nahezu vollkommener Öffentlichkeit und in unmittelbarer Nähe zum Guten abspielt, um das es allen Bürgern gehen muss.

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Sie braucht keine besonderen Aufbauten, kein Angebot von anreisenden Schauspielern, keine toten Texte überlebter Autoren, sondern wird mit dem ganzen Ernst, mit der gesammelten Feierlichkeit und in der für die polis so wichtigen festlichen Stimmung von den Bürgern selbst zur Aufführung gebracht. 20. Worin die Tragik nicht besteht. Im direkten Vergleich mit dem Bühnenschauspiel lässt sich nachvollziehen, warum Platon die Politik als Tragödie bezeichnet. Dabei macht er zwar den Fehler, die epistemische Gegenüberstellung in eine praktisch-politische Alternative zu übersetzen und den Bürgern vom Theater abzuraten. Aber warum er den Bürgern, die viel Vernunft benötigen, um ihre Stadt zu regieren, nicht die Urteilskraft zugesteht, zwischen der Fiktion auf der Bühne und der Realität auf ihren Versammlungsplätzen zu unterscheiden, bleibt ein Rätsel. Die als bloße Routine einzuschätzende Zulassungspraxis der Stadtverwaltung in Athen rechtfertigt die von Platon in Anschlag gebrachte Aufmerksamkeit jedenfalls nicht. Vielmehr hätte ihn seine provozierende Auszeichnung der Politik als der „besseren Tragödie“ zu dem Schluss führen müssen, den Bürgern viel Theater zu bieten, damit sie im anschaulichen Vergleich den dramatischen Ernst ihrer politischen Aufgabe begreifen. Nur im Bewusstsein dieses Ernstes wird verständlich, warum Platon überhaupt von der Politik als einer Tragödie spricht: Es ist ihm ein Anliegen, die Menschen vor dem Missverständnis zu bewahren, sie könnten sein wie Gott, von dem in den Nomoi oft im Singular die Rede ist. Deshalb könnte es als tragisch angesehen werden, dass die zum Wesen des Menschen gehörende Pflicht des politischen Handelns kein selbstbestimmtes Ende hat. Aus der Logik der politischen Bewegung kann das Ende aller Politik als Scheitern begriffen werden, weil es nicht aus der Konsequenz dieses Handelns erfolgt, sondern einen jähen, von außen verhängten Stillstand bringt. Doch aus Platons Sicht liegt darin die Tragik des Politischen nicht! Gewiss, der plötzliche Stillstand der Geschichte kann in politischer Perspektive als Verhängnis gelten. Es muss allen, ob sie politisch tätig sind oder nicht, als schrecklich erscheinen, dass mit einem unvorhersehbaren Schlag alles stille steht. Alle Anstrengungen der Menschen sind entwertet, auch solche, die im Gang der Ereignisse als erfolgreich gelten konnten. Angesichts der alles umfassenden Vergeblichkeit liegt es nahe, dieses Ende als tragisch zu bezeichnen. Wir haben es oben selbst getan, weil es der Logik des auf die Realisierung von Zielen ausgerichteten Handelns ein unabwendbares Ende setzt.

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Platon aber nutzt den Mythos von der Spindel nur, um dem Menschen seine Grenzen aufzuzeigen: Das Menschengeschlecht hat mit dem anzufangen, was es vorfindet, und es wird, den größten Errungenschaften zum Trotz, niemals Herr über sein Schicksal sein. Das gilt für den Einzelnen entsprechend, der nur mit dem handeln kann, was ihm zwischen Geburt und Tod begegnet. Zwar hat jeder sein Bestes zu geben; jedes Individuum ist herausgefordert, dem Lauf der Dinge die Richtung zu geben, die seine Vernunft ihn als die richtige erkennen lässt. Aber wie weit er damit kommt und was er erreicht, liegt nicht in seiner Hand. Insofern ist der Mythos von der Spindel ein Lehrstück in politischem Realismus; es erinnert den Menschen an die Grenzen seiner Macht; es bedeutet ihm, sich keine Illusionen über das Ende seiner geschichtlichen Mission zu machen. Für den neuzeitlichen Leser enthält es die Warnung, den Sinn der Politik nicht von einem für erreichbar gehaltenen historischen Endziel abhängig zu machen. Heilsgewissheit, so würden wir heute sagen, schießt immer über das Ziel der Politik hinaus. Wenn aber die Aufgabe der Politik nicht aus ihrem geschichtlichen Ende folgt und wenn sie sich ihm nicht aus einem vorgefundenen Auftrag ergibt, kann sie sich einzig aus der Verfassung des Menschen ergeben. Er muss sich bilden und entwickeln – um seinen eigenen Ansprüchen zu genügen. Er hat seine Vernunft zu gebrauchen – weil er sie hat. Er hat sich Antworten zu geben – weil er sich selber Fragen stellt. Und er hat das Gute zu tun – weil ihn weder das Gute noch das Schöne noch das Wahre gleichgültig lässt, denn man sieht ja, dass er sich unentwegt darauf beruft. Alles das sind die im Menschen wirksamen Bedingungen, die Sokrates mit seiner Mäeutik zu Tage befördert, wann immer er jemanden findet, der sich in ein Gespräch mit ihm einlässt. Diese Bedingungen sind es, die den Menschen zu einem politischen Wesen machen. Sie nötigen ihn, wenn auch aus eigener Einsicht, zum politischen Handeln. Und sie allein sind dafür namhaft zu machen, dass die Politik die größte, schönste und wahre Tragödie ist. 21. Der Mensch als Urheber seiner eigenen Tragçdie. Es gibt immer gute Gründe, bei der Erläuterung eines Begriffs alltagssprachlich anzusetzen. „Tragisch“ ist dann im weitesten Sinn alles, was ein unglückliches Ende nimmt, vornehmlich alles, was mit großen Erwartungen verbunden ist, äußerste Anstrengung fordert und schließlich zum Scheitern verurteilt ist. Wenn Nietzsche von der „tragischen Verfassung“ des menschlichen Daseins spricht, dann meint er die Tatsache des Geborenseins, die damit eröffnete Lust, zu leben und sich eigene Ziele zu setzen, und die damit

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zugleich gesetzte Notwendigkeit, alsbald wieder zu sterben. Wenn er dann das „tragische Zeitalter der Griechen“ rühmt, scheint er freilich ein engeres Verständnis zugrunde zu legen, in das die Bewältigung der Tragik durch Kunst einbezogen werden muss. Denn sonst könnte man nicht verstehen, warum ausgerechnet das Leben des Sokrates, dessen Ende eine paradigmatische Tragödie war, nicht mehr tragisch gewesen sein soll. Das kann nur darin liegen, dass Sokrates (als Steinmetz) keine überragenden Bildwerke geschaffen hat und sich literarisch offenbar erfolglos an der Vertonung Äsopischer Fabeln versucht hat. Bei diesem Ausschluss einer, wie ich glaube, wahrhaft tragischen Existenz wird unterstellt, dass „tragische Verfassung“ im engeren Sinn nur unter den Bedingungen ästhetischer Gegenwehr erfahren werden kann. Es ist Platon selbst, der zu einem weiten Begriffsgebrauch ermutigt. Denn er polemisiert gegen die klassische Tragödie mit einer Schärfe, die ihn zum Verzicht auf den Terminus hätte nötigen müssen, wann immer er etwas Eigenem Bedeutung verleihen will. Zumindest hätte er sagen müssen, wie er den Ausdruck versteht, wenn er ihn in eigener Absicht zur Auszeichnung von etwas Großem, Schönem und Wahrem einsetzt. Das hat er versäumt. Aber wir sind in der Lage, die fehlende Klärung nachzutragen. Sie läuft, wie es bei Platon nicht anders sein kann, auf ein neues Verständnis des Tragischen hinaus: Die Tragödie der Politik ist die Tragödie der Freiheit. Denn die Freiheit ist es, aus der die Teilnahme und Teilhabe an der Politik hervorgeht, und diese Freiheit ist es zugleich, die das Politische nicht nur erschwert und behindert, sondern es unablässig der Gefahr des Misslingens aussetzt. Die Gefahr des Misslingens durch Dummheit, Irrtum und Irreführung, durch Neid, Ichsucht und Bedenkenlosigkeit, durch Verrat, Trägheit, Starrsinn, Übermut, Streitlust und abgrundtiefe Bosheit begleitet die Politik in allen ihren Phasen. Jeder kann wissen, dass die Politik unablässig den Verfehlungen ihrer Akteure und der Gleichgültigkeit ihrer Adressaten unterliegt. Die drei Gesprächspartner aus Athen, Sparta und dem kretischen Knossos, die übereinkommen, eine neue Siedlung zu gründen, stehen auch für verschiedene Formen des Niedergangs der Stadt, aus der sie stammen. Mit Blick auf die antike Politikgeschichte überhaupt, erst recht in Kenntnis der nachfolgenden Ereignisse, sind die Beispiele für den Untergang politischer Reiche Legion. Die Gegenwart steht im Zeichen der Furcht, dass es mit der Politik des Menschen alsbald und überhaupt ein Ende haben könnte. Das Schema von Aufbau, kurzer Dauer und Verfall ist immer gleich: Die Städte und Staaten werden aus Freiheit gegründet, und sie können

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sich nur unter der Berufung auf die freie Mitwirkung ihrer Bürger erhalten. Aber was sie schwächt und schließlich untergehen lässt, beruht nicht minder auf dem freien Handeln derjenigen, die das Interesse verlieren und sich abwenden – im Verein mit jenen, die sie von innen und von außen bekämpfen. Platons geschichtlicher Horizont reicht aus, um dies genauso zu sehen.65 Mit dem Ausgangspunkt in seiner Freiheit übernimmt der Mensch die Verantwortung für die Politik. Also trifft ihn auch die Schuld an deren Versagen ganz allein. Folglich ist er in der Tragödie der Politik ganz bei sich selbst. Die Götter, die im klassischen Drama Hauptakteure waren, haben ausgespielt, so dass die Dramatik sich ganz auf den Handlungsraum des Menschen konzentriert. Dem Menschen aber, auch dies ist anders als in der klassischen Tragödie, bleibt die Möglichkeit verwehrt, Schicksalsmächte anzuklagen, denen er sich schutzlos ausgeliefert fühlt. Die Erynnien, die Orest bis vor den Areopag von Athen verfolgten, sind als Eumeniden schon bei Aischylos zum Bestand der politischen Institutionen geworden.66 Bei Platon werden sie durch rationale Analyse, sagen wir: durch Aufklärung eliminiert. Ebenso fallen das Chaos und das ursprünglich Böse seiner rationalen Theologie, die er im zehnten Buch der Nomoi erneuert, zum Opfer. Zwar gibt es zahllose natürliche, gesellschaftliche und geschichtliche Faktoren, aus denen das politische Geschehen hervorgeht. Aber als dessen Ursache (aitia) hat allein der Mensch zu gelten. Im reflexiven Bezug auf seine Rolle, ist er der einzige Grund (aitia) der Politik. Und im Fall des Versagens trifft ihn allein die Schuld (aitia). Also ist er es, der im Ganzen wie im Einzelnen die Verantwortung (aitia) für das politische Geschehen trägt.67 Allem zum Trotz, was heute über Theologie und Metaphysik in Umlauf ist, befreit die auf die Einheit von Kosmos und Seele gegründete Spekulation den Menschen zu sich selbst. Für Platon kann die Vernunft 65 Ich verweise auf Herodots Historien, auf Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges, auf das dokumentierte geschichtliche Wissen von Platons Zeitgenossen Isokrates und auf seine eigene Behandlung der Ursachen für den Verfall der Staaten in Platon, Politeia, 543a ff. 66 Vgl. Aischylos, Eumeniden, V. 892 ff. Dazu: Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. 67 Der junge Begriff der Verantwortung, dessen philosophische Popularität wir Nietzsche und nach ihm Max Weber verdanken, zieht das weite Bedeutungsfeld von aitia zusammen und passt es den in der Moderne so hoch bewerteten Kommunikationsansprüchen an. Deshalb kann man aitia nicht selten direkt mit Verantwortung übersetzen.

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den Menschen nur deshalb ernsthaft leiten, weil sie nicht nur das menschliche Vermögen, sondern zugleich das göttliche Organ der Ordnung des Ganzen ist. Damit kann Gott als dasjenige gelten, das der menschlichen Seele am nächsten (oikeotatos) ist.68 Gleichwohl ist der Mensch, dem der göttliche Funke innewohnt, insofern allen anderen Naturwesen gleich, weil auch er sich ganz auf sich und seine Kräfte verlassen kann. Unterschieden ist er lediglich durch die Art seiner Anteilnahme an den kosmischen Kräften. Durch sie kann er als vernünftig gelten; sie machen ihn frei, seiner Einsicht zu folgen und zu wollen, was ihm richtig erscheint. Dadurch gelangt der Mensch in die ihm von den Göttern eingeräumte Zuständigkeit für die Politik, für die er, wie der Mythos von der Spindel zeigt, die alleinige Verantwortung trägt. Dem Menschen gebührt das Verdienst, wenn er der polis eine der Vernunft folgende Ordnung gibt. Ihn trifft aber auch die Schuld, wenn es dazu nicht kommt. Also ist er das einzige Wesen, das Urheber, Gegenstand und Opfer einer Tragödie sein kann. Solon, der das erste Vorbild für den Gesetzgeber in den Nomoi abgibt und dem Platon nahe zu kommen sucht, hat das mit seinem den Athenern nachgerufenen Wort autoi aitioi – sie selbst sind schuld an ihrem Untergang – auf den Punkt gebracht.69 Da die Herleitung dieser Konsequenz allem zuwiderläuft, was die Moderne über Metaphysik und Theologie zu denken pflegt, sei der entscheidende Punkt noch einmal betont: Es ist die spekulative Einbindung des Menschen in die Ordnung des Ganzen, die ihn vor seinem eigenen Bewusstsein in Stand setzt, für das Ganze seines eigenen Daseins zuständig zu sein. Denn wäre die menschliche Vernunft ohne göttlichen Grund, so wäre sie nur, wie die Flügel der Vögel oder die Flossen der Fische, ein Lebensmittel, mit dem er sich in seiner spezifischen Umwelt behaupten kann.70 Sie wäre ein Werkzeug (techne¯ma), mit dem er sich in seinem eigenen Lebenskreis behauptet. Aber sie hätte keine Bedeutung für eine Welt, der sich der Mensch als Ganzer zurechnen kann. In dem, was der Mensch sein Wissen nennt, wäre nur ein Bestand von Überzeugungen zu sehen, und es wäre sinnlos nach deren Wahrheit zu fragen. Seine intellektuellen Leistungen wären wie die Tränen in seinen Augen: Nur etwas, das für sein eigenes Befinden, für sein Überleben, für den

68 Platon, Nomoi, 726a. 69 Dazu: Werner Jaeger: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Berlin/ New York 1989, S. 1161. 70 Vgl. Platon, Politikos, 265a ff.

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Bestand seiner Art und für die Verständigung mit seinesgleichen Bedeutung hätte. Tatsächlich aber weiß der Mensch, dass er ein Naturwesen ist, das mit den natürlichen Kräften ebenso verbunden ist, wie mit allen anderen Lebewesen auch. Er erkennt, dass es Gesetzmäßigkeiten und Ordnungen gibt, denen er ausgesetzt ist, die er zugleich aber auch nutzen kann, so dass er der gegebenen physis neue Bestände (thesei) und besondere Gesetze (nomoi) hinzufügen kann, die nicht nur Schein, keine bloßen Illusionen sind, sondern eine wirksame Wirklichkeit, die mit der, aus der er stammt, der er seinen Leib und seine Lebenszeit, aber eben auch seine Vernunft verdankt, ursprünglich verbunden ist. In diesem Wissen, das, wie die Auseinandersetzung mit den Sophisten zeigt, jeder zu Hilfe nehmen muss, der die über den bloß menschlichen Horizont hinausgehende kosmische Bedeutung der Vernunft bestreitet, besteht die Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen. Darin liegt die Kompetenz für die Wahrnehmung von etwas Ganzem, wie er es in seiner Seele und in seiner polis vor sich hat. In dieser Sorge für seine personale und für seine politische Einheit, ist die Vernunft nicht mehr bloß das Instrument seiner gattungsspezifischen Lebenssicherung, sondern die Instanz einer Wahrheit, die im Allgemeinheitsanspruch der menschlichen Vernunft ebenso zum Ausdruck kommt wie in der Gesetzlichkeit einer politischen Ordnung überhaupt. Wie nahe uns Platon mit dieser Auffassung steht, kann heute jeder nachvollziehen, dem der Anspruch auf die Wahrung der menschlichen Würde etwas bedeutet. Hier setzt das Verlangen auf grundrechtliche Sicherung der personalen Integrität des Einzelnen auf eben die Verbindung, um die es auch Platon geht, wenn er die individuelle Seele zusammen mit dem politischen Gesetz für göttlich erklärt. Zwar wird man heute niemanden mehr auf den Namen Gottes verpflichten wollen. Aber auch der moderne Zeitgenosse muss sich sagen lassen, dass man weder die Unantastbarkeit der menschlichen Würde noch die allgemeine Verbindlichkeit des Menschenrechts allein aus den faktischen Gegebenheiten der vorkommenden Natur herleiten kann. Man braucht zumindest den in der Natur zwar angelegten, aber alle faktischen Bedingungen überschreitenden Anspruch der Freiheit, um ihre universelle Geltung zu verstehen. Wenn man nun noch hinzufügt, dass es dieses in einzigartiger Weise durch seine über sich selbst disponierenden Fähigkeiten ausgezeichnete Wesen ist, dem die Kompetenz zufällt, seine eigene vernünftig begründete, in die Natur eingefügte und dennoch seinen nicht-empirischen

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(von Platon „göttlich“ genannten) Prinzipien folgende politische Ordnung aufzubauen, und dem zugleich die alleinige Schuld an deren Scheitern zufällt, dann haben wir verstanden, was Platon meint, wenn er die Politik als die wahre Tragödie bezeichnet.

Sektion II Das Tragische in der Antike

Über das Tragische bei den Griechen Bernhard Zimmermann Zu den häufig verwendeten, aus dem Griechischen abgeleiteten Wörtern zählt ohne Zweifel das Adjektiv ,tragisch‘, das sogar Eingang in die deutsche Alltagssprache gefunden hat, aber vor allem ein sowohl philosophische als auch literaturwissenschaftliche Diskussionen bestimmendes Konzept ist. Im klassischen Griechisch des 5. Jahrhunderts v. Chr., also der Blütezeit der Tragödie, ist das Adjektiv tragiks (tqacijºr) ein rein technischer Begriff. Wie die meisten auf -iks (-ijºr) endenden Adjektive ist es eine Neuprägung der unter sophistischem Einfluss stehenden Sprachentwicklung der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. und bezeichnet, wie es die Regel bei den auf -iks gebildeten Adjektiven ist, nichts anderes als die Zugehörigkeit zur Tragödie, oder es drückt aus, dass der bezeichnete Gegenstand oder die bezeichnete Person nach Art der Tragödie ist oder sich wie eine tragische dramatis persona geriert.1 Unmerklich theoretisch aufgeladen wird das Wort in der Poetik des Aristoteles.2 Nach dem Stagiriten ist Euripides der „tragischste“ Dichter. Der Superlativ hat natürlich noch einen unmittelbaren Bezug zu dem Nomen tragod a (tqac\d¸a), ,Tragödie‘; er enthält jedoch bereits eine Begriffserweiterung. Euripides ist der „tragischste“ Tragiker, da er Tragödien schrieb, die den Vorstellungen des Aristoteles vor allem im Hinblick auf das Endziel der Tragödie, Furcht und Mitleid zu erregen,3 am meisten entsprechen. So ist das griechische Adjektiv tragiks auch bei Aristoteles noch nicht Träger einer über die Gattung Tragödie hinausreichenden Vorstellung oder Theorie oder gar eine allgemeinmenschliche, anthropologische Grundkonstante, wie es z. B. Emil Staiger postuliert: 1

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Vgl. Charles William Peppler: The Termination -jºr as Used by Aristophanes for Comic Effect. In: American Journal of Philology 31 (1910), S. 428 – 444; zusammenfassend zu Fachsprachen in der Komödie jetzt Andreas Willi: The Languages of Aristophanes. Aspects of Linguistic Variation in Classical Attic Greek. Oxford 2003, S. 139 – 145. Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a30. Vgl. Aristoteles: Poetik. Übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt. Berlin 2008, S. 511 – 526.

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„Überhaupt ist ,Tragik‘ […] kein Begriff der Dramaturgie, sondern gehört in die Metaphysik.“4 Da jedoch Aristoteles in der Poetik mit anthropologischen Ansätzen arbeitet, steht er an der Schwelle zu einem die Gattung Tragödie transzendierenden Verständnis von tragisch und Tragik, das er aus der Analyse der gelesenen und analysierten Tragödien zieht. Für Aristoteles spielt die Aufführung (psis [exir]) und die Vertonung (melopoi a [lekopoi¸a]) bei der Bewertung einer Tragödie keine Rolle; sie sind technoi (%tewmoi), nicht zur Kunst des Tragikers, sondern des Regisseurs gehörende Elemente, die nur dazu beitragen, den Sinn eines Stücks zu verschleiern oder zu verderben.5 Erst in der Lektüre enthülle sich, von welcher Art ein tragischer oder epischer Text sei.6 Wesentliches Element der Tragödie ist nach Aristoteles die Peripetie, der Umschlag in der Regel vom Guten zum Schlechten,7 der Umschlag dessen, was eigentlich erreicht werden soll, in sein Gegenteil, wobei dieser Umschlag nach Wahrscheinlichkeit (eiks [eQjºr]) oder Notwendigkeit (anangka on [!macja?om]) zu geschehen habe.8 Die Peripetie ist zusammen mit der Anagnorisis, der Wiedererkennung,9 ein Charakteristikum von komplexen Handlungen (myˆthoi peplegmnoi [lOhoi pepkecl´moi]).10 Als Beispiel dient Aristoteles wie häufig in der Poetik der sophokleische Kçnig Oidipus: 11 Der korinthische Hirte berichtet Oidipus in der Meinung und Hoffnung, ihn von seinen Sorgen zu befreien, dass er

4 Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. München 1971, S. 132. 5 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1450b15 – 20. 6 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 26, 1462a11 f. Vgl. auch Kap. 6, 1450b18 – 20: Das, was in einem Stück steckt (d¼malir), zeige sich weder im dramatischen Wettstreit, d. h. wohl: im Ergebnis, das es im Agon der Tragiker erzielt, noch in der performance. 7 Aristoteles, Rhetorik, Kap. 11, 1371b10. 8 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 11, 1452a22 – 29. Vgl. Aristoteles: Poetik. Erl. Schmitt, S. 429 – 432. 9 Die Wiedererkennung als ein erkenntnistheoretisches Problem macht die Gattung Tragödie auch unter systematischen Gesichtspunkten für den Philosophen interessant, wie die Zusammenstellung möglicher Formen von Anagnoriseis zeigt, die Aristoteles in Kap. 16, 1454b19 – 1455a21 vornimmt; dazu Aristoteles: Poetik. Erl. Schmitt, S. 540 – 545. 10 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 11, 1452b12. 11 Vgl. Bernhard Zimmermann: Sophokles. König Ödipus. Stuttgart 2003, S. 97 – 99 (Zusammenstellung der Passagen der Poetik, die sich mit dem sophokleischen Kçnig Oidipus befassen).

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nicht Sohn des Herrscherpaares von Korinth sei,12 und erreicht damit genau das Gegenteil von dem, was er bewirken wollte. Peter Szondi steht ganz in der aristotelischen Nachfolge, wenn er in seinem Versuch ber das Tragische zum Kçnig Oidipus schreibt:13 Wie kein anderes Werk erscheint der Kçnig dipus in seinem Handlungsgewebe von Tragik durchwirkt. Auf welche Stelle im Schicksal des Helden der Blick sich auch heftet, ihm begegnet jene Einheit von Rettung und Vernichtung, die ein Grundzug alles Tragischen ist. Denn nicht Vernichtung ist tragisch, sondern daß Rettung zu Vernichtung wird, nicht im Untergang des Helden vollzieht sich die Tragik, sondern darin, daß der Mensch auf dem Weg untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen.

Der von Aristoteles als Beispiel gewählte Kçnig Oidipus macht deutlich, dass Peripetie und Anagnorisis in einem untrennbaren Zusammenhang mit der die Affekte der Rezipienten beeinflussenden Wirkung der Tragödie zu sehen sind, ja, dass sie sie in höchstem Maße auslösen. Doch bevor wir uns der Frage zuwenden, ob diese aristotelische Konzeption von Peripetie, dem Umschlag des Gewollten in sein Gegenteil, und die mit ihr verbundene Affektauslösung sich auch in Texten des 5. Jahrhunderts v. Chr. nachweisen lassen, ob also die Dichter ein Bewusstsein von Tragik im aristotelischen Sinne hatten, zunächst einige Worte darüber, wodurch sich für einen Zuschauer des 5. Jahrhunderts, also der Zeit des Aischylos, Sophokles und Euripides, eine Tragödie definierte. Die Antwort mag banal klingen, sie ist jedoch ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der dramatischen Gattungen im 5. Jahrhundert v. Chr.: Tragödien sind dramatische Aufführungen, die von zwei Gruppen – maximal drei Schauspielern und einem Chor – am 3., 4. und 5. Festtag der im März/April stattfindenden Großen oder Städtischen Dionysien, dem dem Gott Dionysos geweihten Hauptfest der Stadt Athen, in einem festgelegten Aufführungszusammenhang stattfanden, nämlich in der Form der Tetralogie, von drei Tragödien und einem abschließenden Satyrspiel, und die, da sie in einem kultischen Rahmen aufgeführt wurden, als geistige Opfergaben der Bürgerschaft an den Gott natürlich 12 Vgl. Sophokles, König Oidipus, V. 1110 ff. (Sophokles’ Werke werden zitiert nach: Sophokles: Dramen. Griech. u. dt. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Bayer. Mit Anm. u. e. Nachw. v. Bernhard Zimmermann. München/Zürich 21985). 13 Vgl. Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260, hier S. 213.

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auch nur ein einziges Mal gesehen werden konnten.14 Die Gattung Tragödie bildete sich erst gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. aus. Sie entstand aus rein chorischen Aufführungen – nach Aristoteles aus dem Kultlied des Dionysos, dem Dithyrambos –,15 ist also eigentlich eine chorische Gattung16 und folglich wie die anderen chorischen Formen Dithyrambos, Päan, Threnos etc. nur durch den Aufführungsanlass definiert und dadurch, dass Mythen ihren Inhalt ausmachten, wobei zum Mythos nach der Auffassung des 5. Jahrhunderts allerdings auch die Geschichte zählt. Mythos und Geschichte, selbst die der unmittelbaren Vergangenheit, sind eins. Dieser vagen, aber für das 5. Jahrhundert v. Chr. allein möglichen Tragödiendefinition entsprechend finden sich in den erhaltenen und fragmentarisch bezeugten Tragödien des 5. Jahrhunderts v. Chr. eine Vielzahl von Spielformen: Historische Stücke (Phrynichos; Aischylos) stehen neben mythologischen Dramen, Stücke mit einem happy end, die wir mit dem Begriff Schauspiele bezeichnen würden, neben solchen, die ein völliges Scheitern vorführen, manche Dramen weisen gar so deutliche komische Elemente auf, dass schon die antiken Philologen ihre Schwierigkeiten damit hatten, sie als Tragödien zu bezeichnen.17 Doch diese Schwierigkeiten, die schon Philologen des 3. und 2. Jahrhunderts v. Chr. im alexandrinischen Museion, der großen Bibliothek der Ptole14 Vgl. Bernhard Zimmermann: Europa und die griechische Tragödie. Frankfurt a.M. 2000, S. 27 – 64. Bei dem weniger repräsentativen, eher innerathenischen Fest der Lenäen (Februar) spielte die Tragödie keine herausgehobene Rolle. 15 Vgl. Bernhard Zimmermann: Dithyrambos. Geschichte einer Gattung. Berlin 2008. Aristoteles definiert den Nucleus der Tragödie genauer bei denen, „die den Dithyrambos anstimmen“, also bei den Chorführern/Exarchontes. Damit beschreibt er präzise, dass in dem Zusammenwirken von Chorführer (also einem einzelnen) und dem Chor (also einer Gruppe) dramatisches Potential steckt (Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1449a10 f.). Nach der antiken Tradition soll Thespis, der ,Erfinder‘ der Gattung im letzten Drittel des 6. Jahrhunderts v. Chr., einen einzelnen als „Antworter“ – rpojqit¶r (hypokrits) ist terminus technicus für Schauspieler – dem Chor gegenübergestellt und damit erst Handlung, also Drama, möglich gemacht haben. 16 Dies wird auch in der offiziellen athenischen Terminologie deutlich: wenn der Dichter sich um das Aufführungsrecht bewarb, verlangte er einen Chor für sich (woq¹m aQte?shai, chor n aite sthai), der ihm, wenn er Erfolg hatte, vom höchsten Staatsbeamten, dem Archon eponymos, gegeben wurde (woq¹m didºmai, chor n didnai). 17 Vgl. dazu Bernd Seidensticker: Palintonos Harmonia. Studien zu komischen Elementen in der griechischen Tragödie. Göttingen 1982. Das Paradebeispiel ist der Orest des Euripides.

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mäer, mit der Klassifizierung der Masse an erhaltenen Tragödien hatten – allein im 5. Jahrhundert müssen zwischen 400 und 500 Stücke aufgeführt worden sein, Sophokles schrieb ca. 120 Stücke –, ergeben sich erst aus der wissenschaftlichen, systematisierenden Aufarbeitung; für einen Dichter wie für das Publikum des 5. Jahrhunderts waren all diese inhaltlich und formal verschiedenen Stücke Tragödien, weil sie an den Tragödientagen der Großen Dionysien aufgeführt wurden. Aus der Auffassung der Tragödie als einer chorischen Sonderform – einer speziellen athenischen Entwicklung des Chorlieds – erklärt sich auch der tragische Wirkungsmechanismus, den Aristoteles in seiner Katharsis-Theorie entwirft,18 der sich jedoch auch in Reflexionen des 5. Jahrhunderts nachweisen lässt.19 Im Chorlied feiert anlässlich eines Götterfestes eine Gemeinschaft sich selbst, sei es eine ganze Stadt oder nur eine bestimmte Gruppe. Der Mythos, den der Chor in seiner performance darbietet, dient immer in irgendeiner Weise der Widerspiegelung des festlichen Kontexts und bietet Möglichkeiten, die Gruppenidentität zu stärken oder Krisensituationen durchzuspielen, sie besser verstehen zu lernen und dadurch zu meistern. Doch wird dieser Mythos nicht im Vortrag, sondern in einer ästhetisch gestalteten, von Musik und Tanz getragenen Form dargeboten. Deshalb wohnt dem Chorlied eine politisch-religiös stabilisierende wie affektive Wirkung inne, die eigentlich zueinander in Widerspruch stehen – in einem Widerspruch, den man bereits in der Antike reflektierte. Soll Dichtung erziehen oder unterhalten?20 Der Sophist Gorgias weist in seinem Enkomion der Helena 21 zwei oder drei Generationen vor Aristoteles der Dichtung, die nach ihm nichts anderes als metrisch gebundene Rede, metrischer Logos ist, eine magisch 18 Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b24 – 28. Vgl. Stephen Halliwell: Aristotle’s Poetica. London 1986, S. 350 – 356. Vgl. vor allem die ausführliche Diskussion der Forschungsgeschichte und des aristotelischen Konzepts in Aristoteles: Poetik. Erl. Schmitt, S. 333 – 348 u. S. 476 – 510. 19 Zum rituellen und medizinischen Hintergrund des Begriffs vgl. Fortunat Hoessly: Katharsis als Heilverfahren. Studien zum Ritual der archaischen und klassischen Zeit und zum Corpus Hippocraticum. Göttingen 2001. 20 Die Frage wird in den Frçschen des Aristophanes (405 v. Chr.) durchgespielt und dann von Platon in seiner Dichtungskritik aufgenommen und zieht sich hin bis in die moderne Diskussionen über die Funktion des Theaters in der Gesellschaft; vgl. Zimmermann: Europa und die griechische Tragödie, S. 161 – 169. 21 Vgl. Gorgias: Enkomion der Helena. In: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech. u. dt. v. Hermann Diels. Hg. v. Walther Kranz. Berlin-Charlottenburg 8 1956, Bd. 2, B 11, Kap. 8 f.

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oder medizinisch zu nennende Wirkung auf die Seele der Rezipienten zu. Sie kann Furcht beenden, Trauer beseitigen, Freude hervorrufen und Mitleid erwecken. […] Wer Dichtung anhört, den überkommt Schauder voller Furcht, Mitleid voller Tränen und tränenreiche Sehnsucht, und aufgrund des Glücks und Unglücks fremder Angelegenheiten und Personen erfährt die Seele des Rezipienten ein ganz eigenes Leid allein durch die Kraft der Worte.22

Diese affektive Wirkung wird dann noch verstärkt, wenn das, was man hört oder sieht, nicht fremdes Leid und fremde Personen sind, sondern wenn es etwas ist, was einen selbst angeht: So bricht Odysseus, mit seinem eigenen Leben in einem Epenvortrag konfrontiert, im 8. Buch der Odyssee zweimal in Tränen aus, als der Sänger von seinen Taten vor Troja singt.23 Ähnliches widerfährt dem athenischen Publikum, das 492 bei der Aufführung von Phrynichos’ Einnahme Milets, einer unmittelbare Gegenwartsereignisse behandelnden Tragödie, in Schreien und Klagen ausbricht, da es nach dem Zeugnis des Historikers Herodot24 eigenes Leid ansehen musste. Die der Tragödie eigentümliche Wirkung, die Aristoteles als Katharsis bezeichnet, kann demnach, wie dies Gorgias schon schreibt und wie es die athenischen Beamten des Jahres 492 schon sahen, die Phrynichos mit einer Geldstrafe belegten und weitere Aufführungen des Stücks untersagten, nur dann eintreten, wenn zwischen dem Dargebotenen und dem Publikum eine Distanz besteht – eine Distanz, die von den Dichtern zwar immer wieder durch Brücken, vor allem den Chor, vermindert wird, aber doch eine Distanz bleiben muss. Vielleicht kann man damit erklären, dass historische Tragödien auf drei Versuche beschränkt25 blieben und nach den Persern des Aischylos des Jahres 472 verschwanden. An dieser Stelle bietet es sich an, noch einmal auf die Frage zu sprechen zu kommen, welche Struktur denn am besten diese Erschütterung auszulösen vermag, die Aristoteles mit Furcht und Mitleid beschreibt und die zur Katharsis, zur Reinigung dieser Affekte führen soll.26 22 23 24 25

Ebd. [Übers. v. Verf.]. Vgl. Homer, Odyssee, 8. Buch, V. 83 ff. u. V. 521 ff. Herodot, Historien, VI, 21, 2. Phrynichos, Einnahme Milets und Phçnizierinnen (Darstellung der persischen Niederlage bei Salamis aus Sicht der Unterlegenen, der Frauen der phönizischen Seeleute); vgl. Aischylos, Perser. 26 Ob er darunter im Sinne einer medizinischen Abführung die Reinigung von den Affekten – d. h. nach dem Theaterbesuch ist der Zuschauer affektlos – oder die

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Es ist auffallend, dass Gorgias, der Zeitgenosse des Sophokles und Euripides, die Wirkungen der Tragödie zwar auch mit Furcht und Mitleid wie Aristoteles beschreibt, aber eine Reihe weiterer durch die Stücke ausgelöster Affekte anführt: Freude, Sehnsucht und Furcht, und sogar auf die körperlichen Symptome, Schauder und Tränen, hinweist. Dies bedeutet, dass Gorgias der Vielfalt der Tragödienformen Rechnung trägt, also aus seiner Erfahrung als Theaterbesucher des ausgehenden 5. Jahrhunderts schreibt, während Aristoteles eine Reduktion unter dem Gesichtspunkt, welche Form denn die beste Tragödienform ist, vornimmt und – den sophokleischen Kçnig Oidipus im Kopf – diese in der Peripetieform findet, die, seiner Mesoteslehre entsprechend, keine extremen Reaktionen auslöst, sondern eben Furcht und Mitleid. Und diese Form des Furcht und Mitleid auslösenden Peripetie-Dramas ist, soweit wir dies anhand des kargen erhaltenen Materials sagen können – 33 Tragödien von ca. 500 sind nur erhalten –, eindeutig nur durch den sophokleischen Kçnig Oidipus bezeugt, vielleicht verdeckter in der Antigone, die das, was sie retten will, die Familie, durch ihr Tun zerstört. Was Aristoteles am Kçnig Oidipus faszinierte, ist das, was Schiller als „tragische Analysis“ bezeichnete,27 dass alles schon zu Beginn des Stücks geschehen ist und feststeht, es also nicht auf Handlung ankommt, sondern auf Erkenntnis.28 Dass dieses dialektische Verständnis von tragischer Peripetie und von Tragik – das eigentlich Gewollte schlägt in sein Gegenteil um – nicht eine aristotelische Erfindung ist, die der Philosoph in die Tragödien des 5. Reinigung der Affekte versteht, kann in diesem Zusammenhang nicht diskutiert werden. Ich votiere für die zweite Lösung: nach dem Theaterbesuch verfügt der Zuschauer ganz im Sinne der aristotelischen Mesotes-Theorie über geläuterte Affekte. Völlige Affektlosigkeit, wie es die Stoa postuliert, ist nicht im Sinne der aristotelischen Ethik. 27 „Ich habe mich dieser Tage viel damit beschäftigt, einen Stoff zur Tragödie aufzufinden, der von der Art des Oedipus Rex wäre und dem Dichter die nehmlichen Vortheile verschaffte. Diese Vortheile sind unermeßlich, wenn ich auch nur des einzigen erwähne, daß man die zusammengesetzteste Handlung, welche der Tragischen Form ganz widerstrebt, dabey zum Grunde legen kann, indem diese Handlung ja schon geschehen ist, und mithin ganz jenseits der Tragödie fällt. […] Der Oedipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt“ (Friedrich Schiller: An Goethe. Jena 2 8br. 97. Montag. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schillerarchivs, des Schiller-Nationalmuseums und der deutschen Akademie hg. v. Julius Petersen u. Gerhard Fricke. Weimar 1943 ff., Bd. 29, S. 141). 28 Vgl. dazu Zimmermann: Sophokles. König Ödipus, S. 83 – 98.

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Jahrhunderts hineininterpretierte, sondern die Zeitgenossen Strukturen dieser Art als typisch tragisch erkannten, belegen die Wolken des Komödiendichters Aristophanes (423 v. Chr.), der seinem Stück eine tragische Struktur zugrunde legt, die in der Verbindung des Problems der menschlichen Erkenntnisfähigkeit und der Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Gott29 das tragische Grundkonzept des Aischylos, Sophokles und Euripides enthält.30 Der komische Held namens Strepsiades – er trägt einen sprechenden Namen: „Verdreher“, nämlich „Rechtsverdreher“ – will sich der Schulden, die sein nichtsnutziger Sohn aufgehäuft hat, entledigen, indem er zu dem Erzsophisten Sokrates in die Lehre geht, um von ihm zu lernen, wie man – ganz nach dem Programm des Sophisten Protagoras – die schwächere zur stärkeren Sache machen kann. Er wird von Sokrates in das Wesen der neuen Gottheiten der Intellektuellen,31 der Wolken, eingeweiht, die eine szenische Metapher des Windigen und Nebulösen der sophistischen Sokratik sind.32 Als er in seiner Ausbildung zum sophistischen Redner scheitert, schickt er seinen Sohn in die Lehre, bei dem der Rhetorikunterricht allzu gut anschlägt: Er beweist seinem Vater, dass es rechtens sei, Vater und Mutter zu verprügeln, und setzt dies auch unverzüglich in die Tat um. Anklagend wendet sich der Alte in der Schlussszene an den Chor der Wolken, da sie ihn dazu getrieben hätten, diesen Weg einzuschlagen. Der Chor antwortet ihm: „Das tun wir immer, wenn wir sehen, daß einer sich überhebt. Dann bestärken wir ihn in seinem schlechten Tun, auf daß er scheitere und, eines Besseren belehrt, zur Einsicht, zur Sophrosyne, komme.“33 Die tragischen Strukturen sind unübersehbar: Die komische Tragik des Strepsiades besteht darin, dass er, Antigone vergleichbar, das vernichtet, was er retten will, nämlich seine Familie, und zu spt – dies ist gleichsam das Leitmotiv der sophokleischen Tragödienkonzeption – zur Erkenntnis kommt. Die aischyleische Komponente sind die Wolkengottheiten, die 29 Vgl. Bernhard Zimmermann: Gott und Mensch in der griechischen Tragödie. Überlegungen zur tragischen Theologie. In: Thomas Ganschow (Hg.): Otium (Festschrift Volker Michael Strocka). Remshalden 2005, S. 461 – 467. 30 Vgl. ausführlich dazu Bernhard Zimmermann: Pathei Mathos. Tragische Strukturen in den Wolken des Aristophanes. In: Studia Philologica Valentina 9 (2006), S. 245 – 253. 31 Zur Intellektuellenkritik in der aristophanischen Komödie vgl. Bernhard Zimmermann: Die griechische Komödie. Frankfurt a.M. 2006, S. 106 – 119. 32 Vgl. Hans-Joachim Newiger: Metapher und Allegorie. Studien zu Aristophanes. München 1957, S. 50 – 74. 33 Aristophanes, Wolken, V. 1455 – 1458 [Übers. v. Verf.].

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ganz der aischyleischen Theologie entsprechend über die Weltordnung wachen, in Verblendung gefangene Menschen auf ihrem Irrweg bestärken34 und am Ende – gemäß der Maxime des p thei m thos (p²hei l²hor)35 – nach dem Leid zur Erkenntnis bringen. Doch diese Erkenntnis verhindert Aristophanes auf euripideische Weise: Anstatt seinen Fehler, seine Hamartia, aristotelisch gesprochen,36 einzusehen, geht der Alte nach den mahnenden Worten des Chores daran, die ,Denkerei‘ des Sokrates in Brand zu setzen – ein seltsames Ergebnis aischyleischer Erziehung. Das heißt: die Götter und Menschen sind zu weit voneinander entfernt, als dass der Mensch die Götter verstehen könnte – dies ist die theologische Aussage der Tragödie des Euripides, die am meisten theologisch zu nennen ist, der Bakchen –, zumal diese Gottheiten windige, ungreifbare Wesen, nämlich Wolken sind, die ständig ihre Form verändern. Es gibt – so die aristophanische Auflösung der tragischen Strukturen des Aischylos und Sophokles mit euripideischem aufklärerischem Impetus – für den Menschen keine Möglichkeit, aus Leid zu lernen oder das Wesen der Götter zu verstehen. Wir verdanken dieser Komödie eine scharfsinnige Reduzierung des Tragischen der drei Tragiker in einem Stück in komischer Verfremdung, das athenische Publikum des Jahres 423 dankte es Aristophanes nicht und bestrafte ihn mit dem letzten Platz im Wettkampf der Komödiendichter.

34 Der ,Merkvers‘ für dieses Konzept findet sich in den Persern (Aischylos, Perser, V. 740). Der aus der Unterwelt heraufgerufene persische Großkönig Dareios erklärt das Scheitern der Großmacht gegen das kleine Athen bei Salamis durch zwei Komponenten. Es sei zwar vom Schicksal festgelegt gewesen, dass Persien irgendwann einmal scheitere; dass sich dies so schnell ereignen konnte, liege am Charakter seines ehrgeizigen und verblendeten Sohnes. Denn „wenn einer selbst zu viel Eifer an den Tag legt, dann greift auch noch der Gott mit an“ und beschleunigt den Untergang [Übers. v. Verf.]. 35 Aischylos, Die Orestie, Agamemnon, V. 177. 36 Vgl. zum Begriff Aristoteles: Poetik. Erl. Schmitt, S. 443 – 476.

Medea, Dea ex Machina. Aristoteles über Euripides Anselm Haverkamp Der Ausgang der Tragödie scheint ihre einfachste Bestimmung: ein böses Ende, auf das sie mit schrecklicher Konsequenz hinausläuft. Dass es in der Komödie umgekehrt stehe – ein gutes Ende, an dem der Held heiratet statt stirbt – ist irreführend, denn der glückliche Held ist nicht am Ende seiner Tage angekommen, worüber allenfalls ein märchenhafter Schluss – ,und wenn sie nicht gestorben sind‘ – hinwegführen würde. Der Schluss der Tragödie ist mithin ein doppelter, in dem das Ende des Helden mit dem des Stücks zusammenfällt, das Schicksal des Helden zur Lehre oder Reinigung wird und – in der Konsequenz – einen Schlussstrich zieht. Genauer besehen ist dieser Schlussstrich so wenig endgültig wie das Glück der Komödie, denn das Morden im Hause der Atriden ist ein Schicksal, das seinen Lauf nimmt über Generationen. Die Tragödie greift, indem sie das Schicksal eines einzelnen exemplarisch macht, ein in dessen mythischen Verlauf und greift heraus, was sie zu einem – für sich wie für den Helden – eigenen Ende führt. Die selbstreflexive Leistung, welche die Tragödie dabei vollbringt, ist ein immer wieder, womöglich sogar zwangsläufig übersehener Teil ihrer Poetik, die von Anfang an von großer historischer Reflektiertheit zeugt. Denn die Ironie, die der Tragödie notwendig innewohnt, ist eine der Geschichte. So dass die ästhetische Dimension des Tragischen, die nie bestritten, wohl aber historisch abgewehrt worden ist, von einer tragischen Bestimmung des Historischen begleitet ist, die sich in der Neuzeit – praktisch seit Shakespeare, theoretisch seit Hegel – in ein neues Verhältnis zur Tragödie gesetzt findet, ihrer ursprünglich unthematisierten Untergründigkeit, so scheint es, endgültig entwachsen ist. Indessen, die Tragödie kann sich nicht in sich halten, aufheben oder aufgehoben machen, sie drängt auf ein Supplement, von dem nun nicht mehr sicher ist, dass es einfach nur Geschichte sein kann. Die Kunst der mechan, der dea ex machina Medea zum berühmtesten Beispiel, ist die Allegorie dieses Zugs der tragischen Ironie zur Geschichte, die sich aufspreizt und durchkreuzt noch im selben Zug. Was für eine Geschichte?

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Erlassen Sie mir nach dieser ersten Seite der Abstraktion den Versuch, das technische Interesse meiner Bemerkungen auf gründlichere, begründetere Füße in der Sache zu stellen. Dabei kommt es mir zunächst auf die eine, freilich schräg liegende Pointierung des tragischen Endes an und seine untergründige Verbindung zu dem, was nicht endet in der Tragik, sondern weitergeht – und dies Weitergehen ist die Tragik – in der Geschichte, in der und für die das Theater gemacht wird.

I. Aristoteles, Poetik Aristoteles’ Bestandsaufnahme hatte den Gegenstand nicht zum wenigsten historisiert und als einen historischen auf Regeln gebracht, deren Übertretungen im Windschatten der norm-orientierten Schlussfolgerungen prophetische Züge bargen. Nicht wenige der Einschätzungsprobleme der aristotelischen Poetik beruhen auf Missverständnissen der implizit historischen Leistung dieser Schrift, der auch die tiefste der neueren Einsichten, die Entdeckung der tragenden Rolle der „tragischen Ironie“ entgangen zu sein oder fremd geblieben zu sein scheint; der Philosoph Aristoteles hätte sich ihr, sei es entzogen, sei es geradezu verweigert. Die Stelle, an der dies geschehen wäre – so es denn wahr wäre – hängt an einem Begriff von Geschichte, den Aristoteles nicht hat: den er noch nicht haben kann, sagen manche; den er nicht brauchen kann, andere. Medea ist in jedem Fall das prominente Beispiel.1 Die problematische Einschlägigkeit eines quasi ,dialektischen‘ Momentes avant la lettre, hängt mit beidem, der stillen Ironie und der unartikulierten Geschichte zusammen. Statt eines Referates, das den unabsehbaren Stand dieser Rezeptionslage auf eine angemessene Weise darzustellen hätte, ziehe ich die gefährlichen Details vor, mit denen es die Lektüre der problematischen Textstellen zu tun bekommt. Kapitel 9 der Poetik gibt einen guten Eindruck der Unklarheiten, an denen Aristoteles nicht allein schuld ist. Der Unterschied, den er dort macht zwischen der Tragödie und der Geschichtsschreibung als einer nicht philosophischen, rein registrierenden Tätigkeit (für die er Herodot zitiert, nicht Thukydides), ist der der Verallgemeinerungsfähigkeit des in seinem tragischen Verlauf zur Anschauung gebrachten Geschehens ver1

Vgl. Paula Debnar: Fifth-Century Athenian History and Tragedy. In: Justina Gregory (Hg.): A Companion to Greek Tragedy. Oxford u. a. 2005, S. 3 – 22, hier S. 4.

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glichen mit der blinden Singularität des historisch Aufgezeichneten, die keine Möglichkeit dramatischer Aktualisierung und keinen Anlass zur philosophischen Reflexion birgt. Das sehen wir heute eher umgekehrt. Gleichwohl lässt sich Aristoteles hier leicht und ohne Verlust der Intention ergänzen, denn es geht ihm offenkundig um ein Maß an Reflektiertheit, das er in der Geschichtsschreibung der Zeit vermisst, in der Tragödie aber in höchstem Maße, ja in einer exemplarischen Weise findet, die der philosophischen Behandlung nahe steht. Dass man dieses philosophische Interesse an unserem Ende der Geschichte als ein in höchstem Maße historisches, wenngleich nicht notwendigerweise auch schon als ein geschichtsphilosophisches Interesse verstehen kann, steht fast noch auf demselben Blatt – nämlich dann, wenn man es als ein der geschichtsphilosophischen Behandlung entgegenstehendes auffassen wollte. Denn das Tragische hat nach Aristoteles eine eigene Zeit: eine dezidiert undialektische, für Zufälle anfällige, sie nachgerade anziehende, zufällige Zeit.2 Es ist die Frage, ob man diese Zeit nicht eine im höchsten Maße historische nennen müsste. Die Formulierung des von Aristoteles gefassten Sachverhalts, historisch erblindet wie sie ist, festgefahren in der heuristischen Syllogistik der Lehrschriften und erst recht dieses Musters an esoterischer Lehre, das die Poetik bietet, ist in sich nicht einfach, sondern – unbeschadet der Unterscheidung des Dramatikers vom Historiker – eine doppelte. Zwar soll der eine, der Dramatiker, hauptsächlich vom Möglichen handeln, was der andere, der Historiker, in seiner Beschränkung auf das Gewesene auch nicht ansatzweise mitdenken kann. Aber das Mögliche gewinnt seine Wahrscheinlichkeit erst als die Möglichkeit von Gewissheit und folglich hauptsächlich aus der sicheren Gewesenheit eines Geschehens (welche auch Gegenstand der Geschichtsschreiber sein müsste, und es bei Herodot und Thukydides durchaus war). Wir können uns nicht, sagt Aristoteles in einer Pointiertheit, die nichts zu wünschen übrig lässt und weder in der Verallgemeinerungsfähigkeit, noch in der Wahrscheinlichkeit aufgeht, sondern beide allererst begründet, der Möglichkeit dessen versichern, was nicht geschehen ist, sondern dessen „what happens for the most part“.3 2 3

Vgl. Victor Goldschmidt: Temps physique et temps tragique chez Aristote. Paris 1982, S. 409. Aristoteles: De Poetica. Transl. by Ingram Bywater. In: The Works of Aristotle. Translated into English. Hg. v. William. D. Ross, Bd. 11, Oxford 1924/1946, hier Kap. 7, 1450b27 – 34. Vgl. Dorothea Frege: Necessity, Chance, and „What Happens for the Most Part“ in the Poetics. In: Amélie O. Rorty (Hg.): Essays on Aristotle’s Poetics. Princeton 1992, S. 197 – 219.

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Und dies tun wir hauptsächlich und in ausgezeichneter Weise durch das, was manifest möglich ist, weil es schon einmal passiert ist.4 Was manifest diese Möglichkeit bezeugt, sind die Namen, zu deren Plausibilität die Klärung herbeigeführt wird.5 Sie sind für den Dramatiker nicht historisch kontingent, wie die Historiker sie überliefern, sondern sie sind manifeste Zeugen dessen, was es durch sie und in ihnen – in ihrem Namen – erst zu der wirklichkeitsfähigen Möglichkeit gebracht hat, als die sie überzeugen kann.6 Der Poetik-Kommentar von Lucas homogenisiert die vermeintliche Widersprüchlichkeit auf das folgende Minimum, mit weitreichenden Implikationen: The easiest solution is to suppose that A[ristotle], like Thucydides, believed that Greek myth, or much of it, was basically historical, or at least that names like Heracles or Achilles belonged to the class of cem|lemoi, real people [mit denen es die Historiker zu tun haben], but [und darauf kommt es an] that he distinguished between legends such as those of Troy or Thebes, and history of recent events like the Persian Wars.7

Halten wir fest: Allein aus Gründen des dramatischen Aufbaus und der tragischen Wirkung und nicht aus Gründen der historischen Aufzeichnung schien es Aristoteles tunlich, dass der Tragödienschreiber Geschichte benutzt.8 Es gibt schon bei Aristoteles in der Geschichte ein tragisches Moment, das den Historiker nicht interessieren mag, ja ihn professionell nicht einmal interessieren kann nach Aristoteles, das aber für die Tragödie von nachgerade konstitutiver Bedeutung ist. Das nächste Kapitel 10 schließt direkt an und verschärft, was sich auf den ersten Blick wie ein kontingenter Umstand ausnimmt, zur konstruktiven Voraussetzung für den wichtigsten Teil der Analyse, die Anlage des Plots, der einen einfachen und einen komplexen Verlauf nehmen kann.9 Einfachheit oder Komplexion unterschieden und vorausgesetzt, kommt Aristoteles in Kapitel 11 umgehend zu dem, was allein die komplexen Fälle auszeichnet, obwohl es die Struktur insgesamt (per Implikation auch die Anlage der einfachen Fälle) bestimmt: die Peripetie. Die Umkehrung, die sie ist oder sein soll,10 ist nicht zu verwechseln mit 4 5 6 7

Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 9, 1451b18. Vgl. ebd., 1451b15. Vgl. ebd. Aristotle: Poetics. Introd., Comm. and Appendixes by Donald W. Lucas. Oxford 1968, S. 122 ad 1451b15. 8 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 9, 1451b30. 9 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 10, 1452a12. 10 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 17, 1455a22 ff.

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der ins Bewusstsein tretenden Anagnorisis.11 Die philosophische Behandlung des Gegenstandes enthält sich auffällig jeder Rede von Schicksal.12 Allenfalls scheint die metabol eine strukturelle (dann in der Tat ironische) Parallele zur Peripetie darzustellen. Aber nicht darauf, sondern auf den tragischen Zug und Zuschnitt kommt es an, der in der Verkomplizierung der Handlung seine Probe aufs Exempel zu bestehen hat. In der einfachen Form fällt diese Verkomplizierung mit dem zielstrebig erreichten Ende schwer unterscheidbar zusammen, das von Anfang an nur ein unglückliches sein kann. In den einfachen Fällen scheint die Tragödie daher nichts als ein Umweg, mit dem das Ende zum Anfang zurückkehrt – und also eine deutlich mythische Form. Allein der komplexe Fall ist philosophisch interessant, denn dort kommt es zu jenem Umschlag im Verlauf der Handlung, den man als quasi- oder proto-dialektisch avant la lettre verstehen wollte, dessen Zäsur aber nichts anderes bewirkt, als dem im Anfang still beschlossenen, von allen vorgewussten Schicksal die innewohnende Zwangsläufigkeit eines in dieser Form unerwarteten Endes einzuzeichnen. Für die metabol der Handlung, durch die Kapitel 11 die Peripetie definiert und die Tragödie auf den Höhepunkt bringt,13 wird deshalb in Kapitel 17 genauer postuliert, dass in der Konstruktion des Umschlags das Geschehen als ein im Handeln von Akteuren vollbrachtes sichtbar werden solle und dabei im Theater zutage gebracht werde, was sonst – ich füge versuchsweise hinzu: „historisch“, wie im historischen Diskurs – im Verborgenen bliebe.14 Taten schlagen in das glatte Gegenteil der in sie gelegten Tatrichtung um, in ein nicht mehr vorhergesehenes, nicht mehr beherrschbares Tun – mag der Umschlag nun „dialektisch“ in einem urtümlichen Sinne sein oder es in diesem ursprünglichen Sinne eben gerade nicht sein.15 Tatsächlich ist die Sache genauerhin so: Die tiefer liegende ursächliche Verknüpfung setzt sich nicht etwa hinter dem Rücken der Akteure durch – das wäre die bloße dramatische Ironie – nein, sie setzt sich in deren eigenster Handlung, unter der Hand zwar, aber durch diese selbe 11 Vgl. Aristotle: Poetics. Transl. with an Introd. and Notes by Malcolm Heath. London 1996, S. XXX. 12 Vgl. Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Untersuchung über die Theorie der Tragödie. Frankfurt a.M. 41970, S. 136. 13 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 10, 1452a22. 14 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 17, 1455a22. 15 Vgl. Bernd Seidensticker: Peripetie und tragische Dialektik (1992). In: ders.: Über das Vergnügen an tragischen Gegenständen. Studien zum antiken Drama. München 2005, S. 279 – 308, hier S. 288.

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Hand durch – und das ist nun keine Ironie mehr, in der die Zuschauer sich gegenüber dem Geschehen versichert sehen, sondern eine Tragik, der sie sich schlagartig nicht entziehen können und die nach Philosophie geradezu schreit. Die durch eine inhärente Notwendigkeit bestimmte eigene Logik, Kausalität des Tragischen scheint Aristoteles’ ureigenste Entdeckung zu sein, während die bekanntere Meinung, dass sich diese Notwendigkeit bis in die Opsis der Aufführung hinein fortsetzt und nachwirkt, eine Art Kompromiss darstellt mit der platonischen Abwehr jeder mimetischen Kunst und de facto nur eine von Aristoteles explizit „atechnisch“ genannte Folge betrifft,16 welche die tchne poietik im Kern nicht interessiert.17 Die „tragische Ironie“ des Sophokles, die dem Oedipus einen ungeahnten, jeder Anagnorisis spottenden Doppelsinn in den Mund legt, macht erst auf dieser technischen Grundlage den doppelt abgründigen Sinn, der Oedipus (neben Medea, und doch anders, gegenläufig zu Medea) auszeichnet.18 Aristoteles’ wiederholte parallele Erwähnung der beiden Stücke zeigt von dieser Gegenläufigkeit eine Ahnung, der ich nachgehen will. Halten wir also fest: Die Peripetie entfaltet in der Komplikation der Tragödie keinen ironischen double plot, sondern bleibt ein ganz einfacher Plot, der nichts als den Auslöser eines mediokren Fehlers braucht, welcher sich derart allerdings als ein entscheidend großer herausstellt, aber keinesfalls als ein Charakterfehler des Helden gelten können soll.19 Es gab keinen Autor, endet Aristoteles das Kapitel 13, der – bei allen sonstigen Schwächen – diese intrikate Logik des Tragödien-Plots: das Ineinandergreifen von Handlungsabsichten auf der einen Seite und tiefer liegender Kausalität im Handlungsaufbau auf der anderen Seite, besser beherrscht hätte als Euripides. Medea erwähnt Aristoteles an dieser Stelle nicht; als ein eher einfacher Fall scheint sie nicht einschlägig zu sein. Ich möchte dagegen zeigen, dass sie als einfache Tragödie doppelt einschlägig ist, einschlägig nicht zuletzt im Aufschluss der Fragen, die Aristoteles’ Entwurf offen lässt: von Ironie und Geschichte als Implikaten der Tragödie, wenn nicht des Tragischen im Allgemeineren. Allerdings sind die Spuren Medeas im Text der Poetik, zwei oder drei im Ganzen, verwischt; im16 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 6, 1450b17. 17 Vgl. Friedrich Solmsen: Ursprünge und Methoden der aristotelischen Poetik. Darmstadt 1968, S. 22 ff. 18 Vgl. Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005, S. 64 f. 19 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 13, 1453a15.

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merhin indizieren sie die Einsatzstellen, an denen Medea die exemplarische Rolle des Euripides für die Poetik akzentuiert.

II. Euripides, Medea Die Geschichte zunächst, und das Ende später. In dieser Reihenfolge finden wir Medea in der Poetik: zuerst in Kapitel 14 bei der Abhandlung des zweifellos älteren Gemeinplatzes von Furcht und Mitleid. Aristoteles unterscheidet vier Möglichkeiten, von denen er die vierte als trivial und folglich nicht-tragisch auslässt.20 Im Raster dieser vier Möglichkeiten ist der einfache Fall der Tragödie derjenige, der (wie schon ausgeführt) Peripetie und Anagnorisis überflüssig macht, so folgerichtig kommt er zum Ende. Er liegt vor, wenn der Täter genau weiß, was er tut: so wie Medea beim Mord ihrer Kinder oder auch – setzt Aristoteles vielsagend hinzu – wie bei den Alten überhaupt.21 Es verschlägt nicht viel, ob hier, wie die Kommentatoren sich fragen, Euripides zur alten Tragödie gerechnet wird oder die alten Dichter im Allgemeinen gemeint sind.22 Jedenfalls blitzt eine historische Scheide auf, in der die Alten für einen naturwüchsigen Verlauf von Tragik reklamiert werden, die in ihrer reißenden, mitreißenden Konsequenz jeden Anflug von Anagnorisis sekundär macht und folglich auch jede Peripetie zu einem überflüssigen Schlenker machen würde. Als Gegenstück folgt die Komplexität im Oedipus des Sophokles im nächsten Satz schon auf dem Fuße23 und zeigt an, dass mit den Alten sinnvollerweise nur vor-tragische (oder eben alt-tragische) Dichter gemeint sein können, an die Medea erinnert, ja deren historische Differenz ihr explizit eingeschrieben und aufgeprägt erscheint – und die sie voraussetzt, denn die Peripetie, der Medea ja durchaus ausgesetzt ist in ihrem berühmten dritten (und darob oft als unauthentisch bezweifelten) großen Monolog, enthält eine in der Blickrichtung verkehrte Anagnorisis der momentanen Selbstverleugnung, über deren Bedeutung der Streit nicht zur Ruhe kommt, während Medeas Hin- und Hergerissenheit anlässlich 20 Vgl. Aristote: La Poétique. Le texte grec avec une trad. et des notes de lecture par Roselyne Dupont-Roc et Jean Lallot. Paris 1980, S. 256 ad 54a8. 21 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 14, 1453b27 ff. 22 Vgl. Aristotle: Poetics. Comm. Lucas, S. 152 f. ad 1453b27 und Appendix III, S. 293, Anm. 1. 23 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 14, 1453b30 f.

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der Trennung von den Kindern in der einen wie auch der anderen der am Ende gleichermaßen verheerenden Richtungen rhythmisch und psychologisch nicht raffinierter inszeniert und ausgeführt sein könnte.24 Anagnorisis als ausgetobte Verzweiflung, die unerträglich schwankt vor der vollendeten Tatsache, die von Anfang an droht und unverrückbar im Raume stehen bleibt, bevor sie schockartig wahr wird,25 dass die Kinder – so oder so immer schon – dem Tod geweiht sind, einem Tod, dessen Sühne in dieser Stadt nämlich von alters ein Kult geweiht ist, dessen Vorgabe Euripides bearbeitet: Arbeit am Mythos, die historisiert, ohne die vorvergangene Hoffnung anders denn als erratischen Block weiter zu transportieren, und das ist mehr als Thematisieren und Exponieren.26 Dass dies mehr ist, so zeigt Euripides, heißt Tragödie, und es beweist, seit Aristoteles, die Gegenwart der Tragödie als die je fällige Form ihrer Zeit. Die via Ovid travestierte und sprichwörtlich gewordene Rezeptionsgestalt der zentralen Verse Medeas in diesem entscheidenden Moment, die den in ihr tobenden Konflikt auf die Formel „wider besseres Wissen ein Übel wählen zu müssen“ bringen, verstellt den Sachverhalt viel weniger als das allzu leicht gewonnene, abstrahierte Gegenüber von Vernunft und Leidenschaft, das eine Unmenge von Interpretationen als Quintessenz dieser Szene herauspräpariert hat und abzuwägen nicht müde wird.27 Der thyms Medeas, der sich als so viel stärker erweist als alle ihre boulefflmata, 28 ist der ererbte archaische, den Medea im Kern ihrer Passion hat und zerreißt und in ihr über ein besseres Wissen siegt, an dem sie zweifeln, verzweifeln muss; ein thyms, der noch diese Passion selbst aus sich heraus zerstört bis ins nächste Glied, in die Kinder hinein, so wie dieselbe Passion in der Leidenschaft für Jason einmal triumphiert hatte, an ihm aber doch zugrunde gehen musste. Die Peripetie, weit davon entfernt, nicht da zu sein – im Gegenteil, raumgreifend im Raume stehend – fällt flach und die Anagnorisis, deren es nicht mehr bedarf, steht vereitelt. 24 Vgl. The Medea of Euripides. With Introd. and Notes by Mortimer L. Earle. New York 1904, S. 208 ff. 25 Euripides: Medea. The Text ed. with Introd. and Commententary by Denys L. Page. Oxford 1938/1952, V. 90 – 95. 26 Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947, S. 19; Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos (1971). In: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl u. Nachwort v. Anselm Haverkamp. Frankfurt a.M. 2001, S. 327 – 405, hier S. 330. 27 Vgl. Euripides: Medea. Comm. Page, S. 151 ad V. 1078. 28 Vgl. ebd., V. 1079.

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Medea hatte die Bühne schon am Anfang wie aus dem Off betreten und sie verlässt sie auch off stage, mit nicht natürlichen Mitteln. Man könnte erwägen, ob sie sie auf diese Weise nicht zweimal verlässt: vor dem Mord, als sie zu ihm endlich entschlossen ist29 und nach ihm noch einmal,30 als sie im Triumph, die Kinder an ihrer Seite, gen Himmel fährt. Wie bei den Alten (weiß Aristoteles) kehrt die Geschichte in Mythen wieder. So spielt Medea, asketisch beschränkt zwischen Anagnorisis und Peripetie, in der Lücke zwischen einem Vorwissen, das vor dem Stück liegt und seine unauslöschliche Vorgeschichte bleibt, und einem Umschlag, zu dem es nicht kommt, wie es kommen können müsste, weil das Ende gegen alle Aufklärung im Anfang beschlossen bleibt und bleiben muss. So kommentiert Medea, die tragische Heldin, die Ironie der Geschichte, die darin besteht, in der Tragödie Ironie nicht mehr sein zu können, wie sie es noch (weiß Aristoteles) in dem Zug um Zug durchreflektierten Oedipus des Sophokles war. Medea kommentiert den Kult, den die Tragödie hinter sich wusste, als Voraussetzung ihrer Wiederkehr. Das aber bedeutet nach Euripides, dessen Behandlung von Anagnorisis und Peripetie Aristoteles’ bestes – sein nach dem Oedipus bestes – philosophisches Exempel ist: Die Tragödie handelt von der Latenz der Geschichte im Mythos. Deren funktionale Erklärung bildet in der Plot-Anlage die Voraussetzung des reflexiven Wirkungsmechanismus von Furcht und Mitleid, den Aristoteles – darin seinerzeit konventionell – in den metaphorologischen Termini einer physiologischen, bio-logischen Wirkung fasst, der Wirkung der Katharsis. Der Vorteil von Luhmanns Begriff des „reflexiven Mechanismus“, den ich hier mit der metaphorologischen Hintergrundfunktion Blumenbergs zusammenschließe, liegt darin, die in den medizinischen Vergleich zurückfallende Möglichkeit der Katharsis, wie sie in Freuds Ausschlachtung der aristotelischen Anagnorisis weiterlebt, auf den Modus der Reflexivität zurückzubeziehen, der die Leistung reflexiver Mechanismen ausmacht: das Lernen von Lernen in der Erfahrung der Erfahrung.31 Darüber triumphiert Medea einmal mehr, als sie sich zur dea ex machina aufschwingt und die Kinder nicht dem Leben allein, sondern dem Nachleben im Kult der Stadt, die sie einmal getötet hatte in mythischer 29 Vgl. ebd., V. 1250. 30 Vgl. ebd., V. 1414. 31 Vgl. Niklas Luhmann: Reflexive Mechanismen (1966). In: ders.: Soziologische Aufklärung [Bd. I]. Opladen 1970, S. 92 – 112, hier S. 99 f.; Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960). Frankfurt a.M. 1998, Kap. VI.

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Vorzeit, entreißt und als Tote entführt: Trophäen griechischer Aufklärung, auf goldenem Wagen, mit den Schlangen-Emblemen der bezwungenen Vorzeit geschmückt.32 Die außerordentliche Rezeptionsgeschichte der Schlussszene beweist die überhistorische Pointe, und das nicht zuletzt dort, wo die bildliche Darstellung die alternative Doppelung der Enden, des alten mythischen Endes und des neuen tragischen Endes, nebeneinander zeigen kann: die auf dem Korinther Altar ihres Kultes tot zurückbleibenden Kinder und die im Sonnenwagen der triumphierenden Mutter entführten Kinder. Das eindrucksvolle Beispiel beider Motive nebeneinander findet sich auf einem rotfigurigen Krater um 400, also nach Euripides und wohl auch gemäß Euripides.33 Aristoteles’ zweite exemplarische Erwähnung Medeas gilt diesem Ende in einer als Abschweifung erklärten Nebenbemerkung des Kapitels 15, die es in sich hat, obwohl es abermals so aussieht, als solle wieder nur eine offenbare Regelverletzung durch Euripides belegt werden, wo sie doch tatsächlich Konstitutives aufzeigt: Die mechan, heißt es dort, müsse allein in der Handlung begründet sein – es sei denn, sie begründe diese ihrerseits von außen.34 Aristoteles, so lese ich diese Stelle gegen den Strich des ersten Augenscheins, hat Euripides sehr genau verstanden und die außergewöhnliche Bedeutung der tragischen Lösung Medeas unterstrichen. In der Medea – das verbindet sie sogleich wieder mit dem Oedipus 35 – markiert die mechan die Bühne selbst und lässt sie sprechen, wie der Geist des alten Hamlet der Geist der Geschichte ist, dem Shakespeare die Diagnose stellt. Denn wie eine Göttin – als die Göttin, die sie immer geblieben ist – sagt Medea dem Jason sein Schicksal über den Rand der Tragödie hinaus voraus als das zukünftige flache Ende ereignislosen Weiterlebens, an dem ihm, dem zerstörten Helden der Sage vom Goldenen Vlies, das verrottende Boot, das sein Schicksal war – grotesker Einfall – auf den Kopf fallen wird. Die Angst vor den Erinnyen, die Jason ohnmächtig beschwört, ist in dem neuen Bestimmungsort Medeas, dem Athen des Euripides, seit Aischylos’ Eumeniden bewältigt. So dass die spätviktorianische Übersetzung des von anthropologischen Ursprüngen 32 Vgl. Euripides: The Medea. Translated into English Rhyming Verse with Explanatory Notes by Gilbert Murray. London 1907, S. 96. 33 Vgl. Jocelyn P. Small: Pictures of Tragedy? In: Justina Gregory (Hg.): A Companion to Greek Tragedy, S. 103 – 118, hier S. 106 ff.: Lucanian red-figure calyx-krater, 400 BCE (Cleveland Museum of Art 91.1). 34 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 15, 1454b1. Euripides: Medea. Comm Page, S. 181 ad V. 1414; Aristotle: Poetics. Comm Lucas, S. 165 ad 1454b3 ff. 35 Vgl. Aristoteles: De Poetica, Kap. 15, 1454b7.

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besessenen Tragödienhistorikers Gilbert Murray aus Cambridge, von T. S. Eliot wegen seines schlechten Geschmacks gerügt, in den letzten Zeilen des Stücks, die eigentlich nichts als ein Versatzstück für das Standard-Ende einer jeden Durchschnittstragödie bieten, die Sache unerwartet auf den für die philosophische Nachreflexion passenden trugschlüssigen Punkt bringt: „And the end/ men looked for/ cometh not.“ Der Reim, den die Menschheit sich auf die Tragödie machen möchte, bleibt aus. Medea mithin auch eine philosophische Allegorie des Lesens der Poetik: Aristoteles selbst nutzt sie so an den esoterischen Rändern einer Lehrschrift, die zuvörderst anderes, und zwar nichts als Regelhaftes im Sinn hat. Die tragische Ironie, welche die strenge Konstruktion nicht nur mit sich bringt, sondern nachgerade mit bezweckt, nämlich: in der Peripetie, welche die Anagnorisis ihrerseits mitbringt, das Unheil, das diese erkennt, zuallererst, und geradezu mit Fleiß, hervorzutreiben – diese dramatisch induzierte Ironie, welche die Tragik auf ihren philosophischen Begriff bringt, ist in Medea der Furie des Tragischen zum Opfer gebracht, in ihr zur allegorischen Durchkreuzung ihrer selbst gebracht. Die Tragödie hat in der Medea kein Ende mehr als dieses emblematisch durchkreuzte, das den reflexiven Mechanismus des Lernens vom Lernen aus der Tragödie suspendiert, mitsamt der Ironie, die er zu induzieren vorgibt. Der makabre „touch of symbolism“, in dem „a human heroine [is transformed] back to the folk-tale fiend of magic powers“, steht aber nicht für sich, wie man denken könnte.36 Schlimmer, „the children safely on board“, zerschlägt sie den gordischen Knoten, der, von Beginn an geschürzt, ausweglos zwischen ihr und Kreon hin und her pendelt; ihr letzter Monolog sprengt die Gattung des tragischen Monologs in diesem Pendeln.37 Medea entzieht nicht nur sich und die Kinder den Riten, die ihnen in grauer Vorzeit geweiht waren; Tragödien an der Stelle solcher Kulte waren Euripides’ geheimes Programm. Medea entzieht sich dem Theater der Katharsis, das an die Stelle solcher Kulte getreten war: der Zumutung des Lernens aus irregeleiteter Leidenschaft. Sie reagiert auf die tragische Ironie solcher Ersetzungsprozesse von Aufklärung, die Katharsis hervorrief und es mit ihr bewenden ließ. Die ,aufgehobene‘ Geschichte – da hatte Hegel einen guten Griff getan – droht im Tragischen nicht ef36 Vgl. Desmond J. Conacher: Euripidean Drama. Myth, Theme and Structure. Toronto 1967, S. 198. 37 Vgl. Michael R. Halleran: Episodes. In: Justina Gregory (Hg.): A Companion to Greek Tragedy, S. 167 – 182, hier S. 181.

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fektiver als im Leben. Sie macht nur manifest, „dass die tragische Erfahrung nicht das Ende ist“ – nicht das Ende, das die Tragödie auf der Bühne nimmt.38

38 Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 98.

Der Staub und das Denken. Zur Faszination der sophokleischen Antigone nach dem Krieg1 Klaus Heinrich „Der Staub und das Denken. Zur Faszination der sophokleischen Antigone nach dem Krieg“ – der Titel möchte Sie vorbereiten auf den Versuch, anhand von privaten, aber nicht nur privaten, Erinnerungsspuren ein paar sophokleischen Wörtern – oder soll ich Begriffen? oder soll ich lieber Metaphern sagen? Einigen wir uns auf Phantasien! – nachzugehen. Dabei hoffe ich zeigen zu können, dass wir ohne zwei sich ergänzende Spekulationen, denn mehr können sie dem Anspruch nach nicht sein, uns über die Wirkung des Sophokles nur unzureichend verständigen können. Wir müssen einerseits fragen: Was verbindet die griechische Moderne seiner Zeit mit unserer Moderne? und andererseits müssen wir, so wie Der Text geht auf einen Vortrag zurück, der zuerst veröffentlicht wurde in: Gisela Greve (Hg.): Sophokles, Antigone. Tübingen 2002, S. 25 – 58. Der Wiederabdruck hier folgt: Klaus Heinrich: der staub und das denken (Reden und kleine Schriften 4). Frankfurt a.M./Basel 2009, S. 45 – 83. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Stroemfeld Verlages. 1 Den sophokleischen Text zitiere ich, wo nicht anders angegeben, nach der leichtest zugänglichen Ausgabe: Antigone. Griech. u. dt. Hg. u. übers. v. Norbert Zink. Stuttgart 1981 (zit.: Sophokles, Antigone mit Versangabe). Diese folgt ebenso wie die Tusculum-Ausgabe (Sophokles: Tragödien und Fragmente. Griech. u. dt. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarbeitet v. Karl Bayer. München 1966, S. 240 – 321) der maßgeblichen Editio Oxoniensis von Alfred C. Pearson: Sophoclis Fabulae. Oxford 1924, Repr. with Corr. 1957. Herangezogen habe ich ferner die Antigone-Ausgaben von Karl Reinhardt (Sophokles: Antigone. Übers. u. eingel. v. Karl Reinhardt. Göttingen 41966 (11943)) und Wolfgang Schadewaldt (Sophokles: Antigone. Übertr. u. hg. v. Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt a.M. 1974) sowie die Übersetzung von Heinrich Weinstock (Sophokles: Die Tragödien. Übers. u. eingel. v. Heinrich Weinstock. Stuttgart 1941, S. 251 – 311). – Hölderlins Übersetzung zitiere ich nach: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe). Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Dietrich E. Sattler u. a. Basel/Frankfurt a.M. 1975 ff., Bd. 16, S. 261 – 407, den ihr zugrunde liegenden Text der Juntina nach deren Abdruck ebd.

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schon Nietzsche es zu seiner Zeit versucht hat,2 das Genre seiner Tätigkeit und die Funktion, die es für die antike Polis hatte, in unsere Erwägungen einbeziehen. Ich werde mich auf einem schlüpfrigen Terrain bewegen müssen, nicht Philologe, nicht Religionswissenschaftler, nicht Psychoanalytiker sein können – oder doch nur von jedem jeweils ein bisschen, so wie es sich für einen ordentlichen Religionsphilosophen schickt –, und es wird nicht ausbleiben, dass die Formulierung ,nach dem Krieg‘ in einem Nebel von mehreren Generationen verschwimmt. Aber bezüglich der Wirkung der sophokleischen Antigone scheint mir noch immer Nachkriegszeit zu sein, vielleicht mehr, als sie es in einem engeren Sinne nach dem Krieg gewesen ist. Allerdings, die Bedenken bleiben, sprechen wir sie ruhig aus. – Mein Vortrag wird in zehn Teile gegliedert sein, er wird eine Stunde und zehn Minuten dauern, ich bitte um Nachsicht.

1 Wozu, im Jahr 2001, noch einmal sich mit dieser Ikone der Interpretation befassen? Es ist ja alles gesagt, und nicht weniges viele Male. Sophokles galt schon seinen Zeitgenossen als ein der dauernden Erinnerung würdiger, glücklicher Mann, er wurde bald nach seinem Tod unter die Heroen erhoben, die Antigone war früh kanonisch, und im Kanon der gerade einmal sieben von 130 bezeugten sophokleischen Stücken hat sie bis in die europäische Moderne überlebt.3 Das 19. Jahrhundert – George Steiner hat es uns in seinem wunderschönen Buch über die Antigonen 4 vorgeführt – verdient geradezu ein Antigone-Jahrhundert genannt zu werden, derart wird sie ästhetisch bewundert und denkerisch umkreist, erst Freuds Befassung mit Ödipus wird ihr den Rang streitig machen, aber nach den beiden großen Kriegen des vorigen Jahrhunderts, eigentlich einem nach bürgerkriegsähnlichen Intermezzi fortlaufenden Krieg, wird es wieder Antigone-Renaissancen geben. Das Bild von der sophoklei2

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Vgl. Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 23 f. – mit der in unserem Zusammenhang bemerkenswerten Pointe, dass die Entindividualisierung und Ästhetisierung „einer ganzen Masse“ kraft „dionysischer Erregung“ (Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 52) die Brücke von der antiken griechischen Tragödie zur modernen Kunstreligion des 19. Jahrhunderts (Richard Wagner) schlägt. Zur antiken Rezeption des Sophokles vgl. Hellmut Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen. München 2000, S. 30 ff. Vgl. George Steiner: Antigones. Oxford/New York 1984; dt.: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos. München 1990.

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schen Harmonie ist da schon längst entzaubert, nicht länger werden gleichgewichtige Prinzipien, wie bei Hegel und Hölderlin,5 ins interpretatorische Spiel gebracht, die ,Idealität‘ der dramatischen Personen, die noch Nietzsche ihnen zugestand, weil sie ebenso viele Masken des einen Gottes Dionysos seien,6 wird expressiv, existentiell, rationalisierend und archaisierend gebrochen – so in den Antigone-Versionen, die sich mit den Namen Hasenclever, Anouilh, Brecht und auf der Opernbühne Orff verbinden7 –, in Diskussionen wird die Pazifistin, Feministin, vor allem die Verteidigerin des Naturrechts gegen staatliche Willkür, aber auch die ihrer Unbedingtheit hilflos Ausgelieferte, zu Resistance und Glück gleich Untaugliche, freigesetzt. Das allerdings sind Rollen, hinter denen beides verschwindet: die Figur, die in ihren Rollen nicht aufgeht, und das Stück. Dieses war ja kein Thesen-, sondern eher ein, wie wir noch sehen werden, Anti-Thesenstück, hinausgedacht, hinauskomponiert, hinausgespielt auch aus der Dialektik von These und Antithese, eben: ein staatlich domestiziertes und doch staatskritisches Stück Kulttheater; eins unter unvorstellbar vielen in einem jährlich wiederholten, nach festen Spielregeln ablaufenden städtischen Concours, jeder der für den Wettstreit Zugelassenen vertreten jedesmal mit drei Tragödien und einem Satyrspiel, alle vier für ein Publikum von 12- bis 15 000 Personen, denn so viele fasste das Athenische Dionysos-Theater, ausgedacht, einstudiert und aufgeführt.8 Ein kultisches Musiktheater mit starren Usancen, uns unendlich ferngerückt – wir werden gleich noch Näheres davon hören und zu berücksichtigen haben – und gerade darum mit Ursprungsphantasien verklärt von Nietzsche bis hin zu Heidegger9 und Orff:10 Was 5 Vgl. Hegel, PhRel I, TWA 17, S. 133: Kreon und Antigone zwei sittliche Mächte, die „beide Unrecht erlangen, weil sie einseitig sind, aber damit auch beide Recht“, und Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonae. In: Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 409 – 421, hier S. 421: „Die Vernunftform, die hier tragisch sich bildet, ist politisch und republikanisch, weil zwischen Kreon und Antigonae, förmlichem und gegenförmlichem, das Gleichgewicht zu gleich gehalten ist“ [Herv. v. Verf.]. 6 Vgl. Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 71. 7 Hasenclevers Antigone 1917, Anouilhs 1942, Brechts (nach Hölderlin) 1947, Orffs Antigonae (Ein Trauerspiel des Sophokles von Friedrich Hölderlin) 1947/ 48. 8 Zum heutigen Stand der Diskussion über das Dionysos-Theater vgl. Flashar: Sophokles, S. 11 ff. 9 Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 1953, Druck der Vorlesung von 1935 (in der Erörterung des ersten Chorlieds der Antigone, S. 112 ff.): „Der Anfang ist das Unheimlichste und Gewaltigste. Was nach-

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daran und aus welchem Grunde sollte uns heute noch faszinieren, es sei denn unter dem Gesichtspunkt des Massenspektakels11 als eines planmäßig wiederholbaren, über mehr als ein volles Jahrhundert (also mehr als das ganze 5. vorchristliche Jahrhundert, das fast identisch ist mit der Lebenszeit des Sophokles) erfolgreichen, die Virtualität der Heroenmythologie strapazierenden – wie würden wir es heute nennen? – ,DauerEvents‘? – Bisher habe ich aus großer Distanz gesprochen. Ich schlage eine erste Annäherung vor, die uns das Thema gleich noch einmal fernzurücken und zu verfremden scheint, indem sie die private Erinnerung ins Spiel bringt. Aber ich nehme an, diese war schon bei der Wahl des Themas selbst am Werk. Was mag Frau Greve, die Initiatorin unserer Veranstaltung, bewogen haben, von der Diskussion, der einmal schon halb vereinbarten, des offen vor uns liegenden bachmannschen Nachkriegswerks Abstand zu nehmen und sich statt dessen dieser ständig neu sich verdunkelnden und erhellenden Figur, Antigone, zuzuwenden? Was hat nicht losgelassen an einem Sujet, das im großen Klage-Wechselgesang der Protagonistin und des Chors, dem Kommos des 4. Epeisodion also, als deren eigener Zustand so beschrieben wird: ,nicht unter den Lebenden, nicht unter den Toten‘,12 also nicht tot-lebendig, nicht lebend-tot, nicht ein uns wohlvertrautes Zwischenreich? War das der Anstoß? – Ich gehe privat noch einmal einen Erinnerungsschritt zurück, den zu machen ich jedesmal empfehle, wenn ein Text sich über den lange schon und wiederholt gelesenen legt: Woran erinnerte ich mich vor dem Wiederlesen? Was daran fasziniert mich noch immer? – Aber ehe ich mich darauf einlassen kann, nennen wir es ruhig die privaten Obsessionen, habe ich zu konzedieren: ich bewege mich, so wie die Protagonistin auch, in einer uns und ihr wohlvertrauten Faszinationsgeschichte, hier einer über zweieinhalb Jahrtausende hin, die in ihren Elementen noch viel tiefer reicht. Denken Sie nur an die Inzestverfallenheit der Protagonistin und ihrer Sippe, den ödipeischen Fluch über dem siebentorigen Theben, den der Löser des Sphinx-Rätsels, das er selber ist, gerade darum nicht zu lösen vermag – und dem in einem 100-torigen, dem ägyptischen Theben mit kommt, ist nicht Entwicklung, sondern Verflachung als bloße Verbreiterung“ (ebd., S. 119). 10 Vgl. Carl Orff: Antigonae, in der Live-Aufnahme der Bayerischen Staatsoper unter Georg Solti vom 12. Januar 1951 (Orfeo, München 1955): ein Exempel zeitgenössischen Kulttheaters. 11 Tatsächlich tritt der 19.-Jahrhundert-Begriff „Masse“ in Zusammenhang mit der Dionysos-Bühne bereits bei Nietzsche auf: s. das Zitat o. in Fußnote 2. 12 Sophokles, Antigone, V. 852: (mtoikos) ou zsin ou thanosin.

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seiner Allee von Sphingen, nicht einer einzelnen auf ihrer Säule, das Inzest-Gebot der pharaonischen Herrschersippe irritierend gegenübersteht! Können wir Antigone und ihre Brüder herausdenken aus dieser Konstellation? Hier sind die öffentliche, also mythologische und kultische, Faszination und die private nicht zu trennen, und wir sehen gleich: auch sie erschöpft sich nicht in privaten Motiven, sondern gibt sich, wie könnte es anders sein, als eine teils entstellende, teils enthüllende Konkretion, ja Agentur der nur scheinhaft anderen zu erkennen. Freud hat davon in der Entzifferung seines sophokleischen Tragödientextes, des Kçnig dipus, faszinierend Gebrauch gemacht.13 Was fasziniert, ist und bleibt ambivalent – anziehend, weil anziehend und abstoßend zugleich. Was fasziniert, sind die nichtgelösten Konflikte – Masken der Geschlechterspannung, die ich in mir trage und die gerade dort, wo ich mich ihrer projektiv zu entledigen suche, der Text mir als einen bedrohlichen Spiegel vorhält. Kann ich mich ihm trotzdem anvertrauen? Wird er sie aufnehmen und sie mir gelöst oder wenigstens erträglich wiedergeben? Ist er, in einem aktiven, nicht nur passiven Sinne, analysetauglich?

2 „Der Staub und das Denken“ – so habe ich die Ankündigung dieses Vortrags über die Faszination der Antigone nach dem Krieg überschrieben und dabei nicht nur meine erste Nachkriegslektüre im Sinn gehabt. Als Kind hatte ich sie einmal schon gelesen, in der alten Jugendstilausgabe Hölderlins von Wilhelm Böhm,14 die dunkle Sprache entzückte mich damals mehr als die Handlung, Metaphern prägten sich ein, eine davon soll uns gleich noch beschäftigen, denn ich suchte und vermisste sie nach dem Krieg. Das Stück spielte in Niemandsland. Nach dem Krieg transportierte das Stück die Aktualität, die es im Krieg gewonnen hatte, Brecht und Anouilh ließen keinen Zweifel, wo das Stück zu spielen hatte: im 13 Vgl. Sigmund Freud: Die infantile Wiederkehr des Totemismus. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt a.M. 31955 ff., Bd. 9, S. 122 – 194, hier S. 187 f. (die Tragödienbühne eine Urvatermord und Totemmahlzeit rekapitulierende Szene), und ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 342 – 344 (der Ödipuskomplex von Sophokles so kunstvoll enthüllt wie im regelrechten „Fortgang einer Psychoanalyse“). 14 Die Ausgabe von Wilhelm Böhm: Friedrich Hölderlin: Gesammelte Werke. Hg. v. Wilhelm Böhm. Jena 21911, Bd. 3, S. 253 – 317.

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Vorhof der Macht, und schließlich hatte es schon Sophokles, getreu dem traditionellen Muster der Tragödienbühne, dort angesiedelt. Aber als ich mich jetzt fragte: ,wo spielt das Stück?‘, da hatte mir die sophokleische Imagination den alten hölderlinschen Streich gespielt. Das Niemandsland, der Gestank aus dem Niemandsland, der von dem unbeerdigten Toten ausgeht, das Niemandsland, in dem wir die zugemauerte, die wieder aufgebrochene Höhle suchen müssen, in der ein Doppelselbstmord und ein versuchter, nicht geglückter Totschlag stattgefunden haben – aber der Doppelselbstmord, in Wirklichkeit zwei Selbstmorde nacheinander, wahrlich kein Liebestod, obschon gerade er das auslösende Muster für alle Liebestode der Opernbühne des 19. Jahrhunderts sein wird –, nicht zuletzt das Niemandsland, das in den Seelen aller Beteiligten angerichtet worden ist, egal, ob sich die Überlebenden das Leben nehmen oder nicht, definiert und entgrenzt den Schauplatz. Fügen wir gleich hinzu: Dieser Entgrenzung korrespondiert eine andere, ohne die wir uns die antike Schauspielbühne nicht vorstellen können – die des Dionysos, seiner Mythologie, seines Kults. Aber es überrascht doch, dass der glückliche Sophokles, mitten in der Zeit des Wiederaufbaus der siegreichen, für wenige Jahre imperialen Stadt Athen, uns mit seinem Niemandsland, auch wenn es Theben heißt, in Bann schlägt. – Sie sehen, ich scheue mich nicht, Sophokles selbst für die Direktion meiner Erinnerung verantwortlich zu machen. Wenn ich Ihnen jetzt einen philologischen Beleg dafür nennen sollte, fiele mir als erstes wieder das Wort ein, das sich in meiner Erinnerung als eins von zwei gleich rätselhaften, aufklärungsbedürftigen, festgesetzt hatte: he knis, der Staub. Das andere war t phrone n, das Denken. Ich folge zuerst der Spur des Staubs. – Er ist so indifferent wie der von Sophokles imaginierte Schauplatz der Botenberichte, die in der Tragödie an die Stelle der Mauerschau des Epos getreten sind, und zugleich belastet mit der leibhaften Präsenz des Totenreichs. Nicht beerdigt werden, nicht beerdigt haben – diese archaische Angst, die immer eine ist, die darum den medialen Status hat, der von keiner Ersatzhandlung aufgefangen und erträglich gemacht werden kann, ist schon für die Reflexion im Epos der Einbruch eines durch Rituale nicht abwendbaren namenlosen Schreckens. Damit, dass im 24. Gesang der Ilias Achill sich erweichen lässt und Priamos, dem Vater Hektors, den geschleiften Leichnam des Sohns heimlich zur Bestattung freigibt15 (heimlich, damit die Heerführer der Griechen, allen voran der Völker15 Vgl. Homer, Ilias XXIV, V. 486 – 589 (nach der Ausgabe Homer: Ilias. Übertr. v. Hans Rupé. Mit Urtext, Anhang u. Register. München 21961, S. 842 – 849).

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fürst Agamemnon, es nicht hindern können), hatte das Epos den Schritt in eine neue, humanere Welt getan. Dieser Schritt droht in der Antigone rückgängig gemacht zu werden. Wieder werden wir sagen müssen: Es ist erstaunlich, dass Sophokles die Warnung vor dieser Gefahr auf die Bühne seiner Heimatstadt in der Zeit ihrer höchsten politischen und artistischen Triumphe stellt. Wir werden uns fragen müssen: Was hat das ermöglicht, ja nötig gemacht? – Knis, Staub, durchzieht die Berichte aus Niemandsland. Antigone hat mit ihren bloßen Händen Staub gesammelt und, ehe sie aus wohlgehämmertem erzenem Gefäß die rituellen Güsse darbringt, ihn in feiner Schicht über den verwesenden, den Hunden und Vögeln zum Fraß vorgeworfenen Leichnam ihres Bruders gestreut.16 Das ist nicht nur symbolisch die Erde, die den Toten bedeckt, der hier auf nacktem Felsboden liegt, sondern zugleich der andere Staub: die Asche der Toten, denen er rechtens zugehört. Sie hat ihn zu seinesgleichen gebettet und das Totenreich nach oben gekehrt. Die Wächter haben psan knin, den ganzen Staub, zweimal ordentlich abkratzen und den Leichnam wieder freilegen müssen – den Toten wieder unter die Lebenden zurückgeholt. Das erste Mal war der Täter im Schutz der Nacht unbemerkt geblieben, das zweite Mal hatten die Wächter vor Staubsturm und Aasgeruch selbst im Schutze eines Hügels Zuflucht gesucht und von dort das Mädchen entdeckt, das die schrille Totenklage eines Vogels anstimmt, dem man die Jungen aus dem Nest geraubt hat – sie hatte ihr Staub-Werk wiederholt (darum konnte es der Wächter, der sie vor Kreon schleppt, beschreiben)17 und war zum zweiten Mal ins Totenreich aufgebrochen. Hier beginnt schon der Weg, der sie später in die Grabes-Höhle führen wird. Wenn Kreon am Ende, nach dem Tod von Antigone, Haimon, Eurydike, sich – den Mann, der nun ,nicht mehr als niemand‘ ist18 – wegschaffen lassen will, dann ist er weniger als dieser Staub.

3 Ich erschrak, als ich jetzt die Staubstellen noch einmal las, denn ich vermisste die Kulmination der Stellen, gleichsam die Peripetie des Staubs, der, bisher gesammelt und gestreut, abgekratzt und wieder aufgetragen, nunmehr selber tätig zu werden beginnt, vom Staubobjekt zum Staub16 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 245 – 258. 17 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 407 – 440 (psan knin, V. 409). 18 Sophokles, Antigone, V. 1320 ff.

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subjekt mutiert. Sie war für mich die unheimlichste Erinnerung an meine kindliche Lektüre – von ,Subjekttausch‘ würde ich heute reden,19 damals schauderte ich nur –, aber sie war aus dem Text verschwunden, erst bei Hölderlin konnte ich sie wiederfinden. Dazu darf ich Sie zu einem kleinen philologischen Streifzug einladen. – Zweimal beschwört der Chor der thebanischen Greise das Licht: das erste Mal gleich in seiner Parodos, dem Einzugslied auf der Bühne, das Licht des Tages, das über dem „siebenthorigen Thebe“ und den „Dircäischen Bächen“ aufgeht20 – also über dem Schlachtfeld des Gemetzels, in dem am Ende die zwei Königsbrüder sich gegenseitig umgebracht haben werden –, das zweite Mal in seinem zweiten Stasimon, dem Standlied unmittelbar nach dem Beschluss des Kreon, Antigone töten zu lassen, das andere, das Hades-Licht, das scheinwerfergleich auf die zur Hades-Hochzeit Verurteilte fällt. Ich zitiere in der hölderlinschen Übersetzung: „Denn jezt ist über die lezte/ Wurzel gerichtet das Licht/In Oedipus’ Häußern./Und der tödliche, der Staub/Der Todesgötter zehret sie aus,/Und ungehaltnes Wort und der Sinne Wüthen.“21 – Nur am Rande sei es bemerkt: diese unheimliche Verbindung von Wurzel, Licht und dem tödlichen Staub der Todesgötter hat ein ebenso resignatives wie anrührendes Nachleben gefunden in dem Schlüsselgedicht Huchels für seinen Sohn, Der Garten des Theophrast – bis in das ohnmächtige Aufbegehren gegen die Zerschlagung von Sinn und Form wirkt Sophokles’ Antigone nach.22 – Aber zurück zu Hölderlins Übersetzung dieser Passage: „Und der tödliche, der Staub/Der Todesgötter zehret sie aus“. Tatsächlich hat die Juntina, der berühmte Renaissancedruck des Textes von 1555 aus der Werkstatt der Giunti, den auch Hölderlin benutzt hat (die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe druckt ihn zusammen mit Hölderlins Übersetzung nach), an dieser Stelle das 19 Vgl. Klaus Heinrich: anfangen mit freud (Reden und kleine Schriften 1). Basel/ Frankfurt a.M. 1997, dort: Sucht und Sog. Zur Analyse einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegungsform, S. 39 – 68 (der Subjekttausch mit seinen politischen Implikationen, insbesondere im Blick auf die NS-Bewegung und die von ihr ausgehende tödliche Opfer-Faszination: ebd., S. 48 – 53). 20 Hölderlin, Antigonae, V. 103 ff., S. 275 / Sophokles, Antigone, V. 100 ff. 21 Hölderlin, Antigonae, V. 620 ff., S. 327 / Sophokles, Antigone, V. 599 ff. 22 Peter Huchel: Der Garten des Theophrast (zuerst in dem letzten von ihm redigierten Heft von: Sinn und Form 14 (1962), dann in ders.: Chausseen Chausseen. Frankfurt a.M. 1963; heute: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a.M. 1984, Bd. 1, S. 155) mit der Widmung „Meinem Sohn“. Die Zeilen 9 – 12 lauten: „Ein Ölbaum spaltet das mürbe Gemäuer/Und ist noch Stimme im heißen Staub./Sie gaben Befehl, die Wurzel zu roden./Es sinkt dein Licht, schutzloses Laub“ [Herv. v. Verf.].

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Wort knis, 23 Staub, und nicht kop s, das Schlacht- und Opfermesser, indes die neueren Textfassungen und Übersetzungen sich an die OxfordAusgabe von Pearson halten und diesem Gerät, kop s, das besser zum Verbum am o, mähen, zu passen schien, den Vorzug geben vor der kühneren, dadurch aber auch dem Licht, das auf Antigone fällt, angemesseneren Metapher. Sie lesen also ,blutige Sichel‘, nicht ,blutiger‘ (Hölderlin übersetzte ,tödlicher‘) ,Staub‘ – und sie trauen dem Chor an dieser Stelle auch nicht die unerbittliche Fokussierung des Lichtes zu, sondern lesen das Wort rh zas, Wurzel, als den eine ganze Generation bezeichnenden Accusativus Pluralis und nicht als Genitivus Singularis (der Text erlaubt beides). Aber ganz hat sich die einebnende Lesart doch nicht durchgesetzt. Schadewaldt, in seiner Nachkriegsübersetzung (und als ich das vor wenigen Tagen las, fühlte ich mich regelrecht erleichtert), kehrt wieder zum ,blutigen Staub‘ sowie dem die Antigone fokussierenden Singular zurück, und er scheut sogar die durchaus Sophoklesverträgliche Härte nicht, den Staub der Unterirdischen, den Hölderlin die ,Häußer‘ des Ödipus ,auszehren‘ ließ, diese ,mhen‘ zu lassen: Die Logik des Staubs durfte ihre sophokleische, nicht bloß hölderlinsche Perspektive behalten. Dabei gibt er dem Text gleich noch eine zweite Pointe zurück, die uns am Ende dieses Streifzugs noch beschäftigen soll: er macht die dem aktiven Staub der Todesgötter folgenden Worte, lgou t’ noia ka phrenn eriny´s, die meist, und so auch bei Hölderlin, als zweites und drittes Glied einer mit dem Wort knis, Staub, beginnenden Aufzählung erscheinen (aber einerseits gibt das die griechische Syntax nicht her, es fehlt die Copula zwischen ,Staub‘ und den zwei folgenden, miteinander durch te-ka verknüpften Gliedern, andererseits nimmt es den Worten des Chors die resümierende Schärfe), zu Erscheinungsformen eben dieses Staubs. Ein Doppelpunkt hinter „Staub“ unterstreicht die Lesart. Das lautet dann so in der Übersetzung Schadewaldts: „Denn was als Licht jetzt über der letzten Wurzel/Gebreitet war in des Ödipus Häusern:/Nieder mäht es wieder der unteren Götter/Blutiger Staub:/Des Denkens Unverstand und der Sinne Verwirrung.“24 – Lgou noia und phrenn eriny´s also lauten 23 Juntina, V. 599 ff. (Hölderlin, Antigonae, S. 126). 24 Sophokles: Antigone. Hg. v. Schadewaldt, S. 32. – Tatsächlich hat von allen neueren von mir eingesehenen Übersetzungen nur er an dieser Stelle die sophokleisch-hölderlinsche Härte. Karl Reinhardt (Sophokles: Antigone. Hg. v. Reinhardt, S. 62 f.), liest zwar rh zas als Singular, aber hält an Pearsons Lesung kop s fest, und Karl Weinstock (Sophokles: Antigone. Hg. v. Weinstock, S. 285), lässt zwar knis gelten, aber konterkariert den Subjekttausch, indem er den Sand „aufs Grab gestreut“ sein läßt und ihn zum ungleichgewichtigen Glied einer Trias

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die Worte, ich schlage vor: „der Rede Unverstand“ und „die Furie des Denkens“ – aber darauf komme ich noch zurück. Jetzt halte ich nur so viel fest: ein aktiver Todesstaub, in des Sophokles’ Phantasie, oder sollten wir lieber sagen: seiner Vorstellung eines ungezähmten, durch Geschlechterfluch repräsentativ gemachten Todestriebs ist am Werk in beidem, dem Unverstand der Rede – die, wie wir sehen werden, kein Verstehen kennt – und der eriny´s, der Rachemacht des Denkens, die zur Vollstreckerin des Unheils werden wird. – Den Todestrieb in Verstand und Denken stellt Sophokles uns auf einer Bühne vor, auf der wir sie in ihrer blutigsten Konsequenz ertragen müssen. Natürlich geht die Bühne darin nicht auf, aber die Reflexion der Tragödie ist nicht die ihrer Protagonisten und nur beschränkt die ihres Chors. Natürlich kann sie immer auch in diesen zu Worte kommen, aber dann sprengen die Wortführer die Muster, in denen sie mythologisch fixiert sind, auf. Von ihnen gilt, was von allen Heroen, auch den wendigsten und intellektuellsten unter ihresgleichen wie Odysseus, gilt, dass sie nicht lernen und nicht vergessen. 25 Mit anderen Worten: Erfahrung machen ist ihnen versagt. Aber das Unternehmen des Sophokles, protagonistisch für die athenische Tragödienbühne, zielt auf ein Denken, das Erfahrung möglich macht, ist ein Gegenentwurf zu der phrenn eriny´s im Chor der thebanischen Greise. „Der Staub und das Denken“ – diese Formulierung sollte auf ein ungelöstes Problem aufmerksam machen, das die Tragödienbühne selber stellt und das in der Antigone des Sophokles exemplarisch verhandelt worden ist. Doch ich will nicht vorschnell an sein spekulatives Ende springen, sondern Ihnen den sophokleischen ,Staub‘ erst noch in seiner suggestivsten Nachkriegsversion vorführen, dem Antigonemodell Brechts.26 Danach wende ich mich endlich den kultischen Voraussetzungen des antiken

macht („Sand, aufs Grab gestreut/nach Totenrecht und blinder Toren Sinn und Gier nach Rache“). 25 Vgl. Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen. Basel/ Frankfurt a.M. 1964 (Nachdruck 1982), S. 50, contra Horkheimers und Adornos These von Odysseus als Vertreter einer „bürgerlichen Urgeschichte“ (Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947, S. 76). 26 Bertolt Brecht (unter Mitarbeit von Casper Neher): Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet (Antigonemodell 1948). Zuerst in: Sinn und Form 4 (1952), S. 71 – 120, später in Bertolt Brecht: Stücke. Hg. v. Elisabeth Hauptmann. Berlin 1961 f., Bd. 11, S. 11 – 97 (Zitation folgt dieser Ausgabe).

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Musiktheaters, der Dionysos-Bühne, zu und kehre damit zum zweiten Bestandteil meiner Titel-Metapher zurück, dem ,Denken‘.

4 Brecht kommt von dem sophokleischen Staub nicht los. Er hat ihn wie kein anderer ernst genommen, als er, mit Hölderlins Übersetzer-Hilfe, den Fluch über Theben in einen aktuellen, selbstverschuldeten Untergang des Staates ummünzt. Gleich in dem Berliner Vorspiel seiner Hölderlin-Bearbeitung (April 1945, zwei Schwestern in dem Haus, in das ihr fahnenflüchtiger Bruder sich geflüchtet hat, SS erhängt ihn vor dem Haus, die eine will ihn abschneiden, die andere verleugnet ihn) legt die Antigone-Schwester die sophokleische Todesfährte: „Schwester, woher kommt da im Staub die Spur?“,27 und die Fiktion, er könnte gerettet sein – „Schwester, er ist nicht in der Schlacht/Er hat sich aus dem Staub gemacht“28 –, nimmt die Todes-Metapher, genauer: das Ihr-nurscheinhaft-entrinnen-Können, beim Wort. Antigone alsdann, in ihrem ersten Auftritt vor dem Palast, wird gleich in der ihr zukommenden Aktion gezeigt, nämlich, gemäß Brechts Regieanweisung, „in einen eisernen Krug Staub sammelnd“29 – das ist das wohlgehämmerte erzene Gefäß des Sophokles, eine Kanne, die sie für die rituellen Güsse, vielleicht Honig, vielleicht Öl, auf der dionysischen Bühne am ehesten Wein, mit sich führt, und das hier unter der Hand zur Sand- und Aschenurne mutiert ist: so stark also war die sophokleische Suggestion aus Niemandsland! –, und folgerichtig redet Ismene die Schwester an, den blutigen Staub der Unterirdischen mit einer hölderlinschen Metapher sichtbar machend: „Staubaufsammelnde, du färbst mir/Scheint’s, ein rotes Wort“.30 ,Staubaufsammelnde‘ hat Brecht hinzugetan, das ,Färben eines roten Worts‘ ist Hölderlins Erfindung,31 vom Jüngeren Voß belacht und Goethe zum Gebrauch in seiner Farbenlehre anempfohlen:32 zusammen verdichten sich beide zu dem Bilde des von den thebanischen Greisen beschworenen Todesstaubs, der präsent ist in Rede und Denken. „So geh 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 11. Ebd., S. 15. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Vgl. Hölderlin, Antigonae, V. 21, S. 267. Vgl. Heinrich Voß d. J. an B. R. Abeken, vermutl. Juli 1804, nachgewiesen in der Zeittafel (Nr. 96) zu Hölderlin: Sämtliche Werke, Bd. 16, S. 20.

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mit deinem Staub. Denn irre sprichst du/Doch lieb von Liebem“,33 verabschiedet Ismene die Schwester, als wäre dieser Staub tatsächlich ihr kostbarster Besitz, ihr Irre-Reden, Irre-Handeln eine Staub-Obsession, und in dem seherischen Abgang, Grabgang der Antigone (die hier gleichsam die Rolle des Teiresias übernimmt, den Brecht in einen „guten Beobachter“ umstilisiert, der das Gewinnspiel der Mächtigen durchschaut und darum „einiges voraussagen kann“34), heißt es prophetisch: „Euch beweine ich, Lebende/Was ihr sehen werdet/Wenn mein Auge schon voll des Staubs ist“; und dann, das Fazit ziehend für die Vaterstadt und ihre gegenwärtigen, aus Profitgier mörderischen Mitbewohner: „Aus dir sind kommen/Die Unmenschlichen, da/Mußt du zu Staub werden.“ Ihr selbst bleibt nur der sie entlastende, eskapistische Todeswunsch: „Sagt/Wer nach Antigone fragt, sie/Sahen ins Grab wir fliehn“35 – eine ohnmächtige Alternative zu Kreons selbstzerstörerischem, das eigene Volk, die eigene Stadt in den Untergang mithineinziehendem Abgang36 bei Brecht.

5 Jetzt ist höchste Zeit, die sophokleische Antigone auf die Dionysos-Bühne zurückzuholen. Wir alle kennen das Stück und sehen die Personen, die Konflikte vor uns. Alle sind sie uns ebenso nah wie fremd. Da sind die zwei Schwestern, deren Brüder sich gegenseitig erschlagen haben, der eine als Verteidiger, der andere als Eroberer der Stadt. Da ist der neue Herr der Stadt, der den Bürgern der Stadt befiehlt, den einen unbestattet in Niemandsland liegen zu lassen, indes der andere mit allen Ehren beigesetzt wird – die eine Schwester fügt sich dem Erlass, der die Bestattung verbietet, die andere fügt sich nicht und muss sterben. Da ist der Konflikt zwischen Vater und Sohn: Der Sohn will den Erlass und das Urteil rückgängig machen, doch er vermag den Vater nicht umzustimmen, er will das Mädchen, das seine Braut ist, aus der Grabkammer retten, doch er kommt zu spät und kann ihren Selbstmord nicht verhindern, er will den Vater erschlagen, verfehlt den Vater und nimmt sich selbst das Leben – wir dürfen rätseln, wer erfolgreicher war, sein Cousin und Onkel 33 Brecht: Die Antigone des Sophokles. In: Stücke, Bd. 11, S. 25. 34 Bertolt Brecht: Zur „Antigone des Sophokles“. Vorwort zu „Antigonemodell 1948“. In: Stücke, Bd. 11, S. 98 – 118, hier S. 115. 35 Brecht: Die Antigone des Sophokles. In: Stücke, Bd. 11, S. 72. 36 Vgl. ebd., S. 96.

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Ödipus oder er. Da ist der Konflikt zwischen dem Herrn der Stadt und dem Seher, der ihn verflucht, weil der unbestattete Leichnam die Stadt verseucht: Hund und Vogel tragen sein Blut und Fett auf die Altäre der Götter37 – zu spät wird der Verfluchte die Bestattung veranlassen und sein Urteil widerrufen, die Schwiegertochter hat sich erhängt, der Sohn sich mit dem Schwert durchbohrt, seine Frau sich nach dem Tod des Sohns das Leben genommen, nur er, der sich jetzt selber Mörder nennt, darf nicht sterben. – Wären das die Konflikte, hätten wir es mit einem Machtund Intrigenspiel, einem Schauerdrama und antiken Kriminalstück zu tun, und um diesem Aktualität und Realismus einzuflößen, hatte Brecht ja das ökonomische Motiv hinzuerfunden, den Kampf um die Kupferminen von Argos,38 aber dann hatte doch Hölderlins und Sophokles’ Sprache den Sieg davongetragen. Aber wir spüren gleich, es ist nicht nur die Sprache, die das Stück mit Widerhaken versieht. Wir sind, so wie die Zuschauer des athenischen Theaters, das Theben für ein unterirdisches Athen nehmen musste und die politischen Anspielungen des Sophokles so genau verstand wie Nachkriegsdeutschland die des Brechttheaters oder das noch besetzte Paris die des existentialistisch resignierenden Anouilh, gleichsam mythologisch vorgewarnt: Es ist alles noch sehr viel schlimmer, weil unendlich präfiguriert, alle Beteiligten zappeln in dem gleichen Netz. Während über den Konflikt von Rechten und Prinzipien diskutiert wird (das Recht des Staates und das der Familie, das Recht der Menschen und das der Götter, das Recht der Lebenden und das der Toten), zieht sich das Netz zu – Wiederholungszwang, und zwar über Generationen hinweg, dirigiert alle Atemzüge derer, die in ihm zappeln. Das wird überdeutlich in dem Moment, wo wir die Familienverhältnisse nachzuzeichnen versuchen und den Blick auf die Akteure werfen, die sämtlich Opfer sind. – Beschränken wir uns auf Antigone. Die Ödipus-Übel – t ap’ Oid pou kak , so nennt sie sie selbst39 – verzehren ihre Generation, aber waren es nicht eigentlich schon Laios- und Labdakos-Übel, und hätte Laios seinen Thron zugesprochen bekommen ohne Iokaste, die Pentheus-Enkelin oder -Urenkelin, herrührend also aus einem Geschlecht der, so wie Pentheus selbst, in dionysischem Wahn Endenden, obschon mit einer, der berühmtesten von ihnen: der Semele, den Gott vorgeblich

37 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 1016 ff. 38 Vgl. Brecht: Vorwort zu „Antigonemodell 1948“. In: Stücke, Bd. 11, S. 115. 39 Sophokles, Antigone, V. 2.

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selbst erst hervorbringenden Heroinen?40 Wiederum, ist Antigone nicht geradezu – falls wir den Namen so interpretieren dürfen: Ant-gne, die ,anstatt, an-Stelle-von-Geborene‘ (aber ich denke, wir dürfen es tun) – an die Stelle des in der Wildnis ausgesetzten Ödipus getreten, damit ein neuer, weiblicher Ödipus, Schwester und Tochter des verschollenen zugleich? (Ihr Onkel Kreon jedenfalls wird sie so behandeln und auch sie in Niemandsland aussetzen lassen.) Der Inzest hat die Generationenfolge zerstört und lässt die Identitäten ineinanderfallen – die Modelle der Logik, die eine der deduktiven Herleitung am Modell der Geschlechterkette ist,41 werden durch Redundanz außer Kraft gesetzt: nach welchem Modell sollen wir die Labdakiden-Sippe, deren Schicksale die Schwestern wechselseitig benennen, die der Chor beschwört, in der Kreon, der Iokaste-Bruder, Ordnung schaffen will, indem er sich vermeintlich außerhalb ihrer stellt, denken? – Die Denkversuche der Protagonisten helfen uns nicht weiter: Sie reden mit Schärfe gegeneinander, aber verstehen einander nicht, keiner nimmt etwas von dem Andern in sich auf, um es in sich zu bewegen und ihm verändert zurückzugeben, die Einsamkeit dieses Nebeneinanderher-, Aneinandervorbeiredens schürt den Schrecken und lässt jederzeit Katastrophen erwarten. Dem Chor ist der Schrecken wohlvertraut, er weiß ihn immer wieder aufzurufen und zu resümieren – aber das hindert ihn nicht, im gleichen Atemzug den Bildern des Schreckens einen unerhörten epiphanischen Rang zu geben. Alle Sphären der Natur erscheinen zugleich mit diesem Schrecken, und durchaus nicht nur als das Schreckhaft-Erhabene, sondern – was die domestizierende Ästhetik der uns vertrauten kantischen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen sprengt42 – als das Erschrocken-Schöne zugleich. Hier haben die Ästhetisierungen des Schreckens, zugleich die Versuche, ihn archaisierend wieder in sein Schreckensrecht zu setzen, angeknüpft. Phbos, Schrecken, bedeutet in 40 Zum Zappeln im genealogischen Netz vgl. noch immer Karl Kerényi: Die Heroen der Griechen. Zürich 1958, 1. Buch X: Oidipus, S. 100 ff. sowie die dazugehörigen Stammbäume: A, S. 390, und D, S. 396. 41 Vgl. meine Erwägungen zur Funktion der Genealogie im Mythos in Klaus Heinrich: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie (1966). Frankfurt a.M. 1982, S. 9 – 28, insbes. S. 20 f. sowie zum deduktiven System in Klaus Heinrich: tertium datur. Eine religionsphilosophische Einführung in die Logik (Dahlemer Vorlesungen 1). Hg. v. Wolfgang Albrecht u. a. Basel/Frankfurt a.M. 21987, die 4., 5. und 6. Vorlesung. 42 Vgl. Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von M. Immanuel Kant. Königsberg 1864. Nachdr. Berlin-Steglitz 1910.

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unserem Zusammenhang nicht Flucht, nicht Angst, nicht Furcht, sondern bezeichnet einen medialen Zustand, der alle Beteiligten ergreift. Phbos, Schrecken, ist das Wort des Aristoteles, der ihn und das mitleidende Erbarmen, leos, als die Leidenszustände, pathmata, beschreibt, von denen die Tragödie Reinigung, die uns aus allen Kulten wohlbekannte k tharsis, bewirkt.43 Aber wie vermag sie das? Ist es wirklich nur die teilnehmende Abfuhr des Schreckens? – Kein Tragödienwort hat in neuerer Zeit einen solchen interpretatorischen Furor entfesselt wie das deinn, dieses Schreckens-Wort aus dem erstaunlichen Chorlied, gleich dem 1. Stasimon der Antigone, das dem ersten Botenbericht aus Niemandsland folgt. Der Chor ist, anders als das Publikum, noch in Unkenntnis dessen, wer den Staub über den Leichnam gestreut und damit die Kette katastrophischer Reaktionen in Gang gesetzt hat, das Publikum erschauert stellvertretend für ihn. Hölderlin übersetzt: „Ungeheuer ist viel. Doch nichts/Ungeheuerer, als der Mensch.“44 – Am Rande gesagt und mit Blick auf die Veranstaltung hier vor zweieinhalb Jahren: Es mag durchaus der Eindruck dieser, von den Zeitgenossen geschmähten, hölderlinschen Übersetzung gewesen sein, dem Goethe das Schlüsselwort für sein deinn in den Wahlverwandtschaften, „das Ungeheure“,45 verdankt. – Zurück: Sophokles’ bedrohlicher Lobpreis des Menschengeschlechts, das Meer und Erde durchpflügt, die wilden Tiere fängt und zähmt, das Recht der Götter und die Gesetze der Polis achtet und brechen kann, kennt nur eine Macht, vor der den Erfindungsreichen kein Entrinnen möglich ist: den Hades.46 Ist das eine Binsenwahrheit oder der Schlüssel zur Dionysos-Bühne? – Ich habe mich für das zweite entschieden und muss Ihnen daher einige kleine Spekulationen vortragen über die kultische, und das heißt zugleich psychische, Funktion der Tragödie, ihre antike Modernität und deren Berührung mit der Nachkriegsfaszination bis heute. Ich hoffe, dass ich Ihnen meine Entscheidung und damit zugleich die zentrale These meines Vortrags einsichtig machen kann.

43 Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1449b (Aristoteles’ Poetik wird zitiert nach: Aristoteles: Poetik. Griech. u. dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982). 44 Hölderlin, Antigonae, V. 349 f., S. 299. 45 Vgl. Klaus Heinrich: Das Bewußtsein ist keine hinlängliche Waffe. Zur Faszination der Wahlverwandtschaften heute. In: Gisela Greve (Hg.): Goethe. Die Wahlverwandtschaften. Tübingen 1999, S. 11 – 41; hierzu Klaus Heinrich: der staub und das denken. Zu Kapitel vier: Anm. 4, S. 38. 46 Sophokles, Antigone, V. 360 f.

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6 Wer den Gott der Dionysos-Bühne beschreiben will, darf keinen Schnitt machen zwischen seiner Erscheinung und seinem Erscheinen, also nicht erst den Gott beschreiben und dann die Frage nach seinen Epiphanien stellen. Die Erscheinung des Dionysos ist sein Erscheinen, wir können die Genitive, die immer Ableitung signalisieren, ruhig tauschen und gegeneinander führen: Nicht das Erscheinen seiner durch diese oder jene Attribute ausgezeichneten ,Erscheinung‘ lässt ihn kenntlich werden, sondern er ist die Erscheinung des Erscheinens selbst, die attributiv nicht domestizierbare, die für die von ihm Betroffenen ein Befallensein bedeutet, das sich in Raserei, in Rausch und Wahn äußern kann. Enthousiasms ist ein dieser Sphäre entstammendes Wort, und so ist der im Mythos spätgeborene, in Wahrheit uralte Gott, in dessen Namen bereits nach der altkretischen Lesart der Linear B der Wein erscheint,47 entweder mit szientifischem Unverständnis oder mit wissenschaftlichem Enthusiasmus beschrieben worden. Nahe lag es, gerade diesem Gott Orte anzubieten, an denen der überfallartig Erscheinende regelmäßig erscheinen möge, Routen ausfindig zu machen, die er bei früheren Annäherungen eingeschlagen hat, ihm dort entgegenzukommen, wie er es verdient, sich also zu Dienern und Genossen seines Auftritts zu machen, um ihn nicht, wie in früheren Fällen eines unverhofften Kommens, mit oft tödlichen Folgen zu verkennen. Ein solcher Ort des verhofften Erscheinens ist die dionysische Bühne, wo sein Gefolge den Auftritt probt, ihn vor einem Publikum, das seine Plätze eingenommen hat, um Erscheinen bittet. Die große Anzahl der Aufführungen, die sämtlich Einladungen an ihn bedeuten, ist eine unerhörte Schmeichelei – die Plätze, die ihm bereitet, die Stoffe, die ihm als die Chance, in ihnen zu erscheinen, dargeboten werden, machen uns erschreckend deutlich, warum es dieser Schmeicheleien bedarf, was und warum sich dort und nirgendwo sonst entladen möge. Ich spreche von den Orgien der Selbstzerstçrung in den Stücken der dionysischen Bühne, wobei sogleich auch deutlich wird, was Einheit der Zeit, des Ortes, der Handlung bedeutet: eben dieses wohltätige epiphanische Konstrukt, das zugleich rituelle Teilnahme und rituellen Schutz verspricht. – Natürlich war das alles immer schon eine Domestizierung. Die Frauen, die aus den Städten scharenweise in die Wildnis 47 Vgl. Karl Kerényi: Dionysos. Urbild des unzerstörbaren Lebens. Hg. v. Magda Kerényi. München/Wien 1976, I. Teil: Das kretische Vorspiel, dort Dionysische Namen, S. 70 f.

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liefen, um auf Zeit dem Harems-Dasein zu entrinnen: also diese frühe, bis in die römische Kaiserzeit immer wieder aufflackernde Emanzipationsbewegung, die Burckhardt „die dionysische Erregung“ nannte und für die er keine Entsprechung in anderen heidnischen oder christlichen Bewegungen der Antike sah,48 musste kultisch eingefangen, die Epiphanie des Gottes von der Wildnis an den Rand der Stadt verlegt und so der Polis rituell eingemeindet, die Veranstaltung in politische Verantwortung, das heißt männliches Regiment übernommen werden. Dem Gott, der mit weiblichem Gefolge durch die Wildnis zieht, dessen Wildheit prototypisch Frauen ausagieren, wird eine Bühne gerichtet, auf der Frauen weder singen noch tanzen noch gar sich selbst, also die von enthousiasms erfassten Frauen, spielen dürfen. Ausschließlich Männer tragen die Masken, und weil Sophokles erstmals drei Schauspieler als Protagonisten für seine Stücke engagiert, können auch drei Protagonisten, zum Beispiel Kreon, Ismene, Antigone, zugleich auf der Bühne stehen, aber dann müssen Antigone und Ismene die Masken wechseln, und Antigone zum Beispiel wird sich in Haimon verwandeln, denn diese beiden, Antigone und Haimon, treffen sich auf der Bühne nicht,49 auch wenn sie nachher, in der imaginierten Höhle, vor unserem inneren Auge aneinanderhängen: Haimon in sein Schwert gestürzt, Antigone tot am Strick, den Blutstrom aus dem Mund des Sterbenden gleich einem Sakrament empfangend.50 Also in männlicher Regie auch dieser unser Schreckensstoff so wie alle Schreckensstoffe der dionysischen Bühne. Ihr Charakter ist leicht zu bestimmen: Selbstzerstörung in Raserei und Wahn, mit Mordgerät ebenso wie Denkinstrumenten, und der Herr des selbstzerstörerischen Wahns, wenn nicht apotropäische Schmeichelei die 48 Jacob Burckhardt: Griechische Kulturgeschichte (Vorlesungen aus den 80er Jahren). Berlin. o. J., Bd. 3 (Gesammelte Werke 7), S. 190. – Burckhardt hat in „der großen dionysischen Erregung“, aus der das Drama entsteht (ebd.), auch den gesellschaftlichen Affront gesehen: den Ausbruch der Frauen – „einen periodischen Hergang, welchen die moderne Gesellschaft nie dulden würde“ (ders.: Griechische Kulturgeschichte, Bd. 2 (Gesammelte Werke 6), S. 162) –, nicht bloß, wie Nietzsche (GT 8, KSA 1, S. 61), „das ästhetische Phänomen“ oder, wie Erwin Rohde am Ende des 19. Jahrhunderts (ders.: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg 21898 (11894). Nachdruck Darmstadt 1994, II, S. 50 f.), das kultisch-therapeutische: die „auf griechischem Boden vollzogene Fortbildung des altthrakischen Aufgeregtheitscultes“, die den „heiligen Wahnsinn“ nicht sowohl erzeugt als „durch eine Steigerung der dionysischen Erregung“ auch zu heilen vermag. 49 Vgl. Flashar: Sophokles, S. 13. 50 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 1238 f.

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Betroffenen davon abhielte, so zu verfahren, wäre rechtens mit einem Doppelnamen anzurufen, der in seinem Falle nur ein einziger ist: HadesDionysos. Der Kronzeuge hierfür steht außer parteiischem Verdacht. Heraklit von Ephesos, im 15. der von ihm erhaltenen Fragmente, hat ihn mit Deutlichkeit so bestimmt: „Derselbe aber ist Hades und Dionysos“ (hout s d A des ka Dinysos).51

7 Bitte gestatten Sie mir, ehe ich fortfahre, einen philologischen Exkurs zu dieser prekären Schlüsselstelle. – „Diese Worte sind zwar nie vergessen worden, aber sie haben seltsamerweise auf die Beurteilung der Dionysosreligion keinen entscheidenden Einfluß ausgeübt. Man scheute sich offenbar, einen Philosophen zum Zeugen zu nehmen“, urteilt Walter F. Otto in seinem Dionysosbuch.52 Das komplette Fragment lautet (ich zitiere in der Übersetzung von Diels-Kranz, auch wenn der Sprachwitz ähnlich lautender, weil ähnlich dunkel gefärbter Worte vom Übersetzer nicht nachgeahmt werden kann und auch nicht alle Formen schlüssig sind): Denn wenn es nicht Dionysos wäre, dem sie die Prozession veranstalten und das Lied singen für das Schamglied (Phallos), so wär’s ein ganz schamloses Treiben. Derselbe aber ist Hades und Dionysos, dem sie da toben [ma nontai, also das Toben der Mainaden] und das Lenaienfest feiern!53

Heraklit spricht hier zwar von den ländlichen Dionysien, den Lenaien (dem dionysischen Fest der Weinkelter), und nicht den Großen Dionysien, auf die unsere Tragödienaufführungen fallen, aber die Gleichsetzung gilt für diese erst recht. Weder können wir uns auf Wilamowitz’ Indolenz – oder ist es Abwehr? – zurückziehen: dass er die Gleichsetzung „nicht sicher zu deuten“ wisse,54 noch dem abfertigenden Gestus Hermann Fränkels zustimmen: Mit „höhnischem Triumph“ weise „Heraklit darauf hin, dass die schwellenden Zeugungskräfte nichts anderes sind wie Tod und Modder; so mögen denn die Narren weiterhin in berauschtem 51 Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech. u. dt. v. Hermann Diels. Hg. v. Walther Kranz. Berlin-Charlottenburg 71954, Bd. 1, S. 155 (Herakleitos B 15). 52 Walter F. Otto: Dionysos. Mythos und Kultus (1933). Frankfurt a.M. o. J., S. 107. 53 Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. v. Diels/Kranz, S. 154 f. 54 Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Der Glaube der Hellenen. Nachdr. der 2., unveränderten Aufl. v. 1955. Darmstadt 1994, Bd. 2, S. 207.

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Taumel ihrer eigenen Auf-lösung zujubeln“55 – unüberhörbar ist die Buddhismus-Nähe des Oldenberg-Schülers, der die sinnliche Spannung der Dionysos-Religion, die Heraklit wohl wahrgenommen hat, nicht wahrhaben will. Am nächsten kommt dem Stellenwert des Fragments der Kommentar Karl Kerényis, des bis heute kompetentesten Erforschers dieser Religion: Für Heraklit war diese Identität [eben des Hades und des Dionysos] ein entscheidender Tatbestand, auf den er sich berufen konnte, da ihn alle kannten. Er stützte mit ihm seine eigene Philosophie von der Identität der Gegensätze. Und im Besitz seiner Philosophie war er wie kein anderer fähig, die Wichtigkeit der Einheit des Gottes Dionysos und Hades zu erkennen […].56

Kerényi war es auch, der einen weiteren Schlüssel zur Aura der Tragödie angegeben hat mit seinem Hinweis, dass das mundus patet des Anthesterienfestes – also das Offenstehen des Zugangs zur Unterwelt – auf die Großen Dionysien übertragen worden sei.57 Die Aufführungen der Tragödien, so dürfen wir folgern, fallen in einen psychischen Ausnahmezustand: den des Umgangs mit den Toten, so wie übrigens alle Feste der Völker, bei denen die Masken der toten Ahnen getragen werden, auch wenn nicht mehr, wie bei einigen Stämmen bis heute, auf die Beobachtung der Einkleidung oder des Ablegens der Maske die Todesstrafe steht. – Ich fahre mit meiner Erörterung fort.

8 Wenn wir dem heraklitischen Schlüssel folgen, erhält die Tragödie ihre Tiefendimension als dionysisches Passionsspiel zurück, und die unerhörte sprachliche Raffinesse, die gedankliche Präzision und intellektuelle Brisanz der sophokleischen Tragödie eröffnet ihrem Publikum zugleich den Freiheitsspielraum (so wie jeder Mythos als ein den Kult nicht bloß verdoppelndes, sondern ihn variierendes Verfahren schon einen Freiheitsspielraum eröffnet hat), sich denkend auf dieses Passionsspiel ein55 Hermann Fränkel: Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums (New York 1951). München 21962, S. 451. Oldenberg-Schüler: Fränkels Lehrer, Hermann Oldenberg, hat Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde verfasst und die Reden Buddhas herausgegeben. 56 Kerényi: Dionysos, S. 193. 57 Vgl. ebd., S. 250.

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zulassen. Die Antigone des Sophokles hat, so gesehen, einen doppelten Rang. Unter den von ihm erhaltenen sieben Tragödien ist sie die programmatischste auf der Dionysos-Bühne und zugleich die intellektuell am weitesten getriebene Auseinandersetzung mit ihr: sie stellt die Frage nach einem Denken, das die Selbstzerstçrungs-Passion der sie veranstaltenden hochzivilisierten Gesellschaft ernst nimmt und sie erkennend in sich einbezieht, statt sich, wie der lgos der Philosophen und seine antidionysische Identifikation von ,denken‘ und ,sein‘ (t gr aut noe n est n te ka e nai, so in der programmatischen Formulierung des Dritten Parmenides-Fragments58) erkennend von ihr abzuwenden. Wenn meine Vermutung zutrifft, ist für die seit je beschworene ,Blüte‘ der antiken hellenischen Zivilisation bereits der hohe Preis bezahlt worden, den Freud in seinem Nachdenken über Zivilisation und ihre Haltbarkeit ganz generell – und dann noch einmal zugespitzt und mit fundamentalem Zweifel an ihrer Haltbarkeit unter der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der ihm folgenden vermeintlichen Nachkriegszeit – für sie entrichtet sieht: dass der Todestrieb den Sieg über den Lebenstrieb davontragen könne, dieser selbst nur ein Agent des Todestriebs sei.59 Einen Augenblick dürfen wir fragen: Ist es jener Verdoppelungsschub, der, vom Beginn der Gattungsgeschichte an, jeden Erkennens- und Schaffensakt begleitet (der Erkennende, der Produzierende hat die Welt ein zweites Mal, als gemachte ebenso wie als erkannte) und der jedesmal zugleich Spaltung bedeutet: den Riss, der durch uns selbst hindurchgeht, der uns die Spaltung überbrückenden Opfer suchen lässt und der hier in selbstzerstörerischen Aktionen kulminiert? Lust und Schauder der Dionysos-Bühne jedenfalls sind von ihren Stoffen nicht zu trennen, der Dionysos-Hades, sobald erschienen, tut sein Zerstörungswerk, er ist – und das zumindest lässt auf die schon besprochene zeitliche, räumliche und aktionelle Begrenzung hoffen – am liebsten in den ihm vertrauten Akteuren, wenn auch in immer neuen phantastischen Konstellationen, Stellungen und Reizen selbstzerstörerischer Lust, präsent. Alle Neuerungen, so die politischen Warnungen an die Adresse Athens, werden an des Gottes mythischen Geburtsort Theben, also in den dionysischen Ursprung, rückdatiert. Werfen wir, in der nunmehr gebotenen Kürze, den Blick zurück auf den passionarischen Verlauf und die Neuerfindungen der Antigone. – Vor Sophokles war 58 Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. v. Diels/Kranz, S. 231 (Parmenides B 3 (früher 5)). 59 Vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 3 – 69, hier S. 40 – 45 u. S. 59 – 69.

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Antigone ja die kleine, mythographisch unbedeutende Schwester der großen Quellnymphe Ismene,60 hier, bei Sophokles, wird sie zur Dionysos-Hades-Braut avancieren, die zuvor ein intellektuelles Gefecht für ihren Gott und seinen unbedingten, das egalitäre Recht auf Zivilisation unterirdisch wahrenden Rechtsanspruch liefert: „Und dennoch fordert Hades gleiche Rechte“61 – welch ein Spiegel, den sie hier den Rechtsansprüchen der Athenischen Demokratie entgegenhält! –, und in ihrem Onkel Kreon wird ihr ein anderer, intellektueller Pentheus gegenüberstehen (er hatte Hades-Recht als Frauenherrschaft abgetan62), dessen innerer Zerreißung am Ende Chor und Publikum als Zeugen beiwohnen. Überhaupt implodieren die Personen mehr, als dass sie explodieren, und wenn auch einmal dies, dann meist so folgenlos wie bei der vergeblichen Ödipus-Aktion des Haimon, den Vater zu erschlagen – auch das ein Hinweis auf das alles dirigierende Thema Selbstzerstörung. Aber der Reihe nach! Die Exposition Antigone-Ismene hatte uns, das Publikum, von Anfang an zu Mitwissern gemacht – die Spannung, die wir noch heute auf der Bühne eine „zum Zerreißen“ nennen, war für die empirischen Subjekte auf den Weg gebracht. Das transzendentale dionysische Subjekt, der Chor, hat eine ganz andere, die Spannung in Schlägen entladende Funktion. Es muss, auch und vor allem musikalisch, allen einen solchen Schlag gegeben haben, als er sein Einzugslied: die Feier des Lichts über dem siegreichen Theben, vor dessen Toren das Gemetzel stattgefunden hat, mit dem zweideutigen, triumphierenden Ruf beschließt, der nicht nur dem Herrn dieses Festes, sondern dem Herrn aller nun folgenden Aktionen gilt und gleichsam den Auftakt bildet zu einem neuen, prototypischen Gemetzel: „B kchios rchoi“,63 Dionysos herrsche! oder: Dionysos gehe voran! – aber das kommt auf dasselbe hinaus, insofern der Vorangehende un-sichtbar bleibt, unsichtbar nunmehr den ganzen folgenden Opferprozess beherrscht. – Nehmen wir die Tragödie als eine, nun auch intellektuelle, Opferveranstaltung (und schon die eine Kleinigkeit sollte uns nachdenklich machen, dass das ,Erbarmen‘, von dem Aristoteles sprach, leos, mit dem gleichen Wort bezeichnet wird wie

60 Vgl. Art. Ismene. In: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. v. Konrat Ziegler/Walther Sontheimer. München 1964 – 1975, Bd. 2, Sp. 1465. 61 Sophokles, Antigone, V. 519. 62 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 525, 678 – 680, 748 f., 756 (Pearsons Zählung trotz geänderter Versfolge). 63 Sophokles, Antigone, V. 154.

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der, freilich anders akzentuierte, Opfertisch, eles 64), dann sehen wir, wie der ganze Vorgang nunmehr auch im Inneren der Betroffenen abläuft. Jetzt verstehen wir auch besser, dass der Staub nicht nur ein Requisit in den Händen der Antigone ist, sondern selbst zu agieren beginnt, ja eine eigene intellektuelle Dimension erhält im zweiten Stasimon des Chors: als lgou noia und phrenon eriny´s, ,Unverstand der Rede‘ und ,Furie des Denkens‘, so hatte ich übersetzt, die in die selbstzerstörerischen Aktionen treibt. Sophokles beschwört mit seinen Metaphern ein Bild ähnlich dem, das Euripides auf die oberirdische Bühne bringt, wenn er im Herakles mainomenos die Dämonin der Tollwut, Lyssa, auf dem Dachfirst Platz nehmen lässt:65 von nun an herrscht sie im Haus, und wir dürfen einen Augenblick spekulieren, was die imaginierte Szenerie – ich nannte sie ,Niemandsland‘ –, die die Bühne des dionysischen Theaters zu sprengen schien, in Wirklichkeit für es bedeutet: einen neuen Eroberungszug des Dionysos, der hier vom Herrn der Wildnis zum Herrn des Staubs mutiert, das Niemandsland der dionysischen Bühne eingemeindet. Hier, nachdrücklich, die Berührung der sophokleischen mit der Nachkriegsmoderne. Damit wir uns recht verstehen: Ich rede keiner Nachkriegsromantik, erst recht keiner dionysischen Romantik das Wort, sondern beschäftige mich mit den Phantasien des Sophokles, die suggestiv noch in unseren eigenen Nachkriegsphantasien weiterleben, und um das nicht ganz als private Obsession erscheinen zu lassen, hatte ich Ihnen ja die brechtische Staubobsession mitgeliefert. – Hätte ich jetzt die Zeit, alle Standlieder des Chors und die großen kommo (das Wort bedeutet, dass sich die Protagonisten wehklagend an die Brust schlagen, selbst schon eine ritualisierte Selbstzerstörungsgeste) mit Ihnen durchzugehen, erschiene in jedem von ihnen Hades-Dionysos als die absolute Macht. So wie im ersten Stasimon das Ungeheuer Mensch nur ihm nicht zu entfliehen vermag66 (das ließ uns ja erstmals die Frage nach seinem Namen stellen) und im zweiten der Hades-Staub im Menscheninneren zu wüten begann,67 ist der Eros des dritten Stasimon ein Agent des Todestriebs,68 die Heroen und 64 Vgl. hierzu auch Kerényi: Dionysos, S. 252 – 256 (Die Anfänge der Tragödie in Attika). 65 Euripides, Herakles (das mainmenos später in Anlehnung an den Hercules furens des Seneca erläuternd in den Titel aufgenommen), V. 815 ff. (Euripides: Sämtliche Tragödien und Fragmente. Griech. u. dt. Übers. v. Ernst Buschor. Hg. v. Gustav Adolf Seeck. München 1972, Bd. 3, S. 149 ff.). 66 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 360 f. 67 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 601 ff. 68 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 793 f.

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Heroinen des vierten präfigurieren den Antigone-Tod,69 und die direkten Dionysos-Anrufungen des fnften führen in schneidender Schärfe den Triumphator vor Augen, der, aus seinen Ländern heimkehrend nach Theben, mit „reinigendem Fuß“ (kathars o pod , die uralte PantokratorGeste) über den Parnass nach Theben einzieht und den Reigen der Sterne ebenso wie seiner rasenden Dienerinnen anführen wird70 – dies unmittelbar, bevor wir ein zweites Mal von dem Bericht des Boten in Niemandsland entführt werden, zur Bluthochzeit des Haimon mit einer Antigone, die sich nicht retten lassen will und als Hadesbraut vorher zum Strick gegriffen hat, vor dem kunstvoll verzögerten zweiten Bericht über den Selbstmord der Haimon-Mutter und vor dem oberirdischen Zerreißungs-Kommos des Pentheus-Kreon. – Das initiatorische Zentrum des Ganzen, der Antigone-Kommos: „ ty´mbos,  nymphe on“71 (,o Grab, o Brautgemach‘), hatte sich verselbständigt in der Tradition des 19. Jahrhunderts, so wie der Staub in der des 20. nach dem Zweiten Weltkrieg, und war zu einem Sakrament der Kunstreligion geworden. Aber der letzte Gang der Hadesbraut, die hier – ich muss das theologisch formulieren, um es Ihnen besser verständlich zu machen – in ihre zwei Naturen zu zerfallen droht: Grab für den menschlichen Anteil, dem keine Erfüllung zuteil geworden ist, Brautgemach für die dionysische Heroine und gerade nicht die Liebende wie in der romantischen Liebestodversion des 19. Jahrhunderts,72 duldet den irdischen Partner nicht – sie erwarten die Toten. Und doch ist auch das eine Neuerung des Sophokles: die 69 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 944 ff. 70 Sophokles, Antigone, V. 1140 ff. (kathars o pod , V. 1144). 71 Sophokles, Antigone, V. 891 ff. – Die Doppelanrufung (,o Grab, o Brautgemach‘) wird in den Mysteriendarstellungen des Hades-Dionysos, z. B. auf den Tontäfelchen aus dem Persephone-Heiligtum von Lokroi Epizephyrioi, dem heutigen Locri, eingelöst. Tatsächlich erscheint dort nicht neben Hades auch ein unterweltlicher Dionysos, sondern es ist jedes Mal der heraklitisch eine Gott, so z. B. auf der berühmtesten dieser Votivtafeln: Hades mit Persephone in der Unterwelt thronend (Reggio di Calabria, Archäol. Museum, abgeb. in: Leonard v. Matt/Umberto Zanotti-Bianco: Großgriechenland. Zürich/Würzburg 1961, Abb. 147). Dass Antigone sich mit der Mysterienlösung nicht zufrieden gibt, sich aber auch nicht kultisch, so wie Herakles, in ihre zwei Naturen zerlegen lässt, macht exakt das aus, was ich im folgenden als „Vorschein des Individuums“ bezeichnen werde. 72 An die Tombe der Antigone gekettet bleibt ihr Gegenbild: die Tombe des Liebestods von Aida und Radamès in Verdis Oper. Der Librettist Ghislanzoni lässt Radamès begreifen: „morir per me d’amore…“ und Aida das den Tod verwandelnde Fazit ziehen: „Ivi comincia l’estasi/D’un immortale amor“ (Antonio Ghislanzoni: Aida. Mailand 1972, S. 46 f.).

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nkyia der Innerlichkeit – also der Abstieg in die eigene Unterwelt –, die deren zeitgleicher Entdeckung auf den attischen Grabreliefs entspricht. So wie unsere Heroine sich auf einer imaginierten Bühne in Niemandsland erhängt, gleichsam der Tribut an die Dionysos-Bühne, könnte sie dort auch als zerrissenes Individuum neu erstehen. Das ,Nicht unter den Lebenden, nicht unter den Toten‘ wäre das Zwischenreich, das dies möglich macht73 – es ist nichts anderes als der Vorschein des Individuums unter den Zerreißungsmetaphern, den der Lyriker Sophokles hier in ihrem Abgesang erscheinen lässt. – Stellen wir uns nun noch die Musik vor, die dem entsprochen haben mag, so können wir mit Sicherheit behaupten, dass sie nicht bloß die unterstreichende Verdoppelung des Textes war – denn das ist sie in keinem Kult –, sondern eher diesen in ihre eigene Sphäre hineingenommen und eine Spannung aufgebaut hat, in der sie fähig war, Affekte selbständig zu steuern und zu lösen – und dies, nicht anders vermutlich als bei der Wiederbelebung der antiken Tragödie in der italienischen Oper, aus zunehmend eigener erkennender Distanz. Sie wird den gleichen Prozess intellektueller Verselbständigung durchgemacht haben wie das komplexe Sprachkunstwerk Tragödie, das als Theater aus dem Kult hervortritt, so dass sie dessen Wirkung auf der Bühne nicht nur suggestiv verstärkt, sondern den von ihm eröffneten Spielraum der Affektmodellierung kollektiv erfahrbar gemacht und ihre eigenen – ich gebrauche noch einmal das Wort aus dem Dionysos-Kult – ,Lösungen‘74 angeboten haben wird: der Vorgang, den Aristoteles mit dem Wort k tharsis wohl auch im Sinne hatte, seinem der Mysteriensprache entnommenen, durchaus therapeutischen Reinigungsbegriff. Wenn wir jetzt, im letzten Teil des Vortrags, das Fazit ziehen und uns die Frage stellen, was die Tragödie vermocht hat und wozu sie gebraucht wurde, kann uns die sophokleische Figur des Denkens, t phrone n, dieses zweite Schlüsselwort der Antigone nach meiner alten Leseerinnerung, weiterhelfen. Es zielt, so meine These, über die therapeutische Funktion hinaus auf die aufklrerische Funktion der Tragödie, die in der Beschwörung ihrer als eines dionysischen Passionsspiels so wenig aufgeht 73 Sophokles, Antigone, V. 852, wie o. Anm. 12. – Das ,Zwischen‘ ihres Zwischenreichs ist wörtlich zu nehmen. Im mtoikos ou zsin ou thanosin erscheint das (die) leibhaftig ausgeschlossene Dritte einer vorgeblich entdämonisierenden, mischungsfeindlichen Philosophie (tertium non datur) gleichsam als separatum (separata) auf der dionysischen Bühne. 74 Ly´sios, Lya os (Löser) sind Beinamen des Gottes, der physisch und psychisch die Fesseln sprengt und so erlöst (zum Gebrauch dieser Namen vgl. Ludwig Preller: Griechische Mythologie. Berlin 21860 f., Bd. 1, S. 529 u. S. 556).

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wie antike griechische Modernität (denken Sie an den im Innern des Menschen wütenden, sein Denken erfassenden Staub) in ihrer Wiederbelebung durch zeitgenössisches Kulttheater.

9 Stimmt es, dass der Stoff der Tragödie die auf der Bühne des HadesDionysos vor Augen gestellten Aktionen der Selbstzerstörung sind, die die Haltbarkeit der Zivilisation als solcher in Frage stellen, dann ist diese Bühne ein therapeutisches Großunternehmen und die Funktion des antiken Kulttheaters leicht zu begreifen: ein Gefß fr namenlosen Schrecken (phbos) zu sein, diesen vor aller Augen und Ohren kenntlich zu machen und ihn gefasst – in des Wortes doppelter Bedeutung, der einer psychischen und einer artistischen ,Fassung‘ – dem Publikum zurückzureichen (dies, und nicht das kennerische Entzücken an einem immer raffinierteren Umgang mit der eigenen mythischen Vorgeschichte, hat die dionysische Tragödie zu einem antiken ,Dauer-Event‘ gemacht). Die gehäuften Schmerzensschreie, die schrillen Interjektionen aus dem Repertoire der ihre Beute machenden dionysischen Schwärme, rituelle Klage und das Geheul des Totenkults unterstreichen diese Interpretation: sie sind ja in allen Sprachen die ältesten und gesellschaftlich stabilsten Formen und belegen damit die große Anstrengung, die es gekostet hat, wenigstens Elemente wortlosen Schreckens der Sprache einzuverleiben. Sie stellen sozusagen das Rückgrat der Sprache dar, die gleichsam abrufbare Legitimation einer solchen Fassung. – Die in der Antigone besonders verstörende Beobachtung, dass die Protagonisten sämtlich aneinander vorbeireden und sich gegenseitig nicht verstehen, ihre blitzenden Dialoge, die stichomythischen Partien der Tragödie, Scheingefechte, während der nicht zählende Mann aus dem Volk, der Wächter, sich den burlesken Luxus des Verstehens leistet und daraus auch noch listig Kapital zu schlagen ,versteht‘,75 macht, wenn ich richtig sehe, eine weitere Funktion der von mir so geschilderten Bühne klar: Sie ist ein Gefß fr Gefße (die Psychoanalytiker unter meinen Hörern mögen mir verzeihen, dass ich nicht das ihnen heute geläufigere Wort ,container‘76 benutze), die selber 75 Vgl. den doppelten Auftritt des Wächters, der seinen Herrn durchschaut: Sophokles, Antigone, V. 223 ff. u. V. 384 ff. 76 ,Container contained‘ – ein die kleinianische Praxis konkretisierendes bionsches Begriffsbild, das beides enthält: die mütterliche Aufnahme- und Bearbeitungs-

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diese Funktion nicht erfllen, als Gefße versagen. Das gilt schon für die beiden Schwestern in der Exposition des Stücks – wenn Sie hier die hölderlinsche Übersetzung danebenlegen, sehen Sie den Unterschied: jeder Vers bei Hölderlin ein Antrag auf Verstehen, ein Appell an das gemeinsame Seelen-Subjekt, nicht die verschlossenen Gefäße, die nichts aufnehmen, nichts abgeben, nichts tauschen können. Die Anrede an die MaskenHäupter unterstreicht es noch – ich hätte etwas darum gegeben, zu wissen, ob auf der Bühne der Kothurn allein regiert oder die totale Einsamkeit auch einmal beckettsch ausgedrückt werden konnte, indem die Maskenhäupter aneinanderklappern. – Also, wir wissen von den Requisiten viel, der Inszenierung nichts. Aber Sophokles, so viel ist klar, war ein Theatermann, er operiert, ja experimentiert mit dem Schoß- und Kopfgefäß der dionysischen Bühne – ich wähle diese Formulierung, um wenigstens anzudeuten, wo die verdrängte Weiblichkeit der dionysischen Kulte unter dem männlichen Regime der Polis wiederkehrt –, und er macht diese Bühne, so viel will ich Ihnen heute noch zeigen, zu einem aufklärerischen Denkmodell. Aber das ist dann nicht mehr die Bühne im Theater, sondern die Bühne im Kopf, eben das dem Zuhörer, Zuschauer, Kompassionisten des Hades-Dionysos-Spiels zurückgereichte Gefäß, das Sophokles mit einer erstaunlichen Provokation verbindet. Er nennt sie t phrone n, das Denken. Dieses wird beim Abgang des Chors sogar an die Stelle des Hades-Dionysos als Herrn der dionysischen Bühne treten.77 Ich komme damit zur abschließenden Erörterung meines zweiten sperrigen Erinnerungsworts.

10 T phrone n, das Denken, dieses verbalsubstantivisch exponierte Wort, erscheint gleich zweimal an gleicher, nicht minder exponierter Stelle: in der knappen Schlusssequenz des Chors,78 von der wir uns nach den funktion und die ihr sich verdankende angstfreie Reziprozität als Bedingung der Möglichkeit eines Angst verarbeitenden Verstehens (vgl. Artikel: Containing. In: Robert D. Hinshelwood: Wörterbuch der kleinianischen Psychoanalyse. Aus dem Engl. übers. von Elisabeth Vorspohl. Stuttgart 1993, S. 350 ff.). 77 Vgl. die Wahl der Worte im Einzugslied des Chors: „B kchios rchoi“ (Sophokles, Antigone, V. 154) und in seinem Auszugslied: „poll t phrone n eudaimon as/ prton hyp rchei“ (Sophokles, Antigone, V. 1348 f.), in dem das phrone n der eudaimon a vorangeht, ihr so zugrunde liegt wie der vom Chor angerufene Dionysos (B kchios) dem seiner Anrufung folgenden Schrecken. 78 Sophokles, Antigone, V. 1348 – 1353.

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vorangegangenen Schrecken ein Resümee erwarten. Allerdings – wenn ich in epiphanischer Redeweise fortfahren darf –, in der Mehrzahl der Übersetzungen will es nicht sichtbar werden, die sophokleische Provokation hat nicht stattgefunden. Wieder ist Hölderlin eine Ausnahme, weil er das zweimalige Erscheinen des Wortes ,Denken‘ respektiert,79 aber auch er hilft uns zu seinem Verständnis nicht weiter. – Diesmal brauche ich nicht erst von meiner Erinnerung auszugehen, viele von Ihnen werden die Schlusssequenz wie ich in peinlicher Erinnerung haben. Warum, so werden Sie sich beim Wiederlesen des Stücks gefragt haben, nach dem existentialistischen Selbstzerreißungs-Kommos des PentheusKreon mit dem aufrührenden Nebeneinander von dionysischem Wahn (denken Sie an die berückenden Worte, mit denen er die Herbeikunft seines schönsten, nämlich letzten Tags erfleht80 – sie könnte Antigone so auch gesungen haben!) und schneidend-realistischer Selbstdemontage (ein Mörder, weniger als niemand, dem alles wankt, resultierend in dem Befehl, ihn wegzuschaffen81), eine solch platte, des Sophokles nicht würdige Schlusssentenz? ,Besonnenheit das höchste Glück, man muss den Göttern das Ihre geben, große Schläge, die den Prahler treffen, lehren im Alter Besinnung‘ – auf diesen Tenor ist die Mehrzahl der Übersetzungen gestimmt.82 Wäre es das, machte der Konventionalismus, ja Zynismus des Sophokles erschrecken, das unterirdische Theben – sein unterirdisches Athen – wäre verflogen wie ein blutiger Spuk, die dionysische Bühne eine sehr einfältige Lehranstalt, die zu einer solchen Moral taugte. Aber vielleicht haben wir uns täuschen lassen, weil der Stoizismus des Denkens das so verlangt und wir Sophokles, avant la lettre, zu einem stoischen Philosophen machen. Sophokles war ein Theatermann: Er experimentiert mit dem Wort phrone n, es taucht nebst seinen Derivaten viele Male an dramaturgisch entscheidenden Stellen auf. Eine hatten wir ja kennengelernt, sie hatte der Staubobsession die beunruhigende Wendung gegeben: die phrenn eriny´s, 83 ich hatte übersetzt ,die 79 „Um Vieles ist das Denken mehr, denn/Glükseeligkeit. Man muß, was Himmlischer ist, nicht/Entheiligen. Große Blike aber/Große Streiche der hohen Schultern/Vergeltend,/Sie haben im Alter gelehrt, zu denken“ (Hölderlin, Antigonae, V. 1397 – 1402, S. 405 u. S. 407). 80 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 1328 – 1332. 81 Vgl. Sophokles, Antigone, V. 1319 – 1325, 1339 – 1346. 82 Flashar: Sophokles, S. 75, urteilt: „Eine konventionelle Schlußgnome des Chores (Besonnenheit, Ehrfurcht vor den Göttern, Lernen im Alter) beschließt die Tragödie.“ 83 Sophokles, Antigone, V. 603.

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Furie des Denkens‘ als eine der Erscheinungsformen des mähenden Todesstaubs. Zwei, drei weitere muss ich gleich noch nennen. – Kreon verhängt über die gefangene Antigone ein Denkverbot (unpassend sei es für sie, groß zu denken, phrone n mg’, „hochfliegendes Denken“ übersetzt Schadewaldt treffend),84 Haimon wirft dem Vater vor, das Denken gepachtet zu haben (phrone n mnos),85 hingegen fordert Teiresias, der Seher, gleich nach seiner Ankunft Kreon auf zu denken (phrnei, denke), und zwar, dass er auf des Messers Schneide stehe: also sein Schicksal zu denken und nicht sich auf einen stichomythischen Schlagabtausch einzulassen. Tatsächlich schaudert ihn (phr sso).86 Doch nur wenig später argumentiert er mit einer klassischen verdrängenden Verblendungsformel: er glaube, me phrone n, nicht denken, sei in der Tat das größte Übel (o mai, m phrone n ple ste bl be), und muss sich von dem Seher sagen lassen, dass er selbst voll von dieser Krankheit (tÞs nsou plres) sei.87 Daran zweifellos will Sophokles ihn denken lassen, wenn er ihn seinen Klagegesang, unmittelbar nach dem ersten Schmerzensschrei, i , mit der seine Fehler prägnant rekapitulierenden Denkformel phrenn dysphrnon hamartmata beginnen lässt, also: Fehler eines Denkens, das keines ist, und gleich die bezeichnenden Attribute dieses Denken zerstörenden Denkens hinzusetzt: stere thanatent’, „starr“ und „tötend“.88 Spätestens hier bemerken wir, dass der Theatermann ein Philosoph ist, der programmatisch ein anderes, nicht-philosophisches Denken fordert: eines, das sich über Schicksal und Tod – m n hatte Parmenides diese benannt und sie für nichtig erklärt, Ausgeburt einer weiblich-dämonischen Unterweltsgöttin – nicht erhebt, sondern Schicksal und Tod zu denken versucht.89 Und nun leuchtet ein, was der Chor am Ende resümiert. Erstens, dass Denken 84 85 86 87 88 89

Sophokles, Antigone, V. 478 f.; Sophokles: Antigone. Hg. v. Schadewaldt, S. 28. Sophokles, Antigone, V. 207. Sophokles, Antigone, V. 996 f. Sophokles, Antigone, V. 1051 f. Sophokles, Antigone, V. 1261 f. Vgl. meine Interpretation des Parmenides in Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, S. 111 f. (zum Preis der „Starre“ und „Entleerung“, den der über das m n sich erhebende Denker zahlt), und in Parmenides und Jona, dort in dem gleichnamigen Essay, S. 85 – 99, mit dem Fazit: „Wenn wir den Kampf gegen die Todes- und Schicksalsdrohung als Entdämonisierung bezeichnen, so ist die Philosophie des Parmenides das Urbild für diejenige Form der Entdämonisierung, die die dämonische Wirklichkeit zu besiegen scheint, indem sie deren Realität leugnet“ (ebd., S. 92). Genau da setzt die dionysische Tragödie an: ihr „Denken“ denkt auch die Ohnmacht des philosophischen Denkens als eine Erscheinungsform des Todesstaubs.

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,vorangehe‘ (hyp rchei, das könnte man so auch von Dionysos sagen, und auf Dionysos war es ja wohl gemünzt) der eudaimon a, dem Glück (in der Konstruktion des Satzes möchte ich hier wieder Hölderlins härterer Lesart zustimmen, auch wenn ich nicht mit ihm behaupten würde, dass Denken das Glück übertrifft)90 – das ist die Stelle, die Sie in der Regel übersetzt finden mit der Formel, die sie zur antiken Platitude macht: ,Besonnenheit das höchste Glück‘. Alsdann, zweitens, dass man das, was den Göttern zusteht, nicht ,entheiligen‘ dürfe (Hölderlins schönes Wort),91 also die Verwahrung gegen Asebie – das ist des Sophokles Bekenntnis zur Polis, seiner Stadt Athen, die ihn, vermutlich nach dem Erfolg der Antigone, zum Strategen wählen wird. Und endlich, drittens, die nochmalige, endgültige Denkbeschwörung: nicht ,Hochmut kommt vor dem Fall, und nun habe einer, der unbesonnen war, Besonnenheit gelernt‘, sondern: die großen Worte eines nicht-denkenden Denkens, die große Schläge nach sich gezogen haben und bitter gebüßt worden sind, haben paradoxerweise gelehrt, wenn auch zu spät, was Denken ist. – ,Besonnenheit gelernt, Altersweisheit erworben zu haben‘ – so oder ähnlich zu übersetzen, wäre hier der blanke Hohn des Chors gegenüber einem Mann, den der Bote zuvor einen ,lebenden Toten‘92 genannt hat (so in seinem letzten Bericht aus Niemandsland) und der nun nur als Wiedergänger auf der Bühne steht. Dagegen benannte die Klage der Antigone ,nicht unter Lebenden, nicht unter Toten‘ ein Zwischenreich, das hier als ein Jenseits von Leben und Tod erscheint – sie passt zu beiden nicht, und das heißt, streng genommen auch nicht mehr auf die dionysische Bühne, auf die Sophokles sie als eine Figur des an ihrer eigenen Starre scheiternden Einspruchs sowohl gegen die Starre des Kults wie die Starre der Staatsraison stellt. Damit eine wirkliche Antigone mçglich wäre (so können wir vielleicht die sophokleische Vision beschreiben), bedürfte es zuvor des Denkens, das die periodisch aufgeschlagene Dionysos-Bühne am Rand der Stadt in die nicht mehr aufhebbare Bühne im Kopf verwandelt – das genau, wovor das Denken der Heilslehre Philosophie in der antiken Polis zurückschrickt – und das den auf dieser Bühne dargestellten Schrecken der Selbstzerstörung: den Staub, den Philosophie nicht denken kann noch will, inklusive der ihn begleitenden tödlichen Phantasien, denkt. Ihn nicht zu denken, wäre die tragische Schuld, in die ein Denken verfällt, das ihn für nichtig erklärt und sich von Schuld freispricht. – Der 90 Vgl. o., Anm. 77 und Hölderlins Übersetzung: o., Anm. 79. 91 „Entheiligen“: Hölderlins Wort für asepte n. 92 Sophokles, Antigone, V. 1167: „mpsychon […] nekrn“.

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glückliche Sophokles ist auf einem schmalen Grat gewandelt. Moderner könnte seine Forderung ,zu denken‘ nicht sein, analytisch und therapeutisch aktueller auch nicht. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Sektion III Das Tragische in der Philosophie des Deutschen Idealismus

Schelling und die Epochen des Tragischen Claus-Artur Scheier Über Botho Strauß’ Anschwellenden Bocksgesang, der vor fünfzehn Jahren viel Lärm verursachte,1 mag man im Übrigen denken wie man will, aber man wird ihm inzwischen lassen müssen, dass er frühzeitig ein neues Interesse am Tragischen wahrnahm und es sogleich in derjenigen gesellschaftlichen Dimension lokalisierte, in der die Tragödie im 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden war, in der politischen Befindlichkeit. Der unter den Bedingungen der Globalisierung rasant verlaufende Differenzierungsprozess der medialen Moderne legitimiert offenbar die zahlreichen gegenwärtigen Inszenierungen antiker Tragödien oder doch antiker Stoffe – das Tragische ist  la mode, wo nicht die Tragödie selbst, die den modernen Poetiken immer wieder, und nicht ohne triftigen Grund, den ästhetischen Totenschein ausgestellt haben. Diese Differenz zwischen dem Tragischen und der Tragödie legitimiert auf neue Weise auch einen philosophischen Zugang zum Phänomen – schon ganz abgesehen davon, dass alle Zugänge zu kulturellen Phänomenen legitimiert sind und willkommen sein sollten, weil das Kriterium hier einzig die analytische Kraft sein kann, deren mögliche Resultate so wenig voraussehbar sind wie in den Naturwissenschaften die der sogenannten Grundlagenforschung. Der unmittelbare Zugang, unbefangen aus dem innovativen Selbstgefühl der eigenen Gegenwart, ist zweifellos der transformationspoietische des Regietheaters, der de facto freilich von theater- und literaturwissenschaftlicher Reflexivität2 nicht zu 1

2

Botho Strauß: Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel (1993), H. 6, S. 202 – 207 (Postscriptum in: Der Spiegel (1994), H. 16, S. 168 – 170). Jetzt in: ders.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München/Wien 1999, S. 55 – 78. Verwiesen sei vor allem auf die Arbeiten von Wolfgang Braungart: Warum es die Tragödie gibt und was sie mit Recht und Gerechtigkeit zu tun hat (Aristoteles, die „Orestie“ des Aischylos und Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“). In: Susanne Kaul/Rüdiger Bittner (Hg.): Fiktionen der Gerechtigkeit. Literatur – Film – Philosophie – Recht. Baden-Baden 2005, S. 93 – 116; ders.: Die Anfänge der Tragödie und die Moderne. In: Sabina Becker/Helmuth Kiesel (Hg. unter Mitarb. v. Robert Krause): Literarische Moderne. Begriff und Phänomen.

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trennen ist. Die Philosophie steht etwas weiter ab, so dass sie sich, hätte sie ihn nicht längst vorweggenommen, verlegen dem Vorwurf ausgesetzt sehen könnte, sie mische sich in Dinge ein, von denen sie in concreto nichts verstehe. Die Philosophie muss sich hier aber gar nicht, allgemein kulturphilosophisch, auf die möglichen Resultate auch ihres Zugangs berufen, sondern kann daran erinnern, dass die Tragödie immerhin schon seit Platon und Aristoteles Sache der Philosophie war, streng genommen allerdings auch immer nur in einer einzigen Hinsicht: als eine Gestalt des Wissens, so dass die tragische Kunst (und mit ihr die komische) in den aristotelischen Abhandlungen geradeso durchdacht werden musste wie unter den vielen Gestalten des weder theoretischen noch praktischen, sondern poietischen (produktiven) Wissens allein noch die Rhetorik. Darin bezeugt sich sogar eine nächste Nähe der Philosophie zur tragischen als der, platonisch-aristotelisch gedacht, höchstmöglichen aller Künste. Dass die Philosophie nämlich mit dem Staunen anfange, ist seit den beiden Denkern zum Gemeinplatz geworden, aber was fängt anderseits nicht alles mit dem Staunen an und wird ganz und gar nicht Philosophie? Wir erstaunen jedenfalls, wo wir unseres Nichtwissens inne werden, und das beunruhigendste, weil uns unmittelbar in unserer Lebensführung treffende Nichtwissen ist zuletzt das unserer selbst, weshalb der delphische Gott – Heraklit zuerst hat daran erinnert – nicht dazu aufforderte, dies oder jenes zu erkennen, sondern sich selbst. Nach Wissen zu streben, wird Aristoteles dann seiner Untersuchung der sophia in der philo-sophia voraussetzen, sei das Wesen des Menschen als des zon logon echon und politikon. Die erfüllteste Möglichkeit seiner Existenz findet das animal rationale in der Polis, und die vollkommenste Selbstdarstellung seiner politischen Existenz unmittelbar innerhalb ihrer selbst war – wenigstens im Athen des 5. Jahrhunderts – eben die Tragödie, die zwar als Gestalt des Wissens, aber noch nicht als Wissenschaft dem Menschen diese äußerste Paradoxie (das para tÞn doxan)3 zumutet, nicht das eine oder andere sondern sich selbst in seinem Wesen verfehlen zu können und als das zon

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Berlin/New York 2007, S. 61 – 96; ders.: Mythos und Ritual, Leiden und Opfer. Ein strukturgeschichtlicher Versuch zur Tragödie. In: Anton Bierl u. a. (Hg.): Literatur und Religion. Wege zu einer mythisch-rituellen Poetik bei den Griechen. Berlin/New York 2007, Bd. 2, S. 359 – 424. Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1452a4.

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logon echon zuletzt wenigstens dies noch zu erkennen – pathei mathos, durch Leiden lernen, hatte Aischylos es auf die bündige Formel gebracht.4 Dies tragische Leiden in der Wirklichkeit zu sparen, hatte das tragische Denken im Athen des Peisitratos die Bretter bestiegen, „die die Welt bedeuten“,5 und als die Tragödie, von innen erschüttert durch den Stoß, den die kritische Sophistik der gesamten Tradition versetzte, und von außen durch die Katastrophe des peloponnesischen Kriegs, in wenigen Jahrzehnten zu dem wurde, was wir im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert neutral das „Schauspiel“ nennen, da übernahm die Philosophie die Aufgabe, die Frage zu beantworten nach dem rechten Weg zum gelingenden Leben, zur eydaimonia – und fängt dort an, wo die Tragödie ihre äußerste Möglichkeit erreicht, im Erstaunen (thaymazein) über den Abgrund menschenmöglichen Leidens und Leidenmachens aus Freiheit. Diesen geschichtlichen Stabwechsel bezeichnen von Anfang an die Namen Euripides und Sokrates, und er wird sinnenfällig in der Anekdote, der junge Platon habe seine Tragödien verbrannt. Der bis ins Spätwerk nachzitternde Schmerz über dies geschichtliche Muss war für Aristoteles längst selber schon Geschichte, als er dem Einundsechzigjährigen zum ersten Mal begegnete, und der Jüngere kann im Blick auf den Anfang des Wissens gelassen bemerken,6 es müsse sich in der Folge ins Gegenteil und sprichwörtlich zum Besseren wenden wie beim Erlernen der Geometrie: Nichts wäre dem Geometer erstaunlicher als die Kommensurabilität der Diagonalen.7 Das ist nicht einmal ohne Ironie gesagt, weil der Geometer weiß, dass die Diagonale unmçglich der Seite des Quadrats kommensurabel ist. Erstaunen würde er also genau über die unversehens aufscheinende Möglichkeit einer andern (als der nachmalig „euklidisch“ genannten) Geometrie. Gauß war vermutlich der erste, dem dies widerfuhr – was 4 5

6 7

Vgl. Aischylos, Die Orestie, Agamemnon, V. 177 (Die Orestie wird zitiert nach: Aischylos: Tragödien. Übers. v. Oskar Werner. Hg. v. Bernhard Zimmermann. Zürich 1996). Friedrich Schiller: An die Freunde. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schillerarchivs, des Schiller-Nationalmuseums und der deutschen Akademie hg. v. Julius Petersen u. a. Weimar 1943 ff., Bd. 2,I, S. 225 – 226, hier S. 226. Vgl. Aristoteles, Metaphysik I, Kap. 2, 983a11 ff. Dass die moderne Philosophie eine Vorliebe dafür hat, im Staunen zu verharren – Derridas späte Aporetik ist dafür das jüngste Beispiel –, hat seinen guten Grund darin, dass sie sich als solche anders als das klassische Denken nicht mehr als Wissenschaft konstituieren kann, dass aber eben damit auch die traditionelle Grenze zwischen ihr und der Dichtung disponibel bleibt.

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bezeugt, dass das Staunen seine Geschichte ebenso hat wie das Wissen und das Tragische. Wäre uns also nicht nur, schlimm genug, Aristoteles’ Buch über die Komödie, sondern die ganze Poetik verloren, wir ahnten wenig über die Mnemosyne der Tragödie, die die aristotelische Philosophie und mit ihr die an sie und Platon anknüpfende Tradition ist. Der andere glückliche Zufall gibt uns die lehrreiche Gelegenheit, Peter Szondis überaus erhellende Bemerkung zu präzisieren, seit Aristoteles gebe es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen; mit ihr begönne die Geschichte der Theorie des Tragischen, die „ihr Augenmerk nicht mehr auf dessen Wirkung, sondern auf das Phänomen selber“ richte.8 Dieser glückliche Zufall ist der, dass uns zwei Elegien und eine Reihe von Fragmenten Solons9 erhalten sind, die uns eine Theorie des Tragischen avant la lettre sehen lassen – denn gesetzt auch Solon selbst bereits hätte seine politische Theorie oder Ethik (ebenfalls ein späterer Terminus) „tragisch“ nennen können, er hätte es nicht gewollt: Als Thespis nämlich den Bürgern Athens dergleichen „im Spiel“ (meta paidias) vorstellte, protestierte er besorgt,10 aber Peisistratos hatte die Zeichen der Zeit erkannt und übernahm die Aufführung von Tragödien 534 ins Ritual der Großen Dionysien. Nichts dürfte dem so prozessfreudigen athenischen Publikum geläufiger gewesen sein als das Solonische Gesetzeswerk, das in ständigem Gebrauch und Diskussion zudem jedem Bürger schriftlich zugänglich war. Bis hin zu den von Marx analysierten kapitalistischen Produktionsverhältnissen der industriellen Moderne werden noch ungefähr 2400 Jahre vergehen, aber natürlich definiert sich auch schon der griechische Bürger, der citoyen, als bourgeois durch die ihm zur Verfügung stehenden Subsistenzmittel, durch seinen Besitz (chrÞmata) oder gar Reichtum (ploytos), und bereits Solon muss drastisch genug daran erin8 Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese, Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260, hier S. 151 u. S. 157 f. 9 Solon wird (mit der Zählung von: Anthologia lyrica Graeca. Hg. v. Ernst Diehl. Bd. 1: Poetae elegiaci. Leipzig 31949) zitiert nach: Solon: Frammenti dell’opera poetica. Premessa di Herwig Maehler. Introduzione e commento di Maria Noussia. Traduzione di Marco Fantuzzi. Mailand 2001. Zum Folgenden vgl. Claus-Artur Scheier: Solons Hut oder Recht und Kosmos. In: Felicitas Englisch u. a. (Hg.): Randfiguren. Spinoza-Inspirationen (FS Manfred Walther). Hannover 2005, S. 9 – 22. 10 Plutarch: Solon 29.

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nern, dass Gerechtigkeit im Gemeinwesen nur dann gewährleistet ist, wenn jeder Besitzbürger sich zugleich als Staatsbürger, d. h. in seiner Existenz einer nicht nur materiellen Ordnung zugehörig weiß: Des Gedächtnisses (MnÞmosynÞ) und des olympischen Zeus helle Kinder, Pierische Musen, erhört mein Gebet. Wohlstand (olbos) von den seligen Göttern gebt mir und von allen Menschen immer guten Leumund zu erlangen: […]. Besitz (chrÞmata) ersehne ich zu haben, ungerechterweise aber besitzen Will ich nicht: später jedenfalls naht das Recht (dikÞ). Der Reichtum (ploytos), […] Dem die Menschen vermessen (hyph’ hybrios) nachstellen, nicht der Ordnung nach (kata kosmon) Kommt er, sondern unrechten Geschäften gehorchend Folgt er unwillig: rasch mischt die Verblendung (atÞ) sich ein. Aus kleinem Anfang entsteht sie wie aus einem Funken, Unbedeutend zuerst, beschwerlich aber endend. Nicht gedeihen den Sterblichen der Vermessenheit Werke, Vielmehr sieht Zeus von allen das Ende und plötzlich – […] ist die Vergeltung (tisis) da […].

In der Vergeltung kommt die Wahrheit (alÞtheia) der Tat zum Vorschein, die von Anfang an hätte gewusst werden können, weil sie göttlicher Natur, d. h. allen offenbar ist – die allgemeine Rechtsordnung selbst. Das unrechte Handeln entspringt darum nicht einem Verborgensein der Wahrheit, sondern ihrem Vergessen (lÞthÞ). Warum aber wird das, was allen offenbar ist, so gern vergessen? Aus der in der menschlichen Natur liegenden Habgier, antwortet der Kaufmann Solon und fragt sogleich, wo der Punkt ist, in dem die dem Einzelnen wie der Gemeinschaft doch überaus nützliche Lust am Erwerb umschlägt in einen noch den kommenden Generationen nachstellenden Fluch. Genau dort, ist seine Antwort wie dann die der Tragödie, wo die Lust am Erwerb die ihr gesetzte Grenze überschreitet und das Gedächtnis dessen löscht, was jedermann bekannt ist – dass Zeus bei allem aufs Ende sieht. So vergesslich vertrauen die Menschen nicht länger den Göttern, sondern werden betört vom Besitz, dem sie vermessen die Ehre geben, weil sie schon zuviel davon gekostet haben. Denn jenes Vergessen ist zugleich das Vergessen des allgemeinen Wissens, wie die Unmäßigkeit zu zügeln sei. Der Hang also zur Unmäßigkeit (koros) liegt in der Natur des Menschen, aber auch die Möglichkeit, ihn in Grenzen zu halten – wird das vergessen, dann heckt die Unmäßigkeit Vermessenheit (hybris). Und dann, im Augenblick gleichsam, wo der Mensch zum ersten Mal die Hand ausstreckt nach dem, was ihm nicht rechtens zusteht, ist auch schon die Verblendung (atÞ)

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zugegen, der mit völliger Gewissheit, wann auch immer, die Wiederherstellung des Rechts und mit ihr Zeus’ Vergeltung folgt: Aber der eine büßts auf der Stelle, der andre später; und die entfliehen, Selber, und dem göttergeschickten Los entkommen, Die erreicht es jedenfalls nachher: Unschuldig an den Werken gelten Die Kinder sie ab oder später die Nachfahren.11

Die stets nötige Besinnung des Menschen auf das, was nachmals Kant seine „Anlage zum Bösen“ nennen wird, hat bei Solon schon den Charakter der Anerkennung der göttlichen Weltordnung als eines vernnftigen Rechtsverhltnisses. 12 Das lässt auch nach der Seite der politischen Theorie sehen, dass die erste Sorge in der ohne traditionelle Vorbilder zunehmend demokratisch sich konstituierenden Polis13 die Eintracht der Bürgerschaft war angesichts der beständigen Gefahr ihres Zerfalls in feindliche Fraktionen, angesichts des Bürgerkriegs (stasis); und als Solon seinen Athenern klar zu machen suchte, dass „die Wahrheit in die Mitte tritt“ (alÞthe Þs es meson erchomenÞs),14 hatte er zuerst nicht nur das Wesen des politischen Denkens, sondern diesem folgend des tragischen Denkens und so mittelbar des philosophischen Denkens überhaupt ausgesprochen – besteht Platons epochale logische Leistung doch in der Grundlegung einer Logik der Mitte (meson), deren aristotelische Entfaltung unbeschadet aller geschichtlichen Alternativen als die Logik verbindlich blieb bis an die Schwelle der industriellen Moderne. Und auch deren Logik der Funktion hat den Primat der Mitte nicht getilgt, wiewohl abermals epochal verwandelt. Die spezifische politische Unterscheidung darf darum auch heute nicht, wie Carl Schmitt dem 20. Jahrhunderts glauben machen wollte, die von

11 Diese alte Überzeugung, die auch das erste Gebot der Bibel formuliert: apodidoys hamartias patern epi tekna (2 Mos. 20,5), war in Athen bezeichnenderweise alsbald umstritten (vgl. Theognis, V. 731 – 752). Allerdings sind die Kinder und Enkel, was die unrechte Tat des Einzelnen angeht, unschuldig, aber die Familie – ihrerseits eine politische Macht – ist nach wie vor im Besitz des unrecht Erworbenen. 12 Und wenn Aristoteles Thales den archÞgos „dieser Art von Philosophie“ nennt (Aristoteles, Metaphysik I, Kap. 3, 983b20 f.), nämlich der nachmals so genannten Meta-Physik, dann wird man Solon den archÞgos des politisch-ethischen Denkens nennen dürfen. 13 Vgl. Der große Ploetz. Die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Begr. v. Karl Ploetz. Freiburg i. Br. 321998, S. 139. 14 Solon 9 D.

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Freund und Feind sein,15 sondern ist die von Feindschaft und Vermittlung. Dass Vermittlung sei – nicht, dass sie und wie sie ist, wohl aber dass sie sei – ist die Botschaft der Tragödie. Dass die Feinde einander abschlachten, diese scheinbare anthropologische Konstante ist entsetzlich und regt immer neu die auch zur Tragödie gehörenden Affekte auf, aber es ist noch nicht tragisch. Tragisch im genauen Sinn ist das Scheitern der mçglichen Vermittlung: die Verweigerung der rechtzeitigen Einsicht und die nachträgliche Reflexion darauf. Der neuzeitliche Denker der tragischen Einbildungskraft,16 Schelling hat sich für diese Vermittlung immer wieder auf Platons Lehre vom Band (desmos, Copula) berufen: „Denn was ist das Göttliche?“ fragt er und antwortet: „das lebendige […] Band des Idealen und Realen“.17 1812 wird er in seiner Polemik gegen die „Brochüre von den gçttlichen Dingen“ Friedrich Heinrich Jacobi vorhalten: Sie sagen in Ihrem Buch, die Wissenschaft müsse in Ansehung der Lehre von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit neutral bleiben. – Neutral? In Ansehung der allergeistlichsten Wahrheiten! – Neutral! O mit Recht verhaßtes Wort, auf dessen bloßen Gedanken bei Parteiungen Solon einst Todesstrafe gesetzt.18

Dass solche „Herzensträgheit“19 kein Tertium non datur provoziert, ist die Lehre vom lebendigen Band, denn es ist vielmehr die Neutralität, die sich der Spannung des Gegensatzes entzieht und ihm auf diese Weise das Tertium, die Synthesis verweigert. „Es giebt kein drittes“,20 hatte Jacobi dreizehn Jahre zuvor gegen die Synthesis a priori ins Feld geführt und sich von Hegel die Belehrung eingehandelt: „Es gibt ein Drittes, […] und es ist 15 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1932). 3. Aufl. d. Ausgabe v. 1963. Berlin 1991, S. 26: „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“ 16 Hierzu umfassend Reinhard Loock: Schwebende Einbildungskraft. Konzeptionen theoretischer Freiheit in der Philosophie Kants, Fichtes und Schellings. Würzburg 2007, Kap. III: Schellings tragische Einbildungskraft und die Produktivität der Natur, S. 279 – 475. 17 Schelling, SW VII, S. 440. 18 Schelling, SW VIII, S. 109 f. – ähnlich aber gemäßigter Schelling, SW X, S. 398. Schelling bezieht sich auf Plutarch: Solon 20 (vgl. auch: De sera numinis vindicta 4) – Plutarch berichtet allerdings nur, dass Solon den Betreffenden für ehrlos (atimos) erklärte. 19 Schelling, SW VIII, S. 112. 20 Jacobi an Fichte. In: Friedrich Heinrich Jacobi: Werke. Hg. v. Friedrich Roth/ Friedrich Köppen. Leipzig 1812 – 1825, Bd. 3, S. 49.

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dadurch Philosophie, daß ein Drittes ist.“21 Mit dessen Dazwischentreten öffnet sich der Raum der Wahrheit, wie Solon zuerst es ausspricht: „Ich aber stellte mich zwischen sie wie ins Niemandsland einen Grenzstein“,22 und Ich stand, starken Schild vorhaltend, gegen beide, Keinen zum Sieg gelangen lassend auf unrechte Weise.23

Der Streit der Jenaer Dioskuren mit Jacobi ist nicht irgendeine der vielen Streitsachen jener Jahre, geht es hier doch um „die letzte große Frage, (Sein oder Nichtsein?)“,24 die Schelling bereits in den 1795 – 1796 erschienenen Philosophischen Briefen ber Dogmatismus und Kriticismus aufgeworfen hatte – denn dies ist seit 1781 die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori, mithin der Möglichkeit eines Systems des Wissens, mithin der Möglichkeit der Philosophie überhaupt, wenn anders sie in platonisch-aristotelischer und das heißt in wissenschaftlicher Absicht genau dies ist, das Dritte zu denken: Es ist „dadurch Philosophie, daß ein Drittes ist“. In der Synthesis der dritten Antinomie der reinen Vernunft mit dem „ästhetischen reflektierenden“ Urteil des Erhabenen bindet der zwanzigjährige Schelling diese Frage in genialer Abbreviatur über Hamlets Monolog zusammen mit der nach dem Wesen des Tragischen, das gleich der erste Satz des ersten Briefs aufklingen lässt: Ich verstehe Sie, theurer Freund! Es dünkt Ihnen größer, gegen eine absolute Macht zu kämpfen und kämpfend unterzugehen, als sich zum Voraus gegen alle Gefahr durch einen moralischen Gott zu sichern. Allerdings ist dieser Kampf gegen das Unermeßliche nicht nur das Erhabenste, was der Mensch zu denken vermag, sondern meinem Sinne nach selbst das Princip aller Erhabenheit.25

Mit einem Schlag wird hier klar, dass die scheinbar so abstrus-gelehrte Problematik des absoluten Subjekt-Objekts die eines „Weltbegriff[s]“ ist, „der das betrifft, was jedermann nothwendig interessirt“,26 und das Herzstück dessen, was Kant in seiner Logik-Vorlesung die Anthropologie genannt hatte, die die drei Fragen der Philosophie in „weltbürgerliche[r] 21 22 23 24

Hegel, GuW, TWA 2, S. 411. Solon 25 D. Solon 5,1 – 6 D. Schelling, AA I,3, S. 109 (SW I, S. 339); vgl. Schelling, AA I,3, S. 89 (SW I, S. 320). 25 Schelling, AA I,3, S. 50 (SW I, S. 284). 26 Kant, KrV, A 839 / B 867, Anm.

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Bedeutung“ – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – in die Eine versammelt: „Was ist der Mensch?“27 Das ist im Jahrhundert Rousseaus eine Rousseausche Frage, und in der Tat lässt sich die Herkunft der Schellingschen Philosophie des Tragischen zwischen den topographischen Punkten Fichte, Jacobi und Kant zurückverfolgen durch Schillers Aufsatz ber die tragische Kunst von 1792 und Lessings Hamburgische Dramaturgie von 1769 zu Rousseaus Brief an D’Alembert über die Schauspiele von 1758 und um weitere drei Jahre zum zweiten Discours. Obenhin ließe sich die Lehre des mile, das Theater sei „nicht für die Wahrheit gemacht, sondern dazu, den Menschen zu schmeicheln und sie zu unterhalten“,28 als eine hypokritische Hyperbole der notorischen „Moral-Tarantel“29 Rousseau abtun und die Theatergeschichte des Jahrhunderts abhandeln, als sei der Brief an D’Alembert 30 nie geschrieben worden, wäre er nicht eingeschrieben in die das Jahrhundert in seiner letzten Tiefe erschütternden Entdeckung, dass der Ursprung und die Grundlage der Ungleichheit unter den Menschen keineswegs natürlich sei und etwa von der natürlichen Vernunft, der ratio naturalis der ontotheologischen Systeme des 17. Jahrhunderts gerechtfertigt werden könne, sondern vielmehr das Resultat einer misslingenden Kulturgeschichte. Damit war, nachdem Humes Kritik des Kausalitätsprinzips die ratio sufficiens der an den Universitäten noch gelehrten Theodizeen als bloßen belief und custom entlarvt hatte, nun auch dem Vertrauen der Aufklärung in die reinigende Kraft der Geschichte der Boden entzogen, der einzig noch der Wahrheitsgrund aller sachhaltigen Urteile sein konnte, als die die synthetischen Urteile a posteriori allein übrig geblieben waren.31 Hier ist ein neues Tertium non datur, das Natur und Kultur auseinandersprengt und im Ort der alten Copula nur das leere Und übrig lässt: Die Wahrheit tritt nicht länger in Solonischer Tradition „in die Mitte“. Was jetzt ist oder vielmehr sein soll, ist das unmittelbar mit sich identische 27 Kant, Log., AA IX, S. 25. 28 Jean-Jacques Rousseau: Émile ou de l’éducation. Texte établi par Charles Wirz présenté et annoté par Pierre Burgelin. Paris 1969, S. 513. 29 Nietzsche, M Vorrede 3, KGW V/1, S. 6. 30 Zur Komplexität des Rousseau’schen Projekts Jürgen Link/Ursula Link-Heer: Entdifferenzierung, Umdifferenzierung und das Projekt einer anderen Moderne bei Rousseau. Überlegung zur Lettre  d’Alembert sur les spectacles. In: Cornelia Bohn/Herbert Willems (Hg.): Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive. Konstanz 2001, S. 431 – 448. 31 Vgl. Astrid von der Lühe: David Humes ästhetische Kritik. Hamburg 1996.

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Subjekt, der Mensch, und jegliches Prädikat, mithin die Differenz selbst, hat ihm gegenüber nurmehr die Bedeutung des Supplements:32 Die Extreme Mensch und Kultur sind ursprnglich nichtidentisch, die Wirklichkeit ist an ihr selbst zerrissen, denn das Prädikat ist nicht mehr die Äußerung des Subjekts, nicht mehr seine Reprsentation. Und damit fällt notwendig die kulturelle Repräsentation an und für sich, das Theater, unter das Verdikt der Wahrheitslosigkeit.33 Das wiederum lässt erraten, was es geschichtlich auf sich hat mit der Hamburgischen Dramaturgie und den Konsequenzen, die Lessing aus ihr zog:34 Sie ist keineswegs nur ein Stück deutscher Theatergeschichte im Zug eines irgendwie zeitgemäß sich transformierenden literarischen Genres, sondern die Revindikation der Wahrheit, die dem Theater, mit ihm der Repräsentation überhaupt und so schließlich der logischen Vermittlung selbst von Rousseau abgesprochen worden war. Die äußere Bedingung der Möglichkeit dieser Wende war Lessings Freundschaft mit Mendelssohn, der Rousseaus Discours übersetzt35 und sich über der Arbeit mehr zu sein erwiesen hatte denn als bloßer Übersetzer: „Es ist ein Mann von Einsicht und Geschmack, welcher sie unternommen hat, und wir sind gewiss, daß er beides bei einer Arbeit zeigen wird, bei welcher die meisten nur Kenntnis der Sprachen zu zeigen gewohnt sind.“ Denn Einsicht und Geschmack – gebildeter Verstand und gebildete Empfindung – taten not, wo es galt, einem „kühne[n] Weltweise[n]“ zu begegnen, „welcher keine Vorurteile, wenn sie auch noch so allgemein gebilliget wären, ansiehet, sondern graden Weges auf die Wahrheit zugehet, ohne sich um die Scheinwahrheiten, die er ihr bei

32 Vgl. Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, Deuxième partie: Nature, culture, écriture, S. 225. 33 Bedeutsam in diesem Zusammenhang, dass Rousseau das zeitgenössische Theater mit Platons Höhle vergleicht: ders.: Lettre à Mr. d’Alembert sur les spectacles. Édition critique par M. Fuchs. Paris 1948, S. 168 f. 34 Zum Folgenden vgl. Claus-Artur Scheier: „Lessings ,Allianz‘ in Nietzsches Bayreuthischer Dramaturgie“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift, Neue Folge, Band 56/2 (2006), S. 149 – 160. 35 „Johann Jacob Rousseau/Bürgers zu Genf/Abhandlung von dem Ursprunge der Ungleichheit unter den Menschen, und worauf sie sich gründe, ins Deutsche übersetzt [von Moses Mendelssohn] mit einem Schreiben an den Herrn Magister Leßing und einem Briefe Voltairens an den Verfasser vermehret“. Berlin 1756. In: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Hg. v. Ismar Elbogen/Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971 ff., Bd. 6,2, S. 84.

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jedem Tritte aufopfern muss, zu bekümmern“36 – und die Scheinwahrheit im Doppelsinn des Wortes, die Rousseau aufgeopfert hatte, war genau der Ort der institutionalisierten „Illusion“ selbst,37 das Theater. Ein halbes Jahr nach Lessings Ankündigung der Übersetzung schrieb ihm Mendelssohn: Hat die Geselligkeit einen Socrates gezogen: warum sollte sie untauglich seyn, uns mit mehr solchen göttlichen Exempeln zu seegnen. O! Wenn kein Land dasjenige darbiethet, was Rousseau, in seinem Vaterlande zu finden, wünschet; so wollte ich mich begnügen, in einem solchen gebohren zu seyn, wo ich Socrates zum Muster, und Leßing zum Freunde haben könnte!38

Hier war die neue Gewissheit rein ausgesprochen, dass angesichts des Rousseauschen Abgrunds wo nicht eine Mitte, so doch ein lebendiger Mittler sei, dessen Natur ganz Kultur und dessen Kultur ganz Natur ist, dass der Weise nicht bloß eine Gestalt des grauen Altertums sei – hier stand der zeitgenössische Weltweise gegen den zeitgenössischen Weltweisen im gleichen Recht, aber hatte das höhere für sich als Freund, ist die Freundschaft doch die erste Vermittlung.39 Die Wahrheit war dem Theater zurückgegeben, auch der Tragödie – aber war ihr damit auch schon ein anderes Tragisches zugedacht als das des bürgerlichen Trauerspiels? Insbesondere in den religionsphilosophischen Erörterungen seiner letzten Jahre fühlt Lessing aufs Genaueste jener Vernunft vor, die Kant, von Hume aus dem „dogmatischen Schlummer“ 36 Gotthold Ephraim Lessing: Berlinische privilegierte Zeitung, 82. Stück, 10. Juli 1755. In: ders.: Werke. In Zusammenarbeit mit Karl Eibl u. a. hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1970 – 1979, Bd. 3, S. 252. 37 Vgl. die Nr. 5, 10, 11, 19, 35, 42 und 97 der Hamburgischen Dramaturgie. 38 Moses Mendelssohn: Sendschreiben an den Herrn Magister Lessing in Leipzig. In: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 2, S. 95 f. 39 Der „Freundschaftskult“ des 18. Jahrhunderts ist bekannt genug – in den Romanen Jean Pauls, Hesperus, Titan, auch Flegeljahre, erreicht er in der Darstellung des Scheiterns der Jungendfreundschaften seine tragische Dimension, dem geschichtlichen Ort nach im Übergang von der Jacobischen zur Fichteschen Position. Vgl. auch Stephan August Winkelmann: Begrif [sic] des Idealismus. Ein philosophisches Gespräch: „Menon. Diese Uebereinstimmung eines Menschen mit einem andern wäre also die eigentliche und absolute Wahrheit? Dion. So ist es, und Du wirst mir zugeben, daß alle Sterbliche in der Freundschaft die höchste Uebereinstimmung der Geister, zugleich aber in der Uebereinstimmung der Geister die Wahrheit gesucht haben“ (In: Stephan August Winkelmann. Philosoph, Poet & Arzt. Hg. u. mit einer Einführung v. Ingeborg Schnack. Schriften der Literarischen Vereinigung Braunschweig eV, Bd. 33. Braunschweig 1986, S. 28).

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geweckt40 und von Rousseau „zurechtgebracht“,41 aus dem moral sense der empfindsamen Briten, aus der Empfindung entbinden wird, in der Rousseau gegenüber der alten ratio naturalis, dem Verstand, das wahre, nämlich das anthropologische „Vermçgen der Prinzipien“ gefunden hatte.42 Offenbar bedurfte es der Freisetzung dieses Vermögens aus der reinen Innerlichkeit des Subjekts in den Äther des Begriffs, um den Begriff des Tragischen emphatisch mit dem der Freiheit zu verbinden, wie Kant selbst gesteht, dass er „niemals zu dem Wagstücke gekommen sein würde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wäre nicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Vernunft dazu gekommen und hätte uns diesen Begriff nicht aufgedrungen“.43 Diese transzendentale Freiheit in ihrem antinomischen Verhältnis zur Notwendigkeit ist es, die der Dramatiker Schiller dem damit seinerseits transzendental gewordenen Begriff des Tragischen zugrundelegt in der Erkenntnis, die ästhetische Kraft beruhe „keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, daß recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, daß recht handeln mçglich sey“,44 so dass wir im ästhetischen Urteil „nicht für die Sittlichkeit an sich selbst, sondern bloß für die Freyheit interessiert“ seien – oder die Sittlichkeit kann „nur insofern unsrer Einbildungskraft gefallen“, als sie die Freiheit „sichtbar macht“ (was für Kant eine contradictio in adjecto gewesen wäre).45 Während der theoretische Denker Fichte also um der Quantitätsfähigkeit46 von Ich und Nicht-Ich willen die (mathematische) „Synthesis des Gleichartigen“,47 mithin das Mathematisch-Erhabene ins Ich zog, wies dem dramatischen Denker vielmehr das Dynamisch-Erhabene den Weg in die Geschichte, weil es an der Existenz der Gegenstände hängt.48 40 Kant, AA IV, S. 260 (Prolegomena). 41 Immanuel Kant: Bemerkungen. Note per un diario filosofico. Hg. v. Katrin Tenenbaum. Rom 2001, S. 84, zit. nach Steffen Dietzsch: Immanuel Kant. Eine Biographie. Leipzig 2003, S. 170. 42 Kant, KrV, A 299 / B 356; vgl. Kant, KpV, A 216. 43 Kant, KpV, A 54. 44 Friedrich Schiller: Ueber das Pathetische. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 196 – 221, hier S. 220. 45 Ebd., S. 221. 46 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer. In: ders.: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Reinhard Lauth u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Bd. I,2, S. 173 – 451, hier S. 270. 47 Kant, KrV, B 201, Anm. 48 Vgl. Kant, KrV, B 110.

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Wie der Hellenismus die aristotelische Poetik der Tragödie in eine Poetik der Geschichtsschreibung verwandelt hatte49 und damit in epochaler Rückung das historisch Tragische zum Erben des poetisch Tragischen machte, „verpflanzt“ Schiller in seiner Antrittsvorlesung von 1789 die Kantsche „Harmonie der Erkenntnisvermögen“50 „außer sich in die Ordnung der Dinge, d.i. er bringt einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Prinzip in die Weltgeschichte“. Der Kantianer Schiller weiß freilich genau, dass er hiermit ein Postulat der historischen Vernunft aufstellt, denn ob es so sei, bleibt „unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die höhere Befriedigung, und dem Herzen die größre Glückseligkeit anzubieten hat“.51 Der eigentliche Gewinn der Rückung ist darum diesmal nicht ein neues Historisch-Tragisches, sondern ein neues Poetisch-Tragisches: Was vor der historischen Wirklichkeit Postulat bleiben muss, wird in der poetischen Möglichkeit selber Wirklichkeit: Werk. Freilich dort wie hier wird die „sympathische Lust“ des Mitleids getrübt durch den Schmerz der „Unmöglichkeit, mit der höchsten Würdigkeit zum Glücke die Idee des Unglücks zu vereinbaren“. Und dies ist es, was uns auch in den vortrefflichsten Stücken der Griechischen Bühne etwas zu wünschen übrig läßt, weil in allen diesen Stücken zuletzt an die Notwendigkeit appelliert wird, und für unsre Vernunftfodernde Vernunft immer ein unaufgelöster Knoten zurück bleibt. Aber auf der höchsten und letzten Stufe welche der moralischgebildete Mensch erklimmt; und zu welcher die rührende Kunst sich erheben kann, löst sich auch dieser, und jeder Schatten von Unlust verschwindet mit ihm. Dieß geschieht, wenn selbst diese Unzufriedenheit mit dem Schicksal hinwegfällt, und sich in die 49 Vgl. Eduard Schwartz: Art. „Duris“ u. „Diodoros“. In: Paulys RealEncyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Hg. v. Georg Wissowa. Stuttgart 1903; Kurt von Fritz: Rezension von Hermann Strasburger: Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung. In: ders.: Schriften zur griechischen und römischen Verfassungsgeschichte und Verfassungstheorie. Berlin/New York 1976, S. 135 – 145; ders.: Die Bedeutung des Aristoteles für die Geschichtsschreibung. In: ebd., S. 256 – 301; Gerald F. Else: Aristotle’s Poetics. The Argument. Cambridge 1957, S. 575 – 579. Zur christlichen Aneignung des Tragischen vgl. Dirk Westerkamp: Laughter, Catharsis and the Patristic Conception of Embodied Logos. In: John Michael Krois u. a. (Hg.): Embodiment in Cognition and Culture. Amsterdam/Philadelphia 2007, S. 221 – 242. 50 Kant, KU, A / B 29. 51 Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 17, S. 359 – 376, hier S. 374.

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Ahndung oder lieber in ein deutliches Bewußtseyn einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert.52

„Ich verstehe Sie, theurer Freund!“, wirft Schelling drei Jahre später ein: „Es dünkt Ihnen größer, gegen eine absolute Macht zu kämpfen und kämpfend unterzugehen, als sich zum Voraus gegen alle Gefahr durch einen moralischen Gott zu sichern.“ Wer aber könnte – zurückgesehen auf die ideale Rolle, die der Freund Mendelssohn für Lessing und die Wahrheit der „höchste[n] Erscheinung des An-sich und des Wesens aller Kunst“53 gespielt hat – wer könnte jetzt dieser „teure Freund“ sein, wenn nicht „das Unbedingte im menschlichen Wissen“ selbst, das Ich als Princip der Philosophie, dessen Darstellung ins selbe Jahr 1795 gehört? Hatte Schiller die intelligible Freiheit durch „eine indirekte Darstellung des Uebersinnlichen“ in der „Disharmonie“ von Vernunft und Sinnlichkeit zur Erscheinung gebracht,54 dann hat Schelling diese transzendentalphilosophische Bestimmung des Tragischen de jure hier schon unter den (Fichteschen) „Idealismus in der subjectiven Bedeutung“ subsumiert, der behauptet, „das Ich seye Alles“, während er, Schelling, für sich in Anspruch nehmen wird, den Idealismus „in objectiver Bedeutung gedacht“ zu haben.55 Ist die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit also bei Kant das Verhältnis eines selber nicht erscheinenden Sichdurchdringens, bei Schiller das einer erscheinenden Disharmonie, dann gründet bei Schelling die Freiheit jetzt in ihrem Anderen, ist in der Tat a priori von ihm abhängig, d. h. die Notwendigkeit ist dies, den Willen zu „untergraben“,56 der eben dadurch notwendig tragisch wird. Deshalb gilt für die mit Schelling spätestens seit 1809 gedachte Freiheit überhaupt, was zunächst nur im Blick auf die griechische Tragödie gesagt zu sein scheint: Die Freiheit als bloße Besonderheit kann nicht bestehen: dieß ist möglich nur, inwiefern sie sich selbst zur Allgemeinheit erhebt, und also über die Folge der Schuld mit der Nothwendigkeit in Bund tritt, und da sie das

52 Friedrich Schiller: Ueber die tragische Kunst. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 148 – 170, hier S. 157. 53 Schelling, SW V, S. 687. 54 Schiller: Ueber das Pathetische. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 202. 55 Schelling, AA I,10, S. 111 (SW IV, S. 109). 56 Schelling, SW V, S. 696.

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Unvermeidliche nicht vermeiden kann, die Wirkung davon selbst über sich verhängt.57

Denn jetzt reicht die Philosophie des Tragischen bis hinein ins Böse: „Dieses ursprüngliche Böse im Menschen […] ist, obgleich in Bezug auf das jetzige empirische Leben ganz von der Freiheit unabhängig, doch in seinem Ursprung eigne That, und darum allein ursprüngliche Sünde […].“58 1795 kam es erst darauf an, „zu wissen, daß es eine objective Macht giebt, die unsrer Freiheit Vernichtung droht, und mit dieser festen und gewissen Ueberzeugung im Herzen – gegen sie zu kämpfen, seiner ganzen Freiheit aufzubieten, und so unterzugehen“ – aber das Wissen genügte auch, denn diese Möglichkeit sei „vor dem Lichte der Vernunft längst verschwunden“ und nur noch „für die Kunst […] aufbewahrt“.59 1809 jedoch hat die Identifikation von Notwendigkeit und Freiheit, wodurch die Freiheit wesentlich als Schuld und tiefer noch als Erbsünde zu denken ist, das tragische Prinzip aus der Kunst ins Innerste des Ich selbst gesetzt, nämlich in die Religiosität als in die „Gebundenheit des finstern Princips (der Selbstheit) an das Licht“,60 und jener Kampf, den nur die Kunst aufzubewahren schien, erscheint jetzt als der „Heroismus“ der „ernsten Gesinnung“, die keine Wahl kennt,61 wie auch das „radikale Böse“ zwar „durch eigne That, aber von der Geburt, zugezogen[e]“ ist.62 Die 1795 vor dem Licht der Vernunft vergangene tragische Möglichkeit des Menschen ist dreizehn Jahre später zu seiner ursprünglichen Wirklichkeit geworden, der Mensch selbst zum Ödipus.63 Rousseaus Mensch war schlechterdings untragisch, tragisch hingegen seine Geschichte des Menschengeschlechts – der Kultur selbst. Schiller hatte dank der von Lessing eröffneten Möglichkeit beide Seiten in einer transzendentalen Synthesis des Tragischen in Eins zu denken vermocht, sich dabei aber, so schien es Schelling von Anfang an, auf dem „Standpunkt der Reflexion“ gehalten. Auf dem „Standpunct der Production“ 57 58 59 60 61 62 63

Schelling, SW V, S. 697. Schelling, SW VII, S. 388. Schelling, AA I,3, S. 106 (SW I, S. 336). Schelling, SW VII, S. 392. Schelling, SW VII, S. 392 – 394. Schelling, SW VII, S. 388. Hierzu Claus-Artur Scheier: Kants dritte Antinomie und die Genese des tragischen Gedankens. Schelling 1795 – 1809. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 103 (1996), S. 76 – 89.

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aber, über den Schelling 1801 mit sich in Reine gekommen war,64 musste auch der Mensch in dieser absoluten Bedeutung gedacht werden. Als Copula mundi ist auch dieser absolut produktive Mensch ein „lebendige[s] (einen Gegensatz in sich enthaltende[s]) Band des Idealen und Realen“,65 und dieser innerste Gegensatz, die ursprüngliche Dualität von Grund und Existenz, dieser Rousseausche Riss im Band der Welt macht den Menschen zur tragischen Mitte zwischen dem Realen und dem Idealen – dies zuletzt provoziert die späten Vorlesungen über Mythologie und Offenbarung. Aber hier schon, 1809, ist klar: Dieser Mensch ist eben kein Gegenstand der Kunst mehr, hat keinen Ort auf den Brettern, „die die Welt bedeuten“. So ließe sich eine gerade Linie ziehen zur tragischen Welt von Nietzsches „schaffender Seele“. Und doch hatte die tragische Kunst zwischen Schellings johanneischer Zuversicht und Schopenhauers Pessimismus noch nicht ihr äußerstes Wort gesagt.66 Alkmene spricht es zum Schluss von Kleists „Lustspiel“: „Ach!“67

64 Schelling, AA I,10, S. 111 (SW IV, S. 109). 65 Schelling, SW VII, S. 440. 66 Zur poetologischen Rückung vgl. Claus-Artur Scheier: Offenbarung im Untergang. Zum geschichtlichen Ort der Ästhetik K. W. F. Solgers. In: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft 51 (2002), S. 221 – 233. 67 Zum Gewicht dieses „Ach!“ vgl. Ulrich Fülleborn: Die frühen Dramen Heinrich von Kleists. München 2007, S. 132 – 137. Zum tragischen Ort Kleists Ingrid Kohrs: Das Wesen des Tragischen im Drama Heinrichs von Kleist. Dargestellt an Interpretationen von „Penthesilea“ und „Prinz Friedrich von Homburg“. Marburg 1951.

Das tragische Absolute bei Schelling und Hölderlin David Farrell Krell Dieser Aufsatz soll Themen und Thesen aus meinem 2005 in englischer Sprache erschienenen Buch The Tragic Absolute zur Diskussion stellen.1 Der Titel ist offensichtlich ein Oxymoron: Gäbe es ein Absolutes, entweder als absolutes Wissen oder als absolute Herrschaft, dann würde ihm keine Peripetie zustoßen; gäbe es Tragisches, dann dürfte es dem Absoluten nie anhaften. Was soll dann dieser Titel bedeuten? Der Untertitel bringt nur wenig Klarheit in die Sache: German Idealism and the Languishing of God. Der Ausdruck „languishing“ liegt in seiner Bedeutung zwischen zwei deutschen Wörtern, nämlich der „Sehnsucht“ und dem „Schmachten“. Die „Sehnsucht“ darf ihrerseits als „languor“ (französisch langueur) verstanden werden. Sollte aber eine protrahierte Sehnsucht zur Seuche werden und wie im Falle Werthers zur Krankheit führen, dann kann man auch von einem Schmachten reden, d. h. von einem Schmächtigwerden des Betroffenen – dessen „languishing“ oder languissement. Aber da müsste man stutzig werden: Sehnsucht, Schmachten, languissement, Krankheit, Seuche – und Gott? Die These des Buches ist, dass gerade diese verwunderliche Verbindung zwischen einem in seinem Wissen und in seiner Herrschaft absoluten Geist oder Gott und dem tragischen Verfall in einigen Texten von F.W.J. Schelling und F. Hölderlin zu finden ist – hauptsächlich in Schellings Weltaltern und ber die Gottheiten von Samothrake (1811 – 1815) und in Hölderlins „Anmerkungen“ zu seinen Sophokles-Übersetzungen (1804).2 Die Idee von einem tragischen Verfall Gottes bzw. des absoluten Geistes, die zugestandener Weise nur als Keim bei Schelling und Hölderlin vorkommt, reift erst bei Nietzsche zur vollen Blüte. (Ob diese Entwicklung über Schopenhauer geht, ist eine Frage, die das vorliegende Buch leider nicht aufgreift: Selbst Nietzsche wird nur im allerletzten 1 2

David Farrell Krell: The Tragic Absolute. German Idealism and the Languishing of God. Bloomington 2005. In diesem Artikel habe ich versucht, die Anzahl von Fußnoten radikal zu reduzieren; im Buch selbst findet man die Quellen ausführlich zitiert und vollständig angegeben.

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Kapitel des Buches behandelt; die Hauptfiguren dieser Studie bleiben Schelling und Hölderlin allein – und diesmal auch ohne Hegel.) Das tragische Absolute. Der Deutsche Idealismus und das Schmachten Gottes will eine Doppelbewegung in der Philosophie des frühen neunzehnten Jahrhunderts aufzeigen, und zwar in den Denkern der ersten Generation nach Kant: auf der einen Seite hat bei diesen Denkern die klassische griechische Tragödie eine absolute Bedeutsamkeit und Größe errungen, nicht nur in ihren Theorien über Literatur und Ästhetik überhaupt, sondern auch in ihrer Metaphysik und Moralphilosophie; auf der anderen Seite erleidet das metaphysische oder onto-theologische Absolute selbst, das traditionsgemäß durch die Prädikate „Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung“3 bestimmt ist (so Schelling in seinen Philosophischen Untersuchungen ber das Wesen der menschlichen Freiheit, 1809) einen tragischen Umschlag des Glücks. Die vorhandene Monographie hat, wie erwähnt, hauptsächlich mit dieser Doppelbewegung bei Schelling und Hölderlin zu tun: die Doppelbewegung schließt in sich sowohl den Aufgang der Tragödie in die Ästhetik beider als auch den tragischen Umschlag (Peripetie) des Absoluten in ihrer jeweiligen Metaphysik ein. Denn das, was Schelling und Hölderlin „das Absolute“ nennen und von Hegel ganz anders gefeiert wird, ist in eine Katastrophe geraten. Die zwölf Kapitel des Buches stehen also am Schnittpunkt von Metaphysik und Ästhetik, d. h. der Ontologie und der Literaturtheorie, um nach dieser Katastrophe zu fragen. Für die nach Kant heranwachsende Generation, die Kants Kritik der Urteilskraft gelesen hat – eine Kritik, welche die Ästhetik aufgenommen hat, nur um das kritische System durch die Behandlung von einer bestimmten Urteilsart zu vervollkommnen, eine Kritik m.a.W., welche an und für sich kein eigentliches Interesse und keine Kompetenz im Bereich der Ästhetik aufzeigen konnte –, wurde es trotzdem völlig unmöglich, die Ästhetik und die Metaphysik voneinander getrennt zu halten, unmöglich daher, den Schnittpunkt, die Kreuzung von Ästhetik und Metaphysik zu verlassen. Das tragische Absolute wurde gleichzeitig zu einem literarischen Absoluten.4 Während die Bedeutsamkeit der griechischen Tragödie immer stärker herausragte, wurde das Schicksal jeder Metaphysik des Absoluten zu 3 4

Schelling, SW VII, S. 350. Man denke an die bahnbrechende Studie von Philippe Lacoue-Labarthe/JeanLuc Nancy: L’absolu littéraire. Théorie de la littérature du romantisme allemand. Paris 1978.

Das tragische Absolute bei Schelling und Hölderlin

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einem tragischen Verhängnis. Hegels verzweifelter Versuch – in dieser Hinsicht bleibt Hegel ein braver Kantianer – die Komödie über die Tragödie zu erheben, um dann die kategorisch-systematische Philosophie noch über alle Poesie und Kunst zu erheben, musste fehlschlagen. Weder Schelling noch Hölderlin ließen sich von diesem Versuch Hegels, die Tragödie der Komödie oder gar der Logik unterzuordnen, überzeugen. Das Denken der beiden (Schelling und Hölderlin) war vom Anfang bis zum Ende, zumindest in den tapfersten und konsequentesten Momenten ihres Denkens, das, was man als ein „tragisches Denken“ bezeichnen darf – ein Denken des tragischen Absoluten. Das tragische Absolute fängt mit einer Analyse des ltesten Systemprogramms des Deutschen Idealismus an, sowie mit einer Untersuchung von Novalis’ wissenschaftlich-philosophischen Notizheften, um eine breitere Basis für die These des Buches zu schaffen. Dann geht es aber bald zu detaillierten Untersuchungen über, die sich mit Schelling (Kapitel 3 – 6) und Hölderlin (Kapitel 7 – 11) auseinandersetzen. Die Schelling-Texte, die zur Diskussion stehen, sind, ich wiederhole, die Freiheitsabhandlung von 1809, die Weltalter und Samothrake von 1811 – 1815. Unter den Gegenständen, die zur menschlichen Freiheit gehören, ist allerdings das gçttliche Wesen. Dieses Wesen hat aber seinen Grund, und der Grund des Wesens lebt, bzw. er-lebt ein eigenes, unabhängiges und vielseitiges Leben. Eine „periphere“ Lektüre des Freiheitsaufsatzes unternimmt es, die so genannten Ur-Bilder von diesem Leben des Grundes und d. h. von den „Scheidungen“ im Leben dieses Wesens, zu interpretieren. Als die zwei hervorragenden Ur-Bilder erweisen sich dabei die Geburt und die Selbstentmannung, letztere in der Geschichte der Philosophie seit Descartes vertreten. Eine solche „periphere“ Lektüre wird in derselben Stimmung ausgeführt, in der das Wesen selbst sein Leben erlebt, sowohl in seiner kontrahierenden als auch in seiner ausdehnenden Phase, nämlich in der Stimmung einer andauernden und nie befriedigten Sehnsucht. Das Wesen des Absoluten erleidet durch seine ganze Entwicklung hindurch das Verlangen bzw. die Sehnsucht nach dem Gebären und der Geburt. Das vermeintlich absolute Wesen schmachtet in seiner Selbstentfaltung oder Selbstdifferenzierung. Um dieses Schmachten zu verstehen, ist man dann auch gezwungen, eine andere Lektüre aufzunehmen, und zwar eine „indifferente“ Lektüre, bei der man versucht, Schellings äußerst schwieriges Denken einer Zeit, die früher als jedwede Differenz oder Entgegensetzung ist – eine vorweltliche Zeit der In-differenz –, im eigenen Denken nachzuvollziehen. Eine solche Lektüre will ausfindig machen, ob die Ein- oder Entwicklung

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des göttlichen Wesens eine Besserung der Lage mit sich bringt. Die Sehnsucht hört jedoch nie auf, das Leben des Absoluten zu begleiten und zu bestimmen – obwohl Schelling in der Freiheitsabhandlung noch davon träumt, dass eine „endliche[n] gänzliche[n] Scheidung“5 im Absoluten möglich und notwendig ist, d. h. eine Scheidung, die jede Form von Negativität, Krankheit und Bösem außer sich und hinter sich lassen könne. Trotzdem setzt sich, auch im so genannten „Willen der Liebe“6, die Seuche der Sehnsucht und des Schmachtens im göttlichen Wesen fort. Metaphysisch ausgedrückt: ein monistisches Wesen erweist sich als gänzlich unmöglich; Grund und Existenz des Wesens, solange das Wesen lebt, bleiben entgegengesetzt. Gegen Ende der Abhandlung spricht Schelling von einem „Schleier der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist“; Schelling bezieht sich auf die „tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.“7 Alles Lebens? Und wenn das Absolute auch leben sollte? Wenn nachdrücklich das Leben des Grundes in ihm floriert? Je weiter Schelling in die Richtung eines Pantheismus denkt und denken muss, desto unumgänglicher wird dieses Denken gegen eine Melancholie des Absoluten stoßen. Herman Melville, der Autor von Moby-Dick, möglicherweise von Schelling – wenn auch nur indirekt – beeinflusst, schreibt Folgendes: To trail the genealogies of these high mortal miseries, carries us at last among the sourceless primogenitures of the gods; so that, in the face of all the glad, hay-making suns, and soft-cymballing, round harvest-moons, we must needs give in to this: that the gods themselves are not for ever glad. The ineffaceable, sad birth-mark in the brow of man, is but the stamp of sorrow in the signers.8

In der hervorragenden Übersetzung von Matthias Jendis: Verfolgen wir die Ahnenreihen dieses hehren menschlichen Elends, so stehen wir am Ende vor den ursprungslosen Urvätern der Götter, so daß wir trotz der heiteren Sonnen, die über den Schnittern lachen, und trotz der runden Monde, die Zimbeln zur Ernte schlagen, uns dieser Einsicht nicht verschließen können – daß selbst die Götter nicht für immer fröhlich sind.

5 6 7 8

Schelling, SW VII, S. 408. Schelling, SW VII, S. 409. Schelling, SW VII, S. 399. Herman Melville: Moby-Dick. Or: The Whale (1851). Hg. v. Alfred Kazin. Boston 1956, Kap. 106, „Ahab’s Leg“, S. 356.

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Das untilgbare Muttermal der Trauer auf des Menschen Stirn ist nur der Schmerzensstempel derer, die es aufgedrückt.9

Der Problemkreis von Sehnsucht, Schmachten und Melancholie des Absoluten wird in Schellings großartigen, wenn auch unvollendeten und nie veröffentlichten Fassungen der Weltalter ausgebreitet und vertieft. (Im vorliegenden Aufsatz stehen die erste Hälfte der ersten Fassung aus dem Jahr 1811 und der Samothrake-Aufsatz aus dem Jahr 1815 im Zentrum der Analyse.) Hier untersucht Schelling das, was im göttlichen Wesen der vorweltlichen Zeit des Chaos die Schöpfung der Welt, die eine Welt der Tragödie ist und bleibt, hätte verursachen können. Man darf behaupten, dass Schelling die traumatisierte Frühgeschichte der Gottheit entbergen und erforschen will. Gerade hier in den Weltaltern schreibt Schelling über die schmachtende Sehnsucht und das sehnsüchtige Schmachten im Leben des Absoluten. Der Seelenschock (oder gibt es auch eine Art „Leibesschock“?) im göttlichen Leben besteht aus zwei von der überlieferten Theologie und Philosophie vernachlässigten Begebenheiten, nämlich sowohl aus der jetzt entlarvten Bisexualität (besser: aus einer verdoppelten Geschlechtlichkeit) des Gottes als auch der Endlichkeit bzw. Sterblichkeit des Göttlichen. Das Absolute wird Mutter – und sie lebt nicht ewig. Das Wesen, obschon in der uns überlieferten Erscheinung majestätisch und mannhaft, ist ohne seinen weiblichen Gegenpart bedürftig und dürftig. Doch keine Glorie, auch die des (Ewig-)Weiblichen nicht, ist fähig, ein tragisches Absolutes zu retten. Am Ende versagt zwar jede philosophische Dialektik, eine solche Einsicht zu gewinnen und zu behalten: nur die ältesten Erzählungen, nur die uralten Fabeln und Geschichten sagen uns etwas davon. Die Narration erweist sich als wesentlich in und für die Philosophie als Wissenschaft. Eine weit verbreitete Figur für den Grund in Gottes Wesen, d. h. für den Grund, der die Welt der Erde und der Natur ausmacht, ist die des Fußschemels: „Der Himmel ist sein Stuhl und die Erde ist sein Fußschemel“, sagt ein altes Buch.10 Dieses Urbild, welches oberflächlich gesehen ein nichts sagendes Bild von den göttlichen Möbeln ist, steht im engsten Verhältnis zur Fußsohle Gottes, die Fußsohle, wie sie von Raphael und von dem antiken Phidias dargestellt und von Schelling (hier in der ersten Fassung der Weltalter) interpretiert wird: 9 Herman Melville: Moby-Dick oder der Wal. Übers. v. Matthias Jendis. München 2001, S. 714. 10 Hes 1,6 – 14; Jes 66,1.

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Das Nichtseyende ist nicht absoluter Mangel an Wesen, es ist nur das dem eigentlichen Wesen entgegengesetzte, aber darum in seiner Art nicht minder positive Wesen; es ist, wenn jenes die Einheit ist, der Gegensatz und zwar der Gegensatz schlechthin oder an sich. Schon darum ist [es] eine ewige Kraft, ja wir würden richtiger sagen, es sey die ewige Kraft schlechthin, die Stärke Gottes, wodurch vor allem andern Er Selbst als Er Selbst ist, der einzige, von allem abgeschnittene, der zuerst und allein seyn muß, damit anderes seyn könne. Ohne dieses wirkende Princip wäre der Begriff der Einzigkeit Gottes ein leerer, ein gemeinverneinender Begriff. Wenn auch Gott gewollt hat, daß dieses Princip dem Wesen als der eigentlichen Gottheit in ihm unterworfen sey: so ist es darum doch in sich nicht weniger ein Lebendiges. Gott der eigentlich seyende ist über seinem Seyn; der Himmel ist sein Thron und die Erde sein Fußschemel; aber auch das in Bezug auf sein höchstes Wesen Nichtseyende ist so voll von Kraft, daß es in ein eignes Leben ausbricht. So erscheint in der Vision des Propheten, wie sie Raphael dargestellt hat, der Ewige nicht von dem Nichts, sondern von lebendigen Thiergestalten getragen. Nicht minder groß hat der hellenische Künstler das Aeußerste menschlicher Schicksale, den Tod der Kinder der Niobe am Fuße des Thrones gebildet, auf welchem sein olympischer Zeus ruht, und selbst den Schemel des Gottes durch die Vorstellung der Amazonenkämpfe mit kräftigem Leben geschmückt.11

Der Grund des Wesens lässt sich nicht als Möbelstück darstellen. Der Grund ist das Fleisch Gottes. Schellings Pantheismus geht also wesentlich weiter als die herkömmlichen Emanationslehren, ist ungemein radikaler als irgendeine andere Lehre der Schöpfung. Als Hauptquellen seines Pantheismus dienen Schelling, wie oben erwähnt, Raphaels Die Vision Hesekiels und der Olympische Zeus von Phidias. Obwohl die dargestellte Vision des Propheten und die kolossale Bildsäule des Vatergottes beide gleichermaßen Glorien der Kunst sind und dabei majestätisch und mächtig wirken, erschließen diese Kunstwerke die zweideutige Leiblichkeit und die nicht länger bezweifelbare Endlichkeit bzw. Sterblichkeit des Gottes. Der Fußschemel bietet dem Absoluten keine Erholungsmöglichkeit. In seinem aus der Erlanger Zeit entstandenen System der Weltalter lesen wir Folgendes: Gott kann nicht mit dem Sein befangen sein, welches immer nur ein anderswerdendes ist. Gott ist das Wesen in seiner Lauterkeit, aber nur der bei sich bleibende Geist ist der als Geist-seiende Geist. Also konnte Gott kein sich Entfremdendes werden. Zwar könnte man das Verhältniß der sich gleich bleibenden und sich entfremdenden Substanz so bestimmen, daß man diese 11 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813. Hg. v. Manfred Schröter. München 1946, S. 20 f.

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als nur zur Form der Existenz Gottes, nicht zum Wesen gehörend betrachtete, so daß nur dieses ewig in sich seiende Wesen von dieser Form der Endlichkeit getragen würde; wie der göttliche Raphael in jener Vision an die Fußsohlen und Füße die höchsten lebendigen Gestalten als ihre Träger malte –; allein dieses, eine Form der Existenz Gottes[,] konnte es nur sein, wenn es eine freiwillige Selbstoffenbarung war. Nun frägt es sich: Ob diese Existenz eine freiwillige sich-selbst-Offenbarung war: dann wäre diese Existenz eine gewordene. Allein diese Offenbarung seiner selbst war nicht als freiwillig gedacht, sie war als nothwendig angenommen.12

Noch ein entfremdetes Ur-Bild der Gottheit aus jener Zeit des vorweltlichen Chaos ist die Figur von der Großen Göttin, wie sie ihr Fuhrwerk durch die antike Siedlung lenkt. Die Räder dieses Fuhrwerks sind mit Kupfer oder Eisen belegt; der Lärm, das Getöse, das dadurch entsteht, dass die Göttin an den Korybanten vorüberfährt, ist aus Schellings Sicht der Ursprung der Musik. In der ersten durch endlose Änderungen und Verbesserungen gezeichneten Fassung der Weltalter lesen wir wie folgt: Nicht umsonst haben die Alten von einem göttlichen Wahnsinn gesprochen [, den sie dem Dichter und jedem andern zuschreiben, in dem eine Kraft sich zeigt, die mehr wirkt als sie begreift]. sehen auch wir noch die sichtbare [schon beruhigte] Natur, in dem Verhältniß, als sie dem Geist sich annähert, gleichsam immer taumelnder werden. Denn es befinden sich zwar alle Dinge der Natur in einem besinnungslosen Zustande; jene Geschöpfe aber, die der letzten Zeit des Kampfes zwischen Scheidung und Einung, Bewußtseyn und Bewußtlosigkeit, angehören, sehen wir in einem der Trunkenheit ähnlichen Zustand und [wie] von [zerreißendem] Wahnsinn getrieben dahinwandeln. Nicht umsonst wird der Wagen des Dionysos von Löwen, Panthern, Tigern gezogen; denn es war dieser wilde Taumel von Begeisterung, in welchen die Natur [vom] innern Anblick des Wesens geräth, den der uralte Naturdienst ahndender Völker in den trunkenen Festen bacchischer Orgien gefeyert [gleichsam den Untergang d. alten reinen Naturd. zu beklagen]. Wogegen [der schreckliche Druck der zusammenziehenden Kraft,] jenes wie wahnsinnig in sich selbst laufende Rad der anfänglichen , [Geburt] und die [darinn wirkenden] furchtbaren Kräfte des Umtriebs in anderem schrecklichem Gepränge uralter götterdienstlicher Gebräuche durch besinnungslose, rasende Tänze, durch den erschütternden Zug der Mutter aller Dinge auf dem

12 Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: System der Weltalter. Münchener Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx. Hg. u. eingel. v. Siegbert Peetz. Frankfurt a.M. 1990, S. 52.

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Wagen mit ehernen Rädern, begleitet von dem Getöse einer rauhen, theils betäubenden theils zerreißenden Musik abgebildet wurde.13

Aber die Musik, zu der die Korybanten tanzen, stellt sich als die Geburtsstätte der Tragödie heraus. Der Nietzsche-Leser wird durch diese Behauptung kaum überrascht sein, obgleich Nietzsche selbst Schellings Vorwegnahme einiger zentraler Thesen seiner Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik nicht gekannt hatte. Überraschend wirken eher Schellings eigene Analysen der Musik und der Tragödie, die Analyse der Musik in seiner Philosophie der Kunst (1802 – 1803), die der Tragödie in dem zehnten seiner Philosophischen Briefe ber Dogmatismus und Kriticismus (1795). Im zehnten Brief wird die menschliche Freiheit so dargestellt, dass sie nur im Untergang des Helden bzw. der Heldin erlebt werden kann. Der Tod des Helden oder der Heldin in der griechischen Tragödie ist ein doppelter – es gibt, wie Jacques Lacan sehr viel später behaupten wird, einen zweiten Tod. Denn der Held oder die Heldin muss nach ihrem verlorenen Kampf gegen die Notwendigkeit auch notwendigerweise bestraft werden. Die Strafe allein anerkennt die verlorengegangene Freiheit des Ödipus oder der Antigone. Es ist eine Bestrafung nach dem (ersten) Tod, als (zweiter) Tod verhängt – nur dieser kann ihr jeweiliges Ringen nach der Freiheit ehren. In ähnlicher Weise zeichnet sich die Musik dadurch aus, dass ihre freie Bewegung nur durch die notwendig gebundene Kraft des Rhythmus möglich ist. Rhythmus, betont Schelling, „ist die Musik in der Musik“.14 Während der reine Klang die Tiefe und Dichte der Dinge ausdrückt, sich also in etwa als das Selbstbewusstsein und die Subjektivität im Menschen erweist, artikulieren die Rhythmen, Töne und Harmonien der Musik das Werden der Dinge in der Zeit. Obwohl wir eigentlich wenig oder gar keine Ahnung davon haben, wie die Chorgesänge der klassischen Tragödien getanzt, gesungen und gespielt wurden, wissen wir, dass die Alten diese Gesänge als die exaltierteste Form der Musik überhaupt gefeiert haben. Der Rhythmus überhaupt, der mit einer einfachen Wiederholung anfängt – zwei Schläge auf einem ausgehöhlten Baumstamm – findet seine Apotheose in dem baqubq|lym rp¹ tulp\mym von Euripides entzückten Mänaden oder in dem pokk± t± deim± von Sophokles’ Thebischen Alten. Schelling eröffnet also ein theoretisches Gebiet, das dann auch Scho13 Schelling: Die Weltalter. Fragmente, S. 42 f. 14 Schelling, SW V, S. 494.

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penhauer und Nietzsche gründlich erforschen werden: Beide späteren Denker werden dank Schelling (Schopenhauer direkt, Nietzsche nur indirekt) die Frage nach der absoluten Tragödie stellen, wobei die Tragödie aus der absoluten Musik getragen und geboren wird. Am Ende wird sich aber herausstellen, dass jede der beiden, Musik und Tragödie, wechselweise die andere gebiert. Man darf behaupten, dass kein anderer Denker und Dichter aus dieser Epoche mehr Zeit und mehr von seiner beträchtlichen Begabung der griechischen Tragödie gewidmet hat als Friedrich Hölderlin. Man denke an seine zeitweise totale Selbstidentifizierung mit dem antiken Magus, Staatsmann, Arzt und Rhetor Empedokles von Akragas. In der Stimme dieses antiken Denkers findet Hölderlin den Widerhall seiner eigenen Stimme – als Dichter und Denker. Wenn wir die dritte Fassung von Hölderlins Der Tod des Empedokles in die Hand nehmen, hören wir deutlich genug die einzigartige und souveräne Sprache der Späthymnen Hölderlins, d. h. die Sprache der „harten Fügungen“. Der Haupttext jedoch für die zweite Hälfte des Buchs Das tragische Absolute sind die „Anmerkungen“ zu Hölderlins Übersetzungen von Sophokles’ Oidipus Tyrannos und Antigone, selbstverständlich mit zahlreichen Hinweisen auf die übertragenen Dramen selbst. Wir fangen mit einem Paradoxon in der Poetik des Aristoteles an: Obwohl die großen Attischen Tragödiendichter ihre Handlungen (l¼hoi) immer wieder in einer sehr beschränkten Anzahl der königlichen Häuser gefunden haben – z. B. im Haus der Atreïden von Argos oder bei Labdakus, Laius und Ödipus in Theben – scheinen die daraus resultierenden Dramen wesentliche Aspekte des menschlichen Daseins aufzugreifen. Sehr merkwürdige Familien sind sie im Übrigen! Aber deren Geschichten sagen etwas aus, das als so etwas wie ein Absolutes widerhallt. Die Tragödien, sagt Aristoteles, spielen im Bereich des Allgemeinen, hantieren mit Universalien, t± jah|kou. Wie aber sollten jene bizarren Familien, in denen Mord und Inzest so ziemlich alles verderben, als Vorbild dienen? Selbstverständlich sind diese Königshäuser nicht im Sinne der Ethik vorbildlich; sowohl der tragische Genuss (Bdom^) als auch die tragische Reinigung (j\haqsir) brauchen aber das Erschütternde dieser ungeheueren Familiengeschichten. Die kathartische Wirkung selbst ist gesund und auch irgendwie lustvoll, obschon diese Lust mit keiner anderen zu vergleichen ist. Im neunzehnten Jahrhundert wird sie Jacob Bernays als eine erschütternde Ekstase mit später einsetzender Ruhe und Gleichmut

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beschreiben.15 Eine Lust also wie keine andere – und dennoch wirkt das tragische Drama exemplarisch, ja scheint von universaler, fast absoluter Bedeutung zu sein. Der Kosmos der Griechen zeigt sich als ein tragischer, wenngleich die tragischen Dramen nur die besonderen Schicksale von extrem sonderbaren Helden und Heldinnen schildern. Nun ist Hölderlin kein Aristoteliker. Dennoch nehmen einige Thesen in seinen „Anmerkungen“ Bezug auf die wesentlichsten Thesen Aristoteles’. Erstens, die Tragödie ist laut Hölderlin „idealisch“ in seiner Bedeutung, eine Bezeichnung, die zumindest mit Aristoteles’ di\moia bei der Handlung und der Diktion vergleichbar ist. Für Hölderlin ist die Tragödie eine Metapher – im wortwörtlichen Sinne eines Vehikels bzw. eines Transportsystems – für eine intellektuelle Anschauung. Diese sich in der Tragödie eröffnende intellektuelle Anschauung beruht auf dem Einblick in die sich immer ausdehnenden „Vereinigungen des Lebens“, einschließlich der Vereinigung des Lebens der Sterblichen mit dem der Unsterblichen. Das, was bei Aristoteles Zufall (t¼wg) heißt, und das, was bei Schelling und Hölderlin Notwendigkeit (!m\cjg) heißt, fasst Menschen und Götter zusammen – fast immer durch Zorn, Groll oder Leidenschaft (aqc^) –, um sie dann schließlich auseinander zu treiben. Zweitens, die Folge der Szenen in einer Tragödie muss von einem „gesetzlichen Kalkül“ (vielleicht ein Aspekt von jener di\moia) geordnet und reguliert werden. Nicht in der Weise, dass man den Inhalt eines Dramas durch irgendeine Formel vorauskalkulieren kann, sondern so, dass das Gleichgewicht des je verschiedentlich strukturierten Dramas dadurch erreicht wird, dass man die Geschwindigkeit des Szenenwechsels aufmerksam reguliert. Der „Gang“ des Stücks muss gut durchdacht und passend ausgeführt werden. Das Hauptmittel dabei ist die so genannte Zsur bzw. eine „gegenrhythmische Unterbrechung“.16 Die Zäsur verlangsamt oder bringt den Lauf der Vorstellungen gar zu einem augenblicklichen Stillstand, und zwar an der richtigen Stelle. In Oidipus Tyrannos wie auch in Antigone wird die Zäsur durch die Reden von Teiresias ausgeführt, obwohl in sehr verschiedenen Momenten des jeweiligen Dramas – am Anfang des Oidipus und gegen Ende von Antigone. Die 15 Vgl. Jacob Bernays: Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über die Wirkung der Tragödie (1857). Hg. v. Karlfried Gründer. Hildesheim/New York 1970, S. 8 f. u. S. 41 – 52. 16 Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Jochen Schmidt. Frankfurt a.M. 1992 – 1994, Bd. 2, S. 849 – 857, hier S. 850.

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Unterbrechungen durch Teiresias’ Reden ermöglichen dem Zuschauer das Stück als eine gesamte Vorstellung zu sehen und zu verstehen. So wird das ganze Empfindungssystem des Menschen – von der Anschauung über den Verstand bis zur Vernunft – angesprochen und angeregt. Ohne diese captatio wäre jede Form von Katharsis unmöglich. Drittens, Hölderlin unterstreicht die Bedeutung des Transports (letavoq\) im tragischen Drama, und zwar in doppelter Hinsicht: (1) Die Zuschauer eines wohlgebauten Stücks werden zu einem Ausblickspunkt gebracht, der die Anschauung der höheren Vereinigung des Lebens ermöglicht – wenngleich die Götter und die Sterblichen fast immer in anscheinend unversöhnlichem Streit miteinander befangen bleiben; (2) die Protagonisten des Dramas ihrerseits werden aus der Mitte ihrer tagtäglichen Existenz hinausgerissen, um in die „exzentrische Sphäre der Toten“ gebracht zu werden.17 „Exzentrisch“, weil elliptisch, d. h. von nicht nur einem, sondern von zwei Brennpunkten oder Zentren bestimmt, nämlich dem der Natur und dem des persönlichen Schicksals. In der Tat führt der tragische Transport sowohl die Protagonisten als auch die Zuschauer in den Bereich, in dem der Gott selbst „in der Gestalt des Todes gegenwärtig ist.“18 Nicht, dass der Gott tot sei, sondern: der Tod erweist sich als die Gegenwart des Gottes. Die einzigartige Lust an der Tragödie hat deswegen etwas von der Unlust bei Kants Erhabenem an sich: Diese (Un-)Lust schwebt in der Gegend zwischen Leid und Leidenschaft. Viertens, das Schicksal des Gottes (prinzipiell für Hölderlin: des Zeus) selbst scheint bei Hölderlin eine durchaus wichtige Rolle in der Tragödie zu spielen. Hier nimmt Hölderlin Abstand von Aristoteles, indem er, Hölderlin, betont, der Gottvater wende sich entschieden zur Erde und trete entschieden in der Zeit auf.19 Jupiter-Zeus, der Himmelsgott, wird von Hölderlin als „Vater der Zeit oder: Vater der Erde“ benannt.20 Diese merkwürdige Vaterschaft aber bedeutet hier nicht eine Herrschaft über, sondern eine Unterordnung unter Erde und Zeit. Hölderlin verändert absichtlich die zwei letzten von den folgenden Versen aus dem fünften Chorgesang in Sophokles’ Antigone:

17 Ebd., S. 851. 18 Friedrich Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä. In: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 913 – 921, hier S. 917. 19 Vgl. ebd., S. 916. 20 Ebd.

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Der Leib auch Danaes mußte, Statt himmlischen Lichts, in Geduld Das eiserne Gitter haben. Im Dunkel lag sie In der Totenkammer, in Fesseln; Obgleich an Geschlecht edel, o Kind! Sie zählete dem Vater der Zeit Die Stundenschläge, die goldnen.21

Es wird immer wieder von Interpreten bemerkt und betont, dass Hölderlin hier anachronistisch ein eher „mittelalterliches“ Wort, nämlich „Stundenschläge“ gebraucht hat. Die treffendere Frage aber ist: Für wen schlägt die Stunde? Sobald Zeus in den Kerker Danaës als ein goldener Regen eintritt, übernimmt der Göttervater das sterbliche Wesen dieser Frau. Erst von ihr erlernt er, wie man die Stunden der Zeit erlebt, und d. h. in Leid und Leidenschaft. Diese Begebenheit war schon von Heinrich von Kleist in seinem Amphitryon eindeutig geklärt. Das Zählen der Zeit ist nicht mehr ein Beispiel des Leidens von Danaës Leib: Dieses Zählen ist der Beweis von Danaës vornehmer und verehrenswerter Abstammung. Wenn Hölderlin den Vatergott Griechenlands so versteht, dass der Gott zur Erde und nicht zum Himmel gehört, und dass er sich der Herrschaft der Zeit und einer sterblichen Frau beugt, dann sind wir an eine entscheidende Stelle des tragischen Absoluten gelangt. Fünftens, die Zeit selbst wird für Hölderlin nur im Leiden rein erlebt, „weil dann das Gemüt vielmehr dem Wandel der Zeit mitfühlend folget, und so den einfachen Stundengang begreift, nicht aber der Verstand von Gegenwart auf die Zukunft schließt“.22 Der Schmerz und das Leid scheinen auf beide, nämlich auf die Sterblichen und auf die Unsterblichen, zu wirken. Hölderlin nennt die Zeilen im tragischen Dialog, aber auch die Verse in den Chorgesängen die „leidende[n] Organe des göttlichringenden Körpers“.23 In der Tat, Sterbliche und Unsterbliche vereinigen sich im Leiden der Leidenschaft: Hölderlin spricht buchstäblich davon, „wie der Gott und Mensch sich paart“.24 Sterbliche und Unsterbliche paaren sich – um dann durch Betrug, Frevel und Vergessenheit grenzenlos voneinander Abschied zu nehmen. 21 Friedrich Hölderlin: Die Trauerspiele des Sophokles. Antigonae. In: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 859 – 912, hier S. 896, V. 981 – 988. 22 Hölderlin: Anmerkungen zur Antigonä. In: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 916. 23 Ebd., S. 919. 24 Hölderlin: Anmerkungen zum Oedipus. In: Sämtliche Werke, Bd. 2, S. 856.

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Das, was wir bis jetzt bei Hölderlin erläutert haben, ist bloß der Anfang. Bald werden die Dinge noch schwieriger. Unter den Szenen von Oidipus Tyrannos, die durch Hölderlins Übersetzung von Sophokles und durch Hölderlins eigene „Anmerkungen“ dazu unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen, ist die letzte Szene zwischen Ödipus und Iokaste eminent. Man darf diese ganze Szene als eine zweite Zäsur (gleichsam eine Art „Schattenzäsur“) bezeichnen, d. h. als eine weitere gegenrhythmische Unterbrechung des Szenenlaufs. Bei Antigone wirft der fünfte Chorgesang, der sich auf Danaë bezieht, einen langen Schatten über den Rest des Stücks. Man darf also Hölderlins tragische Heldinnen – Iokaste, Antigone, Niobe und Danaë – als eine Gruppe betrachten; die zwei ersten als tragische Figuren, die zwei letzten als deren mythologische Urahnen. Die Fragen, die bei dieser Gruppierung auftauchen, sind nicht schwierig zu formulieren: Was begehren die Götter – aber auch die sterblichen Männer – von diesen Frauen? Was begehren ihrerseits die Frauen? Wie treibt das jeweilige Zusammenkommen oder Auseinanderklaffen dieser Begierden die jeweilige Handlung der Tragödie an? Mit Hilfe der Hölderlin- und Sophoklesdeutungen von Max Kommerell, Karl Reinhardt und Nicole Loraux, versucht das Buch einige der sperrigsten Probleme in Hölderlins Übersetzungen und „Anmerkungen“ zu lösen.25 Kurz gefasst, und nur zur Einführung, darf man sagen, dass diese Probleme um die folgenden Figuren kreisen: erstens, um den unheimlich langen Schatten der Iokaste, der ein Zeichen ist, welches, wie Hölderlin es formuliert, = 0 (Iokaste ist eine Mutter, die ihr Kind Ödipus in den Tod schickt, aber auch die Frau, die vom Zorn ihres Ehemanns bis in den eigenen Tod behelligt wird); zweitens, um die %tg, die Antigone einverleibt (Antigone beeilt sich, den Tod als ihren eigentümlichen Eros zu umarmen, den Eros, der im vierten Chorgesang gelobt, aber dann im fünften Gesang stark problematisiert wird); drittens, um die Tränen Niobes (Niobe als der absolute Inbegriff der menschlichen Trauer aber auch als eine bedrohliche Figur für die Herrschaft von Zeus); viertens, um das Gold Danaës (Danaë, nicht als Opfer des Zeus, sondern, wie Hölderlin

25 Vgl. Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin. Frankfurt a.M. 61991 (11940); Karl Reinhardt: Hölderlin und Sophokles. In: ders.: Tradition und Geist. Gesammelte Essays zur Dichtung. Hg. v. Carl Becker. Göttingen 1960, S. 381 – 397; Nicole Loraux: Tragic Ways of Killing a Woman. Übers. v. Anthony Forster. Cambridge, Massachusetts 1987.

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selbst sagt, als antitheos, d. h. als die größte Gefahr für den Vater der Götter, der Zeit und der Erde). Antigone als Titelfigur und Antigone als das Drama selbst, lädt immer zur Diskussion ein. Jacques Lacan, in seinem Seminar aus den Jahren 1959/60, Ethik der Psychoanalyse, überrascht uns durch die Ausführlichkeit und die Tiefe mit der er Sophokles’ Antigone liest. Noch verblüffender ist die Ähnlichkeit seiner Deutung des Stücks mit der Deutung Hölderlins, bis hin zu den technisch-philologischen Fragen des Übersetzens selbst. Auch dann, wenn Lacan in seiner Interpretation mehr Dunkel als Licht leuchten lässt, wobei möglicherweise das Dunkel das passendere Element eines Analytikers ist, bleibt die Übereinstimmung von Lacan und Hölderlin bemerkenswert – besonders wenn man sich überlegt, dass Lacan in seinem Seminar Hölderlin nie zitiert. Lacan sieht in der Figur von Antigone die strahlendste Einverleibung der Todestriebe; Antigone ist ein Imago, das alle anderen Bilder des Imaginären ausblendet und sogar vertreibt. Lacans Deutung, die auf dem „Zwischen zwei Toden“ (l’entre-deux-morts) basiert, reißt uns Leser aus dem gut bekannten Mittelpunkt des bewussten, ich-zentrierten Lebens in die exzentrische Sphäre der Toten. Dennoch ist für Lacan nichts schöner, nichts anziehender, als diese anmutige, ja erotische Antigone. Die Figur der Antigone ist der Inbegriff der Triebvermischung, d. h. von diesem schwierigsten Problem der späten Theorie der Psychoanalyse, wobei die Triebe, die wir als Eros, Thanatos und Realitätsverhältnis unterscheiden wollen, hoffnungslos in- und durcheinander geraten. Für Lacan stellt also Antigone, als Figur und als dramatisches Werk, die größte Herausforderung für eine Ethik der Psychoanalyse überhaupt dar. Vor allem ist es das, was Lacan den „Nutzen der Götter von Antigone“ nennt, welcher Lacan und Hölderlin gleichermaßen fasziniert. Dieses göttliche Benutzen oder Gebrauchen – möglicherweise mit Bezug auf Heideggers „Brauch“ im Spruch des Anaximander 26 – lockt Lacan selbst aus seiner üblichen Reserve, zieht trotz all seiner professionellen Widerstandsleistungen einige seiner schlichtesten und klarsten Äußerungen über Sublimation und Übertragung aus ihm heraus. Wenn Zeus selbst in der sophokleischen Tragödie bedroht wird, können sich der Therapeut und der Theoretiker schlecht schonen. Die Konvergenz von Lacans und Hölderlins Antigonedeutungen ermutigt uns, eine eigene bescheidene Deutung von Sophokles’ Drama 26 Vgl. Martin Heidegger: Der Spruch des Anaximander. In: ders.: Holzwege. Frankfurt a.M. 1950, S. 321 – 373, hier S. 338.

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zu riskieren. Man könnte m. E. die Figur von Antigone so interpretieren, als ob sie der Herrschaft des Kronos unterworfen sei.27 Denn sie scheint im Laufe der Szenen immer jünger und immer abwehrloser, immer verletzbarer und immer empfindsamer zu werden, bis sie den ganzen Weg ihres Lebens zurücklegt und sich in der steinigen Gebärmutter ihres Kerkers aufhängt. Das Ende des Kindes gleicht sich dem ihrer Mutter an, einer Mutter, die zugleich (väterlicherseits) ihre Großmutter ist.28 Das letzte Kapitel im Buch Das tragische Absolute, das als Hauptthema Nietzsches Verhältnis zur absoluten Musik hat, könnte man als eine Phantasmagorie betrachten: Die Interpretation versucht nämlich zu zeigen, wie sich Schelling und Hölderlin an Nietzsche erinnern, bzw. wie sie an ihn, sozusagen, zukünftig denken. Das Kapitel fängt mit einer Analyse von Schellings Philosophie der Mythologie (1842) in ihren radikalsten Momenten an, d. h. mit den Momenten, in denen die Söhne von Kronos (Zeus, Poseidon, Hades) dargestellt und hinterfragt werden. Das Ergebnis der Untersuchung ist, dass die uralten Geschichten von Urania, Hestia, Demeter, Persephone und Dionysos ins Zentrum von Schellings Überlegungen rücken müssen. Mit Hinblick auf die Kroniden erinnert uns Schelling an zwei aus der ältesten Zeit herkommende Lektionen: erstens, alle drei Kronossöhne haben von ihrem Vater dessen eigentümliche Aufsässigkeit und Trotzigkeit geerbt: Der gefesselte Prometheus des Aischylos sagt, alle drei Söhne seien durch „bitteren Groll[es]“ und „unbeugsamen Mut“ gekennzeichnet;29 aber, zweitens, solche Sturheit und Härte schmelzen vor der Anmut Aphrodites einfach weg: Der dritte Chorgesang der Trachiniai sagt, dass alle drei Göttersöhne Aphrodites Macht unterworfen sind. Die unbeugsamen Kroniden beugen sich vor den Frauen, so wie auch vor deren Gott, Dionysos. Für Schelling ist Dionysos die Hauptfigur der Mythologie an und für sich, indem er das Kind Semeles ist, wobei Semele eine Figur zwischen Erde und Mond ist, und dadurch Urania und Demeter verwandt ist. Im Übrigen übersetzt Hölderlin „Demeter“ als „das Undurchdringliche“. Sie trägt Dionysos, und zwar fortwährend. Dionysos ist als Gott der, der immer noch kommen muss – ewiges Werden, ewig getragen, ewig geboren. Man 27 Vgl. Platon, Politikos, 296d5 – 274e3. 28 Vgl. David Farrell Krell: Forever Younger. A Reading of Sophocles’ Antigone. In: Journal of Comparative and Continental Philosophy 1 (2009), S. 55 – 75. 29 Aischylos, Orestie, Der gefesselte Prometheus, V. 162 – 166 (Die Orestie wird zitiert nach: Aischylos: Tragödien. Griech. u. dt. Übers. v. Oskar Werner. Hg. v. Bernhard Zimmermann. Darmstadt 51996).

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sieht, dass sehr viele Lieblingsthemen von Nietzsches Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik (richtiger gesagt: aus dem Geiste der absoluten Musik) in Schellings Denken schon vorausgedacht sind. Das tragische Absolute schließt also mit einigen Fragen zur absoluten Musik und zum Rhythmus ab. Zugestanderweise hat auch Nietzsche seine eigenen Erinnerungen an Schelling und Hölderlin gehabt, äußerst bejahend bei diesem, eher abstoßend bei jenem. Und dennoch: Ein Blick in die nachgelassenen Notizhefte und in die Basler Philologica zeigt uns, wie sehr Nietzsches eigene Themen auch die von Schelling waren. Besonders wichtig für das vorliegende Buch ist Nietzsches Kritik an der aristotelischen j\haqsir, die später ausgeführte Genealogie des Genealogen selbst, und vor allem Nietzsches Deutung der absoluten Musik als der Urquelle jeder Erfahrung, der für die Musik und für die Tragödie wesentlichen 5jstasir. Sobald aber die absolute Musik ins Zentrum der Betrachtung rückt, und sobald die Fragen nach dem Takt und dem Rhythmus gestellt werden, ist Schelling bei Nietzsche vindiziert bzw. gerechtfertigt. Nietzsches Gedanken über „die Qual der Gebärerin“ in der Gçtzen-Dmmerung haben Schellings Überlegungen zu Urania, Kybele und Demeter – sämtliche Mütter des Dionysos, sämtliche Semelen – zu ihrer Basis.30 Um jetzt abzuschließen, kehre ich zu der Frage nach dem Titel Das tragische Absolute zurück. Ist dieser Titel so zu verstehen, dass das tragische Absolute das letzte (aber wie? als das neueste? als das endgültige?) von einer langen Reihe von Absoluten in der Geschichte der modernen Philosophie ist? Sollte es hier um das letztmçgliche Absolute gehen? Man will gerne ,Ja‘ sagen, muss sich aber zurückhalten. Jede mögliche Antwort bleibt hier von Zweideutigkeit gekennzeichnet und zwar deswegen, weil die Tragödie die abgründige Ambiguität der menschlichen Existenz in ihren Handlungen, Gedanken und ihrer Sprache bezeugt. Jean-Pierre Vernant und Pierre Vidal-Naquet greifen z. B. den berühmten Spruch Heraklits „Ghor !mhq~pyi da_lym“31 auf und deuten ihn als einen ausgezeichneten Fall dieser Zweideutigkeit.32 Während die Philosophen diesen Spruch nur so zu hören vermögen, dass er sagt, der 30 Vgl. Nietzsche, GD Alten 4, KSA 6, S. 159. 31 Die Fragmente der Vorsokratiker. Griech. u. dt. v. Hermann Diels. Hg. v. Walther Kranz. Berlin 61951, Bd. 1, S. 177 (Herakleitos B 119). 32 Vgl. Jean-Pierre Vernant/Pierre Vidal-Naquet: Myth and Tragedy in Ancient Greece. Übers. v. Janet Lloyd. New York 1990, S. 37 f. u. S. 43.

Das tragische Absolute bei Schelling und Hölderlin

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Schutzgeist eines Menschen sei sein Charakter, sind die Tragödiendichter geneigt, Heraklits Aussage so zu verstehen: Der Charakter eines Menschen ist in der Tat ein Dämon, d. h. er ist und bleibt dämonisch. Das will aber sagen: ein jedes Menschenleben ist ungeheuren Kräften ausgesetzt, deim\, die außerhalb aller Beherrschungsmöglichkeiten stehen; unter diese Kräften sind t¼wg und %tg zu zählen, d. h. der undurchschaubare Zufall, die unentrinnbare Vernarrtheit und das Verhängnis. Die Spannungen und Ambiguitäten, welche in der griechischen Tragödie allgegenwärtig sind, schließen jede Möglichkeit aus, dass wir den Spruch Heraklits als einen spekulativen Satz im Hegel’schen Sinne lesen könnten: Die zwei Hör-Arten lassen sich nicht reduzieren, noch stellen sie für uns einen dritten Gegenstand zur Aufnahme bereit. Die Tragödie ist und bleibt ein Spannungsfeld. Solche Spannung, die man weder ganz annehmen noch ganz abstreiten kann, konstituiert die Tragödie als ein inniges Fragen, zu dem keine Antworten kommen. In der tragischen Perspektive werden Menschen und menschliche Taten so gesehen, dass sie nicht bestimmbar oder definierbar sein können, sondern dass sie als blosse Probleme anzunehmen sind. Sie werden als Rätsel dargestellt, deren Doppeldeutungen nie völlig erschlossen, geschweige denn erschöpft werden können.33

Das tragische Absolute ist also ein Oxymoron, ja eine Katachrese. Wenn der Titel meint, das allerletzte Absolute sollte hier entschieden dargestellt werden, dann ist dies nur als Metapher zu verstehen, Metapher aber als Transport, letavoq\ ohne Ende. Nicht einmal Athena weiß, wo das alles enden soll. Sie fragt die Erinnyen, „poO t¹ t´qla t/r vuc/r ;“34 („wo ist End’ und Ziel der Flucht?“). Die Sterblichen besitzen allerdings die Sprache, oder die Sprache besitzt sie, aber die Sprache hilft ihnen nicht. Man versuche, die Zeichen zu lesen! Die tragische Ambiguität spielt sich ausgerechnet in der Sprache aus. Manchmal sieht das so aus, als ob die Zuschauer des Bühnenstücks dieses Spiel durchaus verstehen, sie blicken durch, indem sie alles von oben herab anschauen und anhören können; es scheint, als ob sie die fatalen auf der Bühne aufgeführten Wortver33 Ebd., S. 38. Vgl. ebd., Kap. 5: Ambiguität und Umkehrung. Zur rätselhaften Struktur von ,König Ödipus‘, S. 113 – 140, besonders S. 113 f. Die zwei Autoren gehen so weit, dass sie von einem „rein funktionelle[n] Schema der Umkehrung“ bzw. „eine[r] Herrschaft der zweideutigen Logik“ bei Sophokles sprechen: Ödipus ist der Inbegriff dieses Schemas, da seine „eigentliche Größe darin besteht, dass sein gewaltiges Fragen die eigene rätselhafte Natur ausdrückt“ (ebd., S. 139) [alle Übers. dieses Werks v. Verf.]. 34 Aischylos, Orestie, Eumeniden, V. 422.

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wechselungen und falschen Deutungen von sibyllinischen Aussagen durchschauen könnten. Vernant insistiert jedoch darauf, dass weder Autor noch Zuschauer das Spiel eigentlich verstehen: Die Tragödie hat uns nur Eines zu lehren, nämlich dass es „Sphären des Dunkels und der Unmitteilbarkeit“ im Menschenleben, absolute Verschlossenheiten in Handlungen und in der Sprache gibt.35 Das, was allein ganz durchsichtig wird, ist die Tatsache, dass alles da unten auf der Szene und in der Orchestra ins Durcheinander geraten ist – das Denken konfus, die Reden verworren, die Handlungen blind, die Taten fehlzündend, obwohl alle Figuren des Dramas daran ihr Herz zerreißen und ihren Kopf zerbrechen, alles treffend zu konzipieren, zu sagen und zu tun. Es gelingt ihnen nicht. Wären sie in ihrem Vorhaben erfolgreich, würde das Drama nicht besser, sondern nur verlogen sein. Die tragische Einsicht bei Zuschauern und Interpreten besteht darin, dass „Worte, Werte und Menschen selbst zweideutig sind, und dass das Universum durch Streit geprägt ist.“ Zuschauer und Interpreten müssen ihre beliebtesten Voraussetzungen aufgeben; sie müssen „problematische Weltanschauungen“ bejahen können.36 Das tragische Absolute?? Nicht, wenn dieser Titel nach so etwas wie einer Antwort klingt; nur wenn er Fragen-ohne-Antwort besagen kann. Seine ganze Sphäre muss zum Problem werden, in einem Universum, das uns mit seinen unlösbaren Rätseln schweigend gegenübersteht. Sollte das Wort „absolut“ noch irgendeinen Anteil von seinem herkömmlichen ontotheologischen Gehalt bewahren, dann ist dies nur um zu sagen, dass das, was die Philosophie seit eh und je als „das Absolute“ anvisiert hat, d. h. der Gott des Glaubens und der Vernunft, der Geist des absoluten Wissens und der absoluten Herrschaft, derselben Ambiguität unterworfen ist. Alle sich auf diesem höchst unbequemen und äußerst unsicheren Transport Befindenden sind Mitreisende. Die Sehnsucht, zu der ein Schmachten gehört, ist wesentlich. Sehr spät in seinem Leben las Schelling in Berlin seine Philosophische Einleitung in die Philosophie der Mythologie, und zwar als eine „Darstellung der reinrationalen Philosophie“. In der zwanzigsten dieser reinrationalen Stunden sagte er Folgendes: Das Loos der Welt und der Menschheit ist von Natur ein tragisches, und alles was im Lauf der Welt Tragisches sich ereignet, ist nur Variation des Einen großen Themas, das sich fortwährend erneuert; die Handlung, von welcher 35 Vgl. Vernant/Vidal-Naquet: Myth and Tragedy, S. 43. 36 Ebd.

Das tragische Absolute bei Schelling und Hölderlin

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alles Leid sich herschreibt, ist nicht einmal geschehen, sondern das immer und ewig Geschehende; denn nicht wie einer unserer Dichter gesagt, ,was sich nie und nimmer hat begeben‘, sondern was sich immer begeben und ewig begibt – ,das allein veraltet nie‘.37

Ist aber das hier beschilderte tragische Los nur ein Merkmal der Welt der Natur und des Menschen? Wie steht es um das Phantomglied des Absoluten selbst? Wir haben Melvilles Antwort (in Kapitel 106 von MobyDick, „Ahabs Bein“) schon gehört: „Das untilgbare Muttermal der Trauer auf des Menschen Stirn ist nur der Schmerzensstempel derer, die es aufgedrückt“. Der Philoktet des Sophokles stellt die klagende Frage: „Wie soll ich das verstehn, wie soll ich’s loben, wenn ich, Göttliches verehrend, Götter böse fand? [t± he?û 1paim_m to»r heo»r evqy jajo¼r ;]“.38 Ein Spruch, zweifelhaft bzw. fälschlicherweise dem Heraklit zugeschrieben, sagt: „Wenn es Götter gibt, weshalb beweint ihr sie? Wenn ihr sie aber beweint, haltet sie doch nicht mehr für Götter!“39 Wenn Philoktet die Götter hässlich und hassenswert findet, ist es nur, weil er nur die schmachtende, sehnsüchtige Göttlichkeit in ihnen lieben könnte. Die Frage ist nur, ob er anderes jenseits von seinem eigenen Leiden beweinen kann. Statt uns von Pseudo-Heraklit sagen zu lassen, dass wir, wenn wir die Götter beweinen, sie nicht mehr für göttlich halten, sollten wir lieber Heraklit selbst anhören, wenn er Folgendes zu enträtseln gibt: Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod jener und das Leben jener der Tod dieser.40

Als ob die Aufgabe, das eigene Leben zu leben und den eigenen Tod zu sterben einem jeden nicht genug wäre. Wieso denn nicht Tränen des Leids und Tränen der Verwunderung vergießen?

37 Schelling, SW XI, S. 485 f. 38 Sophokles, Philoktetes, V. 451 – 452 (Sophokles’ Werke werden zitiert nach: Sophokles: Dramen. Griech. u. dt. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Bayer. Mit Anm. u. e. Nachw. v. Bernhard Zimmermann. München/ Zürich 21985). 39 Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. v. Diels/Kranz, Bd. 1, S. 180 (Herakleitos B 127). 40 Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. v. Diels/Kranz, Bd. 1, S. 164 (Herakleitos B 62).

Freiheit und Notwendigkeit. Zur Poetik und Philosophie des Tragischen bei Aristoteles und Schelling Juichi Matsuyama I. Der philosophische Mensch hat sogar das Vorgefühl, dass auch unter dieser Wirklichkeit, in der wir leben und sind, eine zweite ganz andre verborgen liege, dass also auch sie ein Schein sei; und Schopenhauer bezeichnet geradezu die Gabe, dass Einem zu Zeiten die Menschen und alle Dinge als blosse Phantome oder Traumbilder vorkommen, als das Kennzeichen philosophischer Befähigung.1

Nietzsches „verwegene[s] Buch“ Die Geburt der Tragçdie hat sich – nach eigener Angabe in seiner „Selbstkritik“, die im Jahre 1886 der ersten Auflage von 1872 hinzugefügt wurde, – zum ersten Mal an die Aufgabe herangewagt, „ d i e W i s s e n s c h a f t u n t e r d e r O p t i k d e s K ü n s t l e r s z u s e h n , d i e K u n s t a b e r u n t e r d e r d e s L e b e n s “.2 Durch diese Optik hat Nietzsche auf den Trieb „der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus“, im Gegensatz zu jenem anderen Trieb – „der Kunst des Bildners, der apollinischen“ – Licht geworfen. Diese beiden Triebe, die wir mit den beiden Kunstgottheiten der Griechen gleichsetzen können, die in diesem ungeheuren Gegensatz „mit einander gepaart“ wurden, erzeugten das Kunstwerk der attischen Tragödie.3 Die Geburt der Tragödie hatte einst Aristoteles im vierten Kapitel seiner Poetik sozusagen unter der Optik der Techniker oder genauer der Physiker historisch aufzuklären versucht. Historisch wurde die Dichtung – seiner Ansicht nach – anfangs „aus den Improvisationen (1j t_m aqto-

1 2 3

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26 f. Nietzsche, GT Versuch 2, KSA 1, S. 14. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25.

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swediasl\tym)“ hervorgebracht, da „das Nachahmen (lile?shai) unserer Natur gemäß ist“.4 Die Eröffnungsrede im einschlägigen Kapitel lautet: Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen (lile?shai) selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an (1j pa_dym), […] als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.5

Eine weitere wesentliche Ursache dafür sei zudem, so Aristoteles, das Lernen. Er sagt: „Das Lernen (lamh\meim) bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen“.6 Diese aristotelische Auffassung von lile?shai und lamh\meim führt uns zu einer anthropologischen Interpretation. Der neuesten anthropologischen Forschung zufolge ist diese besondere Fähigkeit zur l_lgsir an folgende Bedingungen geknüpft: die „Frühgeburt“ des Menschen und seine dadurch bedingte Angewiesenheit auf das Lernen, seine residuale Instinktausstattung und den Hiatus zwischen Reiz und Reaktion.7 Die mit dem Begriff l_lgsir zusammenhängenden Wörter stammen aus dem Wort l?lor. In seiner etymologischen Untersuchung weist Hermann von Koller darauf hin: Das Wort l_lgsir und seine Ableitungen sind eigentümlich spät bezeugt. Homer, Hesiod, die äolischen Dichter kennen es noch nicht. […] Die früheste Bezeugung von lile?shai stammt aus dem Delischen Hymnus, und zwar steht es im Zusammenhang mit dem Tanz, aus einem Fragment des Pindar (Tanz), und aus Äschylos (l?lor = Schauspieler, Akteur eines bacchantischen Kultes).8

Gerald F. Else, der eine umfangreichere Untersuchung gemacht hat, gibt drei Bedeutungen des Wortes lile?shai an: 1. als eigentlich unmittelbare Repräsentation von Gestalten, Handlungen oder Äußerungen von Tieren oder Menschen durch Sprache, Gesang oder Tanz; 2. als Ableitung, als Imitatio der Handlung einer Person durch eine andere Person; 3. als eine weitere Ableitung, nämlich als Replikation, als Bild einer Person 4 5 6 7 8

Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1448b20 – 24 (Aristoteles’ Poetik wird zitiert nach: Aristoteles: Poetik. Griech. u. dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982). Ebd., 1448b4 – 9. Ebd., 1448b13 – 14. Vgl. Christoph Wulf: Mimesis. In: ders. (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim/Basel 1997, S. 1015 – 1029, hier S. 1016. Hermann von Koller: Die Mimesis in der Antike. Bern 1954, S. 13.

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oder eines Dinges in materieller Form.9 Platons bekannte Lehre der l_lgsir im dritten Buch der Politeia behandelt die zweite genannte Bedeutung und eine andere im zehnten Buch die dritte. Im dritten Buch heißt es, dass die zukünftigen Wächter des Staates, also die Wehrmänner (v}kan), sich den Charakter ausgezeichneter und angemessener Menschen von der Kindheit (eqh»r 1j pa_dym) an durch Nachahmung anzueignen hätten.10 Die andere Stelle besagt, dass die Dichter ebenso wie Maler die Nachbilder (vamt\solata) des Urbildes (?dor) nachahmen11 und dass damit dieses Nachahmen zur dritten Kategorie gehört und so entfernt von der Wahrheit (peq· tq¸tom […] !p¹ t/r !kghe_ar) stehen muss.12 Aus diesem Grund müssen die Dichter aus dem idealen Staat ausgeschlossen werden.13 Es ist hier nicht die Frage, ob die aristotelische Lehre der l_lgsir in seiner Poetik eine Kritik an der platonischen Lehre vom Ausschluss des Dichters war, sondern unsere Frage lautet vielmehr, in welchem Kontext beide Lehren konzipiert wurden. Während die platonische Lehre im Zusammenhang mit dem Problem der Erziehung der Wehrmänner oder Regierenden im Staat stand, wurde die aristotelische Lehre im Kontext der Dichtkunst oder genauer der Naturteleologie besprochen. Die Geburt der Tragödie versuchte Aristoteles mit der Analogie von Technik und Natur oder Naturteleologie zu erklären. In der Physik behauptet er, dass die Technik die Natur nachahme.14 Die Entstehung der Dinge vermittels Technik wird von ihm in Analogie zur Natur beschrieben. Nach dieser Analogie stehen die Dinge im teleologischen Zusammenhang: d. h. das Vorherige entwickelt sich sowohl in der Natur, als auch in der Technik zum Nachfolgenden als dem Ziel des Vorherigen, schließlich aber zum Ende (t]kor) der Sachen selbst. „Allgemein gesprochen, die Kunstfertigkeit bringt teils zur Vollendung, was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teils eifert sie ihr (der Natur) nach“.15 Ähnlich wie die Dinge der Natur entwickeln sich auch die Künste der Dichtung: d. h. sie 9 Vgl. Gerald F. Else: „Imitation“ in the Fifth Century. In: Classical Philology 53,2 (1958), S. 73 – 90, hier S. 79. 10 Vgl. Platon, Politeia, Buch III, 395c. 11 Vgl. Platon, Politeia, Buch X, 599a. 12 Vgl. Platon, Politeia, Buch X, 602c. 13 Vgl. Platon, Politeia, Buch X, 605b. 14 Vgl. Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 2, 194a21 – 22 (Aristoteles’ Physik wird zitiert nach: Aristoteles’ Physik. Vorlesung über Natur. Griech. u. dt. Übers., m. Einl. u. Anm. hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg 1987). 15 Aristoteles, Physik, Buch II, Kap. 8, 199a15 – 17.

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werden zuerst geboren, „wachsen“ dann und entwickeln sich und erreichen endlich das Ende (t]kor) – in der typisch aristotelischen Terminologie die 1mtek]weia. Die Dichtkunst begann, wie oben gezeigt, mit dem Impromptu. Dem historischen Narrativ zufolge hat sich die Dichtung „nach den Charakteren aufgeteilt, die den Autoren eigentümlich waren. Denn die Edleren ahmten gute Handlungen und die von Guten nach, die Gewöhnlicheren jedoch die von Schlechten“.16 Die Ersteren dichteten Hymnen und Preislieder (vlmour ja· 1cj¾lia); die Anderen Rügelieder (x|cour). Die Tragödie gehört zur ersten Gattung, die Komödie zur anderen. Homer war – nach der Würdigung des Aristoteles – nichts anderes als ein ausgezeichneter Vorläufer in diesen beiden Strömungen der Dichtung. „Denn wie sich die ,Illias‘ und die ,Odysee‘ zu den Tragödien verhalten, so verhält sich der ,Margites‘ zu den Komödien.“17 Diese Komödie stammt allerdings – wie die neuzeitliche Philologie feststellen konnte – nicht von Homer, sondern, aufgrund der Sprache, von einem anderen Autor aus späterer Zeit, vermutlich aus dem 6. Jh. v. Chr. Nach dem historischen Narrativ des Aristoteles ist die Tragödie ursprünglich „aus den Improvisationen“ entstanden; – auf der Seite der Tragödie seien der Dithyrambos und auf der Seite der Komödie seien die Phallos-Umzüge genannt – sie [die Tragödie] dehnte sich dann allmählich aus, wobei man verbesserte, was bei ihr zum Vorschein kam, und machte viele Veränderungen durch. Ihre Entwicklung hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte.18

Epos und Tragödie besitzen laut Aristoteles einerseits eine Gemeinsamkeit und andererseits aber auch einen Unterschied. Beide stimmen darin überein, dass das Epos „Nachahmung guter Menschen in Versform ist;“ sie unterscheiden sich hingegen darin, dass das Epos „nur ein einziges Versmaß verwendet und aus Bericht besteht. Ferner in der Ausdehnung: die Tragödie versucht, sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten“.19 Die Tragödie entfernt sich aber auch von der Geschichte. Während der Geschichtsschreiber mitteilt, „was wirklich geschehen ist“, teilt der Dichter mit, „was geschehen könnte“.20 So 16 17 18 19 20

Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1448b24 – 27. Aristoteles, Poetik, Kap. 4, 1449a1 – 2. Ebd., 1449a10 – 15. Aristoteles, Poetik, Kap. 5, 1449b9 – 13. Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451b5 – 6.

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gesehen hat der aristotelische Begriff der Nachahmung eine andere Bedeutung als in der platonischen Lehre von der Verbannung der Dichter. Für Aristoteles ist die Nachahmung in der Tragödie nicht bloß diejenige des Wirklichen, sondern vielmehr sozusagen eine Darstellung der Möglichkeiten unserer kommenden Handlungen oder auch Repräsentation unserer eigenen Handlungen. Eben darum erweckt sie in uns Jammer und Schaudern und bewirkt damit eine Reinigung. Seine bekannte Erklärung über das Wesen der Tragödie im sechsten Kapitel der Poetik lautet: Die Tragödie ist Nachahmung (l_lgsir) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern (di’ 1ke|u ja· v|bou) hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt (tµm t_m toio}tym patgl\tym j\haqsim).21

In der späteren Zeit werden beide Begriffe „5keor ja· v|bor“, nämlich „Jammer und Schaudern“ oder „Mitleid und Furcht“ in dieser aristotelischen Erklärung der Tragödie viel beachtet. Beide Begriffe haben Einfluss auf die Dichter der deutschen Tragödie, des „bürgerlichen Trauerspiels“, das an die Stelle der klassischen Helden-Tragödie tritt. Lessing, der das erste bürgerliche Trauerspiel Miß Sara Sampson im Jahre 1755 verfasste, stellt beispielsweise eine Missdeutung des Corneille richtig. In der Hamburgischen Dramaturgie (Stück 75, 19. Jan. 1768) antwortet er auf die Frage, „warum er [sc. Aristoteles] in der Erklärung der Tragödie, nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte“: Die wahre Ursache davon sei [n]icht als ob diese Furcht hier eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche bald mit bald ohne dem Mitleid, so wie das Mitleid bald ohne ihr erregt werden könne; welches die Missdeutung des Corneille war: sondern weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken kann.22

Das Wesen der Tragödie lag jedoch für Lessing ausschließlich in der Erregung des Mitleids. Er schrieb an Nicolai im November 1756: „Die Tragçdie soll Leidenschaften erregen. […] Die Bestimmung der Tragödie ist 21 Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b25 – 27. 22 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Hg. v. Paul Rilla. Berlin 21968, Bd. 6, S. 383.

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diese: sie soll unsre Fhigkeit, Mitleid zu fhlen, erweitern“.23 Lessings Erklärung der Tragödie in der Hamburgischen Dramaturgie (Stück 77, 26. Jan. 1768) lautet: Es ist unstreitig, daß Aristoteles überhaupt keine strenge logische Definition von der Tragödie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloßen wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschränken, hat er verschiedene zufällige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht hatte. Diese indes abgerechnet, und die übrigen Merkmale in einander reduziert, bleibt eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich, daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid erregt. Ihrem Geschlecht nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so wie die Epopee und die Komödie: Ihrer Gattung aber nach die Nachahmung einer mitleidswürdigen Handlung.24

Im Gegensatz zu dieser Hochschätzung des Mitleids und auch den bürgerlichen Trauerspielen von Kotzebue, Iffland u. a. hat der späte Schiller sein epochemachendes Stück Wallenstein (1798 – 99) auf die Bühne gebracht, das „die alte Bahn verlassend, Euch aus des Bürgerlebens engem Kreis/Auf einen höhern Schauplatz zu versetzen“ versucht hat.25 In der Vorrede zum vier Jahre später entstandenen Stück Die Braut von Messina hat Schiller behauptet, dass die Tragödie nicht privat, sondern öffentlich sein muss.26 Eine eindrucksvolle Passage hierin lautet: Der Palast der Könige ist jezt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Thoren der Städte in das Innere der Häuser zurückgezogen, die Schrift hat das lebendige Wort verdrängt, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist, wo sie nicht als rohe Gewalt wirkt, zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begriff geworden, die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt. Der Dichter muß die Paläste wieder aufthun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muß die Götter wieder aufstellen […].27

23 Gotthold Ephraim Lessing/Moses Mendelssohn/Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel. Hg. v. Jochen Schulte-Sasse. München 1972, S. 53 u. S. 55. 24 Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 391. 25 Friedrich Schiller: Wallenstein. In: ders.: Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goethe- und Schillerarchivs, des Schiller-Nationalmuseums und der deutschen Akademie hg. v. Julius Petersen u. a. Weimar 1943 ff., Bd. 8, S. 4. 26 Vgl. Friedrich Schiller: Die Braut von Messina. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 10, S. 10 f. 27 Ebd., S. 11 f.

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II. Im Monat 1kavgboki~m oder Hirschschuss – also gegen Mitte März und Anfang April – kommt der Frühling ins attische Feld. Unter dem milden Sonnenschein treibt der Weinstock erste Knospen. Die See stillt ihre Wogen und die Schifffahrt setzt damit wieder ein. Das Frühlingsfest in Athen, genannt „Fest des Dionysos“, wird recht bald stattfinden. Dieses Fest verleiht der Hoffnung auf guten Wuchs des Weinstocks Ausdruck, welcher der heilige Baum des Gottes Dionysos ist. Es war damals in Athen unter allen Festen das größte und glänzendste. Die Tragödie wurde, wie allseits bekannt, bei diesem Fest als hochoffizielles Ereignis in der Form eines Wettbewerbs auf die Bühne gebracht. Sophokles’ Meisterwerk Kçnig dipus wurde vermutlich einige Jahre nach dem Tod von Perikles inszeniert, der damals bedeutendste athenische Staatsführer, welcher in der Epidemie von 429 v. Chr. gestorben war. Das Publikum dieser Tragödie – die Bürger Athens – erkannte in dem Helden auf der Bühne vielleicht die Gestalt ihres eigenen Führers. Wir wissen jedoch nicht, ob sie anlässlich des Untergangs des Helden auf der Bühne und des Todes ihres Landesführers während des Krieges den bevorstehenden Untergang ihres eigenen Staates voraussahen. Damalige Tragödienautoren beabsichtigten in ihrer Dichtung nicht immer eine Anspielung auf gegenwärtige Realitäten, sondern entnahmen ihre Stoffe den Mythen und Sagen. Im Falle des Kçnig dipus hatte der Dichter seinen Stoff der alten Geschichte der königlichen Familie Lapdakiden in Theben entliehen. Der Sage zufolge war Ödipus nach den weithin bekannten schrecklichen Begebenheiten weiterhin König. Auf der Bühne blendet er sich danach und verlässt sein Königreich. Es handelt sich demnach höchstwahrscheinlich um eine Neuschöpfung des Autors. In der Poetik hat Aristoteles bekannterweise Sophokles’ Werk Kçnig dipus sehr hoch geschätzt: „Die Wiedererkennung (!macm¾qisir) ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis […]. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie (peqip]teia) eintritt, wie es bei der im ,Ödipus‘ der Fall ist.“28 In der Tat singt der Chor das Klagelied (joll|r) gerade nachdem Ödipus erkannt hat, dass er seinen Vater erschlagen, seine Mutter geehelicht und sich daraufhin selber geblendet hat.

28 Aristoteles, Poetik, Kap. 11, 1452a29 – 33.

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O Leid, für Menschen schrecklich zu sehn, o schrecklichstes Leid von allen, soviel ich erlebte je! Welcher Wahnsinn kam (lam_a), du Armer, dich an? Welcher Unheilsgeist (da_lym t_m laj_stym) sprang, weit hinaus übern weitesten Sprung, auf dein unseliges Schicksal (lo_qô)?29

Dieser Gruppengesang, dieses joll|r übt eine große Wirkung aus, die den Kummer und das Leid der Zuschauer noch weiter verstärkt. Außer der Peripetie und der Wiedererkennung (peqip]teia ja· !macm¾qisir) nennt Aristoteles nun „das schwere Leid (p\hor)“ als drittes Element der Fabel. Nach der Definition am Ende des elften Kapitels der Poetik handelt es sich dabei um „ein verderbliches oder schmerzliches Geschehen (pq÷nir vhaqtijµ E adumgq\)“.30 Warum aber musste Ödipus solches Leid erfahren? Die Antwort auf diese Frage lässt sich im Chorgesang finden: dort wird das Wort „da_lym“ genannt. Wenn wir den „da_lym“ als das Schicksal des Ödipus verstehen, führt das dazu, dass Sophokles’ Meisterwerk Kçnig dipus eine Schicksalstragödie ist. Aristoteles weist wiederholt darauf hin, dass „Peripetie und Wiedererkennung […] sich aus der Zusammensetzung der Fabel selbst ergeben“ müssen, d. h. dass sie „mit Notwendigkeit oder nach der Wahrscheinlichkeit (1n am\cjgr E jat± t¹ eQj¹r) aus den früheren Ereignissen hervorgehen“ müssen.31 Nach seiner Meinung darf nichts Irrationales (%kocom) in den Geschehnissen enthalten sein; ein solches habe außerhalb der Fabel und der Bühnenhandlung stattzufinden, als etwas, „was sich vor ihr ereignet hat […] oder was sich nach ihr ereignen wird“, als Vorhersage und Ankündigung. Dies wurde, so meint er, „im ,Ödipus‘ des Sophokles“ vollbracht.32 Wenn das Werk Kçnig dipus die Notwendigkeit der Geschehnisse oder die Kausalität der Handlungen darstellen würde, könnte es das Schaudern und das Jammern oder die Furcht und das Mitleid der Zuschauer nicht erregen, denn in diesem Fall wäre alles gebührend enthüllt. Der Anfangsgrund und gewissermaßen die Seele der Tragödie war für Aristoteles nichts anderes als der Mythos.33 Ein Dichter ist ja „im Hinblick 29 Sophokles, König Oidipus, V. 1297 – 1302 (Sophokles’ Werke werden zitiert nach: Sophokles: Dramen. Griech. u. dt. Hg. u. übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Bayer. Mit Anm. u. e. Nachw. v. Bernhard Zimmermann. München/Zürich 21985). 30 Aristoteles, Poetik, Kap. 11, 1452b11 – 12. 31 Aristoteles, Poetik, Kap. 10, 1452a20. 32 Aristoteles, Poetik, Kap. 15, 1454b4 – 8. 33 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1450b39 – 40.

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auf die Nachahmung Dichter, und das, was er nachahmt, sind Handlungen.“34 „Die Nachahmung (B l_lgsir) hat“, so bemerkt er selbst, „nicht nur eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand, sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles (vobeq_m ja· 1keeim_g). Diese Wirkungen kommen vor allem dann zustande, wenn die Ereignisse wider Erwarten (paq± tµm d|nam) eintreten und gleichwohl folgerichtig auseinander hervorgehen.“35 Was den Begriff von „wider Erwarten“ betrifft, so können wir davon ausgehen, dass damals allen Zuschauern die Sage der traurigen Geschichte der königlichen Familie Lapdakiden bekannt war. Vor dem Ödipus aber verbirgt der Dichter Sophokles das Geheimnis seiner Geburt und hebt dadurch dessen Wiedererkennung bis zum Ende des Dramas auf. So erweckt er das Gefühl des „wider Erwartens“ (paq± tµm d|nam) sowohl in Ödipus als auch in den Zuschauern. Die Erweckung dieses Gefühls verstärkt die Wirkung der Wiedererkennung und der Peripetie. Im 13. Kapitel seiner Poetik, das zusammen mit dem Kapitel 14 das Zentrum seiner Theorie der Tragödie darstellt, weist Aristoteles darauf hin: Da die Zusammensetzung Schaudererregendes und Jammervolles (vobeq_m ja· 1keeim_g) nachahmen soll […], ist folgendes klar: 1. Man darf nicht zeigen, wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben; dies ist nämlich weder schaudererregend noch jammervoll, sondern abscheulich.36

Und die Alternative, dass Schufte und schlechte Menschen einen Umschlag von Glück ins Unglück erleben, „enthielte zwar Menschenfreundlichkeit, aber weder Jammer noch Schaudern“.37 Aristoteles’ Gedanken zufolge, „bleibt der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht“.38 Dieser Held erlebt nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück […], sondern wegen eines Fehlers (di’ "laqt_am) – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern.39 34 Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1451b29. 35 Aristoteles, Poetik, Kap. 9, 1452a2 – 4. 36 Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1452b35 – 36. Aristoteles hat bekanntlich die beiden Affekte 5keor ja· v|bor als Kriterien tragischer Handlungsführung für wichtig gehalten. Vgl. dazu Andreas Zierl: Affekte in der Tragödie. Orestie, Oedipus Tyrannos und die Poetik des Aristoteles. Berlin 1994, S. 44 – 49. 37 Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1452b38 – 1453a1. 38 Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a7. 39 Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a15 – 17.

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Trotz dieses Hinweises ist es nicht wirklich eindeutig, was Aristoteles gemeint hat, welche Handlungen von Ödipus nach Aristoteles’ Meinung Irrtümer seien. Ist es der Mord an seinem Vater? Oder die Vermählung mit seiner Mutter? Als er einen alten Mann an der Scheide dreier Wagenwege erschlug, wusste er nicht, dass dieser Mann sein Vater Laios ist; als er sich mit der Königin des vorherigen Königs Iokaste vermählte, wusste er nicht, dass sie seine Mutter war. Ist man an den unbewussten und unabsichtlichen Irrtümern schuld? Sollte man wegen solcher Irrtümer bestraft werden? Wenn es so wäre, müsste dieses Drama lediglich als eine Geschichte von Schuld und Strafe angesehen werden. Aber Kçnig dipus ist in seiner Eigenschaft als griechische Tragödie keineswegs einfach nur eine solche Geschichte.40 Griechische Götter sind in ihrem Wesen eifersüchtig (vhomeq|r). Dies bedeutet, dass jeder Mensch, der Erfolg und Glück hat, die Privilegien der Götter verletzt und so ihren Zorn hervorruft. Mit anderen Worten: der übermäßige Erfolg eines hervorragenden Menschen bringt seinen Hochmut (ubqir) hervor, der ihn zur Habsucht (j|qur) führt und in die Verblendung (%tg) geraten lässt. Wie uns das Sprichwort zu sagen weiß: „Hochmut kommt vor dem Fall“. Der Eifersucht (vh|mor) der einen Seite entspricht also der Hochmut (ubqir) der anderen Seite. Die Helden lassen sich eben darum oftmals zu Grunde richten. Hier wollen wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es in der griechischen Religion die Dämonen sind, die den Menschen den Untergang bringen. Gott lässt jemanden, den er zu verderben versucht, in den Wahnsinn (lam_a) geraten. Ein böser Geist, der solches tut, ist ein Dämon (da_lym).41 Die Dämonen treten sowohl in den zwei Epen Homers, als auch in den tragischen Werken der Antike wiederholt auf. Auch in Sophokles’ Kçnig dipus werden, wie bereits aus dem Chor als joll|r zitiert, der Wahnsinn (lam_a) und der Dämon (da_lym) eindrücklich dargestellt: Welcher Wahnsinn kam, du Armer, dich an? Welcher Unheilsgeist (da_lym t_m laj_stym) sprang, weit hinaus übern weitesten Sprung, auf dein unseliges Schicksal (pq¹r s0 dusda_lymi lo_qô)?42

Diesem Klagelied folgt die Rede Ödipus’, der sich mit einer Nadel aus dem Gewand der Königin die Augen ausstach: 40 Vgl. Eric Robertson Dodds: On Misunderstanding the Oedipus Rex. In: Greece and Rome 13 (1966), S. 37 – 49, hier S. 37 f. 41 Vgl. Hugh Lloid-Jones: Justice of Zeus. Berkley 1971, Kap. 5. 42 Sophokles, König Oidipus, V. 1299 – 1302.

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Aiai, Aiai! O Pein! Unseliger ich! Wohin auf Erden gelang’ ich? Wohin entfliegt mir die Stimme, hallend hinweg? Weh, Ungeist (da?lym), wohin triebst du?43

Die Selbsterkenntnis des Ödipus, sein Schicksal, wird, wie er selbst sagt, hervorgebracht durch eine das Menschliche übersteigende Macht (da?lym). Die rationale Lehre Aristoteles’ von der Tragödie lässt aber eine derartige Macht außer Acht. Jene berühmte Passage im 15. Kapitel der Poetik lautet: „In den Geschehnissen darf nichts Ungereimtes (ûkocom) enthalten sein, allenfalls außerhalb der Tragödie, wie z. B. im ,Ödipus‘“.44 Diese These stimmt jedoch weder mit der Selbsterkenntnis des Ödipus, noch mit unserem Verständnis überein. Auch die Reinigung von erregten Zuständen wird durch Jammer und Schaudern bzw. Mitleid und Frucht (di’ 1k]ou ja· vºbou tµm t_m patg\tym j\taqsim) erreicht, was sich am besten im Untergang des Helden zeigt: nicht aber aufgrund irgendeines menschlichen Irrtums, sondern vielmehr aufgrund des Eingreifens einer göttlichen Macht. Nachdem Ödipus die Wahrheit erkannt und sich daraufhin geblendet hat, sagt er: Apollon hat das, Apollon, o Freund, Schlimme, das Schlimmer vollbracht, dieses, das meine, mein Leid. Doch schlug sie eigenhändig keiner als ich Unheilssohn. Denn warum mußt’ ich sehn, für den es, sehend, Holdes nicht zu schauen gab?45

Diese kummervolle Klage des Ödipus zeigt ganz ausdrücklich den Kampf zwischen Gott und Mensch an, in dem sich der Mensch dorthin erhebt, wo nur ein Gott sein darf. Dies hält aber Schelling in seiner Freiheitsschrift (1809) für das Böse. Die Erhebung des menschlichen Eigenwillens ist für den Gott dabei nichts anderes als das Böse.46 „Sind aber die beiden Prinzipien [von Licht und Finsternis] in Zwietracht, so schwingt sich ein anderer Geist an die Stelle, da Gott seyn sollte“. Der Mensch wird dann gleichsam „der umgekehrte Gott“.47 Der Mensch wird hier zwar Gott, aber der umgekehrte, weil „sich seine Persönlichkeit und Selbstheit nie 43 44 45 46 47

Sophokles, König Oidipus, V. 1307 – 1311. Aristoteles, Poetik, Kap. 15, 1454b6 – 8. Sophokles, König Oidipus, V. 1329 – 1335. Vgl. Schelling, SW VII, S. 365. Schelling, SW VII, S. 390.

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zum vollkommenen Actus erheben kann. Dieß ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit […].“48 In dieser Auffassung des Menschen in der Freiheitsschrift Schellings spiegelt sich meines Erachtens die Philosophie des Tragischen seiner bereits vorgetragenen Kunstphilosophie.

III. Schellings Philosophie des Tragischen in den Jenaer und Würzburger Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (1802/03 u. 1804/05) steht im Zusammenhang mit dem schillerschen Gedanken vom Erhabenen. Mit Schiller lenkt Schelling dort seine Aufmerksamkeit auf den Begriff des Chaos: Die Natur ist allerdings [sc. in der Urteilskraft Kants (1790)] nicht nur in ihrer unserer Fassungskraft unerreichbaren Größe oder in ihrer unserer physischen Gewalt unbesiegbaren Macht erhaben, sie ist es auch allgemein in dem Chaos oder, wie Schiller sich auch ausdrückt [in seiner Abhanglung Ueber das Erhabene (1801)], in der Verwirrung ihrer Erscheinungen überhaupt. Das Chaos ist die Grundanschauung des Erhabenen […].49

Diese schillersche These wendet Schelling auf die Erkenntnis des Absoluten sowie auf Geschichte und Tragödie an: Durch die Anschauung des Chaos, möchte ich sagen, geht der Verstand zu aller Erkenntniß des Absoluten, es sey in der Kunst oder in der Wissenschaft, über. Das gemeine Wissen, wenn es […] zu dem Entschluß übergeht, „das Unbegreifliche selbst, wie Schiller sagt, zum Standpunkt der Beurtheilung“, d. h. zum Princip zu machen, scheint hier mit dem ersten Schritt zur Philosophie oder wenigstens zur ästhetischen Anschauung der Welt. […] Von dieser Seite stellt sich nun auch die Erhabenheit der Gesinnung dar, vorzüglich inwiefern derjenige, in welchem sie sich zeigt, zugleich als Symbol der ganzen Geschichte dienen kann. […] Die Gesetze und Absichten der Menschen sind hier [sc. in der Weltgeschichte] kein Gesetz für die Natur, sie „tritt, um mich wieder einer Stelle [in der oben genannten Abhandlung] von Schiller zu bedienen, die Schöpfungen der Weisheit und des Zufalls mit gleicher Achtlosigkeit in den Staub, und reißt das Wichtige wie das Geringe, das Edle wie das Gemeine in Einem Untergang mit sich fort. […] Die einfache Betrachtung hievon führt das Gemüth schon unwiderstehlich

48 Schelling, SW VII, S. 399. 49 Schelling, SW V, S. 465.

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hinaus über die Welt der Erscheinungen in die Ideenwelt, aus dem Bedingten ins Unbedingte“.50

– Schelling sagt weiter: Der Held der Tragödie, der alle Härten und Tücken des Schicksals zusammengehäuft auf sich dennoch ruhig erträgt, repräsentirt eben deßwegen jenes Ansich, jenes Unbedingte und Absolute selbst wieder in seiner Person […].51

Aufgrund der eben zitierten These erörtert Schelling seine Philosophie des Tragischen im Abschnitt „Von der Tragödie“ seiner Vorlesungen über die Kunstphilosophie. Seine Erklärung der Tragödie darin lautet: Das Wesentliche der Tragçdie ist also ein wirklicher Streit der Freiheit im Subjekt und der Nothwendigkeit als objektiver, welcher Streit sich nicht damit endet, daß der eine oder der andere unterliegt, sondern daß beide siegend und besiegt zugleich in der vollkommenen Indifferenz erscheinen.52

Diese Eröffnungsrede im einschlägigen Abschnitt seiner Vorlesungen erinnert uns an die Erklärung der Identitätsphilosophie, die in seinem 1801 erschienenen Aufsatz Darstellung meines Systems der Philosophie in dessen Anfang aufgenommen wurde: „Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird.“53 Schellings Erklärung der Tragödie wird hier umgeschrieben in eine Formulierung, die alle ihr vorangegangenen Diskussionen zur aristotelischen Erklärung vom Wesen der Tragödie in Deutschland hinter sich lässt. Ob er wohl freilich seine Tragödien-Deutung in Richtung des schillerschen Gedankens vom Erhabenen herzustellen sucht, führt Schelling das Wesen der Tragödie als Überwindung des Streites zwischen Freiheit und Notwendigkeit in der Form der vollkommenen Indifferenz insbesondere an den Beispielen der Meisterwerke von Sophokles und Aischylos vor. Schelling sagt eingangs von der Schuld des Ödipus, 50 Schelling, SW V, S. 466 f. Zum schellingschen Begriff des Erhabenen in den Vorlesungen ueber die Philosophie der Kunst vgl. Jean-Francois Courtine: Tragödie und Erhabenheit. Die spekulative Interpretation des Kçnig dipus an der Schwelle des absoluten Idealismus. In: Jörg Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 161 – 210, hier S. 191 – 198. 51 Schelling, SW V, S. 467. 52 Schelling, SW V, S. 693. 53 Schelling, AA I,10, S. 116 (SW IV, S. 114).

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daß die tragische Person nothwendig eines Verbrechens schuldig sey (und je höher die Schuld ist, wie die des Oedipus, desto tragischer oder verwickelter). Dieß ist das höchste denkbare Unglück, ohne wahre Schuld durch Verhängniß schuldig zu werden.54

Das „höchste denkbare Unglück“ sei es, so Schelling, „ohne wahre Schuld durch Verhängniß schuldig zu werden“. An welchem Punkt ist Ödipus aber denn nun tatsächlich schuldig? Und warum ist er schuldig? Diese Fragen beantwortet Schelling folgendermaßen: Es ist also nothwendig, daß die Schuld selbst wieder Nothwendigkeit [sey], und nicht sowohl, wie Aristoteles sagt, durch einen Irrthum [sc. gr. "laqt_a], als durch den Willen des Schicksals und ein unvermeidliches Verhängniß oder eine Rache der Götter zugezogen sey. Von dieser Art ist die Schuld des Oedipus.55

Die Schuld Ödipus’ ist für Schelling nicht nur in seinem Irrtum begründet, wie bei Aristoteles die "laqt_a, sondern vielmehr in dem „Willen des Schicksals“ namentlich als „Rache der Götter“. An der aristotelischen Lehre der "laqt_a haben wir oben Zweifel gehegt und vielmehr den Eingriff der Götter in das Schicksal der Helden in den Vordergrund gestellt. Einen ebensolchen Eingriff sehen wir auch im Leben des Ödipus. In seinem Fall haben ihn zwei Orakel zu seinen Handlungen veranlasst: Zum einen weissagt das Orakel dem Laios, – in der Formulierung Schellings – „es sey im Schicksal ihm vorherbestimmt, von der Hand seines und der Jokaste Sohns erschlagen zu werden“.56 Zum anderen ist es das Orakel in Delphi, das auf Ödipus’ Frage nach seiner Herkunft verkündet: „er werde seiner Mutter beiwohnen, ein verhaßtes und den Menschen unerträgliches Geschlecht zeugen, und den eignen Vater erschlagen“.57 Wenn jedoch alles bloß durch „eine Rache der Götter“, die ja die obigen Orakel verkünden, verwirklicht würde, müsste das traurige Drama des Ödipus als einfache Schicksalstragödie gelten, wie z. B. die Trilogie Orestie des Aischylos. Kçnig dipus ist aber, wie bereits gesagt wurde, überhaupt gar keine Schicksalstragödie. Sophokles’ Tragödie ist so konstruiert, dass die Weissagungen der Orakel paradoxer- und ironischerweise gerade durch die Handlungen vollzogen werden, die dem Orakel zu entfliehen suchen. Sie werden, wie auch Schelling be54 55 56 57

Schelling, SW V, S. 695. Schelling, SW V, S. 695. Schelling, SW V, S. 695. Schelling, SW V, S. 695 f.

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merkt, „ihm [nämlich dem Ödipus] selbst unbewusst“58 verwirklicht. Darauf lenkt, wie bekannt, Sigmund Freud mit der Psychoanalyse seine Aufmerksamkeit und prägt den Begriff „Ödipuskomplex“. Die freudsche Analyse spielt meines Erachtens auch in einem anderen Fall eine interessante Rolle, nämlich in dem des unbewussten Versprechers. Sowohl in den Aufsätzen zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) als auch in den Vorlesungen zur Einfhrung in die Psychoanalyse (1916/17) hat Freud zahlreiche Versprecher analysiert. Um einige Beispiele anzuführen: Wenn ein Herr eine Dame auf der Straße mit den Worten anspricht, „Wenn sie gestatten, mein Fräulein, möchte ich Sie begleit-digen“, dachte er offenbar, „er möchte sie gern begleiten, fürchtete aber, sie mit dem Antrag zu beleidigen.“59 Noch ein Beispiel der Antrittsrede eines Professors: „Ich bin nicht geneigt (geeignet), die Verdienste meines sehr geschätzten Vorgängers zu schildern.“60 Oder: „Wenn der Präsident die Sitzung des [österreichischen] Abgeordnetenhauses mit den ersten Worten schließt, anstatt sie zu eröffnen, […]. Er erwartet sich nichts Gutes von der Sitzung und wäre froh, sie sofort wieder abbrechen zu können.“61 Weitere schöne Beispiele dafür findet Freud in Dramen, etwa in Schillers Piccolomini (1. Aufz., 5. Auftr.), in der Trilogie Wallenstein, oder auch in Shakespeares Kaufmann von Venedig (3. Aufz., 2. Sz.)62 – aber leider nicht in Sophokles’ Kçnig dipus. Dort wird in einer entscheidenden Szene ein enthüllender Versprecher des Ödipus geschildert. Nachdem er nämlich von dem blinden Seher Teiresias gehört hat, dass er selbst der Mörder seines Vaters sei,63 fragt er Iokaste nach dem Verlauf des Mordes an Laios. Sie gibt ihm folgende Antwort:64

58 Schelling, SW V, S. 696. 59 Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud. London 31955 ff., Bd. 4, S. 77; vgl. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, In: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 26. 60 Freud: Psychopathologie. In: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 78; vgl. Freud: Vorlesungen. In: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 27. 61 Freud: Vorlesungen. In: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 28; vgl. Freud: Psychopathologie. In: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 67. 62 Vgl. Freud: Psychopathologie. In: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 107 – 109; vgl. Freud: Vorlesungen. In: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 30 – 32. 63 Vgl. Sophokles, König Oidipus, V. 362. 64 Sophokles, König Oidipus, V. 715 f.

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Und ihn erschlagen später fremde Räuber an der Scheide dreier Wagenstraßen (1m tqipka?r "lanito?r), wie man sagt.

Daraus ergibt sich folgender Wortwechsel: Oidipus: Wie faßt nach dem, was ich soeben hörte, Frau, Verwirrung meinen Geist, Erschütterung mein Herz! (xuj/r pk\mga jmaj_mgsir vqem_m) Iokaste: Und welche Sorge regt dich auf, daß du so sprichst? Oidipus: Ich meinte, dies von dir zu hören: Laïos ward an der Scheide dreier Straßen umgebracht (jatasvace_m pq¹r tqipka?r "lanito?r).65

Die letzte Antwort des Ödipus enthält einen kleinen, geringfügigen Unterschied zur sophokleischen Redewendung, der gewöhnlich übersehen wird. Iokaste hat gesagt: „Und ihn erschlagen später fremde Räuber an der Scheide dreier Wagenstraßen (1m tqipka?r "lanito?r)“. Diese Rede wiederholt Ödipus, aber nicht wörtlich: „Laïos ward [bei] der Scheide dreier Straßen umgebracht (jatasvace_m pq¹r tqipka?r "lanito?r)“. Der Unterschied ergibt sich zwischen 1m und pq|r, zwischen ,an‘ und ,bei‘. Dieser kaum auffallende Unterschied bleibt hinter einem größeren, bemerkenswerteren Unterschied verborgen: dem der aktiven Rolle der Iokaste und der passiven Rolle des Ödipus. Dadurch bleibt das Subjekt, der Täter und Mörder verborgen und auch die Wirklichkeitsform der ersten und die optative Form der zweiten (jatasvace_m) sind unterschiedlich. Dieser denkwürdige Unterschied verstärkt, so scheint mir, die Abweichung von 1m und pq|r noch mehr.66 Hier könnte man sich an eine freudsche Ansicht über das Versprechen erinnern: „daß der Effekt des Versprechens vielleicht ein Recht darauf hat, selbst als ein vollgültiger psychischer Akt, der auch sein eigenes Ziel verfolgt, als eine Äußerung von Inhalt und Bedeutung aufgefaßt zu werden.“67 Was war nun das Ziel des ödipus’schen Versprechens? Was äußerte sich dadurch? Mit den Worten des Ödipus selbst war es „der Seele Irrlauf (vuj/r pk\mgla)“ und „Erschütterung des Geistes (j!maj_mgsir vqem_m)“. Zweifel oder Furcht, die sich durch die Weissagung des Teresias als des Vorhersagers im Herzen des Ödipus einnisteten, tragen als entscheidende 65 Sophokles, König Oidipus, V. 726 – 730. 66 Meine Auslegung des einschlägigen Gesprächs zwischen Ödipus und Iokaste stammt aus der Interpretation einer japanischen Untersuchung. Michio Oka: Girischa Higeki to Raten Bungaku [Griechische Tragödie und Lateinische Literatur]. Tokio 1995, S. 22 – 36, hier S. 24 f. 67 Freud: Vorlesungen. In: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 28.

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Faktoren zur dramatischen Wirkung bei und führen zum Schluss zur sozusagen „unschuldigen Schuld“ des Ödipus. Dies bedeutet die Vollendung seines Schicksals. Hierin sieht Schelling den Streit von Freiheit und Notwendigkeit. Seiner Ansicht nach ist dieser Streit „wahrhaft nur da […], wo diese [sc. die Notwendigkeit] den Willen selbst untergräbt, und die Freiheit auf ihrem eignen Boden bekämpft wird.“68 Hier greift Schelling eine damals aktuelle Frage auf, die er bereits in seinen Philosophischen Briefen (1795) gestellt hatte: „wie die griechische Vernunft die Widersprüche ihrer Tragödie ertragen konnte.“69 Die Antwort auf diese Frage – aus der Sicht seiner Vorlesungen ber die Philosophie der Kunst – lautet: Daß ein wahrhafter Streit von Freiheit und Nothwendigkeit nur in dem angegebenen Fall stattfinden kann, wo der Schuldige durch das Schicksal zum Verbrecher gemacht ist, ist bewiesen. Daß aber der Schuldige, der doch nur der Uebermacht des Schicksals unterlag, dennoch bestraft wurde, war nöthig, um den Triumph der Freiheit zu zeigen, war Anerkennung der Freiheit, Ehre, die ihr gebührte.70

Schelling hat erstmals im zehnten und letzten seiner Philosophischen Briefe die griechische Tragödie thematisiert und dann im Abschnitt „Von der Tragödie“ seiner Vorlesungen ber die Philosophie der Kunst das Wesen derselben weiter erörtert. Mit Lore Hühn möchte ich ein Wort von Peter Szondi zitieren: „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen.“71 Szondis Interpretationsperspektive zufolge beginnt „die Geschichte der Theorie des Tragischen“ mit Schellings „Deutung des Kçnig dipus und der griechischen Tragödie“.72 Am Anfang des oben genannten Briefes finden sich Schellings Erläuterungen zur griechischen Tragödie, insbesondere zu Kçnig dipus eine Art Antwort auf jene mehrmals auch in den einschlägigen Vorlesungen dringlich werdende Frage: „Ein Sterblicher – vom Verhängniß zum Verbrecher bestimmt, selbst gegen das Verhängniß 68 69 70 71

Schelling, SW V, S. 696. Schelling, AA I,3, S. 106 (SW I, S. 336). Schelling, SW V, S. 696 f. Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260, hier S. 151. 72 Ebd., S. 157 f. Vgl. Lore Hühn: Die Philosophie des Tragischen. Schellings „Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus“. In: Jörg Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 95 – 128, hier S. 95.

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kämpfend, und doch fürchterlich bestraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schicksals war!“73 Mit den Worten der Vorlesungen: Es ist der größte Gedanke und der höchste Sieg der Freiheit, willig auch die Strafe für ein unvermeidliches Verbrechen zu tragen, […] und noch mit einer Erklärung des freien Willens unterzugehen. Dieß, wie es hier ausgesprochen ist, und wie ich es schon in den Briefen über Dogmatismus und Kriticismus gezeigt habe, ist der innerste Geist der griechischen Tragödie.74

Das unvermeidliche Verbrechen in den alten griechischen Tragödien hat eine ganz andere Bedeutung als das in den Neueren. Es ist die sittliche Bedeutung, die nicht eben absolut schuldlose, sondern überhaupt edle und große Sitten fordert. […] [U]nd das Verbrechen, wenn es in der wahrhaft sittlichen Tragödie vorgestellt ist, erscheint immer selbst durch Schicksal verhängt.

Unter den neuzeitlichen Tragödien begeht es hingegen „ein äusserst ungerechter Mensch“.75 Den Neueren fehlt das Schicksal: [E]s ist […] schon daraus einzusehen, warum die Neueren öfter zu diesem Fall recurrirt haben, große Verbrechen vorzustellen, ohne das Edle der Sitten dadurch aufzuheben, und deßwegen die Nothwendigkeit des Verbrechens in die Gewalt eines unbezwinglichen Charakters zu legen, wie Shakespeare sehr oft gethan hat.76

Als ein passendes Beispiel dafür könnte man den Charakter Iagos in Shakespeares Tragödie Othello anführen.77 Der Fahnenträger Iago stürzt aus Hass und Eifersucht unter trickreicher Zuhilfenahme eines kleinen Taschentuchs, das er der schönen Desdemona entwendet, seinen Herrn Othello in den Abgrund. Dies ist zwar durchaus eine äußerst eindrucksvolle Tragödie, aber doch eine ganz andere als die griechische.

73 74 75 76 77

Schelling, AA I,3, S. 106 (SW I, S. 336). Schelling, SW V, S. 697. Schelling, SW V, S. 701. Schelling, SW V, S. 701 f. In seinem Aufsatz Ueber die tragische Kunst (1792) hat Schiller als Beispiel für die Bösewichte „Shakespears Jago und Lady Makbeth, Kleopatra in der Rodogune, Franz Moor in den Räubern“ angeführt, aber als diejenigen, die „jederzeit der höchsten Vollkommenheit seines [des Urhebers] Werks Abbruch thun“ werden (Friedrich Schiller: Ueber die tragische Kunst. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20, S. 148 – 170, hier S. 155).

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IV. Nach dieser hauptsächlich das sophokleische Werk Kçnig dipus aufmerksam verfolgenden Erläuterung zum Wesen der Tragödie wendet Schelling seine Aufmerksamkeit den Eumeniden des Aischylos zu. Dieses Werk gehört bekannterweise zur Trilogie Orestie; die beiden ersten Werke Agamemnon und Totenspende sind für uns viel dramatischer als das dritte Werk Eumeniden. Trotzdem handelt Schelling vor allem dieses ab, weil es nicht mit dem Untergang, wie Kçnig dipus, sondern mit dem Leben endet.78 In diesem Sinne bilden beide einen scharfen Kontrast. Das Meisterwerk des Aischylos, die Trilogie Orestie, behandelt die Verwicklungen der Blutrache in der königlichen Familie der Atriden. Im ersten Werk Agamemnon verübt die Mutter des Orestes auf dessen Vater einen Anschlag, um für den Tod ihrer Tochter Iphigenie Rache zu üben. Im zweiten Teil Totenspende übt sein Sohn dafür Vergeltung, so dass im dritten Werk Eumeniden die rächenden Göttinnen Erinnyen ihm wegen der Ermordung seiner Mutter nach dem Leben trachten. Anhand der alten Mythen und Sagen über die Rachegöttinnen erzählt Aischylos die Tragödie dieser Familie. Die zwei ersten Werke appellieren vor allem an den Gerechtigkeitssinn der Zuschauer, der sich auf das Konzept der Vergeltung oder der Schicksalsstrafe bezieht. Die Chorführerin in der Totenspende erklärt: Die Worte des Hasses seien gesühnt Mit Worten des Hasses! Dike ruft Es laut, die fällige Schuld eintreibt. Und blutigen Schlag soll blutiger Schlag Bezahlen. Es leide der Täter! So Verkündet ein dreimal alter Spruch.79

In diesem Sinne könnte man die Eumeniden in der Terminologie Schellings als äußerliche, notwendige Tragödie bezeichnen, die im Gegensatz steht zur innerlichen Tragödie des Sophokles. Diese Seite seines Werkes haben wir oben mit der freudschen Auslegung beleuchtet. Im Gegensatz zu Ödipus hat Orestes persönlich kein Gefühl seiner Schuld oder Furcht vor der Ermordung seiner Mutter, denn der Gott Apollo hat es ihm befohlen, und er muss seinem Befehl bloß folgen. Orestes, der vor 78 Vgl. Schelling, SW V, S. 698. 79 Aischylos, Die Orestie, Die Totenspende, V. 310 – 315 (Die Orestie wird zitiert nach: Aischylos: Die Orestie. Agamenmnon – Die Totenspende – Die Eumeniden. Dt. u. m. ein. Nachw. v. Emil Staiger. Stuttgart 31987).

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dem Heiligtum auf der Akropolis in Athen aufgetreten ist, sagt in den Eumeniden eben darum zur Göttin Athena: Herrin Athene! Weil Apoll es mir befahl, Bin ich gekommen. Nimm den Freveler gnädig auf. Nicht Sühne heischend komm ich, nicht mit blutger Hand. Denn schon verbraucht ist meine Schuld und abgestumpft In vieler Menschen Wohnstatt und auf manchem Pfad, Den ich auf festem Lande zog und übers Meer.80

Dem Abschnitt „Von der Tragödie“ folgt der Abschnitt „Ueber Aeschylos, Sophokles, Euripides“, worin „Euripides von den beiden ersten in mehr als einer Beziehung abgesondert“ wird.81 „Das Wesen der ächten Aeschyleischen und Sophokleischen Tragödie ist durchaus auf jene höhere Sittlichkeit gegründet, welche der Geist und das Leben ihrer Zeit und ihrer Stadt war.“82 Darauf geht auch Hegel – fast zur gleichen Zeit – in seiner Abhandlung Naturrecht (1802/03) ein: Das Bild dieses Trauerspiels, näher für das Sinnliche bestimmt, ist der Ausgang jenes Prozesses der Eumeniden als der Mächte des Rechts, das in der Differenz ist, und Apollos, des Gottes des indifferenten Lichtes, über Orest vor der sittlichen Organisation, dem Volke Athens […].83

Von dem Standpunkt der Dramaturgie der Tragödie als Geschichte des Leids hatte Aristoteles Euripides „als de[n] tragischste[n] unter den Dichtern“ hochgeschätzt.84 Im „Geist der Musik“ hingegen wird Euripides bekanntermaßen von Nietzsche als „[F]revelnder“ gebrandmarkt, weil der Mythos in seiner Hand eines gewaltsamen Todes stirbt.85 „[D]ie Tragödie ist todt! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen“.86 Die Alltäglichkeit tritt auf die Bühne. „Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoffnungen aufbaute, kam jetzt zu Wort“.87 Diese Verurteilung durch Nietzsche ahnt den Aufzug der politischen Moderne voraus. In den Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte sagt Hegel:

80 81 82 83 84 85 86 87

Aischylos, Die Orestie, Die Eumeniden, V. 235 – 240. Schelling, SW V, S. 708. Schelling, SW V, S. 708. Hegel, NR, TWA 2, S. 495. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a26 – 29. Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 74. Nietzsche, GT 11, KSA 1, S. 75. Nietzsche, GT 11, KSA 1, S. 77.

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Napoleon, als er einst mit Goethe über die Natur der Tragödie sprach, meinte, daß sich die neuere von der alten wesentlich dadurch unterscheide, daß wir kein Schicksal mehr hätten, dem die Menschen unterlägen, und daß an die Stelle des alten Fatums die Politik getreten sei.88

Aber zurück zu Schellings Einschätzung der euripideischen Tragödien. Die Tragödien des Sophokles und des Aischylos sind mit ihrem Thema der Sittlichkeit ganz anders strukturiert als die euripideischen Tragödien. „Die hohe sittliche Stimmung ist vorbei“.89 Das Tragische ruht in ihren Werken [jenen des Sophokles und des Aischylos] nie auf dem bloß äußeren Unglück; die Nothwendigkeit erscheint vielmehr mit dem Willen selbst in unmittelbarem Streit und bekämpft ihn auf seinem eignen Boden.90

Von diesem Standpunkt aus lenkt Schelling seine Aufmerksamkeit vor allem auf das Werk Prometheus und begründet dessen Leiden so: Der Prometeus des Aeschylos leidet nicht bloß durch den ußeren Schmerz, sondern viel tiefer durch das innere Gefühl des Unrechts und der Unterdrückung, und sein Leiden äußert sich nicht als Unterwerfung, […] sondern […] als Trotz, als Empörung, und eben dadurch siegt hier die Freiheit über die Nothwendigkeit, daß ihn im Gefühl seines persçnlichen Leidens doch nur die allgemeine Empörung gegen die unerträgliche Herrschaft des Jupiters bewegt.91

In diesem Sinne gilt für Schelling der Prometheus als „das Urbild des größten Menschencharakters“ und dadurch auch als „das wahre Urbild der Tragödie“.92 Bei seinem Vergleich der drei Tragiker sieht Schelling bei Sophokles und Aischylos bezüglich der Innerlichkeit der Handlung eine Gemeinsamkeit: „Was beiden, dem Sophokles und Aeschylos gemein ist, ist […], daß die Handlung nie bloß äußerlich, sondern innerlich und äußerlich zugleich geschlossen ist.“93 Unserer Meinung nach unterscheiden sich die beiden also darin, dass der erste die Handlung innerlich oder subjektiv darstellt; der zweite hingegen vor allem in den Eumeniden äußerlich oder objektiv arbeitet. Was das Werk Prometheus betrifft, so mag man daran Zweifel hegen, ob es tatsächlich ein Werk des Aischylos ist, weil der 88 89 90 91 92 93

Hegel, PhGesch, TWA 12, S. 339. Schelling, SW V, S. 709. Schelling, SW V, S. 708. Schelling, SW V, S. 708 f. Schelling, SW V, S. 709. Schelling, SW V, S. 709.

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Göttername des gewaltsamen Tyranns „Jupiter“ in diesem Werk mit jenem seiner restlichen Werke nicht übereinstimmt. Der Charakter des Prometheus als das Symbol des Rebellen gegen den tyrannischen Machthaber ist überdies dem der Tochter Ödipus’, Antigone, ähnlich. Der Grund für die Differenz zwischen unserem und dem schellingschen Urteil liegt aber im Begriff des Erhabenen, dem Schelling, wie oben gesehen, große Bedeutung beimisst. Den Charakter des Erhabenen verkörpern prächtige Götterfiguren, wie jene des Prometheus, aber auch Heldenfiguren, wie jene des Ödipus. In den Handlungen des Ödipus und des Prometheus von Sophokles und Aischylos dargestellt, demonstrierte Schelling die Gemeinsamkeit der Innerlichkeit der Handlungen. Später stellt auch Nietzsche in seiner Geburt der Tragçdie einen Vergleich zwischen beiden Stücken an: Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige O e d i p u s , ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist […].94

Die im genannten sophokleischen Werk dargestellten „ungeheure[n] Naturwidrigkeiten“ des Vater-Mörders und Mutter-Gatten sieht Nietzsche als die „Glorie der Passivität“ an und vergleicht sie mit der „Glorie der Activität“ im Prometheus des Aischylos. Seine Aktivität ist der „eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit“, ähnlich dem PrometheusGedicht Goethes.95 „Der titanische Künstler [d.i. Aischylos] fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können“.96 Im letzten Aufzug der Eumeniden wird in Areopagus Gericht gehalten über Orestes und seine Schuld und die Göttin Pallas Athene spricht ihn frei. Erst damit endet die Kette von Blutrache und Vergeltung in der königlichen Familie der Atriden. Die rächenden Erinnyen, als „die Göttinnen des Schicksals und der Nothwendigkeit“ sind „versöhnt und von nun an unter dem Volk der Athene als göttliche Mächte verehrt“, wodurch die Erinnyen von Rachegöttinnen zu den Eumeniden, zu wohltätigen Göttinnen verwandelt sind. Schelling sieht hierin ein „Gleichgewicht des Rechts und der Menschlichkeit, der Nothwendigkeit und der Freiheit“.97 Eben dieses Gleichgewicht war für ihn nichts anderes als „die Hauptsache der Tragödie“, denn „dadurch erst verklärt 94 95 96 97

Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 65. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 67 f. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 68. Schelling, SW V, S. 698.

Freiheit und Notwendigkeit

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sich die Freiheit zur höchsten Identität mit der Nothwendigkeit.“98 Auch hier, nämlich am Ende seiner Erläuterungen zum Wesen der Tragödie, ist die identiätsphilosophische These Schellings der absoluten Identität oder der totalen Indifferenz vom Subjektiven und Objektiven zu finden. Der Schlussgesang des Chors lautet: Freude und Friede (wa_qete, wa_qete) mit euch! Ich wünsch es wieder mit doppeltem Wort. Götter und Menschen zumal, Die bewohnen die Stadt, Die Stadt der Pallas Athene: Mein Hausen in euerer Mitte ehrt Mit frommem Gemüt, so werdet ihr nie Des Lebens Läufte verdammen.99

Im Jubel des Anfangsrufes (wa_qete) ist – so Andreas Zierl – der Schrecken überwunden. […] Zugleich mit dem Sieg des Guten über das Wehe, des eO über das aU, wird auch der Zwiespalt zwischen den Personen aufgehoben. Gemeinschaft erreicht ihre höchste Qualität im Wohlwollen und der guten Gesinnung der Bürger und ihren größten Umfang […].100

Der Zug, den der Chor in den Eumeniden andeutet, gehört, – so auch Schelling – zu der hohen und unerreichten sittlichen Stimmung, in der diese ganze Tragödie gebildet ist, da der Chor in gewissem Sinn die objektivirte Reflexion der Zuschauer selbst und mit ihnen einverstanden ist, Aeschylos also hier die Zuschauer als auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit stehend annahm.101

Die ganz symbolische Bedeutung des Chors liegt, Schelling zufolge, in der Indifferenz und Unparteilichkeit desselben. Von diesem Standpunkt her kritisiert er die Einführung des Chors in Schillers Stück Die Braut von Messina: „Aus dieser Indifferenz und Unparteilichkeit des Chors sieht man das Mißlungene der Nachahmung desselben in Schillers Braut von Messina.“102 Schelling akzeptiert jedoch eine gewisse Rolle des Chors in seiner Zeit. Er sagt zum Schluss des Abschnittes „Von der Tragödie“ in seinen kunstphilosophischen Vorlesungen: „Endlich auch die große Last neuerer Dichter, das Theater nie leer zu lassen, ist durch den Chor 98 99 100 101 102

Schelling, SW V, S. 699. Aischylos, Die Orestie, Die Eumeniden, V. 1014 – 1020. Zierl: Affekte in der Tragödie, S. 218. Schelling, SW V, S. 706 f. Schelling, SW V, S. 707.

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hinweggenommen.“103 Die vom Chor getragene Tragödie als eine Form der Dichtkunst räumt auch in der schellingschen Kunstphilosophie eine gegenüber der Poesie, der Lyrik und dem Epos herausragende Stellung ein: Das Drama ist endlich unter diesen drei Formen die einzig wahrhaft symbolische, eben dadurch, daß sie ihre Gegenstände nicht bloß bedeutet, sondern selbst vor Augen stellt. Es entspricht also der plastischen Kunst unter den redenden Künsten, und schließt als die letzte Totalität ebenso diese Seite der Kunstwelt, wie die Plastik die andere [der Musik und der Malerei] geschlossen hat.104

103 Schelling, SW V, S. 707. 104 Schelling, SW V, S. 707 f.

Die Notwendigkeit des Scheiterns oder das Tragische als Struktur der Philosophie Schellings Katia Hay In Shakespeares A Midsummer’s Night Dream führt eine Truppe von Theaterdarstellern eine Komödie vor dem Herzog Theseus und der Königin Hippolyta auf: Ein Kavalier bringt sich voreilig aus Liebe um, weil er denkt, seine Geliebte sei tot. Aber sie, die schöne Jungfrau, war nicht tot. Doch als sie das Blut ihres Geliebten sieht, stürzt sie sich auf sein Schwert und stirbt.1 Das heißt, am Ende sind beide wegen eines dummen, eines fatalen Missverständnisses tot. „Dies ist das dümmste Zeug, das ich je gehört habe“,2 sagt die Königin Hippolyta. Es ist sicherlich zweifelhaft, inwiefern das von den Komödianten inszenierte Theaterstück wirklich komisch ist, vor allem wenn man bedenkt, dass die Tragödie von Romeo und Julia dasselbe Ende wie dieses Lustspiel aufweist und sogar auf dieselbe Quelle, nämlich auf die Legende von Pyramus und Thisbe zurückgeht.3 Die Frage zu beantworten, ob die Szene wirklich komisch ist, ist gewiss nicht das Ziel dieses Aufsatzes; wohl aber, auf die Frage an sich aufmerksam zu machen. Denn sie weist auf die simple, doch oftmals übersehene Tatsache hin, dass es unklar ist, ob das dargestellte Drama an sich tragisch oder komisch ist, dass wir sogar in verschiedenen Situationen dieselbe Geschichte für tragisch und/oder komisch halten können. Gerade diese unvermeidliche Ambiguität sollten wir nicht übersehen, wenn wir über die Philosophie des Tragischen zu sprechen versuchen. Denn letzten Endes bedeutet dies, dass das Tragische keineswegs von irgendeinem Plot und damit von der in einer Tragödie 1 2 3

Vgl. William Shakespeare: A Midsummer Night’s Dream. In: Stephen Greenblatt u. a. (Hg.): The Norton Shakespeare. Based on the Oxford Edition. New York 1997, S. 805 – 863, hier Akt 5.1, S. 851 – 861. Ebd., Akt 5.1, V. 207, S. 855 [Übers. v. Verf.]: „This is the silliest stuff that ever I heard“. Vgl. ebd., Akt 1.2, V. 9 – 10, S. 820: „Quince: Marry, our play is The Most Lamentable Comedy and Most Cruel Death of Pyramus and Thisbe“. Vgl. dazu Stephen Greenblatt: Romeo and Juliet. In: ebd., S. 865: „In Romeo and Juliet, whose climax closely resembles that of Pyramus and Thisbe“, the „tragedy is unusually dependent on coincidence, mischance, and accident“.

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dargestellten Handlung allein abzuleiten ist, sondern dass es zumindest in Zusammenhang mit einer gewissen Interpretation oder als Resultat einer bestimmten Einstellung gegenüber derselben entsteht, die sowohl vom Text als auch vom Zuschauer abhängig ist. Das Tragische, welches freilich ohne die Tragödie unbegreifbar wäre,4 ist also keine notwendige Folge der Tragödie, es gehört weder der Tragödie noch dem Betrachter allein, weder dem Objekt noch dem Subjekt allein an, sondern entsteht zwischen den beiden, d. h. in der Auslegung. Wenn also behauptet wird, Schelling sei der Erfinder oder Pionier einer Philosophie des Tragischen, sollte man nicht vergessen, dass Schelling hiermit zum Erfinder einer bestimmten Lektüre der Tragödie geworden ist. Szondi macht dies auch klar, indem er sagt, dass mit Schellings „Deutung des Kçnig dipus und der griechischen Tragödie […] die Geschichte der Theorie des Tragischen“5 beginne. Zugleich bedeutet dies also, dass es ohne eine genaue Betrachtung von Schellings eigenartiger und in keinem Sinn selbstverständlicher Auslegung der Tragödie unmöglich wird, den Begriff des Tragischen auch nur mit einer minimalen Präzision zu verstehen. Doch dies ist wiederum fundamental, wenn jene allgemein akzeptierte Aussage – seit Schelling gäbe es zum ersten Mal eine Philosophie des Tragischen6 – etwas bedeuten soll, bzw. überhaupt etwas über Schellings Philosophie sagt. Im zehnten seiner Philosophische[n] Briefe ber Dogmatismus und Kritizismus von 1795 bezieht sich Schelling zum ersten Mal auf die Tragödie, genauer auf die sophokleische Tragödie des Kçnig Oedipus. 7 Deswegen

4 5 6 7

Vgl. dazu Henri Gouhier: Le Théâtre et l’Existence. Paris 1991. Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese, Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260, hier S. 157 f. [Herv. v. Verf.]. Vgl. ebd., S. 151: „Seit Aristoteles gibt es eine Poetik der Tragödie, seit Schelling erst eine Philosophie des Tragischen“. Schelling sagt zwar nicht, dass er sich auf Kçnig Oedipus bezieht, doch seine Deutung der griechischen Tragödie zeigt, dass er sich auf dieses Stück bezieht, was er in der Philosophie der Kunst erhellt. Vgl. Schelling, AA I,3, S. 106 (SW I, S. 336): „Man hat oft gefragt, wie die griechische Vernunft die Widersprüche ihrer Tragödie ertragen konnte. Ein Sterblicher – vom Verhängniß zum Verbrecher bestimmt, selbst gegen das Verhängniß kämpfend, und doch fürchterlich bestraft für das Verbrechen, das ein Werk des Schicksals war! Der Grund dieses Widerspruchs, das, was ihn erträglich machte, lag tiefer, als man ihn suchte, lag im Streit menschlicher Freiheit mit der Macht der objektiven Welt, in welchem der Sterbliche, wenn jene Macht eine Uebermacht – (ein Fatum) – ist, nothwendig

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gilt der Brief als der erste philosophische Text, in dem das Tragische überhaupt thematisiert wird.8 Doch genauer besehen geht es in den Briefen weder darum, die Tragödie systematisch auszulegen, noch darum, das Tragische zu entziffern.9 Schelling nimmt hier die Tragödie vielmehr als illustratives Beispiel für dasjenige, was niemals in der durch das Licht der Vernunft aufgeklärten Welt vorkommen kann oder vielleicht eher nicht vorkommen sollte, nämlich eine absolut unbezwingliche fatale Notwendigkeit. Schelling bezieht sich also auf die Tragödie, um die Position der Vernunft, der „hçchste[n] Vernunft“10 gegenüber dem Dogmatismus und dem Kritizismus zu erläutern.11 In der Tat, eine vollständige Deutung der Tragödie und einen ausgeführten Begriff des Tragischen stellt Schelling erst in seinen späteren Jenaer und Würzburger Vorlesungen ber die Philosophie der Kunst dar.12 Und obwohl Schelling sich selber auf seine

8 9 10 11

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unterliegen, und doch, weil er nicht ohne Kampf unterlag, für sein Unterliegen selbst bestraft werden mußte.“ Mindestens seit Peter Szondis Versuch ber das Tragische gilt Schellings zehnter Brief als der erste philosophische Text, in dem das Tragische philosophisch thematisiert wird. Vgl. dazu Marc Escola: Le tragique. Paris 2002, S. 22. Das Wort ,tragisch‘ kommt in den Briefen überhaupt nicht vor. Schelling, AA I,3, S. 110 (SW I, S. 340). Die Tragödie bzw. die Kunst wird in den Briefen als der einzige Ort beschrieben, wo eine solche absolut vernichtende Macht wie das Fatum der griechischen Tragödien erscheinen kann. „Sie haben doppelt Recht, mein Freund, weil diese Möglichkeit [d.h. die Möglichkeit einer die Freiheit absolut vernichtenden Macht], auch dann noch, wenn sie vor dem Lichte der Vernunft verschwunden ist, doch für die Kunst – für das Höchste in der Kunst – aufbewahrt werden muß“ (Schelling, AA I,3, S. 106 (SW I, S. 336)). Vgl. dazu Wolfgang Janke: Vom Bilde des Absoluten. Berlin/New York 1993, S. 90 f.: „Vielleicht ist die These der Schellingschen ,Briefe‘, Kunst sei die stille Hingabe an das Unfassliche, Ruhe im Arme der Welt – aber nicht die wahre Vereinigung des Widerstreits, sondern nur die andere, rein ästhetische Seite des konsequenten Dogmatismus in seiner stillen Hingabe ans absolute Objekt […], wirklich ein Echo davon.“ Vgl. dazu Lore Hühn: Die Philosophie des Tragischen. Schellings „Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus“. In: Jörg Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein. Erkenntnisbegründung und Philosophie des Tragischen beim frühen Schelling. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, S. 95 – 128, hier S. 95 f.: „Anders als in den Jenaer und Würzburger Vorlesungen ber die Philosophie der Kunst, welche die Tragödie und das Tragische im Kontext einer Analytik des Erhabenen behandeln, demonstriert der Zwanzigjährige hier nicht, daß die Tragödie in der Hierarchie der poetischen Gattungen die höchste Kunstform darstellt […]. Er handelt von der sophokleischen Darstellung des tragischen Geschehens nämlich, weil diese in seinen Augen das Paradigma dafür vorgibt, die Philosophie seiner eigenen Zeit in ihrer ganzen Negativität als eine selbstwidersprüchliche charakterisieren zu können“.

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vorherige Auslegung der Tragödie in den Briefen bezieht, ist seine neue Deutung von 1803 nicht eins zu eins identisch mit der von 1795. Im Gegenteil, wie man vielleicht zu oft übersehen hat, sind die Differenzen zwischen den beiden Deutungen, wenn nicht enorm, so doch jedenfalls denkwürdig. Nun möchte ich hier aber nicht auf diese Differenzen gründlich eingehen, denn es geht mir nicht nur darum, zu zeigen, wie die Philosophie des Tragischen, d. h. die Philosophie über das Tragische, bei Schelling zu deuten ist. Eigentlich geht es mir vielmehr darum, zu zeigen, dass das Tragische in der Philosophie Schellings und bis zu einem gewissen Grade auch die Kunst insgesamt aufhören, Thema des philosophischen Diskurses zu sein, indem die Philosophie selber Subjekt des Tragischen, d. h. also Subjekt eines tragischen Prozesses wird. In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass eine der wichtigsten Differenzen zwischen Schellings Auslegungen der Tragödie darin besteht, dass die in der Tragödie durchgeführte Handlung, die in den Briefen niemals auf das menschliche Handeln übertragbar ist,13 in der Philosophie der Kunst zu Darstellung und Modell der sittlichen, menschlichen Handlung überhaupt wird.14 In der Philosophie der Kunst ist der Held keine rein fiktive Figur, kein Titan mehr, sondern Symbol des Menschen. Im Folgenden wird das Tragische, wie oben schon angedeutet, weder als Thema oder als reines Objekt der Philosophie Schellings gedacht, noch als ein bloßes (subjektives) Beiwort seines Denkens, sondern als Struktur, als innere Logik der Philosophie, indem diese sich auf der ewigen Suche nach sich selbst befindet, oder genauer gesagt: indem sie ständig auf der 13 Vgl. Schelling, AA I,3, S. 108 (SW I, S. 338): „[E]in solcher Kampf ist auch nur zum Behuf der tragischen Kunst denkbar: zum System des Handelns könnte er schon deßwegen nicht werden, weil ein solches System ein Titanengeschlecht voraussetzte, ohne diese Voraussetzung aber, ohne Zweifel zum größten Verderben der Menschheit ausschlüge.“ Vgl. dazu Lore Hühn: Die Philosophie des Tragischen, S. 122: „Es wird allzu häufig übersehen, daß er [Schelling] dem tragischen Schauspiel etwas zutraut, was im Bereich unseres ethischen Handelns nur mit absurd anmutenden Konsequenzen vollzogen werden kann“. Vgl. auch Xavier Tilliette: Schelling. Une Philosophie en devenir. Bd. 1: Le Système vivant, 1794 – 1821. Paris 1970, S. 102: „Assurément la lumière de la raison dissipe la possibilité tragique; mais la menace de la puissance objective demeure; en outre elle est indispensable à l’art“. 14 So sagt Schelling hier, dass der Held und das, was der Held in der Tragödie erfährt, nur durch eine menschliche Natur repräsentiert werden kann: „Im Allgemeinen also ist die menschliche Natur das einzige Mittel der Darstellung jenes Verhältnisses“ (Schelling, SW V, S. 691). Vgl. auch Schelling, SW V, S. 699.

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Suche nach der Darstellung, nach dem vollkommenen Ausdruck oder dem vollkommenen Text ist. Anders gewendet: ich möchte den Begriff des Tragischen (so wie Schelling diesen in der Philosophie der Kunst deutet) als Mittel darstellen, um die Philosophie Schellings und vor allem deren viel diskutierte, aber in vieler Hinsicht noch keineswegs enthüllte Entwicklung oder besser gesagt: Genealogie erneut zu verstehen. Dafür werde ich mich nun hauptsächlich auf die Philosophie der Kunst und auf die Freiheitsschrift beziehen. Die allgemeine Voraussetzung der Philosophie der Kunst ist, dass jedes einzelne Kunstwerk eine reale Darstellung des Absoluten ist, oder, um eine Wendung aus dem System des transzendentalen Idealismus aufzugreifen, dass jedes Kunstwerk die endliche Darstellung des Unendlichen ist.15 Nur sofern die Kunst das absolut Ewige oder das göttliche Eine reflektiert, ist sie Gegenstand der Philosophie. Das heißt also, dass der Rahmen, in welchem sich Schellings Auseinandersetzung von 1803 mit der griechischen Tragödie bewegt, auf der Frage nach den Bedingungen einer realen Darstellung des Absoluten bzw. der Identität oder Indifferenz zwischen Freiheit und Notwendigkeit beruht.16 Für unsere jetzige Analyse ist entscheidend zu bemerken, dass diese Identität, welche die Tragödie nach Schellings Deutung darstellt und welche den Grund ausmacht, warum die Tragödie die höchste Darstellung des Absoluten überhaupt ist, keine Identität ist, die der Künstler oder das Kunstwerk an sich erreichen. Sie ist vielmehr diejenige Identität, welche der Tragödienheld selber durch eine bestimmte Handlung realisiert. Das heißt, eine Identität, die nur in der Realisierung möglich ist und nur in der Realisierung sichtbar wird. Wäre der Prozess nicht, so wäre sie nicht. Daher die Bedeutsamkeit und Perfektion des Dramas (im Gegensatz zum Epos z. B.) im Hinblick auf eine 15 Vgl. Schelling, AA I,9,1, S. 321 (SW III, S. 620): „[D]as Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit […], und ohne Schönheit ist kein Kunstwerk.“ 16 Es wird in der Tat immer schwieriger, Schellings Begriffe von Identität und Indifferenz stringent voneinander zu unterscheiden. Nicht nur, weil sie in den verschiedenen Texten verschiedene Bedeutung gewinnen, sondern auch, weil sie in der Philosophie der Kunst selber manchmal keine spezifische Differenz zu haben scheinen. Im Allgemeinen verhält es sich jedoch so, dass es das Absolute oder die Identität ist, was dargestellt wird, die Indifferenz dagegen eher auf die Weise hindeutet, in der jenes Absolute überhaupt darstellbar ist. Insofern können wir nun behaupten, dass der Held in sich selbst jene Identität finden muss, denn „dadurch erst verklärt sich die Freiheit zur höchsten Identität mit der Nothwendigkeit“ (Schelling, SW V, S. 699). Das Ausdrücken oder Darstellen dieses Gefundenen (dieses Urbilds, vgl. Schelling, SW V, S. 379 f.) ist nur durch Indifferenz oder in der Form der Indifferenz möglich.

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gelingende Darstellung des Absoluten.17 Und hiermit wird vielleicht zum ersten Mal in Schellings Philosophie deutlich, dass die Identität zwischen Freiheit und Notwendigkeit gerade nicht etwas sein kann, das immer schon vorhanden ist oder vorhanden war, sondern als etwas zu sehen ist, das realisiert werden muss, und dass diese Realisierung nur in der Tragödie wirklich dargestellt werden kann bzw. dass diese Realisierung, die sowohl als Handeln als auch als Erleuchtung oder Erkenntnis zu verstehen ist, notwendig tragisch ist. Der Moment der Realisierung der Identität, der Moment, in dem die Freiheit der Notwendigkeit gleich wird, wird von Schelling als der wahrhaft tragische Moment der Tragödie und zugleich als der absolute Triumph der Freiheit gekennzeichnet: Daß das überlegte und freie Verbrechen gestraft wird, ist nicht tragisch. Daß ein Schuldloser durch Schickung unvermeidlich fortan schuldig werde, ist, wie gesagt, an sich das höchste denkbare Unglück. Aber daß dieser schuldlose Schuldige freiwillig die Strafe übernimmt, dieß ist das Erhabene in der Tragödie, dadurch erst verklärt sich die Freiheit zur höchsten Identität mit der Notwendigkeit.18

Goethe schrieb einmal in einem Brief: „dass Ödipus sich die Augen ausreißt, ist eine Dummheit“.19 In Schellings Analyse hingegen bekommt diese Handlung eine viel wichtigere Bedeutung: denn sie wird als eine freiwillige Bestrafung betrachtet und darum als Beweis und Ausdruck des höchsten Siegs der Freiheit interpretiert.20 Dass Ödipus sich selbst blendet, wird in Schellings Auslegung als Entäußerung und Realisierung der Freiheit und zugleich als der wesentlich tragische Moment der Tragödie gedeutet. 17 Die Indifferenz kann nur als ein durch wahren Widerstreit sich realisierender Prozess dargestellt werden und ihre Darstellung selbst muss diesen Charakter des Prozesses oder der Entwicklung bewahren. Das Drama stellt die Handlung im Handeln, im Geschehen selbst dar; d. h. wie und whrend sie geschieht, und nicht als etwas schon Gegebenes, das heißt also: weder in der objektiven Form einer Erzählung noch in der subjektiven Form der lyrischen Dichtung, sondern in der Form der reinen Darstellung. Vgl. Schelling, SW V, S. 692 f. 18 Schelling, SW V, S. 699. 19 Johann Wolfgang von Goethe: Gespräche mit Riemer. Zitiert nach: Hellmut Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen. München 2000, S. 117. 20 Vgl. Schelling, SW V, S. 696 f.: „Daß aber der Schuldige, der doch nur der Uebermacht des Schicksals unterlag, dennoch bestraft wurde, war nöthig, um den Triumph der Freiheit zu zeigen, war Anerkennung der Freiheit, Ehre, die ihr gebührte.“

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Die Selbstblendung und somit das Indifferent-Werden ist Schellings Deutung zufolge also keinesfalls als Resignation im Sinne Schopenhauers21 oder als Proklamation des Fatalismus zu verstehen, sondern als ein freier Akt, welcher nur durch eine freie Entscheidung und eine absolute Entschlossenheit – durch „Gesinnung“, sagt Schelling22 – möglich ist. Durch Gesinnung muss die Freiheit über das unvermeidliche Übel des Schicksals siegen. Doch dieser Sieg darf kein Triumph werden, in welchem die Notwendigkeit von der Freiheit gänzlich vernichtet wird (weil hiermit überhaupt keine wahre Indifferenz mehr denkbar wäre), sondern ein Sieg, in welchem beide, Freiheit und Notwendigkeit, „zugleich als siegend und als besiegt, und demnach in jeder Rücksicht als gleich hervorgehen“.23 Der wahre Sieg der Freiheit muss zugleich die Realisierung der Identität oder Indifferenz zwischen Freiheit und Notwendigkeit sein, denn die Notwendigkeit durch Gesinnung zu besiegen, bedeutet nicht, die Notwendigkeit zu verneinen, sondern sie zu akzeptieren. Doch diese Annahme darf wiederum nicht die Annahme einer absolut vernichtenden Notwendigkeit sein, nach der kein freier Akt möglich wird, sondern sie ist als eine der Quelle der Freiheit selbst inhärierende Notwendigkeit anzunehmen.24 Anders gewendet, um die Strafe freiwillig zu übernehmen, konnte Ödipus die Notwendigkeit oder Unvermeidbarkeit seines fatalen Irrtums, seiner Hamart a, keinesfalls als das Resultat einer die Freiheit vernichtenden äußerlichen Macht denken (als übermenschliches Fatum), als ob äußere Kräfte ihn verdammt hätten, sondern er musste sie als eine innerliche, aus ihm selbst stammende Notwendigkeit verstehen. Er 21 Im Vergleich z. B. zu Schopenhauers Lektüre, für den gilt: „Was allem Tragischen, in welcher Gestalt es auch auftrete, den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt, ist das Aufgehen der Erkenntniß, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unsere Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin“ (Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 37, S. 504; Schopenhauer wird zitiert nach: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus nach den Ausgaben letzter Hand. Zürich 1988). 22 Vgl. Schelling, SW V, S. 691 – 698. 23 Schelling, SW V, S. 690. Hier heißt es weiter: „Die höchste Erscheinung der Kunst ist also, da Freiheit und Nothwendigkeit die hçchsten Ausdrücke des Gegensatzes sind, der der Kunst überhaupt zu Grunde liegt, – diejenige, worin die Notwendigkeit siegt, ohne daß die Freiheit unterliegt, und hinwiederum die Freiheit obsiegt, ohne daß die Nothwendigkeit besiegt wird.“ 24 Nur weil Ödipus das Böse getan hat, und nur nachdem er dies als solches erkennt, kann er überhaupt frei bzw. gut handeln wollen. Die Notwendigkeit des Bösen ist also der Grund der Freiheit, was Schelling in der Freiheitsschrift ausgeführt hat.

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musste das ungewollte und unbewusste Verbrechen, den Grund seines Irrtums, als ein gewolltes, d. h. als einen von ihm selbst her stammenden Trieb und damit als Gewolltes denken. Nun bedeutet diese ,Innerlichkeit‘ des Schicksals aber nicht etwa, dass das Schicksal, das Übel, in den Tragödien niemals als eine äußere Gewalt auftaucht, sondern dass es im Kampf, im Prozess selber verinnerlicht werden muss. Die Größe des Tragödienhelden besteht also zunächst in seinem Vermögen, dieses Schicksalhafte zu internalisieren bzw. das Notwendige mit der Freiheit in sich selber gleichzusetzen; oder anders gesagt, die scheinbar unüberwindbare Macht des dunklen Fatums als eine mit der Freiheit indifferente und durch seine Gesinnung überwundene Notwendigkeit aufzufassen.25 Gerade diese Verinnerlichung macht die wahre Aufgabe oder den Prozess des Helden aus und ist zugleich das Kennzeichnende von Schellings Tragödieninterpretation. Aufgrund dieser Verinnerlichung z. B. billigt Schelling der griechischen Tragödie eine höhere Würde als der modernen Tragödie zu, wo der Held vollkommen unfähig ist, gegen das Schicksal zu kämpfen, und dies eben darum, weil das Schicksal absolut unbesiegbar ist.26 Fernerhin, dass das Schicksal keine absolut vernichtende, von äußeren Mächten auferlegte Gewalt ist, ist genau derjenige Aspekt, der Schelling ermöglicht, die Tragödie als Repräsentation menschlicher Handlung zu verstehen.27 Andererseits ist die Freiheit nach der Übernahme der Notwendigkeit die mit ihr indifferent gewordene Freiheit, eine ganz andere Form von Freiheit als diejenige, mit der Ödipus seinen Vater (selbst als er die Prophezeiung mutwillig zu vermeiden versuchte) ermordete.28 Denn dass Ödipus sein Schicksal völlig unbewusst erfüllte, bedeutet keineswegs, dass 25 Vgl. Schelling, SW V, S. 708 f.: „Das Tragische ruht in ihren Werken nie auf dem bloß äußeren Unglück […]. Der Prometheus des Aeschylos leidet nicht bloß durch den ußeren Schmerz, sondern viel tiefer durch das innere Gefühl des Unrechts […], und sein Leiden äußert sich nicht als Unterwerfung, […] sondern […] als Trotz, als Empörung“. 26 Vgl. Schelling, SW V, S. 720: „An die Stelle des alten Schicksals tritt bei ihm [Shakespeare] der Charakter, aber er legt in diesen ein so mächtiges Fatum, daß er nicht mehr für Freiheit gerechnet werden kann, sondern als unüberwindliche Nothwendigkeit dasteht.“ 27 Dort, wo Schelling das Schicksal der Tragödie als eine unbesiegbare Macht konzipiert, nämlich in den Briefen, repräsentiert der Held eben keinen Menschen, sondern einen Titan! 28 Vgl. dazu Dieter Sturma: Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung. In: Otfried Höffe/Annemarie Pieper (Hg.): F.W.J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit. Berlin 1995, S. 149 – 173.

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er unfrei und durch äußere Gewalt gezwungen gehandelt hätte. Im Gegenteil. Er beging das Verbrechen weder zufällig noch als eine bloße Marionette der Götter: die ungeheure Tat ist von ihm selbst erzeugt. Aber warum sagt Schelling dann, dass das Schicksal notwendig sei? Dies ist einerseits leicht zu beantworten, indem wir verstehen, dass das Verbrechen notwendig war, sofern es nicht beabsichtigt war. Doch das Problem ist vielleicht, dass wir die falsche Frage gestellt haben. Eher müssten wir fragen: notwendig wofr? Und die Antwort lautet eindeutig: notwendig für die wahre Realisierung der Freiheit. Demzufolge kann die Notwendigkeit des Schicksals keine von vornherein bestimmte und starre Notwendigkeit sein, sondern muss eine Form von Notwendigkeit sein, die sich im Verlauf der Handlung entwickelt, weil sie erst im Verlauf der Handlung realisiert bzw. anerkannt wird. Ödipus handelt frei, als er den fatalen Fehler begeht, und erst im Nachhinein, nachdem das Schreckliche schon geschehen ist, wird er sich der Notwendigkeit seines Schicksals bzw. seines wahren Selbst bewusst. Und nur indem er dies realisiert, nur indem er das üble Schicksal als eine innerliche Kraft annimmt, wird er in der Lage sein, wirklich frei zu handeln. Das heißt, indem wir Schellings Analyse zu ihren letzten Konsequenzen führen, müssen wir einsehen, dass Ödipus ohne jenen fatalen Irrtum keinen Grund gehabt hätte, frei zu werden oder frei werden zu müssen. Ohne jene furchtbare Konfrontation mit sich selbst hätte er keine Erkenntnis seiner selbst gewonnen. Er wäre in einem stillen Nichts geblieben. Der Irrtum war notwendig für die Erkenntnis; das Übel war konstitutiv für die freie Handlung.29 Es scheint vielleicht ,pervers‘ zu behaupten, dass Ödipus das schrecklichste Übel nötig hatte, damit er sich selbst erkennen, damit er seine Freiheit beweisen konnte.30 Aber vielleicht liegt das Tragische genau in diesem doppelten Bedürfnis: in dem Bedürfnis der Entäußerung einerseits, also in der Tatsache, dass die Freiheit sich nur im Handeln verwirklichen kann, und andererseits in 29 So sagt Schelling: „Im Glück kann also die Freiheit weder im wahren Widerstreit noch in der wahren Gleichheit mit der Nothwendigkeit erscheinen. Nur dann wird sie auf diese Weise offenbar, wenn die Nothwendigkeit das Ueble verhängt“ (Schelling, SW V, S. 691). 30 Vgl. Schelling, SW V, S. 467: „Nur im Unglück wird die Tugend, nur in der Gefahr die Tapferkeit erprobt; der Tapfere im Kampf mit dem ersten, worin er weder physisch siegt, noch moralisch unterliegt, ist nur Symbol des Unendlichen, dessen, was ber alles Leiden ist. Nur in dem Maximum des Leidens kann das Princip offenbar werden, in dem kein Leiden ist, wie alles überall nur in seinem Entgegengesetzten objektiv wird.“

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dem Bedürfnis eines dunklen, unbewussten chaotischen Grundes, gegen den sich die Freiheit empört. Das Tragische liegt nicht in dem Übel, es liegt nicht in der Notwendigkeit allein, sondern in dem Bedürfnis des Übels; in dem Bedürfnis des Dunklen, ohne welches das Licht oder die Freiheit nicht einmal sichtbar bzw. wirklich werden könnte. Aber, um es noch mal zu betonen, der Held ist nach Schellings Deutung keine rein fiktive Figur, sondern Symbol des Menschen. Er ist derjenige, der das tragische Verhltnis 31 in sich selbst finden kann. Demzufolge sind wir zu der Annahme berechtigt, dass die theoretischen Voraussetzungen, die Schelling für seine Auslegung der Tragödie in Anspruch nimmt, seine eigene Konzeption des Wesens des Menschen widerspiegeln. Die Freiheit, die Notwendigkeit und die Indifferenz, die wir erst jetzt durch Schellings Deutung in der Tragödiendarstellung sehen, sind nicht bloße Begriffe einer ästhetischen Analyse, sondern setzen eine ausgearbeitete Handlungstheorie, eine Theorie der Freiheit voraus. Doch diese Theorie ist im Angesicht von Schellings Werken der sogenannten Identitätsphilosophie alles andere als selbstverständlich. Das heißt, die Theorie oder die Reflexion über die Freiheit, worauf Schellings gesamte Deutung der Tragödie und sein Konzept des Tragischen basieren, wird erst in der Freiheitsschrift entwickelt. Die Freiheits-Theorie, auf welche sich Schelling in der Philosophie der Kunst bezieht, war zu der Zeit, als er seine Kunstdeutungen ausführte, noch nicht explizit ausgedrückt, wohl aber latent am Werk. Die wahre Freiheit ist laut Schellings Freiheitsschrift, wenn überhaupt, dann nur nach der Trennung, nur nach der Sünde möglich.32 Selbst Gott braucht eine zweite Schöpfung, um sich wirklich als Geist zu offenbaren, d. h. um sich mit absoluter Freiheit und Bewusstsein seiner selbst zu offenbaren.33 Hierin liegt die „Melancholie alles Lebens“,34 die Traurigkeit 31 D.h. das besondere Verhältnis von Indifferenz zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Vgl. Schelling, SW V, S. 691 f. 32 Ich habe bewusst ,nach der Sünde‘ gesagt. Man hätte aber auch sagen können ,nach der Erkenntnis‘, also im Nachhinein. Schelling äußert sich nicht eindeutig, aber auf jeden Fall kann man lesen, dass die Sünde notwendig ist. Sie ist notwendig in derselben Weise, wie das Böse oder das Unglück für Ödipus notwendig ist. Denn die Realisierung der Sünde oder des Bösen gibt den Anstoß, das Gute und die Freiheit zu wollen. Das Böse erweckt den Willen der Lauterkeit, um es in der Sprache der Weltalter auszudrücken. 33 In Schellings Freiheitsschrift braucht Gott eine zweite Schöpfung damit Er endlich wird, was Er ,im Grunde‘ schon war, „aber ohne Personalität und Bewußtseyn davon“ (Schelling, SW VII, S. 394). 34 Schelling, SW V, S. 399.

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der Endlichkeit, die grundsätzliche Perversion der Wirklichkeit.35 Es ist in der Tat leicht zu begründen, dass die Freiheitskonzeption, die Schellings Deutung der Tragödie unterschwellig nährt, der Konzeption, die Schelling dann 1809 in der Freiheitsschrift entwickelt, ähnlich ist. Gewiss können wir Schellings Hauptgedanken der Freiheitsschrift, dass nämlich jede Form von Existenz einen dunklen Grund voraussetzt, dass das Gute auf dem Bösen, die Freiheit auf der Notwendigkeit beruht, und dass diese Form von Abhängigkeit zugleich Ausdruck der Identität ist, als die Entfaltung der Idee interpretieren, auf der seine gesamte Interpretation der Tragödie seiner Philosophie der Kunst beruht: Im Glück kann also die Freiheit weder im wahren Widerstreit noch in der wahren Gleichheit mit der Nothwendigkeit erscheinen. Nur dann wird sie auf diese Weise offenbar, wenn die Nothwendigkeit das Ueble verhängt […].36

Die unmittelbare Konsequenz dessen ist, dass die Freiheit, die Schelling in der Freiheitsschrift darstellt, zu Recht als eine tragische Freiheit charakterisiert werden kann.37 Denn nicht das Grundlose, nicht die Sünde an sich ist das Traurige, das Tragische, sondern die Notwendigkeit der Sünde. Somit werden zugleich die heidnische und die christliche Weltanschauung integriert.38 Oder, anders gewendet, das Tragische als solches hört nicht mit dem Christentum auf zu sein. Ganz im Gegenteil, es wird erst im Christentum, also nach der Überwindung der tragischen Periode, vollständig realisiert. Entscheidender für unsere Analyse ist aber zu bemerken, dass die Entstehungslogik dieser neuen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, denen zufolge die Realisierung der Freiheit in der Tat eine tragische Struktur hat, eine ähnliche Verinnerlichung erfordert, die wir bei Ödipus mithilfe von Schellings Interpretation beobachteten. Anders gesagt, musste Schelling selber für die Hervorbringung eines 35 Vgl. Slavoj Zˇizˇek/F.W.J. Schelling: The Abyss of Freedom/Ages of the World. Transl. by Judith Norman. Michigan 1997, S. 11: „Schelling’s crucial point is that the domain of Ideas becomes actual Spirit only through its ,egotist‘ perversion/ inversion, in the guise of the absolute contraction into a real Person.“ 36 Schelling, SW V, S. 691. 37 Vgl. Lore Hühn: Die tragische Selbstverfehlung menschlicher Freiheit. Zu Schopenhauers Lektüre der Schellingschen Freiheitsschrift. In: Istvan M. Fehér/ Wilhelm G. Jacobs (Hg.): Zeit und Freiheit. Schelling, Schopenhauer, Kierkegaard, Heidegger. Budapest 1999, S. 127 – 149, hier S. 136. 38 Vgl. dazu John E. Wilson: Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches. Berlin/New York 1996.

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„reale[n] und lebendige[n] Begriff[s]“ der Freiheit39 das Schicksalhafte, das Böse als eine Möglichkeit – eine notwendige Mçglichkeit – des menschlichen Vermögens einräumen. Darüber hinaus können wir konstatieren, dass Schelling, um die menschliche Freiheit zu retten (eine Motivation, die seit den Briefen immer wieder vorkommt), das, was er in seinen vorherigen Schriften als das absolute Außerhalb des freien und individuellen Handelns konzipierte, im Kern des Menschen, im Kern des freien Handelns und hiermit zugleich im Kern des philosophischen Diskurses anerkennt.40 Er musste das Grundlose, dasjenige also, „was sich […] nicht in Verstand auflösen läßt“,41 im Kern des Menschen, im Kern des freien Handelns und der Erkenntnis anerkennen. Er musste sogar ein dunkles Prinzip, einen grundlosen Grund in Gott selber setzen, ohne welchen seine Existenz unmöglich wäre. Das heißt, das, was früher außerhalb und jenseits des einzelnen Individuums lag, nämlich eine von außen bestimmte unterschwellige Notwendigkeit, wird jetzt zum Kern jeder einzelnen Existenz gemacht und hiermit als Bedingung der Möglichkeit, als Grund von Freiheit präsentiert. Was bedeutet aber diese (tragische) Verinnerlichung für die Philosophie, für das Philosophieren an sich? Was bedeutet es, dass die Rea39 Vgl. Schelling, SW VII, S. 352: „Der Idealismus gibt nämlich einerseits nur den allgemeinsten, andererseits den bloß formellen Begriff der Freiheit. Der reale und lebendige Begriff aber ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sey.“ 40 In seinem System des transzendentalen Idealismus von 1800 arbeitet Schelling noch mit der Idee, dass die Welt als solche einen Sinn haben muss, selbst wenn dieser für das Individuum völlig unsichtbar bleibt und nur durch eine „ursprüngliche Vereinigung von Freyheit und Nothwendigkeit“ (Schelling, AA I,9,1, S. 304 (SW III, S. 605)) zu begreifen sei. Dafür muss er eine unterschwellige Notwendigkeit voraussetzen, die dafür sorgt, dass die verschiedenen und vielfältigen, freien und individuellen Handlungen der Menschen zu einem sinnvollen Ergebnis, zu einer „absoluten Synthesis“ kommen: „Es ist also eine Voraussetzung, die selbst zum Behuf der Freyheit nothwendig ist, daß der Mensch zwar, was das Handeln selbst betrifft, frey, was aber das endliche Resultat seiner Handlungen betrifft, abhängig sey von einer Nothwendigkeit, die über ihm ist, und die selbst im Spiel seiner Freyheit die Hand hat. Diese Voraussetzung nun soll transscendental erklärt werden“ (Schelling, AA I,9,1, S. 294 (SW III, S. 595)). Das, was der Realist durch den Begriff des Schicksals erklärt, so Schelling (vgl. Schelling, AA I,9,1, S. 179 f. (SW III, S. 482)), erklärt der Idealist durch den Begriff eines absoluten Handelns der Intelligenz, das aber keineswegs als Grund der Freiheit zu verstehen ist und mit den freien Handlungen grundsätzlich nicht interferiert. Die Idee einer höheren Notwendigkeit ist nur im Hinblick auf die Geschichte, d. h. in Ansehung des Menschen qua Gattung zu betrachten. 41 Schelling, SW VII, S. 360.

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lisierung der Freiheit, die Realisierung der Indifferenz oder die Selbsterkenntnis, die Differenz braucht oder dass Freiheit und Selbsterkenntnis nur dann existieren können, wenn sie, wie alles Existierende, auf einem dunklen Grund beruhen? Was bedeutet es für die Philosophie, wenn die grundlegende Behauptung, worauf sich die gesamte Theorie aufbaut, besagt: „jedes Wesen kann nur in seinem Gegentheil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit in Streit.“42 All dies hätte nur dann keine besondere Bedeutung (außer der Tatsache, dass in Schellings Philosophie die Freiheit und die Verwirklichung der Identität in gewissem Sinne der Dynamik einer tragischen Struktur folgen), wenn die Philosophie selber nicht als eine Darstellung der Identität oder als eine ewige Erkenntnis bestimmt wäre, oder als diejenige Wissenschaft, deren Objekt und Subjekt zugleich die ewige Freiheit ist, wie Schellings Erlanger Vortrge behaupten. Wenn jedes Wesen „nur in seinem Gegentheil offenbar werden“ kann, dann muss dies auch für die Philosophie selbst gelten. Vor diesem Hintergrund können wir sagen, dass Schellings eigene Entwicklung einer Logik des Tragischen folgt, denn diese verinnerlichende Bewegung, die im eigentlichen Sinne eine Bewegung zum Selbstbewusstsein ist, betrifft nicht nur den Inhalt der Philosophie Schellings, sondern auch, wie wir sehen werden, die Form bzw. die Darstellungsform. Diese Bewegung, dieser die Notwendigkeit, das Böse, den Irrtum, das Schicksal bzw. den Grund verinnerlichende Prozess betrifft auch die Philosophie und die Möglichkeiten ihres Ausdrucks. Und genau in diesem Sinne, d. h. als Internalisierungsprozess, möchte ich zeigen, dass wir Schellings Perspektivenwechsel verstehen sollen, weshalb es in der Freiheitsschrift nicht mehr darum geht, die Identität des Absoluten von außen (d. h. aus einer privilegierten über-geschichtlichen oder übermenschlichen Perspektive)43 zu bestimmen, sondern darum, das Absolute von der Existenz aus zu denken: aus der Perspektive eines Schöpfers, der kein bloßer Betrachter seiner Schöpfung ist, sondern im Werden oder durch das Werden seines Geschöpfes sich selbst realisiert. Anders gesagt, hat Schelling seinen eigenen Standpunkt, den Standpunkt des Philosophierens, von einer Außen- auf eine Innenperspektive, von der ,Peri-

42 Schelling, SW VII, S. 373. 43 Wie etwa in Schellings System des transzendentalen Idealismus oder im Dialog Bruno.

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pherie‘ auf den ,Mittelpunkt‘ der Existenz umgestellt.44 Der Standpunkt des Textes, der Standpunkt der Philosophie ist nicht mehr der Standpunkt einer absoluten Vernunft oder eines absoluten Wissens, wie Schelling in seiner Darstellung meines Systems von 1801 angenommen hat, wo er ausdrücklich bestimmt, dass der „Standpunct der Philosophie […] der Standpunct der Vernunft“ sei und dass es „keine Philosophie, als vom Standpunct des Absoluten“45 gebe. Im Gegensatz dazu positioniert Schelling nun sein eigenes Sprechen inmitten der Existenz der weltlichen Geschöpfe.46 Darüber hinaus und als Anerkennung oder Internalisierung einer existentiellen Notwendigkeit des Scheiterns der Darstellung der Philosophie sollte man vielleicht Schellings nicht übersehbare Vorsicht in der Freiheitsschrift deuten,47 wodurch wir Zeuge von der fundamentalen Unmöglichkeit des Diskurses über das Absolute werden. Eine sehr merkwürdige Sorgfalt, welche sich zu erkennen gibt, indem Schelling einerseits aufzeigt, dass wir einen Begriff des Absoluten benötigen, um überhaupt die Differenz und das Band bzw. die Relation zwischen Grund und Existenz denken zu können, wobei er andererseits aber darauf hinweist, wie schwierig, ja eigentlich unmöglich es ist, diesen Begriff zu explizieren: [E]s muß vor allem Grund und vor allem Existirenden, also überhaupt vor aller Dualität, ein Wesen seyn; wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund? Da es vor allen Gegensätzen vorhergeht, so können diese in ihm nicht unterscheidbar noch auf irgend eine Weise vorhanden seyn. Es kann daher nicht als die Identität, es kann nur als die absolute Indifferenz beider bezeichnet werden.48

Die Bedeutung dieser Überlegung liegt offensichtlich nicht nur in dem, was gesagt wird, sondern in der Weise, wie es gesagt wird. Das heißt, dieses gewiss nicht unbewusste Zögern Schellings kann als eine implizite Reflexion über die Möglichkeit des Sprechens gedeutet werden; der Text 44 Vgl. Schelling, SW VII, S. 333: „Es ist Zeit, daß der höhere oder vielmehr der eigentliche Gegensatz hervortrete, der von Nothwendigkeit und Freiheit, mit welchem erst der innerste Mittelpunkt der Philosophie zur Betrachtung kommt.“ 45 Schelling, AA I,10, S. 117 (SW IV, S. 115). 46 Vgl. Jean-François Marquet: Liberté et Existence. Paris 1973, S. 397. 47 Denn man könnte definitiv nicht behaupten, dass Formeln wie: „wie sollen wir es bezeichnen?“, „wie können wir es anders nennen […]?“(Schelling, SW VII, S. 406), „wenn er anders so heißen kann“ (Schelling, SW VII, S. 372), „wie man es ausdrücken will“ (Schelling, SW VII, S. 370) zufällig sind. 48 Schelling, SW VII, S. 406.

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reflektiert über sich selbst, über seine eigene Endlichkeit. Doch indem die Philosophie oder der philosophische Text sich der Schwierigkeit (des notwendig Grundlosen) seiner eigenen Position, seiner eigenen Existenz bewusst wird, kann er nicht mehr sprechen, ohne mindestens implicite seine eigene Bestimmung zu bedenken, ohne also zu reflektieren, dass sein Sprechen in gewisser Weise unmöglich ist; denn es ist letzten Endes ein Sagen des Unsagbaren bzw. eine (endliche) Darstellung des Unendlichen. D.h. es muss ein Sprechen sein, das zugleich ein Nicht-Sprechen ist. Es muss sozusagen den Grund seiner eigenen Vernichtung in sich selbst integrieren. Es muss das Unsagbare, Dunkle, Unartikulierbare als Grund, als die unerschöpfliche Quelle anerkennen, die andauernd pulsiert, die immer neue Gestalten, neue Ausdrücke, neue Begriffe sucht, die aber niemals erschöpft werden darf, damit das Leben des Wortes, das Leben der Kopula nicht zu Ende geht, damit die Philosophie keine Kette von toten Begriffen werde. Denn dies ist die größte Gefahr der Philosophie, dass sie durch das Wort, durch ihr Sprechen die Lebendigkeit der Prinzipien ruiniert, indem sie bloß auf starren Begriffen beharrt. Dieses Beharren wäre der Triumph des Grundes bzw. das Böse schlechthin (das Böse in actu). Deswegen bemüht Schelling eine entsprechende dynamische Ausdrucksweise: Die Form seiner Untersuchungen reflektiert den Inhalt, den sie auszudrücken sucht, d. h. die Freiheit. Auf dieser Weise ist aber jedes System, jede Darstellung der Philosophie an sich irrtümlich; und jede Bestrebung sie zu begreifen, sie in eine konkrete Form zu bringen, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Wir können sie weder begreifen noch können wir sie begreifen wollen, denn indem sie eine besondere Form annimmt, indem sie in einem Begriff eingeschränkt wird, verliert sie einen Teil ihrer Freiheit, ihrer absoluten Undefinierbarkeit, und wird hiermit zunichte gemacht. Aber wie Schelling selber merkt, und hierin liegt das Tragische der Philosophie, diesen Widerspruch absolut zu vermeiden, sich von dem Widerspruch und dem Wissen-Wollen oder dem Ausdruck durchaus fernhalten zu wollen, wäre der Tod des Philosophierens: der Philosoph (wie der Tragödienheld) muss sich entscheiden: selbst dann, wenn er bloß ein Wort sucht, kann er dem Irrtum nicht entgehen. Ein vollkommenes Selbstbewusstsein, wie wir dies hier ausgelegt haben, erlangt Schellings Philosophie aber erst in den Erlanger Vortrgen von 1821. Denn hier wird am klarsten dargestellt, inwiefern der Irrtum bzw. der Widerstreit zwischen den verschiedenen philosophischen Systemen für die Realisierung, die Darstellung der Philosophie absolut unerlässlich ist.

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In den Erlanger Vortrgen thematisiert Schelling zum ersten Mal jenes ständig wiederkehrende Rätsel, das darin besteht, dass, obwohl die Philosophie Eins ist (da sie nur ein Subjekt und nur ein Objekt hat), sie gleichwohl bisher nur in vielfältigen, entgegengesetzten Systemen und eben nicht in einer einzigen alles umspannenden Wissenschaft erfasst wurde. Und die Antwort, die Schelling hier entwickelt, ist, dass diese Mannigfaltigkeit der Systeme für das Wesen der Philosophie, d. h. für die Darstellung des Absoluten oder der ewigen Freiheit selber notwendig ist. Denn dies folgt bereits daraus, dass das ewige Subjekt der Philosophie sich niemals festhalten lässt. Es gibt sozusagen eine ewige Bewegung, eine permanente Fortschreitung von einem System zu einem andern. Aber das Subjekt der Philosophie selber bleibt notwendig dasselbe undefinierbare, unfassbare Subjekt: „dieses Eine Subjekt muß durch alles gehen und in nichts bleiben“.49 Das ewige Subjekt der Philosophie durchläuft alle Formen, lässt sich aber in keiner besonderen Form ergreifen. So wie das Tragische des Ödipus darin bestand, dass jener Irrtum, welcher das tragische Übel auslöste, doch von innen bzw. notwendig aus ihm selbst her stammte, so wie für Ödipus also die Entdeckung oder die Erkenntnis des Übels zugleich eine Selbsterkenntnis war, so liegt das Tragische der Philosophie in der Notwendigkeit des Irrtums, oder anders gesagt, in der Notwendigkeit des Scheiterns.50 Die philosophische Darstellung muss scheitern, sie muss mindestens scheitern können, weil sie ansonsten keine Philosophie, kein Prozess, keine Freiheit wäre, weil sie ansonsten nicht existieren könnte. Sie wäre dann nur noch dogmatisch.

49 Schelling, SW IX, S. 215. 50 Dies habe ich in meiner Dissertation: Die Notwendigkeit des Scheiterns. Eine Analyse des Tragischen als Bestimmung der Philosophie bei F.W.J. Schelling. Phil. Diss. Paris/München 2008, ausgeführt.

Der kommende Gott. Dionysos bei Nietzsche und Schelling Damir Barbaric´ In seiner späten Abhandlung Gçtzen-Dmmerung sagt Nietzsche: „Ich war der erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des Dionysos trägt: es ist einzig erklärbar aus einem Zuviel von Kraft.“1 Der stolzen Versicherung folgt die folgende Erklärung: „Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die G r u n d t h a t s a c h e des hellenischen Instinkts aus – sein ,Wille zum Leben‘.“2 Trotz der Selbstkritik an der eigenen Frühschrift Die Geburt der Tragçdie bleibt Nietzsche bis zum Ende seines bewussten Lebens – in den letzten Jahren sogar noch vorbehaltloser – dem Ansatz beim Dionysischen treu. Freilich hat sich inzwischen manches an diesem Ansatz geändert, aber diese Änderung ist eher als Vertiefung und Erweiterung zu fassen. Vor allem hat das ehemals dem Dionysischen so stark entgegengesetzte Phänomen des Apollinischen den Zugang zum wesentlich umfassender verstandenen Dionysischen gefunden und als sein konstitutives Moment die angemessene Anerkennung und Rechtfertigung bekommen. Am Ende seines Schaffens – die so genannten Wahnsinnszettel, die er mit „Der Gekreuzigte“ unterschrieben hat, können kaum etwas daran ändern – bekennt sich Nietzsche als der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos.3 Worum geht es hier eigentlich? Was meint Nietzsche mit dem Dionysischen? Die Antwort auf diese Frage liegt nicht auf der Hand, nicht zuletzt weil Nietzsche auch hier wie sonst die Fragestellung der rein philosophischen Betrachtung öfter absichtlich mit jener der für ihn eigentümlichen ,Psychologie‘ vermengt. Deshalb sind, wenn es gilt, auf die gestellte Frage eine zureichende Antwort zu geben, alle seine Überle1 2 3

Nietzsche, GD Alten 4, KSA 6, S. 158. Nietzsche, GD Alten 4, KSA 6, S. 159. Vgl. Nietzsche, JGB 295, KSA 5, S. 238. Vgl. Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160.

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gungen, die die Psychologie des künstlerischen ,Schaffens‘ sowie die Erfahrung religiöser Festlichkeit oder die Geheimnisse der Mysterien betreffen, von gleicher Relevanz. Hier wählen wir aber den kürzeren Weg. Es wird der Versuch gemacht, Nietzsches Auslegung eines einzigen Grundphänomens zu erörtern, jenes nämlich, in dem für ihn alle erwähnten, anscheinend weit voneinander liegenden Dimensionen zusammentreffen. Es geht um das Phänomen des Rausches. Die Hauptzüge dessen, was bei Nietzsche ,das Dionysische‘ heißt, kommen an diesem Phänomen am besten zum Vorschein. Dabei werden wir uns vorwiegend an die Bestimmungen des Wesens von Rausch halten, die Nietzsche in drei nacheinander folgenden Aphorismen in der Gçtzen-Dmmerung und in den entsprechenden Aufzeichnungen seines Nachlasses gibt.4 Diese Bestimmungen ragen innerhalb des Werks Nietzsches sowohl durch die Tiefe des Einblicks als auch durch die Sicherheit der Formulierung heraus. Das erste Wesensmerkmal des Rausches ist die ungeheuere Intensivierung dessen am Menschen, was gewöhnlich als ,Sinnlichkeit‘ bezeichnet wird. Im Rausch ändern sich für den Menschen alle seine Raum- und Zeit-Empfindungen. Ungeheure Fernen werden überschaut und werden gleichsam erst wahrnehmbar. Der Blick dehnt sich über größere Mengen und Weiten aus. Alle sinnlichen Organe werden extrem scharf. Im Rausch verfügt der Mensch über eine Kraft des Verstehens, die es erlaubt, von einer „,intelligente[n]‘ S i n n l i c h k e i t “5 zu reden. Im Rausch verstehen die Sinne „eine ganz andere Zeichensprache“,6 oder genauer gesagt wird diese ganz andere Sprache von den berauschten Sinnen erst erschaffen. In Hinblick darauf wird es sogar sinnlos, den Unterschied zwischen dem Sinnlichen und dem Geistigen überhaupt zu machen. Denn das, was im Rausch des dionysischen Zustandes erregt und gesteigert wird, ist das gesamte Affekt-System, das den Grund der ursprünglichen, umfassend zu verstehenden Leiblichkeit macht, in deren Umkreis die Bereiche des gewöhnlichen Leiblichen und Geistigen noch einheitlich sind. Der Rausch trifft des Tiefste und Innerste am Menschen und ist daher der Kontrolle seines Willens entzogen. Er ist wesentlich durch die Unfähigkeit, nicht zu reagieren, bzw. die Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern, bestimmt. Er tritt plötzlich auf und bemächtigt 4 5 6

Vgl. Nietzsche, GD Streifzüge 8 – 10, KSA 6, S. 116 – 118; NL Frühjahr 1888, 14[117] u. 14[170], KSA 13, S. 294 f. u. S. 356 f. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[117], KSA 13, S. 294 f. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[170], KSA 13, S. 356 f.

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sich des Menschen als eine innere Nötigung, die von einer gewissen Willens-Aushängung begleitet wird. Diese dem Rausch eigentümliche Unfreiwilligkeit ist aber nicht nur negativ zu fassen. Positiv zeigt sie sich als eine übermäßige Lust an der Bewegung, die dem rätselhaften Phänomen des dionysischen Histrionismus zugrunde liegt. Im Rausch fällt der Mensch dem verführerischen Genuss der extremen Beweglichkeit anheim. Von ihrem Wirbel mitgenommen wird er dazu gezwungen, sowohl den Reizen seiner inneren Vorgänge, wie etwa Bildern, Gedanken, Begierden, durch eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems Ausdruck zu verschaffen, als auch jeden von außen kommenden Reiz in die eigene innerlichste Bewegung zu transformieren, also ihn innerlich nachzuahmen: Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden Affekt ein: er verwandelt sich beständig.7

So erweist sich die Leichtigkeit der Metamorphose als das Wesen des Rausches. Alle Affekte des vom Rausch ergriffenen Menschen sind ständig erregt und nach der Entladung drängend. Alles, was der vom Rausch überfallene Mensch fühlt und wahrnimmt, muss er sofort leiblich nachahmen und darstellen. Er kann sich in keiner beständigen Gestalt aufhalten; er verwandelt sich ständig. Der Zustand des Rausches ist als die extreme Beweglichkeit zu kennzeichnen, welche sich zwiefach kundgibt, nämlich als der extreme Nachahmungstrieb und als die extreme Mitteilungsnot und -kraft. Die extreme Beweglichkeit, die diesen beiden Vollzugsarten zugrunde liegt, ist selbst ein Zustand der höchsten, kaum zu ertragenden Spannung, ein explosiver Zustand, wie es bei Nietzsche heißt. Diesem Zustand eignet ein Zwang und Drang der Überfülle – Nietzsche bedient sich dazu auch des lateinischen Worts Exuberanz – eigene innere Spannung loszuwerden, und zwar durch alle Art von Muskelarbeit und Beweglichkeit. Die intensivierte und verschärfte Sinnestätigkeit wie auch der unaufhaltsame Mitteilungs- bzw. Schaffensdrang haben darin ihren Ursprung. Damit ist das Wesen von Rausch aufgewiesen. Es besteht im Zustand der höchsten Spannung, deren Überfülle danach drängt, sich um jeden Preis zu entladen. Diesen Zustand der Überfülle bestimmt Nietzsche als ein Gefühl 7

Nietzsche, GD Streifzüge 10, KSA 6, S. 117 f.

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der höchsten Lust, Macht und Kraft. Der Rausch ist für ihn also vor allem der Lustzustand und als solcher ein hohes Machtgefühl. Als das erhöhte Machtgefühl enthält der Rausch die innere Nötigung, allen Dingen gleichsam den Stempel eigener Fülle und Vollkommenheit aufzudrücken. Diese produktive und schaffende, d. h. nachbildende und bildende Seite des Rausches stellt Nietzsche zumeist in den Vordergrund seiner Überlegungen und findet darin das Wesen des aller Metaphysik zugrundeliegenden Prozesses der Idealisierung bzw. Abstrahierung.8 Darüber hinaus glaubt er in dem so verstandenen Rausch den wahren Schlüssel zur Deutung der Kunst und des künstlerischen Schaffens erkannt zu haben. Die andere, dunklere Seite dieses zweideutigen Phänomens des Rausches, nämlich das darin enthaltene Moment des Hungers, der Leere und Armut, welche in der Überfülle als solcher der Notwendigkeit nach mitenthalten sind, hat er selten ausdrücklich behandelt. Dieses Thema blieb den schwer nachzuvollziehenden Andeutungen seiner Lyrik, vor allem den Dionysos-Dithyramben vorbehalten. Mir scheint hingegen die Thematisierung der innersten Zwiefältigkeit und Zweideutigkeit der das Wesen des dionysischen Rausches ausmachenden Überfülle, d. h. des darin liegenden Mangels und der Armut, der einzig geeignete Weg zu sein zu einem zureichenden Verständnis dessen, was bei Nietzsche als das Dionysische erfahren und gedacht wird. Wie kein anderer gibt der Aphorismus 370 der Frçhlichen Wissenschaft Gelegenheit, dieser wesentlichen Zweideutigkeit des Rausches auf die Spur zu kommen. Der Ursprung des dionysischen Rausches, der der „tragische[n] Ansicht und Einsicht in das Leben“ eigentümlich ist, wird dort im Leiden gefunden. Das Leiden kann aber wesentlich zwiefach sein: entweder das eines an der Überfülle des Lebens Leidenden oder das eines 8

Vgl. Nietzsche, GD Streifzüge 8 f., KSA 6, S. 116 f.: „Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man z w i n g t sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vorgang I d e a l i s i r e n . Machen wir uns hier von einem Vorurtheil los: das Idealisiren besteht n i c h t , wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures H e r a u s t r e i b e n der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden. […] Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle: was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark, überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind.“

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solchen, der an der Verarmung des Lebens leidet. Unter dem Überschuss von zeugenden, befruchtenden Kräften leidend trachtet der erste, „der dionysische Gott und Mensch“, nach der Zerstörung, Zersetzung, Verneinung. Das Seiende, Beständige sowie alles, was der Herkunft nach als wahr, gut und schön gilt, kann ihn nicht befriedigen. Daher erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche bei ihm nicht nur als erlaubt und zugelassen, sondern er wird sogar eben danach suchen, um es schaffend in das Gegenteil umzuwandeln. Der zweite hingegen, der an der Lebensarmut Leidende, wird naturgemäß seine Zuflucht bei der Ruhe und Sicherheit des schon bestehenden Wahren, Guten und Schönen suchen. Auch wenn er sich dem Rausch der Verneinung und Zerstörung überlässt, wird das ein Rausch ganz anderer Art sein, ein solcher nämlich, der eigentlich nur armselige Betäubung, Krampf und Wahnsinn ist. Wie all sein Verlangen nach dem Starrmachen und Verewigen, nach dem Sein, aus dem Mangel an Lebenskraft kommt, so entspringt auch alle seine Empörung und seine aggressive, gegen alles Bestehende, ja gegen das Bestehen selbst gerichtete Vernichtungswut nicht dem Überfluss, sondern dem Hunger eines kraftlosen Lebens, dem „Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen […], der zerstört, zerstören muss“, und der „an allen Dingen gleichsam Rache nimmt“. Ganz anders bei dem an dem Lebensüberfluss leidenden dionysischen Menschen. Der aus der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft kommende Rausch, der zunächst nur als das unbesonnene „Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach W e r d e n “ erscheint, wandelt sich oft genug bei ihm am Ende zu einer dankbaren, liebenden und vergöttlichenden Apotheose des Lebens, „einen homerischen Licht- und Glorieschein über alle Dinge breitend.“9 Nicht zuletzt verhindert eben diese Zweideutigkeit das angemessene Verständnis des von Nietzsche gedachten Dionysischen. Auf die Wesensbestimmung zusammengebracht ist der Rausch die ewige Lust des Lebens, die nach dem tiefsten Schmerz trachtet, um diesen Schmerz immer von neuem überwinden zu können. Anders gewendet ist der Rausch eine solche Verneinung, Zerstörung und Vernichtung des Seienden und des Seins selbst, in der das dieser Vernichtung entspringende reine Werden immer von neuem überwunden, und d. h. zum Seienden und zum Sein verwandelt wird. Wieder anders gesagt ist der Rausch der Überschwung des „entzückt-überströmenden“ dionysischen Geistes, der 9

Alle Zitate: Nietzsche, FW 370, KSA 3, S. 620 – 622.

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zur unbedingten „Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbirten Lebens“ führt, des Lebens auch in seinem unauflösbaren Widerspruch, in der unaufheblichen Dissonanz seiner Vergänglichkeit.10 Das Wesentliche des Dionysischen liegt in einer ganz eigentümlichen Auslegung der Vergänglichkeit, nach der sie nichts anderes ist „als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.“11 Das Wesen des Rausches als der aus der Überfülle der Lust entspringenden innerlichen Öffnung für den Schmerz gibt den Hinweis darauf, was unter dem Dionysischen bei Nietzsche letztendlich zu verstehen ist. In diesem zweideutigen Phänomen kommt nämlich am reinsten das Leben selbst zum Vorschein. Das Leben ist für Nietzsche die Überfülle des Seins, das sich von selbst zu seinem Gegenteil, zum Nichts, wandelt, um dadurch zu werden und sich immer wieder im Werden bejahen zu können. Das letzte Wort der Philosophie Nietzsches gilt weder dem Sein noch dem Nichts, auch nicht dem Werden, sondern allein dem das Nichts immer wieder überwindenden und damit seienden Werden. Am besten leuchtet das an den dionysischen Mysterien auf, deren Sinn in einem „triumphirenden Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus“ liegt. Da alles Werden und Wachsen, alles Zukunft Verbürgende notwendig den Schmerz bedingt, wird in diesen Mysterien aus dem „Zuviel von Kraft“12 auch der Schmerz heilig gesprochen. Vor allem wird dort die Zeugung und die Geschlechtlichkeit, damit auch ein solches Leben, das nur im Werden, im Gebären und Wachsen seine lebendige Zukunft und Ewigkeit, seine ewige Wiederkehr hat, gefeiert, geheiligt und vergöttlicht.13 Vor diesem Hintergrund fällt mehr Licht auf die manchmal befremdlichen Eigenschaften, die Nietzsche dem Gott Dionysos zumisst. Um die Unmittelbarkeit seines Wirkens einerseits und die verborgene Innerlichkeit des ursprünglich Affektiven am Menschen, das noch nicht ins Leibliche und Geistige auseinandergefallen ist, als den geeigneten Ort dieses Wirkens andererseits anzudeuten, wird er mit Nachdruck als „Genie des Herzens“ angesprochen.14 Auf die wesentliche Ambivalenz seines Wesens sollen die Namen „der grosse Verborgene“ und „der grosse 10 11 12 13 14

Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[89], KSA 13, S. 266. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[106], KSA 12, S. 113. Nietzsche, GD Alten 4, KSA 6, S. 158. Nietzsche, GD Alten 4, KSA 6, S. 159 f. Nietzsche, JGB 295, KSA 5, S. 237.

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Zweideutige und Versucher Gott“ hindeuten. Des Öfteren wird er auch „der Versucher-Gott“ genannt, um darauf hinzuweisen, dass er den Menschen zu einem übermenschlichen, dämonischen Bereich verführt, wo es nichts Bekanntes, Gewöhnliches und Vertrautes mehr gibt und wo ihm nur noch das Fremde und Unheimliche begegnet. Das Befremdlichste liegt aber in dessen Kennzeichnung als eines Philosophen-Gottes. Nietzsche selbst sah in der Tatsache, „dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren“, eine unerhörte „Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen möchte“.15 Hier setzt sich Nietzsche bewusst dem ganzen klassischen Griechentum und insbesondere Platon entgegen, nach dessen Überzeugung die Götter nicht philosophieren, weil sie immer schon im vollen Besitz von allem Wahren, Schönen, Guten und Seienden sind. Die umwerfende Neuigkeit von Nietzsches Ansatz ist nicht zuletzt dem zu entnehmen, wie er den Gott Dionysos – freilich in einer nicht zu übersehenden Anlehnung an die in der griechischen Religion überwiegende Ansicht, dass er nicht der wahre Gott, sondern ein der sterblichen Mutter entstammender Halbgott ist – gewissermaßen an Stelle des platonischen Eros setzt und ihn zugleich über alle echten, olympischen Götter erhebt. Es ist also kein Wunder, dass Nietzsche, als der letzte Jünger und Eingeweihte des Philosophen Dionysos, wie er sich fühlt und versteht, in der ihm vom göttlichen Lehrer überlieferten Philosophie „mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches“16 finden musste. In der Nachfolge eines solchen Gottes musste er sich auch berufen fühlen – wie es in einer späten Aufzeichnung heißt –, solche Experimental-Philosophie zu leben, die versuchsweise selbst die Möglichkeiten des grundsätzlichen Nihilismus vorwegnimmt, ohne dabei bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen zu bleiben. Auf der Spur des Versucher-Gottes selbst will auch seine Philosophie bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl, damit bis zum höchsten Zustand, den ein Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehen.17 Die dionysische Grundstellung zum Dasein nennt Nietzsche auch ,tragisch‘. Überhaupt hängt sein Begriff des Tragischen mit jenem des 15 Nietzsche, JGB 295, KSA 5, S. 238. 16 Nietzsche, JGB 295, KSA 5, S. 238. 17 Vgl. Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[32], KSA 13, S. 492 f.

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Dionysischen am engsten zusammen. Im Willen zur Lust – und damit zum Werden, Wachsen und Schaffen, worin auch das Zerstören eingerechnet ist – „wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.“18 Die wahre Tragödie besteht in einem „Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen“. In ihrem Wesen steckt der Wille zum Leben, der auch „im O p f e r seiner höchsten Typen der eigenen Unerschöpflichkeit“ froh wird.19 Nicht nur vom Standpunkt der neueren Menschen, dieser „Kinder einer brüchigen vielfachen kranken seltsamen Mutter“,20 sondern schon an sich und dem eigenen Wesen nach ist die dionysische Feier einer als die ewige Lust des Werdens beschworenen Tragödie die Sache der Zukunft. Wie ihr Meister, der verborgene und immer nur kommende VersucherGott, so können auch die dionysisch-tragischen Philosophen nur als die „Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen“ und als die „Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft“21 angesprochen werden. Die künftige Tragödie ist das Höchste und Letzte, wozu das dionysische Philosophieren bringt. Was dem zukünftig-dionysischen Philosophen Nietzsche verlockend vor Augen schwebt, ist ein noch unentdecktes Land […], dessen Grenzen noch Niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich gerathen sind – ach, dass wir nunmehr durch Nichts mehr zu ersättigen sind!22

Dieses noch unentdeckte Land erscheint dem dionysischen Philosophen als ein für den bisherigen Menschen kaum zu erahnendes Jenseits, wundersam und voll an Rätseln, das aber trotz aller Fremdheit und 18 Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[32], KSA 13, S. 522. 19 Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. Vgl. GD Alten 5, KSA 6, S. 160: „N i c h t um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so verstand es Aristoteles –: sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n , – jene Lust, die auch noch die L u s t a m V e r n i c h t e n in sich schliesst …“ 20 Nietzsche, NL August-September 1885, 41[6], KSA 11, S. 681. 21 Nietzsche, FW 382, KSA 3, S. 635. 22 Nietzsche, FW 382, KSA 3, S. 636.

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Unheimlichkeit23 auf ihn unwiderstehlich anziehend wirkt. Das wundersame übermenschliche Wesen, das dieses Niemandsland bewohnt und in ihm herrscht, ist als flüchtig laufend und sich stets entziehend kaum zu erblicken und in einem festlegenden Blick beständig zu erhalten. Es ist ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das R e c h t d a r a u f zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; […] das Ideal eines menschlichübermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug u n m e n s c h l i c h erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt – und mit dem, trotzalledem, vielleicht d e r g r o s s e E r n s t erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie b e g i n n t … 24

Damit kann diese nur auf die wesentlichen Züge zusammengebrachte Darstellung der Lehre Nietzsches vom Dionysischen und vom Dionysos ihren Abschluss finden.25 Es bleibt noch zu fragen wie sie sich zur Dionysoslehre Schellings verhält. Denn es ist öfters mit Recht darauf hingewiesen worden, dass es hier tatsächlich ein Verhältnis, vielmehr einen 23 Vgl. Erwin Rohdes Nachricht von seinem für beide enttäuschenden Wiedersehen mit Nietzsche im Juni 1886 in einem Brief an Franz Overbeck: „eine unbeschreibliche Atmosphäre der Fremdheit, etwas mir damals völlig unheimliches, umgab ihn. Es war etwas in ihm, was ich sonst nicht kannte, und vieles nicht mehr was sonst ihn auszeichnete. Als käme er aus einem Lande, wo sonst Niemand wohnt“ (zit. nach: Nietzsche, Chronik zu Nietzsches Leben Mai-Juni 1886, KSA 15, S. 159). 24 Nietzsche, FW 382, KSA 3, S. 636 f. 25 Näheres dazu: Max L. Baeumer: Nietzsche and the Tradition of the Dionysian. In: James L. O’Flaherty u. a. (Hg.): Studies in Nietzsche and the Classical Tradition. Chapel Hill 1976, S. 165 – 189 sowie ders.: Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine ,Entdeckung‘ durch Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 6 (1977), S. 123 – 153. Vgl. auch: Martin Vogel: Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums. Regensburg 1966; Bernhard Lypp: Dionysisch-apollinisch: ein unhaltbarer Gegensatz. Nietzsches ,Physiologie‘ der Kunst als Version ,dionysischen‘ Philosophierens. In: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 356 – 373; Jean-Perre Vernant: Le Dionysos masqué des „Bacchantes“ d’Euripides. In: ders./Pierre Vidal-Naquet: Mythe et Tragédie en Grèce ancienne. Paris 1982 – 1986, Bd. 2, S. 237 – 269 (deutsche Übersetzung in: ders.: Der maskierte Dionysos. Stadtplanung und Geschlechterrollen in der griechischen Antike. Mit e. Vorwort u. aus d. Franz. v. Horst Günther. Berlin 1996, S. 75 – 102).

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Zusammenhang gibt.26 Auch wenn man nicht ohne weiteres bereit ist, Nietzsches diesbezügliche Ansichten als bloße Weiterentwicklung der schon bei Schelling zu findenden Ansätze zu verstehen – die These, die in der einflussreichen Darstellung Franks27 suggeriert wird, um danach der umfangreichen Monographie von Wilson28 zugrunde gelegt zu werden –, kann dieser Zusammenhang wohl nicht in Frage gestellt werden. Auch wenn die Frage nach Nietzsches Vertrautheit mit Schellings Überlegungen zur Mythologie offen bleibt, ist es nicht zu leugnen, dass beide Denker unter dem entscheidenden Einfluss der romantischen Mythologieforschung und -deutung stehen, vor allem des gewaltigen Werks von Friedrich Creuzer. Insofern ist mit der Verwandtschaft und Ähnlichkeit, vielmehr mit der gelegentlichen Gleichheit in Bezug auf die einzelnen Ansichten beider Philosophen mit Sicherheit zu rechnen, obwohl die eigentliche und eingehende Untersuchung dieser Fragen immer noch bevorsteht. Aus der Tatsache etwa, dass der Unterschied zwischen dem Apollinischen und Dionysischen schon bei Schelling zu finden ist oder dass er wie auch Nietzsche nach ihm die griechische Tragödie aus den tragischen Chören hervorgehen lässt, „worin die Leiden des Dionysos besungen wurden“,29 ist noch nicht auf die wesentliche Einheitlichkeit der philosophischen Ansätze beider Denker zu schließen. Philosophisch ist von gleichem, wenn nicht größerem Belang, die zwischen ihnen waltenden grundsätzlichen Differenzen sowie die jeweilige systematische Stelle, an der Dionysos im Ganzen der Philosophie eines jeden steht, möglichst genau zu bestimmen. Hier kann nur ein vorläufiger Ausblick auf die damit gezeichnete Aufgabe angebracht werden. Während für Nietzsche der Name ,Dionysos‘ das Höchste seiner gesamten Philosophie, ihren verborgenen Ursprung und ihr zukunftsträchtiges Ziel bezeichnet, wird demselben Gott von Schelling eine Rolle, freilich die größte und wichtigste, nur im Rahmen der Philosophie der Mythologie zugeteilt. Der „Begriff des Dionysos“ ist für ihn „ein notwendiger und wesentlicher aller Mythologie […], ohne den sie gar 26 Vgl. Otto Kein: Das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Schelling (Neue deutsche Forschungen. Abteilung Philosophie, Bd. 6). Berlin 1935. 27 Vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die neue Mythologie. Frankfurt a.M. 1982. 28 Vgl. John Elbert Wilson: Schelling und Nietzsche. Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches. Berlin 1966. 29 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung. Hg. v. Walter E. Erhardt. Hamburg 1992, Bd. 1, S. 361.

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nicht gedacht werden könnte“.30 In der Dionysoslehre ist „ein Schlüssel der ganzen griechischen Mythologie gegeben“.31 Denn nur dem Schein nach ist Dionysos der Jüngste unter den Göttern; in Wahrheit ist er der Älteste.32 Wenn nicht dem Namen und dem Begriff nach, ist er doch dem Wesen nach „so alt als die Urania, so alt als der Hervorgang des Menschengeschlechts aus dem Zabismus.“33 Er ist identisch mit dem ägyptischen Gott Osiris.34 Der griechische Herakles ist wiederum sein Vorläufer, „eine frühere Erscheinung desselben, und zwar die früheste, die unmittelbar auf jenen Moment folgt, wo er mit der Urania noch zu Einer Gottheit verschmolzen ist.“35 Er ist älter sogar als Zeus selbst, und wenn Zeus üblicherweise sein Vater heißt, bezieht sich das nur auf den „vollkommen verwirklichten Dionysos“, nicht aber auf jenen, der lange vor Zeus, „aber doch immer nur im Kommen, in der Verwirklichung begriffen war“.36 Neben der allgemeinen zentralen Stellung im Ganzen der Mythologie hat Dionysos darin auch die besondere systematische Stelle des „zweiten Gottes“,37 des Gottes „der zweiten Potenz“.38 Als solcher tritt er in das mythologische Bewusstsein von Anfang an als der, der dazu gekommen ist, um dieses Bewusstsein von seiner Erstarrung, Benommenheit und Befangenheit durch den vorgeschichtlichen und vormythologischen, blind seienden und insofern bloß realen Gott der astralen Religion zu befreien. An der Vorstufe zur Mythologie, vor dem Auftritt des Dionysos, hängt die Menschheit dem allgemeinen, unbeschränkten und daher relativ einen Himmelgott an, wird von ihm „behaftet und gleichsam geschlagen“, „in einem Zustande von Unfreiheit, von dem wir, die wir in einer ganz andern Zeit leben uns keinen unmittelbaren Begriff mehr machen können, weil wir unter dem Gesetze ganz anderer Zeit leben.“39

30 31 32 33 34 35 36 37

Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 280. Schelling, SW XII, S. 255. Vgl. Schelling, SW XII, S. 276 f. Schelling, SW XII, S. 279. Vgl. Schelling, SW XII, S. 375. Schelling, SW XII, S. 340. Schelling, SW XII, S. 630. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchener Vorlesung 1841. Hg. v. Andreas Roser/Holger Schulten. Mit e. Einl. v. Walter E. Ehrhardt. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 117. 38 Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 278. 39 Schelling: Philosophie der Mythologie 1841, S. 155.

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Ganz dem starren und unbeweglichen Gott des Himmels anheimgefallen, ist das vormythologische Bewusstsein der Menschheit wesentlich selbst astral; es ist für alles andere als das Astrale verschlossen, es lebt und ist nur in dieser Region […]. Es gab hier für das Bewußtseyn noch gar keine Außenwelt, die Natur war für den Menschen wie gar nicht vorhanden. […] Alles ist hiernach ein innerer, ganz nur im Innern vorgehender Proceß.40

Obwohl der erste Gott allem Geistigen entzogen und der reinen Materialität verfallen ist, ist er wesentlich naturwidrig. In seiner blinden Ausschließlichkeit lässt er nämlich keine wirkliche, in sich frei vereinzelte Materialität der Natur zu. Erst durch dessen Überwindung und Unterwerfung durch Dionysos – der sich damit als kein Zerstörer und Vernichter, sondern umgekehrt als der die Natur, Leiblichkeit und sinnliche Wirklichkeit erst ermöglichende und fördernde Gott erweist – kann es zur wirklichen, lebendigen Natur kommen: Nur indem es [dieser blind seiende Gott] sich dem Dionysos unterwirft, sich ihm materialisiert, entsteht wirkliches Naturleben. Dieser Gott der zweiten Potenz ist nicht der verzehrende Gott – dies ist vielmehr der Gott der ersten Potenz. Der Dionysos der zweiten Potenz ist vielmehr der Materialität, Leiblichkeit verleihende Gott. Als der Gott, der das Bewußtsein von der strengen, verzehrenden Gewalt des ersten Prinzips erlöst, heisst er auch Kusior, Löser […].41

Dem astralen Bewusstsein der „absolut vorgeschichtlichen Menschheit“,42 das von jenem ersten unbeschränkten Einen ganz erfüllt ist und daher in einer völlig stillstehenden Zeit lebt, worin es keine Völker, keine Entwicklung, keine Zweiheit, sondern nur einen unendlichen Gott gibt, muss das plötzliche und unerwartete Kommen des Dionysos als ein ganz erstaunliches, Angst und Entsetzen einflößendes Ereignis erscheinen: „[S]o läßt sich keine tiefere Erschütterung der Menschheit denken, als diejenige ist, die erfolgen mußte, als der unbewegliche nun selbst beweglich wurde […]“.43 Diese Erschütterung muss vielmehr so gewaltig sein, dass das Bewusstsein dabei jede Besinnung verliert und dem wilden Taumel verfällt: Das Bewußtsein, von der drückenden Gewalt des realen Gottes sich plötzlich befreit fühlend, muß alle Fassung und Besinnung verlieren. Dionysos er40 41 42 43

Schelling, SW XII, S. 178 f. Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 291. Schelling: Philosophie der Mythologie 1841, S. 143. Ebd., S. 87.

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scheint daher als der Wahnsinn Bringende, oder nach Homer als der Rasende, Wahnsinnige. Nur so, aus dieser plötzlichen Befreiung, erklären sich die Handlungen eines zügellosen, bis zum Wahnsinn ausschweifenden, Lebens, die die frühesten Erscheinungen des Dionysos begleiten […].44

In der entsetzlichen Angst vor dem Verlust des ersten Gottes, was ihm als der Verlust des Gottes überhaupt, damit auch seiner eigenen Einheit erscheint, wehrt sich das in die über- und vornatürliche Stille und Unbewegtheit versunkene Bewusstsein zunächst gegen den kommenden Gott und versucht, ihm Widerstand zu leisten: Die erste natürliche Bewegung des Bewußtseyns ist also, sich ihm entgegen zu setzen, ihm die Anerkennung als Gott zu versagen. Auf jeden Fall ist er der Gott, den das Bewußtseyn bloß leidet, zu dem es kein freies Verhältniß hat, der in die Ruhe des ersten Bewußtseyns nur wie ein Gericht, wie ein Schicksal tritt, und nicht als der befreiende, der er ist, sondern nur als der verwirrende, schonungslos aufregende, darum Wahnsinn verhängende erscheint.45

Diesen zweiten und ihm neuen Gott kann das Bewusstsein nicht als den echten, d. h. den von sich und an sich seienden Gott anerkennen, sondern allein als einen sein-könnenden, d. h. einen solchen, der nur actu Gott ist, der nur durch die Tat der Gott sein kann: „Er kann daher dem Bewußtseyn, da nicht als Gott, nur als ein unbegreifliches Mittelwesen zwischen Mensch und Gott, als ein Dämon erscheinen“.46 Aber der befreiende und lösende Dionysos ist nicht nur der kommende, neue, fremde und insofern auch der gefährliche und fragwürdige Dämon; er ist auch der verführerische, zweideutige Versucher. Das Bewusstsein, in der Mitte stehend „zwischen dem blinden, ganz in das Seyn herausgekehrten Gott und dem geistigen, dessen Anhauch es nicht widerstehen kann“, erscheint „als das in sich selbst irre und zweifelhafte […], als in die Angst gesetzt, in der es im eigentlichen Sinne nicht aus und nicht ein weiß“.47 Dieses zögerliche, schwankende und zweideutige Dasein in der Mitte, worin das Bewusstsein einerseits an dem Vergangenen hängt und haftet und sich verzweifelnd weigert, es endgültig zu verlassen, während es andererseits zugleich schon im Begriff ist, dem Kommenden und Künftigen entgegenzukommen, sich ihm hinzugeben und ihn in sich 44 45 46 47

Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 278 f. Schelling, SW XII, S. 275 f. Vgl. Schelling, SW XII, S. 281 f. Schelling, SW XII, S. 275. Schelling, SW XII, S. 298.

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aufzunehmen, wird nach Schellings Erklärung in der Mythologie immer durch die weibliche Göttlichkeit dargestellt. Der durch die Annäherung des zweiten Gottes erschütterte und damit in Bewegung versetzte erste, unbewegte, unbeschränkte und alles ausschließende Gott Uranos wird durch dieses erste Beweglichwerden zur weiblichen Urania. Auf der nächsten Stufe wird der starre, im gesteigerten Widerstand gegen Dionysos wieder zur ehemaligen Ausschließlichkeit gekommene Kronos, wenn seine Widerstandskraft mit der Zeit wieder nachlässt, zur beweglichen, vielmehr fließenden Göttin Rhea. Also gilt im allgemeinen, dass in der Mythologie jede weibliche Gottheit auf die Ueberwindung eines frühern Princips hin[deutet], von dessen erdrückender Gewalt sich das Bewußtseyn plötzlich befreit fühlt, während es dagegen einem andern Princip, das es noch nicht fassen kann, sich Preis gegeben fühlt, und so gleichsam seiner selbst ohnmächtig, taumelnd wird.48

Aber in keiner Gestalt der griechischen Mythologie wird dieser wesentlich unentschlossene, daher auch zweideutige und schwankende Bewusstseinszustand so plastisch und eindrucksvoll dargestellt wie in der Gestalt von Demeter, von der Schelling sagt: „Demeter ist die Gestalt, durch welche die hellenische Mythologie ihre ganze Eigenthümlichkeit erhält. Ohne Demeter gäbe es keine griechische Götterwelt.“49 Demeter ist aber auch die Göttin, die schon zum Teil über die Mythologie hinaus weist. Als das vom Gott endgültig verlassene und damit leere, unerfüllt gelassene Bewusstsein – „das gleichsam lauter Begier, Sucht und Hunger ist“50 – ist sie schon „das die Mythologie und die Mysterien vermittelnde Bewusstsein.“51 Hier aber, im Bereich der reinen Mythologie, wird der dionysische, und d. h. der wesentlich zweideutige Zustand des Bewusstseins außer durch Dionysos selbst vor allem durch die orientalische Göttin Kybele dargestellt, deren Erscheinung vom ausgelassenen und ausschweifenden Orgiasmus, d. h. von den mannigfaltigen „Erscheinungen wilder, sich selbst nicht fassender Begeisterung“52 begleitet wird. Schelling will aber den Orgiasmus nicht – und das ist wieder ein wichtiger Unterschied zu Nietzsche – als das Wesen des Dionysos und des Dionysischen annehmen. Er ist der Meinung, dass „die Handlungen eines zügellosen, bis zum 48 49 50 51 52

Schelling, SW XII, S. 246 f. Schelling, SW XII, S. 631. Schelling, SW XII, S. 631. Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 267. Schelling, SW XII, S. 351.

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Wahnsinn ausschweifenden, Lebens“ nur „die frühesten Erscheinungen des Dionysos begleiten“.53 Nach seiner Ansicht gehört „jener Zustand, wo Dionysos noch in der völligen Spannung gegen den realen Gott ist, wo er noch taumelnd aufs Bewußtsein wirkt, […] einem frühern Moment an, als dem, welchen das griechische Bewußtsein darzustellen bestimmt war“.54 In der griechischen Mythologie soll Dionysos seinen anfänglichen Orgiasmus schon aufgehoben und demnach ,das Titanische‘ – was der Etymologie nach das Ganze der in der Spannung begriffenen Mächte bedeute55 – im Wesentlichen hinter sich gebracht haben. Dionysos, der in Schellings Auslegung der Mythologie die Schlüsselrolle hat und der in dieser Auslegung von zentraler Bedeutung ist, ist kein orgiastischer und den Taumel erregender, sondern ein überwiegend geistiger, wesentlich vermittelnder und versöhnender Gott. Als solcher gehört er streng genommen überhaupt nicht zu den wirklichen Göttern der griechischen Mythologie, die Schelling auch als die bloß reellen, materiellen und gewordenen Götter bezeichnet. Da die griechische Mythologie als Ganzes eine geistige ist, nimmt Dionysos als der relativ geistige Gott an allen ihren Göttergestalten teil, und ist die innere, esoterische Wahrheit sowohl von Hades wie auch von Poseidon und Zeus. Des näheren stellen diese drei Kronossöhne nur die verschiedenen Momente von Dionysos dar. Hades ist so der erste, schon in die Vergangenheit verdrängte Dionysos,56 Poseidon der zweite oder eigentliche Dionysos, der aber nur „im Materiellen“57 dieser ist, und Zeus ist der dritte Dionysos, der zwar an sich, aber immer noch nicht auch wirklich und für sich geistig ist.58 Insofern kann die ganze Welt des griechischen Polytheismus als die Welt des Dionysos betrachtet werden:

53 54 55 56

Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 278 f. Ebd., S. 280. Vgl. ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 379 f.: „Der erste Dionysos ist der überwundene, der in sein Ansich zurückgetretene, der also = Hades ist. Dieser, inwiefern er als Dionysos gedacht wurde, ist er nicht materiell, sondern reine Potenz = unserm A1; aber inwiefern er doch ursprünglich materieller Gott war, und zur reinen Potenz nur wieder überwunden ist, insofern behält er wohl auch eine Stelle unter den materiellen Göttern, unter den Kronos=Söhnen; aber hier ist er dann nicht Dionysos; als Dionysos gehört er dem esoterischen Wissen an.“ 57 Schelling, SW XII, S. 581. 58 Vgl. Schelling, SW XII, S. 663 f.

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„[A]lso die Welt des Zeus, d. h. der mit Zeus gesetzten Götter, ist die Welt des Dionysos, und Dionysos selbst in Zeus.“59 Auf diese Weise gelangt das Bewusstsein auf einem „natürliche[n] Weg zu der Vorstellung des dreifachen Dionysos, in welchem es nun die drei reinen Potenzen oder Ursachen nicht mehr in ihrer materiellen Complication, sondern als reine, zum Begriff erhobene Ursachen“60 hat. Als Folge daraus ist auch die weitreichende und denkwürdige These zu verstehen, in der Schellings Philosophie der Mythologie ihr von Anfang an angestrebtes Ziel und ihren höchsten Zweck erreicht: „Und so ist jetzt alles Dionysos. Nur solange die Spannung dauerte, waren die Potenzen different. Mit der aufgehobenen Spannung ist das zuvor getrennte nun eins. Dies war die höchste Ansicht, die in den Mysterien ausgeführt wurde.“61 Durch die Einsicht in die Einheitlichkeit des von der anfänglichen Spannung gelösten Dionysos, der damit gleichzeitig als der formelle, wesentliche, ursächliche, metaphysische und intelligible Gott – das sind alles die verschiedenen, immer wieder kommenden Bezeichnungen von Schelling selbst62 – erkannt wird, wird schon das Reich der Mythologie verlassen und der Zugang zu den Mysterien freigemacht. Von diesem höheren Standpunkt wird nun ersichtlich, dass die griechischen Götter nicht mehr als Erscheinung sind,63 dass der Polytheismus „bloß ein Leben des Scheines“ ist, dass er „keine wahre Versöhnung mit Gott in sich schließt“, und daher nichts anderes ist als „ein bloß exoterischer, kosmischer, natürlicher Vorgang“.64

59 Schelling, SW XII, S. 642: „Die Götterwelt des Zeus ist eigentlich die von Dionysos (dem zweiten, A2, so oft ich von Dionysos absolut spreche) hervorgebrachte Welt – alle jene Zeusgötter sind nur die den ausschließlichen, realen Gott verhüllenden, eben darum ihn als unsichtbar, als bloßen Grund setzenden Gestalten, und eben dahin, diesen ersten Gott zum bloßen Grund, zur Materie und Unterlage des mannichfaltigen, getheilten Seyns zu machen, ging ja die ganze Wirkung des Dionysos; wie in der Natur das ausschließliche Princip Grundlage des mannichfaltigen und getheilten Seyns wird, so auch in der Mythologie: also die Welt des Zeus, d. h. der mit Zeus gesetzten Götter, ist die Welt des Dionysos, und Dionysos selbst in Zeus.“ 60 Schelling, SW XII, S. 634. 61 Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 321. 62 Vgl. ebd., S. 262 u. S. 265 u. Schelling, SW XII, S. 188, S. 232, S. 393, S. 398, S. 580, S. 650 f., S. 663 u. S. 636. 63 Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 261. 64 Ebd., S. 397.

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So drängt die Mythologie selbst über sich hinaus zu den Mysterien, die „das Wahre der Mythologie“65 enthalten und der einzig wahre Schlüssel zu ihrer Erklärung sind. Der wesentliche Inhalt der Mysterien ist nicht nur die Einsicht in die unauflösliche Verkettung der drei formellen, geistigen bzw. verursachenden Gestalten von Dionysos. Darüber hinaus verklärt sich diese die Mythologie abschließende Einsicht hier allmählich zum Begreifen dessen, daß diese verursachenden Götter nicht bloß unauflösbar vereinigt, sondern daß sie nur verschiedene Gestalten eines und desselben aus sich selbst, durch sich selbst und in sich selbst sich bewegenden Gottes, oder daß sie verschiedene Momente dieses einen aus, durch und in sich selbst gehenden Gottes sind.66

Damit kommt auch die gesamte philosophische Betrachtung der Mythologie „an die Grenze […], wo der Übergang zur absoluten Versöhnung ein notwendiger ist.“67 An dieser Grenze tritt Dionysos völlig zurück und lässt an seiner Stelle den einzigen Gott zu, der dazu geeignet ist, diese absolute Versöhnung zu vollbringen. Erst in der Christologie der Schellingschen Philosophie der Offenbarung findet die Dionysoslehre seiner philosophischen Mythologie ihre sie aufhebende Vollendung.68 Mit einer kaum zu überbietenden Klarheit und Gewissheit hat Schelling diese seine tiefste Überzeugung in seiner Berliner Vorlesung über die Philosophie der Offenbarung ausgesprochen. In der Paulus-Nachschrift heißt es: Erst in den Mysterien ist die Mythologie geendet; jedes Leben wird nur dadurch abgeschlossen, daß es sein Ende, seinen Tod in sich begreift, und den Begriff einer Zukunft setzt. Nicht im Taumel bacchischer Aufzüge, sondern in der Stille jener ernsten Nächte, wo der Hellene zugleich der Notwendigkeit der gegenwärtigen Realität sich bewußt ward, und zugleich ihm ein neues Licht anbrach, lag die Versçhnung der Mythologie. Aber jetzt – nahen wir der absoluten Versçhnung. 69 65 66 67 68

Ebd., S. 265. Ebd., S. 320. Ebd., S. 389. Vgl. Schelling, SW XII, S. 643 f.: „Durch das Setzen dieses äußeren, exoterischen Polytheismus gelangt oder befreit sich das Bewußtseyn zu jener inneren, rein geistigen Erkenntniß, in der es nur noch mit den reinen Ursachen verkehrt, die dann selbst wieder zu einer noch höheren hinüberleiten, welche aber selbst in der Mysterienlehre nur als zukünftig, als bevorstehend verkündet, und als das tiefste Geheimniß bewahrt wird, auf dessen Veröffentlichung Todesstrafe oder ewige Verbannung gesetzt ist.“ 69 F.W.J. Schelling: Philosophie der Offenbarung 1841/42. Hg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt a.M. 1977, S. 249.

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Mit Dionysos tritt aber auch die Tragödie zurück und wird unwiederbringlich der Vergangenheit überlassen: Im letzten Gedanken des hellenischen Bewußtseins erklärt sich erst die ganze Eigentümlichkeit des griechischen Charakters, erklärt sich jener tiefe tragische Zug, der durch das ganze Leben der Griechen unverkennbar hindurchgeht, jener Zug des Bewußtseins, der sie in der ausgelassensten Lust nicht verläßt, daß diese ganze Welt des Scheins erlöschen und von einer truglosen Welt verdrängt werde.70

Damit sind auch wir abschließend zum dritten, vielleicht dem entscheidenden, kaum zu überbrückenden Unterschied zu Nietzsche gekommen, für den alles darauf ankommt, die wahre Tragödie erstmal beginnen zu lassen, und der fest und unerschütterlich auf der zukunftsbringenden Wahrheit des griechischen Polytheismus und des griechischen Dionysos bestand: „Wir Wenigen oder Vielen, die wir wieder in einer e n t m o r a l i s i r t e n Welt zu leben wagen, wir Heiden dem Glauben nach […]. Wir glauben an den Olymp – und n i c h t an den ,Gekreuzigten‘…“71

70 Schelling: Urfassung der Philosophie der Offenbarung, Bd. 1, S. 370 f. 71 Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[16], KSA 13, S. 487.

Tragödie, Komödie und Farce. Zur geschichtsphilosophischen Ortsbestimmung der Tragödie bei Hegel und Marx Christian Iber Karl Marx sagt zu Beginn seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“1 Dieses Diktum möchte ich im Folgenden näher erläutern. Dabei gehe ich in drei Schritten vor. In einem ersten Teil erörtere ich die Struktur der Tragödie und ihre geschichtsphilosophische Ortsbestimmung bei Hegel und werfe einen Blick auf seine Komödientheorie. Im zweiten Teil beleuchte ich die Abfolge von Tragödie, Komödie und Farce in Marx’ dramaturgischer Darstellung der französischen Geschichte von 1848 bis 1851, mit der er eine Kritik an seiner eigenen an Hegel anschließenden Geschichtsphilosophie vornimmt. In einem dritten Teil möchte ich zeigen, dass sich die Moderne mit der Alternative von Tragödie oder Komödie nicht ausmessen lässt, sondern in dramaturgischen Termini eher als Tragikomödie zu bestimmen ist.

I. Struktur der Tragödie und ihre geschichtsphilosophische Ortsbestimmung bei Hegel Nach Hegel ist die Tragödie – die Situation und die Erfahrung unauflöslicher Konflikte und beständiger Kämpfe – für uns, d. h. für uns Moderne, ein Vergangenes. Moderne und Tragödie schließen einander aus. Eine tragische Moderne oder eine moderne Tragödie kann es nicht geben. Nach Marx ist die Moderne nicht nur durch eine in der Wirklichkeit aufgeführte Tragödie in die Welt gesetzt worden, sondern auch in 1

Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Kommentar v. Hauke Brunkhorst. Frankfurt a.M. 2007, S. 9. Der Kommentar (ebd., S. 133 – 329) wird zitiert als: Brunkhorst: Kommentar.

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sich selbst tragisch verfasst. Wir wollen uns zunächst erkundigen, was Hegel über die Struktur der Tragödie und ihre philosophiegeschichtliche Ortsbestimmung zu sagen hat. In seinen Vorlesungen ber sthetik geht es Hegel darum aufzuzeigen, welches Maß an Einsicht die Formen des Kunstwerks in die Struktur der Wirklichkeit oder des Geistes liefern. Dem Drama kommt bei Hegel wie schon bei Schelling in der Poesie sowie auch in den Künsten überhaupt eine Sonderstellung zu. Es gilt ihm als die „höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt“,2 weil es den Geist in seiner Totalität erfahrbar macht. Dies leistet das Drama, weil es die Handlung als Handlung zum Thema hat, die als solche vorzüglich dazu geeignet ist, die Realität des Geistes zu offenbaren.3 Die entscheidende Dimension des Dramas, wodurch es als Werk Konsistenz erhält, ist die Einheit der Handlung, wobei es um den Typ unauflöslich scheinender Konflikthandlungen geht, welche die Kollision und schließlich die Auflösung des Konflikts notwendig machen. Dementsprechend unterscheidet Hegel drei Strukturmomente des Dramas: Der Anfang markiert eine Situation, die den Konflikt noch unentfaltet in sich birgt, die Mitte stellt die Verwirrung einer Kollision dar und der Schluss bringt „die Auflösung des Zwiespalts und der Verwicklung in jeder Rücksicht“.4 Aus der Struktur des Dramas ergibt sich eine Erklärung der grundsätzlichen Möglichkeiten dramatischer Poesie. Hegel leitet die Arten dramatischer Kunst aus einem Prinzip her und er erläutert ihre Struktur. Die prinzipientheoretische Erklärung der Arten des Dramas wird ergänzt durch geschichtsphilosophische Erwägungen. Prinzipientheoretisch ergibt sich die Differenz der Arten des Dramas aus der Analyse der dramatischen Handlung. Die dramatische Handlung integriert zwei Momente in sich. Einerseits bezieht sich das handelnde Individuum auf eine essentielle gesellschaftliche Macht, die es zu seinem Handlungszweck erhebt. Andererseits geht die Handlung aus dem Grunde der Subjektivität hervor. Die Substantialität der Zwecke und die Subjektivität der Handlungstypen können verschiedene Gewichtungen 2 3 4

Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 474. Hegel skizziert seine Theorie der dramatischen Poesie in Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 474 – 574. Zu Hegels Theorie des Dramas vgl. Heinz Paetzold: Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer. Wiesbaden 1983, S. 373 – 388. Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 489.

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erhalten. Je nachdem, welche Seite die bestimmende Form ist, ergibt sich die Tragödie oder die Komödie als eine der beiden entscheidenden Arten der dramatischen Poesie. Die antike Tragödie gründet im heroischen Weltzustand, in dem das Gelten von Recht und Sitte auch in den davon geprägten Sitten und Institutionen noch wesentlich oder sogar allein von einzelnen großen Individuen oder Heroen abhängig ist. In der Tragödie machen diese Individuen sittlich substantielle, d. h. in sich berechtigte und begründete Interessen (Familie, Staat, Patriotismus etc.) zu bestimmenden Handlungszwecken, die aufgrund ihrer Einseitigkeit notwendig in Konflikt miteinander geraten. Beide Seiten sind berechtigt und verletzen zugleich notwendig das Recht des je anderen. In ihrem sittlich berechtigten Handeln geraten sie notwendig in Schuld. Tragische Schuld ist schuldlose Schuld. Sie geht aus der von den handelnden Akteuren nicht gewussten Einseitigkeit ihrer Perspektive hervor. Die Schuld ist den Akteuren zwar zurechenbar, denn sie hätten nicht handeln müssen. Zugleich ist sie für sie aber unumgänglich, wenn sie handeln. Hegel stellt heraus, dass das Thema der Tragödie das Absolute oder Göttliche selbst sei, so aber, wie es in der Sittlichkeit weltlich in Erscheinung trete. Die Heraussetzung der im Göttlichen einigen Totalität in die weltliche Realität bringe die Entzweiung hervor, auf deren Potenzierung der Konflikt beruhe. Die von Hegel als heiter und bunt gekennzeichnete griechische Götterwelt verdüstert sich in der Tragödie. Hegel betont, dass der Konflikt aus der für die Akteure unerkannten Einseitigkeit ihrer Positionen hervorgeht. Die eine Position hat in ihrer Einseitigkeit ihre Gegenposition, die ihr widerstreitet, an ihr selbst. Die Gegenposition ist ihr also nicht äußerlich, sondern ihr Sichbehaupten kann sich nur so vollziehen, dass es die Gegenposition auf den Plan ruft, durch die sie scheitert. Beide Positionen können sich nicht trennen, weil sie aufeinander angewiesen sind. Sie können sich nicht versöhnen, weil sie sich widerstreiten. Sie widersprechen einander, weil sie sich letztlich selbst widersprechen. Daher richten sich die Akteure wechselseitig durch sich selbst zugrunde. Hegel unterscheidet zwei Grundtypen tragischer Konflikte: die Tragödie des Wissens und die Tragödie des Handelns. Die Tragödie des Wissens behandelt das Recht des Wissens und des selbstbewussten Wollens, das gegen das nicht gewusste durch die Götter verhängte Schicksal angeht wie in Sophokles’ Kçnig dipus. Die Tragödie des Handelns steht nach Hegel über der des Wissens, weil die tragische Schuld expliziter wird, wenn der Handelnde die Macht, der er gegenübertritt,

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vorher kennt. Paradigmatisch für eine Tragödie des Handelns ist nach Hegel der Konflikt zwischen dem Recht des Staates und dem Recht der Familie in Sophokles’ Antigone. Nur die Tragödie des Handelns scheint für eine geschichtsphilosophische Deutung geeignet zu sein. Denn sie lässt das selbstbewusste Handeln der Akteure an einem Konflikt scheitern, dessen Auflösbarkeit sie nicht einsehen können, und zwar deswegen nicht, weil sie in historisch bedingten einseitigen Perspektiven befangen sind. Eine solche Erkenntnis entsteht erst auf einer höheren Stufe durch Reflexion. Dieses Wissen ist zum einen eine versöhnende Verklärung der Einseitigkeiten, zum anderen ein befreiendes Wissen um ihre Leerheit und Lächerlichkeit, was den Umschlag der Tragödie in die Komödie bewirkt. Weil die Tragödie im Scheitern ihrer Helden die Beschränkungen der archaischen Sittlichkeit kenntlich macht, die deshalb als historische und daher als veränderbare erscheinen, kann sie ein kultisches Lehrstück sein. Da die Tragödie die Strukturkrise der archaischen Sittlichkeit und ihrer Mythologie offenkundig macht, ist der in ihr dargestellte tragische Konflikt nur der Durchgangspunkt eines Verstehensprozesses beim Publikum. Der in der Tragödie dargestellte Konflikt ist also nur scheinbar unauflöslich. Er verweist auf die Idee der Versöhnung. Der Untergang der Helden ist nicht lediglich Schrecken und Bedauern erregend und damit sinnlos. Er ist vielmehr sittlich berechtigt und erhebt das Publikum mit dem unmittelbaren Einleuchten der tragischen Versöhnung auf eine höhere Stufe des Gerechtigkeits- und Freiheitsverständnisses. Im Lichte dieser höheren Stufe, auf der nach Hegel auch eine christliche Versöhnung möglich wird, die nicht mehr negativ im Untergang des Individuums besteht, erscheinen die Einseitigkeiten der Tragödie als notwendige Illusionen. Diese sind notwendig in einem Doppelsinne: erstens weil die Akteure in ihrer historischen Lage es nicht besser wissen konnten, und zweitens, weil die Kollision zur Reflexion auf die Lage führt, die schließlich in die Aufhebung der falschen Einseitigkeit mündet. Die Auflösung des tragischen Widerspruchs führt zum geschichtlichen Wendungspunkt des sittlichen Geistes. Hegel unterscheidet die immanente Vollendung des Tragischen in der tragischen Versöhnung von der Auflösung der Tragödie selbst in die Komödie. Die Tragödie ist im Prinzip die Selbstüberwindung des Tragischen und damit der Tragödie selbst, und zwar durch Selbstreflexion. Die Selbstreflexion ihrer Akteure macht sie zu vernünftigen Subjekten. Gegen diese Auffassung ließe sich einwenden, dass damit der Ernst und die Ausweglosigkeit des Tragischen verharmlost werden. Mit diesem

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Einwand steht die tragende Voraussetzung der Hegelschen Philosophie, die sich geschichtsphilosophisch herausbildende Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, in Frage. Diese Voraussetzung erweist sich in der nachhegelschen Philosophie und so auch bei Marx als brüchig. Die modernen Tragödien fallen nach Hegel in ihrem Wert und Rang hinter die antiken zurück. Sie sind durch das moderne Prinzip der Subjektivität geprägt. Die Konflikte resultieren aus der jeweiligen Bestimmtheit des individuellen Charakters, wobei das Band, das den Helden mit der Gemeinschaft zusammenschließt, loser geworden ist. Dadurch bleiben die tragischen Konflikte in der Moderne wesentlich zufällig motiviert, so dass es in ihr zwar Tragödien, aber keine Tragik geben kann.5 Werfen wir einen Blick auf Hegels Theorie der Komödie: Während Hegel die Tragödie vom substantiellen Pol der dramatischen Handlung herleitet, so zeigt er, dass in der Komödie die Subjektivität die Oberhand behält. Das Komische wird vom Lächerlichen abgegrenzt. Als lächerlich kann teils der Kontrast zwischen Wesentlichem und seiner Erscheinung, teils der zwischen Zweck und den für seine Realisierung aufgebotenen Mitteln erscheinen. Das Spezifische der Komödie ist die affirmative Beziehung zur Subjektivität. Zum Komischen gehört „die Seligkeit und Wohligkeit der Subjektivität, die, ihrer selbst gewiß, die Auflösung ihrer Zwecke und Realisationen ertragen kann.“6 Die Komödie beruht also darauf, dass die Bedeutungsschwere der Hindernisse und Beschränkungen, die in der Tragödie auf der Realisierung der Zwecke lastet, in Vergessenheit gerät und zum Vergangenen herabgesetzt ist. Auch die prinzipientheoretische Ableitung der Komödie verbindet Hegel mit geschichtsphilosophischen Überlegungen. Die Komödie setzt einen Weltzustand voraus, in dem die substantiellen Mächte ihre unmittelbare Geltung für die Subjekte verloren haben: „Der allgemeine 5

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Zu Hegels Interpretation des Tragischen und zu Hegels Tragödientheorie vgl. Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996, bes. S. 82, S. 83 ff. u. S. 156 ff.; Klaus Düsing: Die Theorie der Tragödie bei Hölderlin und Hegel. In: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.): Jenseits des Idealismus. Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804 – 1806). Bonn 1988, S. 55 – 82; ders.: Griechische Tragödie und klassische Kunst in Hegels Ästhetik. In: Annemarie Gethmann-Siefert u. a. (Hg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. Hegels Berliner Ästhetikvorlesungen im Kontext der Diskussion um die Grundlagen der philosophischen Ästhetik. München 2005, S. 145 – 158. Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 528.

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Boden für die Komödie ist […] eine Welt, in welcher sich der Mensch als Subjekt zum vollständigen Meister alles dessen gemacht hat, was ihm sonst als der wesentliche Gehalt seines Wissens und Vollbringens gilt“.7 Die klassische Komödie kommt daher erst am Ende der Polisgesellschaft oder in Rom auf, in der die geschichtliche Epoche der archaischen Sittlichkeit, die der Boden der Tragödie ist, überwunden ist und den Individuen ein absolutes Eigenrecht zuerkannt wird. Die komischen Konflikte wurzeln in der Autonomie des Subjekts. Dabei unterscheidet Hegel im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: 1. Die Subjekte verfolgen in sich gehaltlose Zwecke in der Weise, die nur gehaltvollen angemessen wäre, und sind darum dem Spott ausgesetzt. Substantielles muss intendiert sein, damit der komische Widerspruch hervortreten kann. Andernfalls liegt bloß substanzloses Lächerliches vor wie in vielen modernen Komödien. 2. Die Individuen spreizen sich zu in sich gehaltvollen Zwecken bloß auf, ohne diesen Anspruch durch die Weise ihres Handelns einlösen zu können. Die Zwecke erweisen sich als hohl, als Schein und Illusion. Hegel betont, dass die griechischen Dramenfiguren nicht lediglich dem Publikum, sondern auch sich selbst lächerlich vorkommen. Die Auflösung komischer Konflikte ist für Hegel „dringender fast“8 als die Auflösung tragischer. Sie zielt darauf, Subjektivität und Substantialität unbeschadet zu lassen. Weder wird das Substantielle noch das Subjektive total der Lächerlichkeit preisgegeben. So hat Aristophanes weder echte Philosophie, wahren Götterglauben noch gediegene Kunst verspottet, sondern nur die von wahrer Substantialität entleerte Form der Subjektivität. Die in sich feste Subjektivität bleibt von der Komödie unangetastet. Darin liegt ihre Ernsthaftigkeit.9 Hegels Auffassung, dass die moderne Tragödie, indem sie von der Subjektivität geprägt wird, an Rang und Bedeutung verliert, reflektiert sich auch in seiner Komödientheorie. Während die klassische Komödie nur subjektive Lebensformen thematisiere, die der gesellschaftlichen Substantialität angemessen seien, bringe die moderne Komödie lediglich einseitige und lächerliche Charaktere hervor, die nur ihre bornierte In7 8 9

Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 527. Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 530. Zu Hegels Theorie der Komödie vgl. Annemarie Gethmann-Siefert: Drama oder Komödie? Hegels Konzeption des Komischen und des Humors als Paradigma der romantischen Kunstform. In: dies. u. a. (Hg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste, S. 175 – 188.

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dividualität und das Spinnen ihrer Intrigen ernst nähmen. Sie seien aufgrund ihrer Substanzlosigkeit dem Hohn und dem Spott des Publikums ausgesetzt, bei dem das befreiende Lachen ausbleibe. Moderne Komödien gingen in die Farce über, weil in ihnen der Bezug zur gesellschaftlichen Substantialität verloren gehe, die nicht einmal als bloß intendierte vorkomme. Der Behauptung des Verlustes der Tragödie in der Moderne entspricht Hegels Tendenz, der Kunst in der Moderne die Fähigkeit abzusprechen, ein umfassendes Epochenbewusstsein zu entwickeln. Bedeutsam bleibt jedoch der Umstand, dass Hegel die ästhetische Dramatik überhaupt auf ihre geschichtsphilosophischen Voraussetzungen hin aufklärt. Der Mangel von Hegels Dramentheorie besteht darin, dass sie die Struktur der modernen Dramatik nur unzureichend zu bestimmen vermag. Hegel leugnet die Gegenwart der Tragödie und die Tragödie in der Gegenwart, weil er eine unzureichende Theorie der modernen Gesellschaft hat. Er gewahrt nicht, dass der moderne Staat die gesellschaftlichen Gegensätze zwar in eine zivile Verlaufsform bringt, sie aber darüber nicht außer Kraft setzt. Er verneint das Vorhandensein ernsthafter unauflöslicher rechtlich-ethischer Konflikte in der modernen Gesellschaft, die unter Lebensumständen entstehen, die nicht von freien Subjekten selbst hervorgebracht werden, aber auch nicht von ihnen verändert werden können.

II. Tragödie, Komödie und Farce bei Marx Marx geht es in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte um die Erklärung des Scheiterns der Etablierung eines demokratischen Staatswesens in der Februarrevolution von 1848 und die Entwicklung einer neuen Form autoritärer Herrschaft, die mit dem Staatsstreich Louis Bonapartes 1851 auf den Weg gebracht wird.10 Die komplex angelegte Schrift bedient sich dabei sowohl gesellschafts- und verfassungstheoretischer als auch dramaturgischer Darstellungsmittel. Die französische 10 Vgl. die Tabelle über den Ablauf des Staatsstreichs Luis Bonapartes’ und seine Darstellung durch Marx in Brunkhorst: Kommentar, S. 267. Brunkhorsts Kommentar, der den Leser kompetent durch das Dickicht des Textes führt, ist insofern aktuell, als er Marx’ Bonapartismusauffassung, die Verselbständigung der modernen Staatsgewalt zur autoritären Herrschaft, in Beziehung setzt zu marxistischen Theorien des Faschismus und zur Verfassungslehre Carl Schmitts im 20. Jahrhundert (vgl. ebd., S. 269 – 293).

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Geschichte führt nach Marx in diesem Zeitraum ein real-satirisches Schauspiel auf, wobei das Schema der geschichtsphilosophischen Dramaturgie zunächst nichts anderes als eine materialistische Variation Hegels zu sein scheint. Es weist drei Stufen auf: 1. die vergangene Tragödie der Französischen Revolution, 2. die gegenwärtige Prosa der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich 3. die kommende Komödie der bürgerlichen und sozialen Revolution, in der sich die historischen Beschränkungen der vorhergehenden Stufen auflösen würden.11 Mit der komödiantischen Auflösung der Tragödie schließt sich Marx Hegel an. Doch dann erweist sich die Februarrevolution von 1848, die in eine Konterrevolution mündet, als eine „lumpige Farce“ der großen Tragödie der Französischen Revolution. Im Wechsel von Tragödie, Komödie und Farce, die die Dynamik der Dialektik von Revolution und Konterrevolution handlungstheoretisch zu erklären versucht, löst sich das geschichtsphilosophische Fortschrittsschema auf. Die Hoffnung auf einen notwendigen Eintritt der Revolution muss Marx in seiner Gesellschaftstheorie aufgeben und verarbeiten, womit er in Distanz zu Hegel tritt. Die Revolutionäre des 18. Jahrhunderts sind nach Marx tragische, dem Untergang geweihte Helden, weil sie die Ideale der antiken Demokratie, die auf der Sklaverei beruhte, mit denen des modernen demokratischen Repräsentativstaates verwechseln, der auf der freien Konkurrenz der bürgerlichen Gesellschaft basiert. Wie bei den Helden der antiken Tragödie ist diese Selbsttäuschung, dieser Mangel an Einsicht notwendig, um die befreiende Gewalt der Revolution zu entfalten. Die Revolutionäre und ihre Gegner sind in einen tragischen Konflikt verwickelt, in dem sie sich notwendig Schuld aufladen, die aus der Einseitigkeit ihrer verengten Perspektiven erwächst. Nicht aus Privatinteresse, sondern um die tugendhafte politische Selbstbestimmung der Bürger gegen die widerspenstigen Lebensäußerungen der in den Menschenrechten zugleich anerkannten bürgerlichen Gesellschaft durchzusetzen, wird Robespierre Staatsterrorist und erklärt die Revolution für permanent. Er betont die politische Selbstbestimmung einseitig auf Kosten der individuellen. Sein Terror, der erste Massenmord des modernen Staates, noch bevor er richtig etabliert ist, bringt jedoch zugleich die egalitäre konstitutionalistische Verfassungsidee auf den Weg. Der tragischen Poesie der Französischen Revolution folgt die Prosa der sozialen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die auch ohne 11 Zu Marx’ dramaturgischer Darstellung vgl. ebd., S. 191 – 218.

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demokratisch legitimierte Politik und menschenrechtlichen Universalismus prächtig gedeiht, insofern nur das Grundrecht des Privateigentums gesichert ist. Die Ironie der tragischen Revolution besteht darin, dass sie auf radikale Demokratie zielte und zum Ergebnis modernen Kapitalismus hatte. Aus der zur Vergangenheit herabgesetzten Tragödie der Französischen Revolution wird die Komödie der demokratischen Verfassungsrevolution hervorgehen, die sowohl die alte Einseitigkeit der Perspektive der tragischen Revolutionäre als auch die Borniertheit der prosaischen Eigentumsfreiheit der Bourgeoisie ablegt und Staat und bürgerliche Gesellschaft miteinander versöhnt. Die Ironie der prosaischen Entwicklung des Kapitalismus liegt darin, dass er nur Bestand hat, wenn er permanent alle Verhältnisse umstürzt und im aufkeimenden proletarischen Klassenbewusstsein ein gegen das Privatinteresse der Bourgeoisie gerichtetes öffentlich-allgemeines Interesse erzeugt, das die Grundlage für einen demokratischen Staat abgeben könnte. Die Komödie der Verfassungsrevolution ist etwas Ernsthaftes. Sie teilt mit der prosaischen bürgerlichen Gesellschaft die Nüchternheit und Sachlichkeit. Sie bedient sich der Aufklärung, der Kritik und der Diskussion, der demokratischen Organisation, des positiven Rechts und der politischen Autonomie. Erst wenn „der Inhalt über die Phrase“12 geht, so Marx, kann die „moderne Revolution ernsthaft“13 werden. Die Komödie der demokratischen Revolution modelliert Marx nach der klassischen, weil in ihr das, was die Tragödie ernsthaft macht, in Vergessenheit gerät. Erst wenn die drückende Last der Tradition abgeschüttelt ist, wird die Komödie der Revolution möglich, denn dann erst kann sie ihre eigene Poesie erzeugen, die sie nicht aus der Vergangenheit, sondern aus der Zukunft schöpft. Die ernste Komödie der demokratischen Revolution verbindet die neue Sachlichkeit mit dem Hohn, Spott und Gelächter über ihre eigenen anfänglich scheiternden Versuche. An ihrem guten Ende wird das befreiende Lachen stehen. Alle werden auf der Bühne der Weltgeschichte tanzen und rufen: „Hic Rhodus, hic salta!“14 Was Marx mit dieser Charakterisierung der demokratischen Revolution vor Augen steht, ist zum einen der Aufstand der Pariser Arbeiter vom Juni 1848, den er als das „kolossalste[n] Ereigniß in der Geschichte 12 Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 12. 13 Ebd., S. 13. 14 Ebd., S. 14.

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der europäischen Bürgerkriege“15 bezeichnet. Dieser Aufstand ruft mit seiner Gewaltsamkeit und Hässlichkeit in tragischer Ironie die unbezwinglich gewordene Gewalt des modernen Staats auf den Plan, durch den er in drei Tagen „niederkartätscht[e]“16 wurde. Zum anderen hat Marx im Begriff der neuen Sachlichkeit den Typ des revolutionären Helden antizipiert, den er zehn Jahre später auf dem Höhepunkt des amerikanischen Bürgerkriegs in Abraham Lincoln zu finden glaubt, der für ihn als Revolutionär des allgemeinen Stimmrechts den egalitären bürgerlichen Geist verkörpert. Lincoln ist der revolutionäre Held der Komödie, ein ziviler Revolutionär ohne Phrasen. Zur ernsten Komödie der demokratischen Revolution mit ihren zivilen Helden kommt es nicht. Die Erfahrungen der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes vom Juni 1848 durch die exekutive Staatsgewalt und der Errichtung der politischen Diktatur der Bourgeoise im Parlament mit Hilfe des Belagerungszustandes nötigt Marx zu einer Korrektur am bisher verwendeten Schema der geschichtsphilosophischen Dramaturgie. Die Komödie der politischen Freiheit und Gleichheit schlägt um in eine Farce, in eine schlechte Komödie, was allein erklären kann, wie es zu dem Staatsstreich des mediokren Neffen des großen Napoleon kommen konnte, der die Republik durch eine Präsidialdiktatur ersetzt. Zu Beginn seiner Schrift führt Marx die Bemerkung Hegels aus seinen Vorlesungen ber die Philosophie der Geschichte an, wonach die Wiederholung eines zunächst zufälligen weltgeschichtlichen Ereignisses den Beweis der Notwendigkeit und Vernünftigkeit der geschichtlichen Entwicklung darstellt. Die Wiederholung verwandelt die Kontingenz in Notwendigkeit.17 Wenn Marx sagt, dass Hegel mit seiner Wiederholungsbehauptung Recht habe, jedoch vergessen habe hinzuzufügen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce, dann zielt er darauf, dass der Optimismus nicht nur der idealistischen, sondern auch der materialistisch gewendeten Vernunft unbegründet ist. Die Erfahrung des Rückschritts im Fortschritt, der Ungerichtetheit und Kontingenz des Geschichtsver15 Ebd., S. 18. 16 Ebd., S. 23. 17 Vgl. Hegel, PhGesch, TWA 12, S. 380: „[W]ie denn überhaupt eine Staatsumwälzung gleichsam im Dafürhalten der Menschen sanktioniert wird, wenn sie sich wiederholt. So ist Napoleon zweimal unterlegen, und zweimal vertrieb man die Bourbonen. Durch die Wiederholung wird das, was im Anfang nur als zufällig und möglich erschien, zu einem Wirklichen und Bestätigten.“

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laufs veranlasst Marx dazu, eine teleologisch ausgerichtete Geschichtsphilosophie insgesamt zu verabschieden. Das bisher von Marx in Anschlag gebrachte Schema der Geschichte der Verfassungsrevolutionen: Beseitigung der alten Verfassung durch revolutionäre Gewalt, Etablierung der neuen Verfassung durch verfassungsgebende Gewalt und Umsetzung und Ausgestaltung der Verfassung durch die verfasste gesetzgebende Gewalt wird von der Farce von 1848 – 1851, der Erfahrung des Scheiterns der Verfassungsrevolution, über den Haufen geworfen. Dieses Scheitern und die sich daran anschließende Restaurationsepoche bezeichnen für Marx den Einbruch einer nachgeschichtlichen Epoche in die Vorgeschichte, der das Modell ,aus Vorgeschichte wird Geschichte‘ ins Gegenteil verkehrt. Alle Charakterisierungen der Farce zielen auf Indikatoren politischer Handlungslähmung. Das Motiv der Tradition, die wie ein Alp auf den Hirnen der Lebenden lastet und die Akteure zur politischen Handlungsunfähigkeit verurteilt, durchzieht Marx’ Beschreibung der Farce.18 Die nachgeschichtliche Zeit ist eine bleierne Zeit, in der die Zeit stillzustehen scheint. Es werden nur „kleinlichste[n] Intriguen“ gesponnen und „Hofkomödien“19 gespielt. Die Bourgeoisie geht ihren bornierten Privatinteressen nach, während sich gleichzeitig ihre parlamentarischen Vertreter mit den monarchistischen Feinden der Republik zur Partei der Ordnung zusammenschließen. Ein weiteres Motiv ist das Substanzloswerden der Sprache. Die Namen werden zu bloßen Worthülsen, Phrasen, Schatten und Gespenstern. Sie verwandeln sich in ein gehaltloses Zeichenspiel. Von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit sind nur noch die Namen geblieben. Hauptdarsteller der Farce ist Louis Bonaparte. Er gewinnt die Oberhand über seine Konkurrenten, weil er als einziger das komödiantische Spiel als Spiel durchschaut. Er gewinnt das traurige Spektakel, weil er in dem „Augenblicke, wo die Bourgeoisie selbst die vollständigste Komödie“20 ernsthaft spielt, „die Komödie platt als Komödie“21 spielt. Er ist im Unterschied zur Bourgeoisie und deren politischen Vertretern derjenige, der nicht lediglich seine Rolle spielt, sondern als Schauspieler, der die Rolle des zukünftigen Kaisers spielt, handelt. Er versteht es, die für 18 Vgl. Marx: Der achtzehnte Brumaire des Luis Bonaparte, S. 9: „Die Tradition aller todten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“ 19 Ebd., S. 37. 20 Ebd., S. 69. 21 Ebd., S. 70.

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ihn nützlichen gesellschaftlichen Gruppen für sich zu instrumentalisieren und die anderen gegeneinander auszuspielen. Zugleich verkörpert er mit seinem Namen die Substanzlosigkeit der Umbruchszeit. Er ist der „Ersatzmann Napoleons“,22 weil er sich in seiner Anwartschaft auf den Thron als legitimer Nachfolger des großen Napoleon ausgeben kann, obgleich er das illegitime Kind von Napoleons Schwägerin ist. Zugleich ist er mit seinem substanzlosen Namen „Napoleon“ dazu prädestiniert, der perfekte Repräsentant einer atomisierten Klasse der namenlosen ländlichen Parzellenbauern zu sein, die, verarmt und ungebildet, sich nicht selbst politisch organisieren und artikulieren kann. In der ländlichen Bevölkerung ist die Sachlichkeit und Aufgeklärtheit der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht eingekehrt. In ihrem Wunder- und Aberglauben praktiziert sie eine Napoleonverehrung als Staatsreligion. Substanzloser Name und namenlose Substanzen verbinden sich. Am 10. Dezember 1848 gewinnt Bonaparte mit Hilfe der Bauernschaft die Präsidentschaftswahlen. In der Farce, der schlechten Komödie, hat sich Bonaparte, der die dumpfe Landbevölkerung hinter sich vereinen konnte, als der gegenüber der Bourgeoisie bessere Komödiant erwiesen. Der Aufstieg Bonapartes und der Prozess der Selbstzerstörung des Parlaments sind nicht komisch. Die dramaturgische Darstellung erklärt handlungstheoretisch, nicht jedoch strukturell, was die Gründe für diesen Prozess waren. Marx bietet gesellschafts- und verfassungstheoretische Erklärungen für diesen Vorgang auf.23 Die Verfassung von 1848 hatte von Anfang an einen Konstruktionsfehler: Sie hatte zwei Köpfe, ein vom Volk gewähltes Parlament und einen vom Volk gewählten Präsidenten, wobei der Präsident nur unzulänglich an den parlamentarisch organisierten Volkswillen gebunden war. Darüber hinaus konnte sich der Präsident nicht nur auf die Klasse der Bauern und das Lumpenproletariat, sondern auf einen bürokratisch-militärischen Staatsapparat stützen. Und schließlich scheitert die parlamentarische Herrschaft über die Gesellschaft, weil die Bourgeoisie den normativen Eigenwert des Politischen verkennt, das einer Instrumentalisierung durch partikulare Interessen der Akteure widerstreitet. Marx arbeitet die Aporie heraus, die dieser Selbsttäuschung zugrunde liegt: Die eine Seite der Aporie ist, dass die Bourgeoisie nach der Nie22 Ebd., S. 131. 23 Zu diesen beiden Aspekten der Marxschen Darstellung vgl. Brunkhorst: Kommentar, S. 218 – 228 u. S. 228 – 268.

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derschlagung des Juniaufstandes 1848 das Parlament mit Hilfe des Belagerungszustandes, d. h. des Ausschlusses der urbanen Mehrheit von der Mitsprache im Parlament in eine politische Diktatur über alle Klassen der Gesellschaft verwandelt. Die andere Seite der Aporie ist, dass die Bourgeoisie in der verfassungsmäßigen Einbeziehung der urbanen Majorität und der organisierten Arbeiterschaft ihre ökonomische Klassenherrschaft in Gefahr sieht.24 Dieses Dilemma ist nach Marx für den Umschlag der Komödie der Revolution in die lumpige Farce der Zeitenwende zur Konterrevolution verantwortlich. Insgesamt bewertet Marx die Ergebnisse der bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 in Europa als tragikomische Errungenschaften, deren wahre Tragödie in der brutalen Niederschlagung oder im Ausbleiben der proletarischen Aufstände liegt.25

24 Brunkhorst beleuchtet dieses Dilemma, konstruiert daraus jedoch einen Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus (vgl. ebd., S. 187 u. S. 240 f.). Marx war dagegen der Auffassung, die parlamentarische Demokratie sei die für eine kapitalistisch verfasste Gesellschaft adäquate politische Herrschaftsform (vgl. Karl Marx: Kritik des Gothaer Programms. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Berlin 1957 ff., Bd. 19, S. 11 – 32, hier S. 28 f.). 25 Zu Marx’ satirischer Abrechnung mit den bürgerlichen Revolutionen und Konterrevolutionen von 1848/49 in Europa mit Hilfe des dramaturgischen Schemas Tragödie, Komödie und Farce in seinen in der Neuen Rheinischen Zeitung veröffentlichten Publikationen vgl. Raphael Hörmann: „Ja, vorüber war die große kölnische Domfarce“. Marx’ und Weerths Poetik der Revolution in ihren Satiren 1848/49. In: Michael Vogt (Hg.): Georg Weerth und die Satire im Vormärz. Bielefeld 2007, S. 121 – 134. Marx steht mit seiner Position zwischen zwei Paradigmen des geschichtsphilosophischen Nachdenkens über die Moderne, die deren Signum in einer Tragödienreflexion bestimmen, dem romantischen Paradigma, das so diverse Autoren wie Schlegel, Schelling, Hegel und Nietzsche vertreten, wonach die Verfassung der modernen Welt aus einer Überwindung der Tragödie entsteht, und dem mythischen Paradigma, das Max Weber und Carl Schmitt vertreten und das Franz Rosenzweig und Walter Benjamin kritisieren, demzufolge die Tragödie die Formation darstellt, in die die Moderne zurückfallen wird. Zu den beiden Paradigmen der Tragödientheorie vgl. Christoph Menke: Ethischer Konflikt und ästhetisches Spiel. Zum geschichtsphilosophischen Ort der Tragödie bei Hegel und Nietzsche. In: Andreas Arndt u. a. (Hg.): Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – Die Politik der Kunst. Erster Teil (Hegel-Jahrbuch 1999). Berlin 2000, S. 16 – 28. Dass die Moderne nicht die Zeit nach der Tragödie ist und daher von einer „Gegenwart der Tragödie in der Moderne“ (ebd., S. 27) zu sprechen ist, wie Menke gegen beide Paradigmen geltend macht, entspricht Marx’ Position.

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III. Die Moderne als Tragikomödie Auch nach der erfolgreichen Etablierung der Herrschaft eines modernen demokratischen Staatswesens über die Gesellschaft löst sich die Tragödie nicht in den heiter-nüchternen Ernst der Komödie des Politischen auf, weil der Gegensatz zwischen Allgemein- und Privatinteresse bestehen bleibt. Die Moderne zeigt sich als tragikomisch, weil sie den in ihrer Entwicklungsgeschichte abstrakt verabsolutierten Unterschied, der den tragisch-poetischen Ernst und das Pathos der öffentlichen Sittlichkeit in der Französischen Revolution von der komödienträchtigen Prosa der freien Konkurrenz der Privatinteressen in der bürgerlichen Gesellschaft trennt, als innere Entzweiung setzt und festhält. Die Verdoppelung des modernen Menschen in den allgemeinen Staatsbürger, den citoyen, und den privaten bourgeois enthält in sich eine tragikomische Verschränkung. Denn beide stehen sich nicht so entgegen, dass sie an zwei separate soziale Stände verteilt wären. Vielmehr sind es nur verschiedene Gesichter oder Profile desselben modernen Menschen. Darin kann man das Wesen des modernen Geistes erblicken, das nur in den Widersprüchen und Ambivalenzen der Moderne sichtbar wird. Die sich hier vollziehende Versöhnung ist eine in der Zerrissenheit und durch den Konflikt hindurch. Erzwungene Versöhnung ist keine vorübergehende Stufe in der Entwicklung des modernen Geistes, sondern sein Dauerzustand. Sie ist die vollständige Verwirklichung seines Begriffs nicht nur hinsichtlich des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Gesellschaft, deren Gegensätze zwar durch den Staat in eine zivile Verlaufsform gebracht sind, ohne aber dadurch ihre Gegensätzlichkeit einzubüßen. Im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital führen jeweils ebenso gut begründete Handlungen zur Kollision: „[E]ine Antinomie [findet] statt“, sagt Marx im Kapital, in der „Recht wider Recht“ steht und „beide gleichmäßig durch das Gesetz […] besiegelt“ sind.26 Die modernen Gewerkschaften fechten diesen Konflikt nicht aus, sondern lösen ihn in eine Komödie mit bitterem Humor auf. So werden in Tarifverhandlungen große Teile der Arbeiterschaft von den Arbeitgebern vor die Alternative gestellt, entweder Niedriglohn oder gar kein Arbeitsplatz, eine Alternative, die mehr ist, als eigentlich von einer Gewerkschaft zu bewältigen ist, weil damit von den Arbeitgebern im Grunde die Sys26 Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Marx/Engels: Werke. Bd. 23, S. 249.

Tragödie, Komödie und Farce

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temfrage aufgeworfen ist. Wenn Arbeitnehmer in einem solchen System leben wollen, kommen sie aus dieser Alternative ,gar kein Arbeitsplatz oder zu wenig Lohn zum Leben‘ nicht heraus. Die Gewerkschaft kapituliert vor dieser Alternative. Doch sieht sie es nicht so, sondern betrachtet diese Alternative als großartiges Betätigungsfeld, immer noch den optimalen Ausgleich zwischen Erhalt von Arbeitsplätzen und Minderung der Lohnsenkung herauszuwirtschaften. Sie lobt sich selbst dafür, zwischen zwei existenzbedrohenden Übeln einen vernünftigen Kompromiss vereinbart zu haben. Die farcehafte Komödie bleibt hier durchaus zweideutig. Hegel würde sagen: „[D]ie Knoten schürzen sich hier nicht in spielenden, sondern in für diesen sittlichen Trieb ernsthaften, für den Zuschauer aber komischen Gegensätzen“.27 Doch auch für den Zuschauer ist das ganze Spektakel nur auf den ersten Blick lustig, denn er wohnt hier einer typisch tragischen Komödie oder komischen Tragödie der Moderne bei. Aufgrund der geschichtlichen Verfassung unserer gesellschaftlichen Praxis gibt es heute die Situation tragikomischer, d. h. unauflöslich scheinender Konflikte, die nur zum Schein eine Auflösung oder Versöhnung erfahren, die in Gestalt dramaturgischer Termini theoretisch oder in Form dramatischer Poesie ästhetisch zur Darstellung gebracht werden können.

27 Hegel, NR, TWA 2, S. 498.

Wissen und Wahrheit im Widerstreit. Zu Hegels Theorie der Tragödie Tilo Wesche Hegels fortwährende Betrachtung der Tragödie allein schon ist bemerkenswert. Zeitlebens kehrt er zum Thema zurück, dem er bereits im Naturrechtsaufsatz den berühmten Titel der „Tragödie im Sittlichen“ leiht. In der Phnomenologie des Geistes wenig später gewinnt die Tragödientheorie eine zentrale Bedeutung für Hegels Gedanken einer Entwicklungsgeschichte der Vernunft. Zudem wird sie in den Vorlesungen ber die sthetik zur Schlüsseltheorie für ein Verständnis der Moderne ausgebaut.1 Schließlich dient sie Hegel in den Vorlesungen ber die Philosophie der Religion als eine Kontrastfolie, vor deren Hintergrund das Nichttragische als das unverwechselbare Kennzeichen der christlichen Religion herausgestellt wird. Abgesehen von versprengten Gedanken widmet sich Hegel der Tragödie unter einem systematischen Gesichtspunkt in diesen vier Schriften und Vorlesungen. Bemerkenswerter noch wird Hegels Interesse am Tragischen durch die Tatsache, dass seine Überlegungen zur Gattungstheorie, Zeitdiagnose und Geschichte der Tragödie von einer Fragestellung der Philosophie motiviert werden. Ihr Gravitationszentrum liegt für Hegel in der Frage, wie sich die Grundlagen für einen Wahrheitsbegriff sichern lassen. „Worauf ich überhaupt in meinen philosophischen Bemühungen hingearbeitet habe und hinarbeite, ist die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit.“2 Es liegt demnach nahe, sich Hegels Theorie der Tragödie von seinem Wahrheitsbegriff aus anzunähern. Dass Überlegungen zur Tragödie und Wahrheit bei Hegel Hand in Hand gehen, darf nicht zu Fehlschlüssen verleiten. Weder wird aus dem 1

2

Eine ausführliche Textinterpretation bietet: Michael Schulte: Die „Tragödie im Sittlichen“. Zur Dramentheorie Hegels. München 1992. Hegel legt seine Tragödientheorie in der Phnomenologie des Geistes an drei Stellen dar: Im GeistKapitel in den Unterabschnitten „Die sittliche Welt, das menschliche und göttliche Gesetz, der Mann und das Weib“ und „Die sittliche Handlung, das menschliche und göttliche Wissen, die Schuld und das Schicksal“ sowie im Religions-Kapitel der Unterabschnitt „Das geistige Kunstwerk“. Hegel, Enz. I, TWA 8, S. 14.

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Begriff der Wahrheit eine Theorie der Tragödie deduziert; noch ist das Tragische ein Element der Wahrheit. Der Wahrheitsbegriff stellt vielmehr eine kategoriale Voraussetzung von Wissenschaft, Kultur und Politik dar, mit der bestimmte Vorentscheidungen verbunden sind. Über seine Klärung lässt sich demzufolge ein Aufschluss über die Natur sozialer und politischer Konflikte gewinnen. In sozialen und politischen Konflikten drückt sich laut Hegel ein tieferer Widerspruch aus, den er als einen Widerstreit von Wissen und Wahrheit begreiflich macht. Hegel widmet sich dem Tragischen als einer spezifischen Gestalt der Konflikte im Sittlichen, denen der Widerstreit von Wissen und Wahrheit zugrunde liegt. Wir werden uns in vier Schritten auf Hegels Tragödientheorie zubewegen. Ausgehend von der Phnomenologie des Geistes wird in einem ersten Teil die Verbindung nachgezeichnet, die Hegel zwischen dem Tragischen und dem Widerstreit von Wissen und Wahrheit knüpft (I.). Der zweite Teil widmet sich der kritischen Ausrichtung von Hegels Tragödientheorie, die auf eine Überwindung der Tragödie, das Verschwinden des Tragischen zielt (II.). Dienen der erste und zweite Teil einer Rekonstruktion der Tragödientheorie Hegels, so gibt der dritte Teil in kritischer Absicht einen Einwand gegen Hegels These vom Ende des Tragischen zu Bedenken (III.). Abschließend wird im Medium kritischer Neudeutung der Tragödientheorie Hegels der Versuch unternommen, in wenigen Strichen die Grundlagen anzudeuten, auf denen die Tragödie als Kunstform für die Gegenwart wiederzugewinnen sei (IV.).

I. Das Tragische als Widerstreit von Wissen und Wahrheit Das Herzstück der Tragödientheorie Hegels bildet der Gedanke einer Symmetrie des Rechts, mit dem Konfliktparteien ihre Ansprüche gegeneinander erheben. Die kollidierenden Interessen begegnen sich auf Augenhöhe als zwei Standpunkte gleichen Rechts. „Die Wahrheit […] der gegeneinander auftretenden Mächte des Inhalts und Bewußtseins ist das Resultat, daß beide gleiches Recht und darum in ihrem Gegensatz, den das Handeln hervorbringt, gleiches Unrecht haben.“3 Die gegen3

Hegel, Phän., TWA 3, S. 539. Siehe auch: „Das ursprünglich Tragische besteht nun darin, daß innerhalb solcher Kollision beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben, während sie andererseits dennoch den wahren positiven Gehalt ihres Zwecks und Charakters nur als Negation und Verletzung

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sätzlichen Ansprüche besitzen das „gleiche Recht“ und erzeugen „gleiches Unrecht“, sofern die Verwirklichung des einen Anspruchs diejenige des anderen, wiewohl gleichberechtigten, ausschließt. Das Tragische hat demnach drei Eigenschaften. Ansprüche werden erstens mit gleichem Recht vertreten, zweitens als notwendige, unerlässliche Ansprüche erhoben, welche drittens in einem Gegensatz zueinander stehen. Gleiches Recht, Notwendigkeit und Gegensatz ziehen die Unauflösbarkeit und Härte des Tragischen nach sich. Interessen verstricken sich hier unentrinnbar und mit zerstörenden Folgen in einen Konflikt. Diese Ausweglosigkeit ist das Wesensmerkmal, welches die tragische Kollision von anderen Formen des Konflikts unterscheidet. Das Tragische bei Hegel ist ein Synonym für die Unversöhnlichkeit, mit der Konflikte ausgetragen werden. Hegel kreist das Tragische zudem auf die Kollision von Besonderem und Allgemeinem ein, die vom Konflikt zwischen Antigone und Kreon geradezu verkörpert wird. In der tragischen Kollision verschafft sich ein grundlegender Widerstreit Geltung, von dem jede Bewusstseinsgestalt der Phnomenologie des Geistes geprägt ist. Er kommt hier allerdings spezifisch als Tragik zum Ausdruck. Der prinzipielle Konflikt zwischen Besonderem und Allgemeinem geht auf einen Widerstreit von Wissen und Wahrheit zurück. Die genannten drei Bestimmungen – gleiches Recht, Notwendigkeit und Gegensatz – sind Eigenschaften, die das Verhältnis von Wahrheit und Wissen kennzeichnen. Wissen und Wahrheit stehen für gleichberechtigte Ansprüche ein, sind notwendige Voraussetzungen für Erkenntnis und bilden einen Gegensatz zueinander. Das Verhältnis von Wissen und Wahrheit – von, wie man sagt, Rechtfertigung und Geltung – wird in der Phnomenologie des Geistes unter den Bezeichnungen „Für-es-sein“ und „An-sich-sein“ ausgeführt.4 Damit ist folgendes gemeint. Zwar erscheint ein Sachverhalt erst in einer Rechtfertigungseinstellung – für einen Urteilenden –, jedoch ohne die Gewissheit, dass er sich frei von Täuschungen – wie er an sich ist – zeigt. Hegels Begriff des „An-sich-seins“

4

der anderen, gleichberechtigten Macht durchzubringen imstande sind und deshalb in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld geraten“ (Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 523). Hegels Deutung der Symmetrie zwischen Antigone und Kreon ist zu Recht umstritten: Wolfgang Schadewaldt: Die griechische Tragödie. Frankfurt a.M. 1991, S. 225 ff.; Andrew C. Bradley: Hegel’s Theory of Tragedy. In: ders.: Oxford Lectures on Poetry. London 1950, S. 69 – 95; Dieter Bremer: Hegel und Aischylos. In: Hegel-Studien, Beiheft 27 (1986), S. 225 – 244. Hegel, Phän., TWA 3, S. 78 – 81.

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steht für keine außersprachliche Entität ein, sondern für das Wissen um die Vermeidung von Täuschungen. Wahres Wissen schließt demnach ein Wissen darüber ein, dass solche Täuschungen vermieden sind, die in der jeweiligen Einstellung undurchschaut bleiben. Der Widerstreit von Wissen und Wahrheit wird mit dem Nachweis der Wahrheitsfähigkeit des Wissens aufgelöst. Dieser Nachweis wird von Hegels externalistischer Theorie der Rationalität geleistet, die erklärt, warum unser Wissen zu einer Vermeidung von Täuschungen notwendig und unabhängig von den Einstellungen des Meinens, Wünschens und Beabsichtigens tendiert. Hegels Grundgedanke, den Wahrheitsbegriff mit einer Theorie der Rationalität zu erklären, beruht auf zwei Prämissen. Vorausgesetzt werden die Annahmen über den Holismus und die Anerkennungsbedürftigkeit des Wissens. Auf den Holismus geht die Täuschungsanfälligkeit des Wissens zurück. Für die Prüfung, ob ein Gedanke gerechtfertigt ist, muss auf dieselbe Gesamtheit von Überzeugungen zurückgegriffen werden, der auch der zu prüfende Gedanke entstammt. Wir können uns nicht außerhalb unseres Wissens aufstellen, um unser Wissen auf Lücken und Unstimmigkeiten hin zu prüfen, weil eine solche Beurteilung auf dasselbe Wissen zurückgreifen muss, das möglicherweise lückenhaft und unstimmig ist. Folge des Holismus ist die Blindheit für Inkonsistenzen in der Gesamtheit von Überzeugungen, auf deren Grundlage sich jede weitere Prüfung vollzieht. Insoweit bleiben Täuschungen aus der jeweiligen Rechtfertigungseinstellung undurchschaut. Für die Vermeidung solcher Täuschungen bedarf es eines Allgemeinen, das jene Rechtfertigungseinstellung überschreitet. Aufgrund seiner überschreitenden Eigenschaft bildet das Allgemeine, so Hegel, einen „Unterschied“, das „Geschiedne“, den „Gegensatz“, die „Differenz“ zum Wissen. Dieser Unterschied zwischen Wissen und Wahrheit, Besonderem und Allgemeinem verschärft sich in der Tragödie zu einem sich ausschließenden Gegensatz. Fluchtpunkt von Hegels Kritik der Tragödie ist deshalb die Aufhebung des strikten Gegenübers von Wissen und Wahrheit. Hier kommt Hegels Theorie der Anerkennung ins Spiel. Die Einheit von Wissen und Wahrheit hat die Form der wechselseitigen Anerkennung. Wissen wird auf der Grundlage allgemeiner Standards als wahr anerkannt, die wiederum vom Wissen müssen anerkannt werden können.5 Wissen wird als wahr von einem Allgemeinen anerkannt, in dessen 5

Siehe zur rationalitätstheoretischen Deutung des Hegelschen Anerkennungsbegriffs: Robert Brandom: Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution. Die

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Licht solche Täuschungen vermieden werden, die aus der jeweiligen Rechtfertigungseinstellung unentdeckt bleiben. In ihrer Wechselseitigkeit bezieht sich die Rechtfertigung ebenso auf das Allgemeine. Das Allgemeine überschreitet die Rechtfertigungseinstellung und muss zugleich aus derselben als eine legitime Instanz gelten, die berechtigterweise jenes Wissen zu beurteilen erlaubt. Denn ein Wissen ist wahr nicht deshalb, weil es von irgendeinem Standpunkt beurteilt und als wahr befunden wird, sondern aufgrund seines Anerkanntseins durch eine legitime Autorität. Der Legitimationsprozess dieser Autorität, Allgemeinheit oder Macht verläuft über die Entwicklungsgeschichte, welche in der Phnomenologie des Geistes nachgezeichnet wird. Sie führt zur Legitimation eines Allgemeinen hin, in dessen Licht Wissen als wahr anerkannt wird. Der Widerstreit von Wissen und Wahrheit – Hegel spricht auch von der „Entzweiung des Begriffs“ – birgt also einen Konflikt nach beiden Seiten hin.6 Sofern das Wissen sich seiner Täuschungsvermeidung nicht selbst vergewissern kann, hängt seine Geltung vom Allgemeinen ab, welches das Wissen überschreitet. Dieses Allgemeine muss sich dennoch gegenüber dem Wissen legitimieren können, obwohl es dasselbe überschreitet. Es ist dieses krisenträchtige Verhältnis von Wissen und Wahrheit, das sich in politischen, kulturellen und habituellen Praktiken objektiviert. Zerfall und Forschritt politischer Institutionen und sozialer Gemeinschaften sind Ausdruck einer janusköpfigen Dynamik. Die Formen von politischer Herrschaft, von Wissenschaften und Kulturen haben ihren internen Sinn darin, die Legitimität einer Allgemeinheit zu sichern, kraft derer es gelingt, individuelle Einstellungen zu überschreiten. Ihre historischen Besonderheiten bemessen sich an der Komplexitätssteigerung, in der sich Wahrheit und Rechtfertigung zunehmend anspruchvoller verschränken. Dieselbe Struktur nun, die zu stets komplexeren Formen führt, lässt die historischen Formen kollabieren. Sie zerbrechen an der fehlenden Legitimität des Allgemeinen. Formen des Politischen, der Wissenschaft, Kultur und Religion gehen zugrunde, weil die Verschränkung von Wahrheit und Rechtfertigung in ihrer jeweiligen historischen Objektivation nicht zum Einklang gelangt. Die Quelle historischer Krisen und politischer Konflikte wird somit von Hegel im Widerstreit zwischen Wahrheit und Rechtfertigung verortet.

6

Struktur von Wünschen und Anerkennung. In: Christoph Halbig u. a. (Hg.): Hegels Erbe. Frankfurt a.M. 2004, S. 46 – 77. Hegel, Phän., TWA 3, S. 536.

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Damit gewinnt das Bild, das Hegel von der Tragödie zeichnet, an Kontur. Die tragische Kollision von Besonderem und Allgemeinem, von Antigone und Kreon, geht auf das Legitimationsdefizit einer Autorität zurück, die den einzelnen Rechtfertigungen ihre Wahrheit gewähren soll. Hegel stellt das Tragische am Leitfaden des Gegensatzes von „göttlichem Gesetz“ und „menschlichem Gesetz“, von Religion und Politik dar.7 Das politische Gesetz Kreons hat eine doppelte Aufgabe. Es soll erstens eine allgemeine Ordnung gewährleisten, welche die Partikularinteressen der Familiengemeinschaften so beschränkt, dass sie nicht im Kampf der Familien gegeneinander befriedigt werden müssen. Zweitens soll die politische Allgemeinheit als eine legitime Ordnung errichtet werden. Auf diese Legitimation verweist die Betonung, dass es sich im Unterschied zum göttlichen um ein menschliches Gesetz, das heißt um die Selbstermächtigung des Menschen durch gesetztes Recht handelt. Seine Legitimität lässt sich hier jedoch nicht anders als durch Gewalt sichern. Der Krieg ist der Geist und die Form, worin das wesentliche Moment der sittlichen Substanz, die absolute Freiheit des sittlichen Selbstwesens von allem Dasein, in ihrer Wirklichkeit und Bewährung vorhanden ist. Indem er [der Krieg] einerseits den einzelnen Systemen des Eigentums und der persönlichen Selbständigkeit wie auch der einzelnen Persçnlichkeit selbst die Kraft des Negativen zu fühlen gibt, erhebt andererseits in ihm eben dies negative Wesen sich als das Erhaltende des Ganzen […].8

Antigones Entscheidung, dem göttlichen Gesetz einen Vorrang vor dem Gesetz Kreons einzuräumen, führt das Misslingen des durch Gewalt gestützten Legitimationsversuchs vor Augen. In Antigones Orientierung an der eigenen Überzeugung und Kreons Anspruch auf Allgemeinheit drückt sich das „gleiche Recht“ beider aus. Das gegenseitige Ausschließen von Wahrheit und Wissen erzeugt jedoch ebenso „gleiches Unrecht“. Weder lässt sich das allgemeine Gesetz Kreons gegenüber anderen rechtfertigen, noch aber schert sich die Überzeugungstäterin um den allgemeinen Standpunkt des Staats. Indem sie allein ihrer Überzeugung folgt, missachtet sie das Erfordernis eines Allgemeinen, von dessen Anerkennung die Wahrheit ihrer Überzeugung, ihrer individuellen Einstellung abhängt.

7 8

Hegel, Phän., TWA 3, S. 536. Hegel, Phän., TWA 3, S. 353.

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II. Hegels Kritik des Tragischen Für ein vollständiges Bild von Hegels Theorie der Tragödie ist folgende Besonderheit der Phnomenologie des Geistes genauer in den Blick zu nehmen. Die Jenaer Schrift besitzt eine Doppelfunktion: zum einen führt sie in die Wissenschaft ein, zum anderen ist sie bereits Teil der Wissenschaft.9 Als Einführung behandelt sie einen Typus von Wissen, der noch vor der Wissenschaft und deren Wahrheitsausrichtung liegt. In propädeutischer Absicht führt die Phnomenologie des Geistes zu der Wahrheitssuche erst hin, die in der Wissenschaft methodisch gesichert ist. In ihr kommt demnach ein vorwissenschaftliches Bewusstsein zur Darstellung, auf das ebendiese Wahrheitssuche nicht zutrifft. Hegel deutet das vorwissenschaftliche Bewusstsein als Form der Selbsttäuschung, Bekanntes für ein Erkanntes halten zu wollen. „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt. Es ist die gewöhnlichste Selbsttäuschung wie Täuschung anderer, beim Erkennen etwas als bekannt vorauszusetzen, und es sich ebenso gefallen zu lassen“.10 Die von Hegel erwähnte Selbsttäuschung stellt neben dem Irrtum und der Zwangsvorstellung eine von drei Grundformen der Täuschung dar. Irrtümer machen sich unwillkürlich und stets gegen ein Erkenntnisinteresse geltend aufgrund der verkannten Überkomplexität eines Sachverhalts. In pathologischen Zwangsvorstellungen dagegen werden Überzeugungen fälschlich für begründet gehalten aufgrund eines inneren Zwangs, unter dem solche Vorstellungen abgewehrt werden, die ein verletztes Selbst bedrohen. Selbsttäuschungen wiederum gehen vom Betroffenen selbst aus, lassen sich aber nicht auf eine intentionale Absicht zurückführen. Sie sind eher als eine Neigung zu beschreiben, sich mit der Bekanntschaft eines Sachverhalts zufrieden zu geben und sich von einer näheren Erkenntnis zu entlasten. Diese kognitive Entlastung hat ihren Ort zwischen der Intentionalität absichtlichen Täuschens – etwa der Lüge oder Intrige – und dem unwillentlichen Unterlaufen von Irrtümern. Selbsttäuschungen kennzeichnet eine aktive Passivität, mit der wir sie geschehen machen. Die Gestalten des Bewusstseins werden von Hegel als Formen solcher Entlastung ausgeführt, in denen am Bekannten festgehalten und vor einer Erkenntnis zurückgewichen wird, in der sich die Dinge anders und komplexer zeigen könnten. Diese – wie Hegel sie nennt – „Furcht“ oder „Angst vor der Wahrheit“ ist das Grundmerkmal des vorwissenschaftli9 Vgl. Hegel, Phän., TWA 3, S. 37 f. 10 Hegel, Phän., TWA 3, S. 35.

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chen Bewussteins.11 Verschiedenste Arten solcher Selbsttäuschung durchziehen die Phnomenologie des Geistes wie ein roter Faden. Als jene Angst vor der Wahrheit beschreibt Hegel im Herr-und-Knecht-Kapitel die „absolute Furcht“ des Selbstbewusstseins vor einem anderen Selbstbewusstsein, in dessen Licht das eigene Wissen sich für weniger begründet erweisen könnte, als es gehalten wird.12 Des Weiteren übt Hegel Kritik an einer Aufklärung, welche die „falsche Einsicht“ der „allgemeine[n] Masse“ verkenne, die im „Gewebe von Aberglauben, Vorurteilen und Irrtümern“ nicht unschuldig verstrickt sei, sondern Angst habe, aus ihm befreit zu werden.13 Desgleichen nimmt Hegel unter dem Stichwort der Heuchelei die kollektive Selbsttäuschung einer Gesinnungsgemeinschaft aufs Korn, deren Mitglieder sich gegenseitig ihre Aufrichtigkeit versichern.14 In die Galerie der Selbsttäuschungen reiht sich die Tragödie ein. Die auffälligste und wohl auch umstrittenste Seite von Hegels Tragödientheorie ist die Verbindung, die er zwischen dem Tragischen und der kognitiven Entlastung herstellt. Hegel beschreibt die tragische Kollision als ein Spannungsfeld zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Der tragische Charakter ist „in ein Bewusstes und Unbewusstes entzweit“, im „Gegensatze des Wissens und Nichtswissens“ befangen.15 Dieser „Unterschied des Wissens und Nichtwissens fällt in ein jedes der wirklichen Selbstbewusstsein[e].“16 Diese Zwischenstellung betrifft das Halbdunkle, welches die Selbsttäuschung von einer bewussten Täuschungsabsicht (Lüge oder Intrige) wie auch von dem unbewussten Unterlaufen eines 11 Hegel, Phän., TWA 3, S. 69 f. u. S. 74. Was Hegel Selbsttäuschung nennt, wird von ihm „allerdings weitgehend mit einem psychologischen Vokabular“ beschrieben; Dina Emundts/Rolf-Peter Horstmann: G.W.F. Hegel. Eine Einführung. Stuttgart 2002, S. 43. Trotz der zentralen Bedeutung der Selbsttäuschung, die das Merkmal des vorwissenschaftlichen Bewusstseins ist, verfügt Hegel über keine Theorie der Selbsttäuschung, die eine epistemologische Erklärung des Phänomens gibt und erstmals von Sartre ausgearbeitet wurde. 12 Hegel, Phän., TWA 3, S. 154. 13 Hegel, Phän., TWA 3, S. 401. Ihre Unmündigkeit hat „das Moment der Reflexion-in-sich oder des Selbstbewußtseins, getrennt von der Unbefangenheit, auch an ihr […] als eine im Hintergrunde für sich bleibende Einsicht und böse Absicht“ (Hegel, Phän., TWA 3, S. 401). 14 Vgl. Hegel, Phän., TWA 3, S. 477 – 490. 15 Hegel, Phän., TWA 3, S. 349 resp. S. 537. 16 Hegel, Phän., TWA 3, S. 538. Diese „beiden Seiten des Bewußtseins, die in der Wirklichkeit keine getrennte, einer jeden eigene Individualität haben, [erhalten] in der Vorstellung jede ihre besondere Gestalt, – die eine die des offenbarenden Gottes, die andere die der sich verborgen haltenden Erinnye“ (Hegel, Phän., TWA 3, S. 538 f.).

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Irrtums unterscheidet. Hegel findet für dieses Halbdunkle der tragischen Handlung zahlreiche Umschreibungen: So sei der Handlungsgrund „eine lichtscheue Macht“, die sozusagen unter Grund verharrt, nicht zu tage tritt;17 eine „sich verbergende[n] und im Hinterhalte lauernde[n] Macht.“18 Ebenso wird der Handlungszweck vergessen gemacht: Das sittliche Bewußtsein […] hat aus der Schale der absoluten Substanz die Vergessenheit aller Einseitigkeit des Fürsichseins, seiner Zwecke und eigentümlichen Begriffe getrunken und darum in diesem stygischen Wasser zugleich alle eigene Wesenheit und selbständige Bedeutung der gegenständlichen Wirklichkeit ertränkt.19

Zwar können solche Umschreibungen das Phänomen als Vergessenheit – besser: Vergessen-machen – nicht wirklich erklären. Die allgemeine Struktur des Tragischen wird dennoch deutlich: Das Nichtwissen des tragischen Helden ist selbstverschuldet, wird von ihm geschehen gemacht. „[D]urch die Tat [ist] auch das Nichtwissen sein Werk […], [und] setzt er sich in die Schuld, die ihn verzehrt.“20 Oder: „[D]as Bewußtsein […] verbarg sich selbst das Offenbare.“21 Kreons Standpunkt wird erst zu einem Nichtwissen durch seine Verstocktheit, sich für den Rat seines Sohns Haimon taub zu stellen und das Wissen des Sehers Teiresias zunächst auszuschlagen, auf den er erst hört, als es zu spät ist. Ebenso ist Antigones Nichtwissen selbst verschuldet dadurch, dass sie – bis in den Tod – an einem Gesetz festhält, das allein auf einer göttlichen, undurchsichtigen Autorität beruht. Damit kommt die Kritik zum Vorschein, unter deren Vorzeichen Hegel die Tragödie betrachtet. Hegels Theorie der Tragödie zielt auf eine Demaskierung des Tragischen. Politische Konflikte werden durch ihre Deutung als Tragödie mystifiziert. Seine Kritik richtet sich gegen zwei Mystifikationen. Erstens gegen den tragischen Ursprungsmythos, zweitens gegen die tragische Ausweglosigkeit. Zum Ersteren. Politische, soziale und kulturelle Konflikte entspringen nicht schicksalhaft einer dunklen Vorgeschichte. Vielmehr gehen sie auf den Widerstreit zwischen Wissen und Wahrheit zurück. Verursacht werden sie vom Legitimationsdefizit einer Allgemeinheit, welche die Täuschungsvermeidung des 17 Hegel, Phän., TWA 3, S. 347. 18 Hegel, Phän., TWA 3, S. 537. 19 Hegel, Phän., TWA 3, S. 344; vgl. Hegel, Phän., TWA 3, S. 347, S. 351 f. u. S.539 f. 20 Hegel, Phän., TWA 3, S. 349. 21 Hegel, Phän., TWA 3, S. 539.

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einzelnen Wissens sicherstellen soll. Freilich werden politische Konflikte mit der Einsicht ihrer Ursache nicht schon geschlichtet. Sie lassen sich aber als rationale Konflikte begreiflich machen, denen erklärbare Voraussetzungen zugrunde liegen. Damit ist die zweite Stoßrichtung von Hegels Kritik berührt. Entzaubert werden soll der Mythos von der tragischen Ausweglosigkeit politischer und kultureller Konflikte. Im Lichte des Tragischen erscheinen politische Konflikte als unentrinnbare Antagonismen, die sich nur durch Kampf und Untergang auflösen lassen. In der Tragödie kehrt jener „Kampf auf Leben und Tod“ wieder, mit dem im Herr-und-Knecht-Kapitel die Katastrophengeschichte einsetzt, die Hegel in der Phnomenologie des Geistes nachzeichnet.22 Politische Interessenkollisionen verschärfen sich jedoch nicht unentrinnbar zu solch einem unversöhnlichen Kampf um die Wahrheit. Vermeidbar sind nicht die Konflikte selbst, sondern ihre tragische Ausweglosigkeit. Aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit politischer Konflikte führt eine je anspruchsvollere Legitimationsform des Politischen heraus. Denn das Legitimationsdefizit, welches den politischen Konflikt verursacht, wird durch eine je komplexere Form behoben, in der sich Wahrheit und Rechtfertigung verschränken. Weder der politische Konflikt noch der Widerstreit, der ihm zugrunde liegt, lassen sich umgehen. Vermieden wird aber ihre scheinbar unvermeidbare Verschärfung zur Frage nach Leben und Tod, an der Antigone wie auch Kreon zugrunde gehen. Wir verstehen nun besser, inwiefern in der Tragödie laut Hegel eine kognitive Entlastung zum Ausdruck kommt. Politische und soziale Konflikte lassen sich grundsätzlich durch eine komplexere Legimitationsform des Politischen entschärfen. In tragischer Ausweglosigkeit verharren die Gegner, weil sie sich gegenüber einer komplexeren Legitimationsform des Politischen versperren. In diesem Verharren vor der Schwelle des Komplexeren liegt der simplifizierende, vereinfachende Zug ihrer Haltung begründet. In ihrem Interessenkonflikt verkennen sie den tieferen Widerstreit, der ihrem Konflikt zugrunde liegt. Schließlich sehen sie auch nicht den Ausweg, den ihnen eine anspruchsvollere Legitimation böte. Was diese Täuschungen vom Irrtum unterscheidet, ist, dass sie keinen zwingenden äußeren Anlass haben. Ein besseres Wissen wird nicht durch irgendwelche Umstände verstellt. Die Suche nach einer anspruchsvolleren Legitimation unterbleibt nicht deshalb, weil ihre Erfordernis nicht hätte erkannt werden können. Die Unwissenheit ist 22 Hegel, Phän., TWA 3, S. 149.

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vielmehr eine selbstverschuldete Verblendung. Aus Gründen der falschen Loyalität, des Hasses, der Rache oder der Angst vor Verlusten wird der Neigung nachgegeben, die eigene Überzeugung für begründeter zu halten, als sie ist; also die Neigung, das „gleiche Recht“ des anderen und das „gleiche Unrecht“ des eigenen Standpunkts nicht anzuerkennen.

III. Grenzen der Tragödientheorie Hegels Hier öffnet sich der Einfallswinkel, unter dem die Grenzen der Tragödientheorie Hegels zum Vorschein kommen. Wir werden Hegels Auffassung vom Verschwinden des Tragischen ins Visier nehmen. Dafür greifen wir unseren Ausgangsgedanken wieder auf. Hegel verknüpft den Begriff der Wahrheit mit einer Theorie der Rationalität, die erklärt, warum unser Wissen zu einer Vermeidung von Täuschungen notwendig tendiert. Mit Hegels Diagnose der Selbsttäuschung erhält seine Rationalitätstheorie eine eigentümliche Wendung. Denn demnach muss sie erklären können, inwiefern eine rationale Täuschungsvermeidung überhaupt einsetzt, anfängt. Hegel entwirft eine Theorie der Genese der Vernunft, in der die Wahrheitsausrichtung nicht vorausgesetzt wird, sondern erst hervorgeht. Ihr Beweisziel besteht in der Erklärung, weshalb wir notwendig auf Wahrheit ausgerichtet sind, obwohl wir die Freiheit haben, der Selbsttäuschung einen Vorrang vor ebendieser Wahrheitsausrichtung einräumen zu können. Hegels Lösungsansatz besteht in einer ausgefeilten Theorie der Negativität. Seine Unterscheidung zwischen Bewusstsein und Wissenschaft führt in der Phnomenologie des Geistes zu zwei Konsequenzen. Erstens entlastet sich, wie gesagt, das vorwissenschaftliche Bewusstsein von der Wahrheitssuche, welche die Wissenschaft verkörpert. Zweitens – und darauf richten wir fortan unser Augenmerk – erfolgt der dargestellte Erkenntnisfortschritt aus der Betroffenenperspektive des befangenen Bewusstseins. Nicht der teilnahmslose Beobachter deckt den Schein tragischer Ausweglosigkeit auf. Vielmehr ist es das jeweilige Bewusstsein selbst, das den Prozess der Einsicht durchläuft. Das vorwissenschaftliche Bewusstsein wird ohne fremden Eingriff über seine Selbsttäuschung hinaus getrieben. Die Quelle dieses Erkenntnisprozesses wird von Hegel die ,Kraft des Geistes‘, die ,Macht‘ oder gar ,Gewalt der Vernunft‘ genannt, Selbsttäuschungen durchbrechen und über sich hinaustreiben zu

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können.23 Den eigentümlichen Machtcharakter der Vernunft beschreibt Hegel näher als die ,Macht des Negativen‘. Der Erfahrungsprozess führt zumal über Stufen des Konflikts zu immer anspruchsvolleren Beziehungen zwischen Wahrheit und Rechtfertigung. Die von Hegel nachgezeichnete Geschichte reicht vom Kampf zwischen Herrschaft und Knechtschaft über die tragische Kollision bis zur Krise der Religion. In dieser Katastrophengeschichte verschafft sich dennoch ein Erkenntnisfortschritt Geltung. In der Geschichte manifestiert sich die zunehmende Überwindung der Selbsttäuschung durch stets komplexere Formen des Wissens. Am Schluss der Phnomenologie des Geistes steht die „Er-Innerung“ an eine zunehmende Eindämmung von Selbsttäuschung, die in der Geschichte stattfindet.24 Mit dieser Einsicht ist das Erkenntnisziel der Phnomenologie des Geistes erreicht. Rationalität wird als eine in der Geschichte objektive Tendenz des Wissens gesichert, Täuschungen zu vermeiden. Das Scharnier nun, das Rationalität mit der Aufhebung von insbesondere Selbsttäuschungen verbindet, ist die Negativitätserfahrung. In der tragischen Kollision verschärft sich der Konflikt zu einem Kampf auf Leben und Tod. In solcher Bedrohung schlägt das Tragische in ein Positives um. Sie setzt das Interesse frei, durch eine komplexere Legitimationsform die ausweglose Kollision aufzulösen. Der Widerstreit von Wissen und Wahrheit ist also einerseits Ursprung realhistorischer Krisen und Konflikte. Dieselben Krisen und Konflikte sind andererseits die Antriebsquelle für das Auflösen des Widerstreits von Wissen und Wahrheit. Hegels tragendes Argument lautet, dass Negativitätserfahrungen notwendig zur Einsicht und Revision von Täuschungen bewegen. Dagegen ist der Einwand zu erheben, dass dieses Argument ausschließlich auf Irrtümer, nicht aber auf Selbsttäuschungen zutrifft. Ein Mühen um die Revision von Irrtümern verstärkt sich in der Tat zwangsläufig, sobald Erfahrungen auf mögliche Irrtümer verweisen. Hegels Übertragung dieses Sachverhalts auf Selbsttäuschungen ist unzutreffend und unterschätzt die Hartnäckigkeit, mit der man sich gegenüber Anzeichen einer Täuschung zu verschließen vermag. Was sich im Fall von Selbsttäuschungen durch die Erfahrung ihrer Möglichkeit allenfalls verstärkt, ist im Gegenteil die Anstrengung, sie zu festigen. 23 Siehe zu Hegels Bestimmung der Vernunft als Macht, Selbsttäuschungen aufzulösen: Hegel, Phän., TWA 3, S. 75. 24 Hegel, Phän., TWA 3, S. 591 [i. Orig. Herv.].

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Hegels Verknüpfung von Negativitätserfahrung und Erkenntnis greift den Gedanken auf, dass in der Konfrontation mit dem eigenen Tod Verstellungen ihren Sinn verlieren. Die „Energie des Denkens“, Befangenheiten zu durchbrechen, geht aus dem Bewusstsein hervor, welches dem Tod als „dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es [das Negative] in das Sein umkehrt.“25 Verstellungen können angesichts des Lebensendes sinnlos und schal werden. Es ist aber eine Mystifikation Hegels – die sich in seiner Rede von einer Zauberkraft verrät –, dass Todeserfahrungen zu einem Verstellungsverzicht zwingend führen. Negativitätserfahrungen können einen Verstellungsverzicht nicht nur nicht erzwingen, sondern Verstellungen im Gegenteil festigen und verhärten. Die drohende Desillusionierung von Lebenslügen kann ebenso gut ein Motiv für Aufrichtigkeit sein wie auch Ursache dafür, an ihnen umso verbissener festzuhalten. Wir sehen nun, warum Hegels These vom Verschwinden des Tragischen mitnichten zutrifft.26 Seine Behauptung darf nicht missverstanden werden. Hegel verkündet das Verschwinden des Tragischen keineswegs mit der triumphalen Geste einer nachtragischen Moderne, in der Erlösung realisiert sei und Konflikte mit vergleichbarer Härte ein für alle Mal der Vergangenheit angehörten. Aufgehoben ist das Tragische vielmehr deshalb, weil wir uns des Grundes seiner möglichen Auflösung vergewissern können. Die Gewissheit, dass Selbsttäuschungen notwendig aufgebrochen werden, nimmt Konflikten ihre tragische Ausweglosigkeit. Wir konnten indes diese Notwendigkeit, mit der Selbsttäuschungen abgebaut zu werden scheinen, als Illusion entlarven. Eigenen wie fremden Selbsttäuschungen kann zwar teilweise erfolgreich die Stirn geboten werden. Als Kunstform zählt die Tragödie, wie gleich zu sehen sein wird, 25 Hegel, Phän., TWA 3, S. 36. 26 Zu demselben Ergebnis kommt aus einer anderen Richtung Christoph Menke, der gegen „Hegels antitragische[r] Metaphysik der Versöhnung“ die unabgegoltene Tragik zwischen individueller Selbstverwirklichung und rechtlicher Gleichheit ins Feld führt (Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996). Siehe zur Rückkehr der Tragödie auch sein Buch: ders.: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005. Siehe zu einem weiteren, anders gewichteten Vorschlag, Hegels Tragödientheorie gegen den Strich zu bürsten: Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung. Weilerswist 2011. Nach Wolfram Ette lässt sich ausschließlich, aber desto triftiger die Aischyleische Orestie im Lichte der Hegelschen Aufhebung des Tragischen interpretieren.

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selbst zu einer solchen Kritik an Selbsttäuschungen.27 Die Notwendigkeit, mit der sie sich ausräumen lassen, ist jedoch ein Wunschbild. Wenn die tragische Härte politischer Konflikte auf kognitive Entlastungen zurückgeht, und wenn nun solche Entlastungen Teil unserer Welt bleiben, dann ist das Tragische in unserer Gegenwart mitnichten überwunden. Das Bemühen, Täuschungen zu vermeiden, ist weder – im Sinne eines Naturalismus – mit unhintergehbarer Notwendigkeit in Kraft. Denn angesichts von kognitiven Entlastungen, die wir aus Freiheit tätigen, kann die entgegengesetzte Wahrheitsorientierung nicht anders erklärt werden, als dass sie ebenso auf Freiheit beruht. Noch kann zur Täuschungsvermeidung in Berufung auf Gründe motiviert werden. Denn dieser Intentionalismus verstrickt sich in die Aporie, dass in der IchPerspektive die Offenheit für Gründe vorausgesetzt wird, zu der im Fall von Selbsttäuschung erst hingeführt werden soll. Noch stehen sich Wahrheitsorientierung und kognitive Entlastung als ein Dualismus gegenüber, wenn denn der Wahrheitsvorrang kein Zufall sein soll. Die Täuschungsvermeidung wird also weder durch Gesetze verursacht, noch durch Gründe motiviert, noch geschieht sie aus schierem Zufall. Sie ereignet sich vielmehr kontingent. Diese Kontingenz ist kein Produkt fehlerhaften Denkens und lässt sich nicht durch eine erkenntnistheoretische Aufklärung beheben. Vielmehr ist sie eine Realität, die unserem Denken je schon zuvorkommt. Ob wir uns für das Vermeiden von Täuschungen anstrengen oder uns davon entlasten, geht auf eine Freiheit zurück, die sich durch keine Rationalitätstheorie wegargumentieren lässt. Dieser Rest von Kontingenz bleibt. Aufgrund solcher Kontingenz bleibt auch das Tragische eine Realität, die sich nicht auflösen lässt. Die Kontingenz lässt sich allerdings von Zufälligkeit nur unterscheiden, wenn es gelingt, die Bedingungen anzugeben, unter denen sich ein Wahrheitsvorrang ereignen und gegen kognitive Entlastungen Bahn brechen kann. Die Tragödie selbst legt uns die Mittel in die Hand, eine mögliche Bedingung besser zu verstehen. Es ist die ästhetische Form, kraft derer kognitive Entlastungen in Wahrheitsorientierung überführt werden können; dazu nun mehr.

27 Siehe ausführlicher zur Form der Kritik an insbesondere Selbsttäuschungen: Tilo Wesche: Reflexion, Therapie, Darstellung. Formen der Kritik. In: Rahel Jaeggi/ Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a.M. 2009, S. 193 – 220.

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IV. Die Kunstform der Tragödie Von der Zeitdiagnose des Tragischen ist nun zur Kunstform der Tragödie überzugehen. Die folgenden Überlegungen zur Ästhetik der Tragödie greifen Hegels Grundgedanken auf, dass sich die Macht der Vernunft, kraft derer Täuschungen über sich hinausgetrieben werden, aus dem Selbstzweck einer ästhetischen, religiösen oder theoretischen Form speist. Der Selbstzweck des Wissens wird von Hegel als Absolutes bezeichnet, demzufolge „das Absolute allein wahr oder das Wahre allein absolut ist.“28 Der Selbstzweck des Wissens – Hegels Begriff des Absoluten – sichert die Grundlage dafür, dass Täuschungen vermieden werden können und Wissen wahrheitsfähig ist. Kunst, Religion und Philosophie bilden drei voneinander unabhängige Bereiche des Wissens, das sich durch einen Selbstzweck auszeichnet. Am Leitfaden der tragischen Kunstform soll die ästhetische Form nachgezeichnet werden, kraft derer sich Täuschungen vermeiden und die Wahrheitsfähigkeit des Wissens sichern lassen. Eine Verbindung zwischen Erkenntnis und Selbstzweck stellt Hegel in der Phnomenologie des Geistes zunächst in Bezug auf das Phänomen des Todes her. In Konfrontation mit dem Tod verlieren Täuschungen ihren Sinn und es stellt sich ein freies Verhältnis zur Welt ein, die Dinge so zu sehen, wie sie allem Anschein nach sind. Verzerrte Welt- oder Selbstbilder verlieren am Lebensende ihre Macht, weil eine ausstehende Erfüllung der Wünsche, derentwillen die Bilder aufrechterhalten werden, keine Rolle mehr spielt. Hegels Verbindung von Tod und Erkenntnis hebt auf zwei Eigenschaften ab. In der Todeserfahrung verschafft sich Wahrheit Geltung erstens mit einer Kraft, dass Täuschungen auch gegen das bisherige Bestreben, an ihnen festzuhalten, ausgehebelt werden. Zweitens drückt sich in ihr der Selbstzweck der Wahrheit aus, die kein Mittel ist und auf nichts als sich selbst zurückführbar ist. Am Lebensende gibt es keinen Wunsch, kein Ziel oder Bedürfnis mehr, um dessen willen man vereinfachte Lebens- und Weltbilder aufrecht erhalten müsste oder sich an Wahrheit ausrichten sollte. Dass sich dennoch eine Wahrheitsorientierung einstellt, unterstreicht, dass sie um ihrer selbst willen geschieht. Um jedoch zur Abgrenzung gegenüber dem Zufall die Bedingungen für ein Eintreten der Wahrheitsorientierung anzugeben, reicht der Verweis auf Todeserfahrungen nicht aus, die unwillkürlich widerfahren. Die Bedingungen betreffen vielmehr Voraussetzungen, die wir zu 28 Hegel, Phän., TWA 3, S. 70.

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schaffen vermögen; die wir herstellen. Zu ihnen zählen insbesondere Kunstwerke. Als Kunstform richtet sich die Tragödie an Betrachter, die weder teilnahmslose Beobachter noch Akteure eines realen Konflikts, sondern – gewissermaßen dazwischen – involvierte Teilnehmer einer Darstellungspraxis sind. Die Tragödie ahmt den Konflikt nach, der auf der Bühne als Tod Antigones in Szene gesetzt wird. In der ästhetischen Nachahmung wird der Konflikt dargestellt, nicht ausgefochten, und ist die Tragödie Spiel, nicht Ernst. Die spezifisch ästhetische Form der Darstellung setzt eine Selbstbezüglichkeit des Betrachters frei, die das Darstellen im Dargestellten nicht aufgehen lässt. Es geht weniger um das Aussprechen von Antworten als um das Nachdenken, in das Kunstwerke ihre Betrachter hineinziehen, ohne dass eine Nachdenklichkeit bereits vorausgesetzt wird. Nicht Antigones Tod als solcher, sondern dessen Darstellung im Medium der Kunst eröffnet eine Selbstbetrachtung. Erst die ästhetische Form transformiert die Betrachtung von Artefakten und ihrer Bedeutung – von Dargestelltem – in eine Selbstbetrachtung. „[D]as eigentliche Selbst des Schauspielers fällt mit seiner Person zusammen, so wie der Zuschauer in dem, was ihm vorgestellt wird, vollkommen zu Hause ist und sich selbst spielen sieht.“29 Dem Betrachter ist die Beantwortung der Frage, wie sich der Konflikt lösen lässt, überantwortet. Und der Konflikt ist von ihm – alles andere als Beobachter – zu lösen als ein Konflikt, in dem er selbst verstrickt ist. Beides, Selbsttätigkeit und Selbstbezug, verdankt sich der ästhetischen Form. Auf welche Art und Weise gelingt es Kunstwerken, solche Selbstbezüglichkeit zu erzeugen? Kennzeichnend für Hegels Philosophie ist, dass er allein der Philosophie eine Antwort zutraut. Laut Hegel stößt die Ästhetik hier auf eine Grenze, weil sie sich dieser Kraft nicht vergewissern kann. Die ästhetische Form ist eine Quelle der Selbstbetrachtung und müsste sich – gemäß der Verschränkung von Geltung mit Rechtfertigung – für ebendiese Selbstbetrachtung rechtfertigen lassen. Zu Recht beanstandet Hegel, dass der Betrachter eines Kunstwerks nicht die Möglichkeit seiner Betrachtung mit erklärt; er versteht und erklärt nicht 29 Hegel, Phän., TWA 3, S. 544. Hegels Aussage bezieht sich auf die Komödie. Ihr gegenüber fällt die Tragödie zurück aufgrund „der begrifflosen Weisheit des Chors, die mancherlei Sittensprüche vorbringt und eine Menge von Gesetzen und bestimmten Pflicht- und Rechtsbegriffen gelten läßt“ (Hegel, Phän., TWA 3, S. 543). Allerdings ist Hegels Auffassung, im Chor spiegelten sich die Überzeugungen des Volks wider, umstritten.

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zugleich. Er untersucht nicht, warum seine ästhetische Erfahrung oder das Werk funktioniert. Hegels Hierarchie von Ästhetik, Religion und Philosophie nimmt eine Graduierung innerhalb der Formen wahrheitsfähigen Wissens vor; sie bleiben Formen selbstzweckmäßigen – in Hegels Worten: absoluten, und deshalb wahrheitsfähigen – Wissens. Entgegen anders lautenden Legenden führt deshalb Hegel keine Palastrevolte im Namen der Philosophie an. Dass Kunstwerke ohne philosophische Methodenreflexion – auf etwa das Verhältnis von Wahrheit und Rechtfertigung – ihre Kraft zur Selbstbezüglichkeit nicht erklären können, tut ihrer Kraft selbst keinen Abbruch. In der Philosophie demgegenüber fällt – jedenfalls laut Hegel – die selbstzweckmäßige Betrachtung (Theorie) zusammen mit der Reflexion auf den Grund, der zur Betrachtung bewegt. Die Darstellung erfolgt in der Phnomenologie des Geistes im Namen der Theorie aus Selbstzweck, des „reinen Zusehens“ ohne praktischen Nutzen oder Eingriff – und zugleich leistet sie eine Theorie, die die Genese der Vernunft erklärt; die also erklärt, warum wir an Wahrheit orientiert sind, obwohl wir uns von solcher Wahrheitsorientierung entlasten können. Allerdings sind Fragezeichen hinter Hegels Auffassung angebracht, dass von der Theorie dieselbe Kraft zur Selbstbetrachtung ausgeht wie von Kunstwerken; dass philosophische Texte mit derselben Macht für ein Nachdenken einzunehmen vermögen, wo eine Nachdenklichkeit nicht bereits besteht. Die Kritik an Hegel richtet sich also nicht gegen eine vermeintliche Geringschätzung der Kunst, sondern seine Hochstilisierung der Philosophie; sie auszuführen ist hier nicht der Ort, wo wir uns auf Hegels Ästhetik der Tragödie beschränken. Vielmehr sollen losgelöst von der Architektonik der Phnomenologie des Geistes Reichweite und Grenze der Tragödienform abgesteckt werden, indem Hegels Tragödientheorie gegen den Strich gebürstet wird. Ausgangspunkt dafür ist Hegels Bestimmung des Kunstwerks als Form des Absoluten, des Selbstzwecks. Die eigentümliche Macht des Kunstwerks, uns in eine Nachdenklichkeit hineinzuziehen, geht von seiner Form aus, Wirklichkeit frei von kommunikativen, normativen und kognitiven Absichten zur Darstellung zu bringen. Literatur, Musik und Kunst sprechen uns an, werden beredt, indem sie aus Wörtern, Tönen und Bildern anderes, Erfahrungen machen. Diese Transformation wird vom Selbstzweck eines Darstellens ermöglicht, das Wirklichkeit unabhängig von Mitteilungsabsichten erschließt. Für den Selbstzweck der Darstellung, auf den Hegels Begriff des Absoluten verweist, hat sich in Bezug auf Kunst der Begriff der ästhetischen Autonomie etabliert. Die Bezeichnung

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des autonomen Kunstwerks ist weder nur eine historische Kategorie für den Übergang zum säkularen Kunstwerk der Moderne, noch ein Titel für die formale Selbstreferenz sogenannter absoluter Kunstwerke. Sie redet ebenso wenig der Attitüde das Wort, ästhetische Darstellungen erfolgten vom neutralen Standpunkt aus und mit dem Blick von nirgendwo. Kunstwerke lassen durchaus eine existentielle, geschichtliche oder politische Wirklichkeit zur Darstellung kommen, wenngleich in einer Form, die frei von Intentionen der Mitteilung und des Überzeugens ist. Nicht Absichten bringen eine Wirklichkeit ästhetisch zur Darstellung, sondern die innere Logik des Darstellens, in der etwas sich zeigt.30 Sie ist die Logik weder des Satzes noch des Gedankens, sondern eines Darstellens, das etwas einen Ausdruck frei von Mitteilungsgehalten leiht. Wörter, Töne und Bilder fügen sich je zu einer Form, in der etwas gleichsam um seines Dargestelltseins willen zum Ausdruck gelangt. Die Autonomie des Kunstwerks macht verständlich, warum Kunstwerke unsere Gedanken noch vor einer Einstellung zu öffnen und zu bewegen vermögen. Kunstwerken gelingt es, Wirklichkeit sich zeigen zu lassen, indem sie einen Zugang zu ihr eröffnen aufgrund der Autonomie gegenüber persuasiven oder kommunikativen Intentionen. Ihre Darstellung dient keinem Zweck des Überzeugens oder Überredens und drängt sich deshalb nicht auf. Aber ebendiese selbstgenügsame Zurückhaltung ermöglicht es, Denkgewohnheiten zu unterlaufen und uns für das, was vor ihrer Schwelle verharrt, zu öffnen. Es ist der ästhetische Verzicht auf Mitteilungsabsichten, der uns, scheinbar paradox, zugänglich macht für den Darstellungsgehalt. Von hier aus lässt sich Hegels Tragödientheorie reformulieren und für eine „Gegenwart der Tragödie“ wiedergewinnen.31 Laut Hegel sind tragische Kollisionen Ausdruck einer kognitiven Entlastung. Gemäß des kathartischen Selbstvollzugs und -bezugs soll die Kollision durch ein eigenes Urteil vom Betrachter gelöst werden, der selbst in die Kollision verstrickt ist. Zum Urteilen wird er also bewegt als jemand, der sich vom Urteilen entlastet. Die Kraft der Tragödie, über die kognitive Entlastung hinauszutreiben und für ein Urteilen einzunehmen, speist sich aus der 30 Siehe dazu: Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München 2000; Hans Ulrich Gumbrecht: Epiphanien. In: Joachim Küppers/Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M. 2003, S. 203 – 222; Günter Figal: Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie. Tübingen 2006; Gottfried Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. 31 Vgl. Menke: Die Gegenwart der Tragödie.

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ästhetischen Form. Der Selbstzweck der ästhetischen Darstellung erzeugt ein Kraftfeld, für ein Verstehensinteresse einzunehmen, wo dasselbe nicht schon vorausgesetzt ist. Dieser Kunstform trägt die Tragödie in besonderer Weise Rechnung. Wissen und Wahrheit, das Besondere und Allgemeine werden nicht von Vorbildern personifiziert, mit denen sich der Betrachter identifizieren soll, sondern von tragischen Helden, die ein Scheitern verkörpern. Dadurch werden sie nicht als Voraussetzungen mitgeteilt, die der Betrachter übernehmen soll. In ihrer tragischen Konstellation drängen sie sich weder als Pflichten noch als Forderungen auf, die an den Betrachter gerichtet wären und an dessen Entlastungshaltung abprallen würden. Die Tragödie richtet sich an ihn nicht mit einer Mitteilungsabsicht, er solle seine Entlastung abschütteln. Der Verzicht auf Mitteilungs- und Überzeugungsabsichten wird umgesetzt durch die tragische Form, Wissen und Wahrheit im Widerstreit miteinander darzustellen. Aber dieser Verzicht eröffnet – eben nur scheinbar paradox – eine Empfänglichkeit für die Darstellung.

Sektion IV Das Tragische zwischen Schopenhauer und Nietzsche

Nietzsche, Schopenhauer und Dionysos1 Martha C. Nussbaum Wenn Schopenhauer […] die Gesammt-Depression als tragischen Zustand ansetzt, wenn er den Griechen (– die zu seinem Verdruß nicht „resignirten“…) zu verstehen gab, sie hätten sich nicht auf der Höhe der Weltanschauung befunden: so ist das parti pris, Logik des Systems, Falschmünzerei des Systematikers: eine jener schlimmen Falschmünzereien welche Sch Schritt für Schritt seine ganze Psychologie verdorben hat (: er, der das Genie, die Kunst selbst, die Moral, die heidnische Religion, die Schönheit, die Erkenntniß und ungefähr Alles willkürlich-gewaltsam mißverstanden hat[.]2 Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? Die „Liebe“ ist dieser Beweis, das, was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten der Welt.3

Übersetzt von Philipp Schwab (Freiburg) und Robert Simon (Freiburg). In englischer Sprache erschienen als: Nietzsche, Schopenhauer, and Dionysus. In: Christopher Janaway (Hg.): The Cambridge Companion to Schopenhauer. Cambridge 1999. Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Cambridge University Press, alle Rechte vorbehalten. 1 Dieser Aufsatz entstand als zweiter Teil einer zweiteiligen Darstellung von Nietzsches Bezugnahme auf Dionysos und auf die Bakchen des Euripides. In einer allgemeinen Einführung in die Bakchen des Euripides (in: The Bacchae of Euripides. A New Version. Übers. v. C. K. Williams. New York 1990, S. VIIXLIV) erörtere ich das Verhältnis von Nietzsches Ansatz der antiken Tragödie zu dem aristotelischen. Dabei versuche ich deutlich zu machen, dass Aristoteles’ Beharren auf einer kategorischen Unterscheidung von Charakter und Schicksal sowie darauf, dass die tragischen Emotionen Mitleid und Furcht als Objekt einen Helden verlangen, der durch alles Unglück hindurch charakterlich unbescholten bleibt, keinen angemessenen Rahmen bieten, um dem Bild der menschlichen Persönlichkeit in einem Stück wie den Bakchen gerecht zu werden. Denn in ihnen wird eindringlich die Verflüssigung des Selbst und dessen Empfänglichkeit für verwandelnde Einflüsse und Eingebungen dargestellt. Ich möchte hingegen zeigen, dass Nietzsches Konzeption des Dionysischen einen besseren Zugang zu diesen Aspekten bietet. 2 Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 410. 3 Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[120], KSA 13, S. 299.

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1. Nietzsches Schopenhauer lesen Mit gutem Recht kann gesagt werden, dass Nietzsche zu dem Zeitpunkt, als er die Die Geburt der Tragçdie schrieb, so sehr von Schopenhauer durchdrungen war, dass er alles, was er sah und erkannte, durch die Brille schopenhauerscher Unterscheidungen und Kategorien betrachtete. Zweifelsohne bleiben die Begriffe des Apollinischen und Dionysischen wie auch eine ganze Reihe weiterer, nur unzureichend ausgeführter Aspekte in Nietzsches kryptischer Schrift ohne Bezugnahme auf Schopenhauers ausdrücklichere und ausführlichere Darlegung unverständlich. Diese enge Verbindung ist oft genug bemerkt worden. Dennoch glaube ich, dass die darin liegenden Implikationen für das Verständnis der Geburt der Tragçdie und der Texte aus ihrem Umfeld bislang nicht in hinreichender Komplexität entfaltet worden sind. Denn obwohl Nietzsche sich einerseits oft genug schopenhauersche Begriffe und Kategorien ohne nähere Erklärung aneignet – und dies derart, dass ein Leser, der mit Schopenhauer nicht vertraut ist, schwerlich wird nachvollziehen können, warum bestimmte Verbindungen hergestellt werden und wie ein Gedankenschritt auf den nächsten folgt –, so zeigt sich andererseits schon hier Nietzsches tief greifende Kritik an Schopenhauers Auffassung von Erkenntnis und Begehren wie auch seine entschiedene Ablehnung eines normativen ,Pessimismus‘. Der explizite Angriff auf Schopenhauer – wie er sich in den späteren Schriften, zum Beispiel in Der Fall Wagner oder in unserem Motto (von 1888) findet – ist schon hier zu einem großen Teil grundgelegt. Im Gegensatz zu den späteren Schriften besteht aber in der Geburt der Tragçdie Nietzsches Strategie nicht darin, sich mit dem verehrten Vorgänger direkt auseinanderzusetzen oder ausdrücklich gegen ihn zu polemisieren. Nietzsches Strategie ist vielmehr eine indirekte: Er verwendet Schopenhauers eigene Begriffe, um dessen Unterscheidungen und Argumentation zu unterlaufen und zu untergraben; er übernimmt auf der Oberfläche die Sprache Schopenhauers, um zugleich das Innerste seines Denkens auszuhöhlen. Angesichts dieser Situation muss der Leser mit größtem Geschick und größter Sorgfalt vorgehen, um dem zu entsprechen, was Nietzsche keineswegs unbescheiden von einem guten Leser seiner Texte fordert: Er muss „ein Unthier von Muth und Neugierde“ werden, „ausserdem noch etwas Biegsames, Listiges, Vorsichtiges, ein geborner Abenteurer und Entdecker.“4 4

Nietzsche, EH Bücher 3, KSA 6, S. 303.

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Viel zu selten nehmen sich Untersuchungen von Nietzsches Denken Zeit für eine Auslegung von Schopenhauers zentralen Gedanken und Argumenten – mit dem Ergebnis, dass es selbst dem aufmerksamsten Leser nicht ermöglicht wird, die Herkunft eines Begriffs, die Bedeutung einer Anspielung zu erfassen. Dies ist insbesondere deshalb bedauerlich, weil Schopenhauer so direkt und schlicht schreibt, wie dies in der Tradition der deutschen Philosophie nicht gerade üblich ist – und nicht zuletzt aus diesem Grund erscheint der Versuch viel versprechend, eine klare und knappe Zusammenfassung derjenigen Elemente seines Denkens zu geben, die Nietzsches Dionysosbild entscheidend geprägt haben. Das Ergebnis wird, so meine ich, nicht nur ein angemesseneres Verständnis der Sprache der Geburt der Tragçdie ermöglichen, – es wird zugleich zum Verständnis der philosophischen Motivation beitragen, aus der heraus Nietzsche gerade in der Weise, wie er es tut, über das Begehren spricht und die Liebe, das geschlechtliche Begehren und den Leib verteidigt.

2. Denken als Träumen: Die Bedeutung des Leibes Ebenso wie Kant geht auch Schopenhauer davon aus, dass unsere Vermögen – die (sinnliche) Wahrnehmung und der Verstand – nicht dazu in der Lage sind, die immanente Beschaffenheit der Welt an sich und unabhängig von Bewusstseinsleistungen zu erfassen. Alles, was wir erfassen, erfassen wir in bestimmten Kategorien des Verstandes, ohne deren Gebrauch überhaupt nichts erfasst werden könnte. Kant weist zugleich die idealistische Auffassung seines Arguments zurück, indem er zeigt, dass das, was wir erfassen, nicht ein rein geistiges Wesen ist, nichts von unserem Bewusstsein Hergestelltes: Es ist vielmehr die äußere Welt innerhalb der Grenzen unserer Verstandeskategorien, die ihrerseits notwendig sind als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Kant meint zudem, durch den Aufweis der Notwendigkeit dieser Kategorien für die Erfahrung zugleich ihre Rechtfertigung gegeben und ihre objektive Realität aufgezeigt zu haben. Für Kant gibt es keinen stärkeren Beweis für die Realität und Objektivität einer Sache als ein transzendentales Argument, in welchem die Notwendigkeit dieser Sache für die Möglichkeit der Erfahrung und des Denkens aufgezeigt wird. Im Gegensatz zu dieser Argumentation wendet Schopenhauer Kants Gedanken in eine idealistische Richtung – indem er Kant teils auf höchst eigene und eigenwillige Weise auslegt, ihn teils ausdrücklich kritisiert.

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Was wir in der Wahrnehmung und im Denken erfahren, ist nach Schopenhauer keine dingliche Welt außerhalb unserer, sind nicht Dinge an sich – selbst nicht als bestimmt durch die Kategorien des Verstandes. Stattdessen erfassen wir unsere eigenen Vorstellungen der Dinge in der Wahrnehmung und im Denken. Anstatt die Welt durch eine Brille anzuschauen, die sie in einer bestimmten Weise strukturiert, blicken wir sozusagen in verspiegelte Scheiben, die uns bloß das zurückgeben, was wir selbst sind und selbst erzeugt haben.5 Aus seiner Lektüre der indischen Philosophie entlehnt Schopenhauer die Metapher des Denkens als Träumen, der Inhalte des Denkens als ein „Gewebe“ oder „Schleier der Maja“6 oder als Illusion. Unser gesamtes Erkennen der Welt gleicht nach Schopenhauer dem Betrachten eines Traumes, den wir selber erzeugt haben. Wir sind uns kaum dessen bewusst, dass wir träumen, und träumen weiter. Nachdem er Shakespeare, Platon, Sophokles, Pindar, Calderón sowie „die Veden und Puranas“ zitiert hat, schließt er: „Das Leben und die Träume sind Blätter eines und des nämlichen Buches. […] [S]o findet sich in ihrem Wesen kein bestimmter Unterschied, und man ist genöthigt, den Dichtern zuzugeben, daß das Leben ein langer Traum sei.“7 In diesem Zusammenhang ist auf die besondere Bedeutung des eigenen Leibes innerhalb des Schemas der Vorstellungen einzugehen. Der Leib scheint dem Handelnden direkt und unmittelbar bekannt zu sein. Und tatsächlich schreibt Schopenhauer: „Der Leib ist uns also hier unmittelbares Objekt, d. h. diejenige Vorstellung, welche den Ausgangspunkt der Erkenntniß des Subjekts macht, indem sie selbst, mit ihren unmittelbar erkannten Veränderungen, der Anwendung des Gesetzes der Kausalität vorhergeht und so zu dieser die ersten Data liefert.“8 Es ist allerdings von größter Wichtigkeit zu betonen, dass der Leib eines Menschen letztlich immer eine Vorstellung ist, mag diese auch noch so unmittelbar sein. Unsere besondere, intime Verbindung mit dem eigenen Leib reicht nicht hin, ihn als außerhalb des Schleiers der Maja zu denken. „Dieser Leib ist dem rein erkennenden Subjekt als solchem eine Vorstellung wie jede andere […]: die Bewegungen, die Aktionen desselben 5 6 7 8

Die Analogie ist jedoch nicht gänzlich zutreffend, legt sie doch nahe, dass es eine Beschaffenheit der Welt außerhalb der Ordnung unseres Erkenntnisvermögens gibt und diese – zumindest prinzipiell – auch zugänglich und erfassbar wäre. Schopenhauer, Werke, W I, S. 20 u. S. 431. Schopenhauer, Werke, W I, S. 21. Schopenhauer, Werke, W I, S. 22 f.

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sind ihm insoweit nicht anders, als wie die Veränderungen aller andern anschaulichen Objekte bekannt.“9 Aber in unserer Erfahrung der Welt liegt noch mehr, noch etwas anderes. An diesem Punkt erreichen wir einen durchaus undurchsichtigen und beunruhigenden, aber absolut entscheidenden Aspekt des schopenhauerschen Denkens. Wir haben nämlich nach Schopenhauer das Gefühl, dass die bloß geträumte Geschichte unseres Lebens dieses Leben nicht im Ganzen ausmachen kann. „Wir fragen, ob diese Welt nichts weiter, als Vorstellung sei; in welchem Falle sie wie ein wesenloser Traum, oder ein gespensterhaftes Luftgebilde, an uns vorüberziehn müßte, nicht unserer Beachtung werth“.10 Wir können der Antwort auf diese Frage nicht näher kommen, wenn wir die Welt sozusagen bloß von außen betrachten – denn dieser Zugang, der eine jede konventionelle Untersuchung charakterisiert, begrenzt uns auf bloße Vorstellungen. Gleichwohl erhalten wir einen Wink, der uns der Sache ein Stück weit näher bringt, indem wir dem Verhältnis zu unserem eigenen Leib weiter nachgehen. Unser Leib ist für uns ein Gegenstand der Sinneswahrnehmung und des Denkens. Aber es gibt noch eine andere Art des Verhältnisses, die wir zu ihm haben – indem wir uns nämlich bewegen und handeln. Es gibt in uns etwas Treibendes, Begehrendes, Ziehendes, das nicht bloß unbeteiligt betrachtet und vorstellt, sondern das drängt und wogt. Diesen kinetischen und desiderativen Aspekt der Person nennt Schopenhauer den Willen. (Und tatsächlich gilt auch für Schopenhauer wie später für Nietzsche, dass der Wille nicht nur im Menschen herrscht, sondern auch in der Natur.11) Der Wille ist vom Leib untrennbar: „[J]eder wahre, ächte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes“.12 Der Begriff des Willens beinhaltet und verbindet in gewisser Weise die Bewegung von einem Ort zu einem anderen, alle Formen von Begierde und die Erfahrung von Lust und Schmerz. Der Wille zeigt sich als ein kinetisches Ausgreifen und Streben, das jede Art von Bewegung erklärt; die Erfahrung des Wollens ist schmerzvoll, und Schopenhauer ist der Ansicht, dass sein Ziel eine Art 9 Schopenhauer, Werke, W I, S. 118 f. 10 Schopenhauer, Werke, W I, S. 118. 11 Schopenhauer spitzt dies mit Verweis auf Spinoza zu: „Spinoza sagt (epist. 62), daß der durch einen Stoß in die Luft fliegende Stein, wenn er Bewußtsein hätte, meinen würde, aus seinem eigenen Willen zu fliegen. Ich setze nur noch hinzu, daß der Stein Recht hätte“ (Schopenhauer, Werke, W I, S. 150). 12 Schopenhauer, Werke, W I, S. 120.

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von Wohlgefühl und Befriedigung ist. Jedes Wesen kann sich zu seinem Leib entweder durch den Willen oder durch die Vorstellung verhalten, je nachdem, ob ein erkennendes Bewusstsein oder ein Bedürfnis zu handeln dominierend ist; und Schopenhauer stellt diese beiden Verhältnisse so dar, dass sie als zwei Seiten einer Einheit erscheinen: „[W]as ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, sofern ich desselben auf eine ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichende Weise mir bewußt bin, meinen Willen“.13 (Die Schwierigkeit, den Willen zu beschreiben, hängt für Schopenhauer allem Anschein nach mit seinem gänzlichen Mangel an erkennender Intelligenz zusammen.) Offensichtlich ist für Schopenhauer der Wille eng mit erotischen Bedürfnissen und Begierden verbunden – obgleich wir bedenken müssen, dass Wollen als solches keinerlei Vorstellung eines Objekts beinhaltet; und aus diesem Grund ist der erotische Wille, der „in jeder blindwirkenden Naturkraft“, aber auch „im überlegten Handeln des Menschen“14 erscheint, eher ein erotischer Impuls oder Verlangen als eine auf Objekte gerichtete Begierde. Dieser erotische Drang treibt, so Schopenhauer, alle Wesen beständig zu Bewegungen und Handlungen an, zu den verschiedenen Formen von Veränderung und Werden, die das Wesen der Natur ausmachen. Schopenhauer besteht darauf, dass es sich dabei nicht um eine mysteriöse Form von Kraft handelt, die erst vermittels eines komplexen Gedankenganges aus der Erfahrung abgeleitet zu werden bräuchte, sondern vielmehr um „ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser wissen und verstehn, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei“.15 (Schopenhauer verwendet in der Tat den Begriff des Willens, um den Begriff der Kraft zu erklären, welchen er für schwerer fasslich hält.) Die Behauptung, dass der Wille bekannter sei als alles andere, legt nahe, dass „Wollen“ hier nicht auf erotisches Begehren im engeren Sinne beschränkt ist, sondern in einem allgemeineren Sinne Streben und Verlangen überhaupt bezeichnet. Allerdings besteht Schopenhauer auf den engen Zusammenhang von Wollen einerseits und Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung andererseits – und in seinen misogynen Schriften auch auf den Zusammenhang mit der Frau als Quelle von Ruhelosigkeit und Unordnung. (Und in der Tat müssen wir dort, wo Schopenhauer von 13 Schopenhauer, Werke, W I, S. 122. 14 Schopenhauer, Werke, W I, S. 131. 15 Schopenhauer, Werke, W I, S. 133.

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dem Geläufigsten spricht, stets die obsessive und sexuell gepeinigte Persönlichkeit im Blick behalten, die hier die Erklärungen vorbringt.) Es ist wichtig festzuhalten, dass der Wille an und für sich nicht ein Individuum oder eine Mehrzahl von Individuen ist. Er enthält in sich kein Prinzip der Individuation (Schopenhauer benutzt hier den lateinischen Ausdruck principium individuationis).16 Zur Individuation gelangt er nur, insofern er in der Erfahrung mit der Vorstellung des Leibes verbunden ist, dessen Antriebskraft er darstellt. Dies hat nach Schopenhauer darin seinen Grund, dass das Streben, welches den Willen ausmacht, an und für sich nicht in Zeit und Raum verortet werden kann (die für Schopenhauer Formen der Vorstellungen sind). Eine Orientierung in Zeit und Raum aber ist notwendig für die Abgrenzung eines Dinges als Individuum. Aus diesem Grund gilt eben der Leib qua bestimmtes Individuum auch nur als eine „Erscheinung“. Auf der anderen Seite ist Schopenhauer davon überzeugt, dass die Form und Gestalt des in Raum und Zeit abgegrenzten Leibes das deutliche Gepräge des Willens trägt, der ihm innewohnt und zugrunde liegt und seinem Äußeren eine Form gibt, die man aus einer reinen Erfahrung des Willens geradezu voraussagen könnte. An einer bemerkenswerten Stelle (die an eine Passage aus Aristoteles’ De Caelo II,12 erinnert, in welcher die ausladenden Gestalten von Tierkörpern mit ihrer weniger gottähnlichen Form des Lebens in Zusammenhang gebracht werden17) schließt Schopenhauer: „Zähne, Schlund und Darmkanal sind der objektivirte Hunger; die Genitalien der objektivirte Geschlechtstrieb; die greifenden Hände, die raschen Füße entsprechen dem schon mehr mittelbaren Streben des Willens, welches sie darstellen.“18 Obgleich der Wille selbst natürlich nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, dürfen wir also davon ausgehen, dass wir in der Bebachtung der Bewegungen des Leibes, besonders der schnellen und behänden, etwas von der Natur des Willens zu verstehen vermögen. Wir können also sagen, dass wir den tiefsten Einblick in den Vollzug des Willens, der unserer vorstellenden Wahrnehmung möglich ist, dadurch erlangen, dass wir einen Chorus von ineinander verschlungenen tanzenden Gliedern betrachten, von greifenden Händen und flinken Füßen, die sich immer wieder in unscharf individuierten Gruppen überlagern. Und wenn wir 16 Vgl. Schopenhauer, Werke, W I, S. 134 u. ö. 17 Vgl. zur Diskussion dieser und verwandter Passagen Martha Nussbaum: The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophie. Cambridge 1986, S. 373 f. 18 Schopenhauer, Werke, W I, S. 129.

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weiterhin bedenken, dass für Schopenhauer die Musik die Repräsentation des kinetischen Aspektes des Willens und mithin ein Abbild des Willens überhaupt in allen seinen Gestalten ist,19 dann verstehen wir, dass diese Gruppe von tanzenden Gliedern zur Musik tanzen und ihre eigene Bewegung mit derjenigen der Musik verschmelzen sollte. Wenn wir darüber hinaus den Zusammenhang von Wille und Geschlechtlichkeit einbeziehen und hervorheben wollten, dann könnten wir, indem wir Schopenhauer folgen, aus unserem tanzenden Chorus einen Chorus der Satyrn machen. Diese Schlussfolgerung wird zwar nicht von Schopenhauer gezogen, wohl aber von Nietzsche. Obwohl dies auf eine bestimmte Weise eine brillante Aneignung von Schopenhauers Denken ist, werden wir sehen, zu welch un-schopenhauerischem Ende dies bei Nietzsche führt. Um Schopenhauers Verhältnis zu Dionysos deutlicher herauszuarbeiten, versuchen wir nun danach zu fragen, wie die Erfahrung des Willens, des Lebens als Wille nach Schopenhauer zu verstehen ist. Zuallererst müssen wir festhalten, dass der Mensch, sofern er Wille ist, keine Intelligenz besitzt. Er nimmt weder etwas wahr noch vermag er zu denken. In der Tat unterscheidet er sich qua Wille nicht von den anderen Tieren oder von unbelebten Naturobjekten. Der Drang oder das Verlangen, das den wollenden Leib bewegt, ist nicht als solcher eine Form wahrnehmenden Bewusstseins, obwohl es natürlich von einem solchen begleitet werden kann. Zweitens ist das wollende Wesen nicht ein künstlerisches: Weder erfindet es Dinge, noch verändert oder verwandelt es sich selbst. All dieses gehört allein auf die Seite der Vorstellung. (Und wir werden später sehen, dass der Wille nicht einmal zu einer Schöpfung inspiriert, sondern die Energie und Aufmerksamkeit des Schaffenden stets hemmt.) Der Wille ist brutal, ungestaltet und ungehemmt. Drittens ist das wollende Wesen als solches weder sich seiner selbst als eines Seienden überhaupt bewusst, noch hat es ein Bewusstsein von den anderen Wesen als von ihm verschiedenen Seienden. Nochmals: All dieses gehört allein auf die Seite der Vorstellung. Mit anderen Worten gesagt: Der erotische Drang hat nicht selbst die Vorstellung eines Objekts, er versteht sich auch nicht selbst als ein bestimmtes Subjekt oder als Sitz von Begierde. Er ist ein verallgemeinerter Drang, sich mit dem zu verbinden, was er selbst nicht erfassen oder sehen kann. Und schließlich ist der Wille eng verbunden mit der Erfahrung von Schmerz und Entbehrung. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden kurz erörtert werden. 19 Vgl. Schopenhauer, Werke, W I, S. 301 – 316.

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3. Pessimismus und tragische Zuschauerschaft Schopenhauer führt allerdings die Dichotomie von Wille und Vorstellung nicht einfach als eine Analyse von Erkenntnis und Handlung ein. Die Analyse geht einher mit und legt den Grund für eine normative Weltauslegung, die als Schopenhauers ,Pessimismus‘ berühmt geworden ist. Nach dieser Weltsicht ist das Wollen, zumindest für Geschöpfe höherer Ordnung, die Quelle endlosen Leidens. Wir entgehen diesem Leiden nur in dem Grade, in dem wir uns von den Fesseln des Willens zu befreien vermögen; und daher gilt es in Schopenhauers Perspektive als gut, diejenigen Elemente des menschlichen Lebens auszubilden und zu befördern, die uns von diesen Fesseln befreien können, soweit dies überhaupt möglich ist. Weil Nietzsche an eben diesem Punkt am entschiedensten mit Schopenhauer bricht, ist es sinnvoll, hier kurz zu verweilen, um Schopenhauers Argumente für diese extreme Auslegung von Begierde und Streben und das damit untrennbar verbundene Verständnis der Kunst so genau wie möglich zu verstehen. Schopenhauers Verurteilung des Willens ist ebenso beredt wie bewegend. Die Argumentation allerdings ist in hohem Maße verdichtet und Erwägungen verschiedenster Art und Valenz werden ineinander verschränkt, so dass es dem Leser überlassen bleibt, ihren Zusammenhang näher zu bestimmen. Unsere Untersuchung kann von dem folgenden zentralen Abschnitt ausgehen, von dem zu zeigen sein wird, dass in ihm sowohl die normative Weltauslegung zum Ausdruck kommt als auch die Weichen für die Analyse der Kunst gestellt werden: Alles W o l l e n entspringt aus Bedürfniß, also aus Mangel, also aus Leiden. Diesem macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird, bleiben wenigstens zehn versagt: ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehen ins Unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich bemessen. Sogar aber ist die endliche Befriedigung selbst nur scheinbar: der erfüllte Wunsch macht gleich einem neuen Platz: jener ist ein erkannter, dieser ein noch unerkannter Irrthum. Dauernde, nicht mehr weichende Befriedigung kann kein erlangtes Objekt des Wollens geben: sondern es gleicht immer nur dem Almosen, das dem Bettler zugeworfen, sein Leben heute fristet, um seine Quaal auf Morgen zu verlängern. – Darum nun, solange unser Bewußtseyn von unserm Willen erfüllt ist, solange wir dem Drange der Wünsche, mit seinem steten Hoffen und Fürchten, hingegeben sind, solange wir Subjekt des Wollens sind, wird uns nimmermehr dauerndes Glück, noch Ruhe. Ob wir jagen, oder fliehn, Unheil fürchten, oder nach Genuß streben, ist im Wesentlichen einerlei: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtseyn; ohne Ruhe aber ist durchaus kein wahres

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Wohlseyn möglich. So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus.20

In diesem Abschnitt – aus dessen Gedanken und Beispielen klar wird, bis zu welchem Grad Schopenhauer einerseits von platonischem und hellenistischem, andererseits von östlichem Denken durchdrungen ist21 – werden wenigstens vier voneinander zu unterscheidende Argumente gegen das Leben als Wille angeführt. Erstens erscheint der Wille als eine minderwertige Daseinsweise (und insbesondere, wie wir sehen werden, als minderwertig gegenüber der reinen Betrachtung), weil seine Quelle immer ein Gefühl des Mangels oder Leidens ist. (Dieses Argument wird von Platon wiederholt und in mehreren Dialogen angeführt, um die Minderwertigkeit der körperlichen Triebe gegenüber denkerischen und betrachtenden Begehren aufzuzeigen.22) Die Auffassung, die hinter diesem Argument steht, besteht offensichtlich in Folgendem: Unser Verlangen nach Nahrung, nach Speise und Trank, nach geschlechtlicher Befriedigung und nach verwandten Objekten des Willens ist nicht ein rein positives Verlangen, das allein durch die Schönheit und den Wert des Ziels an sich hervorgerufen wird; ein Lebewesen, das nicht Hunger leiden würde, hätte keinen Anlass, etwas so Seltsames zu tun, wie sich Nahrung in den Mund zu stopfen; und ein Lebewesen, das niemals die Erfahrung sexueller Bedürfnisse und sexueller Spannung gemacht hätte, käme niemals auf die Idee, sich auf derart absonderliche Aktivitäten einzulassen. (Und Schopenhauers Äußerungen über Frauen und Sexualität zeigen, wie absonderlich, ja zutiefst abstoßend solche Handlungen in seinen 20 Schopenhauer, Werke, W I, S. 230 f. 21 Zu dieser hellenistischen Sichtweise vgl. Martha Nussbaum: The Stoics on the Extirpation of the Passions. In: Apeiron 20 (1987), S. 129 – 175; zu Platon vgl. Nussbaum: The Fragility of Goodness, Kap. 5, S. 136 – 164. Schopenhauer verweist häufig auf hellenistische Philosophen, sowohl Epikureer als auch Stoiker, und zitiert die Texte jeweils auf Griechisch und Latein. Schopenhauer ist mit der griechischen Stoa vertraut und zitiert Fragmente des Chrysippos aus Quellen wie Diogenes Laertius, Stobaeus und Plutarch. Ebenso gut kennt er die römischen Stoiker. Er erwähnt sehr oft Epiktet, Marc Aurel und besonders häufig Seneca, von dem das Motto für das zweite Buch der Welt als Wille und Vorstellung entlehnt ist; er wird zudem vierzehn Mal im Text zitiert. Die Zitate stammen aus vielen verschiedenen Schriften und belegen, dass Schopenhauer eine profunde Kenntnis von Senecas Werk hatte. Epikur ist ein weiterer häufig zitierter Autor; er wird dreizehn Mal und mit ähnlich profunder Kenntnis zitiert. 22 Vgl. Nussbaum: The Fragility of Goodness, Kap. 5, S. 136 – 164.

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Augen sind.23) Eben dies aber macht diese Handlung „unrein“, wie Platon sagen würde, abhängig von schlechten Lebensumständen und eben nicht in sich selbst erstrebenswert. Zweitens ist die Erfüllung des Begehrens niemals eine vollständige Erfüllung: Begierden werden immer nur teilweise befriedigt, so dass das Subjekt immer in einem Zustand des Verlangens verbleibt, selbst dann, wenn eines seiner vielen Verlangen befriedigt ist. Drittens: Die Befriedigung ist kurz, das Begehren ist lang; der Augenblick der Erfüllung ist, wie zitiert, „kurz und kärglich bemessen“, während „die Forderungen ins Unendliche gehen“. Wiederum erfassen wir diesen Punkt am besten, wenn wir an körperliche Begierden, und insbesondere an sexuelle Begierde denken – und zweifellos hat Schopenhauer gerade diese Begierden im Besonderen vor Augen. (Der Hinweis auf die „unendlichen Forderungen“ legt nahe, dass Schopenhauer hier an den Aufwand denkt, den man unternehmen muss, um sexuelle Befriedigung zu erlangen.) Schließlich wendet Schopenhauer viertens ein, jede Befriedigung sei so instabil, dass es eine Illusion wäre anzunehmen, dass man überhaupt jemals wirklich Befriedigung erlangt habe. Die Anspielung auf die Danaiden (die sowohl in Platons Gorgias als auch im dritten Buch des Gedichtes von Lukrez vorkommen und jeweils vergleichbare Vorstellungen verdeutlichen)24 soll zeigen, dass es in der Begierde keinen stabilen Ruhepunkt gibt, selbst wenn wir uns der Täuschung hingeben, es gäbe einen solchen. Denn unser Verlangen erneuert sich beständig – sogar schon während wir es befriedigen. Aus all dem zieht Schopenhauer den Schluss, dass wahre Glückseligkeit – die er, beeinflusst von Epikur und dem indischen Denken, als einen Zustand der Freiheit von Schmerz und Unruhe versteht – so lange unerreichbar bleibt, wie unser Leben unter der Herrschaft des Willens steht. Nur ein Ausweg steht uns offen: – und dieser liegt in der abstrakten und kontemplativen Form der Aufmerksamkeit, die nach Schopenhauer unser Verhältnis zur Kunst auszeichnet. Bevor wir das Gesagte zu verstehen in der Lage sind, müssen wir noch einen weiteren Aspekt des Bildes hinzufügen. Denn Schopenhauer geht offenbar davon aus, dass wir überhaupt nur durch das Bewusstsein der eigenen Schmerzen und Begierden im Gegensatz zu denen der anderen und im Allgemeinen durch das Bewusstsein der praktischen Beziehung unseres Körpers auf Objekte, die unsere Bedürfnisse erfüllen oder eben 23 Vgl. Schopenhauer, Werke, P II, S. 335 f. u. S. 650 – 663; Schopenhauer, Werke, W II, S. 636 – 640; Schopenhauer, HN III, S. 238. 24 Vgl. Platon, Gorgias, 493a; Lukrez, De Rerum Natura, III, 1003 – 1010.

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nicht erfüllen, dazu in der Lage sind, uns unserer selbst als bestimmte Individuen, die sich von anderen Individuen unterscheiden, bewusst zu werden. Ganz offensichtlich ist es allein die aus der Gier des Willens hervorgegangene Unruhe, die bewirkt, dass wir nicht auf die formalen und allgemeinen Eigenschaften dessen, was uns umgibt, fokussieren, sondern auf uns als je bestimmtes und unterschiedenes Selbst. Dasselbe gilt naturgemäß auch von unserem Bewusstsein aller anderen Gegenstände. Insofern wir uns als begehrende Handelnde in der Welt bewegen, sind wir uns der Dinge, die uns umgeben, in zweifacher Hinsicht bewusst: einerseits als bestimmte und partikulare Einheiten, andererseits als in irgendeiner Weise bezogen auf unsere Interessen, unseren Begierden entgegenkommend oder diese hemmend. Obwohl Schopenhauer nicht ausdrücklich ausführt, wie Bezogenheit auf Interessen und Partikularität zueinander im Verhältnis stehen, dürfte klar sein, dass es – analog zu unserem eigenen Selbstbewusstsein – die Bezogenheit auf Interessen ist, die dazu führt, dass wir uns der Objekte in unserer Umwelt als Partikularitäten bewusst werden. Der Grund dafür, dass ich zum Beispiel einen bestimmten Hund, der vor mir steht, als diesen bestimmten Hund wahrnehme, und nicht als Beispiel der abstrakten Eigenschaften des Allgemeinbegriffs ,Hund‘ – oder, noch abstrakter, als Beispiel einer bestimmten Proportion von Form und Farbe – würde darin liegen, dass ich davor Angst habe, dass er mich beißen könnte. Nur wenn ich von dieser praktischen Sorge befreit bin, kann ich Betrachtungen über die abstrakte Gestalt des Hundes anstellen. Oder um nochmals den Fall zu verwenden, der für Schopenhauer stets entscheidend ist: Wenn ich mich den mannigfachen Schwierigkeiten aussetze, die entstehen, sobald ich mich auf ein menschliches Wesen als ein irreduzibles Einzelwesen beziehe, das niemals genau einem anderen gleicht – im Gegensatz zu der weitaus stabileren Befriedigung, die eine Betrachtung seiner oder ihrer als abstrakte Form gewährt –, so ist der Grund hierfür höchstwahrscheinlich Begierde. Es ist offensichtlich, dass für Schopenhauer die Aufmerksamkeit auf bestimmte Einzelwesen zugleich die Begierde verstärkt und verkompliziert. Ich meine jedoch, dass Schopenhauer insbesondere den folgenden Zusammenhang im Blick hat: Stünden nicht die von ihm als grundsätzlich problematisch beschriebenen sexuellen Impulse am Anfang, würde der Mensch niemals den Kreislauf von Bedürfnis und Aufmerksamkeit in Gang setzen, der die erotische Liebe entscheidend kennzeichnet. Nichts würde die Aufmerksamkeit des Menschen aus der erhabenen Höhe der reinen Kontemplation herabziehen und auf die konkrete Wirklichkeit seiner Umwelt richten. Es ist der Drang zu einem konkreten sexuellen

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Objekt, der die Aufmerksamkeit herabzieht – wenn dadurch auch freilich immer weitere Schwierigkeiten entstehen, die den Menschen an jene zermürbenden ,Forderungen‘ fesseln, welche für die partikulare Liebe in Schopenhauers Verständnis charakteristisch sind. Die Bedeutung der Kunst liegt nun nach Schopenhauers Auffassung darin, dass sie gewissermaßen als Arzt der Aufmerksamkeit zu Hilfe kommt, indem sie die Wahrnehmung und das Denken aus der Welt der Partikularitäten zurückruft und sie wieder einführt in die Kontemplation abstrakter und allgemeiner Formen. Wenn wir ein Gemälde betrachten, so ist unsere Aufmerksamkeit nach Schopenhauer durch zwei Momente gekennzeichnet: Sie richtet sich erstens auf das Abstrakte und hat zweitens kein Bewusstsein von irgendeinem Verhältnis des Objektes zu unseren Bedürfnissen und Interessen. Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren lässt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde, nachzugehn, also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet; [so sehen wir] einzig und allein das Was […].25

Schopenhauer denkt hier offensichtlich an den wesentlichen Unterschied zwischen der Bezugnahme auf das Gemälde oder die Statue eines schönen Menschen und der Bezugnahme auf diesen Menschen im Kontext von Trieben und Handlungen. Im letzteren Fall ist man beherrscht von schmerzlicher Sehnsucht und Verlangen, von ,Forderungen‘, von der angstvollen Frage, wann und wie Befriedigung erlangt werden kann. In diesem Prozess verschwindet – wie Proust mehrfach brillant zeigt – das ,Was‘ des Objektes gewissermaßen, und zwar in dem Sinn, dass seine formalen und strukturellen Eigenschaften nur in Relation auf die Gier unserer eigenen Triebe von Bedeutung sind. Wenn dagegen jemand das Gemälde oder die Statue eines schönen Menschen betrachtet, wird er, wie zitiert, über diese Zugangsweise ,emporgehoben‘ und dazu geführt, sich allein auf die reine und allgemeine Beschaffenheit der Form zu beziehen, und dies unabhängig von der Relation auf den eigenen Willen. Nur von dieser kontemplativen Haltung können wir sagen, dass in ihr das Objekt wirklich verstanden wird. Zudem verlieren wir nach Schopenhauer in diesem Prozess das schmerzliche Bewusstsein unserer eigenen Individualität und Subjektivität, durch welche das alltägliche Leben gekennzeichnet ist. Wir vergessen so unsere selbstischen Bedürfnisse und 25 Schopenhauer, Werke, W I, S. 210.

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können uns ganz „in diesen Gegenstand verlier[en]“, wir werden zum „klare[n] Spiegel des Objekts“,26 zu einem reinen Subjekt der Erkenntnis, das allein durch die rezeptive Anschauung bestimmt ist. Den Wert dieser (Selbst-)Vergessenheit des Selbst setzt Schopenhauer sehr hoch an – und dies nicht nur deshalb, weil sie das individuelle Subjekt von seinem Schmerz und Leid befreit, sondern auch aus dem Grund, dass sie durch die Minderung des Egoismus das Mitleid und andere erstrebenswerte soziale Empfindungen befördert. Insofern wirkt die ästhetische Haltung befreiend, solange wir uns in ihr befinden; wenn sie aber endet, sind wir wieder auf Gedeih und Verderb unseren Trieben ausgeliefert: Der Sturm der Leidenschaften, der Drang des Wunsches und der Furcht und alle Quaal des Wollens sind dann sogleich auf eine wundervolle Art beschwichtigt. Denn in dem Augenblicke, wo wir, vom Wollen losgerissen, uns dem reinen willenlosen Erkennen hingegeben haben, sind wir gleichsam in eine andere Welt getreten, wo Alles, was unsern Willen bewegt und dadurch uns so heftig erschüttert, nicht mehr ist. Jenes Freiwerden der Erkenntniß hebt uns aus dem Allen eben so sehr und ganz heraus, wie der Schlaf und der Traum: Glück und Unglück sind verschwunden: wir sind nicht mehr das Individuum, es ist vergessen, sondern nur noch reines Subjekt der Erkenntniß: wir sind nur noch da als das e i n e Weltauge, was aus allen erkennenden Wesen blickt, im Menschen allein aber völlig frei vom Dienste des Willens werden kann, wodurch aller Unterschied der Individualität so gänzlich verschwindet, daß es alsdann einerlei ist, ob das schauende Auge einem mächtigen König, oder einem gepeinigten Bettler angehört. Denn weder Glück noch Jammer wird über jene Gränze mit hinüber genommen. So nahe liegt uns beständig ein Gebiet, auf welchem wir allem unserm Jammer gänzlich entronnen sind; aber wer hat die Kraft, sich lange darauf zu erhalten? Sobald irgend eine Beziehung eben jener also rein angeschauten Objekte zu unserm Willen, zu unserer Person, wieder ins Bewußtsein tritt, hat der Zauber ein Ende: wir fallen zurück in die Erkenntniß, welche der Satz vom Grunde beherrscht, erkennen nun nicht mehr die Idee, sondern das einzelne Ding, das Glied einer Kette, zu der auch wir gehören, und wir sind allem unserm Jammer wieder hingegeben.27

Kurz gesagt: Die ästhetische Haltung ist unbeständig. Unsere Aufmerksamkeit für ein ästhetisches Objekt ist selten für einen längeren Zeitraum eine reine und vollständige. (Dies gilt umso mehr, als Schopenhauers Beispiele zumeist aus dem Bereich der Naturbetrachtung entnommen sind, zu der wir auch in vielerlei praktischen Beziehungen stehen.) Aber in den seltenen Augenblicken des Gelingens verstehen wir 26 Schopenhauer, Werke, W I, S. 210. 27 Schopenhauer, Werke, W I, S. 233.

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die wahre Bedeutung des Ästhetischen im menschlichen Leben: „nämlich die Befreiung des Erkennens vom Dienste des Willens, das Vergessen seines Selbst als Individuums und die Erhöhung des Bewußtseyns zum reinen, willenlosen, zeitlosen, von allen Relationen unabhängigen Subjekt des Erkennens.“28 Nach Schopenhauers Ansicht ist die Tragödie aus dem Grund eine Kunstform von ausgezeichnetem Wert, dass sie nicht nur wie alle Kunstformen die ästhetische Haltung hervorbringt, sondern uns darüber hinaus aufgrund ihres Inhalts viele Motive in Erinnerung ruft, die uns dazu bewegen können, uns vom Willen ab- und der Kunst zuzuwenden. In diesem Sinne gewinnt sie auf eigentümliche Weise eine Eigendynamik. Denn die Tragödie ist – in allgemeiner und mithin kontemplationsfähiger Form – eine Darstellung aller Gestalten des Leidens, denen der Mensch ausgesetzt ist, wenn er ein von Wollen und Trieb bestimmtes Leben führt. In Anlehnung an das Bild der Tragödie und ihrer Bedeutung, wie wir es bei den Stoikern, z. B. bei Epiktet finden – der die Tragödie definiert als das, „was geschieht, wenn zufällige Ereignisse über Narren hereinbrechen“ –, geht Schopenhauer davon aus, dass die Leiden in der Tragödie die Leiden der Menschheit überhaupt darstellen, insofern sie im Ganzen von der Begierde bestimmt ist. Und wie Epiktet, der stets auf eine distanzierte und kontemplative Zuschauerschaft drängte, die in der Tragödie weitere Motive für das Leben in stoischer Selbstgenügsamkeit29 zu erkennen in der Lage wäre, argumentiert auch Schopenhauer, dass eine wahre tragische Zuschauerschaft sehr wirkungsvoll zu einer Abkehr von Wille und Begierde führe.30 Es ist für das Ganze unserer gesammten Betrachtung sehr bedeutsam und wohl zu beachten, dass der Zweck dieser höchsten poetischen Leistung die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens ist, daß der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorgeführt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns.[…] wodurch nunmehr die vorhin so gewaltigen M o t i v e ihre Macht verlieren, und statt ihrer die vollkommene Erkenntnis des Wesens der Welt, als Q u i e t i v des Willens wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst. […] Aber nur die 28 Schopenhauer, Werke, W I, S. 234. 29 Vgl. Martha Nussbaum: Poetry and the Passions: Two Stoic Views. In: Jacques Brunschwig/Martha Nussbaum (Hg.): Passions and Perceptions. Studies in Hellenistic Philosophy of Mind. Cambridge 1992, S. 97 – 149. 30 Vgl. Nussbaum: The Fragility of Goodness, Kap. 3, S. 51 – 82.

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platte, optimistische, protestantisch-rationalistische, oder eigentlich jüdische Weltansicht wird die Forderung der poetischen Gerechtigkeit machen und an deren Befriedigung ihre eigene finden. Der wahre Sinn des Trauerspiels ist die tiefere Einsicht, daß was der Held abbüßt nicht seine Partikularsünden sind, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseyns selbst: Pues el delito mayor Del hombre es haber nacido. (Da die größte Schuld des Menschen ist, dass er geboren ward.) Wie Calderon es geradezu ausspricht.31

Ich habe diese Passage nicht allein deshalb ausführlich zitiert, um Schopenhauers Verständnis der Bedeutung der Tragödie darzustellen; und auch nicht allein, um die Vehemenz, ja Gewaltsamkeit zu illustrieren, mit der er seine optimistischen Gegner brandmarkt, sondern auch, um die christlichen und sogar katholischen Ursprünge seiner Verachtung des Willens zu beleuchten, die in seiner Auffassung der Tragödie zum Ausdruck kommen. An dieser Stelle räumt Schopenhauer bereitwilliger als anderswo ein, dass sein Verständnis der Lehre, die wir aus der Tragödie ziehen können, wesentlich auf einer Auffassung von ursprünglicher Schuld oder Erbsünde beruht, die mit unserer leiblichen Existenz und deren sexuellem Ursprung und Drang verbunden ist. Und es ist keineswegs überraschend, dass er hier auf Caldéron verweist, dessen Tragödien von diesen katholischen Ansichten durchzogen sind, um einen Ausdruck für die fundamentale „Schuld“ zu finden, die nach Schopenhauers Überzeugung alle Lebewesen tragen. Die Tragödie zeigt nicht nur das Leiden, sondern auch die Shne. Und die Sühne liegt, als Schuld („delito“), bereits in der Geburt selbst. Der schopenhauersche Pessimismus ist zwar ein eigenartiges Amalgam aus hellenistischen, christlichen und östlichen Einflüssen, aber seine conclusio ist an dieser Stelle mehr als deutlich: Der Leib und seine Triebe sind schlecht, sie sind sowohl schuldig als auch trügerisch; und die Natur als Ganzes, das Werden überhaupt ist infiziert mit dieser Schuld und diesen Irrtümern. Durch die Kunst allerdings, im Besonderen durch die Kunst der Tragödie, verstehen wir diese ,Grundtatsachen‘ in allgemeiner Weise. Die Erfahrung der Zuschauerschaft, die in ihrer kognitiven Struktur schon als solche ein Beispiel des Loslösens vom Willen bietet, gibt uns aufgrund dieses Verständnisses neue Motive, das Leben als böse und falsch abzulehnen und anzuklagen. 31 Schopenhauer, Werke, W I, S. 298 – 300.

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Schopenhauers Bezugnahme auf Euripides’ Bild des Dionysos in den Bakchen erscheint in dieser Perspektive hinlänglich komplex. Auf der einen Seite trifft sein Verständnis der Erfahrung sehr genau die Fluidität von Identität, die nicht nur eine zentrale Bedeutung in Euripides’ Drama hat, sondern höchstwahrscheinlich auch für die Erfahrung der Teilnehmer an den dionysischen Festen selbst.32 Das begehrende Subjekt ist nicht eine beständige Substanz, sondern vielmehr ein Teil der Natur in ständiger Bewegtheit; die Individuation und ihre Grenzen sind temporär und künstlich. Diese Einsicht, ihre Hervorhebung der traumähnlichen Beschaffenheit der Vorstellungswelt, gibt uns den Ausgangspunkt, um die Transformationen des Dionysos in den Bakchen zu erläutern – wie er seinen Gefolgsleuten erscheint, wie diese zuerst in eine Einheit mit dem aufkeimenden erotischen Leben der Natur hinüberfließen und sich sodann ihrer eigenen Körper und derer der anderen, als voneinander unterschiedene Individuen, bewusst werden. (Wir könnten z. B. sinnvoller Weise den Prozess, in dem Agaue Pentheus erkennt, als einen Übergang verstehen, in dem der Wille, der nur von einer verschwindenden Vorstellung begleitet ist, umschlägt in die Klarheit distinkter Vorstellung, die zu einem gewissen Grad33 vom Willen losgelöst ist.) Auf der anderen Seite gibt es bei Schopenhauer vieles, was Euripides’ Drama nicht entspricht – und in der Tat keine Entsprechung in der griechischen Tragödie überhaupt hat. Seine Hervorhebung des Fehlens jeglicher Intelligenz und jeglichen Künstlertums in der Begierde passt offensichtlich nicht zu der Beschreibung des Dionysos in den Bakchen. Insbesondere passt dies nicht zu der Beschreibung der in Dionysos verkörperten sexuellen und natürlichen Kräfte, die als machtvolle künstlerische Kräfte dargestellt werden, als Urheber plötzlicher und subtiler Verwandlungen, die in unmittelbarem Bezug zu denjenigen Verwandlungen stehen, durch die das Theater im Ganzen charakterisiert ist. Wenn Dionysos, der Gott des Rausches und der sexuellen Energie, in der Sprache Schopenhauers für den Willen steht, ist er in gleichem Maße auch Dramatiker, Regisseur und ein äußerst feinsinniger und vielseitiger

32 Vgl. für ein interpretatorisches Argument und Verweise auf die Literatur Nussbaum: Introduction. In: Williams: The Bacchae of Euripides. 33 Zu einem gewissen Grad, weil es entscheidend ist, dass sie Pentheus als ein bestimmtes Individuum wahrnimmt und sich der Beziehung seines toten Leibes zu ihren eigenen Interessen bewusst wird.

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Schauspieler.34 Die Begierden, die er hervorruft, entbehren weder der Intelligenz noch fehlt es ihnen an innerer Ordnung und Struktur. Ebenso wenig hat die pessimistische Verurteilung der Sexualität und allen Werdens – besonders insofern diese auf der Vorstellung der Erbsünde beruht – in der Welt der Bakchen bzw. überhaupt in der Welt der Antike ihren Ort. Dionysos ist grausam, exzessiv und amoralisch. Und die Tragödie zeigt, dass dionysische Kräfte im Menschen immer beides sein können: großartig und schrecklich, verklärend und unbarmherzig, fruchtbar und tödlich. In keiner Weise allerdings wird der Leib als böse, werden Empfängnis und Geburt als schmutzig dargestellt. Die Grausamkeit und Willkürlichkeit des Lebens erscheinen als untrennbar verbunden mit seinem geheimnisvollen Reichtum.35 Im Allgemeinen meine ich – obgleich bei derlei Verallgemeinerungen stets Vorsicht geboten ist –, dass man mit gutem Recht behaupten kann, dass die Vorstellung der Erbsünde, wie sie z. B. in den Tragödien von Caldéron zum Tragen kommt, der griechischen Tragödie und dem griechischen Denken gänzlich fremd ist. Schließlich ist zu sagen, dass Schopenhauers Auffassung der tragischen Zuschauerschaft – die wesentlich durch die Erkenntnis der Schuld gekennzeichnet ist und Abstandnahme und Resignation als erstrebenswert darstellt – sich nur schwerlich mit irgendeinem Aspekt des griechischen Theaters in Verbindung bringen lässt. Die dionysischen Feste haben – wie auch immer ihre Bedeutung genau zu bestimmen sei – mit Sicherheit nicht die Abkehr vom Willen zum Leben gefeiert.36 Wie ich gezeigt habe, hat die Sichtweise Schopenhauers in der Welt der Antike am ehesten eine Entsprechung in der radikalen Rekonstruktion der Zuschauerschaft, wie wir sie in den Darstellungen der Wirkung und Bedeutung der Tragödie durch die Stoiker finden – welche die Schopenhauer so am Herzen liegenden christlichen Tragödiendichter entscheidend beeinflusst hat. Wir werden im Folgenden sehen, dass Nietzsche unter Verwendung der Terminologie Schopenhauers genau diejenigen Aspekte des schopenhauerschen Denkens positiv weiterentwickelt, von denen ich glaube, 34 Vgl. Helene Foley: Ritual Irony: Poetry and Sacrifice in Euripides. Ithaca/ London 1985; Charles Segal: Dionysiac Poetics and Euripides’ Bacchae. Princeton 1982. 35 Vgl. das Argument für diese Schlussfolgerung in Nussbaum: Introduction. In: Williams: The Bacchae of Euripides. 36 Zu den Schwierigkeiten, die dadurch den Stoikern entstehen, die tragischen Dichter als Quellen der Weisheit zu verteidigen, vgl. Nussbaum: Poetry and the Passions. In: Brunschwig/Nussbaum (Hg.): Passions and Perceptions.

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dass sie viel versprechende Zugänge zur antiken Tragödie im Allgemeinen und den Bakchen des Euripides im Besonderen eröffnen können. Er macht sich diese Aspekte allerdings derart zu Eigen, dass sie eine komplexe Subversion des Kerns von Schopenhauers normativer Deutung der Welt zuwege bringen. Und auf diesem Weg entwirft Nietzsche eine Darstellung der Welt der Tragödie und der tragischen Zuschauerschaft, die mit gutem Recht so genannt werden darf, wie er sie selbst nennt: dionysisch.

4. Nietzsches Dionysos: Künstlerische Leidenschaft Nietzsches Apollo und Dionysos sind bis zu einem gewissen Punkt einfach Schopenhauers „Vorstellung“ und „Wille“ in griechischem Gewand. Es ist wahrscheinlich, dass ein Leser der Geburt der Tragçdie, der nicht mit Schopenhauer vertraut ist, von Nietzsches unvermittelter Einführung dieser beiden fundamentalen „Triebe“ und „Tendenzen“ der menschlichen Natur verwundert sein wird – und ebenso muss ihn die beinahe überstürzte Art und Weise verwundern, in welcher die eine Seite mit Erkenntnistätigkeit, aber ebenso mit dem Träumen, den bildenden Künsten und dem Bewusstsein des allgemeinen Wesens der Dinge assoziiert wird, die andere hingegen mit Bewegung und Sexualität, Rausch, mit dem Bewusstsein für das Partikulare und der Abwesenheit einer distinkten Individuation des Selbst. All dies kann weit besser verstanden werden, wenn wir die Anfangsabschnitte der Geburt der Tragçdie als Zusammenfassung von bekannten schopenhauerschen Begriffen ansehen, welche als zutreffende Darstellungen von universellen Tendenzen genommen und daher in die Antike zurückübertragen werden. Und Nietzsches Versäumnis, stichhaltige Argumente dafür zu liefern, wie die verschiedenen Eigenschaften der Gottheiten jeweils zusammengehören, wird nachvollziehbar, wenn wir bedenken, dass die Verbindung dieser Eigenschaften, die ja bei Schopenhauer hinlänglich erläutert wird, dem größten Teil seiner Leser angesichts der Popularität von Schopenhauers Werk klar vor Augen stand. Der zeitgenössische Leser war gewiss dazu in der Lage, die fehlenden Argumente für das Zusammengehören von Rausch und Verlust des principii individuationis einerseits, von Traum und Bewusstsein des Abstrakten und Allgemeinen andererseits selbst einzusetzen. (Von hier aus wird auch die Irritation des Altphilologen Wilamowitz verständlich, musste er doch den Eindruck gewinnen, hier würden durchaus nicht unumstrittene moderne Kategorien fraglos als

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Ausgangspunkt für eine Interpretation der klassischen Antike genommen.37) Sogar der Schleier der Maja erscheint in Nietzsches Porträt des Apollo, und wir dürfen davon ausgehen, dass Schopenhauer zu diesem Zeitpunkt Nietzsches einzige Quelle für das indische Denken gewesen ist. Dennoch macht sich schon zu Beginn der Schrift eine fundamentale Differenz bemerklich. Gewiss kritisiert Nietzsche später Schopenhauer sehr viel ausdrücklicher als in der Geburt der Tragçdie (vgl. beispielsweise Der Fall Wagner, die „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ aus der GçtzenDmmerung oder auch die eingangs zitierte Passage des Nachlasses38). In seinem „Versuch einer Selbstkritik“, den er 1886 der Geburt der Tragçdie voranstellt, kritisiert er sich selbst für die Verdunklung, die durch die unkritische Verwendung unpassender schopenhauerscher Formeln im ursprünglichen Text entstanden sei. Zugleich aber zeigt sich – wie Nietzsche in seiner äußerst aufschlussreichen „Selbstkritik“ eigens anmerkt – schon in diesem Werk seine fundamentale Opposition gegenüber Schopenhauer, wenngleich noch nicht in polemischer oder offensichtlicher Art und Weise. Diese Opposition zeigt sich beinahe gleich zu Anfang – nämlich dort, wo Nietzsche das Dionysische und Apollinische als „Tendenzen“ und „Triebe“ der menschlichen Natur einführt und sie zugleich als „Regungen“39 und „Mächte“40 anspricht, in denen sich die „Kunsttriebe“ der Natur „befriedigen“.41 Mit anderen Worten: Die Erkenntnistätigkeit selbst hat durch und durch praktischen Charakter und ist nur zu verstehen als Reaktion auf ein praktisches Bedürfnis – eine Grundeinsicht, die Nietzsche immer wieder neu formuliert. Die apollinische Tätigkeit ist nicht losgelöste, rein nüchterne Betrachtung, sondern die Antwort auf ein drängendes menschliches Bedürfnis, nämlich auf das Bedürfnis, eine ihrem Wesen nach regellose Welt zu ordnen, sie uns verständlich zu machen. Im Kern liegt hier schon die Kritik der traditionellen Epistemologie vor, die Nietzsche im späteren Werk – von ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne bis hin zu Jenseits von Gut und Bçse und den späten 37 Für eine Darstellung dieser Kontroverse und Wilamowitz’ Kritik der Geburt der Tragçdie vgl. Michael S. Silk/Joseph P. Stern: Nietzsche on Tragedy. Cambridge 1981, Kap. 5, S. 90 – 131. 38 Vgl. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 409 – 411. 39 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 29. 40 Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. 41 Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Vgl. auch den detaillierten Kommentar in Silk/ Stern: Nietzsche on Tragedy.

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Fragmenten – im Detail entfalten wird: Unsere gesamte Erkenntnistätigkeit, einschließlich aller logischen Schlüsse, einschließlich der abstrahierenden und generalisierenden Tendenz, ist zutiefst praktischer Natur – sie ist im Ganzen unser Versuch, uns die Welt zurechtzulegen und uns in ihr sicher zu bewegen.42 Die Metapher des apollinischen Träumens gewinnt nun einen fast unmerklich anti-schopenhauerischen Sinn. Denn das Apollinische ist nun nicht mehr nur Ausdruck des Idealismus, der in Schopenhauers Verständnis der Vorstellung liegt, es bezeichnet vielmehr einen Schritt darüber hinaus: Ohne explizite Bezugnahme auf den deutschen Idealismus und in völliger Übereinstimmung mit Nietzsches späterer, eher kantianischer Sicht43 liegt in Nietzsche Begriff des Apollinischen die Einsicht, dass diese Tätigkeit oftmals nur vermittels einer Selbsttäuschung erfolgreich ist – nachdem wir eine Ordnung hervorgebracht haben, überzeugen wir uns selbst davon, dass die Welt auch wirklich so ist. Auf der anderen Seite ist das Dionysische – obgleich ein Trieb, der Befriedigung verlangt – nicht bar jeder Intelligenz und Erkenntnistätigkeit. Die dionysische Erfahrung wird im ersten Abschnitt der Geburt der 42 Schopenhauer schreibt dazu, die Logik sei „ohne praktischen Nutzen“ (Schopenhauer, Werke, W II, S. 54). Im Gegensatz dazu steht Nietzsches Behandlung der Logik in Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinn, Die frçhliche Wissenschaft 111 („Der Ursprung des Logischen“), Jenseits von Gut und Bçse (Teil 1), etc. 43 Vgl. hierzu John T. Wilcox: Truth and Value in Nietzsche. Ann Arbor 1974. Es gibt offensichtlich drei Phasen in Nietzsches Auffassung des kantischen ,Dings an sich‘. In der ersten Phase spricht er über das „das räthselhafte X des Dings an sich“ (Nietzsche, WL 1, KSA 1, S. 879), woraus man schließen kann, dass es für Nietzsche in irgendeiner Weise eine Wirklichkeit hinter dem Wahrgenommenen und Gedachten gibt – und sei es, dass man davon sagen muss, dass wir sie nicht kennen. In der zweiten Phase kommt er zu dem Schluss, dass wir keinerlei Zugang zu einer solchen unabhängigen Wirklichkeit haben, wir mithin auch nicht berechtigt sind, Aussagen über eine solche zu machen. Somit hat auch ein ,Ding an sich‘ nichts mit unserem Verständnis der Welt zu tun. In der letzten Phase, die in den späten Fragmenten ihre Darstellung findet, kommt er zu dem Schluss, dass wir, sofern wir tatsächlich gar keinen Zugang zu einer bewusstseinsunabhängigen Wirklichkeit haben, nicht einmal berechtigt sind, wie Kant überhaupt von einem ,Ding an sich‘ zu sprechen. Denn die einzige Bedeutung, die ,Ding‘ in irgendeiner menschlichen Sprache haben könnte, wäre eine durch und durch menschliche. Nietzsche kommt zu dem Schluss, dass der Begriff eines ,Dinges an sich‘ ein Widerspruch sein muss. (Diese Position scheint verwandt mit dem antiskeptischen internen Realismus von Hilary Putnam.) Zur aktuellen Diskussion vgl. auch Maudemarie Clark: Nietzsche on Truth and Philosophy. Cambridge 1990.

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Tragçdie als eine Erfahrung des „Zauber[s]“,44 der „Verzauberung“45 und „Verzückung“46 beschrieben – als ein höheres Bewusstsein von Freiheit, Harmonie und Einheit. Schließlich bezeichnet es die Erfahrung, durch die Kunstfertigkeit der Begierden selbst zum „Kunstwerk geworden“47 zu sein. Beide Triebe werden zu Beginn des zweiten Abschnittes gleichermaßen als „Kunsttriebe“48 bezeichnet, als „künstlerische Mächte […], die aus der Natur selbst […] hervorbrechen“.49 Für Schopenhauer ist die Kunst zwar auch in der Lage, eine Vorstellung des Willens zu sein (nämlich in der Musik), aber gleichwohl klar abgesetzt vom Willen selbst, der niemals Kunst sein oder hervorbringen kann. Nietzsches Verständnis der Sinnlichkeit dagegen ist sehr viel komplexer. Seine Satyrn sind selbst höchst feinsinnige Künstler, ihr erotischer Trieb ist gemaßregelt und lustvoll; und von hier ist es nicht mehr weit bis zu dem überschwänglich spielerischen Hinweis auf Ovid: „Nitimur in v e t i t u m : in diesem Zeichen siegt einmal meine Philosophie“.50 Gegen das Tabu seiner Zeit und sowohl der christlichen als auch der schopenhauerschen Ansicht zum Trotz, nach denen die Sinnlichkeit und das Erotische das Böse sind, kämpft Nietzsche schon 1871 unter der Flagge des dionysischen Künstlertums. Wenn sowohl Apollo als auch Dionysos von Bedürfnissen erweckt, weltlich und praktisch sind und wenn diese die beiden Kunsttriebe der Natur selbst sind, so ist es kaum verwunderlich, dass Nietzsche auch ein Bild der Kunst entwirft, das sich von dem aus der kantischen Tradition vertrauten – und auch von Schopenhauers eigener Weiterentwicklung dieses Bildes – erheblich unterscheidet. In der kantischen Tradition sind unser Interesse an und unsere Haltung gegenüber dem Schönen gänzlich unabhängig von einem jeden praktischen Interesse. Das ästhetische Bewusstsein eines Naturgegenstandes oder eines hergestellten Kunstwerks ist wesentlich verschieden von einem praktischen Bewusstsein, weil das ästhetische Bewusstsein das Objekt allein um seiner Schönheit oder anderer rein ästhetischer Eigenschaften willen betrachtet und dabei eine jede Frage nach der Bedeutung des Objekts im konkreten Leben des Betrachtenden zurückgewiesen wird. Um zu unserem früheren Beispiel 44 45 46 47 48 49 50

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 29. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Nietzsche, EH Vorwort 3, KSA 6, S. 259.

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zurückzukommen: Das ästhetische Bewusstsein eines Hundes, der vor mir steht, ist das Bewusstsein seiner formalen Eigenschaften, seiner Gestalt und der Farbe, womöglich in Verbindung mit den formal-kinetischen Eigenschaften seines Bewegungsablaufes. Bin ich aber auf einen Hund bezogen als auf ein Tier, das mich möglicherweise beißt oder nicht beißt, so ist dies ein interessiertes praktisches Bewusstsein – und somit vollkommen verschieden vom ästhetischen Bewusstsein, wenn nicht sogar diesem entgegengesetzt. Wie wir gesehen haben, entwickelt Schopenhauer genau diese Idee weiter, wenn auch auf ganz eigentümliche Weise. Einerseits besteht er auf der Absonderung der ästhetischen Betrachtung von praktischen Bedürfnissen und Interessen und erkennt die Hauptaufgabe der Kunst in ihrer Fähigkeit, den Zuschauer von allen praktischen Interessen frei zu machen. Andererseits zeigt diese Beschreibung, dass Schopenhauer doch eine Funktion der Kunst im Leben des Betrachters ausmacht, und in der Tat soweit geht, zu sagen, der eigentliche Zweck der Kunst liege in ihrer Wirkung für das menschliche Leben, die aber eben darin besteht, jeden Zuschauer zur Abkehr und Entsagung vom Leben zu ermutigen. Von der Geburt der Tragçdie bis zu seinen späten Schriften hat Nietzsche diesem Bild der Kunst beständig vehement widersprochen. Nietzsche lehnt eine jede Auffassung ab, nach der wir die Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben verstehen oder überhaupt bestimmte Urteile über das Schöne und Hässliche fällen könnten, ohne diese unmittelbar auf praktische menschliche Bedürfnisse zu beziehen – mehr noch: ohne sie auf Bedürfnisse zu beziehen, die auf die Affirmation des Lebens zielen, und nicht auf Resignation und Verneinung. Diese Richtung seines Denkens wird in der Geburt der Tragçdie mehr als deutlich, wenn Nietzsche bei der Einführung des Apollinischen von den Künsten sagt, dass „durch [sie] das Leben möglich und lebenswerth gemacht wird“.51 Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, entwickelt Nietzsche diesen Gedanken in der Bestimmung des tragischen Zuschauers weiter. In seinem „Versuch einer Selbstkritik“ von 1886 hält er fest, dass die Absicht des ganzen Buches, dieses „verwegene[n] Buch[es]“,52 darin bestanden habe, „ d i e W i s s e n s c h a f t u n t e r d e r Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des L e b e n s … “53 – eine Absicht, durch die das Buch im Kontext der 51 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27 f. 52 Nietzsche, GT Versuch 2, KSA 1, S. 14. 53 Nietzsche, GT Versuch 2, KSA 1, S. 14.

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zeitgenössischen deutschen Vorstellungen über Kunst und Ästhetik in der Tat als „verwegen“ erscheinen muss. Dieses verwegene Vorhaben ist allerdings ohne expliziten Angriff auf Kant oder Schopenhauer durchgeführt worden. 1886 kritisiert sich Nietzsche in dieser Hinsicht selbst: „dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrücken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen!“54 Dennoch ist die Schärfe des Bruchs mit Kant und Schopenhauer nicht zu übersehen, die insbesondere im fünften Abschnitt der Geburt der Tragçdie zum Ausdruck kommt, wo Nietzsche die Vorstellung, nach der die Kunst Kontemplation und Absonderung sein und die Begierden zum Schweigen bringen solle, als Dogma seiner Zeit bezeichnet: Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom „Ich“ und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können.55

Nietzsche verweist hier auf zentrale Begriffe der Ästhetik Schopenhauers wie Kants als auf kulturelle Dogmen. Obwohl er hier diese Dogmen weder billigt noch verwirft, wird dieser Verweis später gleichsam als Präludium zu Nietzsches eigener Darstellung dieser Sachverhalte dienen, nach der Kunst und Künstler in der Tat zutiefst in die Erforschung und Erfüllung menschlicher Bedürfnisse verwickelt sind. In der Geburt der Tragçdie beginnt Nietzsche im Kontext seiner Darstellung von Apollo und Dionysos als leidenschaftlichen, interessegeleiteten und bedürftigen Elementen der Persönlichkeit einen Gedanken zu entwickeln, der zu einem zentralen Thema seiner Philosophie werden wird: den Gedanken, dass die Kunst nicht getrennt vom Leben besteht, in Absonderung oder gar in Opposition zu dessen Bedürfnissen. Kunst ist durchaus nicht Kunst um der Kunst willen, sondern um des Lebens willen. In der Gçtzen-Dmmerung drückt er dies in einer Passage, die ebenfalls von Dionysos und dem Dionysischen handelt, folgendermaßen aus:

54 Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 19. 55 Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 42 f.

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Nichts ist bedingter, sagen wir b e s c h r ä n k t e r , als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füssen.56 […] l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst […]. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor?57

Schon in den ersten Abschnitten der Geburt der Tragçdie unterläuft Nietzsche also, obzwar er sich durchaus auf Schopenhauer stützt, dessen Auffassung in drei wesentlichen Hinsichten: indem er darauf besteht, dass die Vorstellungen Bedürfnissen antworten; indem er das Begehren und das Erotische als intelligente und künstlerische Mächte darstellt; indem er der Kunst eine aufs Praktische ausgerichtete Bedeutung zuschreibt. Durch unseren Hinweis auf Nietzsches Zurückweisung jeder Form von Resignation und auf die Freude des Menschen am Menschen selbst, sind wir zu dem vierten und fundamentalsten Bruch mit Schopenhauer gelangt: Nietzsches vollständige Zurückweisung der normativen Ethik des Pessimismus zugunsten einer Weltauslegung, die uns zur Freude am Leben, am Leib und am Werden ermutigt – auch und gerade angesichts der Erkenntnis, dass die Welt chaotisch und grausam ist. An diesem Punkt aber müssen wir Nietzsches Darstellung der Tragödie und des tragischen Zuschauers in den Blick nehmen. Denn es ist dieser Zusammenhang, innerhalb dessen er mit dem Pessimismus bricht – im Namen des Dionysos.

5. Das Leben aus der Perspektive der Kunst „Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus!“58 So beschreibt Nietzsche rückblickend die Ablehnung von Schopenhauers Analyse der Tragödie in seinem frühen Werk. Sofern Nietzsche sich hier, und zurecht, für die ,Verdunklung‘ entschuldigt, mit der dieses Ziel in der Geburt der Tragçdie verfolgt worden war, und sich selbst vorwirft, „mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben“,59 erscheint es geboten, unsere eigene Untersuchung mit zwei späteren und deutlicheren Passagen zu beginnen, in denen er die Bedeutung der Kunst 56 57 58 59

Nietzsche, GD Streifzüge 19, KSA 6, S. 123. Nietzsche, GD Streifzüge 24, KSA 6, S. 127. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 20. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 20.

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derart beschreibt, dass der gänzlich unschopenhauerische Charakter seiner normativen Weltauslegung deutlich wird. In einem Fragment, das auf 1887/1888 zu datieren ist und das einen Entwurf für ein neues Vorwort zur Geburt der Tragçdie darstellt, erklärt Nietzsche, dass dieses Werk das Wesen der Welt versteht als „falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn…“.60 Wenn dies der Fall ist, dann kann allein durch die Kunst das Leben lebenswert, voller Freude und menschlich gemacht werden – das heißt im weitesten Sinn, durch die Kraft des Menschen, eine Ordnung inmitten des Chaos zu schaffen, eine Bedeutung zu erfinden, wo die Natur selbst keine bereithält. In unserer schöpferischen Kraft (mit der Nietzsche nicht allein die Kunst im engeren Sinn meint, sondern auch Liebe, Religion, Ethik und Wissenschaft – alle verstanden als Formen der Erfindung von Geschichten!) finden wir die Quelle alles wahrhaft Herrlichen und Erfreulichen des Lebens. Wenn es uns gelingt, diese Kräfte wertzuschätzen und ihnen unsere eigene Bedeutung abzugewinnen, anstatt nach einer Bedeutung von außen, sei es in Gott oder in der der Natur, zu suchen, dann können wir uns selbst und das Leben wirklich lieben. Die Kunst ist daher die entscheidende anti-pessimistische Lebensform, die große Alternative zu Resignation und Verneinung: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence. […] Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s H a n d e l n d e n , – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s L e i d e n d e n , – als Weg zu Zuständen, wo das Leben gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist. […] Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragischdionysische Zustand.61

In dieser Passage ist der „tragisch-dionysische Zustand“ ein Zustand, in welchem man Entzückung über sich selbst und über das eigene Tun empfindet, anstatt, wie es in einem religiösen oder postreligiösen Zeitalter nur allzu oft geschieht, nach einer Bedeutung von außen her zu suchen. Dionysos geht hier sozusagen mit gutem Beispiel voran: Indem wir ihm 60 Nietzsche, NL November 1887-März 1888, 11[415], KSA 13, S. 193. 61 Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 521 f.

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folgen, geraten wir in Entzückung über das Spiel der Erscheinungen, über die Gesten des Theaters; wir geraten in Entzückung darüber, alles selbst zu erfinden – was wir ohnehin immer schon tun, was wir tun müssen. Obwohl diese Passage aus einem Vorwort zur Geburt der Tragçdie stammt und auf Dionysos verweist, sagt sie nur wenig über die Bedeutung aus, die den Künsten im engeren Sinne und der tragischen Kunst im Besonderen in Nietzsches Auffassung der Affirmation des Menschlichen zukommt. Der Begriff Kunst ist hier in einem sehr weiten Sinn gefasst; und obgleich wir vermuten können, dass die Bejahung des Schöpferischen, die im Falle der Wissenschaften, der Religion und der Liebe problematischer erscheint, in den schönen Künsten leichter zu erlangen ist – wodurch die schönen Künste zum Paradigma für eine Haltung gegenüber der Welt werden, welche man sodann auch in allen anderen Lebensbereichen zu gewinnen versuchen könnte –, erläutert Nietzsche diese Beziehung nicht ausdrücklich. Dies tut er jedoch an anderer Stelle, und zwar nirgends so deutlich wie in einer Passage aus der Frçhlichen Wissenschaft von 1882, die überschrieben ist mit „Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst“: Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h k e i t würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den g u t e n Willen zum Scheine. […] Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h , und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu k ö n n e n .62

Nietzsches Auffassung ist also nicht eine einfache Umkehrung der schopenhauerschen. Mit Schopenhauer stimmt er nämlich darin überein, dass ein redlicher Blick auf die Welt nichts anderes entdeckt als Willkür und das Fehlen eines jeden ihr innewohnenden Sinnes.63 Aber er ist mit 62 Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464. 63 Streng genommen ist ein konsequenter Nietzscheaner überhaupt nicht dazu berechtigt, Aussagen darüber zu machen, wie die Welt außerhalb unserer Erfahrung konstituiert ist. Wenn wir daher diese Bemerkungen (und ähnliche Bemerkungen in späteren Werken) als Aussagen über ,Dinge an sich‘ verstehen, wären sie mit der späten Position Nietzsches unvereinbar. Wir müssen also diese Aussagen in Bezug auf die Welt als Interpretation unserer wahrnehmungsmäßigen Erfahrung verstehen; Nietzsches Entgegensetzung einer Ordnung, die

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den Konsequenzen, die Schopenhauer aus dieser Entdeckung für das Selbstbild des Menschen zieht, nicht einverstanden. Der schopenhauersche Mensch verfällt angesichts der Endeckung, dass seine Setzung einer Ordnung durch die Erfahrung des Lebens negiert wird, mehr und mehr dem Ekel über das Leben, über sich selbst und über die Tatsache, dass er im Irrtum gelebt hat. Der nietzscheanische Mensch dagegen kommt zu genau denselben Erkenntnissen der Welt, aber er gerät in dionysische Freude und Stolz über seine eigene Künstlerschaft. Denn wenn es keine immanente Ordnung in den Dingen selbst gibt, wie erhebend also – und tatsächlich: wie viel erhebender –, dass es gelungen ist, so viele wundervolle Geschichten zu erfinden, so viele wagemutige Begriffswelten zu entwerfen, so viele übermütige und unerhörte Tänze zu tanzen. Die Abwesenheit eines planenden Gottes bewirkt eine größere Freude über die künstlerischen Fähigkeiten des Menschen. Diese Reaktion aber – so Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft – hat die Kunst nötig. Denn Nietzsche ist der Meinung, dass wir auf das Scheitern unserer Suche nach einem externen religiösen und metaphysischen Sinn in affirmativer Weise reagieren können – aber nur dann, wenn uns ein Beispiel menschlichen Tuns gegeben ist, in dem das Vermögen zur schöpferischen Erdichtung um seiner selbst willen geliebt wird und die Übereinstimmung mit einer vorgängigen externen Ordnung nicht als höchster Wert gilt. Die Künste zeigen uns, dass wir Ordnung, Disziplin, Bedeutsamkeit und Logik aus uns selbst hervorzubringen vermögen; wir sind nicht vor die Wahl gestellt: entweder der Glaube an Gott oder das leere Chaos.64 Jahrhunderte christlicher Doktrin haben uns zu einer derart geringen Wertschätzung der eigenen Leiblichkeit und ihres Begehrens erzogen, dass wir davon überzeugt sind, dass alles, was wir selbst hervorbringen, außerhalb der Ordnung oder womöglich sogar böse sein muss. Die Künste zeigen uns, dass dem nicht so ist; sie erlauben uns, stolz zu sein auf uns selbst und die Hervorbrinhervorgebracht ist, und des Chaos, das wir erfahren, muss wohl als Gegensatz zwischen Wahrnehmung und Begriff verstanden werden. Das ist besonders deutlich in Ueber Wahrheit und Lge; wenn wir diesem Hinweis folgen, gewinnen wir eine konsistente Lesart vieler sonst rätselhafter Stellen. 64 Es ist überaus wichtig zu sehen, wie vielen Einschränkungen und Bedingungen ein solches künstlerisches Schaffen nach Nietzsche unterliegt. Vgl. z. B. Ueber Wahrheit und Lge, Die Frçhliche Wissenschaft (110/111). Vgl. Nelson Goodman: Worlds, Works, Words. In: ders.: Ways of Worldmaking. Indianapolis 1979, S. 1 – 22.

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gungen unseres Leibes.65 Daraus folgt, dass die Kunst für ihre Betrachter Paradigma und Orientierungshilfe sein kann – sie führt uns in einem allgemeinen Sinn vor, wie dem Leben begegnet werden kann. In eben diesem Zusammenhang müssen wir Nietzsches Ausspruch zu verstehen versuchen, dass uns das Dasein „als ästhetisches Phänomen […] immer noch e r t r ä g l i c h “66 ist – seine spätere Fassung des berühmten Diktums der Geburt der Tragçdie, das „Dasein und die Welt“ seien „nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n […] ewig g e r e c h t f e r t i g t .“ 67 Üblicherweise wird diese Bemerkung so verstanden, dass in ihm eine amoralische Ästhetisierung des Daseins impliziert ist, ein spielerisches Umstürzen aller moralischen und politischen Kategorien im Namen losgelöster und haltloser ästhetischer Werte. Wir haben bereits gesehen, dass Nietzsche eine solche Absonderung des Ästhetischen vom Praktischen ausdrücklich verachtet und die Vorstellung einer Kunst um der Kunst willen geradezu lächerlich macht; und aus diesem Grund müssen wir die zitierten Bemerkungen gerade von Nietzsches Auffassung des Ästhetischen her auszulegen suchen, die zugleich eine zutiefst praktische ist – auch wenn dies bislang viel zu selten bemerkt worden ist. Die Frçhliche Wissenschaft macht mehr als deutlich, wie sie in ihrem Kontext zu verstehen sind: Das Dasein ist angesichts des Zusammenbruchs des Glaubens an eine jenseitige Welt nur dann erträglich, wenn es uns gelingt, unser Leben voller Stolz als unsere eigene Schöpfung anzuschauen – ,unser Leben anzuschauen‘, das heißt nun, es als Kunstwerk anzuschauen. In der Geburt der Tragçdie kommt noch eine weitere Wendung hinzu: Auf 65 Dieses Vertrauen in das Potential der Kunst hinsichtlich der Bejahung des Menschseins führt bei Nietzsche dazu, sich besonders verächtlich gegenüber Künstlern auszusprechen, die in diesem Belang ihre künstlerische Autorität der Konvention und/oder der Religion unterwerfen. Seine beißende Abfertigung der Jenseitigkeit am Ende des Faust (vgl. Zarathustra, Von den Dichtern) ist eng verbunden mit seiner Anklage der Dichter als Diener in der Genealogie der Moral III. Und in Der Fall Wagner erklärt er Wagners Entwicklung als die Kapitulation eines ursprünglich freien Geistes vor dem gemeinsamen Druck von Christentum und schopenhauerscher Philosophie. Nietzsche lässt den Leser wissen, der Ring habe ursprünglich damit enden sollen, dass Brunhilde ein Lied „zu Ehren der freien Liebe“ singe, „die Welt auf eine socialistische Utopie vertröstend, mit der ,Alles gut wird‘“; jetzt aber bekomme sie „etwas Anderes zu thun. Sie muss erst Schopenhauer studiren; sie muss das vierte Buch der ,Welt als Wille und Vorstellung‘ in Verse bringen. W a g n e r w a r e r l ö s t … “ (Nietzsche, WA 4, KSA 6, S. 21). 66 Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464. 67 Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47; vgl. GT 24, KSA 1, S. 152.

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diese Weise und nur auf diese Weise erscheint das Leben als gerechtfertigt: Das bedeutet, dass nach dem Abbruch aller Versuche, eine außermenschliche Rechtfertigung des Daseins zu finden, die einzige Rechtfertigung, die wir jemals werden finden können, in uns selbst und in unserer eigenen schöpferischen Kraft liegt. Aber Nietzsche besteht darauf, dass hierin eine Rechtfertigung liegt, sogar eine ewige Rechtfertigung – und hierin liegt womöglich schon eine Vorausdeutung auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft, die uns die Frage stellt, ob wir unsere Handlungen derart wollen, dass die Welt für alle Ewigkeit so sein sollte. In keiner Weise ist es in Nietzsches Gedanken impliziert, dass die Bewertung des Lebens auf die Sphäre des Ästhetischen beschränkt ist, in Abgrenzung zum Ethischen und Sozialen: Wie wir bereits gesehen haben, lehnt Nietzsche eine solche Trennung strikt ab, weil sie den Geltungsbereich des Ästhetischen in unzulässiger Weise verkürzt. Ebenso wenig redet Nietzsches Denken einem freien, ungeregelten gesetzlosen Spiel mit Ordnungen und Strukturen das Wort – ist es doch Nietzsches wiederholt vorgebrachte Überzeugung, dass die Kunst uns, vielleicht mehr als alles andere, die Liebe zu Ordnung und Disziplin lehrt und die Verachtung alles „laisser-aller“ (besonders in Jenseits von Gut und Bçse 68). Vielmehr ist es Nietzsches Anliegen zu zeigen, dass wir im Lobpreisen und Rühmen und in der Entscheidung für das Leben, welches die Charakteristika aller großen Kunst sind, ausreichende Kriterien für die Rechtfertigung unseres Lebens haben. Dies bedeutet freilich auch, dass die Kunst für das menschliche Leben genau die entgegengesetzte Bedeutung wie bei Schopenhauer hat. Denn anstatt dem Menschen einen Anhalt dafür zu geben, das Leben zu verachten und die Leiblichkeit zu verabscheuen, gibt sie ihm vielmehr den Anreiz dazu, das Leben zu umarmen und die Leiblichkeit als eine Sphäre der Freude zu betrachten. Wenn wir nun, ausgestattet mit diesem allgemeinen Verständnis, zur Geburt der Tragçdie zurückkehren, können wir erkennen, dass – unter der Oberfläche einer obskuren Aufnahme der schopenhauerschen Rede vom „metaphysische[n] Trost“69 – genau diese Geschichte erzählt wird: Die „dionysische[n] Tragödie“70 erscheint für den Zuschauer als eine Quelle der Bejahung des menschlichen Lebens im Angesicht der Erkenntnis, dass das Dasein nicht schon an sich selbst bedeutsam und gut ist. Die Tragödie 68 Vgl. bes. Nietzsche, JGB 188, KSA 5, S. 108. 69 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56; vgl. GT 17, KSA 1, S. 114; GT 18, KSA 1, S. 119. 70 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56.

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gewährt ihrem Zuschauer – so Nietzsche hier noch in Übereinstimmung mit Schopenhauer – Einblicke „mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte ebenso wie in die Grausamkeit der Natur“, so dass dieser Gefahr läuft, „sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen“.71 Die Mächte, die Nietzsche mit Dionysos assoziiert, enthüllen – offensichtlich durch einen Prozess der mitfühlenden Identifikation, wie er später ausführt – dem Zuschauer „das Entsetzliche oder Absurde des Seins“.72 Denn der Held verkörpert in seiner Person den unausweichlichen Zusammenstoß des menschlichen Strebens mit seinen natürlichen/göttlichen Grenzen:73 Seine Forderung nach Gerechtigkeit in einem ungerechten Universum bringt unweigerlich schreckliche Leiden mit sich. Der Zuschauer ist Zeuge dieser Leiden: und bewirkt eine zeitweilige Suspension der Motive für weiteres Handeln. Der Zuschauer gleicht nun Hamlet:74 [B]eide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben e r k a n n t , und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten.75

Mit anderen Worten: Der Zuschauer hat jetzt den Zustand eines schopenhauerschen Zuschauers erreicht oder steht kurz davor. Aber in diesem Zustand lässt ihn die Tragödie nicht zurück. Was jetzt gemäß der Darstellung Nietzsches stattfindet (so weit ich diese nachzuvollziehen vermag), ist das Folgende: Die Elemente des Dramas, die Nietzsche mit dem Dionysischen assoziiert – die schier überschäumende Kraft der Chormusik und des Tanzes –, geben dem Zuschauer das Beispiel einer Ordnung, die sich gerade im Angesicht des Chaos behauptet; einer künstlerischen Hervorbringung, die nicht abhängig ist von einer äußerlichen Ordnung im Wesen der Dinge; und schließlich, aufbauend auf der Annahme, dass der Chor ursprünglich aus Satyrn bestand, einer Lust und Fruchtbarkeit des Leibes, die sich im Angesicht seiner Verwundbarkeit durch Leiden behauptet. Die Erfahrung, wie durch Dionysos und die Kräfte, die er verkörpert, die Welt verwandelt wird, verführt den Zuschauer gleichsam zum Leben zurück, 71 72 73 74 75

Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Vgl. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 64 – 71. Dies deutet wiederum auf eine Identifizierung mit dem Helden hin. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56 f.

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bringt ihn dazu, das Leben mitsamt seiner eigenen, Ordnung schaffenden Erkenntniskraft zu bejahen, und zwar durch eben jenes erotische und leibliche Vermögen, das für Schopenhauer der beste Grund gewesen ist, sich vom Leben abzuwenden. „Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“76 Die Kunst ist die „rettende, heilkundige Zauberin, […] sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“.77 Dieser künstlerische Vorgang erfordert, wie Nietzsche betont, ein hochkomplexes Zusammenspiel von apollinischen und dionysischen Vermögen – sowohl im Drama selbst als auch in der Reaktion der Zuschauer. Am Ende des siebten Abschnittes wird der Satyrchor als „die rettende That der griechischen Kunst“78 bezeichnet und die Satyrn werden zu den „dionysischen Begleiter[n]“79 der Zuschauer, „welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen“80 und sich selbst „dionysische[n] Menschen dünken“.81 Im Chor und durch ihre stellvertretende Identifikation mit dem Chor erkennen die Zuschauer, so Nietzsche, eine Wahrheit über sich selbst als natürliche, leibhafte Wesen. „[D]em schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Menschen“82 erscheinen diese Satyrn nicht als zivilisierte, „geputzte“ Hirten eines idyllischen Schäferstücks – sondern als „Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur“.83 Gleichwohl betont Nietzsche, dass hier die Geschlechtlichkeit nicht „mit dem Affen zusammenfiel“84 – vielmehr liegt in ihr etwas „Erhabenes und Göttliches“, als ,unverhüllt‘ und ,unverkümmert großartig‘.85 Der Zuschauer kann das Bild seines eigenen geschlechtlichen Daseins mit „erhabener Befriedigung“86 betrachten. So betrachtet der Zuschauer als dionysischer Zuschauer das dionysische Bild seiner selbst, er nimmt seine eigene Leiblichkeit als etwas Sinnhaftes, Geordnetes und

76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 59. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 58. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 58. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 58. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 58. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 58. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 58.

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Großartiges wahr, das Teil hat an dem menschlichen Vermögen zum Künstlerischen, das mit Apollo assoziiert wird. Und kurz darauf erfahren wir, dass der dionysische Chor samt seinen Zuschauern, ohne dass sie dabei aufhören Satyrn, d. h. dionysisch zu sein, die apollinische Vision des tragischen Helden aus sich selbst hervorbringen. „In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, u n d a l s S a t y r w i e d e r u m s c h a u t e r d e n G o t t d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes.“87 Insofern sind die dionysischen Tänzer, weit davon entfernt erkenntnisunfähige schopenhauersche Tiere zu sein, eigentlich Träumende. Sie werden so zum kognitiven Vehikel, durch das die gesamte Ordnung der dramatischen Handlung erträumt und erschaut wird. Und was ist der zentrale Gegenstand dieses Traumes? Der leidende tragische Held, wie wir schon sagten. Aber jetzt wissen wir zudem, dass dieser Held kein anderer ist als Dionysos, der Gott selbst: „der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision“.88 „Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden […] ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum“.89 So wird das Erschauern der Zuschauer angesichts der Qualen des Helden zu deren Bejahung der wonnevollen Wiedergeburt und des wandlungsreichen Künstlertums des Gottes. Kurz gesagt: Für Nietzsche besteht die Errungenschaft der griechischen Tragödie in erster Linie darin, dass sie den Zuschauer unmittelbar mit der Tatsache konfrontiert hat, dass es nur eine Welt gibt, die Welt, in der wir leben, diese zufällige, willkürliche, aber ebenso reiche und schöne Welt der Natur. Diese Welt wird nicht erlöst durch irgendein ,Jenseits‘; sie hat noch nicht einmal eine negative Bedeutung im Verhältnis zu etwas jenseits ihrer, welche ihr in der christlichen Tragödie gegeben wird. Nietzsche ist bis zum Ende seines Schaffens davon fasziniert, dass die Griechen dazu im Stande waren, dem Wesen des Daseins so wahrhaftig ins Auge zu sehen, ohne bei einer Religion der Weltverleumdung und Resignation Zuflucht zu suchen. Die Erklärung für diesen einzigartigen Mut liegt für Nietzsche in der Struktur der tragischen Kunst. Die Tragödie zeigt, dass die Welt zufällig und willkürlich ist. Aber zugleich zeigt sie, wie das Leben sich angesichts einer Welt ohne Bedeutung in Schönheit bewährt, sie zeigt die Freude und den Reichtum menschlichen 87 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 61 f. 88 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 63. 89 Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 72.

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Schaffens, sie ist selbst ein Beispiel dieses freudenreichen Schaffens – und so weist sie dem Zuschauer einen Weg der Begegnung nicht allein mit den schrecklichen Ereignissen des Dramas, sondern auch mit dem Leiden und den Unwägbarkeiten des Lebens selbst, im Persönlichen wie auch im Miteinander; ein Weg, der zur Selbstachtung und Selbstständigkeit des Menschen hinführt und nicht zu Schuld und Resignation. Anstatt seinen Willen zum Leben aufzugeben, wird der Zuschauer, berauscht von Dionysos, selbst Kunstwerk und Künstler.

6. Eine Kunst diesseitiger Liebe Die Errungenschaften der Geburt der Tragçdie sind also sowohl substantiellen als auch vorbereitenden Charakters. Denn Nietzsche bricht bereits hier in wesentlicher Hinsicht mit dem Denken Schopenhauers und eröffnet eine Auseinandersetzung mit dem tragischen Theater, die sich von Schopenhauers Verständnis radikal unterscheidet. Gleichwohl sind die anti-schopenhauerischen Argumentationslinien noch erheblich auszuarbeiten und zu vertiefen – was schon allein dadurch sichtbar geworden sein sollte, dass ich oft genug auf spätere Schriften vorgreifen musste, um zentrale Anliegen deutlicher zu machen, oder, in einigen Fällen, um sie überhaupt vollständig durchzuführen. Jede der vier Umdeutungen von Schopenhauer, die ich hier vorgestellt habe, kehrt in der Tat als ein zentrales Thema in Nietzsches späterem Denken wieder. Der Zusammenhang von Erkenntnistätigkeit und menschlichen Bedürfnissen – der schon ausführlich 1873 in dem Aufsatz Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne entwickelt wird – ist auch ein Hauptthema in Die frçhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Bçse und vielen späteren Fragmenten. Die Intelligenz und Künstlerschaft des Leibes und des leiblichen Begehrens werden in Die frçhliche Wissenschaft, in der Gçtzen-Dmmerung und vor allem im Zarathustra behandelt. Der Zusammenhang von Kunst und menschlichen Bedürfnissen ist, wie wir gesehen haben, Gegenstand vieler späterer Diskussionen. Und schließlich besteht das Hauptanliegen von Nietzsches reifem Denken in dem Versuch, in Auseinandersetzung mit der Entdeckung, dass das Universum als Ganzes keinem immanenten Sinn und Zweck gehorcht, eine konkrete Alternative zu Schopenhauers Pessimismus und Resignation im Detail auszuarbeiten. Dieses Vorhaben, das seinen Anfang in der Geburt der Tragçdie nimmt, in der das Beispiel der

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dionysischen Kunst die Menschheit vor dem Gefühl des „Ekel[s]“ an der wahren Welt „rettet“,90 wird fortgeführt in Zarathustras Versuch, die Menschheit vom Ekel vor sich selbst und von dem Verlangen nach einem „Jenseits“ zu befreien und die Menschen so wieder zur Liebe zu sich selbst und zur Welt des Werdens zurückzuführen – einer Welt des Werdens, die nun ,unschuldig‘ erscheint und nicht mehr der Herrschaft der Erbsünde untersteht. In dem „Versuch einer Selbstkritik“ von 1886 lässt Nietzsche den Leser wissen, dass die wirkliche Botschaft dieses frühen Werkes nicht auf einen ,metaphysischen Trost‘ abziele, der von dem Verlangen nach einer jenseitigen Welt lebe wie etwa die christliche Romantik des Faust. Vielmehr lehre dieses Werk „die Kunst des d i e s s e i t i g e n Trostes“,91 der unmittelbar vorausweise auf den „dionysischen Unhold[s] […] Z a r a t h u s t r a “.92 Aber anstatt nun der weiteren Entfaltung von Nietzsches dionysischer Weltsicht nachzugehen – was sicherlich eine umfänglichere Untersuchung erfordern würde –, möchte ich zum Abschluss ein einziges spätes Fragment genauer in den Blick nehmen, in dem Nietzsches reifes Verständnis des dionysischen Rausches in besonderer Klarheit und Schönheit entwickelt ist – und in dem kurz und bündig alle Kritikpunkte an Schopenhauers Pessimismus noch einmal zusammengetragen werden. Die aus dem Jahre 1888 stammende Aufzeichnung gibt eine Darstellung der dionysischen Kraft des Rausches und behandelt den Zusammenhang dieser Kraft mit der künstlerischen Schöpfung: Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? Die „Liebe“ ist dieser Beweis, das, was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise fertig, daß im Bewußtsein des Liebenden die Ursache ausgelöscht und etwas Andres sich an ihrer Stelle zu finden scheint – ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe… Hier macht Mensch und Thier keinen Unterschied; noch weniger, Geist, Güte, Rechtschaffenheit… Man wird fein genarrt, wenn man fein ist, man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber die Liebe, und selbst die Liebe zu Gott, die Heiligen-Liebe „erlöster Seelen“, bleibt in der Wurzel Eins: als ein Fieber, das Gründe , sich zu transfiguriren, ein Rausch, der gut thut, über sich zu lügen… Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfigurirt, stärker, reicher, vollkommener, man i s t vollkommener… Wir finden hier die K u n s t als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie 90 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. 91 Nietzsche, GT Versuch 7, KSA 1, S. 22. 92 Nietzsche, GT Versuch 7, KSA 1, S. 22.

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als größtes Stimulans des Lebens, – Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt… Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft zu lügen stehen zu bleiben: sie thut mehr, als bloß imaginiren: sie verschiebt selbst die Werthe. Und nicht nur daß sie das Gefühl der Werthe verschiebt… Der Liebende ist mehr werth, ist stärker. Bei den Thieren treibt dieser Zustand neue Stoffe, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesammthaushalt ist reicher als je, mächtiger g a n z e r als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmuth und Unschuld; er glaubt wieder an Gott, er glaubt an die Tugend weil er an die Liebe glaubt: und andrerseits wachsen diesem Idioten des Glücks Flügel und neue Fähigkeiten und selbst zur Kunst thut sich ihm die Thüre auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig? … L’art pour l’art vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperiren… Den ganzen R e s t schuf die Liebe…93

Was sich in dieser hochkomplexen Passage zeigt, dürfen wir mit gutem Recht als Nietzsches ausgereiftes Loblied auf Dionysos bezeichnen – und mithin als seine Preisung der Mächte des Eros 94 und des Rausches, die Nietzsche mit seinem Namen verbunden hat. Es ist Nietzsches Version der platonischen Hymne auf die Entrückung im Phaidros – und hier wird offensichtlich auf den Phaidros angespielt, sowohl durch den Hinweis auf die wachsenden Flügel der Liebenden als auch durch den nachdrücklichen Verweis auf die Großmütigkeit der Liebe. In diesem Fragment findet Nietzsches Gegenentwurf zu Schopenhauers Bild des erotischen Begehrens seinen grandiosen Ausdruck. An die Stelle einer bloßen, vernunftlosen, fesselnden und beschränkenden Kraft, die ihr Subjekt zu einem Leben in Täuschungen verdammt, setzt Nietzsche den Eros als einen klugen und feinsinnigen Künstler – oder besser und mit Nietzsches eigenen Worten gesagt: Er ist so fein wie ein Liebender. Nietzsches Eros verwandelt sein Subjekt in ein Wesen, das stärker, reicher und tiefer erscheint. Aber dieser Anschein ist ebenso Wirklichkeit: Denn die Künstlerschaft menschlichen Begehrens verwandelt den Menschen selbst in ein Kunstwerk. Der Zauber der Liebe ist eine Illusion in dem Sinn, dass keinerlei Entsprechung oder Übereinstimmung mit einer vorgängigen und immanenten Wirklichkeit in der Ordnung der Dinge selbst besteht. 93 Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[120], KSA 13, S. 299 f. 94 „Liebe“ ist durchgehend Eros, mit Ausnahme derjenigen Stelle, an der Nietzsche die ,engelsgleiche‘ Form der Liebe anführt – nur um allerdings sogleich darauf hinzuweisen, dass ihre wahre Wurzel im Erotischen liegt.

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Gleichwohl ist der Zauber der Liebe eine eigene diesseitige Wirklichkeit, und seine Erdichtungen bringen Dichtungen hervor, die in grandioser Weise einfach da sind. Und Nietzsche fügt wie so oft hinzu, dass dieser Rausch des Erotischen das größte Motiv zur Bejahung des Lebens im Ganzen ist. Schließlich, um zu der – zumindest aus der Sicht der traditionellen deutschen Ästhetik – zweifelsohne beunruhigendsten Behauptung dieser Passage zu kommen: Die Kunst ist nicht nur nicht frei von jedem praktischen Interesse, sie ist vielmehr in der Tat die Hervorbringung eines zutiefst erotischen Interesses. Und genau so, betont Nietzsche, soll es auch sein. Denn ohne diese Transfigurationskraft – so spielt Nietzsche hier auf das Argument des Phaidros an – wäre die Kunst gewöhnlich und schmucklos, kalt, dürftig und beengt. Alles, was an der Kunst magisch ist, was vibriert und glänzt, was rauschhaft ist und abenteuerlich, lyrisch und großmütig – alles das schafft die Liebe. Hier vollendet sich Nietzsches Angriff auf Schopenhauers Pessimismus – als eine Hymne auf die Entrückung erotischer Liebe.95

95 Ich danke Tom Carpenter, Chris Farone und Stephen Halliwell für wertvolle Diskussionen über die hier behandelten Themen.

Die Philosophie des Tragischen bei Schopenhauer Brigitte Scheer I. Der Titel meines Beitrags lässt vermuten, es gäbe in der SchopenhauerForschung die wohl eingeführte Vorstellung einer Philosophie des Tragischen, wohl gar als ein Gesamtaspekt von Schopenhauers Werk. Das ist jedoch nicht der Fall, und behutsamer sollte daher zunächst gefragt werden: Gibt es bei Schopenhauer eine ausdrückliche Thematisierung des Tragischen im Sinne einer Philosophie des Tragischen? Bekanntlich wird Schopenhauers Denken, wenn es um die Charakterisierung seiner Philosophie im Ganzen geht, als Pessimismus gekennzeichnet. Freilich geht es dabei nicht um die bloße Feststellung der allgemeinen Negativität des menschlichen Lebens und der Welt, obgleich Schopenhauer hierfür in seinem gesamten Werk zahllose empirische Belege liefert. Das Leben der animalischen Welt ist in seiner Sicht wesentlich Leiden, Kampf und Untergang; der Naturprozess ein Verfallsgeschehen. Solche Aufzählungen der faktischen Negativität des Daseins unterscheiden sich zunächst nicht von den Äußerungen eines banalen, unreflektierten Pessimismus, wie er zumindest partiell in Alltagsdiskursen auftritt. Dieser banale Pessimismus kann die Weltzustände wohl als traurig, schmerzlich, niederdrückend oder quälend bezeichnen, nicht aber als tragisch, weil er gar keine Maßgabe der moralischen Wertung des Weltgeschehens besitzt. Eine solche Schwarzseherei bleibt im Faktischen der Erscheinungen befangen. In den Parerga findet Schopenhauer scharfe Worte der Verachtung für diese Position. Es heißt dort: Daß die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die e i g e n t l i c h e P e r v e r s i t ä t der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch Das, was der Glaube als der Antichrist personificirt hat.1

1

Schopenhauer, Werke, P II, S. 214.

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Wenn angesichts des maßlosen Leidens in der Welt schon der Versuch, nach einem Warum zu fragen, aufgegeben wird, so ist für Schopenhauer die „Perversität der Gesinnung“ oder die „Perversität des Geistes“, wie er an anderer Stelle formuliert, eingetreten.2 Die Geistlosigkeit erweist sich im Absolutsetzen der Erscheinungen ohne den Versuch, zum Wesen der Welt vorzudringen. Der Philosoph dagegen, dessen Denken Schopenhauer zufolge traditionell durch das Staunen angeregt wird, richtet es auch auf das Leiden, um dessen Grund und Bedeutung zu eruieren. Es ist interessant und aufschlussreich für Schopenhauers Behandlung der Religion, dass er an der eben zitierten Stelle daran erinnert, dass die christliche Lehre den Antichrist als die Personifizierung der Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden angesehen hat. Methodisch wiederholt sich des Öfteren in Schopenhauers Werk die Absicht, die im christlichen Mythos gefassten Einsichten in der säkularisierten, aufgeklärten Weltdeutung nicht zu verlieren, sondern sie im volksnahen Gewand der Allegorie oder der Metapher zu vermitteln. Wenn Schopenhauer seine pessimistische Weltsicht mit dem Ziel verbindet, die äußere Betrachtung der defizitären Weltzustände vornehmlich als Belege für seine Deutungsversuche zu nutzen und nach dem eigentlichen oder inneren Grund des Elends zu forschen, so erweist sich sein Ansatz als metaphysischer Pessimismus. Hierbei richtet sich das Begreifenwollen der Weltzustände auf das Was dieser Welt, das heißt auf das Wesen, während die Erforschung des Wie oder Warum die Welt allein als Kausalgeschehen, als Vorstellungskomplex nach dem Satz vom Grund, darstellen kann. Der von Schopenhauer anerkannte Transzendentalismus verbürgt dabei eine äußerlich geordnete Welt, in der Wissenschaften begründet werden können. Angesichts des massiven Elends der Welt verbietet sich für Schopenhauer jedoch die Annahme eines rationalen Weltgrundes. Stattdessen versucht er, das Wesen des Weltgetriebes als eine ungerichtete Dynamik, als irrationalen Drang oder Trieb, als blinde Kraftäußerung zu fassen und gibt ihr den Namen Wille. Dabei betont Schopenhauer, dass diese Deutung des An-sich der Welt einen empirischen Rückhalt durch die Leiberfahrung des Menschen erhält, die den Leib intuitiv wesentlich als Wille erlebt. Die Auffassung der Welt als einerseits Wille, andererseits Vorstellung erhält ihre Bekräftigung durch das analoge Verhältnis von Leib und Intellekt im Menschen. Dass der Aufschluss über die Welt auf dem Weg über die Verfassung des Menschen gesucht wird, weist Schopenhauers Verfahren 2

Schopenhauer, Werke, P II, S. 108.

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als entschieden modern aus. Die darin auch unausgesprochene Parallelität von Mikrokosmos und Makrokosmos verträgt sich allerdings kaum mit Schopenhauers Annahme eines völlig irrationalen Weltgrundes. So weist Schopenhauer bekanntlich dem Intellekt auch keine ursprüngliche, sondern lediglich eine evolutionsgeschichtliche Bedeutung zu, wonach er zunächst als Werkzeug des Willens zur besseren Erlangung des Begehrten entstanden ist und sich dann zunehmend emanzipierte, das heißt auch eine Gegenkraft zum Willen darstellte. Letztere Entwicklung ist eine Bedingung dafür, die Welt unter moralischen Gesichtspunkten sehen zu können. Sie eröffnet erst den Zugang zu „intellektuellen und moralischen Wahrheiten“,3 das heißt zur wertenden Einschätzung dessen, was geschieht. In diesem Horizont des Ethischen lässt sich auch erst erforschen, ob es eine stimmige Verbindung zwischen Schopenhauers Pessimismus und einer Philosophie des Tragischen geben kann. Bemerkenswert ist, dass es in den letzten dreißig Jahren der Schopenhauer-Forschung nur zwei Monographien gegeben hat, die Schopenhauers Philosophie unter dem Aspekt einer Philosophie des Tragischen gesehen haben. Das ist erstens eine französische Arbeit aus dem Jahr 1980 mit dem Titel Schopenhauer. Une philosophie de la tragdie von Alexis Philonenko, in der das Verhältnis von Tragödie und Pessimismus mit der Metaphorik musiktheoretischer Termini umschrieben wird; und das ist zweitens ein italienischer Beitrag von Antonio Bellingreri aus dem Jahr 1992 mit dem Titel La Metafisica Tragica Di Schopenhauer, in dem eine ganzheitliche Betrachtung von Schopenhauers Philosophie unter dem Gesichtspunkt des Tragischen vorgenommen wird. Es wird zu prüfen sein, ob die seltene Beschäftigung mit der Thematik des Tragischen in Schopenhauers Philosophie auf eine historisch-systematisch bedingte Widerständigkeit seines Denkens gegenüber dieser Problematik hinweist oder ob sie bislang nur ziemlich unbeachtet blieb.

II. Im Folgenden möchte ich zwei Fragestellungen untersuchen, die den Status des Tragischen in Schopenhauers Werk näher beleuchten sollen. Erstens möchte ich fragen: Wie deutet Schopenhauer den Begriff des Tragischen, sofern er sich von der klassischen Tragödie herleitet, vom Standpunkt seiner Philosophie aus? Zweitens möchte ich der Frage 3

Schopenhauer, Werke, P II, S. 214.

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nachgehen, ob Schopenhauers Metaphysik eine intrinsische Nähe zum Tragischen hat, so dass man bei ihr von einer authentischen Philosophie des Tragischen sprechen kann. An keiner Stelle seines Werks theoretisiert Schopenhauer ausführlich über das Wesen des Tragischen, was umso erstaunlicher ist, als die Rezeption seines Werks noch im 19. Jahrhundert und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine intensive Beschäftigung mit dem Wesen und der Wirkung des Tragischen hervorgebracht hat.4 Vor dem Hintergrund von Schopenhauers Metaphysik mit ihrer Hochschätzung der Kunst ist jedoch ein besonderer Aufschluss über das Tragische aus Schopenhauers Interpretationen und Bewertungen der Tragödien zu erwarten. Dabei fällt auf, dass Schopenhauer eine strenge Unterscheidung von Tragödie und Trauerspiel, wie sie später der geschichtsbewusste Walter Benjamin vorgenommen hat, vermeidet. Das mag daran liegen, dass diejenigen Elemente des Dramas, die für Schopenhauer die wichtigsten sind, sowohl in der klassischen Tragödie als auch im bürgerlichen Trauerspiel zu finden sind. Beiden wesentlich ist die „Darstellung eines großen Unglücks“ und der „tragische Ausgang“;5 so lapidar lauten Schopenhauers eigene Formulierungen. Das Unglück leitet sich Schopenhauer zufolge auf drei mögliche Weisen her, nämlich aus der „Bosheit eines Charakters“ (er denkt hier primär an Shakespeares Dramen), aus dem „blinde[n] Schicksal, d.i. Zufall oder Irrthum“ und schließlich aus der „bloße[n] Stellung der Personen gegen einander“.6 Schopenhauer favorisiert letztere Konstellation, das heißt dasjenige Trauerspiel, in dem der Konflikt nicht aus monströsen Charakteren oder ungewöhnlichen Zufällen, sondern aus dem Aufeinandertreffen von, moralisch betrachtet, ganz gewöhnlichen Personen hervorgeht, die auf Grund ihrer Lage sich gezwungen sehen, sich „das größte Unheil zu bereiten, ohne daß dabei das Unrecht auf irgend einer Seite ganz allein sei.“7 Auf diese Weise erscheint das größte Unglück nicht als Ausnahme, sondern als etwas, das geradewegs aus dem Handeln und den Charakteren der Menschen hervorgeht und „eben dadurch furchtbar nahe an uns heran“ geführt wird.8 Schopenhauer schätzt also die unmittelbare Identifizierungsmöglichkeit der 4 5 6 7 8

Stellvertretend für weitere Autoren seien hier nur Hebbel, Bahnsen und Scheler genannt. Schopenhauer, Werke, W I, S. 300 f. Schopenhauer, Werke, W I, S. 300. Schopenhauer, Werke, W I, S. 300. Schopenhauer, Werke, W I, S. 301.

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Zuschauer mit dem vorgeführten Unglück, so dass sie sich „schaudernd […] schon mitten in der Hölle“ fühlen.9 Schon Aristoteles hat in seiner Poetik betont, dass der Zweck der Tragödie, nämlich Furcht und Mitleid zu erregen, nur dann erreicht werden kann, wenn die Personen des Dramas von den gewöhnlichen Menschen nicht zu weit entfernt sind, also nicht Götter oder Schurken sind, sondern den üblichen Zuschauern ähneln. Anders als Aristoteles sieht Schopenhauer den eigentlichen Zweck der Tragödie nicht im Erregen starker Gefühle und ihrer kathartischen Wirkung (dies spräche vorwiegend den Willen an), sondern in der durch die künstlerische Darstellung gewonnenen Erkenntnis, denn der „Zweck des Dramas überhaupt ist, uns an einem Beispiel zu zeigen, was das Wesen und Daseyn des Menschen sei.“10 Das Zeigen ist also nicht bloßes Sehenlassen. Es handelt sich um ein Erkennen, das nicht bei den Erscheinungen in ihrer Einzelheit stehen bleibt, sondern sie gewissermaßen transparent werden lässt auf ihren Grund hin, der letztlich im Willen liegt, hier aber sich in einer Mittelstellung ausdrückt, die Schopenhauer die „recht verstandene Platonische Idee“ nennt. Sie ist eine unmittelbare Objektität des Willens, die zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich vermittelt, indem sie die ewigen Formen der Gattungen anschaubar macht. Im Trauerspiel geht es also um die Erkenntnis nicht der menschlichen Individuen als solcher, sondern um das Wesen des Menschen oder um die Idee der Menschheit. Mit dieser Ausrichtung auf das Wesen ist eine gewisse Abwertung der künstlerischen Besonderheit der jeweiligen Tragödien verbunden, die Schopenhauer auch kaum einmal würdigt. Auch lassen sich Schopenhauers Ausführungen über die ästhetische Kontemplation nicht ohne weiteres mit der Rezeptionsgeschichte der Tragödie verbinden. Das „willenlose[s]“ und „schmerzlose[s] […] S u b j e k t “ , 11 von dem er spricht, ist keines, das Furcht und Mitleid für einen bestimmten Helden empfindet. Es ist ja selbst nicht mehr als leidendes oder mitleidendes Individuum agierend, sondern rein erkennend, von sich selbst als Leidendem getrennt. Schopenhauer interessiert sich offensichtlich vorrangig für diesen höchsten Punkt des ästhetischen Erlebnisses, weil er einen, wenn auch nur momentanen Durchbruch zur Erlösung vom Leiden des Individuums gestattet. Damit wird für Schopenhauer jede Tragödie nur in Hinsicht auf diese Überwindung des 9 Schopenhauer, Werke, W I, S. 301. 10 Schopenhauer, Werke, W II, S. 494. 11 Schopenhauer, Werke, W I, S. 210 f.

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Individuellen wichtig. Das Kunstvolle der Charaktergestaltung, der dramatis personae und ihrer Aktionen wird zum Mittel, die menschliche Tragik schlechthin zu erkennen und augenblicksweise ein Gefühl der Erhabenheit zu erzeugen. Schopenhauer nennt das Trauerspiel „die erhabenste Dichtungsart“, weil es „den tiefsten Sinn des Lebens aufschließt“.12 Im Nachlass heißt es: „Das Trauerspiel ist der Gipfel des Erhabenen.“13 Das Gefühl des Erhabenen ist hier jedoch kein Affekt, sondern eine Anzeige auf ein gefühltes Wissen. Eine Erkenntnis gebende Funktion spricht Schopenhauer bekanntlich allen Künsten zu, sofern sie Kunst des Genies sind, denn allein der geniale Künstler ist einer derartigen Steigerung seiner Erkenntniskraft fähig, dass sie sich auf gewisse Zeit dem Dienst am Willen entziehen kann und dass das Genie die Vorstellungen ohne Bezug auf anderes in reiner Anschauung auffassen und im späteren Zustand der Erinnerung die geschaute Idee darstellen kann. Wenn auch alle Künste, bis auf die Musik in ihrer Sonderstellung, auf Grund der Darstellung von Ideen Erkenntnis des Wesens der Dinge vermitteln und der Rezipient sich angesichts der Werke momentan ebenfalls in Selbstvergessenheit der reinen Kontemplation überlässt, so hält Schopenhauer an der bis dahin geläufigen Aufstellung einer Hierarchie der Künste fest, bei der die Dichtung traditionell an höchster Stelle firmiert und hier noch einmal das Trauerspiel zum „Gipfel der Dichtkunst“ erklärt wird. Schopenhauer begründet diese herausragende Stellung des Trauerspiels „in Hinsicht auf die Größe der Wirkung“ und „die Schwierigkeit der Leistung“.14 Die Größe der Wirkung war im obigen Zitat schon erwähnt worden; die Schwierigkeit der Leistung des Dichters hebt Schopenhauer noch einmal hervor, indem er den Zweck des Trauerspiels spezifiziert und die Indizien des Tragischen benennt. Er betont, daß der Zweck dieser höchsten poetischen Leistung die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens ist, daß der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorgeführt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns.15 12 13 14 15

Schopenhauer, Werke, W II, S. 730 f. Schopenhauer, HN I, S. 255. Schopenhauer, Werke, W I, S. 298. Schopenhauer, Werke, W I, S. 298.

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Schopenhauer bleibt auch hier nicht bei der Aufzählung tragischer Vorkommnisse stehen, sondern geht dem Geschehen auf den Grund. Er erklärt: „Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt.“16 Den wahren Grund des tragischen Konfliktpotentials in der Welt sieht Schopenhauer in der zugrundeliegenden Willensnatur angelegt. Da diese mit sich selbst im Widerstreit liegt, verschärft sich dieser Konflikt noch bei zunehmendem Bewusstsein, das heißt in der menschlichen Existenz. Während Schopenhauer in seinem Hauptwerk die Schwierigkeit der Darstellung der Gegenstnde des Furchtbaren herausstellt, geht er in seiner Vorlesung über die Metaphysik des Schçnen auf die besondere Schwierigkeit des dichterischen Verfahrens ein, sich gerade dort erkennend vom Willen loszureißen, wo die Sache des Menschen, sein Schicksal, verhandelt wird. Schopenhauer sagt dort: [F]ür den menschlichen Willen ist unter allen Objekten dasjenige welches ihn am leichtesten anregt, weil es die stärksten und meisten Beziehungen zu ihm hat, der Mensch; […] daher gehört der höchste Grad von Genie dazu den Menschen zum Gegenstand seiner willensreinen Auffassung zu machen, also die Idee des Menschen künstlerisch aufzufassen und darzustellen.17

Die Kunstform des Trauerspiels bringt Schopenhauer zufolge die reifste Lebensansicht zur unmittelbaren Anschauung. Die tragische Katastrophe erwirkt die Überzeugung, daß die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei: darin besteht der tragische Geist: er leitet demnach zur Resignation hin.18

An dieser Stelle findet Schopenhauer zu seiner eigenständigen Bestimmung des Tragischen, zu der wesentlich die Resignation gehört. Damit befindet sich die Tragödie oder das Trauerspiel auf dem Erkenntnisniveau der pessimistischen Metaphysik Schopenhauers, und dies nicht durch Argumentation, sondern durch unmittelbare Veranschaulichung menschlicher Schicksale, deren katastrophische Entwicklung den Zuschauer vom Willen zum Leben abzieht. Im Gefühl des Erhabenen erlebt er, dass durch die Abkehr vom Willen zum Leben „noch etwas Anderes 16 Schopenhauer, Werke, W I, S. 298. 17 Arthur Schopenhauer: Metaphysik des Schönen. Hg. v. Volker Spierling. München 1985, S. 73 f. 18 Schopenhauer, Werke, W II, S. 495.

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an uns übrig bleibt, was wir durchaus nicht positiv erkennen können, sondern bloß negativ, als Das, was nicht das Leben will.“19 Das Erleben des Trauerspiels kann wie jedes Kunstwerk „nur auf Augenblicke vom Leben“ erlösen,20 aber es bietet einen Vorgeschmack für das Quietiv des Willens, wie es Schopenhauer in seiner Ethik dem Asketen und dem Heiligen zutraut. Schopenhauers Interpretation des bürgerlichen Trauerspiels mutet an wie eine durch Dokumentation angereicherte Lehrstunde über den Kerngehalt seiner Philosophie. Ist das Trauerspiel ein deutender Spiegel des Lebens, der im reinen Anschauen zeitweilig verharren lässt, so ist die Philosophie die argumentierende Analyse des Lebens, die das Tragische nicht vorführt, sondern zu begreifen sucht. Der sich an Schopenhauers Interpretationen der Tragödien herausbildende Begriff des Tragischen betont dessen lebensverneinendes Moment und, damit verbunden, dessen Emotionsgehalt im Erhabenen. Das Gefühl des Erhabenen ist für Schopenhauer, ebenso wie das Gefühl des Mitleids, kein bloßes Sentiment, sondern ein hellsichtiges, erkennendes Fühlen. Erkennt das Mitleid Schopenhauers Ethik zufolge die Identität des menschlichen Individuums mit allem Leidenden, so erkennt das Gefühl des Erhabenen, dass der Mensch auch eine Gegenkraft gegen den Willen aktivieren kann. Schopenhauer gesteht ein, dass sein Verständnis vom tragischen Geist sich nicht völlig mit der Auffassung der „Alten“ deckt, denn in den antiken Tragödien werde der Geist der Resignation selten direkt hervorgekehrt oder ausgesprochen. Noch in Todesnähe gebe es für den Helden in der Regel tröstende Gedanken. Es „zeigen die tragischen Helden der Alten standhaftes Unterwerfen unter die unausweichbaren Schläge des Schicksals, das Christliche Trauerspiel dagegen Aufgeben des ganzen Willens zum Leben“.21 Schopenhauer befindet bei diesem Vergleich, dass das Trauerspiel der Neuern höher stehe als das der Alten. Gemeint ist das Erkenntnisniveau, das mit der Einsicht in den Unwert des Lebens steigen soll.

19 Schopenhauer, Werke, W II, S. 495. 20 Schopenhauer, Werke, W I, S. 316. 21 Schopenhauer, Werke, W II, S. 496.

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III. Nachdem Schopenhauers Begriff des Tragischen aus seinen Analysen des Trauerspiels zu ermitteln war, möchte ich im folgenden der Frage nachgehen, auf welche Weise Schopenhauers Metaphysik eine innere Verbindung zum Tragischen unterhält, die es gestatten kann, von einer Philosophie des Tragischen zu sprechen. Hierbei ist nicht zuletzt die zentrale Konzeption dieser Metaphysik, nämlich der Wille, auf diese Verbindung hin zu prüfen. Wie Schopenhauer den Ausdruck Wille verstanden wissen will, lässt sich terminologisch nicht streng und eindeutig festlegen. Zum einen gilt ihm der Wille als naturhaftes, rastloses Drängen und Treiben, als blinde Lebensgier; zum andern scheint der Wille aber auch, einer geistigen Bewegung und Entwicklung gemäß, in Stufen der Bewusstheit, also sehr wohl ausgerichtet, zu seiner Selbstfindung zu streben. Man ist an Leibniz’ Monadenkonzeption oder an Hegels Bewusstseinsstufen in der Phnomenologie des Geistes erinnert. Die Absicht von Schopenhauers Denken, ein streng Objektives, allem Zugrundeliegendes zu erschließen, das er als Wille bezeichnet und das der Welt als Ding an sich vorausgehen soll, verhindert zugleich dessen subjektiv zu erreichende Erkennbarkeit. Dieses Denken errichtet somit die Konzeption einer letztlich undurchschaubaren Macht, die als Verhängnis in den tragischen Verwicklungen der Menschen fungiert. In dieser Hinsicht zeigt sich der Wille als das zum Unglück führende Prinzip. Ein weiterer Bezug von Schopenhauers Metaphysik zum Tragischen ergibt sich aus der Herleitung einer tragischen Schuld. Schopenhauer stellt in den Parerga Überlegungen an, denen zufolge das Tragische beziehungsweise ein wichtiges Moment des Tragischen, nämlich die tragische Schuld, unmittelbar aus dem metaphysischen Pessimismus hervorgeht. Schopenhauer argumentiert in folgender Weise: Die Welt und das menschliche Dasein stellen sich mit ihrem vielfachen Elend so dar, dass sie besser nicht wären. Der Mensch, der gleichwohl in dieser Welt existiert, ist allein dadurch mit Schuld beladen, die er in seiner Lebensspanne abzuarbeiten hat und die den Tod als Konsequenz hat. Schopenhauer schließt seinen Gedanken mit den Worten ab: „Daß unser Daseyn selbst eine Schuld implicirt, beweist der Tod.“22 So führt der Pessimismus Schopenhauers unmittelbar zur Ansicht von der tragischen Bestimmung menschlichen Lebens schlechthin. Das schuldlose Verfallen in Schuld, ein typischer Ausgangspunkt der Tra22 Schopenhauer, Werke, P II, S. 334.

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gödie, bahnt den tragischen Verlauf des Lebens unweigerlich an. Die tragische Schuld ohne den moralisch Schuldigen kann nur metaphysisch begründet werden, aber Schopenhauers Metaphysik stützt sich hier wie auch an anderer Stelle letztlich auf die Empirie, nämlich die negativen Weltzustände, die er nicht länger wie die „Spaaßphilosophen“ beschönigen will, sondern die er einer Deutung zuführen möchte, die das sittliche Empfinden des Menschen nicht beleidigt. Dass es hierbei um eine Deutung und nicht um einen Beweis geht, zeigt sich an einer benachbarten Textstelle in den Parerga, wo Schopenhauer erklärt, dass der beklagenswerte Zustand der Welt und des unvollkommenen Menschen nicht als das Werk „eines allweisen, allgütigen und dabei allmächtigen Wesens“ angesehen werden könne.23 Schopenhauer erklärt: Hingegen werden eben jene Instanzen [gemeint sind die Diagnosen des Elends] zu unserer Rede stimmen und als Belege derselben dienen, wenn wir die Welt auffassen als das Werk unserer eigenen Schuld, mithin als etwas, das besser nicht wäre.24

Zu betonen ist die Wendung „wenn wir die Welt“ so „auffassen“, denn Schopenhauer ist sich des Deutungscharakters dieser Auffassung voll bewusst. Sie vermeidet jedoch die schreiende Diskrepanz zwischen dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos und den wirklichen Weltzuständen. Die alttestamentarische Geschichte vom Sündenfall dagegen kann Schopenhauer als eine metaphysische Wahrheit anerkennen, denn: „Nichts ist gewisser, als daß, allgemein ausgesprochen, die schwere S ü n d e d e r W e l t es ist, welche das viele und große L e i d e n d e r W e l t herbeiführt“.25 Der Ort der Tragödie ist bei Schopenhauer augenscheinlich auf die Menschenwelt im Ganzen erweitert. Der irrationale Wille zum Leben, zum Dasein bestimmt zwar die Welt insgesamt, aber nur im Bewusstsein der Menschen wird das Tragische der Situation erkennbar. Dies wiederum jedoch nicht bei allen Menschen. Im Fall der geringeren Reflektiertheit spricht Schopenhauer von einer „bloß gefühlten Metaphysik“,26 das heißt, es gibt eine Ahnung der tragischen Grundierung des Lebens, nicht aber ein Wissen des Tragischen, wie es vornehmlich den genialen Künstlern und den Philosophen vorbehalten ist. Aber auch deren tragisches Wissen mündet im Ungewissen, denn die Empfindung und Wirkung der Tragik in Schopenhauers Weltkonzeption 23 24 25 26

Schopenhauer, Werke, P II, S. 320. Schopenhauer, Werke, P II, S. 320. Schopenhauer, Werke, P II, S. 320. Schopenhauer, Werke, P II, S. 218.

Die Philosophie des Tragischen bei Schopenhauer

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ist daran gebunden, dass der Wille nicht als eine naturgesetzliche Kraft aufgefasst werden kann, die wissenschaftlich bestimmt werden könnte. Vielmehr geht es um eine metaphysische Konzeption zur Deutung der Leidensphänomene in der Welt, die bis zur eigentlichen, selber grundlosen, das heißt irrationalen Basis dieses Leidens vordringen will. Es fragt sich, ob Schopenhauers Metaphysik mit ihrem resignativen Grundton und den idealisierten Gestalten des Asketen und des Heiligen, denen zur Bewährung allein die Verneinung des Willens bleibt, überhaupt einen Bezug zur klassischen Konzeption des kämpfenden Helden behalten kann, wie er für den tragischen Konflikt typisch ist. Die überwiegend negativen Bewertungen der menschlichen Charaktere sind in Schopenhauers Werk so vorherrschend, dass man daran zweifeln kann. Gehört zum Tragischen der heroische Mensch, der Held, so hat Schopenhauer doch auch diesen Begriff in seinem Spätwerk zumindest für einige Menschen als angemessen erachtet. Er erklärt dort: Das Höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein h e r o i s c h e r L e b e n s l a u f . Einen solchen führt Der, welcher, in irgend einer Art und Angelegenheit, für das Allen irgendwie zu Gute Kommende, mit übergroßen Schwierigkeiten kämpft und am Ende siegt, dabei aber schlecht oder gar nicht belohnt wird.27

Es gibt also den Helden des Ethischen. Entscheidend ist hier offensichtlich das Moment der Selbstüberwindung. Der natürlicherweise vom Willen diktierte Egoismus wird beim „heroischen Lebenslauf“ zugunsten des Allgemeinwohls niedergekämpft, ohne dass auf eine Belohnung reflektiert werden könnte. Es gibt keine transzendente Instanz, die als Richter oder Heilsbringer eine solche austeilen könnte. Schopenhauer betont: „[D]ie Welt selbst ist das Weltgericht.“28 Die Menschen erleiden das, was ihnen der Wille, dessen Manifestation sie sind, bereitet. Sie richten sich folglich selbst. Bei der Darlegung seiner Willensmetaphysik vermeidet Schopenhauer den Begriff des Tragischen, aber es wird dennoch deutlich, dass die eigentliche Quelle des tragischen Konflikts im „Widerstreit des Willens mit sich selbst“ liegen soll.29 Die konkreten endlichen Kontrahenten tragen nur aus, was dieser Willenswiderstreit ihnen vorgibt. Die eigentlichen konfligierenden Mächte werden dadurch ungreifbar, anonym und gehen in der unbestimmten Instanz des Willens unter. Schopenhauer gibt damit dem Tragischen den größtmöglichen Raum zur Entfaltung, 27 Schopenhauer, Werke, P II, S. 342. 28 Schopenhauer, Werke, W I, S. 415. 29 Schopenhauer, Werke, W I, S. 298.

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nämlich die Welt schlechthin als Objektivation des Willens. Es kommt zur Totalisierung und Anonymisierung des Tragischen.30 Seine Unvermeidbarkeit und Ausweglosigkeit wird dadurch noch erhöht. Hat Schopenhauer mit diesem Verfahren den modernen weltanschaulichen Begriff des Tragischen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorweggenommen? Hierzu Ludwig Marcuses Überlegungen aus dem Jahr 1923: Er kennzeichnet die spezifisch moderne Auffassung des Tragischen als „Leid ohne Sinn“, ohne es, wie die Antike es vermochte, zu deuten und ohne es, wie die Klassik es sich zutraute, zu überwinden. Es bleibe „nur Verdichtung und Formulierung, als letzte, einzig noch mögliche Reaktion.“31 Bei Schopenhauer ist dieses Stadium noch nicht erreicht, denn es gibt den Versuch der Deutung des Tragischen und die Erlösung als äußerste Form der Bewältigung des Leidens durch Resignation. Schopenhauer nimmt mit seiner Auffassung des Tragischen eine Mittelstellung ein zwischen dem Rückbezug des Tragischen auf die Struktur der klassischen Tragödie auf der einen Seite und der terminologischen Ausweitung der Bedeutung des Tragischen im Pantragismus des 19. Jahrhunderts auf der anderen Seite. Schopenhauer hat diese Entwicklung hin zur tragischen Weltanschauung offensichtlich vorbereitet und in der Tat eine Philosophie des Tragischen vorgelegt.

30 Der junge Max Scheler spricht beim Phänomen des Tragischen in Kenntnis von Schopenhauers Werk von der „Unlokalisierbarkeit der ,Verschuldung‘“ (Max Scheler: Abhandlungen und Aufsätze. Leipzig 1915, Bd. 1, S. 303). 31 Ludwig Marcuse: Die Welt der Tragödie. Berlin 1923 (Nachdruck München 1977), S. 17 f. u. S. 20.

Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens? Nietzsche contra Schopenhauer Barbara Neymeyr I. Prolegomena zu einer philosophischen Kontroverse Man könnte meinen, die Philosophie des Tragischen habe per se eine besondere Affinität zum Pessimismus. Und dieser Eindruck scheint sich zunächst zu bestätigen, wenn Schopenhauer, der Philosoph des Pessimismus par excellence, in seiner Ästhetik eine symptomatische Vorliebe für die Tragödie zu erkennen gibt. Prononciert erklärt er in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung: „Als der Gipfel der Dichtkunst sowohl in Hinsicht auf die Größe der Wirkung als auf die Schwierigkeit der Leistung ist das Trauerspiel anzusehn“.1 Diesen singulären Status im Spektrum der literarischen Gattungen schreibt Schopenhauer dem Trauerspiel zu, weil es nach seiner Überzeugung den „Widerstreit des Willens mit sich selbst, […] auf der höchsten Stufe seiner Objektität am vollständigsten entfaltet“.2 „Am Leiden der Menschheit wird er sichtbar“, welches aus „Zufall und Irrtum“, Bosheit oder konkurrierenden „Willensbestrebungen der Individuen“ hervorgeht.3 1

2

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Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353 (Schopenhauer wird zitiert nach: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 5 Bände. Reprografischer Nachdruck d. 1. Aufl., Stuttgart/Frankfurt a.M. 1960 – 1965. Darmstadt 1968). – Zu Problemdimensionen in Schopenhauers Ästhetik vgl. die ausführlicheren Untersuchungen in: Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik (Quellen und Studien zur Philosophie Bd. 42). Berlin/New York 1996. Zur vorliegenden Thematik vgl. insbesondere ebd., § 13, § 21, § 22 (S. 234 f., S. 240 – 251 u. S. 387 – 424). Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353. Über die vielfältigen Objektivationen des Willens schreibt Schopenhauer: „Ein und derselbe Wille ist es, der in ihnen allen lebt und erscheint, dessen Erscheinungen aber sich selbst bekämpfen und sich selbst zerfleischen“ (Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353). Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353.

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Aber natürlich reicht Negativität über die Sphäre ästhetischer Fiktionalität weit hinaus. Die für die Tragödie typischen Konstellationen des Leidens sind bei Schopenhauer nicht bloß Gegenstand gattungspoetologischer Differenzierung, sondern verweisen darüber hinaus auf die conditio humana insgesamt. In auffälligem Maße entsprechen die Charakteristika des Trauerspiels den Prämissen seiner pessimistischen Willensmetaphysik. In den Parerga und Paralipomena von 1851 formuliert Schopenhauer die These, „jedes Menschenleben“ zeige, „im Ganzen überblickt, die Eigenschaften eines Trauerspiels“.4 Diese Auffassung bringt er in analoger Diktion bereits in der ersten Ausgabe seiner Welt als Wille und Vorstellung von 1819 zum Ausdruck: „Das Leben jedes einzelnen ist“ – so Schopenhauer – „eigentlich immer ein Trauerspiel“, denn „die nie erfüllten Wünsche, das vereitelte Streben, die vom Schicksal unbarmherzig zertretenen Hoffnungen, die unseligen Irrtümer des ganzen Lebens, mit dem steigenden Leiden und [dem] Tode am Schlusse, geben immer ein Trauerspiel.“5 So weit, so eindeutig: Erstens korrespondiert der Sonderstatus der Tragödie in der Ästhetik Schopenhauers mit den pessimistischen Prämissen seiner Willensmetaphysik. Seines Erachtens führt gerade das Trauerspiel dem Zuschauer die genuine „Beschaffenheit der Welt und des Daseins“ vor Augen6 und das heißt konkret: Seine wirkungsästhetische Funktion besteht darin, dem Zuschauer möglichst eindringlich die Erkenntnis zu vermitteln, das Leben sei „wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand“, dem „gänzliches Nichtsein […] entschieden vorzuziehn wäre.“7 Zweitens leitet Schopenhauer aus dem Gesamtduktus seiner Weltbetrachtung eine propädeutische Funktion ästhetisch vermittelter Erkenntnis ab, aus der sich eine Heteronomie der Ästhetik im Dienste der Ethik ergeben kann. Und gerade in dieser systematischen Übergangssphäre ist wiederum die Gattung Tragödie besonders relevant, weil sie nach Schopenhauers Überzeugung auf geradezu ideale Weise zwischen Ästhetik und Ethik zu vermitteln vermag. 4 5

6 7

Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 172a, S. 379. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 58, S. 442. „Ein glckliches Leben ist unmöglich: das höchste, was der Mensch erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf“ (Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 172a, S. 380). Dieses bekannte Diktum aus Schopenhauers Parerga und Paralipomena erscheint als Quintessenz seiner pessimistischen Willensmetaphysik. Nietzsche zitiert es in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher (vgl. Nietzsche, UB III SE 4, KSA 1, S. 373). Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 59, S. 443 u. S. 445.

Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens?

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Aufgrund der bisher dargestellten Zusammenhänge könnte man zunächst vermuten, dass Nietzsche Schopenhauers Ästhetik des Tragischen auch vor dem Hintergrund dieser pessimistischen Willensmetaphysik positiv bewertet. Denn 1874 konstatiert er in seiner dritten Unzeitgemssen Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher mit Nachdruck, „nach Kant“ sei „uns […] gerade Schopenhauer […] der Führer“, der „aus der Höhle des skeptischen Unmuths oder der kritisirenden Entsagung hinauf zur Höhe der tragischen Betrachtung leitet“.8 Und Nietzsche geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er dezidiert erklärt: „als der erste“ habe Schopenhauer „sich selbst […] diesen Weg geführt“.9 Doch die hier von Nietzsche suggerierte Übereinstimmung mit seinem Vorgänger kaschiert nur vordergründig die Differenz, die sich später bis zur unerbittlichen Konfrontation verschärft. Anders als in der Schrift Schopenhauer als Erzieher, die noch von einer durchweg affirmativen Einstellung zu seinem Lehrer geprägt ist und passagenweise sogar panegyrische Züge trägt, formuliert Nietzsche in späteren Werken konträre Positionen und inszeniert dabei geradezu die polemische Attacke. Schon sein Erstlingswerk Die Geburt der Tragçdie von 1872 weist implizit Ambivalenzen gegenüber Schopenhauer auf. Einerseits gibt Nietzsche passagenweise sowohl durch den argumentativen Duktus als auch durch bestimmte Formulierungen Affinitäten zur Philosophie Schopenhauers zu erkennen, andererseits jedoch beschreitet er durch die kulturhistorische und geschichtsphilosophische Ausrichtung in dieser Schrift zugleich bereits andere Wege. Im nachträglichen „Versuch einer Selbstkritik“, den er der Geburt der Tragçdie später voranstellt, wirft sich Nietzsche dann allerdings vor, seinen neuartigen Entwurf „mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln“ zum Ausdruck gebracht zu haben, „welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers […] von Grund aus entgegen giengen“;10 dadurch glaubt er sich „dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben“.11 Dass Nietzsche das Tragische mit dem Dionysischen korreliert, lässt sich dadurch erklären, dass er als Altphilologe mit der Herkunft der Tragödie aus dem DionysosKult vertraut war.12 Und wenn Nietzsche meint, er habe sich „das 8 9 10 11 12

Nietzsche, UB III SE 3, KSA 1, S. 356. Nietzsche, UB III SE 3, KSA 1, S. 356. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 19. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 20. Vgl. dazu auch die nachgelassenen Schriften Nietzsches aus den Basler Jahren 1870 bis 1873, die sich mit der griechischen Tragödie beschäftigen (Nietzsche, NL 1870 – 1873, KSA 1, S. 511 – 640).

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grandiose g r i e c h i s c h e P r o b l e m “ durch Kontamination mit „modernsten Dinge[n]“ verdeckt,13 dann spielt er offensichtlich auf seine frühen Ambitionen an, das Musikdrama Richard Wagners als moderne Revitalisierung der antiken Tragödie zu propagieren. Wie sehr Nietzsche später von der Position des Schülers in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher und von den Prämissen seiner Tragödienschrift abgerückt ist, zeigt eine Aussage in der Gçtzen-Dmmerung. Hier konstatiert er: Schopenhauer […] ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges: nämlich als bösartig genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen GesammtAbwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des ,Willens zum Leben‘, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu führen.14

Diese auf moralische Diffamierung des Antipoden zielende Aussage ist in Nietzsches Œuvre keineswegs singulär. So behauptet er im unmittelbaren Kontext der zitierten These: Schopenhauer […] hat, der Reihe nach, die K u n s t , den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der ,Verneinung‘ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des ,Willens‘ interpretirt – die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt.15

Und Nietzsche forciert seine Polemik sogar durch einen Totalitätsanspruch, wenn er in einem Nachlass-Fragment von 1888 behauptet, Schopenhauer habe „das Genie, die Kunst selbst, die Moral, die heidnische Religion, die Schönheit, die Erkenntniß, und ungefähr Alles willkürlich-gewaltsam mißverstanden“.16 An dieser Stelle drängt sich dem Leser die Frage auf, warum sich Nietzsche hier so nachdrücklich als Antipode Schopenhauers inszeniert. – Der Grund für diese Strategie liegt letztlich in Nietzsches dionysischem Vitalismus und in seinem Amor-fatiGedanken. Im Folgenden will ich den Antagonismus zwischen Nietzsche und Schopenhauer so analysieren, dass die divergierenden Konzepte des Tragischen mit ihrem jeweils spezifischen Profil hervortreten. Dabei sollen die Implikationen der konträren Deutungen des Tragischen evi13 14 15 16

Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 20. Nietzsche, GD Streifzüge 21, KSA 6, S. 125. Nietzsche, GD Streifzüge 21, KSA 6, S. 125. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 410.

Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens?

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dent werden, das laut Schopenhauer als „Quietiv alles Wollens“ fungiert, während Nietzsche es als „das große Stimulans des Lebens“ betrachtet.17 Bei der Vehemenz seiner Attacke auf Schopenhauer – so meine These – übersieht Nietzsche wichtige Differenzierungen und damit auch aufschlussreiche Affinitäten. Denn er fixiert Schopenhauers Theorie des Tragischen und darüber hinaus seine Ästhetik insgesamt auf eine einheitliche negativistische Grundtendenz, die der Heterogenität der Konzepte Schopenhauers aber gerade nicht entspricht. Der von Nietzsche zugespitzte Antagonismus basiert – zumindest partiell – auf einer Fehleinschätzung. Denn Nietzsche verkennt, dass wesentliche Themenkomplexe seiner eigenen Ästhetik, die bis in die Geburt der Tragçdie zurückreichen, bereits bei Schopenhauer präfiguriert sind. Bei der radikalen Abgrenzung von seinem einstigen Lehrer rekurriert Nietzsche auf Aspekte, die sich schon bei Schopenhauer finden und in seiner Philosophie eine systemimmanente Ambivalenz konstituieren. Dabei handelt es sich um die bereits in der Welt als Wille und Vorstellung diagnostizierbare ästhetische Dimension des Scheins, der Fiktion, der Täuschung. Sie ist mit dem von Schopenhauer postulierten Erkenntnispotential ästhetischer Kontemplation nicht problemlos kompatibel. Im Folgenden wende ich mich zunächst Nietzsche zu, der im Kontext der in Ecce homo formulierten selbstkritischen Retrospektive auf Die Geburt der Tragçdie selbstbewusst eine Sonderstellung für sich reklamiert. Nachdem sich Nietzsche in einer wirkungsästhetischen Reflexion nachdrücklich von der Poetik abgegrenzt hat,18 in der Aristoteles eine 17 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 48, S. 327 u. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 409. Vgl. dazu weitere Belege bei Schopenhauer (Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 48, S. 328 u. § 52, S. 372) und bei Nietzsche (Nietzsche, GD Streifzüge 24, KSA 6, S. 127; NL Herbst 1887, 9[102], KSA 12, S. 394; NL November 1887-März 1888, 11[415], KSA 13, S. 194 u. NL MaiJuni 1888, 17[3], KSA 13, S. 521). 18 Zu Nietzsches kritischer Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Poetik, die nicht Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes ist, vgl. die differenzierten Darlegungen von Enrico Müller: „Aesthetische Lust“ und „dionysische Weisheit“. Nietzsches Deutung der griechischen Tragödie. In: Nietzsche-Studien 31 (2002), S. 134 – 153. Müller bezeichnet die Geburt der Tragçdie sogar als „geradezu systematisch antiaristotelische Tragödientheorie“ (ebd., S. 137), weil Nietzsche die „multimediale Einheit des Gesamtkunstwerks Tragödie“ (ebd., S. 138) unter Einbeziehung von Musik, Tanz, Mimik und Gestik (vgl. ebd., S. 150) gegen eine Reduktion auf Handlung und Wort verteidigt (vgl. ebd., S. 138). – Zu Nietzsches Abgrenzung von der Aristotelischen Katharsis im Konzept des Rausches und zu seiner ästhetischen Transfiguration und „pathischen Intensivierung“ vgl.

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Katharsis der Zuschauer von „zwei d e p r i m i r e n d e n Affekten“,19 von „Schrecken und Mitleiden“ postuliert, spricht er sich mit unmissverständlicher Deutlichkeit „das Recht“ zu, sich „selber als den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n zu verstehn“.20 Anschließend erläutert er die Implikationen, die dieser avantgardistische Status für ihn hat: Er definiert sich selbst als „den äussersten Gegensatz und Antipoden eines pessimistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die t r a g i s c h e W e i s h e i t “.21 Dass sich Nietzsche durch die Abgrenzung vom „pessimistischen Philosophen“ zwar implizit, aber dennoch sehr entschieden von Schopenhauer distanziert, zeigen Parallelstellen, darunter eine Nachlassnotiz, in der er explizit behauptet, dass „Schopenhauer […] nicht begreifen w o l l t e “, „daß die Tragödie ein t o n i c u m ist“, „wenn er die Gesammt-Depression als tragischen Zustand ansetzt“.22 Mit dieser These attestiert er seinem Vorgänger nicht nur einen Irrtum, sondern darüber hinaus sogar eine Haltung absichtlicher Erkenntnisverweigerung. So konsequent Schopenhauer die Ästhetik des Tragischen in den systematischen Gesamtentwurf seiner pessimistischen Philosophie zu integrieren wusste, so entschieden löst Nietzsche diese Korrelation auf, ja mehr noch: In Ecce homo proklamiert er – wie bereits gezeigt – sogar explizit einen Antagonismus zwischen tragischer und pessimistischer Philosophie. Schon daraus erhellt, dass Nietzsche seine Theorie des Tragischen und darüber hinaus seine Psychologie der Kunst insgesamt in fundamentalem Sinne anders konzipiert als Schopenhauer. Das zeigen vor allem die divergenten wirkungsästhetischen Bestimmungen. Während die Kunst bei Schopenhauer als Quietiv fungieren soll, indem sie die Erkenntnis der radikalen Negativität der Existenz vermittelt und zur Verneinung des Willens zum Leben animiert, betrachtet Nietzsche sie als „das grosse Stimulans zum Leben“23 und schreibt ihr eine vitalisierende Wirkung zu.

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Iris Därmann: Rausch als „ästhetischer Zustand“: Nietzsches Deutung der Aristotelischen Katharsis und ihre Platonisch-Kantische Umdeutung durch Heidegger. In: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 124 – 162, hier S. 133 – 137. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 409. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 410. Nietzsche, GD Steifzüge 24, KSA 6, S. 127.

Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens?

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Im „Versuch einer Selbstkritik“, den Nietzsche seiner Geburt der Tragçdie vorangestellt hat, entwickelt er sein Konzept des Tragischen via negationis, also in expliziter Abgrenzung von Schopenhauer: Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie? ,Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt – sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II, 495 – ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit n i c h t w e r t h sei: darin besteht der tragische Geist –, er leitet demnach zur R e s i g n a t i o n hin‘. Oh wie anders redete Dionysos zu mir! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus!24

Markanter als in dieser Textpartie formuliert Nietzsche seine Überzeugung 1876 in seiner vierten Unzeitgemssen Betrachtung über Richard Wagner in Bayreuth, wenn er die „Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft und am Opfer derselben […] mit einer t r a g i s c h e n G e s i n n u n g “ korreliert.25

II. Die pessimistische Ästhetik der Tragödie Angesichts dieser Kontroverse stellt sich die Frage, in welcher Hinsicht Nietzsches Kritik an Schopenhauer unter den Prämissen seiner Philosophie berechtigt ist. – Lassen wir zunächst Schopenhauer selbst zu Wort kommen: In seiner Welt als Wille und Vorstellung von 1819 schreibt er über das Trauerspiel, „daß der Zweck dieser höchsten poetischen Leistung“ darin bestehe, „der schrecklichen Seite des Lebens“ Ausdruck zu verleihen. In der Tragödie werden dem Zuschauer „der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen“ vorgeführt.26 Dass Schopenhauer mit der im Trauerspiel dargestellten „schrecklichen Seite des Lebens“ keineswegs bloß eine Komponente menschlicher Existenz meint, zu der etwa die Komödie als komplementäre Gattung einen Ausgleich schaffen könnte, zeigt seine Aussage, das Lustspiel müsse „sich beeilen, im Zeitpunkt der Freude den Vorhang fallen zu lassen, 24 Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 19 f. Die von Nietzsche zitierte Schopenhauer-Passage findet sich in: Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 557. 25 Nietzsche, UB IV RW 4, KSA 1, S. 452 f. 26 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353.

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damit wir nicht sehn, was nachkommt; während das Trauerspiel in der Regel so schließt, daß nichts nachkommen kann.“27 Demzufolge wäre die Annahme verfehlt, Schopenhauer betrachte die Komödie als gleichberechtigte Alternative zur Tragödie, so dass sich erst aus einer Synthese der divergenten Perspektiven ein adäquates Bild von der Totalität der Wirklichkeit ergäbe. Während das Lustspiel „kurzweilig[e]“28 Illusionen inszeniert, bloße Maskierungen der kruden Realität, die durch kunstvolle Oberflächenpolitur die Abgründigkeit willensbedingten Leidens lediglich kaschieren, verwirklicht die Tragödie in Schopenhauers Dramentheorie die ästhetischen Konsequenzen seiner Willensmetaphysik. Denn das Trauerspiel führt seines Erachtens die genuine „Beschaffenheit der Welt und des Daseins“ vor.29 Den Primat des Trauerspiels vor dem Lustspiel markiert Schopenhauer auch dadurch, dass er eine Metaebene der Reflexion mit wirkungsästhetischen Perspektiven verbindet. Nach seiner Auffassung kann gerade die Darstellung der burlesken Züge des Lebens einem nachdenklichen Zuschauer die Einsicht vermitteln, solche Wesen wie die von den Protagonisten des Lustspiels repräsentierten seien „nur auf einem Irrwege zum Dasein“ gelangt und besser gar nicht vorhanden.30 Letztlich konvergieren also die nur scheinbar widersprüchlichen Perspektiven auf die Welt, die durch Tragödie und Komödie vermittelt werden: Was sich für den kritischen Beobachter einer Lustspiel-Inszenierung, der die Oberfläche bloßen Scheins zu durchdringen vermag, als nachträgliche Erkenntnis eher indirekt ergibt, präsentiert das Trauerspiel bereits durch das Bühnengeschehen selbst – direkt und mit maximaler Anschaulichkeit. Insofern entsprechen letztlich beide Dramentypen Schopenhauers Grundüberzeugung von der Negativität der Existenz. 27 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562. 28 Im Unterschied zum Trauerspiel besagt das Lustspiel laut Schopenhauer „im Resultat, daß das Leben im ganzen recht gut und besonders durchweg kurzweilig sei“ (Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562). 29 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353. 30 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562. Das Lustspiel zeigt jedwede Negativität laut Schopenhauer nur als Übergangsphänomen und präsentiert sie schließlich als „sich in Freude auflösend, überhaupt mit Gelingen, Siegen und Hoffen gemischt“ (Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562). Diese Tendenz ist nicht kompatibel mit seiner Überzeugung, das Leben sei „wesentlich ein vielgestaltetes Leiden und ein durchweg unseliger Zustand“, dem „gänzliches Nichtsein […] entschieden vorzuziehn wäre“ (Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 59, S. 443 u. S. 445).

Das Tragische – Quietiv oder Stimulans des Lebens?

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Im Rahmen seiner dramenästhetischen Überlegungen differenziert Schopenhauer zwischen drei Möglichkeiten, im Trauerspiel die finale Katastrophe zu inszenieren: durch spezifische Voraussetzungen, die sich aus charakterlicher Disposition, kontingenten Faktoren oder aus der Figurenkonstellation ergeben. Als Ursachen „großen Unglücks“ kommen für ihn in Betracht: erstens „außerordentliche […] Bosheit eines Charakters“, zweitens „blindes Schicksal, d.i. Zufall oder Irrtum“31 und drittens die bloße Konstellation der Figuren, also Interessenkollisionen und konkurrierende Handlungsabsichten. Diese Ursache der tragischen Katastrophe präferiert Schopenhauer ausdrücklich. Denn sie führt dem Zuschauer „das größte Unglück“ nicht als ein außergewöhnliches Ereignis vor, dem er „selbst wohl entgehn“ zu können glaubt, sondern als ein Geschehen, das sich aus charakterlichen Gegebenheiten oder aus Handlungsstrategien „leicht und von selbst“, fast notwendigerweise ergibt.32 Unter dieser Voraussetzung gelangt der Zuschauer zu der Einsicht, dass Unglücksfälle und Katastrophen in ähnlich destruktiver Ausprägung allen Menschen jederzeit widerfahren können, so dass er die tragische Konstellation als eine auch ihm selbst stets drohende Gefahr betrachten muss.33 31 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 355. 32 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 355 f. 33 Im Hinblick auf die wirkungsästhetische Komponente von Schopenhauers Tragödientheorie ist eine Affinität zu Schiller festzustellen, auf dessen Dramen Schopenhauer wiederholt Bezug nimmt: Die Ruber (Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 355), Don Carlos (W II, Kap. 37, S. 561), Die Jungfrau von Orleans (W I, § 51, S. 354) und Die Braut von Messina (W I, § 51, S. 354 f. u. W II, Kap. 37, S. 559). In der bereits 1792, also 27 Jahre vor Schopenhauers Hauptwerk veröffentlichten Schrift ber die tragische Kunst vertritt Schiller die Überzeugung, dass es „der höchsten Vollkommenheit“ schade, „wenn der tragische Dichter […] gezwungen ist, die Größe des Leidens von der Größe der Bosheit herzuleiten“ (Friedrich Schiller: Über die tragische Kunst. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u. a. Frankfurt a.M. 1988 – 2004, Bd. 8, S. 251 – 275, hier S. 259). – Entschieden gibt Schiller dem Tragödiendichter den Vorzug, dessen dramaturgisches Kalkül darauf zielt, „das Unglück nicht durch einen bösen Willen, der Unglück beabsichtet [sic!], noch viel weniger durch einen Mangel des Verstandes, sondern durch den Zwang der Umstände herbei[zu]führen“ (ebd.). Schon Schiller betont die fundamentale Bedeutung des Leidens. Seine Schrift ber das Pathetische (1793) beginnt mit der These: „Darstellung des Leidens – als bloßen Leidens – ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig“ (Friedrich Schiller: Über das Pathetische. In: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 423 – 451, hier S. 423). In seiner Schrift ber die tragische Kunst definiert Schiller die

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Indem Schopenhauer die dem Trauerspiel inhärente Aussageintention auf diese Weise zuspitzt, vermittelt er die Tragödientheorie konsequent mit seiner pessimistischen Willensmetaphysik, nach der „jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte“ ist,34 ein unaufhörlicher Existenzkampf, in dem die Menschen ihrem ziel- und rastlosen, aus „Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz“ resultierenden „Wollen und Streben“ gänzlich ausgeliefert sind.35 Außerdem argumentiert Schopenhauer wirkungsästhetisch, wenn er für eine Konzeption der Tragödie plädiert, die den Leser oder Zuschauer in größtmöglicher Intensität mit der Negativität der conditio humana konfrontiert. In seiner Theorie des Trauerspiels zieht er ästhetische Konsequenzen aus seiner pessimistischen Philosophie und verleiht ihr dadurch besondere Evidenz. Obwohl die Tragödie den „Widerstreit“ der Willensbestrebungen von Individuen präsentiert und dem Zuschauer dadurch die Negativität des Lebens vorführt, kann sie – wie Schopenhauer meint (und das verkennt Nietzsche!) – „ein hoher Genuß“ für den Zuschauer sein.36 Indem Schopenhauer die fundamentale Ambivalenz in der Einstellung des ästhetischen Subjekts zum Tragischen akzentuiert, knüpft er an Kants Theorie des Erhabenen an. Während Kant in seiner Kritik der Urtheilskraft Tragödie in markanter Affinität zur Aristotelischen Poetik als „dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden Reihe von Begebenheiten […] welche uns Menschen in einem Zustand des Leidens zeigt, und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen“ (Schiller: Über die tragische Kunst. In: Werke und Briefe, Bd. 8, S. 269). – Zu Schiller und Schopenhauer vgl. Barbara Neymeyr: Ethische Aspekte einer Ästhetik des Tragisch-Erhabenen. Zur Dramentheorie Schillers und Schopenhauers. In: Lore Hühn (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling) (Studien zur Phänomenologie und praktischen Philosophie, Bd. 1). Würzburg 2006, S. 265 – 280. – In mehrfacher Hinsicht zeichnen sich Analogien zwischen Schiller und Schopenhauer ab: Beide exponieren den Willen als zentrale Instanz (wenngleich mit unterschiedlichen Implikationen), beide erblicken in der naturalen Wirklichkeit und im historischen Prozess ein konfliktträchtiges Chaos, und beide stellen die Relation von Leiden und Mitleid ins Zentrum ihrer Überlegungen. Im Unterschied zu Schillers dualistischem Konzept von Sinnlichkeit und Vernunft, von Natur und Freiheit, das den Prämissen von Kants Transzendentalphilosophie folgt, propagiert Schopenhauer allerdings einen monistischen Voluntarismus. Er leitet aus der Universalität des Leidens im Rahmen seiner pessimistischen Willensmetaphysik Konsequenzen ab, die sich von Schillers Konzept fundamental unterscheiden. 34 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 59, S. 444. 35 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 57, S. 427 – 429. 36 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 558.

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von 1790 das Naturerhabene in den Vordergrund rückt37 und der Differenzierung zwischen Dynamisch-Erhabenem und Mathematisch-Erhabenem besondere Aufmerksamkeit widmet,38 reflektiert Schopenhauer das Erhabene in Natur und Kunst, indem er – wie vor ihm bereits Schiller – die bei Kant noch fehlende Theorie der Tragödie als des Kunsterhabenen par excellence ausarbeitet. Schopenhauer analogisiert „die Wirkung des Trauerspiels“ mit der „des dynamisch Erhabenen“, weil es „uns über den Willen und sein Interesse“ auf ähnliche Weise hinaushebt, so „daß wir am Anblick des ihm geradezu Widerstrebenden Gefallen finden.“39 Dass Schopenhauer hier die innere Ambivalenz des ästhetischen Subjekts betont, die „Duplizität seines Bewußtseins“40 angesichts des Erhabenen in Natur und Kunst, ist konsequent. Dezidiert bezeichnet er das „Gefallen am Trauerspiel“ sogar als den „höchste[n] Grad“ des Gefühls des Erhabenen.41 Diese ästhetische Klassifikation begründet Schopenhauer folgendermaßen: „wie wir beim Anblick des Erhabenen in der Natur uns vom Interesse des Willens abwenden, um uns rein anschauend zu verhalten; so wenden wir bei der tragischen Katastrophe uns vom Willen zum Leben selbst ab.“42 Hier tritt bereits der eigentliche Zweck der Tragödie hervor, der über die bloße Erkenntnis und Darstellung der Negativität des Lebens hinausweist. Nachdem die Kunst als Ideenausdruck alle Stufen der Objektität des Willens von den niedrigsten bis zur höchsten durchlaufen hat, endet sie laut Schopenhauer „mit der Darstellung seiner freien Selbstaufhebung durch das eine große Quietiv, welches ihm aufgeht aus der vollkommensten Erkenntnis seines eigenen Wesens“; darin sieht er den „Gipfel aller Kunst“.43 Inwiefern die in ästhetischer Ideenschau fundierte Selbsterkenntnis des Willens den Weg zu seiner Selbstaufhebung ebnet, zeigt der Kontext dieser These in der Welt als Wille und Vorstellung. Die über ästhetische Kontemplation oder philosophische Reflexion vermittelte Erkenntnis 37 Vgl. Kant, KU, A 375 f. / B 379 f. 38 Der „Analytik des Erhabenen“ widmet Kant den Komplex § 23 bis § 29 in der Kritik der Urtheilskraft: vgl. Kant, KU, A 73 – 129 / B 74 – 131. Zur Differenzierung zwischen Mathematisch-Erhabenem und Dynamisch-Erhabenem vgl. Kant, KU, A 78 – 112 / B 79 – 113. 39 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556. 40 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 39, S. 291. 41 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556. 42 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556. 43 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 48, S. 327 f.

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wirkt auf den Willen zurück, wird zum „Quietiv alles Wollens“ und lässt dann jene „vollkommene Resignation“ entstehen, die laut Schopenhauer das Christentum wie die indische Weisheit prägt: „das Aufgeben alles Wollens, die Zurückwendung, Aufhebung des Willens und mit ihm des ganzen Wesens dieser Welt, also die Erlösung“.44 Diesem Konzept zufolge besteht die Funktion der Kunst in einer Art von Selbstüberschreitung: Die ästhetische Produktivität des Künstlers bietet die adäquate Form, in der sich ethische Inhalte darstellen lassen. Die spezifische Korrelation zwischen Ästhetik und Ethik in Schopenhauers Philosophie legt die Frage nahe, ob seine Kunstphilosophie unter diesen Prämissen überhaupt noch Autonomie beanspruchen kann, oder ob sie im Horizont einer primär ethischen Orientierung einen letztlich heteronomen Status erhält. Eine Schlüsselrolle kommt gerade in diesem Problemzusammenhang Schopenhauers Thesen zum Trauerspiel zu, das seines Erachtens – ähnlich wie die christliche Malerei – „am vollkommensten das Wesen des Willens [zu] offenbaren“ vermag.45 Die Tragödie zeigt den Willen „in seiner Brechung“,46 die christliche Malerei durch eine entsprechende Aura ihrer Figuren47 „sogar in seiner Wendung oder Selbstaufhebung“; beiden ist als Objekt „die Idee des vom vollen Erkennen beleuchteten Willens“ gemeinsam.48 Im Unterschied zu sämtlichen anderen Künsten weist Schopenhauer dem Trauerspiel sein genuines Terrain ganz im Grenz- und Übergangsbereich zwischen Ästhetik und Ethik zu. Zum „Gipfel der Dichtkunst“ avanciert die Tragödie seines Erachtens dadurch, dass sie durch „Darstellung eines großen Unglücks“ den „Widerstreit des Willens mit sich selbst“ am „Leiden der Menschheit“ exemplarisch veranschaulicht.49 Der Zuschauer, dem die conditio humana auf diese Weise mit existentieller Intensität bewusst wird, fühlt sich dadurch zur Abwendung des Willens vom Leben aufgefordert.50

44 45 46 47

Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 48, S. 327. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 42, S. 301. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 42, S. 301. Schopenhauer exemplifiziert diese Konstellation durch die „höchsten und bewunderungswürdigsten Leistungen der Malerkunst“: Gemälde dieser Art stellen Figuren dar, die von „der vollkommensten Erkenntnis“ des ganzen Wesens von Leben und Welt erfüllt sind (Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 48, S. 327). 48 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 42, S. 302. 49 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353 u. S. 355. 50 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 52, S. 357 u. W II, Kap. 37, S. 556 f.

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Mit prägnanten Thesen exponiert Schopenhauer den Sonderstatus der Tragödie als Vermittlungsinstanz zwischen Ästhetik und Ethik. Dass sich die Zuschauer „bei der tragischen Katastrophe […] vom Willen zum Leben selbst“ abwenden, entspricht Schopenhauers Postulat: „der tragische Geist“ leitet „zur Resignation hin.“51 Genau aus dieser Textpartie der Welt als Wille und Vorstellung zitiert Nietzsche in seinem selbstkritischen Vorwort zur Geburt der Tragçdie ausführlich, um sich dann vehement von diesem Ansatz zu distanzieren.52 Wenn die „letzte Absicht des Trauerspiels“ laut Schopenhauer im „Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben“ bestehen soll,53 dann ist die instrumentelle Funktion dieser Gattung deutlich markiert. Und ihre Heteronomie wird vollends evident, wenn er in seinen Parerga und Paralipomena schreibt: Steigert nun gar die Erkenntnis sich zu dem Punkte, wo ihr die Nichtigkeit alles Wollens und Strebens aufgeht und infolge davon der Wille sich selbst aufhebt; dann erst wird das Drama eigentlich tragisch, mithin wahrhaft erhaben und erreicht seinen höchsten Zweck.54

Eine Selbsttranszendierung des Dramas ist demnach für seinen tragischerhabenen Charakter konstitutiv. Denn in der Hinwendung zum Telos ethischer Resignation sieht Schopenhauer die eigentliche Intention dieser poetischen Gattung. Durch ihre teleologische Orientierung fungiert die Tragödie in singulärer Weise als Medium einer ästhetischethischen Vermittlung. Darin liegt die spezifische Doppelnatur des Trauerspiels. Um die Relation zwischen Ästhetik und Ethik bei Schopenhauer zu bestimmen, ist es wesentlich, die Frage zu beantworten, ob die Tragödie im Kontext der Künste eine Ausnahmeposition erhält oder ob sie sein Kunstkonzept auf paradigmatische Weise repräsentiert. – Als aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang ein Vergleich von Trauerspiel und Musik in Schopenhauers Ästhetik. Anders als für die 51 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556 f. Implizit und affirmativ nimmt Nietzsche auf diese These Schopenhauers in seiner dritten Unzeitgemssen Betrachtung über Schopenhauer als Erzieher Bezug (vgl. Nietzsche, UB III SE 3, KSA 1, S. 357). 52 Vgl. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 19 f. 53 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562. Nach Schopenhauer besteht in der „Aufforderung zur Abwendung des Willens vom Leben“ sogar „der letzte Zweck der absichtlichen Darstellung der Leiden der Menschheit“ (Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 559). 54 Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 336, S. 703.

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Tragödie scheint für die Musik ein affirmatives Verhältnis zur Wirklichkeit charakteristisch zu sein: „Ebendadurch schmeichelt die Musik sich so in unser Herz, daß sie ihm stets die vollkommene Befriedigung seiner Wünsche vorspiegelt.“55 Durch die illusionäre Vorstellung perfekter Erfüllung erhält die Musik zugleich einen utopischen Charakter. Der Aufforderung zur Resignation als dem Telos des Trauerspiels steht das Glücksversprechen der Musik diametral gegenüber. – Kann die Gattung des Trauerspiels unter dieser Prämisse paradigmatisch für die Kunst überhaupt in Schopenhauers Ästhetik sein? Für einen Sonderstatus der Tragödie spricht, dass Schopenhauer diese Gattung mehrfach mit superlativischen Prädikaten beschreibt: Das „Gefallen am Trauerspiel“ ist seines Erachtens „der höchste Grad“ des Gefühls des Erhabenen.56 Das Drama generell hält er für „die objektiveste und […] vollkommenste, auch schwierigste Gattung der Poesie“.57 „Auf der höchsten und schwierigsten Stufe“ des Dramas „wird das Tragische beabsichtigt“: Die Einsicht in „die Nichtigkeit alles menschlichen Strebens“ regt zur ,,Abwendung des Willens vom Leben“ an.58 Wenn das Drama laut Schopenhauer erst als tragisches „seinen höchsten Zweck“ erreicht,59 dann stellt sich die Frage, wie das spezifische Potential der Musik60 zu bewerten ist, die er zur schönsten und mächtigsten Kunst erklärt und sogar auf einer höheren ontologischen Ebene als alle anderen Künste platziert?61 – Das durch Vorspiegelung vollkommener Wunschbefriedigung62 vor allem mit der Musik verbundene Moment des Scheins erhält in Schopenhauers Ästhetik trotz des in ihr formulierten Erkenntnisanspruchs besondere Bedeutung. Trauerspiel und Musik, diese diametral entgegengesetzten Kunstgattungen, konstituieren in Schopenhauers Ästhetik einen Konflikt inkompatibler Ansätze: eine Ambivalenz von Wahrheit und Illusion. Zur Enthüllung des leidvollen Wesens der Existenz bildet die Verschleierung der Realität mithilfe euphorisierender Glücksversprechen einen mar55 56 57 58 59 60

Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 39, S. 584. Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 348. Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 227, S. 518. Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 336, S. 703. Zum Status der Musikästhetik im Kontext von Schopenhauers Philosophie vgl. § 18 meiner Schopenhauer-Monographie (Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität, S. 335 – 349). 61 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 52, S. 357 u. S. 359. 62 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 39, S. 584.

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kanten Kontrast.63 Während im Trauerspiel der Erkenntnisanspruch dominiert und die ästhetische Wesensschau zur Desillusionierung führt, zur Einsicht in die ganze Negativität der Wirklichkeit, sieht Schopenhauer mit der Musik die Illusion vollkommener Wunscherfüllung verbunden. Aber auch außerhalb der Musikmetaphysik finden sich in Schopenhauers Ästhetik Begriffe, die – trotz der von ihm postulierten Ideenerkenntnis – für die Relevanz ästhetischen Scheins sprechen: ,Seligkeit‘, ,Zauber‘, ,verschönerndes Licht‘, ,Selbsttäuschung‘ und ,Illusion‘ sieht Schopenhauer mit dem „reinen willenlosen Erkennen“ verbunden,64 in dem sich der Mensch vorübergehend von allen voluntativen Verstrickungen befreit. Unter der Prämisse des Schopenhauerschen Pessimismus verschärft sich die Dualität von Wesenserkenntnis und Eudämonie in seiner Ästhetik zum Konflikt divergenter Perspektiven. So entstehen systemimmanente Spannungen zwischen illusionären Harmonie-Vorstellungen und einer Desillusionierung, die dem Erwachen aus trügerischen Träumen gleicht.65 Bezeichnet Schopenhauer das ästhetische Subjekt metaphorisch als „klares Weltauge“,66 so scheint dessen Blick zumindest 63 Walter Schulz vertritt die These, Kunst beruhe bei Schopenhauer „auf dem Vergessen der wahren Struktur der Welt“ (Walter Schulz: Die problematische Stellung der Kunst in Schopenhauers Philosophie. In: Jürgen Brummack u. a. (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (FS Richard Brinkmann). Tübingen 1981, S. 403 – 415, hier S. 413). Allerdings hebt er auch die „Erkenntnis der Weltstruktur“ hervor, die zur „Resignation“ Anlass gebe (ebd., S. 410). Zwar hält Schulz Schopenhauers Argumentation im Hinblick auf „die formale Sicht der Schönheit als Harmonie“ einerseits und die Negativität des Inhalts philosophischer Welterkenntnis andererseits für „nicht eindeutig“ (ebd.). Als zentral betrachtet er dennoch Schopenhauers „Leitidee der Resignation“, von der aus dieser „den Bereich der Kunst anvisiert und in bestimmter Hinsicht ,wertend einengt‘“ (ebd., S. 413). – Die harmonisierende These von Schulz, dass Schopenhauers Bemühungen um eine Vermittlung zwischen den beiden Ansätzen dessen „eminentes Geschick“ zur Überbrückung möglicher Differenzen zeigen (ebd., S. 410), halte ich nicht für plausibel. Mir erscheinen stattdessen gerade die Brüche besonders auffällig. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Ideenschau mit Illusionen? Zu heterogenen Konzeptionen in Schopenhauers Ästhetik. In: Philosophisches Jahrbuch 106 (1999), S. 64 – 84. 64 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 38, S. 282 f. u. W II, Kap. 30, S. 483. 65 Vgl. Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556: „Im Augenblick der tragischen Katastrophe wird uns deutlicher als jemals die Überzeugung, daß das Leben ein schwerer Traum sei, aus dem wir zu erwachen haben.“ 66 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 36, S. 266. Vgl. auch W I, § 38, S. 282 u. W II, Kap. 30, S. 479.

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partiell durch Schleier ästhetischen Scheins verhängt zu sein und daher die Schrecklichkeit der Selbstentzweiung des Willens zu verkennen. Die desillusionierte Weltsicht, die das Trauerspiel vermittelt, ist jedenfalls weit entfernt vom „wundersamen Zauber“ und „ästhetischen Wohlgefallen“ oder gar von einem Zustand der „Seligkeit“,67 den Schopenhauer als charakteristisch für die willenlose Kontemplation betrachtet. So ergibt sich eine Alternative zwischen entlastender Stillstellung des Willensdranges im Erleben ästhetischen Scheins und dem Anspruch auf realistische Erkenntnis. Letzterer dominiert, wenn Schopenhauer den Ursprung der Kunst in der „Erkenntnis der Ideen“ erblickt, „ihr einziges Ziel“ in deren Mitteilung sieht und die Offenbarung des menschlichen Wesens für „das höchste Ziel der Kunst“ hält.68 Nur unter der Voraussetzung, dass man den Erkenntnisanspruch der Kunst auf Kosten der imaginativen Glücksverheißung verabsolutiert, erscheint das Trauerspiel tatsächlich als paradigmatisch für das Verhältnis zwischen ästhetischer Kontemplation und ethischer Resignation bei Schopenhauer. In diesem Zusammenhang ist der letzte Abschnitt im dritten Buch der Welt als Wille und Vorstellung I aufschlussreich: Die durch ästhetische Kontemplation in ihrem Wesen erkannte Welt als „Spiegel des Willens“ begleitet diesen nicht nur „zu seiner Selbsterkenntnis“, sondern auch „zur Möglichkeit seiner Erlösung“.69 So kann sie zum „Quietiv des Willens“ werden.70 Die Wesenserkenntnis erlöst den Künstler „nicht auf immer, sondern nur auf Augenblicke vom Leben und ist ihm so noch nicht der Weg aus demselben, sondern nur einstweilen ein Trost in demselben; bis seine dadurch gesteigerte Kraft endlich des Spieles müde den Ernst ergreift.“71 Hier wird das über die ästhetische Sphäre hinausweisende Telos des Trauerspiels, die Selbstaufhebung des Willens, tatsächlich der Kunst generell zugewiesen. Sie vermag einen Weg zur Transzendierung ihrer selbst zu eröffnen – im Sinne dessen, was Schopenhauer als den „höchsten Zweck“ und die „letzte Absicht des Trauerspiels“ bezeichnet.72 Die Hinwendung zur Resignation erhält unter dem Einfluss antiker Ataraxie67 68 69 70 71 72

Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 38, S. 283 u. W II, Kap. 30, S. 483. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 36, S. 265 u. W I, § 41, S. 298. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 52, S. 371. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 52, S. 372. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 52, S. 372. Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 336, S. 703 u. Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562.

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Konzepte und indischer Nirwana-Vorstellungen bei Schopenhauer allerdings einen positiveren Charakter, als Nietzsche annimmt. Laut Schopenhauer mündet die „schmerzliche Selbstüberwindung“ letztlich in „das summum bonum“, das mehr bedeutet als „alle erfüllten Wünsche und alles erlangte Glück“.73 Aufgrund wahrer Gelassenheit und freiwilliger Entsagung gerät der dauerhaft beschwichtigte Wille in einen Zustand „unanfechtbarer Ruhe, Seligkeit und Erhabenheit“.74 Als Folgen der Selbstaufhebung des Willens werden „[w]ahres Heil, Erlösung“, tiefer Friede, unerschütterliche Ruhe und Heiterkeit, ja „gänzliche Meeresstille des Gemüts“ zum primären Ziel von Schopenhauers Philosophie.75 Diese Umwertung der Resignation in eine positive Erfahrung übersieht Nietzsche bei seiner Polemik gegen Schopenhauer.

III. Vom pessimistischen Fatalismus zum dionysischen Vitalismus des Tragischen Die Synthese von Amor fati und dionysischem Vitalismus, die Nietzsches Gegenentwurf zu Schopenhauers Philosophie des Tragischen bestimmt, kommt prägnant in der Gçtzen-Dmmerung zum Ausdruck: „Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, – er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h …“76 Mit diesem Konzept grenzt sich Nietzsche von Schopenhauers Postulat der Resignation und „Verneinung des Willens zum Leben“ ab, das er auf einen „ d é c a d e n c e - I n s t i n k t “ zurückführt.77 Seinen eigenen „Begriff des t r a g i s c h e n Gefühls“ leitet Nietzsche aus der „Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls“ ab, „innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt“.78 Nach Nietzsches Überzeugung haben Aristoteles und Schopenhauer diesen Vitalimpuls grundlegend „missverstanden“; ihnen hält er mit rhetorischer Emphase die These entgegen: Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im O p f e r seiner höchsten Typen der 73 74 75 76 77 78

Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 62, S. 457 u. W I, § 65, S. 494. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 533. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 540 u. W I, § 71, S. 558. Nietzsche, GD Vernunft 6, KSA 6, S. 79. Nietzsche, GD Moral 5,KSA 6, S. 86. Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160.

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eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – d a s nannte ich dionysisch, d a s errieth ich als die Brücke zur Psychologie des t r a g i s c h e n Dichters.79

Animiert durch die „ewige Lust des Werdens“, die sogar eine „Lust am Vernichten“ einschließt, apostrophiert sich Nietzsche explizit als „Jünger des Philosophen [!] Dionysos“ und als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“.80 Wie wichtig ihm diese Standortbestimmung ist, erhellt daraus, dass er mit dieser Selbstdefinition seine Gçtzen-Dmmerung abschließt und in Ecce homo auf diese Stelle mit wörtlichen Zitaten ausdrücklich Bezug nimmt.81 Durch den Amor fati-Gedanken, den er mit dem „tragisch-dionysische[n] Zustand“82 verbindet, schlägt Nietzsche selbst die Brücke zur Geburt der Tragçdie zurück. Allerdings ist dieses Werk nachhaltiger, als ihm bewusst zu sein scheint, durch Schopenhauers Philosophie geprägt – trotz fundamentaler Differenzen.83 Nietzsches spekulativer kulturhistorischer Entwurf, nach dem „die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist“,84 lässt trotz gravierender Unterschiede im Grundansatz noch deutliche Affinitäten zu Schopenhauer erkennen: So definiert Nietzsche den ,Willen‘ „im Schopenhauerischen Sinne […] als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung“, in der „das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.“85 Und Schopenhauers Vorstellung des klaren Weltauges86 scheint er mit Goethes lyrischer Aussage zu amalgamieren, das „Auge“ sei „sonnenhaft“,87 wenn er die These vertritt, 79 80 81 82 83

84 85 86 87

Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 522. Zu den komplexen Konstellationen im Verhältnis zwischen ästhetischen Konzepten Kants, Schopenhauers, Nietzsches und Heideggers (über die Dimension des Tragischen hinaus) vgl. Barbara Neymeyr: Ästhetische Subjektivität als interesseloser Spiegel? Zu Heideggers und Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer und Kant. In: Philosophisches Jahrbuch 102 (1995), S. 225 – 248. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25. Nietzsche, GT 6, KSA 1, S. 50 u. GT 1, KSA 1, S. 29. Vgl. dazu Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 36, S. 266; W I, § 38, S. 282 u. W II, Kap. 30, S. 479. Im Kontext des Apollinischen heißt es explizit: Apolls „Auge muss ,sonnenhaft‘, gemäss seinem Ursprunge, sein“ (Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28). Goethe schreibt in einem der weltanschaulichen Gedichte seines Alterswerks: „Wär nicht das Auge sonnenhaft,/Die Sonne könnt’ es nie erblicken;/Läg’ nicht in uns des Gottes eigne Kraft,/Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?“ (Johann Wolfgang

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dass der Genius „völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist“ und in „schmerzlosem […] Anschauen“ aufgeht.88 Nicht nur die Definition des Willens als „das innere Wesen“ und die Bestimmung der Individuation als „Urgrund alles Leidens“ übernimmt Nietzsche von Schopenhauer;89 er adaptiert sogar seine aus der indischen Philosophie stammende Metaphorik, wenn er das „Zerbrechen des principii individuationis“ mit der Imagination verbindet, dass „der Schleier der Maja zerrissen“ sei.90 Auch Schopenhauers Vorstellung von der „gänzliche[n] Meeresstille des Gemüts“,91 die antiken AtaraxieKonzepten92 folgt und sie mit dem indischen Nirwana-Ideal verschmilzt, scheint Nietzsche zu paraphrasieren: So spricht er in der Geburt der Tragçdie von der „stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung“ und beschreibt diese als ein „beglückte[s] Verharren in willenlosem Anschauen“.93 Wenn Nietzsche in seiner Tragödienschrift „ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben“ kann und die Vorstellung der Welt als Spiegel des Willens betrachtet,94 dann sind die Analogien zu Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung ebenfalls evident.95 Später bezieht Nietzsche genau die Gegenposition, indem er Schopenhauers Postulat

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von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. München 151993 ff., Bd. 1, S. 367). Diese Verse zitiert Goethe später auch in seiner Schrift Zur Farbenlehre. Vgl. Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe. München 111978 ff., Bd. 13, S. 324. Nietzsche, GT 6, KSA 1, S. 51 u. GT 4, KSA 1, S. 39. Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 111 f. u. GT 10, KSA 1, S. 72. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28 f. Nietzsche rekurriert im weiteren Kontext dieser Stelle explizit auf Schopenhauer, auch mit einem längeren Zitat aus Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 63, S. 482. Die Metapher ,Schleier der Maja‘ hat Schopenhauer aus der indischen Philosophie entlehnt; er bezeichnet mit ihr das principium individuationis, das Täuschende der Erscheinungssphäre. Belege finden sich z. B. in Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353; § 54, S. 392; § 63, S. 481; § 65, S. 498; § 66, S. 504 u. S. 507 f. u. § 69, S. 542. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 71, S. 558. Vgl. dazu Barbara Neymeyr: Ataraxie und Rigorismus. Schopenhauers ambivalentes Verhältnis zur stoischen Philosophie. In: dies. u. a. (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Berlin/New York 2008, Bd. 2, S. 1141 – 1164. Nietzsche, GT 6, KSA 1, S. 51 u. GT 22, KSA 1, S. 140. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 43; vgl. GT 3, KSA 1, S. 36 u. GT 4, KSA 1, S. 38. Vgl. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 29, S. 241; § 52, S. 371 u. § 55, S. 396 f.

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der ästhetischen Interesselosigkeit seine These entgegenhält, in aestheticis sei eine „rücksichtslos interessirte Z u r e c h t m a c h u n g der Dinge“ am Werke, die der Selbstbehauptung des Menschen diene und jedweden objektiven Erkenntnisanspruch gerade ausschließe.96 Trotz der Affinitäten zu Schopenhauer zielt Nietzsches Intention in der Geburt der Tragçdie letztlich in eine fundamental andere Richtung: Er versucht den Ursprung der griechischen Tragödie aus einer Synthese der beiden Kunstprinzipien des Apollinischen und Dionysischen herzuleiten. Dabei will er zugleich eine kulturhistorische Entwicklung rekonstruieren, in der ein vom Erkenntnisoptimismus durchdrungenes Streben nach wissenschaftlicher Objektivität, der Sokratismus als Décadence-Phänomen, die tragische Weltbetrachtung der Antike ablöste. In seiner Tragödienschrift kontrastiert Nietzsche die apollinische „Kunst des Bildners“ mit „der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus“; diesen Gegensatz korreliert er mit der Polarität von Traum und Rausch: „jeder Künstler“ ist „apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler“.97 Je stärker sich dann in Nietzsches Denken die vitalistische Grundtendenz durchsetzt, desto mehr gewinnt der Rausch an Bedeutung: So wird er später in der Gçtzen-Dmmerung den Rausch als physiologische conditio sine qua non von Kunst generell bezeichnen und in diesem Sinne auch den von ihm selbst „in die Aesthetik eingeführte[n] Gegensatz-Begriff a p o l l i n i s c h und d i o n y s i s c h “ insofern umdeklarieren, als er nun „beide“ Kunstprinzipien „als Arten des Rausches“ begreift.98 Den visionären Rausch der Maler, Plastiker und Epiker unterscheidet Nietzsche vom Affekt-Rausch der Ausdruckskünstler, mithin der Schauspieler, Tänzer und Musiker.99 Konstituenten der Schopenhauerschen Willensmetaphysik bilden den Hintergrund für den in der Geburt der Tragçdie von Nietzsche entworfenen ästhetischen Dualismus: Wie Schopenhauer differenziert auch Nietzsche zwischen dem Willen als dem schöpferischen Urgrund alles Seienden und der durch das principium individuationis bedingten Vielheit der Einzelwesen. Während sich der schöne Schein im Falle des apollinischen Kunstprinzips laut Nietzsche mit „maassvolle[r] Begrenzung“ und „weisheitsvolle[r] Ruhe“ verbindet,100 ist für das Dionysische die 96 97 98 99 100

Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[99], KSA 12, S. 226. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25 u. GT 2, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GD Streifzüge 8, KSA 6, S. 116 f. Vgl. Nietzsche, GD Streifzüge 10, KSA 6, S. 117 f. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28.

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Aufhebung aller für Individualität konstitutiven Grenzen charakteristisch. So führt rauschhafte Selbstentäußerung in ein euphorisches Einheitsgefühl. In dieser ästhetischen Konstellation werden außer Analogien auch Differenzen zu Schopenhauer deutlich: Zwar lässt die kontemplative Ruhe des Apollinischen und die Transzendierung des principium individuationis im Falle des Dionysischen auf den ersten Blick durchaus an Schopenhauers Konzept ästhetischer Einstellung denken, aber bei genauerer Betrachtung ergibt sich zweierlei: Erstens sprengt der dionysische Rausch Schopenhauers Konzept willenloser Kontemplation, und zweitens widerspricht das Moment des Scheins, das Nietzsche in der Tragödienschrift dem Apollinischen zuordnet und später zur Zentralkategorie des Ästhetischen erhebt, Schopenhauers Postulat einer ästhetischen Ideenschau, das durch die platonische Philosophie inspiriert ist.101 Vollends evident wird die Differenz zur Philosophie Schopenhauers, wenn Nietzsche die beiden Kunstprinzipien des Apollinischen und Dionysischen aufeinander bezieht, indem er behauptet, „dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht“.102 Zwar begreift Nietzsche wie Schopenhauer die Sphäre des Ästhetischen als Medium einer Erlösung vom Leiden, wenn er das apollinische Bewusstsein mit einem Schleier vergleicht, der die dionysische Welt als den leidend-widerspruchsvollen Urgrund verdeckt.103 Aber mit seinem Konzept einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt grenzt er sich in der Geburt der Tragçdie entschieden von Schopenhauers pessimistischer Ethik der Resignation ab. Indem der „verführerische Schönheitsschleier der Kunst“ den leidensvollen Urgrund der Existenz verhüllt, soll er – vermittels der Illusion – „das Dasein überhaupt lebenswerth“ erscheinen lassen.104 Während Schopenhauer „ein Hinwenden zur Resignation, zur Verneinung des Willens zum Leben“ als „letzte Absicht des Trauerspiels“ bezeichnet,105 betrachtet Nietzsche den „metaphysischen Trost“, das Leben sei trotz allem „unzerstörbar mächtig und lustvoll“, als Wirkung 101 Zur Problematik von Schopenhauers ästhetischem Platonismus vgl. meine Schopenhauer-Monographie Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität, S. 252 – 263. 102 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 38. 103 Vgl. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 34. 104 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115 u. GT 25, KSA 1, S. 155. 105 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 562.

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jeder wahren Tragödie.106 Schopenhauers Telos der Resignation erscheint ihm keineswegs erstrebenswert, sondern – ganz im Gegenteil – sogar als Bedrohung. Ihr sucht er zu begegnen, indem er die Kunst als Therapeutikum deklariert: Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt […].107

Dieses Konzept einer Affirmation der Existenz, mit dem sich Nietzsche kritisch gegen Schopenhauer wendet, formuliert er erstmals in der Geburt der Tragçdie. Darüber hinaus lässt sich dieser Ansatz in späteren Werken Nietzsches belegen, – auch wenn er „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens“108 nach seiner Abwendung von der Artisten-Metaphysik nicht mehr überzeugt ist.109 In der Frçhlichen Wissenschaft propagiert Nietzsche den ästhetischen Schein als vitalisierendes Prinzip: Hätten wir nicht die „übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst“ als „den g u t e n Willen zum Scheine“, so liefen wir Gefahr, unsere „ F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n “ zu verlieren; nur die Künste als „Cultus des Unwahren“ machen uns nach Nietzsches Überzeugung das Dasein erträglich110 – als Antidot gegen eine „Pessimisten-Optik“, welche die Tragödie zum „Symptom des Verfalls“ degradiert.111 Nietzsche sieht vom „tragische[n] Künstler“ stattdessen einen „ s i e g r e i c h e [ n ] Zustand“ verherrlicht: „Vor der Tragödie feiert das 106 107 108 109

Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 24. Zur Entwicklung von Nietzsches ästhetischen Konzeptionen vgl. die instruktive Darstellung von Volker Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst. In: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 374 – 393. Gerhardt reflektiert die Implikationen von Nietzsches Konzept einer „aesthetische[n] Rechtfertigung des Daseins“ (Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1883, 7[7], KSA 10, S. 238), das „den Primat der praktischen Vernunft durch den Primat einer ästhetischen Einstellung“ überbietet (Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst, S. 375), und führt das philosophische Profil des Analytikers, der „die Vivisektion der Willen zur Macht“ intendiert, auf die Verabschiedung der früheren metaphysischen Positionen zurück (ebd., S. 387 – 388). 110 Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464 f. 111 Nietzsche, GD Streifzüge 24, KSA 6, S. 127 u. Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 15[10], KSA 13, S. 410.

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Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; […] der h e r o i s c h e Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein“112 – so jedenfalls formuliert es Nietzsche in der Gçtzen-Dmmerung. Aus der Prämisse, dass in einer widersprüchlichen, sinnentleerten und grausamen Welt die Lüge lebensnotwendig sei, zieht Nietzsche eine radikale Konsequenz: Er postuliert ein „K ü n s t l e r - V e r m ö g e n par excellence“, kraft dessen der Mensch „die R e a l i t ä t d u r c h d i e L ü g e v e r g e w a l t i g t “.113 Das antagonistische Verhältnis zu Schopenhauer erfährt in dieser Funktionalisierung der Ästhetik zur Feier des Lebens seine größte Zuspitzung. Und in der heroischen Selbstapotheose des Menschen, die Nietzsche mit der Tragödie verbindet, manifestiert sich zugleich der Wille zur Macht als Kunst.

112 Nietzsche, GD Streifzüge 24, KSA 6, S. 128. 113 Nietzsche, NL November 1887-März 1888, 11[415], KSA 13, S. 193.

Von der Philosophie als Vollenderin der Kunst. Schopenhauer und das Tragische Markus Scheffler „Ach ja, sagte Reger, wenn wir sie auch verfluchen und wenn sie uns auch manchmal als völlig überflüssig erscheint und wenn wir sagen müssen, sie ist ja auch nichts wert, die Kunst, wenn wir wie hier, diese Bilder dieser sogenannten Alten Meister betrachten, die uns sehr oft und naturgemäß mit den Jahren immer gründlicher als nutz- und zwecklos erscheinen, auch als nichts anderes als hilflose Versuche, sich an der Erdoberfläche kunstvoll zu etablieren, so rettet Unsereinen doch nichts anderes als eben diese verfluchte und verdammte und oft bis zum Erbrechen widerwärtige und fatale Kunst, so Reger.“ Thomas Bernhard, Alte Meister

Arthur Schopenhauers Ästhetik ist in dem Gedanken fundiert, der einzige Zweck der Kunst sei die Erkenntnis des Willens. Die Tragödie ist laut Schopenhauer die bedeutsamste Dichtung, weil sie die Objektivation des Willens in ihrem Prozess der Selbstzerstörung, der Selbsterkenntnis und – der Selbstverneinung offenlegt. Die Idee der tragischen Dichtung ist demzufolge – anders als in Aristoteles’ Poetik – nicht die Versöhnung, sondern die Überwindung des Daseins. In der Dialektik von Selbsterkenntnis des tragischen Helden und Verneinung verbirgt sich indes im Kern eine doppelte Enttäuschung: Es ist der tragische Held, der ob des unausweichlichen Scheiterns im Streben nach Befriedigung und Glück und ob des stets misslingenden und hybriden Anspruchs auf Selbstheit und Selbständigkeit das Leben verneint. Für den Rezipienten hingegen hält die Tragödie allenfalls ein vergängliches Moment der ästhetischen Ent-

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rückung, aber keine Erlösung bereit. Über das ästhetische Gefallen hinaus hat die Kunst laut Schopenhauer für den Rezipienten keinen bleibenden Wert, denn die Selbsterkenntnis ist zwar konstitutive Voraussetzung für die Verneinung – sie betrifft indes den tragischen Helden und nicht den Rezipienten. Die Schopenhauersche Ästhetik trägt so eine eigentümliche Spannung aus, die in den hohen Erwartungen begründet liegt, die aus der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen folgen und an die Kunst gerichtet sind, aber stets enttäuscht werden: Die Kunst soll laut Schopenhauer einerseits Erkenntnis stiften, hat aber andererseits über den bloßen Verweis auf das unausweichliche Leiden hinaus keine Bedeutung. Die folgenden Überlegungen gelten dem Gedanken, dass Schopenhauer die Kunst zu einem herausgehobenen Bürgen seiner Metaphysik aufwertet und mit der Tragisierung der Kunst einer sehr modernen Theorie der Kunst Vorschub leistet. Von besonderem Wert ist nämlich für den Danziger jene Kunst, welche die schreckliche Seite des Lebens darstellt: das Scheitern, das Untergehen, Verzweifeln und Enttäuschtwerden. Kunst und insbesondere die Tragödie soll, einfach gesagt, Leiden darstellen und dennoch Lust bereiten; sie soll den Menschen unnachgiebig an seine Bestimmung erinnern, sich selbst zu überwinden. Insofern die Kunst aber nur noch eine vorübergehende Aufhebung des vitalen Lebens leistet, verliert sie bei Schopenhauer auch jeden Anspruch auf Autonomie: Das Ästhetische ist zwar eine einzigartige und privilegierte Seinsweise, aber die Kunst unterscheidet sich nicht mehr scharf von der schmutzigen und deprimierenden Alltäglichkeit. Sie soll stets Negativität als fundamentale Seinserfahrung und Erfahrung der Sinnwidrigkeit, ja Sinnlosigkeit des Weltgeschehens in den Blick nehmen. Kunst bringt gleichsam die Dinge auf den Punkt – für sich selbst hat sie keine Relevanz mehr. Über die Erkenntnisfunktion hinaus ist die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen das Malum und Desideratum der Schopenhauerschen Metaphysik. Die Erlösung von der Herrschaft des Willens ist deshalb der Maßstab, an dem die Kunst und die ästhetische Anschauung zu messen sind. Sofern die Kunst aber nicht zur Erlösung beiträgt, ist sie schmückendes Beiwerk, bietet bloß momentane Unterhaltung oder Linderung von Zeitdruck und Getriebenheit. Scheitert die Kunst indes an dem Anspruch, den Menschen zu erlösen, liefert sie gleichwohl das Modell für Schopenhauers Ethik und seine Erlösungslehre. Schopenhauer legt demnach die Tragödie als Präformation seiner Ethik aus: Der tragische Handlungsverlauf ist das Grundmodell der Willensverneinung, die er nicht mehr in der Philosophie der

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Kunst, sondern im Binnenraum seiner Ethik diskutiert. Diese Uminterpretation der aristotelischen Tragödientheorie möchte ich im Folgenden näher beleuchten. Dabei werde ich zunächst deutlich machen, wie Schopenhauer die rhetorischen Figuren Anagnorisis und Peripetie, die er der aristotelischen Poetik entlehnt, in seinem Tragödienmodell aufgreift. Schließlich untersuche ich, wie die aristotelische Katharsis in seiner Interpretation der Tragödie Eingang findet und dann zum Paradigma seiner Ethik avanciert. Schopenhauer rekurriert in seinen ethischen Überlegungen dabei nicht nur auf die aristotelische Poetik, sondern reinterpretiert auch die antike Melancholie-Diagnose und weist dabei der Philosophie eine herausragende Rolle als Vademekum zu.

1. Die Tragödie als Medium der Selbsterkenntnis Als „Gipfel der Dichtkunst“1 gilt Schopenhauer die Tragödie. Sie ist Darstellung der Idee des Menschen, des Willens auf der höchsten Stufe der Objektivation. Menschliches Dasein, dessen Substanz und Nichtigkeit sind ihr Gegenstand. Die Künste im allgemeinen reflektieren zwar die platonische Idee; der Vorzug der Tragödie gegenüber anderen Kunstformen ist jedoch ihr Vermögen, über die Darstellung der höchsten Idee die Sinnlosigkeit und Nichtigkeit allen Daseins offenzulegen: Es ist für das Ganze unserer gesamten Betrachtung sehr bedeutsam und wohl zu beachten, daß der Zweck dieser höchsten poetischen Leistung die Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens ist, daß der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorgeführt werden: denn hierin liegt ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseins.2

Schopenhauer geht es nicht um die Totalität der Welt, wenn er sagt, die Tragödie gebe einen „Wink“. Die Tragödie spiegelt nur eine Seite des menschlichen Lebens, die schreckliche, negative Dimension des Daseins: Der „exemplarische Wert der Tragödie [liegt] in der Tiefe, in der hier das menschliche Selbstsein ausgelotet wird, der Eindringlichkeit, mit welcher 1

2

Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353 (Schopenhauer wird zitiert nach: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. 5 Bände. Reprografischer Nachdruck d. 1. Aufl., Stuttgart/Frankfurt a.M. 1960 – 1965. Darmstadt 1968). Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353.

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dessen innerer Zwiespalt, seine Größe und sein Elend beschrieben werden, mit der letztlich die Stellung des Menschen im Seienden erfaßt wird.“3 Leid und Schmerz des tragischen Helden künden von der Beschaffenheit des Daseins überhaupt. Die Tragödie legt das notwendige Scheitern des Menschen offen, welches seinen Grund in der inneren Defizienz seines Seins und Wollens hat. Über die Tragödie erfährt der Mensch sich in der Aporie seines Daseins, d. h. im unausweichlichen Scheitern seines Bemühens, ein gelingendes Leben zu führen, und seines radikalen Anspruchs auf Selbstheit und Selbständigkeit. Schopenhauer betrachtet die Tragödie als ausgezeichneten Ort der Manifestation des Menschen in seinem misslingenden Streben nach Befriedigung und Glück. Die hybride Betonung der Unterschiedenheit vom Anderen und die Selbstsucht sind jene Momente, welche notwendig dem Subjekt zukommen und das Scheitern des tragischen Subjekts provozieren. Individualität und Egoismus sind unhintergehbare Bedingungen des Daseins und werden als solche über die Tragödie erfahrbar. Das tragische Geschehen verläuft dabei in zwei Schritten: Das tragische Subjekt ist nach Schopenhauer Paradigma des Menschen, der in seinem Streben nach Glück bedingungslos scheitert. Die Tragödie legt insofern die Negativität des Daseins, die Unentrinnbarkeit und Unvermeidlichkeit von Leid, das keinen individuellen Ursprung hat, offen. Dies ist der „diagnostische Gehalt“4 der Tragödie, dem ein anderes Moment, der soteriologische Gehalt, korrespondiert: Die Grunderfahrung der Negativität ist konstitutive Voraussetzung für die Umkehr, denn auf ihrem Gipfel schlägt die Erkenntnis der alles Dasein umfassenden Negativität in dessen Verneinung um: Der tragische Held verneint, durch das Leiden geläutert, sein Dasein. Durch das unerträgliche Leiden zu der Erkenntnis seiner selbst und des ihn tragenden Grundes gelangt, will er das Leben nicht mehr: In diesem Individuo tritt er [der in allen Erscheinungen gleiche Wille] gewaltig, in jenem schwächer hervor, hier mehr, dort minder zur Besinnung gebracht und gemildert durch das Licht der Erkenntnis, bis endlich in einzelnen diese Erkenntnis, geläutert und gesteigert durch das Leiden selbst, den Punkt erreicht, wo die Erscheinung, der Schleier der Maja, sie nicht mehr täuscht, die Form der Erscheinung, das principium individuationis, von ihr durchschaut wird, der auf diesem beruhende Egoismus ebendamit erstirbt, 3 4

Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt a.M. 1996, S. 370. Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996, S. 21.

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wodurch nunmehr die vorhin so gewaltigen Motive ihre Macht verlieren und statt ihrer die vollkommene Erkenntnis des Wesens der Welt, als Quietiv des Willens wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst.5

Die Tragödie rührt demnach an die Quelle des Egoismus und des Leids: Das principium individuationis wird als Schuld und als Ursprung der Individuation sichtbar. Durchschaut der tragische Held den Schleier der Maja, 6 dann erkennt er den Willen als den alles tragenden Grund. In einem Sprung kehrt sich nun der Wille gegen sich selbst, der tragische Held verneint den Willen und stirbt „durch Leiden geläutert, d. h. nachdem der Wille zu leben zuvor […] erstorben ist“.7 Die Erkenntnis von der Nichtigkeit des Daseins wirkt auf den Willen, der sich nunmehr gegen sich selbst, gegen sein eigenes Wollen wendet. Der tragische Held lässt so von sich selbst als Wollendem. Die Resignation, die erlösende Verneinung des Willens zum Leben, ist demnach der Brennpunkt der Tragödie: Die ästhetische Anschauung ist bloß kurzzeitige Erlösung vom Willen – die Resignation des tragischen Helden verweist jedoch auf die Möglichkeit einer dauerhaften Erlösung. Die Tragödie ist dann mehr als nur Abbild der Wirklichkeit. Sie deutet auf Erlösung hin, die nur durch Willensverneinung möglich ist. Die Tragödie erfüllt daher zwei Funktionen: Sie spiegelt zurückschauend den Menschen in seinem Elend und entwickelt daraus die Perspektive der Erlösung. Das wesentliche Anliegen der Tragödie ist, die Willensverneinung als Möglichkeit des Daseins aufzuweisen. Die Tragödie schlägt damit gleichsam aus der Art: Hat die Kunst laut Schopenhauers Ästhetik die Funktion, den Menschen zu entlasten und das Leben – zumindest im Kunstgenuss und auf einen Augenblick – halbwegs erträglich zu machen, geht die tragische Dichtung einen Schritt weiter. Der Tragödie geht es nach Schopenhauer nicht um Genuss, sie hat vielmehr propädeutischen Charakter und weist mit der Verneinung des Helden eine praktische Dimension auf. Streng genommen sprengt die Tragödie damit Schopenhauers Ästhetik: Auch wenn der Danziger sich bemüht, die Verneinung des Helden als einen Akt der auf den Willen

5 6 7

Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 353 f. Der Schleier der Maja ist Schopenhauers oft gebrauchte Metapher für die Täuschungen des principium individuationis. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 51, S. 354.

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einwirkenden Erkenntnis auszuweisen8 – die Rückkoppelung misslingt, weil die Erkenntnis sich per definitionem nicht gegen den Willen richten kann.9

2. Schopenhauers Rezeption der aristotelischen Poetik10 Schopenhauer deutet die Tragödie als literarische Gattung, welche die Negativität, das Leiden als durchgängige Beschaffenheit des Daseins zu Bewusstsein bringt. Er beansprucht die aristotelische Mimesis daher, deutlicher noch als Aristoteles, als Nachahmung des Leidens und des notwendigen Scheiterns: Die Mimesis ist nicht bloß als Nachahmung eines handelnden Menschen definiert, sondern als Offenbarung dessen, worauf sich im Wesentlichen, so Schopenhauer, menschliches Dasein immer schon beschränkt. Dafür ist es jedoch unerheblich, ob die Mimesis episch-erzählend oder dramatisch geschieht. Schopenhauer spricht zwar vom Trauerspiel als der größten poetischen Leistung, doch beruft er sich nicht auf die Tragödie als literarische Gattung, sondern auf die Tragödie als literarische Form, deren Sujet der schicksalhafte und verhängnisvolle Niedergang des Menschen ist, der resigniert und gebrochen das Leben aufgibt. Überdies interpretiert Schopenhauer den Mythos, darin folgt er Aristoteles, als Wiedergabe einer unabwendbaren und fatalen Handlung. Aristoteles und Schopenhauer deuten daher auch das Unglück des tra8 Vgl. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 70, S. 549, wo Schopenhauer von der „Selbstaufhebung [sic!] des Willens“ spricht, die indes von „der Erkenntnis ausgeht“. Schopenhauer laviert damit um die Frage herum, ob der Wille sich selbst oder die Erkenntnis den Willen aufhebt. 9 Schopenhauer selbst ahnt, dass die Tragödie – ähnlich wie die Musik – keinen Raum in seiner Hierarchie der Künste beanspruchen darf und weist deshalb die tragische Dichtung der Sphäre des Erhabenen zu: „Unser Gefallen am Trauerspiel gehört nicht dem Gefühl des Schönen, sondern dem des Erhabenen an; ja es ist der höchste Grad dieses Gefühls“ (Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 37, S. 556). Gleichwohl löst Schopenhauer damit den Widerspruch nicht auf: Das Erhabene findet wegen seines die Kontemplation zumindest behindernden Charakters ebenfalls keinen Platz in der Lehre vom Schönen. 10 Die folgenden Ausführungen rekurrieren auf meine ausführlichere Untersuchung der Schopenhauerschen Ästhetik und deren Wurzeln. Vgl. Markus Scheffler: Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Artur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa. Heidelberg 2008. Dort findet sich auch eine Vielzahl an relevanter Literatur zu den aristotelischen Topoi und eine genauere Analyse, wie Schopenhauer auf dessen Figuren zurückgreift und sie in seiner Ästhetik und vor allem in seiner Ethik amalgamiert.

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gischen Helden nicht als Reflexion eines subjektiven Konflikts, einer Ausnahme oder eines individuellen Schicksals, sondern als Freilegung der absoluten Zwiespältigkeit des menschlichen Handelns und des Elends im Dasein als Ganzem: Das Scheitern offenbart nicht die Vergeblichkeit des bestimmten Handelns, sondern des Handelns überhaupt, weil es grundsätzlich zur Katastrophe führt. Mit dieser Perspektive erklärt Aristoteles das Pathos – Schopenhauer schließt sich ihm darin an – als Handeln aus der Verstrickung. Der tragische Held entdeckt seine Nichtigkeit und Geworfenheit an der Ausweglosigkeit, der sein Tun und Handeln ausgesetzt ist. Sein Handeln steht unter dem Zwang, bloß zu vollziehen, was immer schon geschehen muss. Mit jedem Akt vollzieht er sein Schicksal und folgt seiner Bestimmung, schuldig werden zu müssen. Aristoteles postuliert für den Mythos, er müsse den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit genügen. Schopenhauer legt den Schwerpunkt auf die Ananke, die Notwendigkeit, die bei ihm die Bedeutung einer tragischen Verstrickung annimmt: Der Held vermag nicht, seinem Schicksal, dem unausbleiblichen Leiden zu entkommen. Die tragische Notwendigkeit ist bei Schopenhauer weniger eine modalitätstheoretische Überlegung als vielmehr die Grenze, an welcher der Mensch seine Nichtigkeit und die Unumgänglichkeit des Scheiterns erfährt. Aristoteles versteht das Pathos als Handeln und Erleiden: Weil der Mensch handelt, leidet er unter der fortwährenden Erfahrung des Verderbens, das den Menschen wie ein Fluch immer einholt. Schopenhauer radikalisiert diese Figur: Im Handeln vollstreckt der Mensch sein eigenes Urteil, sein Leiden ist die Buße für dessen unvordenkliche Schuld. Für die Tragödie ist deshalb das Individuum nebensächlich, insofern das tragische Subjekt für das Menschsein an sich steht. Der tragische Held ist eine Figur von symbolischer Bedeutung, sein Scheitern ein universelles Muster. Die Metabol bestimmt Aristoteles als ein formales Strukturelement der Tragödie, als eine Wende im Handlungsverlauf. Die Metabol ist das Moment einer dramatischen Veränderung, eines Sprungs, der die Erkenntnis eines bisher Verborgenen ermöglicht. Schopenhauer hingegen interpretiert die Metabol als das wesentliche Strukturmoment der Tragödie und der menschlichen Existenz: Der Ausgangspunkt seiner Ästhetik ist das Leiden, das alles Dasein durchherrscht. Die Tragödie ist der ausgezeichnete Ort der Selbsterkenntnis des tragischen Helden und des Betrachters. Auch die Anagnorisis erscheint deshalb bei Schopenhauer in einem anderen Licht, sie ist zweifellos eine der, nach Schopenhauer, wesentlichen Funktionen der Tragödie und avanciert mit der Katharsis

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zur wichtigsten Figur seiner Theorie des Tragischen. Beide, Aristoteles und Schopenhauer, teilen die Ansicht, dass die Tragödie eine Erkenntnisfunktion erfüllt. Aristoteles versteht die Tragödie jedoch als einen Erkenntnisprozess, den der tragische Held durchläuft. Die Anagnorisis ist laut Aristoteles der notwendige Umschlag von fehlender Wesenserkenntnis in ihr Gegenteil. Dem tragischen Helden tut sich der Grund auf – die Bedeutung, der Inhalt und die Bedingung seines Daseins werden ihm freigelegt. Schopenhauer entlehnt den aristotelischen AnagnorisisBegriff, die tragische Erkenntnis betrifft bei ihm jedoch nicht primär den tragischen Helden, sondern den Rezipienten. Schopenhauers Ästhetik ist eine Analyse, welche die Kunst nach ihrer Fähigkeit befragt, dem Rezipienten Wesenserkenntnis zu ermöglichen. Der tragende Grund, der Wille als ,Ding an sich‘, der in allen Erscheinungen identisch ist, entzieht sich dem Menschen, sofern er die Dinge nach dem Satz vom Grunde betrachtet. Die Tragödie ist hingegen Produkt einer genialen Wesensschau und zugleich das Medium der Wesenserkenntnis. Die Selbstaufklärung des tragischen Helden zielt daher primär auf den Rezipienten, dem die Tragödie die verdeckte Negativität des Daseins enthüllt. Nicht in erster Linie der tragische Held, sondern der Rezipient ergründet die „schicksalhaften Verschuldungen“11 als Ursprung und Grund des Daseins. Vordergründig enthüllt die aristotelische Anagnorisis dem Helden dessen Verfehlen. Schopenhauer macht hingegen die Tiefendimension der Anagnorisis stark: Das Scheitern entdeckt dem Helden nicht nur sein individuelles Vergehen, sondern das Vereiteln allen menschlichen Sichentwerfens auf Zukunft. Schopenhauer knüpft damit an Theophrasts Anomalie-Begriff an, wie er ihn im Problem XXX, 1 einführt: Theophrast verlegt die Ursache der melancholischen Erkrankung in die Natur des Menschen, so dass kein unbeschädigtes Dasein mehr denkbar ist.12 Mit dem tragischen Helden, so Schopenhauer, werden deshalb nicht individuelle Erwartungen zuschanden. Der Kern der tragischen Selbsterkenntnis bedeutet, dass ein gelingendes Dasein ohnehin nicht möglich ist. Die Tragödie hat dabei die doppelte Funktion, über die Selbstaufklärung des tragischen Helden dem mitvollziehenden Betrachter seine eigene Hinfälligkeit offenzulegen und auf die Möglichkeit einer Überwindung 11 Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 392. 12 Vgl. Aristoteles, Problemata Physica, 954b4 – 26 (Die Problemata von Aristoteles werden zitiert nach: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. Begründet u. hg. v. Ernst Grumach. Bd. 19: Problemata Physica. Übers. v. Hellmuth Flashar. Berlin 1962).

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des Daseins zu verweisen. Hier kündigt sich bereits die entscheidende Differenz zwischen Aristoteles und Schopenhauer an, die im Kontext der Katharsis deutlicher werden wird: Schopenhauer funktionalisiert die Tragödie, insofern er sie zum Wendepunkt zwischen seiner Metaphysik des Leidens auf der einen und der Ethik auf der anderen Seite macht. Aristoteles betrachtet den tragischen Helden als unschuldig leidend – er ist blinder Täter.13 Schopenhauer kennzeichnet den tragischen Helden jedoch als schuldig: Mit seinem Verderben sühnt er die Schuld, die er auf sich geladen hat. Die negativistische Verschärfung manifestiert sich darin, dass Schopenhauer Schuld nicht als individuell zu verantwortende Tat bestimmt, sondern als Konstituens des Daseins. Schuld ist der unhintergehbare Horizont des Daseins. Der Mensch ist schuldig, weil er ist – dies ist seine Tat, die er büßen muss. Schopenhauers Interpretation des Daseins als Schuld ist seine neuzeitliche Auslegung der Sündentheologie. Dasein ist Sünde, Erlösung bedeutet Erlösung vom Dasein oder vom Willen zum Leben.14 Individuation und Dasein sind Ausdruck des egoistischen Wollens, das der Held überwinden muss, um erlöst zu sein. Schopenhauer verschiebt insofern den Schwerpunkt von Aristoteles’ wirkungsästhetischem Interesse an der Tragödie zur Erkenntnisproblematik. Aristoteles betont wiederholt das ästhetische Moment der Tragödie. Er verweist nachdrücklich auf die Lust, das Vergnügen, welches das Schauspiel dem Rezipienten bereitet.15 Wesenserkenntnis ist bloßes Mittel des Tragödiendichters, mit welchem er Eleos und Phobos beim Rezipienten auslöst. Ästhetische Angst und Schauder sind keine existentiellen Sorgen: Der Zuschauer genießt das tragische Geschehen. Die tragische Wesenserkenntnis betrifft ihn zwar, wird aber von der emotionalen Erregung, welche mit der Katharsis endet, verdeckt. In der Folge interpretiert Schopenhauer die Katharsis grundsätzlich anders als Aristoteles und legt alles daran, die Tiefendimension der Kunst und insbesondere der Tragödie zu betonen – unter der Hand knüpft er jedoch auch an den aristotelischen Katharsis-Begriff an und verleiht der Kunst damit gleichsam Gebrauchswert als ästhetisches Beruhigungsmittel. 13 Aristoteles’ Verständnis der Hamart a ("laqt¸a) schwankt zwischen moralischem Vergehen und nicht zu verantwortender Unwissenheit, da der tragische Held Täter und Opfer zugleich ist. Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 13, 1453a (Aristoteles’ Poetik wird zitiert nach: Aristoteles: Poetik. Griech. u. dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982). 14 Vgl. Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 70, S. 550 ff. 15 Vgl. Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b.

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Aristoteles versteht die Katharsis als Befreiung von den Affekten Eleos und Phobos: Im Durchgang durch Angst und Schrecken, welche den Zuschauer beim Betrachten des Grauenvollen, des tragischen Geschehens befallen, werden die Affekte entladen. Sie werden so auf die Spitze getrieben, dass der Zuschauer von ihnen befreit ist. Die Katharsis verschafft als körperliche Erscheinung einen Ausgleich, eine Befreiung von psychischen Irritationen. Als quasi religiös-kultischer Vollzug läutert die Katharsis laut der aristotelischen Tragödientheorie den Menschen und beruhigt ihn über die Negativität des Daseins. Insofern ist die Tragödie „nicht nur eine literarische Gattung, sondern eine kultische Veranstaltung, die eine bestimmte medizinisch-homöopathische Funktion für die Anwesenden und darüber hinaus für die ganze Gemeinschaft, deren kulturelle Äußerung sie ist, erfüllt“.16 Die Funktion der Tragödie ist für Aristoteles nicht nur der Schrecken und die Erschütterung, sondern primär deren Überwindung, denn im Durchgang durch die Angst bewältigt der Mensch sie: Die Tragödie ist „Nachahmung […], die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“.17 Die Katharsis ist daher Versöhnung mit der Negativität. Sie schafft einen Ausgleich zwischen dem Menschen auf der einen und der unvermeidlichen Negativität des Daseins auf der anderen Seite. Die Tragödie öffnet nicht nur den Zugang zur Negativität, sondern auch die Beruhigung darüber. Hiermit ist der grundlegende Unterschied zwischen Schopenhauers und Aristoteles’ Interpretation der Tragödie markiert: Schopenhauer erklärt die Tragödie zwar auch als Kunstform, deren Wesen die Erkenntnis der Negativität ist. Doch ihm geht es nicht um die Überwindung des Schreckens oder um die Versöhnung des Menschen mit dem Dasein. Für dessen ästhetische Theorie sind deshalb die wirkungsästhetischen und ephemeren Momente wie Eleos und Phobos einerlei. Schopenhauer bezieht die Katharsis nicht auf die Affekte des Betrachters, sondern auf den tragischen Helden, der durch übergroßes Leid vom perennierenden Willen erlöst ist. Die Katharsis bezeichnet bei Schopenhauer die Überwindung des Daseins selbst und nicht der Angst. Der tragische Held erfährt, so lautet Schopenhauers Lesart, eine Reinigung von der Schuld seines Daseins, indem er den Willen und das Dasein negiert. Das tragische, unheilvolle Geschehen ist demnach der Ermöglichungsgrund der Erlö16 Angehrn: Die Überwindung des Chaos, S. 396. 17 Aristoteles, Poetik, Kap. 6, 1449b.

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sung durch Erkenntnis. Die tragische Erkenntnis, so Schopenhauer, wirkt auf den Willen zurück und fungiert als das Moment der Erlösung. Die Katharsis ist also, anders als bei Aristoteles, nicht Endpunkt des tragischen Geschehens, sondern der Übergangspunkt zu dem, was kommen soll. Schopenhauer bindet die Katharsis damit an die Peripetie: Die Peripetie bezeichnet bei Schopenhauer die Verkehrung des tragenden Grundes gegen sich selbst. Der Wille zum Dasein wird gleichsam gebrochen durch Erkenntnis – der tragische Held will das Leben nicht mehr. Die Peripetie markiert den Bruch, nach welchem der Held aufhört, sein Dasein zu bejahen, und den Willen verneint. Schopenhauer universalisiert die Katharsis, indem er die Tragödie als Kunstform interpretiert, deren metaphysisch-ontologische Bedeutung darin besteht, archetypisch Willensverneinung zu verbildlichen. Die Struktur der Tragödie, das notwendige Scheitern und der Untergang des Helden, ist, so Schopenhauer, das Modell der Willensverneinung: Der tragische Held ist befreit vom Willen, und er wendet sich vom Leben ab, weil er sein Dasein als Schuld und als nichtseinsollend durchschaut. Schopenhauer bezieht damit die Katharsis auf die Gesamtwirklichkeit neuzeitlicher Subjektivität, sie geht gleichsam an die Wurzeln der Egozentrik und der Hybris, selbst Zwecke setzen zu können. Das Scheitern des tragischen Helden symbolisiert den Menschen in seiner Erlösungsbedürftigkeit, dessen Untergang ein Gleichnis für die Faktizität der Erlösung ist, die mit der Erkenntnis des notwendigen und universellen Leidens als Möglichkeit aufleuchtet. Schopenhauer verortet die Katharsis somit innerhalb der Tragödie: Die Katharsis bezieht sich nicht auf den Betrachter, sondern auf den tragischen Helden, der seine Schuld durch Entsagen büßt. Damit stellt sich nun die Frage nach der eigentlichen Funktion der Kunst und der Tragödie, deren Ausgangspunkt die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und das Unvermögen des Intellekts ist, Erkenntnis zu erlangen vom Leid als dem Wesen des Daseins. Kann die tragische Erkenntnis für das Subjekt nutzbar gemacht werden, oder ist die Willensverneinung, die Katharsis, die in der Tragödie aufscheint nur Utopie?

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3. Die Soteriologie als Interpretation der antiken Melancholiedebatte Aristoteles’ Poetik beansprucht die Kunst als Therapeutikum: Mit der Kunst lässt sich die Fahrt durchs Leben, das an sich unter schlechten Bedingungen anhebt, erleichtern. Die Kunst verhilft zu keiner Heilung, aber sie trägt zu einer Besserung, zu Versöhnung und Linderung vom Leidensdruck bei. Prima facie scheint es auch Schopenhauers Programm zu sein, die Kunst als Pause und als Moment des heilsamen Stillstands zu betrachten. Aber die Krise, in die Schopenhauers Metaphysik des Leidens steuerte, verlangte nach Erlösung von der Herrschaft der Negativität, nicht nach vorübergehender Unterbrechung oder Versöhnung. Das Dilemma, in welche die Metaphysik des Leidens führte, besteht also fort, weil der defizitäre Zustand des Seins, den die Metaphysik feststellte, von der Ästhetik unberührt bleibt. Gleichwohl bürgt die ästhetische Anschauung für die tatsächliche Möglichkeit von Erlösung, und auf eben dieses Moment rekurriert Schopenhauers Ethik. Schopenhauers Ethik und seine Soteriologie nehmen ihren Ausgang in der ästhetischen Anschauung, denn wenigstens für einen Augenblick entlastet diese vom Willensdruck. Damit sind die Fragestellungen formuliert, mit denen Schopenhauers Ethik anhebt: Warum ist die Kunst selbst noch kein Ausweg aus der Herrschaft der Negativität, unter der wir existieren? Inwiefern gibt die Kunst dennoch einen Anhaltspunkt für die tatsächliche Erlösung, die das Desiderat der Schopenhauerschen Metaphysik des Leidens war? Im Folgenden gebe ich einen kurzen Ausblick auf Schopenhauers Ethik, die Willensverneinung, deren Struktur in seiner ästhetischen Theorie vorbereitet ist. Um die Frage zu beantworten, werfe ich einen Blick zurück auf die Bedingungen der ästhetischen Anschauung, wie sie Schopenhauer formuliert: Im Zustand des reinen Erkennens, eines von den Kategorien Zeit, Raum und Kausalität gelösten Schauens, hat sich die Erkenntnis vom Willen befreit, und das Subjekt versenkt sich in den Gegenstand der Anschauung. Die Individualität des Subjekts verliert seine Bedeutung und ist vergessen, so dass die Objekte nicht mehr in ihrer ,Einzelheit‘ geschaut werden, sondern als Idee und Muster. Das ganze Bewusstsein ist vom kontemplierten Gegenstand ausgefüllt. Die Kontemplation birgt indes keine dauerhafte Erlösung vom Willen, denn dieser ist nur vergessen und tritt nur für einen Augenblick in den Hintergrund. Das Subjekt kann sich

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bloß auf kurze Zeit der desolaten Wirklichkeit entziehen. Das reine Erkennen tangiert demnach nicht substantiell den Willen, der – wenn auch latent – in seinem Verlangen ungebrochen bleibt. Die ästhetische Befreiung ist deshalb nur eine vorläufige Beruhigung, durch welche der Wille nicht aufgehoben wird, dessen Tätigkeit aber für einen kurzen Moment unterbrochen ist. Die Erkenntnis ist also nur so lange frei, wie der Wille nicht im Bewusstsein auftaucht. Vom Erkenntnissubjekt geht der Impuls zur Befreiung des Erkennens vom Wollen aus. Das Erkennen hat die Initiativfunktion für das Losreißen vom Wollen: Nicht der Wille realisiert diese Freiheit, aber „er, der das Wesen selbst ist, holt sich sein Eigentum – seine höchste Objektivation – spontan-unvorgreiflich zurück“.18 Bemächtigt sich der Wille erneut der akzidentellen Erkenntnis, ist der autarke Ausnahmezustand des reinen Erkennens beendet. Das reine Erkennen ist daher absolut zufällig, quasi eine „Erlösung auf Abruf“.19 Die Kontemplation verbleibt demnach mittelbar in der Abhängigkeit vom Willen. Allein am Willen liegt es, den ästhetischen Zustand zu beenden. Die ästhetische Erlösung bleibt ein unerwartetes Zwischenspiel, eine Begebenheit von kurzer Dauer, die den Willen nicht wesentlich berührt. Schopenhauers Ästhetik führt so die Kunst an ihre Grenzen: Die Labilität der ästhetischen Betrachtung lässt eine dauerhafte und totale Erlösung vom Willen – und dieses Desiderat war der Ausgangspunkt der Ästhetik – nicht zu. Der Tiefpunkt, an welchem Schopenhauers Willensmetaphysik angelangt war, kann durch die Ästhetik nicht überwunden werden, denn nur auf kurze Zeit ist das Subjekt in der ästhetischen Anschauung vom Leid erleichtert. Die ästhetische Anschauung beinhaltet allerdings mehr als nur flüchtigen Trost. Sie gibt auch Aufschluss über eine mögliche dauerhafte Erlösung: Kann sich die Erkenntnis, wenn auch nur für eine kurze Weile, aus der Herrschaft des Willens befreien, so gilt es für eine dauerhafte Erlösung vom Willen einen Erkenntnismodus zu finden, durch den das Subjekt nicht nur zum Vergessen, sondern zur Verneinung des Wollens gelangt. Es geht um nichts weniger als eine fundamentale Veränderung des Subjekts. Schopenhauer intendiert eine Erkenntnisart, durch die, „wenn sie auf den Willen zurückwirkt, die Selbstaufhebung desselben eintreten kann, d. i. die Resignation, welche das letzte Ziel, ja das innerste 18 Rudolf Malter: Arthur Schopenhauer. Transzendentalphilosophie und Metaphysik des Willens. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 329. 19 Ebd.

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Wesen aller Tugend und Heiligkeit und die Erlösung von der Welt ist“.20 Erlösung ist möglich unter der Voraussetzung, dass – durch eine veränderte Erkenntnis – der Wille sich in seiner Erscheinung gegen sich selbst wendet. Die Erlösung bedeutet absolute Emanzipation vom Egoismus und aller Ichheit, denn als einen Kernpunkt der Leidensanalyse betrachtet Schopenhauer den Egoismus. Die Entichlichung, der Verzicht auf die Befriedigung individuellen Begehrens, zielt auf ein verändertes Verhältnis von Wollen und Erkennen und deren ursprüngliche Verschiedenheit. Die Absage an die Erfüllung egoistischen Verlangens bedeutet das Aufhören der gegebenen Determination des Ichs durch Wille und Satz vom Grund. Rückblickend auf die ästhetische Betrachtung geht es um die Stabilisierung des Erkennens und des Erkenntnissubjekts als dem substantiell Anderen des Wollens. Die Aufhebung des Egoismus hat die Erkenntnis der wesentlichen Gleichheit alles Seienden zur Voraussetzung. Schopenhauers Ethik knüpft an den Gedanken an, der Egoismus sei Konsequenz des erkenntnistheoretischen Irrtums, welcher das Individuum und dessen Willen maßlos überbewertet und die Universalität des einen Willens verkennt. Das durch den Satz vom Grunde befangene Individuum hält die zeitliche Gerechtigkeit für die einzig mögliche und absolute. Betrachtet das Subjekt die Welt dagegen nicht unter der Zeitdetermination, eröffnet sich ihm die „bessere Erkenntnis“,21 welche das principium individuationis nicht mehr absolut setzt. Dieses „gefühlsmäßige Aufgehen einer möglichen Entmächtigung des Individuationsprinzips“22 ist der Ermöglichungsgrund der Ethik und der Erlösung vom Willen. Die Erkenntnis der Wesensidentität alles Seienden ist das metaphysisch-epistemologische Fundament des ethischen Handelns, eines Handelns, welches nicht das eigene Wohlergehen und nicht das fremde Leid, sondern das Wohl des Anderen zum alleinigen Zweck hat. Die Aufhebung des Leidens geschieht dadurch, dass die intuitive Erkenntnis des principium individuationis als dem Seinsgrund der Einzeldinge sich aus der Begrenzung und Herrschaft des Satzes vom Grunde löst und so das egoistische Wollen sukzessive stillstellt. Schopenhauers Soteriologie gründet sich wie die augenblickshafte ästhetische Befreiung auf der anschaulichen Erkenntnis. Schopenhauer schlägt somit eine 20 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 27, S. 226. 21 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 63, S. 482. 22 Malter: Arthur Schopenhauer, S. 372.

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Brücke von der Ästhetik beziehungsweise von der Tragödie zu seiner Ethik: Die ästhetische Anschauung ist der Garant und das Modell für die Befreiung des Erkennens vom Wollen. Die Erkenntnis des tragischen Subjekts, zu welcher es durch die Erfahrung maßlosen Leids gelangt, und dessen Resignation bezeugen die Möglichkeit einer Verneinung des Willens durch Erkenntnis. Die Erkenntnis des Individuationsprinzips manifestiert sich im ethisch-sittlichen Verhalten. Durch sein ethisches Handeln zeigt der Mensch an, „daß er sein eigenes Wesen, nämlich den Willen zum Leben als Ding an sich auch in der fremden, ihm bloß als Vorstellung gegebenen Erscheinung wiedererkennt, also sich selbst in jener wiederfindet, […] er setzt insofern das Wesen außer sich dem eigenen gleich“.23 Das Mitleid, so Schopenhauer, die „Teilnahme zunächst am Leiden eines andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens,“ ist das „alltägliche Phänomen“,24 in dem sich die intuitive Erkenntnis der Identität alles Seienden bezeugt. Der Impuls dieses moralisch ausgezeichneten Handelns geht von der Erkenntnis des principium individuationis als bloßer Form der Anschauung und von der Erkenntnis der NichtUnterschiedenheit des Anderen aus. Gleichwohl ist das Leiden des Anderen und nicht die Identität mit ihm die Bedingung des Mitleids: Ich handle mitleidig, weil der Andere leidet, nicht weil ich wesensmäßig mit ihm identisch bin. Darum betont Schopenhauer auch die Differenz zwischen dem leidenden Anderen und dem mitleidenden Ich. Schopenhauer stellt dem wesenhaften Egoismus damit das Mitleid als Seinsmöglichkeit an die Seite: Der Egoismus ist in actu ursprünglich, das Mitleid hingegen in potentia. 25 Schopenhauer nimmt so das Mitleid aus der Tragödie heraus: Er interpretiert die Tragödie zwar nicht als eine Kunstgattung, die tatsächlich moralisch-humanitäre Relevanz hat. Dennoch gilt Schopenhauers Zustimmung der These, dass das Mitleid das moralisch bedeutsame Phänomen und das Fundament des ethischen Handelns ist. Er nimmt die Tragödie zwar nicht als Ort der moralischen Erziehung in Anspruch, Schopenhauer nutzt indes die Kunst und insbesondere die Tragödie als ästhetische Absicherung seiner Metaphysik des Leidens und seiner Ethik. An ihrem Gipfel schlägt die totale Erkenntnis des Individuationsprinzips um und ermöglicht den Übergang vom Mitleid zur Resignation. 23 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 66, S. 504 [i. Orig. teilw. Herv.]. 24 Schopenhauer, Werke (Lç), E II, § 16, S. 740 [i. Orig. teilw. Herv.]. 25 Vgl. Schopenhauer, Werke (Lç), E II, § 17, S. 745 f.

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Die egoistische Differenz zwischen dem eigenen Individuum und dem Anderen ist nun aufgehoben, und das grenzenlose fremde Leid wird als eigenes Unglück erlebt. Die Totalidentifizierung mit dem Leid der Welt, die vollkommene Wesenserkenntnis, wird zum „Quietiv alles und jedes Wollens“.26 Die Willensverneinung geht an die Wurzel des Leidens, und der Wille als Ursprung allen Leids kehrt sich gegen sich selbst. Schopenhauer betrachtet diesen Zustand der „freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit“27 als die endgültige Erlösung. Sie unterscheidet sich von den Vorstufen der Erlösung dadurch, dass der gerechte, mitleidige Mensch im Anderen sich selbst bloß als Leidenden wiederentdeckt, aber nur intuitiv und vorbewusst auch als Wollenden. Erst die Einsicht in das universale und willensbedingte Leiden eröffnet die Möglichkeit der völligen Willensverneinung, der Resignation und der Heiligkeit. Die freiwillige Gerechtigkeit, der Verzicht auf Befriedigung eigener Bedürfnisse und die Liebe sind der Versuch eines Ausgleichs zwischen eigenem Wollen und fremdem Leid. Sie sind lediglich ein Korrektiv des Egoismus. Für die Willensverneinung ist jedoch eine grundsätzliche Veränderung des Verhältnisses von Erkenntnis und Wille konstitutiv. Die Askese als höchste Form der Verneinung ist „vorstzliche Brechung des Willens durch Versagung des Angenehmen und Aufsuchen des Unangenehmen, die selbstgewählte büßende Lebensart und Selbstkasteiung zur anhaltenden Mortifikation des Willens“.28 Schopenhauers quietistische Ethik amalgamiert damit die stoische Ethik und die pietistische Gelassenheit: Seine Ethik lehrt, gleich der Stoa, der Mensch müsse eine innere Verfassung entwickeln, die von Gleichgültigkeit gegenüber den Dingen geprägt ist und die ihn unempfänglich macht für das Leid. Er kappt hingegen den Optimismus der stoischen Ethik, dass dem Menschen Glück überhaupt zur Verfügung steht: Schopenhauers Resignation weist nicht über sich selbst hinaus auf ein Positives, sondern ist als Fehlen von Begierden, als Gleichgültigkeit und Aspontaneität gekennzeichnet, und das Glück der Resignation ist nur negativ als Abwesenheit von Schmerz zu begreifen. Damit rekurriert Schopenhauer zweifellos auf das pietistische Gebot von der Tötung des Eigenwillens – den theologischen Rückhalt, den der Pietismus in Gott sucht, streicht Schopenhauer indes. 26 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 515. 27 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 515. 28 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 532.

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4. Schopenhauers Interpretation der Melancholie als Gelassenheit Es überrascht, wie Schopenhauer mit seiner Bestimmung der Gelassenheit den antiken Melancholiediskurs aufgreift und von ihm abspringt: Die Melancholie versteht er nicht als abnormes Schwanken zwischen wahnhaften Zuständen und Verstimmtheit, wie es Theophrast im Problem XXX, 1 diagnostiziert.29 Schopenhauer heftet seinen Blick nur auf den einen Pol des melancholischen Komplexes – auf das stimmungsgetragene Erleben einer Sinn- und Hoffnungslosigkeit und der Gehemmtheit. Melancholische Verstimmung und Hemmung charakterisiert er aber nicht als Krankheit, vielmehr ist dies der ersehnenswerte Zustand eines grundlosen, nicht von außen bedingten, sondern in einer inneren Haltung abgesicherten und befreienden Trübsinns. Melancholie ist die Folge einer die Negativität nicht erleidenden, sondern durchschauenden und willensfreien Erkenntnis, die von „stiller“ und „resignierte[r] Trauer“,30 „unanfechtbarer Ruhe, Seligkeit und Erhabenheit“31 begleitet ist: „es ist ein unerschütterlicher Friede, eine tiefe Ruhe und innige Heiterkeit, ein Zustand, zu dem wir, wenn er uns vor die Augen oder die Einbildungskraft gebracht wird, nicht ohne die größte Sehnsucht blicken können“.32 Die Melancholie ist Vorbedingung für die Erlösung vom Willen und Zeichen der Einsicht in die Vergeblichkeit allen Tuns. Insofern ist die melancholische Trauer zu begrüßen und zu steigern. Die Trauer ist kein beliebiges passives Erleiden der Sinnlosigkeit, sondern ein herbeigesehnter melancholischer Zustand, soll doch die Resignation den Handlungsimpuls hemmen. Diese Seligkeit ist keine Befriedigung über einen erfüllten Wunsch – im Gegenteil, die Melancholie ist das Glück darüber, dem treibenden Willen nicht mehr ausgeliefert zu sein, nichts mehr zu wollen. Die Melancholie, so Schopenhauer, hat das Leiden und alle Unruhe hinter sich gelassen und ist ein Zustand der freien Selbstaufgabe und der dem rastlosen Willen überlegenen Gleichgültigkeit. Auch das Genie ist gleichsam nur auf halbem Wege schon erlöst, weil es sich der ausweglosen Verfassung des Daseins zwar bewusst ist, aber 29 Vgl. hierzu Theunissens präzise Analyse in Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin u. a. 1996. 30 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 538. 31 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 533. 32 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 530.

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noch nicht völlig resigniert sein Selbst aufgegeben hat. Darum, so Schopenhauer, taumelt der genialische Mensch hin und her zwischen Trübsinn und resignierter „Heiterkeit“.33 Die Gestalt des melancholischen, zwischen Depression und Wahn hin und her schwingenden Temperaments entlehnt Schopenhauer den Problemata und projiziert sie auf den genialischen Menschen, den Theophrasts Entwurf noch dem manischen Typus zuordnet, dessen Verfassung also gerade nicht zwischen Verzweiflung und Ekstase aufgespannt ist. Der genialische Mensch, der gleichsam immer wieder in den Trübsinn zurückfällt, macht abermals deutlich, dass die Kunst und auch das Genie nur als Vorstufe zu verstehen sind und das Modell der Erlösung abgeben, die tatsächlich erst in Schopenhauers Ethik relevant wird. Als alternatives Modell entwickelt Schopenhauer eine sekundäre Form der Erlösung und Willensverneinung, für deren Entwurf ihm abermals die Tragödie das Vorbild liefert: Auch selbstempfundenes schweres Leid kann den Willen zum Dasein brechen und zur Selbstaufgabe führen. Nicht nur die totale Durchschauung des Individuationsprinzips kann zur Verneinung führen – auch der durch das Schicksal und durch das Leid Gebeugte entsagt dem Leben, weil der Leidensdruck und die Anerkenntnis des Leidens als notwendig, bleibend und unabwendbar seinen Lebenswillen auslöschen. Insofern komme dem Leid „heiligende Kraft“34 zu, weil in ihm immer die Aussicht und Möglichkeit einer Läuterung und Umkehr liegt. Doch auch dieser Weg der Willensläuterung muss in die Erkenntnis einmünden, da im dauernden Leid mitunter der Grund des Selbstmitleids und der Sentimentalität liegt: [W]enn nämlich immer getrauert und immer geklagt wird, ohne daß man sich zur Resignation erhebt und ermannt; so hat man Erde und Himmel zugleich verloren und wässerichte Sentimentalität übrigbehalten. Nur indem das Leiden die Form bloßer reiner Erkenntnis annimmt und sodann diese als Quietiv des Willens wahre Resignation herbeiführt, ist es der Weg zur Erlösung und dadurch ehrwürdig.35

33 Vgl. Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 31, S. 493 ff. 34 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 537. 35 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 539 [i. Orig. teilw. Herv.].

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5. Das Scheitern der Kunst oder: das Vorspiel der Erlösung Mit Blick auf die aristotelische Tragödientheorie ist darum die unterschiedliche Bewertung der Katharsis die entscheidende Differenz: Die Katharsis ist bei Schopenhauer, anders als bei Aristoteles, kein Aspekt der Wirkungsästhetik der Tragödie, sondern zunächst nur ein den tragischen Helden betreffendes Geschehen: Sie bezeichnet dessen radikale Umkehr von der leidschaffenden Willensbejahung zur Erlösung durch Verneinung. Insofern leistet die Kunst für den Rezipienten doch nur eine – wenn auch vorübergehende – Beruhigung über Negativität. Das ästhetische Wohlgefallen ist ein bloß instabiler Moment der Pause, ein flüchtiger Ruhepunkt. Die Kunst hilft, die Negativität auf einen Augenblick zu vergessen, aber sie ist nicht der Ort bleibenden Trosts oder der Heilung. Sie vermag keine moralische oder substantielle Besserung des Daseins zu stiften, und insofern stimmt Schopenhauer Theophrasts Diagnose zu, nach der wir die alles Dasein einschließende Negativität nicht auf ein Positives überschreiten können. Negativität, hier kommen Schopenhauer und Theophrast überein, ist der Ermöglichungsgrund außerordentlicher künstlerischer Leistungen. Aber die Kunst ist nur ein Ausnahmezustand, sie hilft weder dem Künstler, noch dem Rezipienten, Negativität zu überwinden. Die Kunst scheitert, sofern sie gleichsam nur Symptome lindert und Ruhe und Entlastung verschafft, aber nicht an die Wurzeln der Negativität geht. Eben darin macht sich das aristotelische Erbe von der unmittelbaren Wirkung der Tragödie bei Schopenhauer bemerkbar: als spontane Abfuhr seelischer Leiden und Spannungen. Dies Lindern, die beruhigende Wirkung der Kunst, ist das kathartische Moment der Versöhnung, das uns in Aristoteles’ Poetik, aber auch bei Schopenhauer begegnet: So macht der Danziger Philosoph kein Hehl aus dem Genussmoment der ästhetischen Anschauung: Wann aber äußerer Anlaß oder innere Stimmung uns plötzlich aus dem endlosen Strome des Wollens heraushebt, die Erkenntnis dem Sklavendienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Wollens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse […] rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben […]: dann ist die […] immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind für jenen

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Augenblick des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.36

Schopenhauer springt jedoch von Aristoteles ab: Die Tragödie beruhigt nicht dauerhaft über die Negativität, sie stimuliert nicht das ethische Handeln und hat insofern auch nicht die Kraft, den Betrachter zu vervollkommnen oder von Egoismen zu läutern. Die Tragödie und die in ihr sich öffnende ästhetische Erkenntnis liefern jedoch das metaphysischepistemologische Fundament des ethischen Handelns. Die ästhetische Erkenntnis kommentiert das ethische Handeln, indem es auf die zentrale Bedeutung der Erkenntnis für die Befreiung vom egoistischen Wollen verweist. Schopenhauer fundiert seine ethischen Überlegungen in der Kunstphilosophie und weist der Kunst so eine Bedeutung zu, die weit über Theophrast und Aristoteles hinausgeht. Aristoteles bleibt gleichsam, mit Theophrasts Überlegungen zur Melancholie im Rücken, bei der Erkenntnis der negativen Dimension des Daseins stehen. Die Katharsis der aristotelischen Poetik hintergeht gleichsam den Menschen: Sie verspricht dem Menschen Versöhnung mit einem denkbar schlechten Leben und täuscht darüber hinweg, dass Rettung nicht mehr möglich ist. Die Katharsis rührt nur an den Symptomen eines Übels, von dem nurmehr das Nichtmehrsein Erlösung verheißt. Damit verweist Schopenhauer auf Theophrasts Melancholiediagnose: Zwar trägt Theophrast dem Menschen auf, das Beste aus der melancholischen Erkrankung zu machen. Dies kann aber immer nur das Zweitbeste sein, denn das Leben steht immer unter der Herrschaft der Negativität – das tatsächlich Positive, ein gelingendes Leben ohne die Gefährdungen der Melancholie, liegt außer Reichweite für den Menschen. Theophrast verspricht bloß Linderung im vollen Bewusstsein der Negativität und Unheilbarkeit. Aristoteles schließt außerdem den Gedanken aus, das Nichtsein könne immer noch besser sein, als das von denkbar schlechten Bedingungen einbehaltene Leben. Schopenhauer zufolge ist die Kunst zwar nur ein vergängliches Ruhemoment, aber eben auch Vorspiel einer wirklichen Erlösung. Hier klingt ebenfalls Theophrasts Melancholiediagnose nach: Weil der Mensch nicht auf ein von Krankheit befreites Leben hoffen kann, gibt ihm der peritt s 37 ein Vorbild, das die Negativität zumindest dämpft und 36 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 38, S. 280. 37 Der peritt s ist die von Theophrast im Problem XXX, 1 verwendete indifferente Bezeichnung für den nach der einen oder anderen Richtung vom rechten Maß Abweichenden.

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manisch-depressive Exaltationen bezwingt. Das meint aber keine Selbsttranszendenz oder unanfechtbar höhere Existenzform. Im Gegenteil – der peritt s ist eben deshalb Vorbild, weil er die übermäßige Wärme der schwarzen Galle angemessen temperiert und ihr mit einer Dosis Kühle entgegenwirkt. Der peritt s kann wie alle Menschen von seiner Krankheit nicht geheilt werden, aber er hat es gewissermaßen gelernt, mit der Krankheit zu leben und sich selbst zurückzunehmen. Er vollzieht damit, was alle an der Melancholie erkrankten Menschen leisten müssen. In diesem Sinne versteht Schopenhauer Willensrücknahme und Resignation als auf ein rechtes Maß gemäßigte Melancholie. Der Melancholiker hat durch eine kathartische Verwandlung einen Zustand der Beruhigung maßloser Egoismen erreicht. Sowohl Theophrast als auch Schopenhauer sind sich jedoch der Grenzen des Menschen bewusst: Auch eine wohltemperierte Anomalie bleibt latent ein Übel. Der peritt s versucht lediglich, innerhalb der ihm durch die Krankheit gesetzten Grenzen zurechtzukommen. Ebenso unterschlägt auch Schopenhauer nicht die Anfechtungen, denen noch jeder ausgesetzt ist, der den Willen verneint, und betrachtet diesen Zustand als den „Grenzstein“38 positiver Erkenntnis. Obgleich jedoch die Erlösung als Hoffnung und Möglichkeit in der Tragödie aufscheint, rekurriert Schopenhauer in seiner Ethik nicht mehr auf dieses Moment der Tragödie, denn die ästhetische oder tragische Erkenntnis lässt sich für die Ethik nicht nutzbar machen oder konvertieren. Die ästhetische Anschauung und die Resignation sind, so Schopenhauer, zwar einander nah verwandt, aber die ästhetische Anschauung ist immer nur ein vorübergehender Zustand, der von der Wirklichkeit noch stets eingeholt wird, während die Resignation diesen Zustand gleichsam auf Dauer stellt. Insofern entwickelt Schopenhauer seine Ethik nach dem Modell der Tragödie. Schopenhauer wertet demnach die Kunst nur scheinbar zu einer autonomen kulturellen Leistung auf, die sich jeder Zweckmäßigkeit verweigert. Sie ist zwar zwecklos im Sinne des l’art pour l’art, weil sich die ästhetische Erkenntnis nicht in ethisches Handeln konvertieren lässt. Die Kunst bleibt indes immer eingebunden in die Negativität der Welt der Vorstellung: Sie hilft nicht über das Leiden hinweg und verdeckt es nicht, macht es aber auf einen Augenblick erträglich. Die Kunst wird so, entgegen Schopenhauers Behauptung, zu einem integrierten Moment der Welt der Vorstellung, weil sich das Übel in der Kunst genießen lässt und 38 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 71, S. 557.

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so mit ihm versöhnt. Die Kunst hält damit die Strukturen am Laufen, deren Sinnlosigkeit sie zugleich geißelt – und eröffnet doch zugleich den Ausblick auf Erlösung. Die Kunst, und damit in besonderer Weise die Tragödie, ist die Schnittstelle zwischen der Willensmetaphysik und der Ethik. In der Kunst hat Schopenhauer den Ort der Erleichterung gefunden, von dem aus er die Welt der Vorstellung kritisch betrachten und herabsetzen kann. Die Erfahrung der willenlosen Anschauung, die Entlastung vom Willensdruck und von der Zeit, liefert den Maßstab für die Phänomenologie der Welt der Vorstellung. Die Kunst und die Kunstbetrachtung sind Bürge für die Figur der Verneinung. Die ästhetische Anschauung, die Trennung der Erkenntnis vom Willen, ist Garant für die Möglichkeit der Erlösung durch Erkenntnis. Die Resignation des tragischen Helden eröffnet die Aussicht auf die Verneinung durch die Brechung des Willens.

6. Von der Philosophie als Vademekum Trotz der prominenten Funktion für dessen Ethik demontiert indes Schopenhauer nochmals die Kunst, die zuvor noch Bürge seiner ethischen Lehre war. So entwickelt er im zweiten Band der Welt als Wille und Vorstellung einen Gedanken, der den Leser verblüffen muss. Von der Kunst, deren Vorzug bis hierher in der Anschaulichkeit der Idee liegt, heißt es dort, sie rede „nur die naive und kindliche Sprache der Anschauung, nicht die abstrakte und ernste der Reflexion: ihre Antwort ist daher ein flüchtiges Bild; nicht eine bleibende allgemeine Erkenntnis. […] Ihre Antwort [auf die Frage, was das Leben sei], so richtig sie auch sein mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, nicht eine gänzliche und finale Befriedigung gewähren.“39 Die Künste „geben immer nur ein Fragment, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze, als welches nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben werden kann“.40 Ähnliche Aussagen, die allen bisherigen Ausführungen widersprechen, finden sich hinsichtlich der soteriologischen Funktion der Vernunft. Zweifellos lässt sich die Funktion des Verstandes für die Erlösung positiv bestimmen: Schopenhauer betont mehrfach, die Willenserkenntnis sei anschaulicher Art. Doch Schopenhauer weist zuweilen auch der Vernunft eine ausgezeichnete Funktion für die Erlösung zu: 39 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 34, S. 522 [i. Orig. teilw. Herv.]. 40 Schopenhauer, Werke (Lç), W II, Kap. 34, S. 522 [i. Orig. teilw. Herv.].

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Die Möglichkeit der also sich äußernden Freiheit [der Willensverneinung] ist der größte Vorzug des Menschen, der dem Tiere ewig abgeht, weil die Besonnenheit der Vernunft, welche unabhängig vom Eindruck der Gegenwart das Ganze des Lebens übersehn läßt, Bedingung derselben ist. Das Tier ist ohne alle Möglichkeit der Freiheit, wie es sogar ohne Möglichkeit einer eigentlichen, also besonnenen Wahlentscheidung nach vorhergegangenem vollkommenem Konflikt der Motive, die hiezu abstrakte Vorstellungen sein müßten, ist.41

Die schonungslose Pejoration der Vernunft, auf die Schopenhauers Erkenntnistheorie zielte, wird an dieser wichtigen Stelle widerrufen. Kraft ihrer Fähigkeit zur Abstraktion und zur Erkenntnis des Einen im Vielen ist die Vernunft geeignet, sich von der Anschauung, vom Besonderen und damit vom Satz vom Grunde zu lösen. Vor diesem Hintergrund hat nun der Philosoph eine bedeutende Funktion für das ethische Verhalten und die Erlösung. Sowohl der Philosoph als auch der Künstler sind, so Schopenhauer, bemüht das Wesen der Welt zu erfassen. Der mangelnden Abstraktionsfähigkeit der Kunst antwortet die Philosophie jedoch, indem sie das „ganze Wesen der Welt abstrakt, allgemein und deutlich in Begriffen“ wiederholt und „es so als reflektiertes Abbild in bleibenden und stets bereitliegenden Begriffen der Vernunft“ niederlegt.42 Der Blick auf das Ganze des Daseins, ohne dass Motive den Philosophen dazu bewegten, ist demnach ein Akt der Reflexion, der Vernunft. Die philosophische und besonnene Erkenntnis ist nur im Zustand des reinen, objektiven Erkennens und der Trennung des Intellekts vom Willen möglich. Der Vielzahl an Stellen, an denen Schopenhauer die soteriologische Erkenntnis als intuitive bezeichnet, stehen jene Passagen entgegen, an denen Schopenhauer von der Vernunft sagt, sie potenziere nicht nur das Leid, sondern sei auch der Ermöglichungsgrund der Erlösung: Auch durfte die Fähigkeit zu diesem [zur Empfindung des Schmerzes] ihren Höhepunkt erst da erreichen, wo vermöge der Vernunft und ihrer Besonnenheit auch die Möglichkeit zur Verneinung des Willens vorhanden ist. Denn ohne diese wäre sie eine zwecklose Grausamkeit gewesen.43

Philosophische Reflexion und Verneinung des Willens bedingen einander. Schopenhauer verpflichtet damit das philosophische Denken darauf, sich nicht nur in seinen eigenen Bezügen zu verlieren, sondern im 41 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 70, S. 548 f. 42 Schopenhauer, Werke (Lç), W I, § 68, S. 521. 43 Schopenhauer, Werke (Lç), P II, § 154, S. 352.

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weitesten Sinne zur Bewältigung drängender Lebensfragen beizutragen, gleichsam als praktischer Ratgeber zur Bewältigung von Negativität – einer Aufgabe, an der die Kunst meist scheitert, weil sie Leiden allenfalls ästhetisiert, aber nicht über es hinausweist. Die offensichtliche Aporie von intuitiver Einsicht und abstrakter Erkenntnis, die gleichermaßen Bedingung, aber auch Hindernis der Erlösung sei, kann an dieser Stelle nicht aufgelöst werden. Die soteriologische Funktion der philosophischen Erkenntnis scheint jedoch auf das Scheitern der Kunst zu antworten und bleibt bei Schopenhauer ein „dunkler Rest“.44

44 Malter: Arthur Schopenhauer, S. 427 [i. Orig. teilw. Herv.].

Leidenschaftliche Individualität. Zur tragischen Verfassung gesteigerten Lebens bei Schopenhauer, Nietzsche und Camus Asmus Trautsch Am Ende des 18. Jahrhunderts setzt mit Schillers philosophisch-ästhetischen Schriften und Schellings Philosophischen Briefen ber Dogmatismus und Kritizismus eine beispiellose Auseinandersetzung der Philosophie mit der Tragödie ein. Während sich die Tragödientheorie seit der späten Renaissance bis zu Lessing vornehmlich mit Genrefragen und Wirkungspoetologie beschäftigte, wird das Erkenntnisinteresse nun ausdrücklich philosophisch und überschreitet Fragen der Theaterpraxis in eine Reflexion der metaphysischen Grundlagen des Lebens. Angesichts der historischen Umbruchsituation nach der Französischen Revolution und als Konsequenz aus der aufgeklärten Kritik an der Theodizee rückt die Tragödie ins Zentrum der Philosophie, da die existentielle Dimension der Individualität an der Tragödie nicht nur besonders deutlich zu erkennen, sondern auch auf ihre Möglichkeit und Gefährdung hin zu bewerten ist. An der Tragödie, darin treffen sich die unterschiedlichen Denker von Schelling bis Nietzsche, lässt sich etwas Wesentliches der conditio humana exemplarisch erkennen. An der ästhetisch-epistemischen Rolle der Tragödie in Schopenhauers Philosophie, der Idee des individuellen Pathos bei Hegel, der ästhetisch-praktischen Funktion der Tragödie bei Nietzsche und schließlich der Konzeption eines tragischen Selbstverständnisses bei Camus werden die folgenden Abschnitte den Zusammenhang von Tragödienreflexion und Individualitätsproblematik im Kern zu rekonstruieren versuchen.

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I. Der Exzess des Leidens und die Einsicht in die Bedingung des Lebens Der „Gipfel aller Kunst“,1 so Schopenhauers Auszeichnung der Tragödie, führt selbst auf einen Gipfel, auf dem angelangt uns der Schleier der Maja gewaltsam von den Augen gerissen wird. Als müsste man erst das enorme Bergmassiv des Leidens erklimmen, um auf seinem Kamm schmerzerfüllt die Einsicht zu gewinnen, dass der Wille, der einen hinauftrieb, durch die Energie des Aufstieges nur sich selbst vergeudet hat, ohne etwas zu erreichen, das diese Vergeudung lohnte. Die Kosten, die der Wille selbst trägt,2 scheinen schlecht investiert. Der Exzess des Leidens, in dem das Trauerspiel kulminiert, führt idealerweise zu einem ziemlich raschen Abstieg auf das Plateau der Resignation, auf dem jeder Wille zum Leben erstirbt. Den Aufstieg, die tragödienartige Dramenhandlung, beschreibt Schopenhauer dagegen als eine allmhliche Bewegung von der Ruhe zum Eintritt eines Motivs, welches eine Handlung herbeiführt, aus der ein neues und stärkeres Motiv entsteht, welches wieder eine bedeutendere Handlung hervorruft, die wiederum neue und immer stärkere Motive gebiert, wodurch dann, in der der Form angemessenen Frist, an die Stelle der ursprünglichen Ruhe die leidenschaftliche Aufregung tritt, in der nun die bedeutsamen Handlungen geschehen, an welchen die in den Charakteren vorhin schlummernden Eigenschaften, nebst dem Laufe der Welt, in hellem Lichte hervortreten.3

Auf dem Gipfel der tragischen Verknotung eben dieser bedeutsamen Handlungen gewinnt die ästhetische Einstellung des Bewusstseins als „ r e i n e s , willenloses, schmerzloses, zeitloses S u b j e k t d e r E r k e n n t n i s s “,4 das frei ist von der Verworrenheit konativer Strebungen, allerdings nicht von selbst die Oberhand. Denn entgegen der Erfahrung des Schönen, in der dieses der interesselosen Anschauung entgegen kommt, reißt das Erkennen sich auf dem Klimax tragischen Leids „gewaltsam“, „plötzlich“, „mit Einem Schlage“ vom Willen los.5 Der sich in der Zeit des Handelns nach und nach aufbauenden Klimax des Pathos folgt ad hoc der Fall in die Resignation als „vollkommene[r] 1 2 3 4 5

Schopenhauer, HN I, S. 437. Vgl. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 52, S. 353; § 64, S. 463 (Schopenhauer wird zitiert nach: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Hg. v. Ludger Lütkehaus nach den Ausgaben letzter Hand. Zürich 1988). Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 37, S. 503. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 34, S. 245. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 39, S. 272; W I, § 34, S. 243 u. S. 245.

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Erkenntniß des Wesens der Welt,“6 die jegliches Interesse am Dasein erfolgreich sediert, wenngleich die Interesselosigkeit der ästhetischen Einstellung nicht Totenstarre, sondern katastematische Lust ist, die keinen Mangel und eo ipso keine Richtung auf ein Erfüllungsziel hin kennt, aber doch die als lustvoll erfahrene energeia des „aus eigenem Triebe in höchster Spannung und Thätigkeit“7 befindlichen Intellekts ist. Es ist das momentum der tragischen Katastrophe,8 das die Schwungkraft für diese existentielle Inversion als Spiegelung der tragischen Peripetie idealerweise dem tragischen Akteur und seinem Zuschauer verleiht. Zugleich ist die tragische Verdichtung eine Reflexion des künstlerischen Schaffensprozesses, da erst die „leidenschaftliche[n] Aufregung des Genialen“ in die vom Willen erlöste Intellektualität führt, eine „große und gewaltsame Koncentration,“9 aus der heraus die Werke entstehen, die wieder zu einer Potenzierung leidenschaftlichen Wollens und seiner gewaltsamen Abfuhr führen. Der mühsamen Strecke zur Leidenskulmination steht der Punkt gegenüber, an dem „die Form der Erscheinung, das principium individuationis, […] durchschaut wird, […] wodurch nunmehr die vorhin so gewaltigen M o t i v e ihre Macht verlieren,“10 und mit ihnen auch das Motiv der Selbsterhaltung erstirbt. Unklar bleibt, warum das Trauerspiel, das Schopenhauer der Tragödientheorie seit Schiller folgend, „mehr als irgend etwas Anderes“11 als dem Erhabenen zugehörig begreift, den Königsweg für die Erkenntnis der ontologischen Verfassung der Welt darstellt. Denn anders als die philosophisch-begriffliche Erkenntnis, die willenlose Anschauung des Schönen und die Entsagung des Heiligen führt die Einsicht, die das Trauerspiel sowohl im tragischen Helden als auch im Zuschauer erzeugen soll, erst einmal in die Radikalisierung des Irrtums. Erst in seinem Extrem schlägt die hybris des Vertrauens in die eigenen Kräfte um in die Erkenntnis ihres Scheins und damit ihrer mangelnden Vertrauenswürdigkeit. Wie das Erhabene für Schopenhauer als das Extrem des Schönen

6 7 8 9 10 11

Schopenhauer, Werke (L), W I, § 51, S. 335. Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 30, S. 435. Vg. Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 37, S. 504. Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 31, S. 454. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 51, S. 335. Arthur Schopenhauer: Philosophische Vorlesungen. Aus dem handschriftlichen Nachlaß. Hg. v. Volker Spierling. Bd. 3: Metaphysik des Schönen. München 1985, S. 210.

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gilt,12 kann auch erst das Extrem der Kunst, die Tragödie, die „vollkommenste Abspiegelung des menschlichen Daseyns“13 leisten, das selbst als tragisches Theatrum mundi zu verstehen ist. Vorausgesetzt ist also ein Individuum, das leidensfähig ist und überzeugt werden muss, dass diese Leidensfähigkeit keine Funktion außer der epistemischen hat, in der Überreizung ihre eigene Nutzlosigkeit zu erkennen.14 Doch wenn dieses Extrem des Leidens den Menschen vom Willen abbringen können soll, fragt sich, warum es die Tragödie ist und unter ihr vorzügliche Beispiele, die dieses Leid kulminieren lassen. Warum attestiert Schopenhauer Berichten über ein außerordentlich schreckliches malum physicum, wie wir 2008 aus Birma und China erhalten haben, oder ein kolossales malum morale wie „weltverheerende[n] Kriege[n]“15 nicht, ein viel überzeugenderes und dauerhafteres Kathartikon für den Willen zum Leben zu sein? Denn wenngleich es aus der Sicht des Willens als Ding an sich, dem jede quantitative Bestimmung abgeht, keinen Unterschied macht, ob in der Erscheinungswelt ein Mensch oder viele zugrunde gehen, bildet in ihr, als dem großen Trauerspiel des Lebens, die Quantität des Leidens die zunächst nahe liegende Möglichkeit, dieses bis zur erlösenden Willensverneinung in ein ästhetisch erfahrbares crescendo zu leiten. Nun ist die mediale Darstellung der Selbstzerfleischung des Willens offenkundig entscheidend, weil die Bühnenhandlung den Zuschauer nicht direkt bedroht und daher erst ihre erhabene Wirkung zu erzielen vermag,16 die in einer „Duplicität seines Bewußtseyns“17 besteht – keiner

12 Vgl. Schopenhauer, HN I, S. 46 f. u. HN III, S. 367. Zur Problematik des Trauerspiels zwischen schöner Kunst und Erhabenem vgl. Barbara Neymeyr: Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik. Berlin/New York 1996, S. 387 – 408. 13 Schopenhauer, Werke (L), P II, § 227, S. 387. 14 Das Leiden funktioniert als Katalysator zur Befreiung von ihm, die aber nur den wenigen gelingt, die schon durch ihre „höhere intellektuelle Kraft für viel größere Leiden empfänglich“ sind (Schopenhauer, Werke (L), W I, § 57, S. 409). 15 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 61, S. 432. 16 Damit steht Schopenhauer in der Tradition von Schillers Deutung des Tragischen als Erhabenes. Vgl. Barbara Neymeyr: Ethische Aspekte einer Ästhetik des Tragisch-Erhabenen. Zur Dramentheorie Schillers und Schopenhauers. In: Lore Hühn (Hg.): Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling). Würzburg 2006, S. 265 – 280.

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simultanen Mischung, sondern einem inversiven Gang, der aus der Erfahrung radikaler Verletzlichkeit und Kleinheit in die Kehrseite eines von aller volitionalen Verflechtung ins Weltschauspiel befreiten Bewusstseins führt. Doch auch die Berichte aus dem Fernen Osten bedrohen uns nicht direkt, wenn wir die Zeitung öffnen, wie auch in Berlin nicht die Erde wackelt, wenn Lissabon einstürzt und unter ihm etwa 60.000 Menschen begraben werden. Offenbar funktioniert die Tragödie als epistemologisches Kathartikon nicht proportional zur Quantität des Leids, obwohl doch dessen Maximum durch extreme Erregung zur metaphysischen Einsicht und darin zur absoluten Beruhigung führen soll.18 Die artifizielle Form des Sprachkunstwerks ist ein Grund, warum es die Tragödie ist, die Schopenhauers ästhetisch-ethischen Paragone gewinnt, denn nur als ästhetische Form kann sie unsere Affekte enorm erregen und uns „deutlicher als jemals“19 sonst die Einsicht in das Wesen des Lebens vermitteln. Der zweite, materiale Grund liegt in der spezifischen Natur dieses Leids, an dessen Erfahrung wir als Zuschauer, die sich schaudernd „schon mitten in der Hölle“20 fühlen, partizipieren. Der Grund, warum es überhaupt Leid gibt, ist nach Schopenhauer die mysteriöse Objektivation des einen allmächtigen Willens in die hierarchische Ordnung der Ideen und von ihnen in die Vielfalt der Individuen. Raum und Zeit sind dabei das principium individuationis für die Vielheit von Einzelnem, das wie alle Objekte der Erscheinungswelt durch sie bestimmt und individuiert wird. Im Gegensatz zum Willen, dem die Prädikate der Erscheinungswelt als Ding an sich nicht zukommen, sind Raum, Zeit und Kausalität als „Gestaltungen des Satzes vom Grunde“21 Grundlage der Vorstellungswelt. Der Wille ist „folglich e i n e r ; doch […] nicht wie ein Individuum“;22 das Individuum ist vielmehr das Element der Welt der Vorstellung und daher die Bedingung der Möglichkeit von Leid überhaupt, bei dem sich ein individuelles Kraftzentrum gegen ein anderes bewegt, obwohl doch beide an sich eins sind. Aber diese Bewegung gegeneinander, die in Schopenhauers Beschreibung der Tra17 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 39, S. 276. Hier deutet Schopenhauer diese Dopplung als Gleichzeitigkeit, zuvor aber als Prozess des Umschlagens. 18 Vgl. Ulrich Pothast: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Über Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett. Frankfurt a.M. 1982, S. 111. 19 Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 37, S. 504. 20 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 51, S. 338. 21 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 25, S. 184. 22 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 25, S. 185.

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gödie als radikaler Selbstzerfleischung des Willens kulminiert, ist aus der Perspektive der Erscheinungswelt nicht bloß zufällig. Sie kann nur deshalb kulminieren, da es Individuen, und zwar bewusste, sensitive und denkende Wesen, also Menschen sind, die in antagonistischer Verschärfung ihren Willen gegen ihresgleichen durchzusetzen versuchen und auf Widerstände stoßen, die sie schließlich nicht mehr zu überwinden vermögen. Dabei kann sie nicht das metaphysische Individuationsprinzip antreiben, denn sie stehen ja bereits unter raum-zeitlichen und kausalen Bedingungen und sind ontologisch gesehen Individuen, die aus dem Ding an sich bzw. den Ideen evoliert sind. Was sie antreibt, sind unbewusst wirkende und als Gründe explizit zu rechtfertigende Motive. Sie richten vielmehr, so meine These, den Willen zum Leben auf Bestimmtes und dienen in ihrer stärksten Ausprägung dazu, aus dem jeweiligen Individuum als bloßem Gattungsexemplar ein bestimmtes Selbst, eine unverwechselbare Individualitt mit irreduzibler Wichtigkeit werden zu lassen.

II. Individualität zwischen Egozentrizität und Egoismus Jedes „zu Nichts verkleinerte Individuum [macht sich] dennoch […] zum Mittelpunkt der Welt“,23 diagnostiziert Schopenhauer, doch seine Interpretation dieser zentripetalen Bewegung und der Entfaltung dieser jeweils individuellen Mitte als Egoismus verfehlt eine wichtige Differenzierung. Denn die Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung auch gegen andere, von denen Schopenhauer spricht, sind auf dem „höchsten Grad gesteigerten Bewußtseyn[s], dem menschlichen“ nicht immer bloß egoistisch wie „im Leben großer Tyrannen und Bösewichter“.24 Wäre es so, dann stürben die „so gewaltigen M o t i v e “25 auf dem Gipfel des Trauerspiels nur ab, weil die tragischen Akteure die größten Verbrecher wären. Doch entsprechend der von Aristoteles bis zur Poetik der Aufklärung gültigen Norm, keine rein tugendhaften Charaktere als Protagonisten, sondern mittlere zu wählen, hat das tragische Drama auch keine äußerst egoistischen Figuren ins Zentrum zu rücken, an deren Unglück kaum jemand mitleidig Anteil nähme. Die intensive Partizipation des Zuschauers mit den Figuren des Dramas ist aber für den befreienden Wechsel in die Gelassenheit ebenfalls notwendig, in den der 23 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 61, S. 431. 24 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 61, S. 432. 25 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 51, S. 335.

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Prozess einer Tragödienaufführung nach Schopenhauer münden soll.26 Und so sprechen auch die Beispiele, die Schopenhauer anführt, gegen eine These vom ultimativen Egoismus tragischer Helden. Claudius ist nicht der größere tragische Held als Hamlet und Iago nicht als Othello. Auch wenn sie, wie nach Schopenhauer alle Menschen, sofern sie nicht Heilige sind, immer auch egoistisch agieren, liegt ihrem Handeln und damit ihrem Leiden vor jeder Bewertung ihrer jeweiligen Motive vielmehr die anthropologische Bedingung der Egozentrizität zu Grunde. Ernst Tugendhat hat diese Differenzierung in seiner anthropologischen Studie Egozentrizitt und Mystik von 2003 expliziert:27 So leben im Gegensatz zu anderen Tieren Menschen durch die Tatsache ihres rational verfassten Selbstbewusstseins stets in einem reflexiven Bezug zu sich selbst, der sich einerseits im Gefühl der organischen Einheit gegenüber einem Außen, vor allem aber, so Tugendhat, im Selbstbezug durch den Gebrauch des Pronomen der 1. Person Singularis manifestiert, zu dem nur der Mensch fähig ist. Menschen können überhaupt nur deshalb etwas und darin sich selbst wichtig nehmen, weil sie sich als bloß einen unter vielen und als irreduzibles Zentrum des Handelns, als „locus of responsibility“28 zu verstehen vermögen. Diese strukturelle Egozentrizität des ich-sagenden Lebewesens Mensch ist nicht nur die Voraussetzung für jede Handlung, sondern, so meine These, bestätigt und konkretisiert sich auch in ihr. Im Handeln bestätigen und konkretisieren wir unsere immer schon angenommene Individualität vor uns selbst als Mitte unseres Selbstseins. Dieser praktische Selbstbezug der bestimmten Individualitt zeigt sich im Handeln auch für andere und konkretisiert damit für sie den Anspruch der jeweiligen Person, Adressat intersubjektiver Anerkennungsakte zu sein, die nicht im mit allen geteilten Verfügen über subjektive Rechte auf-

26 Vgl. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 51, S. 337 f. Vgl. Neymeyr: Ethische Aspekte einer Ästhetik des Tragisch-Erhabenen, S. 268. 27 Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. Frankfurt a.M. 2003. Vgl. auch Volker Gerhardt: Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität. Stuttgart 1999, S. 209 ff. u. S. 414 ff., der den mehrdimensionalen Selbstbezug des Individuums expliziert. 28 Tyler Burge: Reason and the First Person. In: Chrispin Wright u. a. (Hg.): Knowning Our Own Minds. Oxford 1998, S. 243 – 270, hier S. 253. Ähnlich bereits 1971 Dieter Henrich, der das Selbst „vorläufig“ als „einen bewußten Aktivitätspol“ versteht (Dieter Henrich: Selbstsein und Bewusstsein. In: eJournal Philosophie der Psychologie 8 (2007), http://www.jp.philo.at/texte/ HenrichD1.pdf, S. 5).

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gehen. Es ist diese bestimmte Individualität, als die wir ernst genommen und anerkannt zu werden beanspruchen. Der Selbstbezug im Handeln muss nun in seiner Funktion, Individualität in konkreten Problemlagen hervorzubringen, graduell verstanden werden, um Schopenhauers These von der beispiellosen Enthüllungsdynamik des Trauerspiels begründen zu können. Dabei ist die Steigerung des Wollens, das sich im Handeln äußert, nicht notwendigerweise proportional zum Grad der egoistischen Motivation, sondern kann auch in ein Extrem der Selbstaktivierung zugunsten einer anderen Person anschwellen. Die Steigerung der Willensintensität korreliert vielmehr mit dem Grad des Ernst- und Wichtig-Nehmens seiner selbst als dem Ursprung und Zentrum der Aktivität, das im sozialen Kontext, den das Drama nachahmt,29 immer auf Widerstände und Herausforderungen durch andere trifft. Mit dem Begriff einer Gradualität des Ernstes lässt sich behaupten, dass tragisch Handelnde diejenigen sind, die vom extremen Wichtig-Nehmen ihrer Selbst in Bezug auf etwas, das sie als Individuum existentiell auszeichnet, nicht lassen, obwohl sie situativ deswegen in eine Katastrophe steuern und insofern ihr Scheitern selbst hervorbringen. Dieser Wille, sich von den stärksten, den existentiellen Motiven nicht zu entbinden, ist die höchste Konzentration der Individualität, in der sogar eher das Leben als das bestimmte individuelle Selbst-Sein aufgegeben wird, das sich konkret darin manifestiert, den einzig gebliebenen Bruder unbedingt bestatten zu wollen, nur ein gemeinsames Leben mit dem Geliebten zu akzeptieren oder mit aller Vorsicht vermeiden zu wollen, zum Mörder des eigenen Vaters und Mann der eigenen Mutter zu werden. Der Modus, sein individuelles Selbst-Sein auch gegen die von Schopenhauer für die Tragödie diagnostizierten Widerstände wie eigenen Irrtum oder Intrige anderer zu behaupten, also das Wichtig-Nehmen der eigenen Zwecke mit entsprechender Energie und Rationalität umzusetzen, kann als Leidenschaft begriffen werden, die die eigene Willensstärke zur Sicherung dessen, was das Selbst-Sein ausmacht, graduell bis in ein je individuelles Extrem steigert. Ihr Gegenstück ist die willenlose 29 Vgl. Aristoteles, Poetik, 1448a u. 1449b: In der Tragödie „werden Handelnde nachgeahmt“, wobei diese Mimesis durch Schauspieler lebendig vorgeführt wird, und nicht „aus Bericht“ bloß beschrieben wird wie im Epos (Aristoteles’ Poetik wird zitiert nach: Aristoteles: Poetik. Griech. u. dt. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982). Vgl. auch bereits Platon, Politeia, 3. Buch, 394b395a.

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ästhetische Einstellung, in der nach Schopenhauer „das Bewußtseyn vom eigenen Selbst“30 und „die Individualität“31 verschwinden.

III. Leidenschaft und Selbstsein Leidenschaft ist bereits ein Signum der Tragödientheorie der Antike sowie auch der des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gewesen. Wurde an Aristoteles anschließend von der klassizistischen Poetik Leidenschaft als Pathos, und zwar als „schwere[s] Leid“32 beschrieben, dem die Helden durch moira, tyche oder den Einfluss verschiedener Götter ausgeliefert waren, und als rhetorisches Mittel empfohlen, um den Zuschauer durch das Leiden der dem Schicksal unterliegenden Helden zu bewegen,33 hat die Tragödientheorie nach Schiller gegenüber dem Widerfahrnischarakter des Pathos dessen aktives Moment betont.34 Im tragischen Drama, so begründet Hegel die außerordentliche Energie, mit der die Handelnden zur Tat schreiten, hätten „die Individuen mehr oder weniger ihr ganzes Wollen und Sein in ihre zu vollbringende Unternehmung hineingelegt, so daß also das Gelingen oder Mißlingen derselben […] auch das Los des Individuums insoweit bestimmt, als es sich mit dem, was es ins Werk zu setzen gedrungen war, verschlungen hat“.35 Deshalb muss im tragischen Drama „das Interesse der Handlung […] identisch mit den Individuen und schlechthin an sie gebunden“36 sein. Es ist „die durchdringende Individualität, welche alles zu der Einheit, die sie selber ist,

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Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 30, S. 428. Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 30, S. 432. Aristoteles, Poetik, 1452b. Vgl. ebd., 1447a, 1456a u. 1456b. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Werke. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1970 – 1979, Bd. 4, S. 229 – 770, hier S. 406 f. Dazu Ulrich Port: Aby Warburgs „Pathosformeln“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Sonderheft 1999, S. 5 – 42, hier S. 31 f. 34 Zunächst ist Pathos bei Schiller das Leiden, dem der Handelnde durch Freiheit widerstehen muss, um tragisch wirken zu können. Doch zeigt sich bei ihm, Herder, A.W. Schlegel und Schelling bereits, dass dieser Widerstand gegen einen übermächtigen Affekt selbst eine innere Kraft erfordert, die das Leiden noch verschärft. Bei Hegel ist dann diese Kraft, mit der individuelle Ziele verfolgt werden, das Pathos, das die Helden ergreift und antreibt. 35 Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 485 f. [2. u. 3. Herv. v. Verf.]. 36 Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 486.

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zusammenfaßt und diese Individualität im Reden wie im Handeln“37 demonstriert. Aus diesem Pathos einer sich mit ihren substantiellen Zwecken „untrennbar zusammengeschlossen[en]“ Individualität, das „sie zu ihrer Tat treibt“, entsteht die Handlung der Tragödie, sobald es auf ein anderes Pathos trifft, dem es entgegengesetzt ist.38 Wenngleich mit dieser Beschreibung Hegels nicht alle tragischen Konstellationen erfasst sind, bietet seine These einer „durchdringenden Leidenschaft“39 der Individualität, insbesondere in der attischen Tragödie den entscheidenden Hinweis darauf, warum bei Schopenhauer entgegen allen anderen Repräsentationen von Leid das Trauerspiel eine so ausgezeichnete Rolle einnimmt. Es ist nämlich die in interpersonalen Antagonismen sich intensivierende Leidenschaft der Individualitt, die in der tragischen Ironie zu einem Scheitern an sich selbst führt, weil sie sich nicht im Aufstieg der tragischen Bewegung von ihren Zwecken zu distanzieren und diese zu relativieren oder aufzugeben vermag: „das Band zwischen Subjektivität und Inhalt des Wollens bleibt für sie unauflöslich“,40 auch wenn das bedeutet, am eigenen Pathos zugrunde zu gehen. Und indem die tragischen Helden ihr Selbstsein in seiner konkreten Bindung an etwas emphatisch zu erhalten und zu behaupten versuchen, trifft sie, so Schopenhauer, keine moralische, sondern eine metaphysische Schuld, die in der Vereinseitigung ihrer individuellen Existenz und deren Steigerung als substantiell individueller Existenz liegt. Leidenschaft ist die Form, in der diese Schuld potenziert wird, eine, so der Schopenhauer sehr verwandte und ihn bewundernde Friedrich Hebbel, „Vereinzelung, die nicht Maß zu halten weiß“.41 Dadurch aber demonstrieren die Individuen exemplarisch das metaphysische Geschehen der permanenten Autoaggression des Willens, in der der „Quäler und der Gequälte […] Eines“42 sind. Insofern ist es das Trauerspiel, das „als die vollkommenste Abspiegelung

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Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 500. Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 522 u. S. 546. Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 540. Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 546. Friedrich Hebbel: Mein Wort über das Drama. Eine Erwiderung an Professor Heiberg in Copenhagen (1843). In: ders.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. Richard Maria Werner. Berlin 1904, 1. Abt., Bd. 11, S. 3 – 39, hier S. 4. Vgl. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 68, S. 508: „Je heftiger der Wille, desto greller die Erscheinung seines Widerstreits: desto größer also das Leiden.“ 42 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 63, S. 459.

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des menschlichen Daseyns“43 wie nichts sonst „die Nichtigkeit dieses ganzen Daseyns an einem großen und frappanten Beispiel lebhaft veranschaulicht und hiedurch den tiefsten Sinn des Lebens aufschließt“.44 In Schopenhauers Philosophie des Tragischen kann das Leben nur durch seinen Vollzug evident werden lassen, dass seine Kontinuität, seine Entwicklung und seine Selbstbehauptung sich trotz existentieller Risiken und notorischer Unlust oder Langeweile lohnen. Wenn nun die sich in sozialen Kontexten behauptende leidenschaftliche Individualität in ihrer lebenssteigernden Dynamik45 auf Evidenzen dafür abzielt, dass die Verwirklichung je individuellen Selbstseins und die Weltverfassung kompatibel, ja kohärent sind, diese aber und damit das eigene Selbstsein in tragischer Ironie verfehlt, gibt es keine theoretische, politische oder sakrale Instanz, die das unendliche Leid zu rechtfertigen und dadurch zu trösten oder gar aufzuheben in der Lage wäre. Dann bietet auch das alltägliche Lustspiel des Lebens zwischen Schmerz und Langeweile keinen tragfähigen Trost. Das ist die existentielle Pointe der Einsicht in die tragische Verfassung des Lebens, die die nachidealistische Philosophie bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt hat.

IV. Nietzsches Umkehrung Nietzsche schließt explizit an das Projekt Schopenhauers, nach der Rechtfertigung des Lebens zu fragen, an, wenn er es mit juristischer Metaphorik vor den Richterstuhl zwar nicht der Vernunft, aber des „schöpferische[n] Mensch[en]“ ruft. Dieser solle das einmütige Urteil fällen, ob er „im tiefsten Herzen dieses Dasein“ bejahe, denn „nur ein einziges wahrhaftiges Ja!“ spreche das „so schwer verklagte [eigentlich

43 Schopenhauer, Werke (L), P II, §227, S. 387. 44 Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 49, S. 739. 45 Dass Leidenschaft – im Unterschied zur Sucht – als Steigerung der Individualität verstanden werden kann, hat Helmuth Plessner mehrfach betont. Vgl. ders.: Über den Begriff der Leidenschaft (1950). In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Günter Dux. Frankfurt a.M. 1980 – 1985, Bd. 8, S. 66 – 76; ders.: Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft (1968). In: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 338 – 352. Leidenschaft entsteht überhaupt erst aus dem Bewusstsein der Individualität, das dem Menschen „unerschöpfliche Energien erschließt, die kein Maß mehr kennen“ (ebd., S. 342).

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erst von Schopenhauer schwer verklagte] Leben […] frei“.46 Und wie für Schopenhauer ist auch für Nietzsche die Tragödie der Ort, um diese Rechtfertigung auf die Probe zu stellen. Die Verteidigung des Lebens angesichts seiner schmerzvollen Struktur begreift er als den „ethische[n] Untergrund“47 der Tragödie. Gleicht Nietzsches frühe Tragödientheorie in der Geburt der Tragçdie der Schopenhauers in der Diagnose, dass die Tragödie den Exzess des Leidens und seine Ubiquität deutlicher als jede andere symbolische Form offenbare, ist Nietzsches Konsequenz für die Rechtfertigung des Lebenswerts der Schopenhauers radikal entgegengesetzt. Während dieser nämlich insbesondere in der modernen Tragödie die tragischen Helden auf der Klimax ihres Leidens in die Resignation als einer vollkommenen Beruhigung des leidenschaftlichen Wollens gleiten sieht, die der Zuschauer idealiter mitvollzieht, ruft in Nietzsches Theorie der attischen Tragödie die Destruktion leidenschaftlichen Wollens eine ambivalente Erfahrung hervor, die den Zuschauer in das Grauen des dionysischen Strudels, der alle individuellen Formen zerreißt, hineinzieht, ihn aber diese Zerstörungsdynamik als Lust erfahren lässt, die den Schrecken nicht bloß maßvoll temperiert, sondern in eine Daseinsaffirmation radikal umkehrt. Diese komplexe Bewegung vollzieht sich auf der Bühne, deren Geschehen eine Vision des tragischen Chores ist, in den sich der hellenische Zuschauer verwandelt. In der Zerstörung des Helden wird das apollinische Prinzip der „Einhaltung der Grenzen des Individuums“48 gewaltsam außer Kraft gesetzt und die Individualität als Maske des Dionysischen enttarnt, hinter dem sich der grauenhafte Abgrund eines absurden Daseins öffnet. Im Leiden des tragischen Helden, der nur eine apollinische Maske des Dionysos ist, wird die Individuation als „Quell und Urgrund alles Leidens“49 vorgeführt. Die tragische Fabel ist dabei nur der epische Schein Apollons, der sich mit Dionysos in einem formalen „Bruderbund“ verbunden hat, hinter dem das dionysische Leiden an der 46 Nietzsche, UB III SE 3, KSA 1, S. 363. Zur Rechtfertigungsproblematik des Lebens im Zusammenhang mit der Theodizee und ihrer Kritik sowie einer am ästhetischen Zuschauer und Künstler entwickelten Metaphysik der Erfahrung vgl. Michael Pauen: Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler. Berlin 1997; Claus Langbehn: Metaphysik der Erfahrung. Zur Grundlegung einer Philosophie der Rechtfertigung beim frühen Nietzsche. Würzburg 2005. 47 Nietzsche, ST, KSA 1, S. 617 u. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 69. 48 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 40. 49 Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 72.

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„zerrissenen, in Individuen zertrümmerten Welt“ kraftvoll zur Wirkung kommt.50 Doch das Leiden an der Individuation wird durch den Fall des tragischen Helden, der das Individuationsprinzip exemplifiziert, durchbrochen. In dieser Tiefendimension der Tragödie liegt deshalb neben dem Schrecken der Fragilität alles Individuellen, den sie offenbart, ein metaphysischer Trost.51 Dem „Zerbrechen des Individuums“ steht nämlich der „hinter aller Civilisation unvertilgbar“ lebende Satyrchor als Zeichen des unvergänglichen Lebens gegenüber.52 Durch seine Präsenz erst können „Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt“.53 In dieser ästhetisch ermöglichten tragischen Weisheit, „dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“, ist zugleich die ästhetische Rechtfertigung der Welt begründet.54 Denn die Tragödie als Kunst vermag das „Absurde des Daseins“, das erst sie uns vor Augen und Ohren führt, „in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“.55 Wie bei Schopenhauer zeigt sich die Passage über den Gipfel tragischen Leidens auch bei Nietzsche in Form einer radikalen Inversion. Erlöst für jenen die existentielle Schmerzkulmination der Tragödie von ihrer Bedingung, dem Pathos des individuellen Willens, indem sie nicht, wie in Aristoteles’ berühmter Definition, nur bestimmte Affekte durch Stimulation abführt, sondern gewissermaßen ein Generalkathartikon für jeden konativen Impuls bietet, ist es in Nietzsches Theorie gerade die Tragödie, die vor solch einer „buddhaistischen Verneinung des Willens“56 schützt. Und sie schützt vor ihr nicht, indem sie die Einsicht „in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur“ abmildert, sondern indem sie sie vielmehr verschrft und zugleich durch ihren ästhetischen Schein erträglich macht. Nietzsches unüberbietbare These lautet daher, dass die tragische Kunst das

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Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 140 u. GT 10, KSA 1, S. 72. Vgl. Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 59. Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 62 u. GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56; vgl. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57 [Herv. v. Verf.]. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56.

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Leben der Individuen nicht bloß unterstützt oder stimuliert, sondern „rettet“, ja dass sie das Leben überhaupt erst ermçglicht. 57 Die Struktur der Inversion lässt die Tragödie als eine gebremste Transgression erscheinen.58 Die Grenzen des wollenden Individuums werden zwar final überschritten, doch hemmt das tragische Spiel zugleich den von Schopenhauer geforderten Übertritt in den Quietismus und verkehrt ihn in Daseinslust. Das Symbol dafür ist die Wiedergeburt des zerstückelten Dionysos. Diese metaphysische Funktion der Tragödie, epistemische Verschleierung und resignative Konsequenz in einem gewaltigen Zug aufzuheben, entgeht nun aber einem zweifachen Problem nicht, das Nietzsche bereits in der Tragödienschrift gesehen, jedoch nicht gelöst hat. Denn die ästhetische Antwort auf die Frage, wozu man leben solle, steht in einer vom ästhetischen Schein selbst nicht aufzulösenden Spannung zu dieser Frage unter dem Gesichtspunkt der ethisch-politischen Praxis. Wenn die Individuen und ihr leidenschaftlich nach bestimmten Zwecken strebendes Handeln, wie es Hegel beschrieb, bloß Masken des Dionysos sind, der wiederum als Vision des Tragödienchors gedeutet wird, in den sich das Publikum imaginär verwandelt, kann aus der Tragödie keine Brücke in die Praxis führen, die der Zuschauer, wenn er seine identifikatorische Verzückung löst, mit dem Weg aus dem Dionysostheater ins Herz der Polis betritt. Zudem ignoriert die These der Abstandslosigkeit59 gegenüber dem Geschehen auf der Orchestra und Skene, dass das Bewusstsein der Individualität epistemisch für die dionysische Macht der Inversionsbewegung, die die tragische Erfahrung als Erfahrung seiner eigenen Aufhebung konstituiert, vorausgesetzt werden muss. Da Nietzsche dem um seine Individualität besorgten Individuum und dessen zweckgerichtetem Handeln die Würde tragischer Kunst abspricht, kann er nicht überzeugend begründen, wie diese denn dann den einzelnen Menschen, der in der Praxis notwendigerweise als Individuum, nicht als dessen bloßer Schein, agiert, retten können soll, ohne ihn wieder in den Rausch der Individualitätsvergessenheit zu führen. Nietzsche hat 57 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56 [Herv. v. Verf.]. Genau genommen rettet sich das Leben mittels der Kunst im Individuum. Vgl. Nietzsche, NL November 1887März 1888, 11[415], KSA 13, S. 194. 58 Vgl. David E. Wellbery: Form und Funktion der Tragödie nach Nietzsche. In: Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel (Recherchen, Bd. 38). Berlin 2007, S. 199 – 212, hier S. 208 ff. 59 Nietzsche nennt das unbewusste und distanzlose Verwandeln Einzelner in den Chor „das d r a m a t i s c h e Urphänomen“ (Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 61).

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dieses Problem des Heraustretens aus dem Theater, das im Alltäglichen die ästhetische Erfahrung nicht erhalten kann, als „Hamletlehre“60 bezeichnet. Doch Hamlet, den die Einsicht in die Welt, die aus den Fugen ist, vom Handeln distanziert und der mit dem ästhetischen Zauber auch eo ipso die „gelingende […] Teilnahme am Leben“61 verliert, erlöst nur wieder der Eintritt ins Theater vom Ekel der Erkenntnis. Allein „aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums“;62 das Individuum des Ernstes der Praxis jedoch muss sich als konkrete Individualität behaupten, ohne sich von einer Musik aus dem Off berauscht dem Zerbrechen seiner selbst lustvoll hingeben zu können. Das ist die Tragödie der Praxis, dass sie nicht in der Tragödie ästhetischen Spiels aufzuheben ist. Oder: Die Tragödie der Kunst ist, dass die Zeit der Aufführung nicht die Zeit der Praxis außer Kraft setzt, die ihr nach jedem Vorhang mit Notwendigkeit folgt. Die Vitalfunktionen des aufstehenden Zuschauers regen sich, er atmet rascher, „der Zeiger rückt, die Tragödie b e g i n n t … “63 So setzt Nietzsche in der Frçhlichen Wissenschaft das tragische Schicksal des freien Geistes, der sich auf den „ g r o s s e [ n ] E r n s t “64 einlässt, ins Bild. Das mittlere und spätere Werk bezieht die Tragödie insgesamt stärker auf das Handeln des Individuums, gibt dabei aber den Grundgedanken der Lebensrettung durch die Kunst, wie Nietzsche im Herbst 1883 schreibt,65 nicht auf. Doch spielt nun die Distanz zum Dargestellten, die sich nicht in der ästhetischen Darstellung verliert, eine entscheidende Rolle. In der vierten Unzeitgemßen Betrachtung werden ästhetische Erfahrung und Praxis nach dem umgekehrten Modell von Drama und Pause aufeinander bezogen. Die tragische Kunst sei „für die Ruhepausen“ der „wirklichen Kämpfe des Lebens“ da.66 Zwar vereinfache sie diese, aber nur dadurch könne sie den ästhetischen Schein konstituieren, durch den allein man lernen könne, „Lust am Rhythmus der grossen Leidenschaft 60 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. 61 Volker Gerhardt: Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt. In: ders.: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988, S. 46 – 71, hier S. 57. 62 Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 108. 63 Nietzsche, FW 382, KSA 3, S. 637. 64 Nietzsche, FW 382, KSA 3, S. 637. 65 Vgl. Nietzsche, NL Herbst 1883, 16[11], KSA 10, S. 501. 66 Nietzsche, UB IV RW 4, KSA 1, S. 451 f.

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und am Opfer derselben zu haben“.67 Der erste Gedanke eines Zusammenhangs von Tragödie und Praxis ist hier formuliert. Indem die tragische Kunst das Individuum vom Ernst entlastet, es aber zugleich ästhetisch dessen tragische Konsequenzen erleben und verstehen lässt, kann sie selbst eine außergewöhnliche Dynamik freisetzen: Denn die Steigerung der Lebendigkeit, die in der Tragödienschrift als ozeanisches Gefühl beschrieben wurde und die Individualität vergessen machen sollte, versteht Nietzsche später ausdrücklich als Intensivierung vitaler Energien, die den Kraftressourcen des Organismus und eo ipso dem Individuum zugute kommen.68 Die Funktion der Tragödie liegt, so pointiert es Nietzsche am Ende der Gçtzendmmerung, in der Affirmation der Unerschöpflichkeit des Lebens als eines Verhältnisses von Entfaltungswillen und Vernichtungslust.69 Dieses „tragische Pathos“, aufgrund dessen Nietzsche sich als „ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n “ stilisiert, wird als Steigerung der Lebenskraft durch das Aushalten der Wahrheit erfahren, dass das Leben immer auch vernichtet und uns als sinnlos erscheint.70 Doch es ist nicht bloß ein Dulden dieser Wahrheit, sondern ihre höchst affektive Bejahung als amor fati, die Nietzsche für die Lebensführung von freien Geistern einfordert. Dabei wird das Einheitsgefühl in der Vision des Chores ausdrücklich an die individuelle Erfahrung, in der „selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt“,71 zurückgebunden. Ging die Reaktion des Zuschauers in Schopenhauers Theorie mit der des Helden, also mit dem Dargestellten idealerweise einher, erfährt der Zuschauer mit Nietzsche im Bezug zum Verhältnis von leidenschaftlicher Individualität und ihrer tragischen Brechung eine Stärkung, die über das Dargestellte hinausgeht und insofern für die Praxis verfügbar wird. Diese Stärkung ist aber nur aufgrund einer Distanz zur ästhetischen Darstellung der Tragödienhandlung möglich. Denn indem der Mensch nicht vollkommen unterschiedslos im dionysischen Rausch aufgeht, kann er zur tragischen Ironie, in der „das große Individuum“,72 so Nietzsche schon 1871 über Sophokles’ Helden, an seiner eigenen Leidenschaft scheitert, eine reflexive Distanz gewinnen. Sie steht ihm auch außerhalb künstle67 Nietzsche, UB IV RW 4, KSA 1, S. 452. 68 Den Zusammenhang von tragischer Erfahrung und gesteigerter Sthenie sieht Nietzsche allerdings auch schon im Frühwerk, vgl. Nietzsche, DW 1, KSA 1, S. 557 f. 69 Vgl. Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. 70 Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. 71 Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. 72 Nietzsche, NL Sommer 1871-Frühjahr 1872, 16[3], KSA 7, S. 394.

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rischer Institutionen für die Lebenspraxis zur Verfügung, sofern er diese sich nach Analogie des Theaters vor-stellt. Dabei eröffnet diese Vorstellung des Als-ob einen Freiraum, den die individualitätsvergessene Vision des tragischen Choreuten verfehlt. Nietzsche fasst sie in die eindrucksvolle Metapher eines „dritte[n] Auge[s]“, das ins Theater der Welt blickt: Wie! Du bedarfst noch des Theaters! […] Werde klug und suche die Tragödie und Komödie dort, wo sie besser gespielt wird! Wo es interessanter und interessirter zugeht! Ja, es ist nicht ganz leicht, dabei eben nur Zuschauer zu bleiben, – aber lerne es! Und fast in allen Lagen […] hast du dann ein Pförtchen zur Freude und eine Zuflucht, selbst noch, wenn deine eigenen Leidenschaften über dich herfallen. Mache dein Theater-Auge auf, das grosse dritte Auge, welches durch die zwei anderen in die Welt schaut!73

Die entscheidende Einsicht, die in dieser Metapher liegt, betrifft die Erweiterung, die die imaginäre Sehposition ermöglicht. Nicht nur erweitert diese Perspektive des dritten Auges die Bühne um den Betrachter des Welttheaters, von dem schon Platon als einer Tragödie sprach.74 Die Perspektive des Theaterauges zieht diese Bühne noch weiter – nach innen. Dass ein Betrachten des Lebens nach Analogie des Theaters von einem imaginären Punkt aus geschieht, der als diesseits der natürlichen Augen liegend gedacht wird, ermöglicht, dass das Individuum, das sich im tragischen Exzess gegen anderes außerhalb seiner selbst vergeblich behauptet, selbst zum Gegenstand einer distanzierenden Betrachtung werden kann: So gibt es eine Zuflucht „selbst noch, wenn deine eigenen Leidenschaften über dich herfallen“. Ergänzt werden muss dieses Bild aber noch von der Metapher eines gleichsam fliegenden Auges, das Leon Battista Alberti als persönliches Emblem nutzte. Denn das Theaterauge, in dem der Akteur als Schauspieler erscheint, sieht ja nicht nur von innen, sondern gerade auch von außen. Diese exzentrische Positionalität75 ist dann das gewissermaßen äußere Extrem der theatralen Entfernung von sich, wie der metaphorische und distanzierende Blick auf das, was die individuelle Mitte des Selbst steigert, die Leidenschaft also, das innere Extrem darstellt. Was durch diese Distanz des imaginär springenden Theaterauges ermöglicht wird, ist eine Besonnenheit, die zwischen tragischem Handeln und der Reaktion darauf ein Intervall der reflexiven Bewertung einzu73 Nietzsche, M 509, KSA 3, S. 297. 74 Vgl. Platon, Philebos, 50b; Nomoi, 7. Buch, 817b. 75 Plessners Terminus vertieft diese Distanzbildung als anthropologisches Phänomen. Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Berlin/New York 31975, S. 289 ff.

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schieben erlaubt.76 Sie kann zweierlei Konsequenzen haben, in denen eine Distanzierung von den Zwecken gelingt, mit denen sich die Individuen nach Hegel leidenschaftlich „verschlungen“77 haben. „Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig […] in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten.“78 Der Grund dafür ist das Maß des Leidens, das dem existentiellen Verlust entspricht, „und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist“.79 Doch wenn diese tragischen Figuren das Leid des eigenen Scheiterns mit der Kraft des tragischen Gefühls auszuhalten vermögen, kann etwas in Gang kommen, was Nietzsche immer wieder als große Loslçsung oder auch als Selbstberwindung beschreibt. Es ist – im Gegensatz zu Schopenhauers Generalquietiv – einerseits keine plötzliche und andererseits keine totale Trennung von jeglichen Motiven, sondern vielmehr eine langwierige Distanzierung von einigen zentralen Motiven der Individualität, welche in ihrer leidenschaftlichen Verfolgung als unverzichtbar eingeschätzt wurden, sich nach dem zähen Schmerz der Distanzierung aber als nicht mehr notwendig für das individuelle Selbstsein erweisen kçnnen. 80 Wer sich, wie Ajax, gleich umbringt, nachdem er gescheitert ist, kann nicht erproben, ob er auch von seiner bestimmten Individualität, dem Selbstverständnis des unbezwingbaren Helden, ohne Selbstaufgabe Abstand zu nehmen vermag, um z. B. seiner Verantwortung für Frau und Sohn gerecht zu werden oder aber – über sich zu lachen. 76 Vgl. dazu Christoph Menkes ausführliche und dialektisch die nicht auflösbare Spannung von Tragik und Spiel der Tragödie auf den Begriff bringende Analysen, die zeigen, warum zur Erfahrung der Tragödie auch eine reflexive Distanz gehört: Christoph Menke: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel. Frankfurt a.M. 1996, S. 299 f.; ders.: Distanz und Experiment. Zu zwei Aspekten ästhetischer Freiheit bei Nietzsche. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 61 – 77; ders.: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt a.M. 2005, vor allem S. 110 – 157; ders.: Ästhetik der Tragödie. Romantische Perspektiven. In: Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.): Tragödie – Trauerspiel – Spektakel, S. 179 – 198. 77 Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 486. 78 Nietzsche, MA I, 61, KSA 2, S. 78. Joseph Vogl hat – unter anderem mit Beispielen aus der Tragödienliteratur – jüngst ein Plädoyer für das Warten-Können als Zaudern geschrieben: Joseph Vogl: Über das Zaudern. Zürich/Berlin 2007. 79 Nietzsche, MA I, 61, KSA 2, S. 78. 80 Im tragischen Schmerz kann das Abrücken von den auf Bestimmtes („dein höchstes Ziel“: Nietzsche, Z I Leidenschaften, KSA 4, S. 43) gerichteten Leidenschaften als Selbsthemmung des Willens zur Macht verstanden werden, der einer Selbstrücknahme bedarf, um sich wieder neu steigern zu können.

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Neben der allmählichen Loslösung, wie Nietzsche sie für sich etwa in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches beschreibt, ist die Freiheit, über sich lachen zu können, die zweite damit eng verbundene Konsequenz aus der Besonnenheit, die das distanzierende Theater-Auge erlaubt. Sie ist ein Freiheitsgewinn, sich als Selbst gegenber seinen Zwecken zu erhalten. Genau das ist für Hegel das Wesen des Komischen, dass sich das „Subjekt […], wenn es sein Vorhaben verfehlt, […] in freier Heiterkeit aus diesem Untergange erheben kann“.81 Das mag es durch Praktiken der Selbstdistanzierung nach und nach lernen. Woody Allen hat diesen Gedanken in einem unnachahmlichen Aperçu zugespitzt: „Komödie ist Tragödie plus Zeit.“82

V. Sisyphos – Das Leben kommt ins Rollen Nietzsche vermeidet alle eindimensionalen Alternativen zum tragischen Scheitern leidenschaftlicher Individualität. Die tragische Weisheit oder das tragische Pathos wird durch den Distanzierungsgewinn zum Verhältnis von gesteigertem Leben der Individualität und dem ebenfalls leidenschaftlichen Entfernungsverhältnis erweitert, das Nietzsche in anderen Zusammenhängen auch „ P a t h o s d e r D i s t a n z “83 nennt. Diese Spannung zwischen dem Sich-wichtig-Nehmen der Individualität und der reflexiven Freiheit von sich ist selbst ein Pathos, dessen Energie in jedem einzelnen Leben vom Individuum zur Bewältigung existentieller Probleme genutzt werden kann. Es verhält sich darin zu sich selbst als einem Verhältnis von Akteur und Zuschauer seiner selbst, auch wenn das bedeuten kann, dass es erst so seine gesamte Tragödie ermisst und an ihr zerbricht. Kaum jemand hat das Pathos der Besonnenheit und das der Individualität eindrucksvoller zusammengedacht als Albert Camus. Vor dem Hintergrund der bei Schopenhauer und Nietzsche drastisch beschrieben Absurdität des Daseins entwirft er in seinem Essay Der Mythos von Sisyphos eine tragische Ethik einer trotz aller Vergeblichkeit leidenschaftlichen Individualität. Die tragische Figur, die diese Ethik exemplarisch vorführt, ist der griechische Held Sisyphos, der verurteilt ist, in der Unterwelt einen 81 Hegel, Ästh. III, TWA 15, S. 529. 82 So spricht es Lester Barnes (Alan Alda) in Verbrechen und andere Kleinigkeiten aus. 83 Nietzsche, JGB 257, KSA 5, S. 205 u. a.

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schweren Stein immer wieder einen Berg hinaufzuschieben, bevor ihm dieser entgleitet und erneut hinunter rollt: Sisyphos ist der Held des Absurden. Dank seinen Leidenschaften und dank seiner Qual. Seine Verachtung der Götter, sein Haß gegen den Tod und seine Liebe zum Leben haben ihm die unsagbare Marter aufgewogen, bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt. […] Dieser Mythos ist tragisch, weil sein Held bewußt ist.84

Vom Gipfel des Tragischen reißt sich Schopenhauers Held gewaltsam auf das Plateau totaler Gelassenheit, während der dionysische Mensch in Nietzsches Tragödienschrift von der Hçhe des sich „erhebenden Terassenbau[s] des Zuschauerraumes“, der „an ein einsames Gebirgsthal“ erinnert, die tragische Handlung „wie ein leuchtendes Wolkenbild“ erfährt, das den Weg auf die Akropolis verbirgt.85 Camus’ Held Sisyphos hat dagegen ein drittes Auge und nutzt den Moment größter reflexiver Distanz – ohne Resignation, Ekel oder Verzauberung – beim langsamen Abstieg vom Gipfel zum Begreifen seines tragischen Schicksals: Gerade in diesem Augenblick, in dem der Mensch sich wieder seinem Leben zuwendet (ein S i s y p h o s , der zu seinem Stein zurückkehrt), bei dieser leichten Drehung betrachtet er die Reihe unzusammenhängender Taten, die sein Schicksal werden, seine ureigene Schöpfung, die in seiner Erinnerung geeint ist und durch den Tod alsbald besiegelt wird. Überzeugt von dem rein menschlichen Ursprung alles Menschlichen, ist er also immer unterwegs […]. Der Stein rollt wieder.86

Und so dreht sich auch wieder das Rad des Ixion, an das der Mensch laut Schopenhauer gebunden ist.87 Doch auf Bergmassiven des Leides kann es auch innehalten, sich in einer Inversion, einer leichten Drehung, von dem Feuerreifen des individuellen Pathos loslösen und verwandeln in „ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung“88 – einen Neuanfang also, dessen Charakteristik gerade in einer sowohl dem Pathos der Besonnenheit als auch dem der Individualität vorausgehenden Restitution von Lebendigkeit besteht. So wird es möglich, dass statt der Finalität der Resignation, der Melancholie, des Ekels oder des Tods der „Weltverlorene“ „ s e i n e Welt gewinnt“.89 Und mit ihr die Möglichkeiten, seine 84 Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg 1959, S. 99 [Herv. v. Verf.]. 85 Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 59 u. S. 60. 86 Camus: Der Mythos von Sisyphos, S. 101. 87 Vgl. Schopenhauer, Werke (L), W I, § 38, S. 266. 88 Nietzsche, Z I Verwandlungen, KSA 4, S. 31. 89 Nietzsche, Z I Verwandlungen, KSA 4, S. 31.

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Individualität zu verwandeln und leidenschaftlich zu verwirklichen. Ihm eröffnet sich der Blick auf eine kaukasische Topographie. Incipit tragoedia. Incipit commedia.

Sektion V Nietzsche und das Tragische in der Moderne

Ist das Leben tragisch? Überlegungen zu Platon und Nietzsche1 Gnter Figal Für A.M.E.S.

1. Ist das Leben tragisch? Und wenn ja: Wie verhält sich das Leben dann zur Tragödie? Ist diese der Ausdruck einer allgemeinen Lebensstruktur? Oder ist die Tragödie anderes und mehr: nicht nur Ausdruck, sondern erst die Eröffnung eines Zugangs; eine literarische Kunstform also, die erst offenbar macht, was man „das Tragische“ nennt? Dann wäre die tragische Kunst – wie möglicherweise jede Kunst – eine Erkenntnismöglichkeit für das Leben. Entsprechend wäre das Leben nur tragisch nach der Maßgabe der Literatur. Für Letzteres spricht, dass die Rede vom tragischen Leben in der Sprache, die das Wort „tragisch“ geprägt hat, so gut wie nicht vorkommt. tqacij|r ist im Allgemeinen alles, was mit der Tragödie als einem Theaterspiel zu tun hat. So ist die tqacijµ sjeu^ eines Tyrannen, von der in Platons Politeia einmal die Rede ist,2 dessen theatralischer Aufzug. Eine „tragische Antwort“ (tqacijµ !p|jqisir) ist eine Antwort in der vermeintlich pomphaften Sprache des Theaters.3 Der Bedeutung des Adjektivs tqacij|r entsprechend, ist die tqac\d_a ein Theaterspiel und sonst nichts. Dass ein Lebensgeschehnis ohne Bezug auf das Theater „tragisch“ genannt würde, ist auf Griechisch nicht belegt.4 Die Überzeugung, dass das Leben tragisch sein kann oder gar als solches tragisch ist, muss später datiert werden. Sie kommt erst im Zusammenhang jener „Philosophie des Tragischen“ auf, die von Schiller 1 2 3 4

Bernhard Zimmermann danke ich herzlich für klärende Gespräche. Vgl. Platon, Res publica, 577b (Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis Opera. Hg. v. John Burnet. Oxford 1900 – 1907). Platon, Meno, 76e. Vgl. dazu auch Bernhard Zimmermann: Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2000, S. 170 f.

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vorbereitet und von Schelling begründet wurde. Außerdem ist sie nach dem Zeugnis ihres literaturwissenschaftlichen Entdeckers eine deutsche Angelegenheit. Bis heute, so Peter Szondi im Jahr 1961, sei „der Begriff von Tragik und Tragischem im Grunde ein deutscher geblieben“.5 Das „bis heute“ darf getrost aktualisiert werden – es heißt wirklich: bis heute. Wer sich dem Thema zuwendet, kommt nicht umhin, die höchst eigentümliche Wirkungsgeschichte der griechischen Antike in der deutschen Philosophie und Literatur zu studieren. Dennis J. Schmidt hat sie nachgezeichnet und mit dem Titel seines einschlägigen Buches auf den Begriff gebracht: On Germans and other Greeks. 6 Von der Regel, dass erst für die deutschen Philosophen das Leben tragisch sei, gibt es eine Ausnahme. Sie ist bemerkenswert allein schon, weil sie an prominenter Stelle erscheint. Platon, für die kritischen Passagen zur Tragödie in der Politeia hinlänglich bekannt, um nicht zu sagen: berüchtigt, lässt Sokrates einmal von der „umfassenden Tragödie des Lebens“ sprechen.7 Das geschieht im Philebos, jenem Dialog also, der frühere Überzeugungen und Festlegungen des platonischen Sokrates relativiert. Wenn die Struktur des Tragischen in der Tragödie unbefangen und klar erkannt wird, liegt es möglicherweise nahe, auch das Leben überhaupt als tragisch zu verstehen. Dennoch, man sollte Platon oder den platonischen Sokrates nicht für einen Vertreter der „Philosophie des Tragischen“ halten. Der Titel von Dennis J. Schmidts Buch ist nicht umkehrbar: On Greeks and other Germans, das trifft nicht zu. Zur modernen „Philosophie des Tragischen“ bildet Platons Erörterung der Tragödie des Lebens vielmehr ein Gegenstück. Sie bleibt wesentlich und sehr genau an der literarischen Kunstform orientiert. Die Rede von der Tragödie des Lebens muss demnach allein von der Kunstform her verstanden werden. Als Gegenstück zur modernen „Philosophie des Tragischen“ ist Platons Erörterung eng auf diese bezogen. An ihr lassen sich die Voraussetzungen und besonderen Festlegungen der modernen Gedankenentwürfe im erhellenden Kontrast studieren. Das gilt vor allem für diejenige Version einer Philosophie des Tragischen, die Platon am nächsten kommt, weil sie eine Wesensbestimmung des Tragischen nicht, wie in 5 6 7

Peter Szondi: Versuch über das Tragische. In: ders.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack/Henriette Beese. Frankfurt a.M. 1978, Bd. 1, S. 149 – 260, hier S. 152. Dennis J. Schmidt: On Germans and Other Greeks. Tragedy and Ethical Life. Bloomington/Indianapolis 2001. Platon, Philebus, 50b: t0 toO b_ou sulp\s, tqac\d_ô.

Ist das Leben tragisch?

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der „Philosophie des Tragischen“ dominierend, an den tragischen Stoffen, sondern an der Kunstform der Tragödie selbst gewinnen wollte. Nietzsches Geburt der Tragçdie ist im Kern platonisch und antiplatonisch zugleich, so dass Nietzsche von Platon in größter Nähe wie durch einen Abgrund getrennt bleibt. Während Platon nämlich in seiner Orientierung an der literarischen Kunstform wirklich ein Verständnis des tragischen Lebens gewinnt, entwickelt Nietzsche ein Verständnis des Tragischen, das weder der literarischen Kunstform noch der Möglichkeit eines tragischen Lebens gerecht wird. Wer Nietzsches Intention einer Philosophie des Tragischen ernst nehmen und teilen möchte, muss sich also an Platon halten. Die Ambition einer Philosophie des Tragischen führt zur Reflexion der literarischen Kunstform zurück. Diese Reflexion ist kunstphilosophisch, jedoch in viel bescheidenerem Maße, als Nietzsche es dachte. Sie versteht nicht das Leben im Ganzen von der Kunst her und lässt derart die Kunst in einer Grundstruktur des Lebens aufgehen. Vielmehr lebt sie davon, dass die Möglichkeit der Kunst eine besondere und damit eine begrenzte ist. Nur weil das Leben als solches keine Kunst ist, lässt sich von der Kunst her etwas vom Leben erkennen.

2. Zunächst zu Platon. Der Blick in den Text mag nach den gerade geweckten Erwartungen enttäuschend sein. Die Überlegungen zur Tragödie im Philebos sind nicht nur äußerst knapp, sondern erscheinen auf den ersten Blick vielleicht nur als ein – noch dazu wenig erhellendes – Beispiel. Ziel der Erörterung ist nicht die Klärung einer literarischen Kunstform, sondern vielmehr eine Bestimmung der Lust (Bdom^), die deren verschiedene Erscheinungsformen berücksichtigt und sie außerdem in ihrer Zusammengehörigkeit mit der Beeinträchtigung (k}pg) erkennt. Auch geht es nicht um die Tragödie allein, sondern, und dazu noch viel ausführlicher, um die Komödie. An beiden Kunstformen soll gezeigt werden, wie Lust und Beeinträchtigung gemischt sein können, wenn sie ausschließlich in der Seele (xuw^) vorkommen, also nicht derart, dass ein physischer, als Beeinträchtigung empfundener Mangel wie Hunger und Durst mit dem Lustgefühl seiner bevorstehenden, auch im Essen und Trinken noch bevorstehenden Stillung verbunden ist. Lust und Beeinträchtigung in der Seele allein gibt es hingegen, wenn die Beeinträchtigung zugleich Freude macht, wie es beim Zorn auf den Feind, dem

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man Übles gönnt, aber auch beim Liebesverlangen, im Zugleich von Entbehrung und Freude der Fall ist. Mit solchen Erscheinungsformen ist, wenn man den Überlegungen im Philebos folgt, die Mischung des Empfindens im Theater vergleichbar. Die Zuschauer von Tragödien erfreuen sich und weinen zugleich.8 Das scheint offensichtlich, mit einem Satz feststellbar, während das Erleben der Komödie für die Analyse größere Schwierigkeiten macht. Die Zuschauer von Komödien freuen sich, indem sie Missgunst gegenüber den Charakteren des Stücks empfinden. Wer über andere lacht, freut sich an deren Unwissen, an ihrer fehlgehenden Selbsteinschätzung, kurzum an ihrer Schwäche. Freude an dergleichen aber gibt es nur, sofern man die Schwäche der anderen nicht bedauert oder gar zu beheben versucht; dann geschieht den anderen nach eigener Überzeugung zu Recht, was ihnen geschieht, und eben in dieser Bejahung liegt Missgunst und Freude zugleich. Beide, Missgunst und Freude, sind hier so miteinander vermischt, dass sie sich nicht mehr trennen lassen; jedes von ihnen kann nur als das andere sein. So ist es auch bei der Tragödie. Das Mitgefühl mit denen, die Trauriges oder Schreckliches erleben, ist im Theater in sich Freude, ebenso wie die Freude sich als bekümmertes Mitgefühl zeigt; „zugleich“, so heißt es, wie noch einmal betont werden sollte, in Platons Text, freuen die Zuschauer sich und weinen. Die vermeintliche Paradoxie der gemischten Gefühle erklärt sich aus der Situation der Zuschauer – eben daraus, dass sie Zuschauer sind. Freude kann es im trauernden Mitgefühl nur geben, wenn dieses nicht jemandem gilt, dem man durch ein gemeinsames Leben in Liebe, Verwandtschaft, Freundschaft oder Solidarität verbunden ist. Sobald die Verbundenheit, wie nah oder fern sie auch sein mag, gefühlt wird, schaut man nicht mehr zu. Vielmehr sieht man dann, mehr oder weniger deutlich, das Leid eines anderen und lässt sich von ihm angehen. Freude oder Lust kommt hingegen erst ins Spiel, sobald dieses Angehen gebrochen ist. Es geschieht nicht mehr unmittelbar, aber es schwindet auch nicht, derart, dass man das Geschehende nur noch mit kaltem Blick registrierte. Es bleibt eine gleichsam gefilterte, um ihren Lebensernst gebrachte Ausprägung des Mitgefühls zurück, die mit der höheren Neugier des Erkennens verbunden ist. Dieses Erkennen ergibt sich im Zuschauen. Das Zuschauen kommt immer von außen, aber sofern es auf menschliche Dinge bezogen ist, ist es nicht ohne verstehende, darin mitfühlende Bezogenheit. Im Bezug auf menschliche Dinge hat es den Charakter eines 8

Vgl. Platon, Philebus, 47d-48a.

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unbeteiligten Beteiligtseins; es ist ein Mit- und Nachempfinden, das gleichwohl von jeder Verantwortung für das, was geschieht, freigestellt ist. Diese Freistellung ist ohne das eigentümliche Freigestelltsein dessen, was geschieht, nicht zu denken. Was geschieht, ist außerhalb der Lebensund Handlungswelt gestellt. Es ist auf einen Schauplatz gestellt, dessen griechischer Name zugleich der des Theaters ist. h]atqom ist der Platz, an dem etwas gesehen werden soll und an dem etwas zu sehen ist, das sich darin erfüllt, gesehen zu werden. Alles, was auf dem Schauplatz erscheint, ist durch ihn bestimmt; an ihm kann es gezeigt und nur gezeigt werden, an ihm geht es im Sichzeigen auf. Hier ist alles der Anforderung unterstellt, vollständig im Zuschauen offenbar zu werden. Um sich derart erschließen zu können, muss das, was sich zeigen soll, nach den Vorgaben und Bedingungen des Schauplatzes gestaltet sein. Die Frage nach den Möglichkeiten solcher Gestaltung macht einen nicht geringen Teil der philosophischen, durch Aristoteles in der Poetik begründeten Bestimmung der Tragödie aus. Im Sinne der Verständlichkeit dessen, was auf dem Schauplatz des Theaters erscheint, hat Aristoteles für die Tragödie die Notwendigkeit der einheitlichen Geschichte (lOhor), also der einheitlichen Zusammenstellung von Handlungsmomenten (s}stasir pqacl\tym) betont.9 Die Handlung (pq÷nir) müsse vollendet (teke_a) und ganz (fkg) sein, dies sei das Erste und Wichtigste bei der Tragödie.10 Eine Handlung, die nicht in sich abgeschlossen ist, lässt sich nicht im Zuschauen erfahren. Sie ist möglicherweise gar nicht als Handlung ersichtlich, und meist lässt sie sich nicht als besondere Handlung bestimmen; ihr Ende ist offen und ihr Anfang ist ungreifbar, derart, dass er sich im Unbekannten des Vergangenen verliert. Weil das sich im Handeln bekundende Leben normalerweise derart ist, muss es für die Betrachtung eingerichtet, das heißt: aus dem Leben genommen, in eine andere Gegenwärtigkeit transponiert, also dargestellt werden. So erklärt sich die aristotelische Bestimmung der Tragödie als l_lgsir pq\neyr.11 Die theatralische Kunst ahmt keine faktischen Handlungen nach, indem sie diese auf dem Theater noch einmal, aber uneigentlich, in einem Alsob, stattfinden lässt. Sie ist vielmehr zeigend, das heißt: Sie lässt Hand9 Aristoteles, De arte poetica, 1450a32 – 33 (Aristoteles’ Poetik wird zitiert nach: Aristotelis De arte poetica liber. Hg. v. Ingram Bywater. Oxford 1897). 10 Aristoteles, De arte poetica, 1450b22 – 26. Vgl. auch Aristoteles, De arte poetica, 1449b24 – 25. 11 Aristoteles, De arte poetica, 1449b24.

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lungen in Geschlossenheit und Einheitlichkeit sehen. Die Aufgabe der theatralischen Kunst ist deshalb ein Handlungsgefge, das, wie Aristoteles sagt, innere Stimmigkeit, Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit haben muss. Nicht auf ein faktisches Geschehensein, sondern auf die Möglichkeit kommt es dabei an – darauf, dass etwas geschehen könnte.12 Die theatralische Kunst zeigt Handlungsmuster. Sie stellt diese auf den Schauplatz, der als einheitlicher, in sich abgeschlossener die Einheitlichkeit und Geschlossenheit der Handlungsmuster einerseits fordert und ihnen andererseits in ihrer einheitlichen und geschlossenen Zusammenstellung Sichtbarkeit gibt. Auf dem Theater ist das in seiner Einheitlichkeit und Geschlossenheit Verständliche sichtbar. Wären die theatralisch dargestellten Handlungsgefüge nur einheitlich und in sich geschlossen, täuschten sie eine innere Stimmigkeit vor, die es im Bereich des Handelns – als dem Bereich, in dem alles auch anders sein kann13 – nicht gibt. Ohne dass die Unwägbarkeiten des Handelns zur Geltung kommen, geht von der Darstellung des Handelns deshalb auch keine affektive Wirkung aus. Das ist besonders der Fall, wenn etwas wider Erwarten, aber nicht zufällig, sondern schlüssig auseinander hervorgeht.14 Die solcherart in die Darstellung eines Handlungsgefüges eingebauten Ereignisse sind in der tragischen Kunst furchtbar und jammervoll.15 Sie wecken die entsprechenden Affekte der Zuschauer, die es freilich nur im Zusammenhang des freien Bezugs auf dem Schauplatz gibt. Die Affekte gelten nicht dem faktisch Geschehenen oder Geschehenden, sondern nur dem Möglichen; nicht auf die Individualität der agierenden Figuren kommt es an, sondern auf ihre Beschaffenheit, ihre Eigenschaften und auf das, was sie sagen.16 Weil sie keine Individuen betreffen, sind sie auf eigentümliche Weise eingeklammert; in ihrer Bezogenheit auf menschliche Verhaltens- und Redeweisen sind sie in Kraft und doch außer Kraft gesetzt. Sie sind wie gefiltert, oder eben, wie es im Philebos heißt, mit der Lust am Zuschauen gemischt. Die theatralische Erfahrung, wie sie beschrieben wurde, ist nicht an das Theater gebunden. Sie ist vom Theater ablösbar, so dass grundsätzlich jede Situation, die annähernd die Kriterien des Schauplatze, der das 12 Vgl. Aristoteles, De arte poetica, 1451a37 – 38. 13 Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea, 1140b35 – 1141a8 (Aristoteles’ Nikomachische Ethik wird zitiert nach: Aristotelis Ethica Nicomachea. Hg. v. Ingram Bywater. Oxford 1894). 14 Vgl. Aristoteles, De arte poetica, 1452a4 – 11. 15 Vgl. Aristoteles, De arte poetica, 1452a2 – 3. 16 Vgl. Aristoteles, De arte poetica, 1451b8 – 9.

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Theater ist, erfüllt, wie ein Schauplatz erfahren werden kann. Sobald eine Handlungssituation annähernd einheitlich und geschlossen ist und außerdem auf furchtbare und jammervolle Weise die Unwägbarkeit des Handelns, das Schicksalhafte des plötzlichen und dennoch nicht zufällig einbrechenden Unglücks erfahren lässt, kann sie „tragisch“ genannt werden. Wenn das geschieht, wird der Alltag zum Schauplatz; das wirkliche Leben wird zur theatralischen Situation. Weil diese Erfahrung allein aus der Perspektive des Zuschauers möglich ist, kommt sie jedoch nur durch eine bertragung der theatralischen Situation auf das vollzogene und geschehende Leben zustande. Das Tragische gibt es nur in der theatralischen Kunst, denn auch die auf das Leben übertragene Erfahrungssituation des Theaters verliert ihren Kunstcharakter nicht. Wenn das Leben „tragisch“ oder „eine Tragödie“ ist, ist es wie Theater, also von der Kunst her verstanden. Möglich, dass die Kunst als solche unkenntlich wird und man deshalb gedankenlos von der Tragik des Lebens, von einer Lebenssituation als von einer Tragödie spricht.

3. Gegen dieses Ergebnis ließe sich einwenden, dass die theatralische Erfahrung selbst der Bestimmung des Tragischen unterliegt. Sie ist in sich der gemischte Affekt, der wesentlich das Tragische ausmacht. Ohne die vorausgehende affektive Disposition des Tragischen wäre deshalb, wie man denken könnte, die Erfahrung von etwas als tragisch undenkbar. Selbst wenn die Erfahrung von etwas als tragisch an die Vorgabe der literarischen Kunstform gebunden bleibt, müsste die Kunstform dann vom Lebensgeschehen der Erfahrung her verstanden werden. In diesem Sinne wäre das Leben selbst tragisch, und die tragische Kunstform wäre nichts weiter als der Ausdruck eines in sich tragischen Lebens. So hat Nietzsche argumentiert. Nach den einschlägigen Überlegungen in der Geburt der Tragçdie ist die theatralische Erfahrung die intensivste Ausprägung der Kunsterfahrung überhaupt, und diese wiederum ist die intensivste Ausprägung des Lebens. Die theatralische Erfahrung ist ein aus Lust und Beeinträchtigung gemischtes Empfinden, das jedoch nicht in der Brechung des Mitgefühls durch das Zuschauen besteht, sondern ein in sich gebrochenes Zuschauen ist. Das Erlebnis der „wahrhaft aesthetischen Zuschauer[s]“ bestehe darin „zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen“. Der Zuschauer genieße „die volle Lust am Schein“ und zugleich verneine er

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diese Lust und habe „eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt“.17 Aus dieser Erfahrung lasse sich die „Genesis des t r a g i s c h e n M y t h u s “ verständlich machen. Der „räthselhafte Zug“ der Tragödie, nämlich die Lust am „Leiden im Schicksale des Helden“,18 am Hässlichen und Disharmonischen muss, wenn man Nietzsche folgt, als Ausdruck des Ästhetischen und Schöpferischen selbst entschlüsselt werden. Die Lust am Untergang ist eigentlich das Verneinen der bestehenden Kunstgestalt, ohne dass die Kunst als solche dadurch unmöglich geworden wäre. Im Gegenteil, Kunst gibt es nur, weil kein Werk, so erfüllt es auch sein mag, das letzte ist. Jedes Werk kann deshalb, wie Nietzsche denkt, nur bejaht werden, indem man sich über es hinaus sehnt und derart seinen Untergang will; es verdankt sich ja nur dem Umstand, dass andere Werke die Bewunderung nicht festhielten, dass kein Werk letztlich genügt. Im Erlebnis des „wahrhaft aesthetischen Zuschauers“ wird „immer von Neuem wieder das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt“ offenbar, „in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Heraklit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“.19 Dass Nietzsche sich in diesen Überlegungen auf die Analysen des Philebos bezieht, wird sich kaum sicher nachweisen lassen. Immerhin ist die Betonung des „zugleich“ bei der Beschreibung des ästhetischen Erlebens auffallend. Das ästhetische Erleben, wie Nietzsche es versteht, entspricht genau der Mischung von Lust und Beeinträchtigung, nur dass es nicht mehr das Erleben von etwas in theatralischer Darstellung ist. Erlebt wird vielmehr das im künstlerischen Schaffen offenbar werdende Drama der Welt: der Streit zwischen Werden und Vergehen und der festgestellten, in sich gefügten Gestalt, wie Nietzsche ihn bei Heraklit wiederfindet. Dabei wird aus dem aQ~m Heraklits, dem Lebensgeschehen, die „weltbildende Kraft“; aus dem strategischen Brettspiel, mit dem Heraklit wohl das Ordnungsgefüge des k|cor vergleicht, wird der kosmische Sandkasten ewigen Aufbaus und Niedergangs. Trotz ihrer Gewaltsamkeit könnte diese Umdeutung einleuchtend sein, wenn sie denn ihren Zweck erfüllen und die „Genesis des t r a g i s c h e n M y t h u s “ aufklären würde. Doch im Zuge von Nietzsches 17 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 150 f. 18 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. 19 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 153.

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„Metaphysik der Kunst“20 treten die individuellen Kunstwerke zurück, die tragischen Mythen verblassen. Sie sind nurmehr Illustrationen des eigentlich tragischen Geschehens von Welt und Menschenleben, wie es sich als schöpferisches in der Kunst realisiert. Wenn Nietzsches „Metaphysik der Kunst“ überhaupt zutrifft, dann trifft sie auf alle Kunstwerke zu. Alle Kunst ist dann in der Spannung zwischen entgrenzender Lebenskraft und individueller Lebensgestalt, in der Spannung von Geschehen und Bild oder, mit Nietzsche gesagt, in der Mitte des Streits zwischen Dionysischem und Apollinischem zu sehen. Die Tragödie ist dann nur ein Beispiel unter vielen, und noch nicht einmal das beste. Apotheosen künstlerischen Schöpfertums müssten dem, was Nietzsche zeigen will, sehr viel besser entsprechen. Die Sehnsucht nach neuen Gestalten und Bildern hingegen, wie Nietzsche sie im Erleben der „wahrhaft aesthetischen Zuschauer“ entdeckt, hat wenig mit dem Furchtbaren und Jammervollen zu tun, das Aristoteles, die platonische Überlegung im Philebos aufnehmend, als das Charakteristikum der tragischen Mythen versteht. Die eigentümliche Spannung von Betroffenheit und Distanz, wie sie für die Erfahrung des Tragischen wesentlich ist, spielt in Nietzsches Verständnis des Tragischen keine Rolle. Dennoch bleiben die tragischen Mythen, wie Aristoteles sie bestimmt hatte, auch in Nietzsches „Metaphysik der Kunst“ wirksam. Ohne sie könnte die Metaphysik der Welt- und Kunstbildungskraft nicht „tragisch“ genannt werden. Die Version der Philosophie des Tragischen, wie Nietzsche sie entwickelt, verdankt ihren Namen allein der literarischen Kunstform, mit der sie andererseits nur wenig zu tun hat. So ist die Rede vom „Tragischen“ gleichsam heimatlos geworden. Sie hat sich aus ihrem originären Bedeutungszusammenhang gelöst, ohne einen neuen Bedeutungszusammenhang, der hinreichend spezifisch ist, zu finden.

4. Der Grund für die Entgrenzung des Begriffs, für seine das Spezifische opfernde Verallgemeinerung ist bei Nietzsche leicht zu identifizieren. Nietzsche wendet sich von den Kunstwerken ab und dem Schaffensgeschehen zu, das er im Erleben der „wahrhaft aesthetischen Zuschauer“ gespiegelt sieht. Doch wie, wenn nicht von der Werkgestalt aus, soll man das Eigentümliche dieses Schaffensgeschehens bestimmen? Es ist kein 20 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 152.

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unendlicher Vorgang, der in den Werken seinen Ausdruck findet wie die Lebendigkeit eines Menschen in Mimik und Gebärde, im Laut und im gesprochenen Wort, sondern jeweils, mit jedem Werk, „Verwandlung ins Gebilde“,21 Verdinglichung des Lebens ins Werk, das die in der Kunst gesuchte Einsicht allein in der realisierten Werkgestalt findet. Auch die Spiegelung des Schaffensgeschehens in der Erfahrung der Kunst überzeugt in Nietzsches Beschreibung nicht. Kein ernsthafter Betrachter eines Kunstwerks sehnt sich über das Werk, auf das er sich eingelassen hat, hinaus. Zwar ist die Erfahrung der Kunst nicht auf ein Werk beschränkt, derart, dass bei der Betrachtung von einem Werk alle anderen vergessen wären. Aber wenn man das eine ernst nimmt, bieten die anderen keine Erfüllungen, die dieses eine nicht gewährte, sondern sie ordnen sich, als Kontexte oder im Vergleich, dem einen zu. Dass sie andere Erfüllungen bieten, erfährt man allein individuell – dadurch, dass man sich auf jedes von ihnen einlässt und ihm die ganze Aufmerksamkeit schenkt. Die von Nietzsche suggerierte Unruhe der Betrachtung erinnert auf fatale Weise an die Haltung eines Ausstellungsbesuchers, der an den Bildern vorübereilt und keines sieht. Die eigentümliche Erfahrung der Kunst ist nur mit den Kunstwerken zu machen – mit jedem einzeln, und dann ohne Bedingung und Vorbehalt. Sofern das auch für die Tragödie gilt, dürfte es über anzeigende Typisierungen hinaus schwierig sein, das Wesen des Tragischen inhaltlich zu bestimmen. Eine begriffliche Umrisszeichnung, wie Aristoteles sie bietet, wird der Sache angesichts der Verschiedenheit tragischer Stoffe wahrscheinlich am besten gerecht. In jedem Fall aber können Bestimmungen des Tragischen, auch solche, wie sie die deutsche Philosophie des Tragischen bietet, nur von der Kunstform her als sachhaltig gelten. Ob man das Wesen des Tragischen mit Schelling im Streit von Schicksal und Freiheit, mit Hegel im Streit von Individualität und allgemeiner Sittlichkeit oder allgemeiner mit Kierkegaard im Widerspruch zweier gleichberechtigter Gewalten sieht – immer ist die Kennzeichnung des Erfahrenen als „tragisch“ davon abhängig, dass sich die Erfahrung des Konflikts in der Mischung von Betrachtung und Betroffenheit vollzieht. Sonst verflüchtigt der Begriff des Tragischen sich in einer mehr oder

21 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. In: ders.: Gesammelte Werke. Tübingen 1985 – 1995, Bd. 1, S. 116.

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weniger spezifisch gefassten „Dialektik“, für deren „tragischen“ Charakter es keine überzeugenden Kriterien gibt.22 Weil es so ist, lässt sich das Tragische auch nicht an bestimmten Problemkonstellationen festmachen; selbst die großen tragischen Mythen taugen zu einer Wesensbestimmung des Tragischen schlecht. Warum soll der Konflikt zwischen einem harten Despoten und einer fanatischen Überzeugungstäterin, zwischen Kreon und Antigone also, für sich genommen tragisch sein? Nur weil weder der eine noch die andere nachgibt? Dass der Konflikt zwangsläufig und unlösbar sei, ist einfach nicht wahr; etwas mehr praktische Vernunft auf beiden Seiten, und alles sähe anders aus. Nicht der Konflikt wäre also tragisch, sondern allein die Konstellation der Charaktere und ihres Verhaltens, die es freilich als solche nur in diesem Theaterstück gibt. Doch auch die Unlösbarkeit von Konflikten kann kein Kriterium sein. Wenn das Tragische in unlösbaren Konflikten bestünde – wie verhält es sich dann mit dem tragischen Charakter eines Stückes wie den Eumeniden? Dank der Vermittlung und politischen Klugheit Athenes geht die Geschichte bekanntlich gut aus; die heillose Kette der Rache wird durchbrochen, die Polis-Ordnung erweist ihre konfliktlösende Kraft. Sind die Eumeniden deshalb keine Tragödie? Also bleibt, diesseits aller „Dialektik“, zur Bestimmung des Tragischen nur die literarische Kunstform, wie sie in der spezifischen Erfahrung, die diese Kunstform freisetzt, zur Geltung kommt. Die angedeuteten Schwierigkeiten, wie sie mit der „Philosophie des Tragischen“ verbunden sind, können auch als Lehrstück für die Philosophie überhaupt verstanden werden. Vor philosophischen Verallgemeinerungen, die in der Erfahrung von Kunstwerken gewonnen sind, ist allemal zu warnen. Weil Kunstwerke aufschließende Kraft haben, bleiben die Einsichten, die in ihrer Erfahrung gewonnen sind, unzureichend bestimmt, wenn man sie von ihrem Erfahrungsort, zum Beispiel dem Schauplatz, der das Theater ist, ablöst. Die philosophische, also wesentlich voraussetzungslose Aufweisung von etwas hat sich an der Weise, in der dieses gegeben ist, zu orientieren; anders bleibt seine eigentümliche Zugänglichkeit unbedacht und die Philosophie hinter ihrer Aufgabe zurück. Zugänglich aber ist alles nicht zuletzt durch den Ort, an dem es sich zeigen kann. Dafür kann das Theater als Schauplatz der sichtbaren Verständlichkeit ein Modell sein. 22 Zu erinnern ist hier an eine auf Hegel bezogene, aber den Geist seiner Studien insgesamt treffende Formulierung Szondis, nach der „Tragik und Dialektik“ zusammenfallen (Szondi: Versuch über das Tragische, S. 167).

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Deutschen. Nietzsches Antikenprojekt Gnter Zçller Die Griechen sind gewiß nie ü b e r s c h ä t z t worden […]. Nur f a l s c h geschätzt haben wir sie.1

Der Beitrag ermittelt in systematischer Perspektive die Anfänge und Grundlagen von Nietzsches späterer Philosophie des europäischen Nihilismus in seiner frühen Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie und dem Denken der Vorsokratiker. Der erste Teil behandelt die parallele Entwicklung von Tragödie und Philosophie bei den Griechen. Besondere Beachtung erfährt die doppeldeutige Stellung des Sokrates in der Verfallsgeschichte der griechischen Kultur. Der zweite Teil untersucht die morphologische Verwandtschaft von griechischer und moderner Kultur. Im Zentrum steht das normative Konzept der Selbstbegrenzung der Wissenskultur durch Kunst und Philosophie. Der dritte Teil erörtert die spezifische Affinität des klassischen Griechenland und des modernen Deutschland, insbesondere die tragische Deutung der griechischen und der deutschen politischen und kulturellen Geschichte. Den Beschluss des Beitrags bildet ein Nachspiel auf dem Königsplatz in München.

1. „Gedanken über die Griechen“2 Die kritische und produktive Reflexion auf das kulturgeschichtliche Phänomen der Tragödie verlief nur selten ausschließlich in den Bahnen von Poetik, Literaturwissenschaft und literarischer Ästhetik. Zumeist gestaltete sich die Auseinandersetzung mit den überlieferten Werken von Aischylos, Sophokles und Euripides auch oder sogar überwiegend im Horizont der philosophischen Selbstverständigung einer Zeit durch ihre 1 2

Nietzsche, NL Sommer 1875, KSA 8, 6[51], S. 119 f. [Herv. i. Orig.]. Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 11 [i. Orig. Herv.].

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originellsten und kreativsten Exponenten. Neben die im engeren Sinne poetologische Auffassung der attischen Tragödie in der Nachfolge der einschlägigen Erörterungen bei Aristoteles (Poetik, Rhetorik) tritt immer wieder das allgemeinere Nachdenken über das Tragische, das die historisch vorliegenden Texte der drei Tragiker zum Ausgang nimmt für die deskriptive wie normative Bestimmung der Grundverfassung menschlicher Existenz in Sein und Handeln. Zumal in Zeiten kultureller Krisen und politischer Katastrophen diente der produktive Rückgriff auf das dramatische Denken der Tragiker der geistigen Orientierung durch das in die Aktualität transformierte tragische Denken. Markante Stationen dieser Aneignung oder auch Enteignung der attischen Tragödie für die kritische Selbstvergewisserung und Selbstbestimmung in dunkler Zeit sind die tragischen Dichtungen des „Grand Siècle“, insbesondere das im Umfeld von Port-Royal entstandene reife dichterische Werk von Jean Racine, sowie die Adaptationen tragischer Stoffe und die Besinnung auf das tragische Bild vom Menschen im Umkreis der politischen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. In der philologisch-philosophischen Doppeltradition der abendländischen Theorie der Tragödie und des Tragischen nimmt das Frühwerk Nietzsches eine besondere Stellung ein. Als hochbegabter Philologe behält Nietzsche durchweg die Spezifika der attischen Tragödie im Auge – und dies auch und gerade dann, wenn er in produktiver Auseinandersetzung mit den einzelwissenschaftlichen Befunden und im Verlauf von deren gesamtwissenschaftlicher oder vielmehr über- und außerwissenschaftlicher Deutung die Tragödie nicht als literarisches genre wertet und verwertet, sondern als Erkenntnis- und Lebensform („Daseinsform“). Beim frühen Nietzsche entspricht so der relativen Freizügigkeit im philologischen Umgang mit der attischen Tragödie eine vergleichsweise strenge Beachtung von deren Entstehungskontext in der philosophischen Reflexion auf die tragische Sicht von Mensch und Welt. Seine ausführliche Ausgestaltung findet Nietzsches frühes Doppelprojekt der philosophischen Philologie der Tragödie und der philologischen Philosophie des Tragischen im Parallelunternehmen, den Ursprung der Tragödie und den Anfang der Philosophie im „tragischen Zeitalter der Griechen“ zur Darstellung zu bringen. Während die Schrift Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik Anfang 1872 im Druck erscheint, bleibt das im Laufe des folgenden Jahres verfasste Manuskript zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, das Nietzsche wie zuvor schon die Schrift über den apollinisch-dionysischen Doppelursprung und

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Doppelcharakter der Tragödie in Bayreuth vor Richard und Cosima Wagner vorgetragen hatte, unveröffentlicht.3 In beiden Hälften von Nietzsches frühem philologisch-philosophischem Doppelprojekt liegt der Fokus auf der Entstehung und der frühen Entwicklung. Im Hinblick auf die Tragödie gilt Nietzsches primäres Interesse den kulturellen und politischen Ursprungsbedingungen der neuen Form von Dichtung und speziell dem Zusammenspiel von Traum und Rausch, von Gedanke und Musik und von Individuation und Desintegration in der Konstitution des tragischen Kunstwerks. Im Vergleich mit dem durchgängigen Akzent der Darstellung auf der ursprünglichen Prägung der Tragödie durch ihre frühen Vollender, Aischylos und Sophokles, kommt die Fortentwicklung der Tragödie bei Euripides nur als Entwicklung weg von ihrem dionysisch-musikalischen Ursprung und hin zu ihrem Verfall in Wortrhetorik, Sprachdialektik und Vernunfttheater in Betracht. Im Hinblick auf die Philosophie konzentriert sich Nietzsches Blick auf die Anfänge autonomen philosophischen Denkens im griechisch kolonisierten Küstenraum Kleinasiens und Süditaliens unter Einschluss Siziliens und unter Einbezug der Sonderstellung Demokrits als verdrängter Gegenspieler Platons. Der Einschätzung der Tragödienentwicklung nach Sophokles als Vorgang von Degeneration entspricht in Nietzsches Geschichte der frühen griechischen Philosophie die Absetzung der heroischen Gründungsgestalten unabhängigen Denkens vom philosophischen Sektenwesen, das mit Akademie und Peripatos seinen Anfang nimmt. Als Initiator des Abschlusses der frühen Entwicklung von Tragödie wie Philosophie und ihres gemeinsamen Umschwungs vom vor- und frühklassischen Beginn zu klassischer und nachklassischer Überreifung fungiert in beiden frühen Werken die Figur des Sokrates, auf den Nietzsche sowohl den „Selbstmord“4 der Tragödie als auch die Selbstverstümmelung der Philosophie zum intellektuellen Sektierertum zurückführt. Zudem übt Sokrates in beiden frühen Werken eine schwierige und schwebende Doppelrolle aus, bei der sich zu der destruktiven Funktion des Sokrates als Verdränger der frühen Tragödie und Philosophie seine konstruktive Bedeutung als Vertiefer und Fortsetzer der geheimsten Anliegen von Tragödie und Philosophie gesellt. Im Hinblick 3 4

Siehe Nietzsche, Chronik zu Nietzsches Leben, KSA 15, S. 29 u. S. 47 f. sowie Nietzsche, Kommentar, KSA 14, S. 108. Nietzsche, GT 11, KSA 1, S. 75.

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auf den Übergang der Tragödie in den Untergang verweist Nietzsche auf das „Symbol d e s m u s i k t r e i b e n d e n S o k r a t e s “,5 dessen späte Wende zur Kunst und speziell zur Tonkunst von Nietzsche als Ausdruck der Einsicht in die „Grenzen der logischen Natur“6 gewertet wird. Im parallelen Hinblick auf die Geschichte der Philosophie manifestiert sich die zusätzliche positive Rolle der Figur des Sokrates schon in dessen intendiertem Einschluss unter die frühen griechischen Philosophen, die Nietzsche denn auch nicht, wie es seit Diels-Kranz üblich geworden ist, „Vorsokratiker“ tituliert, sondern „vorplatonische Philosophen“ nennt. In Nietzsches ausgearbeiteter Abhandlung Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, die mit der Darstellung des Anaxagoras und seiner Lehre vom nous abbricht, kommt es zwar nicht mehr zum expliziten Einbezug des Sokrates in die Darstellung der Philosophie vor Platon.7 Doch haben sich in Nietzsches Nachlass sowohl Aufzeichnungen erhalten, aus denen die geplante Fortsetzung des philosophiegeschichtlichen Abrisses bis zu Sokrates hervorgeht, als auch ein Baseler Vorlesungsmanuskript,8 das zusätzlich zu Empedokles, Leukipp und Demokrit sowie den Pythagoräern in einem eigenen Kapitel zum Schluss der Darstellung Sokrates behandelt, an dem Nietzsche den plebejischen Ursprung, die demokratische Tendenz und insbesondere und mit ausdrücklicher Bewunderung die Überwindung des Lebensinstinktes durch den frei gewählten Tod hervorhebt.9 Doch die Übereinstimmung zwischen Nietzsches tragischer Literaturgeschichte und seiner praktisch gleichzeitig verfassten und zeitgleich ausgerichteten tragischen Philosophiegeschichte reicht hinaus über Strukturparallelen und analoge Verfallsgeschichten. Die doppelte Erscheinung von Philosophie und Tragödie bei den frühen Griechen führt Nietzsche auf ganz spezifische politisch-kulturelle Umstände zurück, insbesondere auf die kritisch-prüfende Auseinandersetzung mit dem

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Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 111 [Herv. i. Orig.]. Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 96. Sokrates wird aber mitgenannt: Vgl. Nietzsche, PHG 1, KSA 1, S. 801. Siehe den Abdruck der Fortsetzung nach dem Vorlesungsmanuskript „Die vorplatonischen Philosophen“ nach Bd. 19 der Großoktavausgabe (Nietzsche, NL, GOA III/3, S. 189 – 234). Auch in: Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Mit einem Nachwort hg. v. Manfred Riedel. Stuttgart 1994, S. 77 – 123. Siehe Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, S. 114, S. 116 f. u. S. 122 f.

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materiell wie intellektuell florierenden Leben in Ionien und Magna Graecia: [B]ei den Griechen ist der Philosoph nicht zufällig: wenn er im sechsten und fünften Jahrhundert unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint und […] mitten in die Üppigkeit, das Entdeckerglück den Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hinein schreitet, so ahnen wir, daß er als ein edler Warner kommt, zu demselben Zwecke, zu dem in jenen Jahrhunderten die Tragödie geboren wurde […].10

Als Zielpunkt der Kritik des frühen griechischen Denkens an der Kolonisationskultur der Akkumulation von Gütern und Kenntnissen benennt Nietzsche die Begrenzung („Bändigung“) des ziellosen Strebens nach immer mehr Wissen durch das Achthaben auf das Leben und dessen Bedürfnis nach Sinn: [W]er sich mit den Griechen abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfniß ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben – weil sie das, was sie lernten, sogleich leben wollten.11

Der spezifische Bezug, den die philosophische Kritik am Wissen aus der Perspektive des Lebens in der frühgriechischen Philosophie zur Lebensweisheit der frühen attischen Tragödie unterhält, kommt nun zwar im unvollendeten Manuskript über Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen nicht zur Sprache, wohl aber in dem umfangreichen Material aus der gleichen Zeit zur weiteren Ausführung von Nietzsches frühem Doppelprojekt zum Anfang der Philosophie und zum Ursprung der Tragödie bei den Griechen. Als das tertium comparationis von vorplatonischer Philosophie und voreuripideischer Tragödie erweist sich in diesen Texten die Konzeption der „tragische[n] Erkenntniss“,12 in der sich die philosophische Wissenskritik mit der tragischen Einsicht in die Grenzen menschlichen Lebens verschränkt. In der Geburt der Tragçdie fungiert die tragische Erkenntnis als das erforderliche Korrektiv zur „Wissensgier“ des „sokratischen Menschen“,13 für den der Erwerb, die Begründung und die Vermehrung des Wissens samt seiner direkten Umsetzung in das Tun das höchste Le10 11 12 13

Nietzsche, PHG 1, KSA 1, S. 808 f. Nietzsche, PHG 1, KSA 1, S. 807. Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 101 [i. Orig. Herv.]. Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 99 f.

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bensziel und die größte Lust bedeuten. Die „Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntniss“14 wird von Nietzsche als Streben nach der Eroberung der Welt mit theoretischen Mitteln aufgefasst und in eine doppelte Frontstellung gebracht. Zum einen lenkt die von Sokrates initiierte planetarische Wende zu Theorie und Technik, nach Nietzsches Einschätzung, die Menschen – individuell wie kollektiv – von der fortgesetzten praktischen Verfolgung ihrer inkompatiblen egoistischen Ziele ab und sichert so indirekt den Bestand und die Weiterbildung der Menschengattung.15 Zum anderen dringt gerade die radikale und ausschließliche Kultivierung der Wissenschaft „unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr […] Optimismus scheitert.“16 Nietzsche versteht den Fortschritt der Wissenschaft als einen Prozess, der zwar grundsätzlich unendlich ist, der aber immer innerhalb eines begrenzten und damit endlichen Raumes abläuft, über den kein wissenschaftlicher Fortschritt je hinausführt. Ein knappes Jahrhundert vor Nietzsche hatte Kant im Rückgriff auf die logisch-mathematische Unterscheidung von „Schranke“ und „Grenze“ die quantitative Unendlichkeit des Wissens und dessen qualitative Endlichkeit im Hinblick auf die „Grenzbestimmung der reinen Vernunft“ kritisch geschieden und dabei insbesondere die prinzipielle Abgeschlossenheit oder Endlichkeit der philosophischen Erkenntnis von der grundsätzlichen Offenheit oder Unendlichkeit der nicht-philosophischen Wissenschaften unterschieden.17 In Nietzsches Deutung des frühen Griechentums entspricht der kantischen Unterscheidung von unendlich-offenem Erkenntnisfortschritt in der Wissenschaft und endlich-abgeschlossener Wissensbegründung und Wissensbegrenzung in der Philosophie die Dualität im griechischen Wesen von asiatisch beeinflusster, inhaltsreicher ionischer Welt und rein hellenischer, formbetonter dorischer Welt.18 Noch der spätere Gegensatz von attizistischem und 14 15 16 17

Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 102. Vgl. Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 99 f. Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 101. Siehe Kant, Prol., AA IV, S. 350 – 365. Zur Unterscheidung von Schranke und Grenze bei Kant siehe Günter Zöller: In der Begrenzung zeigt sich der Meister. Der metaphysische Minimalismus der Kritik der reinen Vernunft. In: Jiri Chotas u. a. (Hg.): Metaphysik und Kritik. Interpretationen zur „Transzendentalen Dialektik“ der Kritik der reinen Vernunft. Würzburg 2008, S. 17 – 31. 18 Zum ionisch-dorischen Gegensatz siehe die einseitig „apollonisch“ orientierte politische Rezeption Nietzsches bei Gottfried Benn: Dorische Welt. Eine Untersuchung über die Beziehung von Kunst und Macht. In: ders.: Gesammelte

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asianischem Stil in der Redekunst reflektiert diesen apollinisch-dionysischen Urgegensatz der Griechen.

2. „Griechen und Barbaren“19 Die Überlegungen des frühen Nietzsche zum Ursprung der Tragödie und zum Anfang der Philosophie beschränken sich aber nicht auf das tragische Zeitalter der Griechen. Zum innergriechischen Vergleich zwischen tragischer Kunst und tragischer Erkenntnis tritt der Ausgriff auf die künstlerische und philosophische Moderne, die Nietzsche im kritischen Vergleich mit den Vorgängen im antiken Griechenland wahrnimmt und wertet. Dabei dient die Deutung der griechischen Antike dem frühen Nietzsche nicht einfach nur zum Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit. Vielmehr bezieht Nietzsche auch umgekehrt aus den modernen künstlerischen und philosophischen Entwicklungen wesentliche Anregungen für seine Neueinschätzung der frühen Entwicklung von Tragödie und Philosophie. So lenkt Schopenhauers Metaphysik des Willens zum Leben zusammen mit seiner Ethik der Resignation den Blick des frühen Nietzsche auf den dionysischen Hinterund Untergrund des tragischen Dichtens und Denkens sowie auf dessen apollinische Verklärung bei den frühen Griechen. Und Wagners Schriften, Dichtungen und Kompositionen zur Ablösung der Oper und ihrer Genusskultur durch das politisch-pädagogische Musikdrama schärfen Nietzsches Blick für das gesellschaftliche Gesamtkunstwerk der attischen Tragödie. Der moderne Horizont von Nietzsches „Gedanken über die Griechen“ wird vollends deutlich, wenn man die weiteren Projekte und Publikationen in den Blick nimmt, die Nietzsche im gleichen Zeitraum – zu Beginn der 1870er Jahre – in Basel präpariert, in Bayreuth präsentiert und teilweise auch publiziert hat. Dazu gehören die Baseler Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten von Anfang 1872, die Cosima Wagner gewidmeten Fnf Vorreden zu fnf ungeschriebenen Bchern von Anfang 1873, die ersten drei Unzeitgemssen Betrachtungen, die ab April 1873 bis Mitte 1874 entstehen, die Schrift ber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne vom Sommer 1873 – die Nietzsche als einzige Werke in acht Bänden. Hg. v. Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1960 – 1968, Bd. 3, S. 824 – 856. 19 Nietzsche, NL Sommer-Herbst 1873, KSA 7, 29[171], S. 702 [i. Orig. Herv.].

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Arbeit aus diesen Jahren nicht in Bayreuth vorlegt – sowie das vierte Stück der Unzeitgemssen Betrachtungen, „Richard Wagner in Bayreuth“, das erst ab Sommer 1875 entsteht.20 Im Mittelpunkt dieser Arbeiten steht die kritische Auseinandersetzung Nietzsches mit der eigenen Zeit und ihren pädagogischen, politischen, künstlerischen und philosophischen Positionen und Problemstellungen. Die innige Verwobenheit von Nietzsches frühem vielförmigen zeitdiagnostischen und -kritischen Projekt mit dem Doppelprojekt zur antiken Tragödie und Philosophie wird vollends deutlich durch Art und Ausmaß der Vorarbeiten, Varianten und weiteren Ausarbeitungen zu beiden Großprojekten des frühen Nietzsche, die im publizierten Nachlass über tausend Seiten füllen und die immer wieder explizite Zusammenhänge herstellen zwischen den antiken und den modernen Problemstellungen.21 Nietzsche selbst hat allerdings in dem „Versuch einer Selbstkritik“, den er der ansonsten unveränderten Neuausgabe seines Tragödienbuchs, die 1886 unter dem Titel „Die Geburt der Tragödie. Oder Griechenthum und Pessimismus“ erschien,22 voranstellte, an seinem literarischen Erstling bemängelt, „das grandiose g r i e c h i s c h e P r o b l e m […] durch Einmischung der modernsten Dinge“23 verdorben zu haben. Doch gilt diese Selbstkritik nicht dem vergleichenden Blick auf Antike und Moderne als solchem, sondern dem unkritischen Einsatz von „Schopenhauerischen Formeln“, durch die der reife Nietzsche die eigenen frühen „dionysische[n] Ahnungen verdunkelt und verdorben“ sieht.24 Im Wesentlichen bemängelt Nietzsche an der eigenen frühen Schrift den Mangel an geistigliterarischem Stil und die unkritische Nähe zum Denken und Schaffen Schopenhauers und Wagners. Trotz der grundsätzlichen späteren Bedenken Nietzsches enthält die Geburt der Tragçdie mit ihrer politisch-ästhetischen Kontrastierung und Korrelierung von attischer Tragödie und neudeutschem Musikdrama den Ursprungskern von Nietzsches frühgriechisch orientierter kritischer Diagnose und radikaler Therapie des modernen Menschen. Insbesondere aber belegen die umfangreichen Aufzeichnungen aus dem Nachlass der ersten Hälfte der siebziger Jahre, wie eng der frühe Nietzsche die 20 Siehe Nietzsche, Chronik zu Nietzsches Leben, KSA 15, S. 37 – 39, S. 45, S. 48 – 58 u. S. 64 – 68. 21 Siehe Nietzsche, NL Herbst 1869-Ende 1874, KSA 7, S. 9 – 837 sowie NL Winter 1875-September 1875, KSA 8, S. 9 – 270. 22 Siehe Nietzsche, Chronik zu Nietzsches Leben, KSA 15, S. 43. 23 Nietzsche, GT 6, KSA 1, S. 20 [Herv. i. Orig.]. 24 Nietzsche, GT 6, KSA 1, S. 20.

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Zwillingsdeutung von Tragödie und Philosophie bei den Griechen mit den unzeitgemäß verfremdeten zeitgenössischen Betrachtungen verbunden hat. Das tertium comparationis von Griechentum und Moderne bildet dabei die Aszendenz und Deszendenz des „sokratischen“ oder „theoretischen Menschen“, dessen Auftreten Nietzsche ebenso im klassischen Athen wie im Europa des neunzehnten Jahrhunderts beobachtet und verfolgt. Im zentralen zeitdiagnostischen 18. Abschnitt der Geburt der Tragçdie unterscheidet Nietzsche in historischer wie systematischer Perspektive drei Grundtypen von Lebens- und Überlebensgestaltung („Cultur“) unter den Bedingungen der rast- und ziellos treibenden Wirklichkeit („Wille“): die „sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können“, den „Schönheitsschleier der Kunst“ und den „metaphysische[n] Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst“.25 Die drei kulturellen Lebensstrategien bedingen jeweils eine überwiegend „ s o k r a t i s c h e oder k ü n s t l e r i s c h e oder t r a g i s c h e Cultur“, die Nietzsche überdies geschichtlich kennzeichnet als dem Typus nach „eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur.“26 Die Unterscheidung des künstlerisch-hellenischen vom tragisch-buddhistischen Kulturtypus indiziert bereits die sich auftuende Differenz zwischen der kreativen und der resignativen Reaktion auf die tragische Erkenntnis, die nicht nur die Differenz von griechischokzidentaler und indisch-orientaler Leidensbewältigung ausmacht, sondern bereits die sich auftuende Diskrepanz zwischen dem Aktivismus Nietzsches und dem Quietismus Schopenhauers aufscheinen lässt. Im Anschluss an die typologische Klassifikation der drei Grundtypen der Kultur erörtert Nietzsche das dynamische Verhältnis in der historischen Abfolge der Kulturen, insbesondere im Hinblick auf das Ende der sokratischen oder theoretischen Kultur. Für die eigene Zeit diagnostiziert Nietzsche zunächst die unumschränkte Vorherrschaft der Kultur des Wissens, die er dabei nicht auf die Institutionen von Wissenschaft und wissenschaftlicher Technik beschränkt, sondern zugleich als eine politische Kultur der Zuversicht in die streng vernünftige Einrichtung aller Lebensverhältnisse darstellt („Optimismus“).27 Den szientifischen und sozialen Optimismus der Moderne sieht Nietzsche aber für unmittelbar 25 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. 26 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 116 [Herv. i. Orig.]. 27 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 117.

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bedroht – und dies an zwei Fronten: durch die soziale Frage und durch den modernen Relativismus. Unter Verweis auf die Angewiesenheit der „alexandrinischen Cultur“ auf einen von ihren Genüssen ausgeschlossenen „Sclavenstand“ und unter Hinweis auf den Widerspruch einer solchen Institution zum modernen politischen Optimismus („Würde des Menschen“, „Würde der Arbeit“) prognostiziert Nietzsche den drohenden Untergang der sozial ungerechten modernen Welt durch die „Rache“ der Benachteiligten und Ausgeschlossenen.28 Zu dem zu erwartenden Sklavenaufstand in der modernen Gesellschaft tritt als zweite, innere Zersetzungsbewegung der modernen theoretischen Kultur die zunehmende Einsicht in die Relativität vormals für absolut gültig gehaltener Normen und Gesetze, die sich als abhängig von menschlichen Grundbeschaffenheiten und Interessen erweisen. An die Stelle des wissenschaftlichen Optimismus treten so die Absage an die „Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel“ und der Rückzug der Wissenschaft auf die „blosse Erscheinung“.29 Der Zugang zur eigentlichen Wirklichkeit kann deshalb auch nicht mehr rein kognitiv und szientifisch erfolgen, sondern bedarf anderer Mittel. Als Hauptverantwortliche für die Desillusionierung der modernen theoretisch-wissenschaftlichen Kultur nennt Nietzsche Kant und Schopenhauer, deren „Tapferkeit und Weisheit“ der „Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus“ zu verdanken sei.30 In der Geburt der Tragçdie prognostiziert und propagiert Nietzsche als Alternative zu der in Zerfall und Auflösung begriffenen theoretischen Kultur eine primär ästhetische Gegenkultur. Die künstlerische Darstellung der unvermeidlichen Wirklichkeit von Unlust und sogar Untergang im menschlichen Leben soll ineins die ins Mythische gedrängte Wiedergabe des Leidens liefern und dessen scheinhafte „Verklärung“ durch ästhetische Sinnstiftung leisten. Die „Wiedergeburt der Tragödie“31 wiederholt so die von Nietzsche den tragischen Griechen zugeschriebene ästhetische Kosmodizee, für die „das Dasein und die Welt“ einzig als „aesthetisches Phänomen […] gerechtfertigt erscheint“.32

28 29 30 31 32

Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 117. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 118. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 118. Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 111 sowie GT 19, KSA 1, S. 129 [i. Orig. Herv.]. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 152; siehe auch GT 5, KSA 1, S. 47 und GT 9, KSA 1, S. 69.

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In den Aufzeichnungen des Nachlasses tritt neben die spezifisch ästhetische Antwort auf die Existenz- und Sinnkrise des modernen Menschen, die dem engeren Fragehorizont der Geburt der Tragçdie – dem musikalischen Ursprung der attischen Tragödie und ihrer Wiedergeburt durch das Wagnersche Musikdrama – entspricht, eine umfassendere Perspektive auf die moderne Erkenntniskritik und die mit ihr verbundene Selbstkritik der modernen Wissenschaftskultur, die sich dabei als Wiederaufnahme des bis in die griechische Antike zurückreichenden „ewigen Kampf[es] zwischen d e r t h e o r e t i s c h e n und d e r t r a g i s c h e n W e l t b e t r a c h t u n g “33 erweist. Während in der Geburt der Tragçdie recht undifferenziert davon die Rede ist, dass die tragische Kultur Wissenschaft durch Weisheit ersetzt,34 spricht eine einschlägige Aufzeichnung des Nachlasses aus derselben Zeit davon, dass „[i]n der t r a g i s c h e n Weltanschauung […] sich der Wahrheits- und Weisheitstrieb versöhnt“35 hatte. Die Vorstellung, dass die tragische Erkenntnis der Philosophie in der Antike wie in der Moderne das Wissen nicht einfach ignoriert, präzisiert Nietzsche im Nachlass, indem er statt von der Abdikation und Annihilation des Wissens von dessen Subordination unter die Einsichten und Absichten der Philosophie spricht: „Es handelt sich nicht um eine Vernichtung der Wissenschaft, sondern um eine B e h e r r s c h u n g . “36 Mit dieser kompatibilistischen Einschätzung des Verhältnisses von Wissen und Weisheit stimmt auch überein, dass Nietzsche in einer weiteren gleichzeitigen Nachlassaufzeichnung Philosophie und Wissenschaft als intellektuell eng verwandt, ja identisch verfahrend bestimmt und die Trennung der Philosophie von der Wissenschaft explizit bestreitet: „Es giebt k e i n e aparte Philosophie, getrennt von der Wissenschaft : dort w i e h i e r w i r d g l e i c h g e d a c h t . “37 Was die im Rahmen der „theoretischen Cultur“ betriebene Wissenschaft von der „tragischen Cultur“ der Philosophie unterscheidet, sind keine anderen Inhalte, sondern eine andere grundsätzliche Einstellung zur Wissenschaft – und damit auch zu ihren Inhalten. Die radikal veränderte Einstellung zur Wissenschaft betrifft die wertende Einschätzung der 33 34 35 36

Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 111 [Herv. i. Orig.]. Vgl. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 118. Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[110], S. 123. Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[24], S. 424 [Herv. i. Orig.]. 37 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[76], S. 444 [Herv. i. Orig.].

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Wissenschaft im Hinblick auf außerwissenschaftliche Zielsetzungen, die von der Philosophie für die Wissenschaft vorgenommen werden sollen. Dabei fasst Nietzsche in Überstimmung mit dem Sprachgebrauch der Geburt der Tragçdie und im spezifischen Hinblick auf die Bedingungen der Moderne die kreative Aktivität der philosophischen Beherrschung der Wissenschaft als „Kunst“: „ Die B ä n d i g u n g d e r W i s s e n s c h a f t geschieht jetzt n u r n o c h durch die K u n s t . Es handelt sich um W e r t h urtheile über das Wissen und Vielwissen.“38 Während in Nietzsches Einschätzung die antike und die moderne philosophische Weisheit – und darüber hinaus auch die antike und die moderne tragische Sicht auf Mensch und Welt – übereinstimmen in der Absicht auf die Begrenzung des Triebs zur Wissenschaft und ihrer theoretischen Kultur („Bändigung“), folgt die Ausbung der Wissenskontrolle bei den Griechen und bei den Modernen („uns“) einer unterschiedlichen Dynamik. Die griechische Wissenskritik erfolgte, so Nietzsche, früh genug, um die gerade erst im Ansatz begriffene Expansion der Wissenskultur zu verhindern. In der fortgeschrittenen Moderne ist es für solche vorsorgliche Unterbindung zu spät, und es kann nur darum gehen, die bereits erfolgte Expansion der Wissenskultur nachträglich zurückzustemmen: Bei den Griechen ist es die Bändigung zu Gunsten einer künstlerischen Kultur […], die Bändigung, welche ein volles Entfesseltsein v e r h ü t e n will: wir wollen den ganz entfesselten [sc. Wissenstrieb] wieder z u r ü c k b ä n d i g e n . 39

3. „Das rückwärtsschreitende Griechenland“40 Zusätzlich zum allgemeinen Vergleich zwischen griechischer und moderner Wissenskritik umfasst die parallle des anciens et des modernes in Nietzsches veröffentlichtem und nachgelassenem Frühwerk spezifische Vergleichungen und Kontrastierungen zwischen den philosophischen und künstlerischen Entwicklungen im alten Griechenland und im modernen Deutschland. Im Mittelpunkt der von Nietzsche betriebenen 38 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[36], S. 428 [Herv. i. Orig.]. 39 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[34], S. 427 [Herv. i. Orig.]. 40 Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[23], S. 97 [i. Orig. ist der bestimmte Artikel kleingeschrieben].

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strukturellen Annäherung beider Länder und Zeiten steht die von ihm geltend gemachte geheime Affinität des neuen Deutschland zum sechsten vorchristlichen Jahrhundert, dessen künstlerische und philosophische Leistung jetzt zur aktualisierenden Neuerschließung speziell durch die Deutschen anstehen soll: Das Alterthum ist in umgekehrter Zeitfolge entdeckt worden: Renaissance und Römerzeit, Goethe und der Alexandrinismus, es gilt das 6te Jahrhundert aus seinem Grabe zu erlösen.41

Doch konzediert Nietzsche auch die „Singularität“ von Tragödie und tragischer Weltanschauung, die „nur einmal national“ wirksam sein konnten.42 Unter modernen Bedingungen erfolgen die Wissenskritik und die Wiedergeburt der Tragödie abseits der für die antiken Parallelphänomene charakteristischen breiten Beachtung und Einflussnahme. Insbesondere kann die moderne deutsche Kunst-Philosophie nicht nach Art der attischen Tragödie auf die bestehende Religion zurückgreifen und Aufklärung im Medium des Mythos betreiben. Zwar erwägt Nietzsche auch noch im Hinblick auf Kant die „Überwindung des Wissens durch m y t h e n b i l d e n d e K r ä f t e “ und die „[i]nnerste Verwandtschaft der P h i l o s o p h e n und der R e l i g i o n s s t i f t e r “,43 muss sich aber zugleich eingestehen, dass die Restitution von Glaube und Religion durch Kant hinfällig geworden sein dürfte: „Es ist u n w a h r s c h e i n l i c h , daß das [die Schöpfung einer Religion] je wieder geschieht, seit der Kritik der reinen Vernunft.“44 An anderer Stelle heißt es dazu noch lapidarer: „Das E n d e der R e l i g i o n ist da […].“45 Doch die kulturelle Kluft besteht nach Nietzsches Auffassung nicht nur zwischen der griechisch-antiken und der neudeutsch-modernen Philosophie. Auch von Kant, und speziell von dessen Projekt der Substitution des hinfälligen Vernunftwissens durch den neu zu gründenden Vernunftglauben, sieht Nietzsche die eigene Gegenwart und weitere Zukunft streng getrennt: „Sonderbarer Gegensatz , W i s s e n u n d 41 Nietzsche, NL Ende 1870-April 1871, KSA 7, 7[191], S. 212. Siehe auch GT 19, KSA 1, S. 128. 42 Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[62], S. 107 u. NL Winter 1869/70-Frühjahr 1870, KSA 7, 3[71], S. 79. 43 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[62], S. 439 [Herv. i. Orig.]. 44 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[39], S. 431 [Herv. i. Orig.]. 45 Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[30], S. 100 [Herv. i. Orig.].

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G l a u b e n ‘! […] K a n t k a n n t e k e i n e n a n d e r n G e g e n s a t z ! A b e r w i r ! “46 Der neue, frühgriechisch inspirierte Typus von Philosoph und Philosophie – jenseits von Kant und dessen Moraltheologie – ist der „ P h i l o s o p h d e r t r a g i s c h e n E r k e n n t n i ß “, von dessen Wirken Nietzsche voraussagt: Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den w e g g e z o g e n e n B o d e n d e r M e t a p h y s i k t r a g i s c h […]. Er baut an einem neuen L e b e n : der Kunst giebt er ihre Rechte wieder zurück.47

Die Identifikation des Philosophen der Zukunft mit dem Künstler trägt dem Umstand Rechnung, dass mit der Subordination der optimistischen Wissenschaft unter die tragische Weisheit und des Erkennens unter das Leben auch die Wahrheit als ein bloß bedingter Wert hinter dem Schein und der Täuschung zurücktreten muss: „Jetzt kann die Philosophie nur noch das R e l a t i v e aller Erkenntniß betonen und das A n t h r o p o m o r p h i s c h e , so wie die überall herrschende Kraft der I l l u s i o n . “48 Für Nietzsche ist die Philosophie als Kunst das letzte Stadium einer kulturellen Entwicklung, in der auch das Wissen und die Wissenschaft ihren entwicklungsgeschichtlich bedeutenden Platz beibehalten. Dabei steht die zur Kunst gewordene Philosophie im Dienst des Lebens, von dem sich der Glaube wie die Wissenschaft auf je eigene Weise entfremdet hatten: Das Historische und die Naturwissenschaften waren nöthig gegen das Mittelalter: das Wissen gegen den Glauben. Wir richten jetzt gegen das Wissen die K u n s t : Rückkehr zum Leben! Bändigung des Erkenntnißtriebes! Stärkung der moralischen und ästhetischen Instinkte!49

Im Hinblick auf den fälligen Übergang der Philosophie von Wissenschaft und Wahrheit zu Kunst und Schein und im Angesicht der natürlichen Täuschungen des Lebens ist das „heroische“ Bemühen um Wahrhaf-

46 Nietzsche, Orig.]. 47 Nietzsche, Orig.]. 48 Nietzsche, Orig.]. 49 Nietzsche, Orig.].

NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[34], S. 427 [Herv. i. NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[35], S. 427 f. [Herv. i. NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[37], S. 429 [Herv. i. NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[38], S. 430 [Herv. i.

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tigkeit immer „nur sehr relativ möglich“50. Die Einsicht in die nur begrenzte Leistungsfähigkeit des Wahrheitsstrebens in einer Welt der Täuschung und des Scheins und die von dieser Einsicht geleitete Denkund Lebensweise des modernen Philosophen bildet für Nietzsche das unzeitgemäß-zeitgemäße Gegenstück zur tragischen Resignation bei den Griechen. Die verzweifelte Lage der tragisch-modernen Philosophen sieht Nietzsche auch schon bei Kant gegeben, wenn er im Hinblick auf den Bedeutungsverlust der Wissenschaft und die Unmöglichkeit, einen adäquaten Ersatz für die wissenschaftliche Weltorientierung zu finden, vom „ t r a g i s c h e [n] P r o b l e m K a n t s “ spricht.51 Bei der Suche nach einem historischen Vorbild für die anstehende Neugestaltung der Kultur jenseits der überkommenen Alternative von Glaube und Wissen meint Nietzsche speziell im antiken Griechenland fündig zu werden. Die Erfahrungen der Griechen sollen zur Deutung der eigenen Gegenwart und zur Erdeutung einer möglichen Zukunft dienen. Doch anders als bei den Rückgriffen auf das antike Vorbild in früheren Zeiten soll es nicht das klassische, perikleische Athen sein, das zur historischen Orientierung der Gegenwart dient. Für den Parallelfall zur eigenen Zeit und zum eigenen Land geht Nietzsche vor das – zeitweilig – demokratische Athen und seine hochklassischen künstlerischen Leistungen zurück zu den frühklassischen Anfängen und Entwicklungen in der Kunst der Tragödie und der Philosophie. Nach Nietzsches Einschätzung ist der Zugang zum vor- und frühklassischen Griechenland aber nicht nur verstellt durch die einseitige Aufmerksamkeit vorhergehender Renaissancebewegungen auf die spätere Blüte Athens, die es durch die sorgfältige Unterscheidung der älteren von der jüngeren Geschichte der Griechen rückgängig zu machen gilt. Vielmehr waren es, Nietzsche zufolge, die Griechen selbst, die eigene frühere Entdeckungen und Einsichten später wieder aufgegeben und so verloren haben: Es giebt noch sehr viele Möglichkeiten, die noch gar nicht entdeckt sind: weil die Griechen sie nicht entdeckt haben. Andere haben die Griechen e n t d e c k t und später wieder v e r d e c k t . 52

50 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[104], S. 453 [i. Orig. teilw. Herv.]. 51 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[104], S. 453 f. [Herv. i. Orig.]. 52 Nietzsche, NL Sommer 1875, KSA 8, 6[11], S. 101 [Herv. i. Orig.].

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Im Blick auf das „ältere Griechenthum“ aus der Zeit der Anfänge von Tragödie und philosophischem Denken erscheint Nietzsche das spätere, selbstvergessene klassische Athen geradezu als „das jüngere und entartete Griechenthum“.53 Im hermeneutischem Programm des frühen Nietzsche für die Selbstverständigung der Moderne soll der Blick zurück auf das vor- und frühklassische Griechenland den wissenschaftlichen Menschen zurückorientieren auf die vortheoretische Lebenseinstellung der griechischen Tragiker und tragischen Philosophen: An den Griechen können wir lernen, was wir selbst erfahren. Sie deuten uns unsre Erlebnisse. […] Aus sokratischen Menschen sollen wir wieder tragische Menschen werden […].54

Nietzsches Einschätzung, dass die Griechen nur bedingt zum Vorbild für die Schaffung der nachwissenschaftlichen, ästhetisch-künstlerischen oder tragischen Kultur der Moderne taugen, weil sie sich selber um ihre früheren und besten Errungenschaften gebracht haben, findet ihre Bekräftigung in der weitergehenden Überzeugung des frühen Nietzsche vom welthistorischen Versäumnis im klassischen Griechenland und zumal im klassischen Athen. Den Scheidepunkt zwischen der frühen Größe Griechenlands und ihrer verhinderten Fortsetzung sieht Nietzsche in den Perserkriegen. Zwar hält er es für ausgemacht, dass der griechische Sieg auf das in der frühen Tragödie und dem frühen philosophischen Denken Gestalt gewordene Ethos der Griechen zurückgeht: „Das tragische Griechenland besiegte die Perser.“55 Doch konstatiert Nietzsche in den großen künstlerischen und politischen Entwicklungen im Gefolge der siegreich beendeten Perserkriege – zu denken wäre hier in erster Linie an das athenische Bau- und Kunstprogramm unter Perikles sowie an die fortschreitende Demokratisierung der athenischen Rechtspflege und Staatsregierung und auch an die sophistische Bewegung und den Aufschwung der Rhetorik – ein Überhandnehmen der Verstandeskultur auf Kosten der ursprünglichen Vitalität des griechischen Geistes: „Der ,Wille‘ des Hellenischen ist mit dem Perserkrieg gebrochen: der Intellekt wird extravagant und übermüthig.“56 53 Nietzsche, NL Sommer 1875, KSA 8, 6[11], S. 101. 54 Nietzsche, NL Frühjahr-Herbst 1871, KSA 7, 13[2], S. 372. Siehe auch Nietzsche, GT 20, KSA 1, S. 132. 55 Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[94], S. 118. 56 Nietzsche, NL Winter 1869/70-Frühjahr 1870, KSA 7, 2[6], S. 46.

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Dass Nietzsche in diesen Überlegungen aus dem Nachlass nicht nur, wie in der Geburt der Tragçdie, die sokratische Wissenskultur und die durch sie erfolgte Verdrängung der tragischen Weisheit im Blick hat, belegt eine Aufzeichnung aus dem Nachlass, die insbesondere die politische Entwicklung in Athen im Anschluss an die Perserkriege für die griechische Fehlentwicklung verantwortlich macht: „Auch die Athener wären etwas Höheres geworden ohne den politischen Furor seit den Perserkriegen […].“57 Nietzsche denkt hier wohl zum einen an die innenpolitische Demokratisierung des athenischen Staatswesens, die er als proto-moderne Nivellierung von Rang und Vorrechten begreift, und zum anderen an die imperialistische Außenpolitik Athens (attischer Seebund), die binnen weniger Jahrzehnte zum Peloponnesischen Krieg und in dessen Verlauf und Ausgang zum frühen Ende der Größe Athens führen sollte. Der Umstand, dass in den Untergang Athens auch die anderen führenden Poleis verwickelt waren, so dass binnen kurzer Zeit ganz Griechenland unter mazedonische Herrschaft geriet, dürfte Nietzsche auch zu seiner ebenso nüchternen wie ikonoklastischen Gesamteinschätzung des antiken Griechenland geführt haben: „Die Griechen haben ihr Bestes nicht geleistet.“58 Wenn Nietzsche nun im Hinblick auf die abgebrochene Entwicklung Griechenlands über die Wiedergeburt der Tragödie durch das Musikdrama Wagners hinaus die „ d e u t s c h e Wiedergeburt der hellenischen Welt“59 im umfassenden Sinn und im großen Stil ins Auge fasst, dann spiegelt dies die besondere, ambivalente Stellung Deutschlands in der Moderne wieder. Zum einen repräsentiert das wissenschaftlich führende Deutschland der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts für Nietzsche den Triumph der theoretischen Kultur in den Naturwissenschaften und den historischen Wissenschaften bei fortschreitender geistiger Verwahrlosung durch Vermassung: „Wir sehen an dem gegenwärtigen Deutschland, daß die Blüthe der Wissenschaften in einer barbarisirten Kultur möglich ist […].“60 Zum anderen sieht Nietzsche die Möglichkeit, dass Deutschland sich – nicht nur in der Musik und im Musiktheater – aus der alexandrinischen 57 Nietzsche, NL Sommer 1875, KSA 8, 6[34], S. 112; siehe auch NL Sommer 1875, KSA 8, 6[43], S. 114. 58 Nietzsche, NL Sommer 1875, KSA 8, 6[34], S. 111. 59 Nietzsche, NL Februar 1871, KSA 7, 11[1], S. 353 [Herv. i. Orig.]. 60 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[171], S. 472.

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Kultur lösen, sich vom „Gängelband einer romanischen Civilisation“61 befreien und so zu einer Ursprünglichkeit zurückfinden wird, für die es allenfalls im frühen vorsokratischen, tragischen Griechenland ein historisches Beispiel gibt. Als nur halbwegs, allenfalls äußerlich romanisierte Kultur ist Deutschland nach Nietzsches Einschätzung dazu prädestiniert, die Konsequenzen aus der in der Moderne erfahrenen Unzulänglichkeit der sokratischen Kultur zu ziehen: So kommen wir, auf ungeheurem Umweg, wieder auf das n a t ü r l i c h e Verhalten (bei den Griechen) zurück. Es hat sich unmöglich erwiesen, eine Kultur auf das Wissen zu bauen.62

Die anvisierte Deromanisierung und Rehellenisierung Deutschlands wird von Nietzsche als gezielte Wiederaneignung eines frühen Griechentums verstanden, für die Schopenhauers Metaphysik des Tragischen und Wagners tragische Musik den Leitfaden abgeben sollen: „Ich will Schopenhauer[,] Wagner und das ältere Griechenthum zusammenrechnen: es giebt einen Blick auf eine herrliche Cultur.“63 Die metaphysisch-musikalische Rückorientierung der deutschen Kultur diesseits von Paris, Rom und Alexandria findet ihre Fortsetzung in dem von Nietzsche vorhergesagten eigentümlichen imitatorischen Verhältnis Deutschlands zu Griechenland. Nicht nur im gesamteuropäischen Vergleich, sondern auch im Vergleich zur innergriechischen Entwicklung soll die deutsche Entwicklung rückwärtig verlaufen – über den Hellenismus und die Hochklassik zurück zur Frühklassik des tragischen Zeitalters. So mündet die weltgeschichtliche Synthese des frühen Nietzsche in eine Geschichtsphilosophie, die „Deutschland als das rückwärtsschreitende Griechenland“64 sieht. Wie schon bei Nietzsches kritischer Einschätzung der Wende in der Entwicklung des antiken Griechenland selbst kommt auch in der Prognose für den gegenläufigen Verlauf des deutschen Sonder- und Rückweges den Perserkriegen die Funktion eines entscheidenden Einschnitts zu: „wir [sc. die Deutschen] sind in der Periode der Perserkriege angelangt.“65 Und: „Unsere Perserkriege haben kaum begonnen.“66 61 Nietzsche, GT 19, KSA 1, S. 129. 62 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, KSA 7, 19[105], S. 454 [Herv. i. Orig.]. 63 Nietzsche, NL Sommer 1875, KSA 8, 6[14], S. 103. 64 Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[23], S. 97. Siehe auch Nietzsche, GT 19, KSA 1, S. 128. 65 Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, KSA 7, 5[23], S. 97.

Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Deutschen

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Im antiken Griechenland ging es an dem Schnittpunkt, den die Perserkriege darstellten, Nietzsche zufolge, politisch um den Übergang von unabhängigen, wirtschaftlich florierenden Poleis zur Hellas-weiten Herrschaft weniger Stadtstaaten, vor allem Athens, und geistig um den Übergang von der tragischen Weisheit zu der Herrschaft der berechnenden Vernunft. Mit dem Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Frankreich, der Kreation des Kaiserreichs und dem wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwung der Gründerjahre zeichnet sich nun eine parallele Entwicklung im neuen Deutschland ab. In kritischer Gegenhaltung zu diesen zeitgenössischen Entwicklungen sieht und will Nietzsche ein Deutschland, das die Periode seiner Perserkriege nach rückwärts durchläuft und das, statt in den Imperialismus und den Demokratismus voranzugehen, in ein tragisches Zeitalter zurücktritt. Dies ist die eigentliche unzeitgemäße Betrachtung des frühen Nietzsche – über die Philosophie im tragischen Zeitalter der Deutschen.

Finis tragoediae Wer sich ein Bild machen möchte von den antiken Realien für Nietzsches frühe Umwertung aller hellenischen Werte wie von deren retrograder, neopaganer Verwirklichung, kann beides am Münchener Königsplatz tun. In der Glyptothek befindet sich mit dem Skulpturenensemble von den Giebeln des Aphaia-Tempels auf Aegina, die 1811 entdeckt und 1830 an ihren heutigen Standort verbracht wurden, das frühklassische austere Gegenstück zu den hochklassischen, im Vergleich fast schon dekadenten Skulpturen vom Parthenonfries, den „Elgin marbles“. Wenige Jahre nach Nietzsches Aufzeichnungen und Veröffentlichungen zum frühen Griechentum hat der Oxforder Ästhetiker und Ästhetizist Walter Pater den „marbles of Aegina“, wie er sie in Konkurrenz zu den Londoner Stücken nannte, einen panegyrischen Text gewidmet, in dem er die beiden Münchener Figurengruppen, die er in der Rekonstruktion durch den klassizistischen Bildhauer Bertel Thorwaldsen in Augenschein genommen hatte,67 als Höhe- und Schlusspunkt 66 Nietzsche, NL Frühjahr-Herbst 1871, KSA 7, 13[2], S. 372. 67 Zur frühen Kritik an Thorwaldsen Rekonstruktion siehe Adolf Furtwängler: Die Aegineten der Glyptothek König Ludwigs I. nach den Resultaten der neuen Bayerischen Ausgrabung. München 1906, S. 8 f. Zur Entrestaurierung der Ägineten siehe Dieter Ohly: Die Aegineten. Die Marmorskulpturen des Tempels

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einer verlorenen Vorgeschichte plastischen Denkens und Seins bei den Griechen deutet: And we come at last in the marbles of Aegina to a monument, which bears upon it the full expression of this humanism, – to a work, in which the presence of man, realised with complete mastery of hand, and with clear apprehension of how he actually is and moves and looks, is touched with the freshest sense of that new-found, inward value; the energy of worthy passions purifying, the light of his reason shining through, bodily forms and motions, solemnised, attractive, pathetic. We have reached an extant work, real and visible, of an importance out of all proportion to anything actually remaining of earlier art […].68

Das schwierige Erbe von Nietzsches früher Faszination mit den frühen Griechen – ein politisches statt ästhetisches und ein inhumanes statt humanes Erbe – ist ebenfalls am Königsplatz in Augenschein zu nehmen: die pseudo-antiken nationalsozialistischen Parteibauten an der Ostseite des Platzes, in denen die Ironie der Geschichte inzwischen die Hochschule für Musik und Theater, das Zentralinstitut für Kunstgeschichte und das Museum für Abgüsse klassischer Bildwerke untergebracht hat, flankiert von den Sockeln der gesprengten sogenannten Ehrentempel für die sogenannten Märtyrer der „Bewegung“ – ein gespenstisches Gegenensemble, dem die Ägineten in der Glyptothek immerfort ihr enigmatisches, „tragisches“ Lächeln entgegensetzen.

der Aphaia auf Aegina. Ein Katalog der Glyptothek München. 3 Bde. (Bd. 1 und Tafelband 2/3). München 1976 – 2001. 68 Walter Pater: The Marbles of Aegina. In: ders.: Greek Studies. A Series of Essays. London 1910, S. 251 – 268, hier S. 256 f.

Nietzsche und die Wiedergeburt der Tragödie Dennis J. Schmidt Die Geburt der Tragçdie ist ein ,Buch voller Kämpfe‘: innerer wie äußerer, gegen den Sokratismus, das Christentum, Hegel, den Nihilismus, die Dcadence und die zeitgenössische Kultur. Es ist ein von Ungeheuern bevölkertes, an unvereinbaren Unterschieden, Feinden, Fragen, Dissonanzen und Streitigkeiten reiches Werk. Darüber hinaus sollte nicht übersehen werden, dass dieses Buch auch zum Austragungsort vieler Kämpfe werden sollte, die Nietzsche mit sich selbst auszufechten hatte. Nirgends kommt dies deutlicher zum Ausdruck als im „Versuch einer Selbstkritik“, von Nietzsche als Vorwort der zweiten Auflage konzipiert, die vierzehn Jahre nach der Originalausgabe veröffentlicht wurde. Vieles hatte sich für Nietzsche in jenen Jahren seit der Veröffentlichung geändert (insbesondere sein Verhältnis zu Wagner – ihm allein war die Ursprungsfassung des Werkes gewidmet), und das neue Vorwort ist bemüht, diesen Veränderungen Rechnung zu tragen. Doch ist es nicht, zumindest nicht auf den ersten Blick, ein Vorwort, das allein darauf aus ist, neue Leser für sich zu gewinnen. Ganz im Gegenteil: Die erste unbedarfte Lektüre hinterlässt den Eindruck, Nietzsche spreche offen und sarkastisch über all das, was in seiner Perspektive das offenkundige Scheitern des Unternehmens der Geburt der Tragçdie ausmacht. Aber ein brillantes Vorwort ist es, voll von Doppeldeutigkeiten und Bedeutungsebenen der verschiedensten Art. Nietzsche nennt das Werk, das er nun zum wiederholten Mal einleitet, ,fragwürdig‘ ,wunderlich‘, ,schlecht zugänglich‘, ,verwegen‘ und ,unmöglich‘.1 Wenn auch diese Worte auf Nietzsches spätere Vorbehalte gegenüber dem Werk verweisen, so muss doch gesagt werden, dass sie auch der Exposition der Themen dienen, die das Werk behandeln wird. Anders ausgedrückt: Wir haben ein Werk vor uns, das all das Fragwürdige, Wunderliche, schlecht Zugängliche, Verwegene und Übersetzt von Korbinian Golla (Freiburg) und Philipp Schwab (Freiburg). Eine frühere und umfassendere Fassung dieses Beitrags ist in englischer Sprache erschienen in: Dennis J. Schmidt: On Germans and Other Greeks. Tragedy and Ethical Life. Bloomington 2001. 1 Vgl. Nietzsche, GT Versuch 1 f., KSA 1, S. 11 – 14.

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Unmögliche des menschlichen Lebens in den Blick nimmt. Dies ist eine der Ebenen, auf denen dieser „Versuch einer Selbstkritik“ sich des folgenden Werkes bemächtigt und es zugleich verwirft. Trotz der Unterschiede in Nietzsches Denken, die sich in der Zwischenzeit aufgetan haben mögen, dient das neue Vorwort in mannigfacher Weise dazu, dieselben Themen und Strategien, die das Werk bereits dargelegt hatte, nunmehr in neues Licht getaucht, hervorzuheben und abermals zu bekräftigen. Doch gibt es einen Unterschied, den Nietzsche nicht überdecken kann; und wenn Nietzsche diesen auch in seinem Vorwort vermerkt, so geschieht dies in vollem Bewusstsein, dass eben dies der Punkt ist, an dem das selbst erklärte Ziel des Buches verfehlt werden musste. Der Absatz, der diesen Makel benennt, ist von Trauer und Schmerz getragen: „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele‘ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!“2 Es gibt womöglich kein anderes Wort, das die Leistung der Geburt der Tragçdie so prägnant zu verdammen vermöchte wie dieses, nichts, was derart ins Herz dessen treffen könnte, was das Buch sich als Aufgabe gestellt hatte. Was diesen Abschnitt zu einer derart grundsätzlichen Kritik an der Geburt der Tragçdie macht und was bei der Lektüre bedacht werden muss, ist der Umstand, dass eine der beherrschenden Forderungen der Geburt der Tragçdie darin besteht, dass die Art des Denkens dem Inhalt der Gedanken entsprechen müsse. In anderen Worten: Denken hat man sich als vollzogen vorzustellen, es lässt sich nicht durch bloße Sätze übertragen. Die Auffassung, der wir uns gleich noch ausführlicher zuwenden werden, ist die folgende: Die Sprache der Metaphysik – eine begriffliche und propositionale Sprache – kann schlechterdings nicht jener abgründigen Wahrheit entsprechen, die sich im Kunstwerk offenbart. *** Der „Versuch einer Selbstkritik“ ist nicht der einzige Ort geblieben, an dem Nietzsche den Text der Geburt der Tragçdie modifiziert hat, als sich ihm durch einen Wiederabdruck diese Gelegenheit bot. Bisweilen hat man den Eindruck, Nietzsche habe niemals einen Weg gefunden, sich von den Träumen dieses Textes zu befreien, und unternähme deshalb fortwährend den Versuch, ihn zu justieren, zu kritisieren und zu loben. 2

Nietzsche, GT Versuch 3, KSA 1, S. 15.

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Für die Ausgabe des Jahres 1878 ändert er ihn nur wenig; allerdings sind die Änderungen signifikant: Der Titel lautet nicht mehr Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik, sondern Die Geburt der Tragçdie. Oder: Griechenthum und Pessimismus. Diese Verschiebung – lediglich im Titel – ist insofern bedeutsam, als sie nicht im Geringsten eine Veränderung des Inhalts bedeutet, sehr wohl aber für Nietzsche eine Art Sinneswandel zum Ausdruck bringt. Die frühen Träume, die den Text antreiben – inspiriert von Wagner, und nicht von Sophokles oder Homer –, hatten sich in den folgenden Jahren überlebt; Nietzsches Entschluss, den Titel zu verändern, weist auf sein verändertes Verständnis jenes Brennpunktes hin, in dem das Anliegen der Tragödie sich konzentriert. Man könnte dies auch in Bezug auf den Namen einer Person formulieren: Die Bewegung geht weg von Wagner. Doch war Wagner der allein intendierte Leser der Geburt der Tragçdie und sollte es auch für immer bleiben. Das Vorwort des Werkes wird sich immer nur an Wagner richten. Es wird jeden anderen Leser beim Öffnen des Buches immer wieder verblüffen, dass es sich eigentlich nur an eine einzige Person richtet. Als würde Aristoteles bei der Abfassung seiner Poetik ausschließlich „Sophokles und das Wesen der Dichtung“ behandeln (um Heideggers Worte zu „Hölderlin und das Wesen der Dichtung“ zu paraphrasieren) – so würde sich auch Nietzsche zum Ziel nehmen, eine Poetik zu verfassen, die in etwa „Wagner und das Wesen des Tragischen“ zum Inhalt hätte. Wagner wird den Text immer heimsuchen und als eine verschwiegene und doch bemerkenswerte Hintergrundnote zu Nietzsches Gedanken über die griechische Tragödie stehen bleiben, die im Buch entfaltet werden. Und mit der Person Wagners wird Deutschland zu einem wichtigen Motiv in der Diskussion der Tragödie: Es ist ein „ernsthaft deutsche[s] Problem“, mit dem „wir zu thun haben“.3 Während die Person Wagners nur in den ersten sechs Jahren der Existenz des ursprünglichen Textes noch positiv in Erscheinung tritt, wird die deutsche Frage nie mehr aus dem Blick treten. Und wie Nietzsches Beziehung zu Wagner über die Jahre hinweg Schiffbruch erleidet, so werden sich auch seine auf Deutschland gerichteten Hoffnungen zerschlagen: „[I]nzwischen lernte ich hoffnungslos und schonungslos genug von diesem ,deutschen Wesen‘ denken“.4 Dennoch, der Text beginnt in Griechenland. Um es präziser zu sagen: mit den griechischen Göttern, und zwar jenen, die einem jeden von 3 4

Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 24. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 20.

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uns innewohnen, Apollo und Dionysos. Der erste Satz enthält bereits das meiste von dem, was später im Buch entfaltet werden wird: Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n gebunden ist: in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt.5

Dies ist ein bemerkenswerter Satz, behauptet er doch, die Errungenschaft des Kunstwerks könne nicht anhand „logisch[er] Einsicht“ oder auf irgendeine andere Weise logischen Denkens, das der Bewegungsform des Begriffs folgt, erfasst werden. Vielmehr kann das Wissen, das sich in einem Werk der Kunst erschließe – die Nietzsche als die „höchste[n] Aufgabe“ und „eigentlich metaphysische[n] Thätigkeit dieses Lebens“6 bestimmt – nur vermittels unmittelbarer „Anschauung“ oder eines „Sehens“ gewonnen werden. In anderen Worten: was ,gewusst‘ werden muss, wenn das Kunstwerk überhaupt ,gewusst‘ werden kann, ist ein Wissen, das nur veranschaulicht und vollzogen werden kann. Es kann nicht durch Worte erschlossen werden. Gegen Ende dieser Geburt der Tragçdie wird Nietzsche darauf indirekt zurückkommen, wenn er schreibt: Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Prozesse bei der Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden werden […].7

Von Anfang an warnt Nietzsche seine Leser, dass es eines Neuen bedarf, damit dieses Werk seinen eigenen Erkenntnissen gerecht werde. Von Anfang an ist man gewarnt, dass das, was Nietzsche selbst offenlegen muss, am Ende von der unmittelbaren Gewissheit eines intuitiven Wissens zu sein hat. Doch beschränkt sich dieser erste Satz nicht auf derartige Hinweise auf seine selbstauferlegten Anforderungen. Die Forderung, dass bei der Betrachtung des Kunstwerkes unmittelbare Gewissheit gewonnen werden müsse, – diese höchste Aufgabe des Lebens – ist auf eine bestimmte Form des Wissen ausgerichtet, nämlich auf das Wissen darum, dass die 5 6 7

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25. Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 24. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 150 f.

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Entwicklung der Kunst an die Duplizität der Eigenschaften zweier griechischer Götter gebunden sei: Apollo und Dionysos. An diesem Punkt beginnt sich alles zu drehen, da wir es ja nicht nur mit den Eigenschaften beider Götter und der Beziehung, die sich daraus ergibt, zu tun haben, sondern auch – und vielleicht noch in erhöhtem Maße – mit ihren entsprechenden „Duplizitäten“. Hier ist nichts mehr eindeutig, nichts ist, was es zu sein scheint: Zwei gegensätzliche Gottheiten in einem spannungsreichen Verhältnis, und eine jede tritt in dieses Verhältnis voller Duplizität ein. Bevor Nietzsche noch diesen ersten Satz beendet hat, geht er dazu über, den spezifischen Charakter dieser Schwierigkeit zumindest provisorisch zu erhellen, die, wie es heißt, im Mittelpunkt der Arbeit des Kunstwerkes stehe. Er tut dies, indem er die Duplizität dieser beiden göttlichen Grundeigenschaften ebenso wie die Duplizität ihres Verhältnisses mit der Dualitt der Geschlechter vergleicht. Es muss nicht betont werden, dass Nietzsches Sicht des Verhältnisses von Mann und Frau – nämlich dass es ein fortwährender Kampf ist, der nur durch „periodisch eintretende Versöhnung“8 unterbrochen wird – ins Auge sticht, insbesondere dann, wenn man es nicht zulässt, dass dieses Verhältnis durch die folgende Behandlung des Apollinischen und Dionysischen rekonfiguriert wird. Anders formuliert: Nietzsche führt eine Analogie zwischen der sexuellen Differenz und den differierenden Grundzügen, die das menschliche Wesen bestimmen, ein; diese Analogie sollte aber nicht statisch behandelt werden. An dieser Stelle möchte Nietzsche nur die Wurzeln der Schöpfungskraft in der Kunst – das Apollinische und das Dionysische – damit vergleichen, dass die Fortpflanzung die Dualität der Geschlechter erfordert. Durch die Einführung dieser Analogie erotisiert er das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem. Die Wurzeln der Kunst und der erotische Trieb werden miteinander verbunden. Am Ende wird die erotische Qualität dieser Beziehung sich als Grund dafür erweisen, dass das Dionysische in diesem Verhältnis gewissermaßen privilegiert ist; schließlich ist es derjenige Trieb, der aufs engste mit dem Erotischen verknüpft ist. Obwohl beide in diesem Verhältnis gleichberechtigt sind, muss seine Qualität in Begriffen beschrieben werden, die sich deutlicher vom Dionysischen her schreiben. Nietzsche wird diesen Punkt später aufgreifen und das Privileg ausdrücklich dem Dionysischen zuweisen. Allerdings wird Nietzsche bei seiner anschließenden Analyse übersehen, dass man die Erotisierung der Beziehung von Apollinischem und Dionysischem, zumindest bis zu einem gewissen Grad, als homo8

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25.

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erotisch begreifen muss: Denn trotz allem sind beide männliche Gottheiten; und die Analogie zur Geschlechterdualität mag diesen Punkt verkomplizieren, darf aber keinesfalls die erotische Qualität des entworfenen Verhältnisses verdunkeln. Nietzsche erwähnt dies nicht. In der Tat aber werden die Unterschiede zwischen den beiden Gottheiten deutlich artikuliert; überdies zeigt er an, dass man in ihnen einen „ungeheure[n] Gegensatz“ erblicken müsse.9 Die apollinischen und die dionysischen Triebe, die in einem notwendigen und erotischen Verhältnis zueinander stehen, werden der Ursprung der ersten – und wichtigsten – jener vielen Ungeheuer sein, die diesen Text bevölkern. Es ist Nietzsches höchstes Ziel, ihre instabile und flüchtige Natur zu verstehen, und dieses Verhältnis wird schließlich auch den Schlüssel für die Beantwortung seiner übergreifenden Frage liefern: „Wozu – griechische Kunst?…“10 Doch wird die Darstellung der Dynamik, die die beiden ausmacht, in den ersten vier Abschnitten des Textes aufgeschoben. Als erstes wird Nietzsche eine gesonderte Untersuchung dieser beiden Triebe vornehmen, die nicht nur den Menschen, sondern auch die Natur als ganze bestimmen. Dabei weiß Nietzsche wohl, dass beide – zumindest für uns – notwendigerweise nie völlig voneinander getrennt werden können. Deshalb legt er die spezifischen Wesenszüge des Apollinischen und des Dionysischen dar, indem er fortwährend zwischen den jeweiligen Merkmalen hin- und herwechselt. Greift man diese Begriffe isoliert auf, sollte man sich aber in jedem Fall vor Augen halten, dass sie letzten Endes doch nicht getrennt voneinander existieren, aber auch, dass sich keiner von ihnen unmittelbar als er selbst zeigt. Jeder wird zuallererst durch seine Wirkungen erkannt: daher tritt das Apollinische in Trumen in Erscheinung, während das Dionysische in Rauschzustnden gefühlt wird. Und diese werden wiederum als „getrennte[n] Kunstwelten“ begriffen.11 Das Apollinische wird entfaltet in Bezug auf die Träume des Schlafenden: „Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poësie.“12 Das Argument ist einfach und überzeugend: Ist der Geist allein und bei sich selbst und ist die Welt ausgeschlossen bis auf die Welt, die das Selbst sich 9 10 11 12

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25. Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 12. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26.

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selbst bestimmt – in anderen Worten: im Schlaf –, dann ist der Geist frei, sich dem zuzuwenden, worin er sich selbst am nächsten ist, seiner innigsten Form, und wenn er dies tut, dann träumt er. In diesem Moment, wenn wir am vertrautesten mit uns selbst sind und in reinster Form individualisiert, erzeugen wir lichtvolle Bilder, in denen wir uns mit uns selbst unterhalten. Träume sind das Gespräch der Seele mit sich selbst; ihre Sprache ist das Licht und die durch es entworfenen Bilder. Das ist der Grund, weshalb Nietzsche von Apollo als „Lichtgottheit“13 spricht. Alles jenseits dieses Reichs des Lichts ist epiphänomenal, im Traum wird das Wesentliche des Selbst auf die unmittelbarste Weise erlebt. Es ist eben diese Intensivierung des Selbst im Traum, diese Intimität des Selbst mit sich in der Traumwelt, die Nietzsche dazu führt, die Grundtendenz des Apollinischen als Ausdruck des Prinzips der Individuation auszulegen. Es handelt sich um jene Tendenz, in der einer der elementarsten Lebenstriebe das Selbst mit sich einschließt und es dabei voll und ganz unverwechselbar macht. Meine Träume gehören mir ganz allein, und wenn ich sie in meinem bewusst erlebten Leben auch als Rätsel empfinde, so müssen sie doch als unüberwindbare Schranke für die Erfassbarkeit eines jeden anderen anerkannt werden. Mein eigenes Verhältnis zu meinen Träumen in meinem bewusst erlebten Leben ist bestenfalls dürftig, doch meine Fähigkeit, meine Träume einem anderen zu vermitteln, ist durch einen drastischen Defekt gekennzeichnet. Anders ausgedrückt bin ich in und durch mein Traumleben individualisiert. Das Dionysische aber ist das polare Gegenteil dieser Tendenz; und deshalb ist es der Zusammenbruch des Prinzips der Individuation, durch den wir den Charakter des Dionysischen zum ersten Mal flüchtig erfassen können. Während das Apollinische in Analogie zum Traum dargestellt wird, drückt sich die innige Erfahrung des Dionysischen in der Analogie zum Rausch aus. Nietzsche gibt zwei Beispiele dafür an, was er unter einem solchen Rausch versteht –, beide verhältnismäßig zahm im Vergleich zu jenen Vorstellungen des Dionysischen, die sich anschließen: den Einfluss berauschender Getränke und das machtvolle Gefühl des heraufziehenden Frühlings, das die gesamte Natur erfüllt. Beides sind Illustrationen von Erfahrungen, bei denen sich alles Subjektive schließlich in völliger Selbstvergessenheit verliert. Während es sich beim Traum um die Form handelt, in der das Selbst mit sich selbst als Selbst kommuniziert, ist der Rausch die Erfahrung, bei der sich das Selbst für sich selbst verflüchtigt. Im Rausch und in der Ekstase erfahren wir die Fähigkeit alles 13 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27.

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Lebendigen, sich selbst anders zu werden. Man könnte versucht sein zu sagen, dass die Erfahrung des Dionysischen derjenigen ähnele, in der man den Traum eines anderen Menschen träumt – in einer solchen Erfahrung ist man zur selben Zeit innig bei sich selbst und sich doch völlig fremd. Das Beispiel sexueller Ekstase – bei der das Fleisch nicht länger das voneinander Trennende, sondern vielmehr den Weg der Vereinigung bildet – ist die vielleicht fesselndste Veranschaulichung, die Nietzsche für das Dionysische anführt. Doch sollte man den entscheidenden Punkt nicht mit der Art und Weise verwechseln, wie er veranschaulicht wird. Der entscheidende Punkt besteht nämlich darin, dass der dionysische Trieb – benannt nach dem Weingott – die Tendenz alles Lebenden bezeichnet, sich selbst zu verlieren, d. h. anders zu werden, als es ist, und sich selbst zu vergessen: Dionysos verwischt die Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem, Menschlichem und Tierischem, dem Dies- und dem Jenseitigen. Er bringt Dinge zusammen, die zuvor getrennt, abgesondert und voneinander unabhängig gewesen sind. Sein Einbruch ins Leben bedeutet einen Umsturz der Ordnung. Und in eben dieser Hinsicht erweisen sich das Dionysische und das Apollinische als polare Gegensätze. Im Dionysischen werden Grenzen überschritten, Ausschweifung ist die Regel; im Apollinischen werden Grenzen gezogen, und Ordnung ist die Regel. Dennoch erreichen beide nicht einfach oder ohne Duplizität ihr Ziel; ihre jeweilige Logik – Begehren und Rausch einerseits, Abbild und Traum andererseits – wirkt, jede auf ihre Weise, weit abseits der Logik der Vernunft. Deshalb deutet auch der Eingangssatz des Textes darauf hin, dass sich all jenes, was man von diesen Dingen wissen kann, nicht durch „logische Einsicht“ erschließen lasse, sondern nur durch die unmittelbare Gewissheit der Anschauung. Dieser fortwährende Kampf, der Trieb zur Selbstvergessenheit und zur Selbst-Individuierung, lässt sich nicht vermeiden. Sich dieses Kampfes zu enthalten würde bedeuten, dass man aufgehört hätte zu träumen und nicht mehr dazu fähig wäre, sich selbst in Begierde zu verlieren. Es hieße, für die Welt abgestorben zu sein. Doch ist auch festzuhalten, dass diese Triebe nicht in jeder Hinsicht in direktem und absolutem Gegensatz zueinander stehen. In der Tat gibt es eine Ebene, auf der sich beide bestätigen, ja einander sogar verstärken. Schließlich tragen die Träume wie auch die Begierden das jeweils andere in sich. Demnach stehen der göttliche Impuls, der sich in der Scheinwelt des Traumes manifestiert, und der göttliche Impuls, den wir in der Unschärfe des Begehrens empfinden,

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nicht einmal in direkter Konkurrenz zueinander. Es ist, wie Nietzsche es schon zu Beginn formuliert, ein ,duplizitäres‘14 Verhältnis, dem wir uns als unserem eigensten Kampf stellen müssen. Es ist kein Verhältnis, das sich jemals auflösen könnte, das aufgehoben oder auf eine andere Ebene verschoben werden könnte; vielmehr handelt es sich um das grundlegendste Verhältnis von allen, und es wird sich unablässig enthüllen. Für denjenigen, der diesem Verhältnis Ehre machen will – was offensichtlich Nietzsches eigener Anspruch ist – besteht die Aufgabe darin, die Einsicht in das wechselseitige Bedürfnis zu gewinnen, das beide zusammenhält. Es ist die Aufgabe, zu verstehen, wie das Dionysische und das Apollinische, trotz aller Gegensätzlichkeit, aktiv einander bedürfen. Diese Einsicht zu gewinnen bedeutet, in das Wesen der Geburt der Tragödie zu schauen. Präziser ausgedrückt: Die Kunst ist das wahre Ergebnis des fortwährenden Kampfes dieser natürlichen Impulse, und die Tragödie ist schlicht und ergreifend die Perfektion dieses Kampfes – die Kunst des Kampfes, in der der Kampf zum Austrag kommt, aus dem die Kunst überhaupt geboren wird. Für Nietzsche ist aus diesem Grund die Bestimmung der Kunst überhaupt die Tragödie. Man mag geneigt sein, mit einer gewissen Zuspitzung anzunehmen, Nietzsche gehe sogar so weit zu behaupten, alle Kunst strebe danach, tragische Kunst zu werden. Eine solche Schlussfolgerung simplifiziert zwar zweifelsohne den Reichtum der Erscheinungen der Kunst, sie wäre aber letzten Endes auch nicht gänzlich falsch. Der Grund ist leicht einzusehen: Da die Kunst aus widerstreitenden Impulsen entsteht, die sich von Natur aus nicht miteinander versöhnen lassen, so wird diejenige Form der Kunst, die ihre eigene Quelle am getreuesten wiedergibt, eine Kunst sein, die unüberbrückbare Gegensätzen in Ehren hält. Die höchste Stufe solcher Kunstwerke ist die tragische Kunst. Unmittelbar im Anschluss an diese Geburt wird aber auch schon der Tod der Tragödie angekündigt; das tragische Werk hat in diesem Text, der von seiner „Geburt“ handelt, nur ein sehr kurzes Leben. In der Tat wird die Frage nach dem Tod der Tragödie und der Möglichkeit ihrer Wiedergeburt in der modernen Welt Nietzsches Aufmerksamkeit weitaus länger in Anspruch nehmen als die Untersuchung ihrer ersten Geburt und ihres Lebens. Wenn dieser Tod verkündet wird, dann so, dass er sich auf diejenige Weise vollzieht, die der Tragödie angemessen ist: sie stirbt als eine Form der Kunst durch Selbstmord, „in Folge eines unlösbaren 14 Vgl. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25.

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Conflictes“.15 Nietzsche ist, wie all jene, die sich die Frage nach der Tragödie zu Herzen nehmen, in Anbetracht der Kürze ihres Lebens in Griechenland notwendig betroffen. Bedenkt man, dass die Geschichte dieser Kunstform sich im Wesentlichen zwischen Aischylos und Euripides abspielt, so umfasst sie nur etwa ein Jahrhundert. Nietzsche wird später stillschweigend auf diese Kürze anspielen, wenn er schreibt: Denn dass die Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des Leders habe […].16

Es ist jedoch nicht nur die Kürze der Lebenszeit der tragischen Form, von der Nietzsche so betroffen ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass die Tragödie durch die Hand eines Tragödiendichters starb. Euripides wird der Urheber des Selbstmords der Tragödie sein; seine Art und Weise, die tragische Form darzustellen, wird die Bewegungen festschreiben, in denen der Kampf des Apollinischen mit dem Dionysischen verlegt und schließlich ersetzt wird und durch die – als Konsequenz daraus – das Lebensblut der Tragödie versiegt. Er wird dies durch eine einfache, jedoch verhängnisvolle Geste vollbringen: Er wird den Zuschauer auf die Theaterbühne bringen. Euripides wird versuchen, dem Tragödienstoff den Anschein der „Realität“ zu verleihen; anders ausgedrückt: Er wird mit Gewissenhaftigkeit versuchen, „jedermann“ als den möglichen Helden seiner Tragödien darzustellen, indem er die Leidenschaft seiner Sprache bändigt und das Fremdartige der Tragödie – ihr zutiefst dionysisches Moment – in das Gewöhnliche verwandelt: Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt jene peinliche Treue, die auch die misslungenen Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt.17

Als Konsequenz daraus werden die Fremdartigkeit und die Andersheit, die beide dem voll entwickelten tragischen Werk wesentlich zugehören, gedämpft; und der Zuschauer, der die Tragödie eigentlich als ein radikal verstörendes Werk empfinden sollte, sitzt jetzt über der Frage der „Angemessenheit“ des jeweiligen Stücks zu Gericht. Anstatt von diesem Kunstwerk ergriffen zu sein, sitzt der Zuschauer über es zu Gericht. Die 15 Nietzsche, GT 11, KSA 1, S. 75. 16 Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 133. 17 Nietzsche, GT 11, KSA 1, S. 76.

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Tragödie ist nun nicht mehr eine Form, in der die tieferen Antriebe und Sehnsüchte des Lebens dargestellt und freigesetzt werden, sie wird jetzt zu einer Form, in der das bewusste Leben, der Intellekt, und nicht mehr der dunkle Antrieb des Dionysischen, seine Bestätigung findet. Indem dies passiert, ist das Leben des tragischen Werkes – das darauf beruhte, dass die verborgenen Reservoire des Lebens geöffnet wurden – verloschen. Alles, was bleibt, ist die Schale der tragischen Kunst, der Leichnam der erotischen Spannung von Dionysischem und Apollinischem; und dies dient nun den Komikern zum Fraß. Doch ist sich Nietzsche dessen bewusst, dass Euripides, mag dieser auch der unmittelbare Verursacher des Selbstmordes der Tragödie sein, nicht die stärkste Kraft ist, die zu deren Tode führte: Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt S o k r a t e s . Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde.18

Das duplizitäre und erotische Verhältnis von dionysischem und apollinischem Impuls, verdrängt durch Euripides, wird nun von dem neuen Verhältnis ersetzt – einem solchen, das durch einen einfachen Gegensatz bestimmt ist und jeglicher Leidenschaft entbehrt: dem Gegensatz von Sokrates und Dionysos. Das traumhafte Element der Tragödie – ihr apollinischer Impuls – wird nun vom bewussten Intellekt besetzt, dem Hauptcharakteristikum des Sokratischen. Aber es war eben jenes TraumElement, das der Tragödie ihr Leben als Traum des dionysischen Chores einhauchte. Jetzt wird das Apollinische vom bewussten Leben unterdrückt, die unbewusste Freiheit des Traumes ist dahin; und damit wird das Dionysische impotent und unfähig, sich selbst auszudrücken, sich durch die Projektionen seiner Träume selbst zu befreien. Mehr noch: das Verhältnis von Sokratischem und Dionysischem entbehrt jeglicher Leidenschaft, entbehrt des Eros, der das Verhältnis des Dionysischen zum Apollinischen bestimmte; dies bedeutet, dass das grundlegend dionysische Wesen der Quelle der Tragödie, d. h. ihr Geburtsort, beseitigt wird. Sokrates wird zum Gegenspieler des Dionysischen. Die Philosophie führt einen Krieg gegen alles, das vom Dionysischen freigesetzt wird: Ekstase, Rausch, Andersheit, Fremdartigkeit und Selbstvergessenheit. So vollzieht

18 Nietzsche, GT 12, KSA 1, S. 83.

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sich der Tod der Tragödie, der mit Euripides beginnt, aber mit Sokrates endet. Nietzsche führt aus: „Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen entstand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere“.19 Doch diese Leere bestand nicht für lange Zeit, da eben jenes Gefühl der Leere zum Ort des neuen Gegensatzes von Sokratischem und Dionysischem wurde. Aus dieser Lücke, die der Tod der Tragödie hinterlassen hatte, wird sich die Philosophie entwickeln; und sie wird sich entwickeln ohne das Lebensblut naturhafter Antriebe, durch die das tragische Kunstwerk charakterisiert ist. Das Erwachsen der Philosophie an jener Stelle, die einmal vom Apollinischen besetzt war, bedeutet aber zugleich, dass die Macht des Traum-Lebens von der Macht des bewussten Lebens übernommen wird: die Ansprüche der Logik des Traumes werden von den Ansprüchen der Logik des Begriffes verdrängt. „[A]lles muss verständig sein, um schön zu sein“.20 Was Euripides beginnt, wird von Sokrates perfektioniert: die Ersetzung der unbewussten Macht des Traumes durch die bewusste Intelligenz. Jetzt herrschen der rationale Verstand und die logische Schlussfolgerung, und unter dieser neuen Gesetzgebung der Logik ist das tragische Kunstwerk nicht länger sichtbar, insofern – wie bereits der allererste Satz der Geburt der Tragçdie festhält – das Tragische nicht durch logische Schlussfolgerung erfasst werden kann. Nun wird der Tod der Tragödie vergessen gemacht – unsichtbar, wie er wäre –, und zwar durch die Art und Weise, in der Sokrates alle Möglichkeiten entfernt hatte, mit der sich die Kraft der Tragödie auch nur hätte vernehmen lassen können. Nun wird sie wiedergeboren werden müssen, reanimiert, wenn überhaupt ihre ursprünglichen, griechischen Formen freigesetzt werden sollen. Aber natürlich ist es dies, was Nietzsche in seinem Buch zu tun glaubt – und, wie man sagen könnte, in jedem zukünftigen Buch. Ein Aspekt dessen, was sich als die vielschichtige Aufgabe einer Überwindung der Philosophie – und mithin der Verdrängung der tragischen Kunst, die sie in Folge des Selbstmordes der Tragödie vollendet – erweisen wird, besteht darin, die hinter dieser Verdrängung stehende Macht beim Namen zu nennen, die wahre Natur des „Sokratismus“ aufzuzeigen. Nietzsche tut dies, wenn er festhält: Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als ,Dämonion des Sokrates‘ bezeichnet wird. In beson19 Nietzsche, GT 11, KSA 1, S. 75. 20 Nietzsche, GT 12, KSA 1, S. 85.

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deren Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in’s Schwanken gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme m a h n t , wenn sie kommt, immer a b . Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da h i n d e r n d entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferisch-affirmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet: wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum!21

Die Monstren verschwinden nicht mit dem Auftreten des Sokratismus; vielmehr erscheint eine neue Form der Monstrosität, und zwar als „das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus“, das „gleichsam h i n t e r Sokrates in Bewegung ist“ und „durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss.“22 Jetzt sind wir nicht mit dem geblendeten Ödipus konfrontiert, sondern mit dem „Cyklopenauge des Sokrates“,23 das sich allen voran auf die tragische Form richtet, die entfernt werden muss, wenn der Sokratismus leben und gedeihen soll. Alles Natürliche, all die Leidenschaften des Lebens werden trockengelegt. Jetzt hat sich „[i]n dem logischen Schematismus […] die a p o l l i n i s c h e Tendenz verpuppt“, zugleich findet eine „Uebersetzung des D i o n y s i s c h e n in den naturalistischen Affect“ statt.24 Die Vernunft triumphiert, und mit ihr geht ein Optimismus einher, ein Glaube, der im Fortschritt der Vernunft gründet, die sich ihrer eigenen dialektischen Natur bewusst ist, – und zum endgültigen Anzeichen des Todes der Tragödie wird: Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen die M u s i k aus der Tragödie: d. h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt.25

Hier nun, in der Analyse des Todes der Tragödie, finden wir den ersten substantiellen Hinweis auf das, was der Untertitel der Erstausgabe dieses Werkes als den Ursprung der Tragödie benannt hatte: die Musik. Und hier findet sich auch der Hinweis auf das Endstadium der Form des Philosophierens, die mit Sokrates beginnt: die Dialektik, die das äußerste Gegenteil der Musik ist, die letzte Form des Todes der Tragödie, und 21 22 23 24 25

Nietzsche, GT 13, KSA 1, S. 90. Nietzsche, GT 13, KSA 1, S. 91. Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 92. Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 94. Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 95.

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daher das, was am meisten von allem überwunden werden muss. Nun wird eine neue Existenzform geschaffen, eine solche, die nach dem Leben und, noch mehr, nach dem Tod des Sokrates gebildet ist –, das Leben des theoretischen Menschen, das Leben eines solchen, der nicht mehr lebt, sondern nur darum bemüht ist, das Leben zu kennen, um es „überwachen“ und letztlich „korrigieren“ zu können. Sokrates’ Standort am Beginn der Politeia – er sitzt fern des Fests und der Feierlichkeiten, teilnahmslos, nur als Beobachter und Richter – versinnbildlicht den Abstand des theoretischen Menschen vom Fest des Lebens. *** Die Wiederbelebung der Musik, und zwar aus dem Geiste, aus welchem – wie gezeigt werden wird – auch die Tragödie geboren ist, gilt als höchstes Ziel. Nun ist es erforderlich, dass die Musik den herausragenden Platz unter den Künsten einnimmt, indem sie sich selbst als höchste Form der tragischen Möglichkeiten der Kunst erweist. Hier – oder zumindest bis 1886, wenn Nietzsche sein selbstkritisches Vorwort verfasst – kommt Wagner die entscheidende Rolle zu. Mit einem Zitat Wagners eröffnet Nietzsche den letzten Abschnitt der Geburt der Tragçdie, indem er ausführt, dass das Verständnis der Musik – wie das jeder anderen Kunstform auch – erst dann erlangt werden könne, wenn die Kunst ihres Verhältnisses zur Kategorie der Schönheit beraubt ist: Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums.26

Man muss sogar auf den Begriff des Schönen überhaupt verzichten, wenn die Leistung des Kunstwerkes freigesetzt werden soll. Natürlich ist darin keineswegs impliziert, dass es die Kehrseite des Schönen ist, die nun gefragt ist. Dies bedeutet lediglich, dass von der Kategorie des Schönen – der alleinigen Signatur des Kunstwerkes bei Kant, Hegel und Schelling – gezeigt werden muss, dass sie der Macht des Kunstwerkes gänzlich unangemessen ist. Nach Nietzsche bedarf es der Fähigkeit, die „Freude an der Vernichtung des Individuums“ zu erfassen. Doch dies ist, natürlich, nichts 26 Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 108.

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anderes als das Vermögen des Dionysischen. Hier aber erklärt er den Charakter des Dionysischen nicht durch Hinweis auf den Rausch, sondern auf eine fortwährende Vernichtung; und von dieser wird behauptet, in ihr liege die geheime und besondere Vortrefflichkeit der Musik. Darin zeichnet sich die Musik aus, „dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objectität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist“.27 Musik ist nicht Abbild, sondern die Kraft des Lebens selbst in Töne gesetzt. Aber diese Lebenskraft, diese dionysische Vernichtung des Individuums ist die Zeit, die alles zu nichts macht. Musik, die nichts anderes ist als verlautbarte Zeit, ist die eigentliche „Sprache“ der abgründigen Triebe des Lebens selbst. Aus ihrem dionysischen Geist wird die Tragödie geboren. Und wenn die Tragödie eine Wiedergeburt im modernen Zeitalter erfahren soll, dann wird dies wieder aus dem Geiste der Musik heraus geschehen. Nietzsche geht dazu über, den einzigartigen Charakter der Musik hervorzuheben, indem er auf die eigentümliche Zeitlichkeit verweist, die die Möglichkeit der Musik trägt. Wahre Musik, Musik, die wie das tragische Kunstwerk, das sie hervorbringt, die Erfahrung des Leidens erschließt, ist für Nietzsche Musik des Übergangs. Und wahre Musik, die dieses Leiden nicht abmildert, nicht die in der Zeit wirkende Unversöhnlichkeit übermalt, ist die Musik der Dissonanz. Diese Musik erlittener Dissonanz, diese Musik, die mit dem Zauber eines dionysischen Rausches vereinigt werden kann und die mit dem symbolischen Potential des Mythos verheiratet ist, findet Nietzsche in Wagners Musik. Ganz offensichtlich vereinigt sich nach Nietzsches Ansicht – zumindest zu dieser Zeit – all das im Geiste der Musik, welche durch Wagner hervorgebracht wird. Doch ehe die ganze Kraft dieser neuen Musik, dieser „Musik der Zukunft“, gefühlt werden könne, müssen die letzten Überreste des Sokratismus in der gegenwärtigen Kultur gestellt und aus ihr getilgt werden. *** Bevor die Erfahrung, die durch die Musik hervorgerufen wird, freigesetzt werden kann – bevor man „wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst [ist] und […] dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust“ fühlen kann, den „Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinun27 Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 106.

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gen“28 –, muss man sich selbst von der Täuschung befreien, man könne die ewige Wunde der Existenz durch die sokratische Leidenschaft für das Wissen heilen. Das Anliegen der Geburt der Tragçdie ist einfach und deutlich: Damit der Geist der Musik gehört und der Boden für die Wiedergeburt der tragischen Kunst bereitet werden kann, muss das Vermächtnis dessen, was die griechische Tragödie verdrängte, namentlich der Sokratismus, zerstört werden. Der Name der kulturellen Formation, die in gewisser Weise als institutionalisierte Form des Sokratismus gelten kann – der Überrest jener Macht, die den Tod der griechischen Tragödie beschleunigte und verfestigte –, ist die alexandrinische Kultur: Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist.29

Man könnte sagen, wir selbst seien noch nicht in der Lage, diese Musik der Zukunft vollständig zu vernehmen; als Präludium müssen wir uns der letzten Täuschungen jener Kultur entledigen, die aus dem Tod der Tragödie erwuchs. Die größte Täuschung betrifft das Wissen und kommt im „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens“30 zum Ausdruck. Nietzsches Ansicht nach verkörpert diesen Glauben niemand mehr als Hegel, der an einer Stelle sogar soweit geht, „die Darstellung Gottes […], wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes“ sei, zu versprechen.31 Sokrates mag der Erfinder, die paradigmatische Figur jenes idealen Lebens der alexandrinischen Kultur sein, doch Hegel ist ihr Endpunkt, ihre perfektionierte Form. Daher ist es nicht verwunderlich, dass man bei Hegel den stolzen Ausdruck eben jenes Aspekts findet, der für Nietzsche die Grenze zwischen diesem Glauben selbst und dem tiefsten Leben der Natur ist: Bei Hegel begegnet uns die Überzeugung, dass letztlich „[d]ie Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben“.32 Es ist eben diese soteriologische Überzeugung, diese Ansicht, dass am Ende eine Aussöhnung möglich ist und das Leiden – welcher Art auch immer – zu einem Ende kommen werde, welche das größte Hindernis für die Fähigkeit 28 29 30 31 32

Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 109. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 116. Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 111. Hegel, WL I, TWA 5, S. 44 [i. Orig. Herv.]. Hegel, Phän., TWA 3, S. 492.

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bildet, die Musik des Leidens und der Dissonanz zu hören – die Musik, aus der die tragische Kunst wiedergeboren werden könnte. Nietzsche bringt dies eloquent zum Ausdruck, wenn er schreibt: Es ist ein ewiges Phänomen: immer findet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können […].33

Später in seinem Leben wird Nietzsche diesem Gedanken eine Schlüsselrolle in der Geschichte seines Helden zuerkennen, wenn dieser sagt: „Weh spricht: Vergeh! […] Doch alle Lust will Ewigkeit –, […] – will tiefe, tiefe Ewigkeit!“34 Der Traum, die Wunde der Existenz zu heilen, dem Leiden ein Ende zu setzen, kommt dem Traum gleich, die Zeit aussetzen zu wollen. Da erst in der Bereitschaft zu leiden die volle Kraft der zerfleischenden Erfahrung der Zeit in der Musik vernehmbar wird, verstopft dieser Traum vom Ende des Leidens, der eben die endgültige Täuschung des Sokratismus ist, die Ohren, die sonst den Sirenengesang der Musik hören würden. Es war die griechische Bereitschaft zum Leiden, ihre Fähigkeit, sich das Leiden zu gestatten, die sie zu derjenigen Kultur machte, in der die Tragödie geboren wurde. Es war ein Versagen des Mutes, aus der die optimistische Dialektik der Philosophie entstand. Die kulturellen Formen, die das Ideal des theoretischen Menschen hervorbrachte, sind geboren aus Schwäche und Passivität – die Requisiten, die die Musik hemmen. Die Überwindung dieser Formen, allen voran aber die Überwindung der Philosophie, ist die Vorbedingung eines jeden Verständnisses der tieferen Wahrheiten, die sich in der Musik zeigen. *** Das eigentlich neue Element in Nietzsches Verständnis der Tragödie wird erst in dieser zweiten Geburt der tragischen Kunst vollständig sichtbar. Erst von dieser neuen Geburt her kann gezeigt werden, wie die Tragödie – nach dem Untertitel der ersten Auflage des Buches – „aus dem Geiste der Musik“ geboren wird. Und ist diese Geburt einmal richtig verstanden, wird auch die Rolle offenkundig, die die Zeit darin spielt, in der Musik – und letztendlich auch in der Tragödie. Wenn man von der Wiedergeburt 33 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115 [Herv. v. Verf.]. 34 Nietzsche, Z III Tanzlied 3, KSA 4, S. 286.

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der Tragödie behaupten kann, sie stelle einen Fortschritt in ihren Möglichkeiten dar – in dem Sinne, dass sich mit dieser Erneuerung auch etwas Neues ereignet –, so gilt dies in Bezug auf die Art und Weise, in der wir uns jetzt der lebendigen Kraft der Zeit in der tragischen Kunst bewusst geworden sind. Die Musik macht dies deutlich. Trotzdem wird die Musik – geradezu entgegen der Erwartung, die man bezüglich ihrer möglichen Rolle bei der Wiedergeburt der Tragödie haben könnte – anfänglich unter Bezugnahme auf die Wiederherstellung der apollinischen Lebensimpulse erklärt: Gerade dort, „wo diese [die apollinische Kunst] gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und emporgetragen war“, müsse man „die höchste Steigerung ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen Kunstabsichten anerkennen“.35 Natürlich war es der apollinische Impuls, der im Tod der Tragödie ersetzt wurde – während der dionysische Antrieb dieses Unglück überlebte und in der verschobenen Dyade das Pendant zum sokratischen Impuls bildete –, und so ist es allem voran der apollinische Impuls, der am nötigsten einer Wiederbelebung bedarf. Nichtsdestoweniger beschrieb Nietzsche den apollinischen Trieb zuerst unter Zuhilfenahme des Traums und des stummen Abbilds, das in seinem Verständnis dem Traume entspricht – und so würde man kaum erwarten, dass die Musik die erotische Beziehung des Apollinischen und Dionysischen zuerst durch das Apollinische wiedererwecken würde. Dennoch ist dies der Fall. Und für eine Einsicht in die wahre Bedeutung der Musik in der Zukunft der Tragödie ist es entscheidend, zu verstehen, warum dies so ist. Die Musik bewirkt, dass wir uns für die Erfahrung öffnen, „zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen“.36 Kurz gesagt: Die Musik lehrt die Lust am Sehen, an Bildern – im selben Moment aber negiert sie diese Lust und eröffnet die höhere Lust an der Zerstörung der Erscheinungswelt, und auf diese Weise bringt sie das Apollinische in sein wahres Verhältnis zum Dionysischen. Nietzsche spricht diese nahezu magische Macht der Musik nicht direkt an, obgleich eine zuvor gemachte Äußerung sich als hilfreich erweisen könnte, um diesen Schlüsselpunkt zu verstehen. Wenn Nietzsche die ursprüngliche Beziehung des Apollinischen zum Dionysischen bestimmt, spricht er von „Bilderfunken“, die aus der „dionysisch-musikalische[n] Verzauberung 35 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 150. 36 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 150.

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des Schläfers sprüh[en]“.37 Es ist dies eine eigenartige und doch vielsagende Formulierung, die uns daran erinnern soll, dass nicht alles, was wir Musik nennen, ausnahmslos dazu geeignet ist, das Reich der ,Bruderschaft‘ von Apollinischem und Dionysischem aufzuschließen. Die Musik, der dies gelingt, vermag Bilder zu erzeugen – und zwar in der gleichen Weise, wie der Chor der griechischen Tragödie Bilder von Handlungen im tragischen Spiel hervorbringen kann. Diese „innere[n] Beleuchtung“,38 die die Musik zu erzeugen vermag – in anderen Worten: die Fähigkeit der Musik, den Hörer an den Punkt zu bringen, an dem er eine bemerkenswerte innere visuelle Erfahrung macht –, treibt die Bilder, die wir hervorbringen, zu dem Punkt, an dem wir die tiefe Notwendigkeit verspüren, hinter ein jedes dieser Bilder zu dringen, ganz gleich, wie glänzend oder stark es auch sein mag. In diesem Augenblick empfindet man Vergnügen an der Zerstörung der Welt des bloßen Scheins, und man überantwortet sich dem reinen Übergang, der Zerstörung – der Musik. Um aber den tiefsten Punkt dieser Dynamik des musikalischen Geistes zu erfassen, dem die magische Kraft innewohnt, die Möglichkeit tragischer Kunst wiederzubeleben, muss man „die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen Sphäre […] suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des Sittlich-Erhabenen überzugreifen.“39 Mit anderen Worten: Man muss jeden Rückgriff auf die Ansicht vermeiden, dieser Geist, diese Kunst lasse sich auf „moralische Quellen“ zurückführen. Um die befreienden Kräfte zu beschleunigen, die durch die Musik freigesetzt werden, gilt es vielmehr einzusehen, dass diese neue Musik die Erfahrung des Leidens zur Darstellung bringt, der Fremdartigkeit, Auflösung, Geburt, Begierde und der Unerbittlichkeit der Zeit – und dies alles zugleich. Der Geist der Musik, aus der die Tragödie wiedergeboren werden kann, liegt daher – wie die griechische Tragödie – jenseits des Fassungsvermögens der logischen Einsicht und ihrer linearen Verfahrensweisen, sogar außer Reichweite des Wortes; es handelt sich vielmehr um ein Ereignis voller Widersprüche; um ein Ereignis, das – wie die Tragödie – letztlich nur „monströs“ genannt werden kann, vielleicht sogar „undenkbar“. Kurzum, die Musik besitzt die dionysische Macht, eine Erfahrung des Exzesses aufzuschließen – eine Erfahrung der Andersheit, der Alterität. Insofern sie dies in der Hervorbringung und der Zerstörung der Scheinwelt vermag – dass sie „Bilderfunken“ erzeugt –, ist Nietzsche der 37 Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 44. 38 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 150. 39 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 152.

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Ansicht, diese dionysische Kunstform hauche dem Verhältnis des Apollinischen zum Dionysischen neues Leben ein. Die tiefste Einsicht in das Wesen der Musik kommt am deutlichsten in der ursprünglichen Signatur der Musik Wagners zum Ausdruck, die für Nietzsche in dieser Hinsicht eine wesentliche Inspiration ist: Dieses schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der m u s i k a l i s c h e n D i s s o n a n z : wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens zu verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus.40

Es ist ihre Möglichkeit der Dissonanz, durch die Musik wesentlich dionysisch ist – d. h. die ihr innewohnende Möglichkeit, eine Vielzahl von Differenzen, ja sogar unvereinbare Differenzen zur gleichen Zeit in Erscheinung treten zu lassen. In dieser eigentümlichen Entgleisung der logischen Ordnung der Vernunft, in dieser Erfahrung der Zeit – das heißt: des Lebens –, die sich in allen ihren Widersprüchen verlautbart, verhilft die Musik der tragischen Kunst erneut zur Geburt. Die Musik, die reiner Übergang ist, bewirkt ein unmittelbareres – das heißt: wortloses – Verständnis dieser Wahrheit der tragischen Kunst, als das erste Auftreten der Tragödie im alten Griechenland überhaupt deutlich machen konnte. Musik als „heraklesmässige Kraft“41 ist reiner Übergang, durch den wir die Lust an der Zerstörung der Erscheinung und des Individuums entdecken. In ihr gibt es keinen „Widerwille[n] gegen die Zeit und ihre ,Es war‘“;42 und daher ist sie die unmittelbarste Form unserer Kommunikation mit der Zeit – die hier nicht das verknöcherte Abbild eines unendlichen und omnipräsenten Gottes ist, in dem es kein Werden, d. h. kein Leben gibt. Unendlich spielerisch und zugleich das Muster des erotischen Lebens – denn was ist die Musik anderes als Noten in einer ewig veränderlichen Liebesbeziehung? –, ist Musik Ausdruck von Liebe und Bejahung. Und dennoch – als unaufhörlich entschwindend und nur von der Vernichtung der individuellen Noten zehrend, ist die Musik zugleich ein Bild des Todes und der Trauer. Aus diesem Grund 40 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 152. 41 Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 73. 42 Nietzsche, Z II Erlösung, KSA 4, S. 180.

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hat die Musik – die nur aus den Liebesbeziehungen der Noten lebt, die fortwährend sterben, geboren und wiedergeboren werden – ein wesentliches Verhältnis sowohl zum Fest wie auch zur Trauer. Wenn Wagner den „Liebestod“ schreibt, das Lied über die Selbigkeit von Liebe und Tod, dann bringt er das Wesen des Musikalischen im Sinne Nietzsches zu Papier. Letzten Endes ist die Musik für Nietzsche eine machtvolle Erinnerung daran, dass die Zeit nicht aus so genannten Zeit-„Punkten“ besteht, und auch nicht in der Versteinerung der Zeitabfolge als Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft, sondern in der Dissonanz. Es handelt sich um dieselbe Dissonanz, die auch das Verhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen bestimmt. Diese Dissonanz ist der Höhepunkt der Untersuchung der tragischen Kunst in der Geburt der Tragçdie, und aus diesem Grund ist es wichtig festzuhalten, dass die Dissonanz kein kognitiver Begriff ist, kein Gedanke, nicht in Worte zu übersetzen. Sie ist unser Name für das Leben, wie es sich für Nietzsche in der tragischen Kunst zeigt. In einer der bewegendsten und unzweideutigsten Passagen, die Nietzsche jemals geschrieben hat, bringt er eben dies zum Ausdruck: Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen.43

Das dissonante Wesen, das ein jeder von uns ist, ist zu niederschmetternd, um ungeschönt ertragen zu werden. Doch ist es gerade die Fähigkeit einer solchen Natur, Kunst hervorbringen zu können, das Reich des Erträglichen durch die Schöpfung herrlicher Illusionen erweitern zu können. Die Plastizität einer solchen dissonanten Natur, ihre Fähigkeit, sich selbst in einem verklärenden Spiegel zu sehen, verdankt sich eben derselben lebendigen Dissonanz, die die Kunst nötig werden lässt, wenn das Leben gerechtfertigt sein soll: „denn nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n ist das Dasein und die Welt ewig g e r e c h t f e r t i g t “.44 Doch diese abgründige Wahrheit – diese Wahrheit ohne stabiles Fundament, ohne sicheren Grund – würde uns zerstören, gäbe es nicht die apollinische Kraft der Verklärung, durch welche dieser dionysische Urgrund der Welt in 43 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. 44 Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47.

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dem Maße ins Bewusstsein zu treten vermag, dass er – beinahe – erfasst werden kann. Doch reicht die Bedeutung dieser Dissonanz – und ihr Ausdruck in der Duplizität des Apollinischen und Dionysischen, die sich wechselseitig in der Kunst zugleich enthüllen und verbergen – noch weiter. Diese beiden dissonanten Triebe entfalten notwendig ihre entsprechenden Kunsttriebe, ihre individuellen Kräfte, „nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit“.45 Dieses eigenartige Gesetz – das insofern selbstironisch ist, als es ein Gesetz ist, das gemäß der Zeitlichkeit der Dissonanz zugemessen wird – ist das Gesetz der Reziprozität von Apollinischem und Dionysischem. Es ist das Gesetz, das dem Menschen entspricht, der nur soviel an Wahrheit ertragen kann, der „ d i e K u n s t [hat], damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen“,46 und für den „[o]hne Musik […] das Leben ein Irrthum“47 wäre. Dieses Gesetz ist die Gerechtigkeit, die dem sterblichen Leben entspricht, dem Leben jener, die schöpferisch sein müssen, wenn die Wahrheit sowohl sichtbar als auch erträglich sein soll. In diesem Gesetz der Reziprozität finden wir sowohl ein Bild der Gerechtigkeit als auch die Rechtfertigung eines sterblichen Lebens. Und es ist insbesondere diese doppelte Wahrheit, die die Griechen durch ihre Tragödien gelernt haben – und deshalb heißt es auf der letzten Seite des Buches: „[W]ie viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können!“48 *** Von Monstren bevölkert und von einer abgründigen Erfahrung zur nächsten springend, etabliert Nietzsches Entwurf einer tragischen Kunst dennoch die Tragödie als eine heilende Kraft. Es ist ein verklärender Spiegel, in dem das menschliche Leben seine eigene tiefste, dissonante Natur reflektiert, und zwar so, dass die Wahrheit dieser Natur erscheinen kann und nicht bloß denjenigen zerstört, der sie ausspricht. Wenn die wahrhafte Ursprünglichkeit solcher Kunstwerke gewürdigt werden soll, so ist daran zu erinnern, dass die Möglichkeit der Kunst in eben jener dissonanten menschlichen Natur ihre Wurzeln hat. Diese Natur spricht 45 46 47 48

Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[40], KSA 13, S. 500. Nietzsche, GD Sprüche 33, KSA 6, S. 64. Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 156.

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sich selbst am unmittelbarsten im Kunstwerk aus, und die Dissonanz dieser Natur vermag die tragische Kunst in besonderer Weise auszudrücken. Da diese Dissonanz, dieser unauslöschliche Widerspruch, nicht im Horizont logischer Vernunft erfasst werden kann, kann diese Kunst nur unmittelbar erfahren und auf keine andere Weise gewusst werden. Nietzsches Bemühungen, der ursprünglichen Wahrheit der tragischen Kunst ihr Recht zuteil werden zu lassen, sind von dieser tief greifenden und unaufhebbaren Aporie überschattet, vor die das wahre Kunstwerk die Vernunft stellt. Sein eigenes Ringen, die der tragischen Kunst innewohnende Weisheit zu analysieren und ins Wort zu setzen, treibt ihn schließlich zu jener Akrobatik des Stils und der Strategie, die zum Kennzeichen seines Schreibens werden sollte. Nach seiner eigenen Einschätzung allerdings hat er – wenigstens in der Geburt der Tragçdie – sein Ziel, der Falle logischer Vernunft zu entgehen, nicht vollkommen erreicht – gesteht er doch selbst: „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ,neue Seele‘ – und nicht reden!“49

49 Nietzsche, GT Versuch 3, KSA 1, S. 15.

Das Leben lebenswert machen: Nietzsche über die Kunst in Die Geburt der Tragçdie Richard Schacht Kaum eine größere Bedeutung kann wohl der Kunst beigemessen werden, als ihr Nietzsche zu Beginn der Geburt der Tragçdie gibt. Es seien „überhaupt d[ie] Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth gemacht wird.“1 Nietzsche hat die Kunst nie aus dem Blick verloren, selbst wenn er von scheinbar entfernten Gegenständen handelt. Eine ganze Reihe von Künstlern zählt Nietzsche zum ,höheren‘ Typus Mensch, der für ihn aus der großen Masse herausragt, und er verbindet den Künstler mit seiner Vision des ,Philosophen der Zukunft‘ wie auch mit dem ,Übermenschen‘, den er zum ,Sinn der Erde‘ erklärt. In der Tat hat sich Nietzsche auch selbst der Kunst zugewandt und nicht den geringsten Teil seiner Kraft und seiner Persönlichkeit der dichterischen und musikalischen Produktion gewidmet. Nietzsches Interesse an der Kunst ist weder ausschließlich akademischer noch rein persönlicher Art. In dem ursprünglichen Vorwort zur Geburt der Tragçdie, dem „Vorwort an Richard Wagner“, spricht er abschätzig von denjenigen Lesern, denen es „anstössig sein wird, ein aesthetisches Problem so ernst genommen zu sehn, falls sie nämlich die Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum ,Ernst des Daseins‘ zu erkennen im Stande sind“.2 Gegen diese macht er die verblüffende Behauptung geltend, er sei „von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens überzeugt“.3 Und kurz darauf hält Nietzsche die Übersetzt von Philipp Schwab (Freiburg) und Robert Simon (Freiburg). Dem Verfasser sei herzlich für seine Hinweise zur Übersetzung gedankt. Zuerst erschienen als: Making Life Worth Living. Nietzsche on Art in The Birth of the Tragedy. In: Richard Schacht: Making Sense of Nietzsche. Reflections Timely and Untimely. Urbana, Ill. 1995. Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Board of Trustees of the University of Illinois, alle Rechte vorbehalten. 1 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27 f. 2 Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 24. 3 Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 24.

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Einsicht fest, es seien „überhaupt die Künste, durch die das Leben möglich und lebenswerth gemacht wird“.4 Es bleibt zu entfalten, was Nietzsche mit diesen Aussagen im Blick hat – und gleiches gilt von der Rede über die Kunst als der ,eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens‘. In jedem Fall aber sind die zitierten Passagen hinreichende Belege für die zentrale Bedeutung der Kunst, hinsichtlich des Zusammenhangs von Themen und Motiven in der Geburt der Tragçdie und auch, was Nietzsches Zugriff auf diesen Zusammenhang angeht.

1. Nietzsche macht in keiner Weise einen Hehl aus dem Einfluss, den Schopenhauer auf seinen Begriff von Wirklichkeit wie auch auf sein Verständnis der Kunst hat. Schopenhauer darf mit gutem Recht als die primäre philosophische Inspirationsquelle Nietzsches angesehen werden, und dies in zweifacher Hinsicht: Auf der einen Seite ist Nietzsche anfänglich von der Plausibilität vieler Aussagen Schopenhauers über die Welt, das Leben und auch die Künste überzeugt gewesen. Auf der anderen Seite aber war Nietzsche zutiefst erschüttert von Schopenhauers düsteren Schlussfolgerungen mit Blick auf den ,Wert des Daseins‘ und des Lebens. Viele Zeitgenossen tendierten dazu, Schopenhauer trotz Bewunderung seiner stilistischen Brillanz als morbiden und pessimistischen Eigenbrödler abzulehnen. Nietzsche hingegen sah sehr wohl, dass Schopenhauer tiefgründige und ernsthafte Fragen des Leben aufgeworfen hatte, die nicht mehr im Horizont der traditionellen Theologie und Philosophie beantwortet werden konnten und neue Antworten erforderten, wenn auch Schopenhauers eigene sich nicht durchsetzen konnten. Schopenhauer kam zu dem Ergebnis, dass das Dasein schlechthin wertlos und nicht zu rechtfertigen ist – außer in dem negativen Sinne, dass es durch die unvermeidliche Vorherrschaft des Leidens geradezu mit einem Unwert behaftet ist; und dass jedem, der diesen Umstand klar und nüchtern in den Blick nimmt, einsichtig wird, dass letztlich das Vergessen dem Leben vorgezogen werden muss. Der Grund für Schopenhauers düstere und pessimistische Überzeugung liegt darin, dass in seiner Perspektive das Dasein im Allgemeinen und das Leben im Besonderen durch endloses Streben und unaufhörlichen Kampf gekennzeichnet ist. So muss es unvermeidlich in Vernich4

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27 f.

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tung enden und – bei empfindungsfähigen Lebewesen – in welcher Weise auch immer unendliches Leiden mit sich bringen. Das ganze Dasein ist, so wie es sich für Schopenhauer darstellt, letztendlich sinnlos, weil in ihm niemals etwas erlangt werden kann, das an sich Wert hat; die Weiterführung des Lebens ist nichts als fortgesetztes Streben und Kämpfen. Das Leben dient keinen transzendenten Zwecken; keinerlei Genuss, Freude oder Befriedigung vermag das Leiden aufzuwiegen, das alles Leben bestimmt – und so ist jede hedonistische Rechtfertigung des Lebens ausgeschlossen, das Leben unter jedem denkbaren bewertenden Maßstab abgeurteilt. Mit einem Wort gesagt: Das Leben ist absurd. Endloses Streben, unausweichliches Leiden, unvermeidliche Vernichtung – im Ganzen sinnlos, ohne Bedeutung und Rechtfertigung, ohne Erlösung und jenseitige Heilsversprechen, mit der einzigen Befreiung in Tod und Vergessen: das ist Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung – die vorchristliche Auffassung des Lebens, wie sie Nietzsche in der Geburt der Tragçdie den Griechen als deren Grundauffassung zuspricht und die in der Moderne wiederkehrt, während das Christentum seiner Todesstunde entgegengeht. Nietzsche stellt die Überzeugungskraft dieser Sichtweise in der Geburt der Tragçdie nicht in Frage; und obgleich er später die schopenhauersche Metaphysik ablehnt, wird er im Ganzen an dieser Auffassung der Bedingungen des Lebens festhalten. Leben heißt kämpfen, leiden und sterben; und obwohl das Leben möglicherweise mehr ist als bloß dieses, scheint in keinem Bereich menschlicher Verhältnisse die Möglichkeit eines ,Fortschritts‘ auf, der diese grundlegenden Parameter der menschlichen Existenz erfolgreich zu ändern vermöchte. Bedeutsamer noch: Für Nietzsche wie auch für Schopenhauer und Nietzsches Griechen ist es gleichermaßen unmöglich, irgendeine teleologische Rechtfertigung aufzuzeigen, die, sei sie historisch oder übernatürlich, das Schicksal eines Individuums plausibel macht. Wir können auf keine zukünftige Utopie und auf kein Leben nach dem Tod sehen, das unser Dasein erträglich und sinnvoll erscheinen ließe. Wie ist es möglich, ein Leben gleich dem von Schopenhauer beschriebenen zu ertragen, nachdem man es als das begriffen hat, was es ist – wie ein solches Leben ertragen und mehr noch: es als begehrens- und lebenswert zu bejahen, ungeachtet aller „Schrecken und Entsetzlichkeiten“,5 die untrennbar mit ihm verbunden sind? „Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat“, 5

Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35.

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schreibt Nietzsche, „er sollte nicht jählings zerbrechen?“6 Nietzsche bezeichnet diese allgemeine Erkenntnis des Wesens der Welt und des Schicksals des Individuums in ihr als „dionysische Weisheit“;7 und vergleicht die Situation des Griechen, der sie erreichte, mit der Hamlets – und implizit auch mit der des modernen Menschen im Sinne einer schopenhauerisch-existenzialistischen Weltsicht: In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben e r k a n n t , und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern […]. Jetzt verfängt kein Trost mehr […]. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, […] es ekelt ihn.8

Es ist Nietzsche ein dringliches Anliegen gewesen, dieses Dilemma auf welche Weise auch immer zu lösen – wenn er auch dieses Interesse unter dem Deckmantel der davon unterschiedenen Frage verborgen hat, wie es dem „Wille[n]“ möglich war, „seine Geschöpfe im Leben festzuhalten“,9 wenn die irrigen Glaubensvorstellungen, die sie gemeinhin schützen, außer Funktion gesetzt sind. Aus diesem Grund richtete er seine Aufmerksamkeit auf ein Volk, das ihn schon von Berufs wegen eingehend beschäftigt hatte und sich für eine solche Fallstudie als optimaler Gegenstand anbot: die frühen Griechen. Sie waren keine rohen Barbaren, die gedanken- und empfindungslos dem blinden Instinkt folgten; ganz im Gegenteil waren sie überaus intelligent, empfindsam und mit der Welt, wie sie ist, wohl vertraut. Zudem gründete ihre Existenz weder auf jüdisch-christlichen Glaubensgrundsätzen noch beruhte sie auf den Mythen von historischem Fortschritt oder menschlicher Vervollkommnungsfähigkeit. Dennoch ergaben sie sich nie einem schopenhauerschen Pessimismus; im Gegenteil waren vielleicht gerade sie das kräftigste, schöpferischste und lebensbejahendste Volk, das überhaupt existiert hat. Aus diesem Grund wurde Nietzsche so unwiderstehlich zu ihnen hingezogen, angetrieben von der Frage: Wie ist ihnen dies gelungen? Was ist das Geheimnis ihrer Befreiung von jenem Ekel, der alles Handeln und alle Lebensbejahung verhindert, der aber allem Anschein nach notwendig aus ihrer dionysischen Weisheit folgen muss? Die Antwort glaubte Nietzsche in der erstaunlichsten und außerordentlichsten Errungenschaft ihrer 6 7 8 9

Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 135. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 55. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56 f. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115.

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Kultur zu finden: in ihrer Kunst. In der eben zitierten Stelle heißt es weiter: „Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“.10 Dies ist der Leitgedanke in Nietzsches gesamter Behandlung der Kunst und ihrer Bedeutung für das menschliche Leben in der Geburt der Tragçdie. Die Hauptthemen dieses Werkes sind zusammengefasst in den folgenden Zeilen des letzten Abschnitts, die seinen Leitgedanken erweitern und auf die Schlüsselbegriffe des „Dionysischen“ und „Apollinischen“ Bezug nehmen – und dabei die zentralen und entscheidenden Begriffe in Nietzsches gesamter Philosophie der Kunst in den Vordergrund rücken: die Begriffe von „Überwindung“ und „Verklärung“. Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft: in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten. […] Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann […].11

2. Bevor diese Themen näher in den Blick zu nehmen sind, muss auf eine fundamentale Ambivalenz in Nietzsches Auffassung des Verhältnisses von Kunst und Leben hingewiesen werden, die sich in der Geburt der Tragçdie und auch im Folgenden aufweisen lässt. Von Anfang bis Ende seines Schaffens bleibt Nietzsche davon überzeugt, dass Kunst nicht als unabhängige und in sich selbst geschlossene, vom Leben losgelöste Sphäre des Handelns und der Erfahrung verstanden werden darf, sondern auf das innigste mit dem Leben verbunden und von größter Bedeutung für das Leben ist. Diese Einsicht spiegelt sich in seiner späteren Beobachtung (in seinem „Versuch einer Selbstkritik“) wider, nach der die Kunst in der Geburt der Tragçdie „ u n t e r d e r O p t i k […] d e s L e b e n s “12 gesehen wird – ein Umstand, den er selbst rückblickend als den entscheidenden 10 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. 11 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 154 f. 12 Nietzsche, GT Versuch 2, KSA 1, S. 14.

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Vorzug des ganzen Werkes betrachtet, ungeachtet aller eingestandenen Unzulänglichkeiten. Und es ist einer der wesentlichsten und markantesten Charakterzüge seines philosophischen Standpunkts im Ganzen, dass seine Entwicklung sich in einer spezifischen Dialektik zwischen dem Verständnis von Leben und Welt einerseits und dem Verständnis von Kunst andererseits ausprägt – und dass sich beide wechselseitig beeinflussen und jeweils Veränderungen im anderen hervorbringen. Die zugrunde liegende Einheit der Begriffe von Kunst und Leben in Nietzsches Denken zeigt sich in der Geburt der Tragçdie darin, dass er die beiden Grundtriebe der Kunst – das Dionysische und das Apollinische – als identisch begreift mit den Grundtendenzen, die wir an uns selbst wie auch in der Natur erkennen können. Und die Konsequenzen der Überzeugung, dass es diese Identität wirklich gibt, werden in der folgenden Entfaltung zweier Begriffe offenbar, die in den späteren Schriften von zentraler Bedeutung sind: dem „Übermenschen“ und dem „Willen zur Macht“. Ich bin zum einen der Ansicht, dass der „Wille zur Macht“ als eine Fortentwicklung der Duplizität von dionysischen und apollinischen „Kunsttriebe[n]“ der „Natur“13 verstanden werden kann, in welcher sie im dreifachen hegelschen Sinn aufgehoben sind: Sie sind zugleich negiert, bewahrt und überwunden. Zum anderen bin ich der Ansicht, dass „Übermensch“ als ein Symbol für dasjenige menschliche Leben verstanden werden kann, das bis auf die Ebene der Kunst emporgehoben ist, auf der der rohe Kampf um Selbsterhaltung zu einer schöpferischen Kraft sublimiert ist, die nicht mehr den Bedürfnissen und Beschränkungen des „Menschlichen, allzu Menschlichen“ unterliegt. Die Überwindung des anfänglich sinnlosen und abstoßenden Charakters der Existenz durch die schöpferische Verwandlung des Existierenden kennzeichnet grundsätzlich die Kunst und das Leben, so wie Nietzsche sie letztlich versteht. Dies bedeutet für ihn sowohl, dass das Leben wesentlich ein künstlerisches ist, als auch, dass die Kunst wesentlich ein Ausdruck der Natur des Lebens ist. Der „Wille zur Macht“ ist nur dann angemessen begriffen, wenn er als das Vermögen verstanden wird, eine solche schöpferische Verwandlung zu erwirken – in der Natur, im menschlichen Leben überhaupt und auch in der Kunst. Der Übermensch ist die Apotheose dieses fundamentalen Vermögens, die höchste Inkarnation jener Grundtendenz der Wirklichkeit, der sich alles Dasein, Leben und Kunst verdankt. 13 Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30.

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In der Geburt der Tragçdie fallen freilich die Worte „Übermensch“ und „Wille zur Macht“ nicht, und die Beziehung zwischen Kunst und Leben wird mit Hilfe anderer Begriffe diskutiert. Eine der auffälligsten Eigenheiten dieser Diskussion aber ist Nietzsches Bereitschaft, den Begriff der Kunst nicht nur im herkömmlichen Sinne auf Bildhauerei, Musik und andere klassische Formen der Kunst (Klassen von Kunstgegenständen, ihre Produktion und Rezeption) anzuwenden, sondern in einem weiteren Sinn zu gebrauchen. Nietzsche geht beispielsweise davon aus, dass „jeder Mensch voller Künstler ist“, und zwar insofern ein jeder an der Erfahrung der „Erzeugung“ des „schöne[n] Schein[s] der Traumwelten“ teilhat,14 obgleich dabei keine ,Kunstwerke‘ im eigentlichen Sinn hervorgebracht werden. Wenn anschließend die Aufmerksamkeit von dem (apollinischen) „Traum“ auf diejenige Erfahrung gelenkt wird, die Nietzsche „dionysische[n] Entzückungen“15 nennt, spricht er davon, dass die dionysischen Scharen selbst „Kunstwerk[e]“ sind: „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden […]. Der edelste Thron, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen“.16 Am auffälligsten allerdings ist, dass Nietzsche ständig die „Natur selbst“17 als ,künstlerisch‘ und die beiden Tendenzen des Apollinischen und Dionysischen als „ K u n s t t r i e b e d e r N a t u r “18 bezeichnet. So werden sie anfangs „als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, o h n e V e r m i t t e l u n g d e s m e n s c h l i c h e n K ü n s t l e r s , hervorbrechen“19 und weiter heißt es, „diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler ,Nachahmer‘“.20 Hier ist nicht bloß davon die Rede, dass die Natur ebenso „künstlerisch“ ist wie das Leben, wenngleich auf jeweils unterschiedliche Art und Weise; denn diese zwei ,Kunstzustände der Natur‘ sind vielmehr die „beiden einzigen Kunsttriebe“,21 und schließlich geht Nietzsche sogar so weit, die eigentliche Urheberschaft aller Kunst der „Natur“ zuzuschreiben – und nicht der bloßen menschlichen Ausführung. „Denn dies muss uns vor allem […] deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass 14 15 16 17 18 19 20 21

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. Nietzsche, GT 12, KSA 1, S. 84. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Vgl. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 31. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 12, KSA 1, S. 84.

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wir ebenso wenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind“.22 Vom menschlichen Künstler sagt Nietzsche, er sei bloß das „Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Erlösung im Scheine feiert.“23 Die Künstler, und mit ihnen wir selbst, sind „für den wahren Schöpfer […] schon Bilder und künstlerische Projectionen“, welcher Schöpfer ja das Grundprinzip der Wirklichkeit selbst – der Weltwille – ist; und wir haben „in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde“,24 d. h. als Schöpfungen dieses eigentlichen „Künstlers“ und nicht als Schöpfer und Betrachter von Kunstgegenständen. Gleichwohl spricht Nietzsche auch in anderer Weise von der Kunst, nämlich so, dass das Verhältnis von Kunst und Welt weniger unmittelbar, wenn nicht sogar als gegensätzlich erscheint. So schreibt Nietzsche zum Beispiel, es sei „die höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst – das Auge vom Blick in’s Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten“.25 Immer wieder betont er, dass die Kunst in allen ihren Formen durch ,Träume‘ und sogar ,Lügen‘ handelt. Die Kunst legt einen „Schönheitsschleier“26 über die grausame Realität – und wenn von ihr als einem „verklärenden Spiegel“27 die Rede ist, liegt die Betonung auf der Verklärung, die jede Form bestimmter Reflexion von vornherein ausschließt. Deshalb heißt es, dass „die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt.“28 Hier sollten wir uns an die weiter oben zitierte Passage des letzten Abschnittes erinnern, in der Nietzsche auf das Thema zurückkommt: auf die Notwendigkeit einer Überwindung allen Bewusstseins vom Wesen der Welt, durch eine Kunst der „Verklärung“, die durch eine „herrliche Illusion“ zu bedecken vermag, was flüchtig erblickt worden ist.29 Es waren „die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“,30 von denen 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47. Nietzsche, GT 19, KSA 1, S. 126. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35.

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die Griechen sich befreien wollten; „um überhaupt leben zu können“,31 entwickelten sie ihre Kunst: all dies „wurde von den Griechen durch jene künstlerische M i t t e l w e l t der Olympier fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen.“32 Dies gilt keineswegs allein für die nichttragischen Kunstformen, denn Nietzsche betont: „Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt“.33 Auch wenn Nietzsche sich in diesen Bahnen bewegt, hat er stets eine grundlegende Verbindung von „Kunst“ und „Leben“ im Blick, in der das Leben als Quelle dient, durch die der Grieche sich aus der verzweifelten Lage zu befreien vermochte, in die das Leben ihn allererst gebracht hatte: „Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“34 Das Leben erscheint dergestalt in doppelter Valenz, und folgerichtig hat auch die Beziehung der Kunst zum Leben einen doppelten Sinn. Aber kann die Welt der Kunst einerseits gedacht werden als „Supplement der Naturwirklichkeit […], zu deren Ueberwindung neben sie gestellt“35 und als solche unterschieden von ihr und ihr entgegengesetzt – und andererseits gleichzeitig verstanden werden als Schöpferin eben dieser Natur, die nichts als eine Darstellung ihrer „Kunsttriebe“ ist und daher grundsätzlich mit ihr gleichartig, wenn nicht gar identisch sein muss? In der Geburt der Tragçdie versucht Nietzsche beide Wege zu gehen; und es ist mehr als fraglich, ob dieser Versuch überhaupt gelingen kann.

3. In jedem Fall sollte bis hierhin klar geworden sein, dass Nietzsches Verständnis der Kunst in der Geburt der Tragçdie von zwei zentralen Fragen geleitet ist: Was Kunst tut und wie sie dies tut – und dass für ihn die Antworten auf diese Fragen an den Begriffen berwindung und Verklrung festzumachen sind. Diese beiden Begriffe werden in der Geburt der Tragçdie immer wieder verwendet und haben für die meisten wesentlichen Aussagen über Kunst eine entscheidende Bedeutung – unabhängig da31 32 33 34 35

Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151.

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von, welche Kunstformen betrachtet werden und welche Unterschiede zwischen diesen jeweils bestehen. Des Weiteren sollte deutlich geworden sein, dass die „Überwindung“ nur in ständiger Rücksicht auf bestimmte menschliche Bedürfnisse verstanden werden kann, die Nietzsche als grundlegend und unhintergehbar ansieht – und dabei der Kunst eine herausragende Bedeutung zuschreibt, die über bloßes Vergnügen, Befriedigung durch Unterhaltung oder Selbstdarstellung hinausgeht. Sein Verständnis der Kunst im Sinne von „Verklärung“ bedeutet darüber hinaus einen grundsätzlichen Bruch mit Schopenhauer und allen anderen erkenntnistheoretisch orientierten Kunstphilosophen: Denn wenn Kunst wesentlich ein Verklärungsgeschehen ist, wird sie unseren Bedürfnissen notwendigerweise auf andere Art dienen als durch eine Steigerung unserer kognitiven Kräfte. Nietzsches ständige Bezugnahme auf „Illusionen“ in einer Vielzahl von Kontexten macht dies mehr als deutlich – der Zusammenhang zeigt sich aber auch dort, wo der Begriff der Illusion nicht fällt, insbesondere hinsichtlich der Musik. Selbst dort, wo eine gewisse ,Wahrheit‘ der Wirklichkeit durch die Kunst zum Ausdruck gebracht zu werden scheint, ist es für Nietzsche dem künstlerischen Charakter dieses Ausdrucks wesentlich, dass immer schon eine Verklärung des ,wahren‘ Inhalts in seiner künstlerischen Behandlung stattgefunden hat – und das künstlerische Moment dieser Behandlung liegt eben allein in dem Element der Verklärung, und nicht in dem jeweiligen Gehalt und seiner Vermittlung. Es ist von größter Wichtigkeit, die grundsätzliche Anwendbarkeit der Begriffe von Überwindung und Verklärung im Blick zu behalten, wenn man sich Nietzsches Diskussion der voneinander zu trennenden Kunsttriebe und Kunstformen zuwendet; nur vor diesem Hintergrund ist angemessen zu verstehen, was über sie jeweils im Einzelnen gesagt wird – und nur auf diesem Weg kann die fehlerhafte Annahme vermieden werden, Nietzsche behandele sie als gänzlich verschiedene Phänomene, die allein durch die gemeinsame Bezeichnung als „Kunst“ zusammengehalten würden. In der Tat hebt Nietzsches Untersuchung damit an, dass sie von der „aesthetischen Wissenschaft“ und der „Fortentwickelung der Kunst“36 spricht und dadurch bis zu einem gewissen Grad eine Einheit sowohl der wissenschaftlichen Disziplin als auch ihres Gegenstandes nahe legt. Unmittelbar anschließend jedoch führt er den Begriff der „Duplicität“ des „A p o l l i n i s c h e n und des D i o n y s i s c h e n “ ein und versichert, dass „Kunst“ solange nur „das gemeinsame Wort“ sei, bis die 36 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25.

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beiden „mit einander gepaart erscheinen“.37 Nietzsche untersucht im Folgenden diese beiden Triebe nach gänzlich unterschiedlichen Gesichtspunkten – und geht sogar soweit zu behaupten, sie seien Repräsentanten „ z w e i e r in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten“.38 Diese „Kunsttriebe“ und „Kunstwelten“ sind, obwohl in der Tat für Nietzsche klar voneinander geschieden, eben beide „Kunsttriebe“ und „Kunstwelten“. Dass sie mehr als die bloße Bezeichnung „Kunst“ gemeinsam haben, wird dadurch bezeugt, dass ihre ,Paarung‘ ein fruchtbares künstlerisches Ergebnis hervorgebracht hat: die Tragödie. Weder apollinische noch dionysische Kunst geben uns, laut Nietzsche, eine ungeschminkte Darstellung der Welt, wie sie an sich selbst ist, wie sie sich uns in der Erfahrung darstellt oder wie sie von einem Denker erfasst würde, der nach dem Wesen und der Struktur der existierenden Dinge fragte. Die Triebe der Kunstschöpfung sind für Nietzsche in keiner Weise kognitive Triebe. Wenn sie überhaupt in irgendeiner Weise auf Wissen bezogen sind, so müsste der Kunsttrieb laut Nietzsche am ehesten als ein Gegengift zum Wissen begriffen werden. Und es ist zweifelsohne auch um der deutlichen Abgrenzung zu einer jeden erkenntnistheoretisch orientierten Interpretation der Kunst willen, dass Nietzsche die Diskussion des Apollinischen und Dionysischen damit beginnt, dass er auf ihre Verbindung mit den Phänomenen des Traumes und des Rausches eingeht. In beiden Phänomenen manifestiert sich nach Nietzsche ein tief verwurzelter und grundlegender Zug unseres Wesens, und beide antworten auf ein machtvolles Bedürfnis. Und der machtvolle Einfluss der Kunst auf uns kann nur von der Einsicht her verstanden werden, dass der Ursprung der verschiedenen Kunstformen in diesen Grundtrieben liegt und sie gleichsam als eine Antwort auf starke Bedürfnisse erwachsen. Nietzsche zielt in seiner Diskussion der apollinischen und dionysischen Duplizität in der Geburt der Tragçdie darauf, einerseits die radikale Kluft zwischen den zwei grundlegenden, Leben erhaltenden und Kunst hervorbringenden Trieben aufzuzeigen, die mit diesen beiden Namen bezeichnet sind, und sodann andererseits die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Durchdringung nachzuweisen – um schließlich die entscheidende Bedeutung in den Blick zu bringen, die das daraus hervorgehende Ergebnis sowohl für das Leben als auch für die Kunst hat. Zu Beginn seiner Diskussion der apollinischen und dionysischen Duplizität hebt er 37 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25. 38 Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 103.

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zwei Kunstformen als ihr jeweiliges Paradigma von einander ab – nämlich die „Kunst des Bildners“ und die „unbildliche[n] Kunst der Musik“39 –, unmittelbar anschließend widmet er sich jedoch der Betrachtung der noch grundlegenderen, ebenfalls als apollinisch und dionysisch bezeichneten „physiologischen Erscheinungen“,40 mit denen all jene Kunstformen in einem wesentlichen Zusammenhang stehen: dem Traum und dem Rausch. Nach Nietzsche ist die Natur des Menschen derart konstituiert, dass er durch eine grundlegende Neigung zu beiden hingetrieben ist und auf beide mit starker, jedoch unterschiedener positiver Empfindung reagiert. Daher schreibt Nietzsche, dass „unser innerstes Wesen […] mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt“,41 während gleichermaßen gilt, dass die „Schauer[n] des Rausches“42 von einer „wonnevolle[n] Verzückung“ begleitet werden, die „aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt“.43 Es sind diese Empfindungen von „tiefer Lust“ einerseits und „wonnevoller Entzückung“ andererseits, die jeweils die Erfahrung der apollinischen beziehungsweise dionysischen Kunstformen charakterisieren. Beide Formen schlagen denselben tiefen Akkord in unserem Wesen an und erzeugen so dieselbe Art von Widerklang. Dies wiederum bietet den Schlüssel zum Verständnis ihrer lebenserhaltenden Funktionen – in dem Maße, wie diese ihnen jeweils zukommen. Traum und Rausch sind also für Nietzsche weder einfach nur Analogien oder Vorformen der Kunst noch gar erfahrungsmäßige Quellen des Kunstschaffens. In einem entscheidenden Sinne sind sie Kunstphänomene – nur dass der ,Künstler‘ in diesem Fall nicht ein Mensch ist, sondern vielmehr die ,Natur‘ selbst, die im Medium des menschlichen Lebens agiert. In diesem Zusammenhang werden das Dionysische und das Apollinische „als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, o h n e V e r m i t t e l u n g d e s m e n s c h l i c h e n K ü n s t l e r s , hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen“.44 Für Nietzsche ist dies nicht eine bloß metaphorische Auslegung, ist es doch seine Überzeugung, dass 39 40 41 42 43 44

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30.

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menschliches Kunstschaffen als ein Teil dieser grundlegenden Lebensprozesse verstanden werden muss – gewiss auch als deren Weiterentwicklung, aber als Sprösslinge, die ihnen ähnlich genug sind, um zu garantieren, dass jeder Künstler als „,Nachahmer‘“ in Bezug auf diese „unmittelbaren Kunstzustände[n] der Natur“ betrachtet werden kann.45 Aus diesem Grund heißt es bei Nietzsche weiter: „Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst“.46 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass für Nietzsche in dieser Hinsicht – und ausschließlich in dieser Hinsicht – die Kunst durchaus als „Nachahmung der Natur“ verstanden werden kann. Das heißt: Die Kunst ahmt die Natur darin nach, dass in ihr dieselben Kräfte am Werk sind wie auch – neben anderen – in der Natur. Gerade weil aber in der Kunst nicht weniger als in der Natur eine schöpferische Verwandlung stattfindet (als ein Teil der in Rede stehenden „Nachahmung“), versucht die wirkliche Kunst genauso wenig die Natur exakt in der Weise darzustellen, in der sie uns begegnet, wie Traum und Rausch sie zuverlässig abbilden – und ebenso wenig bringt andererseits wahre Kunst bloß die Erfahrungsgehalte dieser Zustände zum Ausdruck. Ist dies festgehalten, so muss jedoch sogleich zugestanden werden, dass Nietzsche in der Tat das Vokabular der ,Repräsentation‘ verwendet – und zwar hinsichtlich des Verhältnisses der apollinischen und der dionysischen Kunstformen und darüber hinaus auch in Bezug auf die ,visionäre‘ Charakteristik der entsprechenden empirischen Zustände im weiteren Sinne. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass Nietzsche mit Schopenhauer die (dionysische) Musik als ein „Abbild“ des „UrEinen“47 verstehen möchte, das allen Erscheinungen zugrunde liegt. Zudem ist auch bemerkt worden, dass die dionysische Kunst nach Nietzsche eine gewisse Identifikation des Individuums mit dieser zugrunde liegenden Wirklichkeit hervorbringt – und zwar vermittels einer verzückenden Offenbarung ihres Wesens, bezeugt durch den „dionysischen Rauschkünstler“, der einen flüchtigen Einblick erhascht hat und mit ihr „eins geworden“ ist.48 Es muss hier noch ergänzt werden, dass Nietzsche ebenfalls sagt, der „Wellenschlag des Rhythmus“ und die „dorische Architektonik in Tönen“ sei nur zur „Darstellung apollinischer 45 46 47 48

Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47 f. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 44. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 30.

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Zustände“49 entwickelt worden. Und insofern es „ S c h e i n d e s S c h e i n s “50 ist und nie die zugrunde liegende Wirklichkeit selbst, mit dem es diese Zustände zu tun haben, muss der „schöne Schein“51 der apollinischen Kunst des Bildners, wenn er nicht selbst Schein ist, vielmehr „ S c h e i n “ dieses „ S c h e i n s “52 sein. Kurzum: Nietzsche geht davon aus, dass zwischen dem, was in dionysischen Zuständen wahrgenommen wird, und dem Inhalt der dionysischen Kunst ein Bezug zumindest in Form einer „Spiegelung“53 besteht – und gleichermaßen zwischen dem, was in apollinischen Zuständen verbildlicht wird, und dem Inhalt der apollinischer Kunst. Tatsächlich kann man sogar sagen, dass die Bemühungen beider Arten von Künstlern gleichermaßen darauf gehen, die an den Inhalten der Visionen gewonnenen Erfahrungen mitzuteilen und zu steigern. Wäre dies nicht der Fall, so könnte die Freude über die „Urlust am Dasein gar nicht durch die Kunst stimuliert werden“,54 – diese Freude nämlich, die von der „wonnevolle[n] Verzückung“55 auf der einen Seite und der „tiefe[n] Lust“56 auf der anderen hervorgebracht wird, und zwar durch die Schöpfung und Intensivierung, in der die Kunstformen ihre lebenserhaltende Funktion ausüben sollen. Die Lösung dieser Schwierigkeit liegt darin, dass für Nietzsche die Kunst in eben dem Maße transformiert, als sie die Wirklichkeit repräsentiert, sie ,vor-stellt‘.57 Sie ist nicht einfach eine zuverlässige Spiegelung der Inhalte dieser Zustände, sondern vielmehr ein ,verklärender Spiegel‘.58 Es ist einer der zentralen Aspekte in der Diskussion dieser beiden Kunsttypen, dass sie nicht nur als Spiegelung verklären, sondern die beiden ohnehin schon ungleichen Visionen, die mit diesen beiden Arten von Zuständen verbunden sind, in ganz unterschiedlicher Weise verklären. Angesichts dieser doppelten Differenz wird vielleicht verständ-

49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 44. Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 109. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27. Vgl. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36.

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lich, wieso Nietzsche von zwei „in ihrem höchsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten“59 spricht. Der grundlegende Kontrast, um den es Nietzsche hier geht, kann durch die Unterscheidung von Bild und Symbol zum Ausdruck gebracht werden, und die eben erwähnte doppelte Differenz hat hierzu einen wesentlichen Bezug. Im Falle der von Nietzsche so genannten apollinischen Kunst unterliegt das chaotische Zusammenspiel roher und flüchtiger Erscheinungen in Verbindung mit den apollinischen Erfahrungszuständen des Traumes und der Einbildung einem Verwandlungsgeschehen, das zur Erzeugung bleibender und idealisierter Bilder führt – „schöne[r] Schein“,60 wie Nietzsche dies nennt. Sie sind Schein, weil ihnen weder im Fluss der Erscheinungen noch über diese hinaus etwas entspricht; und sie sind von größerer Schönheit als der wahllos konstituierte Inhalt dieses Flusses. Sie sind Verklärungen von Erscheinungen – Bilder, die dem Stoff von Träumen verwandt sind und sich doch erheblich von ihnen unterscheiden. Im Falle der dionysischen Kunst liegt die Verwandlung, aus der sie hervorgeht, in der Erfahrung des unerschöpflichen, dynamischen „UrEinen“, das „jenseit [sic] aller Erscheinung und trotz aller Vernichtung“61 besteht, verbunden mit den grundlegenden dionysischen Zuständen des Rausches und des Orgiasmus. Diese Verwandlung erzeugt eine „neue Welt der Symbole“,62 in der sich das „Wesen der Natur symbolisch“ ausdrückt;63 und in eben diesen symbolischen Formen besteht die dionysische Kunst. Sie sind Verklärungen ekstatischer Zustände – Ausdrücke, die zwar der unmittelbaren dionysischen Ekstase verwandt sind, sich aber zugleich von dieser wie auch von der in ihr aufscheinenden zugrunde liegenden Wirklichkeit wesentlich unterscheiden. Es ist daher, so Nietzsche, die dionysische Kunst, „die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis […] zum Ausdruck bringt“.64 Dennoch besteht er darauf, dass selbst ein so paradigmatischer Fall der Kunst wie die Musik nicht als mit diesem Willen identisch verstanden werden darf: „denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der 59 60 61 62 63 64

Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 103. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 108. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 108.

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Kunst zu bannen wäre“.65 Wenn sie nämlich der Wille selbst wäre, dann fehlte ihr ja der verklärende Charakter aller Kunst. Es ist demnach Nietzsches Überzeugung, dass es einerseits eine Form der Kunst gibt, in welcher die hervorgebrachten Kunstwerke einen symbolisch-expressiven Charakter haben, und andererseits eine Form der Kunst, in der sie stattdessen den Charakter idealisierter Bilder bzw. „schöne[n] Schein[s]“66 haben. Es ist dabei ein dem Anschein nach kurioser, aber bedeutsamer Aspekt dieser Analyse, dass diejenigen Künste, die gewöhnlich als ,darstellend‘ angesehen werden, der letzteren Kategorie entsprechen, während die ,nicht darstellenden‘ Künste der ersteren angehören. Die idealisierten Bilder der apollinischen Kunst dürfen nicht so verstanden werden, als hätten sie die Aufgabe einer zuverlässigen Darstellung oder würden überhaupt irgendetwas symbolisch zum Ausdruck bringen. Sie müssen vielmehr als „schöne[r] Schein“67 verstanden werden, welche allein um ihrer selbst willen betrachtet werden und einzig aufgrund ihrer inneren Schönheit Gefallen hervorrufen sollen. Diese Bilder sind, so Nietzsche, ein „Supplement der Naturwirklichkeit […], zu deren Ueberwindung neben sie gestellt“.68 Insofern überhaupt von einer signifikanten Verbindung zwischen ihnen und dieser „Wirklichkeit“ die Rede sein kann, liegt diese nicht etwa in einem genetischen Bezug zu den empirischen Erscheinungen, deren Verklärung sie sind, sondern vielmehr in ihrem Vermögen, uns zu einer höheren Wertschätzung der Welt der gewöhnlichen Erfahrung zu verhelfen, indem wir sie in dem „verklärenden Spiegel“ betrachten, den diese Bilder uns geben, „von einer höheren Glorie umflossen“.69 Durch die apollinische Kunst ist die Welt der gewöhnlichen Erfahrung nicht eigentlich verwandelt, ihre Härte nicht eigentlich gemildert. In dem Ausmaß jedoch, in dem die durch die Verwandlungskraft des apollinischen Künstlers hervorgebrachten idealisierten Bilder eine Verbindung zu dem, was uns in der Welt begegnet, herzustellen erlauben, gewinnt auch unsere Haltung gegenüber der Welt, und zwar dadurch, dass sich unser Entzücken über diese Bilder in eine allgemeine Neigung zu allem, was ihnen gleicht, überträgt.

65 66 67 68 69

Nietzsche, GT 6, KSA 1, S. 50. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36.

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Noch einmal sei jedoch betont, dass es sich in dem, was der Mensch dadurch erlangt, nicht um Wissen handelt, sondern um einen veränderten Bewusstseinszustand, hervorgerufen durch „kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen“70 und eine „zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins“.71 Sicher kann man berechtigte Vorbehalte an der psychologischen Gültigkeit dieser Annahmen oder der Effektivität dieses Prozesses vorbringen – wie sie ja in der Tat Nietzsche selbst später gekommen sind. Gleichwohl berühren diese Vorbehalte nicht Nietzsches entscheidenden Punkt, nämlich seine Einschätzung derjenigen Kunstwerke, die er apollinisch nennt. Sie sind ,schöner Schein‘ – idealisierte Bilder, die weder abbilden noch symbolisieren, sondern Entzücken hervorrufen, und zwar allein aufgrund der Schönheit, die sie besitzen, erzeugt durch die schöpferische Verklärung, die in ihrer Herstellung statthat. Im Falle dionysischer Kunst stehen die Dinge gänzlich anders. Der dionysische Künstler ist ebenfalls schöpferisch tätig und nicht bloß einer, der eine Einsicht gewonnen hat und diese mitzuteilen in der Lage ist – ungeachtet der Versicherung Nietzsches, dass im Falle des Musterbeispiels dionysischer Kunst der Künstler „das Abbild dieses Ur-Einen als Musik“ produziert.72 Es ist durchaus möglich, dass das Wesen dieser zugrunde liegenden Wirklichkeit in Ausprägungen dionysischer Kunst gewissermaßen einen „Urwiederklang“73 findet, wie Nietzsche sich auch ausdrückt. Eine derartige Kunst ist aber, um im Bild zu bleiben, nicht weniger ein ,verklärender Hallraum‘, als die apollinische Kunst ein ,verklärender Spiegel‘74 ist. Denn der künstlerische ,Wiederklang‘ steht nicht in derselben unmittelbaren Identitäts-Beziehung zu diesem ,UrEinen‘ wie das grundlegendere dionysische Phänomen des Rausches. Vielmehr kommt der Wiederklang in veränderter Form zurück, in deren schöpferischer Hervorbringung der Mensch „zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt“ wird.75 Daher heißt es bei Nietzsche im unmittelbaren Anschluss: „Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nöthig“76 – und eben diese „neue Welt der Symbole“ 70 71 72 73 74 75 76

Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 37. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 44. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 44. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33.

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konstituiert sowohl die Sprache als auch das Wesen dionysischer Kunst. Dieser Sachverhalt wird dadurch kompliziert, dass Nietzsche den Begriff des Dionysischen in zweifacher Bedeutung verwendet. Zum einen wird er auf das ,Ur-Eine‘ selbst bezogen (den „dionysischen Untergrund[e] der Welt“77), auf die Einsicht in sein Wesen und die damit verbundene Not des Individuums in einer solchen Welt („dionysische Weisheit“78). Zum anderen bezieht er sich auf diejenige Form der Kunst, die unsere „symbolischen Fähigkeiten“79 reizt und dabei gleichzeitig verklärt, und dies selbst noch während sie der ,dionysischen Weisheit‘ Ausdruck verleiht. Noch einmal sei aber darauf hingewiesen, dass für Nietzsche das Dionysische, wie alle anderen Kunstformen auch, nur insofern zur Kunst überhaupt gehört, als es „vollen Antheil an dieser metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt“80 nimmt. Denn Nietzsche ist davon überzeugt, dass wir niemals das blendende Licht einer unvermittelten Begegnung mit dem wirklichen Wesen der Welt ertragen könnten – und dass eine nicht zerstörerische Identifikation mit ihm nur durch eine Verklrung möglich ist, durch die bezaubernden symbolischen Formen der dionysischen Kunst. Zusammengefasst gesagt: In diesen Künsten ist das Wesen der Welt in einer Form ausgedrückt, die uns eher anzieht als abstößt – einer symbolischen Form, deren Anziehungskraft in der mit dieser Symbolisierung einhergehenden Verklärung liegt und die durch den Charakter der jeweilig „neue[n] Welt der Symbole“81 ermöglicht wird. Dionysische Kunst hat nicht den Charakter eines „Schönheitsschleiers“,82 der radikal von der Wirklichkeit der Natur unterschieden und „zu deren Ueberwindung neben sie gestellt“83 ist, wie dies von der apollinischen Kunst gilt. Dennoch hat sie einen durchaus analogischen Charakter, und ihre Funktion besteht darin, die Wirklichkeit der Natur so zum Ausdruck zu bringen, dass wir dabei unser Grauen vor ihr überwinden und eine „Urlust am Dasein“84 durch Identifikation mit ihr zu empfinden in der Lage sind – indem wir mit ihr eins werden durch ein quasi-illusorisches Medium verklärender symbolischer Formen. 77 78 79 80 81 82 83 84

Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 55. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 109.

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Die grundlegende und entscheidende Einsicht, der Nietzsche in diesem Zusammenhang nachgeht, besteht darin, dass die Kunst gegenüber der Welt, wie wir sie wahrnehmen und wie wir sie erkenntnistheoretisch erfassen, nicht darstellend, d. h. repräsentierend und auch nicht imitierend ist – sie ist vielmehr verklärend. Ferner versucht Nietzsche zu zeigen, dass die Verklärung, die die Kunst mit sich bringt, mehr ist als bloß angenehme Darstellung von Gefühlen oder Einbildung in sinnlicher Form; und schließlich, dass es ganz unterschiedliche Modi dieser Verklärung gibt. Man muss sich weder der von Nietzsche vorgeführten (und später von ihm selbst abgelehnten) Unterscheidung von Erscheinung und Wirklichkeit anschließen, noch seiner Behauptung, die Kunst sei „höchste[n] Aufgabe“ und die „eigentlich metaphysische[n] Thätigkeit dieses Lebens“,85 noch auch seiner Überzeugung, nach der die Kunst jene Art von „Überwindung“ leistet, die er hier im Zusammenhang mit den „Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“86 beschreibt, um ihm gleichwohl bis hierher folgen zu können – und durchaus noch etwas weiter.

4. Nietzsche verwendet die Begriffe von Verklärung und Illusion nicht allein in Anwendung auf die Werke apollinischer und dionysischer Kunst, verstanden als Objekte ästhetischer Erfahrung, er bezieht sie auch auf die Subjekte dieser Erfahrung, insofern sie in den Objekten vollkommen aufgehen. Die Bedeutung der Kunst im Ganzen wäre für Nietzsche missverstanden, wenn nicht erkannt würde, dass das Bewusstsein in der Kunsterfahrung einer Verwandlung ausgesetzt ist, die zu der in der Hervorbringung von Kunstwerken gemachten analog ist – und dass in dieser Verwandlung zugleich die psychologische Identität des Subjekts der Erfahrung in gewisser Weise verklärt wird, wenn auch bloß zeitweise und ohne dass sie in grundlegender Weise die Natur eines Menschen und dessen Existenz in der Welt beträfe. Aus dem letzteren Umstand erscheint es sinnvoll, in dieser Hinsicht von Illusionen zu sprechen – obgleich Nietzsche nicht weniger Wert darauf legt, beständig den Wert solcher Illusionen für ,das Leben‘ hervorzuheben, als andererseits ihren illusionären Charakter zu betonen. 85 Nietzsche, GT Vorwort, KSA 1, S. 24. 86 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35.

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Die subjektive Verwandlung, die mit der objektiven bei der Herstellung von Kunstwerken sich einstellenden verbunden wird, ist allerdings in den zwei hier in Frage stehenden Grundtypen von sehr verschiedener Art. Nietzsche geht nämlich davon aus, dass sie zwei grundsätzlich verschiedene Strategien begründen, durch die der „gierige Wille“87 im Herzen der Natur immer wieder ein Mittel findet, „seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen“.88 Diese werden von Nietzsche hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Funktion im ,dionysischen Menschen‘ und im ,apollinischen Menschen‘89 diskutiert, und der Einfachheit halber werde ich Nietzsche hierin folgen – gehe dabei allerdings davon aus, dass diese Begriffe sich auf verschiedene Typen von psychologischen Zuständen und nicht auf unterschiedliche Gruppen von Menschen beziehen. Das Dionysische tauscht nicht einfach seine physiologische oder soziokulturelle Identität und Situation in der Welt gegen eine andere aus oder versucht dieser im Zuge des von Nietzsche angeführten „Zerbrechen[s]“90 oder der „Zerreissung des principii individuationis“91 ganz zu entfliehen. Als Phänomen der Erfahrung allerdings ist diese Zerstörung durchaus real: Der dionysische Mensch erfährt dergestalt eine psychologische Verwandlung, dass für ihn die einzige Wirklichkeit, derer er sich bewusst ist – d. h. mit welcher er sich identifiziert – diejenige wird, die sich in den Bewegungen, Tonalitäten oder anderen symbolischen Formen ausdrückt, in die er gerade eingetaucht ist. Daher heißt es bei Nietzsche, wir seien in der Erfahrung der dionysischen Kunst „in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig“.92 So wie man von jemandem im Zustand des Rausches (wenn auch angemessener Weise nur in psychologischem Sinn) sagen kann, er sei ,nicht er selbst‘, so gilt auch von jemandem, der in die Welle und den Fluss einer solchen ästhetischen Erfahrung gänzlich eingetaucht ist, dass er darin ,sich selbst verliert‘. Das Bewusstsein ist dann ganz darin verstrickt, das Selbstbewusstsein entsprechend verändert, mag diese Verwandlung sich nun in 87 88 89 90 91 92

Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Vgl. Nietzsche, GT 2 f., KSA 1, S. 30 – 38. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 109.

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einem verzückten Ablassen von allen gewöhnlichen Aktivitäten manifestieren, in äußerlicher Untätigkeit die einen inneren Tumult verschleiert, oder im offenen Sich-Einlassen auf eine Beteiligung an dem Geschehen. Eine solche Erfahrung ist die einer Seligkeit, aber auch im ursprünglichen und wörtlichen Sinne des Wortes eine Ekstasis, also ein Herausstehen oder Neben-sich-Stehen. In dem Ausmaß, in dem die eigene Existenz als ein Moment jener Wirklichkeit erfahren wird, die in der dionysischen Kunst zum Ausdruck kommt und durch deren Vermittlung ein Gefühl der Einheit mit dieser Wirklichkeit gestiftet wird, kann dieser Verwandlung die Funktion einer Auflösung der Illusion unseres alltäglichen Bewusstseins zugesprochen werden, dem zufolge wir von der Wirklichkeit getrennt sind und uns aus diesem Grund auch mit Hilfe einer anderen Begrifflichkeit charakterisieren müssen. Aber in dem Maß, in dem eine solche Erfahrung dazu führt, sich selbst so vollständig mit dieser Wirklichkeit zu identifizieren, dass man auch diejenigen Momente genießt, die diese Wirklichkeit eigentlich nur als Ganzes charakterisieren, mit welchem Ganzen man nicht wahrhaft eins sein kann, darf von dieser Verwandlung auch mit Recht gesagt werden, dass sie einer neuen und anderen Illusion Vorschub leistet. Daher sagt Nietzsche, dass es sich in diesem Fall genauso wie bei der apollinischen Kunst darum handelt, dass „durch eine über die Dinge gebreitete Illusion“93 die Natur immer wieder Mittel findet, ihre „Geschöpfe“ – ungeachtet der Härte, die sie ihnen zumutet – „im Leben festzuhalten“, in diesem Falle durch den „metaphysische[n] Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfliesst“.94 Die hier in Frage stehende Illusion besteht nicht darin, dass „das ewige Leben“ ungeachtet der Vergänglichkeit der Erscheinungswelt „unzerstörbar weiterfliesst“95 – denn dies ist ja tatsächlich der Fall. Es ist durchaus möglich, dass uns diese Verwandlung unserer psychologischen Identität in gewisser Weise ,Trost‘96 spendet, indem sie uns erlaubt, eine Empfindung der Einheit mit dieser unzerstörbaren und unerschöpflichen Wirklichkeit zu erlangen, deren Manifestationen wir in Wahrheit sind. Während dieser Trost zwar als metaphysisch bezeichnet werden kann, gilt das nicht für die Verklärung, lässt sie doch unsere weltliche Befindlichkeit 93 94 95 96

Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115 u. S. 119.

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unverändert und die grundlegenden Bedingungen unserer menschlichen Existenz unangetastet – eine Erfahrung, die wir jedes Mal machen, wenn der Augenblick vorbei ist und damit auch die dionysische ästhetische Erfahrung endet und wir gleichsam wieder ,wir selber‘ sind, indem unsere psychologische Identität in ihren ursprünglichen nicht-dionysischen Zustand zurückverwandelt wird. Der einzige bleibende Trost ist die Erinnerung an die Verzückung der dionysischen Erfahrung und das Wissen, dass sie uns auch weiterhin zugänglich ist. Gleichwohl geht mit dieser Art der ,Überwindung‘ eine wesentliche Gefahr einher, derer sich Nietzsche wohl bewusst ist: Die Enttäuschung könnte nämlich groß sein, die Kluft zwischen dionysischer Erfahrung und alltäglichem Leben schmerzlich, die Illusion könnte durchschaut und ihre Erkenntnis als verstörend empfunden werden – und so wäre möglicherweise auf lange Sicht eine solche Erfahrung dem Leben eher abträglich als förderlich.97 Insbesondere aus diesem Grund findet sich bei Nietzsche, trotz der offensichtlichen Faszination, die sie auf ihn ausüben, durchaus auch eine gewisse Zurückhaltung gegenüber der dionysischen Kunst und Erfahrung. Nietzsches apollinischer Typus stellt einen ganz anderen Fall dar, insofern er das Ergebnis einer ganz anders gelagerten psychologischen Verwandlung ist. Genau wie im vorigen Fall gilt die Transzendenz nicht nur als temporär, sondern ebenso als fundamental illusorisch, und die daraus resultierende Verwandlung als psychologische, nicht als ursprünglich ontologische. Auch hier sieht Nietzsche wieder die listige Hand der Natur im Spiel, die in diesem Fall ihre „Geschöpfe im Leben“ festhält, indem sie den apollinischen Menschen „umstrickt“ mit dem „vor seinen Augen wehende[n] verführerische[n] Schönheitsschleier der Kunst“.98 Die Welt der apollinischen Kunst ist eine Art „Traumwelt“,99 die „künstlerische M i t t e l w e l t der Olympier“,100 weder die Alltagswelt noch die zurunde liegende Welt des Willens, sondern eine geschaffene Welt, durch die die letztere „verhüllt und dem Anblick entzogen“101 ist, während die erstere aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verdrängt wird. Ein Zugang zu dieser Welt ist nach Nietzsche nur für einen ,Träumer‘ 97 98 99 100 101

Vgl. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56 f. Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 115. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 38. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36.

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oder einen olympischen Zuschauer möglich, der sich von den Verwicklungen und Sorgen losgelöst hat, die das Alltagsleben betreffen und auf denen unsere gewöhnliche psychologische Identität beruht. Tatsächlich bedarf es erst einer solchen Verwandlung in einen „idealische[n] Zuschauer“102 – oder besser gesagt: die vorgestellten Bilder müssen gewissermaßen ein kontemplatives Bewusstsein erzeugen, durch das die psychologische Identität in ein solches Subjekt verwandelt wird. Diese Bilder stehen außerhalb von Zeit und Wandel, Bedürfnis und Streit, und sich in sie zu verlieren bedeutet für Nietzsche eine entsprechende Verwandlung des Bewusstseins. Während die Erfahrung der dionysischen Kunst einer Entrckung gleichkommt, kann man die apollinische eine Verzauberung nennen. In diesem Zustand der Verzauberung ist es, als sei man selbst Teil dieser Welt der Bilder geworden – nicht als eines von ihnen, sondern als ortloses, entkörperlichtes Bewusstseinszentrum; ein Subjekt, das diesen Objekten entspricht und ihrem Wesen korrespondiert. Dass die apollinische Kunst durch „die Erregung d e s G e f a l l e n s a n s c h ö n e n F o r m e n “103 bestimmt ist, darf nicht primär in dem Sinne verstanden werden, dass sie uns einfach mit Annehmlichkeiten versorgt, sondern vielmehr im Sinne einer Überwindung der Nöte, die mit dem Menschsein als solchem verbunden sind, gewissermaßen durch eine Erlösung: „[H]ier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der E w i g k e i t d e r E r s c h e i n u n g , hier siegt die Schönheit über das dem Leben inhärirende Leiden“.104 Denn der apollinische Mensch „ist in das reine Anschauen der Bilder versunken“,105 deren Schönheit uns unwiderstehlich anzieht und in ihren Bann schlägt, und uns so dazu zwingt, alles andere aus uns auszuschließen und nichts weiter zu sein als das bloße von ihnen entzückte Bewusstsein. Diese Entzückung ist ursprünglich und die psychologische Verwandlung wirklich – obwohl auf einer grundsätzlicheren Ebene sowohl die Objekte dieses Bewusstseins als auch das entsprechende Selbstbewusstsein nur zwei Aspekte der apollinischen Illusion sind, und nach Nietzsche „ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet“.106 102 103 104 105 106

Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 54. Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 104. Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 108. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 44. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 37.

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Diese Illusion allerdings ist keineswegs so substanzlos wie der Begriff nahe zu legen scheint. Ein Hinweis dafür ist in der Sicht Nietzsches die Tatsache, dass diese Illusion zumindest stark genug ist, der ,Natur‘ zu ihrem Ziel zu verhelfen „als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins“.107 Wenn also, wie Nietzsche in diesem Satz behauptet, die apollinische Kunst ,in’s Leben gerufen‘108 wird als „Ergänzung“ und „Vollendung des Dasein“, kann es sich hierbei offenbar nicht um eine bloße Illusion handeln, welche die Wirklichkeit des Lebens in keiner Weise betrifft. Sie hebt zwar nicht grundsätzlich die conditio humana als solche auf, aber insofern sie in einem wesentlichen Sinne als „Vollendung des Daseins“ verstanden werden kann, muss sie eine entscheidende Verwandlung des ,Daseins‘ bewirken – zumindest desjenigen Teils, der die Wirklichkeit des menschlichen Lebens ausmacht. Die Kunst ist zwar unsere Schöpfung, aber gleichermaßen sind wir durch die Kunst neu erschaffen oder verklärt – oder könnten es wenigstens sein. Die Erfahrung und Spiritualität, die im Verhältnis zu den idealisierten Bildern der apollinischen Kunst erreichbar wird, mag vielleicht diejenigen, die sich ihr zuwenden, nicht gänzlich über die alltäglichen Lebensverstrickungen und die Härten weltlich-menschlicher Existenz erheben – aber sie bewirkt in dem Menschen, der zu ihr Zugang gewinnt, eine Veränderung, die ihn von demjenigen, der gänzlich in das Alltägliche versunken bleibt oder nur dadurch weiterkommt, dass er gelegentlich Aufschub durch dionysische Erfahrungen erlangt, qualitativ unterscheidet. Es ist eben die Würdigung dieses qualitativen Unterschieds, aus der Nietzsches Hochschätzung für die Errungenschaften der alten Griechen in ihren Schöpfungen der apollinischen Kunst, in der Plastik wie auch in der Epik, entspringt.

5. Die tragische Kunst ist für Nietzsche ihrem Wesen wie auch ihrem Ursprung nach nicht weniger apollinisch als dionysisch. Ganz zu Beginn des Buches hebt er diese Einsicht mit Blick auf ihren Archetyp – die Tragödie – hervor, wenn es heißt, „durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ,Willens‘“ würden die beiden „Triebe“109 107 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. 108 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. 109 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25.

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endlich „mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“110 Die Schwierigkeit seiner gesamten Diskussion der Tragödie besteht nun darin, dass ihr Hervortreten nicht nur die vorgängige Entwicklung der dionysischen Kunst der Verklärung und Verwandlung voraussetzt, sondern auch deren Rckverwandlung unter dem Einfluss der ebenfalls vorgängig entwickelten Kunst der apollinischen Verklärung. Die Geburt der Tragödie war für Nietzsche ein Ereignis, dem sowohl eine höchste gegenwärtige als auch eine mögliche zukünftige Bedeutsamkeit zugeschrieben werden muss. Schließlich bedeutete sie nicht nur das Auftreten einer qualitativ völlig neuen Kunstform und mithin ein neues Kapitel in der Entwicklung der Kunst überhaupt. Vielmehr wurde durch die Geburt der Tragödie auch eine qualitative Verwandlung des menschlichen Lebens ermöglicht, der nach Nietzsche eine wesentlich größere Bedeutung zukomme und zukommen werde als bisher angenommen. Die Möglichkeit tragischer Kunst endete nicht mit dem Untergang der attischen (griechischen) Tragödie und ist nicht notwendig an die dramatische Form der Werke der klassischen Tragödiendichter gebunden. Auch denkt hier Nietzsche nicht allein an das Elisabethanische Drama oder an die tragische Oper seiner eigenen Zeit, sondern vielmehr an etwas, das er in einem allgemeinen Sinne den tragischen Mythos nennt. Darüber hinaus ist es wichtig zu bemerken, dass Nietzsche die tragische Kunst nicht als ein Phänomen versteht, dessen Bedeutung auf einen einzigen Bereich der menschlichen Erfahrung und des kulturellen Lebens beschränkt ist. Vielmehr nimmt er sie als mögliche Begründungsund Führungskraft einer vollständigen Form der Kultur und menschlichen Existenz in den Blick, die allein jene Leere zu füllen vermag, die der Zusammenbruch aller ,optimistischen‘ lebenserhaltenden Mythen – der religiösen wie auch der philosophisch-wissenschaftlichen – hinterlassen hat. Und der Tragödie soll abermals die Funktion zukommen, das „Leben möglich und lebenswerth“111 zu machen, wozu weder die apollinische noch die dionysische Kunst allein mehr in der Lage ist. Die erstere mag uns wohl weiterhin bezaubern und erfreuen, die letztere weiterhin entrücken und erregen, und beide mögen uns wohl auch weiter je auf ihre Art tragen und uns verwandeln – aber die Kraft der mit beiden verbundenen Illusionen, die unserer Erhaltung dienten, ist verloren gegangen. 110 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25 f. 111 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 27 f.

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In diesem Zusammenhang ist es ebenso wichtig wie erhellend, sich an die zu Beginn zitierte Passage vom Ende der Geburt der Tragçdie zu erinnern, in der Nietzsche – ganz offensichtlich mit der tragischen Kunst vor Augen – davon ausgeht, dass hinsichtlich des Grundcharakters der Welt und weltlichen Existenz „genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten [darf], als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann“.112 Um das Bewusstsein dieser öden Wirklichkeit zu ertragen, dessen wir fähig sind und welches auf lange Sicht nicht zurückgedrängt werden kann, und um trotz solchen Bewusstseins weiterhin das Leben anzunehmen und zu bejahen, ist eine Verwandlung dieses Bewusstseins notwendig. In seiner ödesten, einfachsten und lebhaftesten Form wäre es laut Nietzsche in überwältigender Weise entsetzlich, ekelerregend,113 lähmend und schlichtweg unerträglich – abgesehen von bloß zeitweiligen Zuständen dionysischekstatischer Selbsttranszendenz, die niemals von Dauer sind und daher auf lange Sicht keine angemessene Zuflucht bieten. Für Nietzsche vermag allein die tragische Kunst dieser Aufgabe gerecht zu werden. Wie wir bereits gesehen haben, ist Nietzsche der Meinung, dass sie uns in die Lage versetzt, das Schreckliche nicht nur als schrecklich, sondern auch als erhaben zu erfahren. Die tragische Kunst erzeugt eine dem Dionysischen ähnliche Wirkung, die jedoch mit diesem keineswegs identisch ist – weil sie nicht einen lebensbedrohlichem Tribut fordert wie der dionysische Rausch, sondern einen Erfahrungszustand hervorruft, der sich vom Zustand des Rausches wie auch vom Zustand des apollinischen Traumes gleichermaßen unterscheidet. Auf lange Sicht ist der tragische Zustand eher Stärkungsmittel denn ein bloßes Beruhigungsmittel; seine Wirkung beschreibt Nietzsche als Heiterkeit, 114 die weder die auf die dionysische Erregung folgende gänzliche Erschöpfung noch die aus der apollinischen Begeisterung folgende Verzweiflung zurücklässt. Direkter betrachtet könnte man sagen, dass der tragische Zustand uns in Entzckung hlt – im Gegensatz zur apollinischen Verzauberung wie auch zur dionysischen Entrückung. Die tragische Kunst in ihrem Vollzug zu beschreiben bedeutet also nicht, eine Analyse des Tragischen zu liefern – Nietzsches Auffassung vom Wesen des Tragischen muss vielmehr vor dem Hintergrund seines Verständnisses der beschriebenen Wirkungen des Tragischen in den Blick gebracht werden. 112 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. 113 Vgl. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. 114 Vgl. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 65.

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Auch von der tragischen Kunst kann gesagt werden, dass sie gewissermaßen einen ,verklärenden Spiegel‘ hervorbringt. Es ist dies jedoch ein Spiegel, in dem uns weder idealisierend verklärte Erscheinungen noch ein symbolisches Bild des Charakters der zugrunde liegenden Wirklichkeit gezeigt werden. Stattdessen begegnen uns Bilder des Lebens selbst:115 Reflexionen der Bedingtheit des Menschseins, also unserer selbst, der damit notwendig verbundenen Individuation wie auch des Schicksals in einer Welt, in der jede individuelle Existenz vergänglich, hart und von Kämpfen und Leiden geprägt ist. Uns begegnet allerdings nicht ein bloßes und brutal ,realistisches‘ Porträt dieser Bedingtheit als solcher. Wir sehen sie vielmehr in einer verklärten Form – auch wenn diese Verklärung nicht die radikale Umwandlung in eine imaginierte und idealisierte Bedingtheit im Gegensatz zur wirklichen Bedingtheit des Menschseins bedeutet. Genauso wenig ist damit eine völlige Auslöschung entscheidender Merkmale menschlichen Lebens verbunden, die verursacht würde durch eine Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Individuellen hin zum Kollektiven, Unpersönlichen, rein Vitalen und dem zugrunde liegenden beständigen Lebenstrieb. Vielmehr betrifft die hier gemeinte Verklärung die Wahrnehmung unserer eigenen individuellen menschlichen Existenz – als Existenz, das heißt als individuelle, die nicht bloß Teil eines unerschöpflichen und unzerstörbaren Lebensflusses ist; und zudem kommt hier wirklich menschliche Existenz in den Blick und nicht mehr eine Sphäre über und jenseits der Bedingtheiten, denen menschliches Leben notwendig unterworfen ist. Diese Verklärung betrifft in erster Linie die Charaktere der dramatischen Figuren, die uns begegnen – oder richtiger, sie ereignet sich in erster Linie in unserer Begegnung mit ihnen. Gleichwohl bleibt sie nicht auf diese Begegnung beschränkt, sie dient vielmehr dazu, unsere Auffassung von der Bedingtheit des Menschseins im Allgemeinen zu verändern. Insbesondere in diesem Sinne ist die tragische Kunst verklärender Spiegel: Sie leistet eine Verwandlung unseres Bewusstseins von der Wirklichkeit des Menschseins, die ja unmittelbar auch die unsre ist, und gleichzeitig reflektiert sie diese Wirklichkeit und macht sie unserer Betrachtung zugänglich. Die tragische Kunst präsentiert uns weder ein bewunderns- und nachahmungswertes Ideal noch einen vollkommenen Ausweg aus dem Bewusstsein von der grausamen Wirklichkeit des Lebens. Letztere ist ja in aller Deutlichkeit gegeben; und mit den tragischen Helden, die in sie 115 Vgl. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 64 – 71.

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verstrickt sind, haben wir, sofern wir sie als Individuen betrachten, durchaus Mitleid – aber als Charaktere betrachtet identifizieren wir uns nicht mit ihnen. Diese Form der Inszenierung der Helden, in der sie eben als tragisch erscheinen und nicht bloß als mitleiderregend, leistet sehr viel mehr als eine bloße Reinigung von unseren selbstbezogenen Gefühlen der Furcht und des Mitleids durch eine empathetische Entladung. Sie kann einen starken positiven Einfluss darauf haben, wie wir unser Menschsein wahrnehmen und die Wirklichkeit des Lebens erfahren, indem sie uns diese in einem ganz anderen Licht zeigt als in dem unserer alltäglichen Wahrnehmung. Man könnte dies wohl so ausdrücken, dass der tragische Künstler durch die Gesamtstruktur des Tragischen – und nicht durch die Person des tragischen Helden an sich – ein Medium zwischen uns und der Wirklichkeit menschlicher Existenz schafft, welches mehr leistet als nur ein Ausdruck dieser Wirklichkeit zu sein; denn dieses Medium klärt und bereichert unser Bewusstsein der Wirklichkeit und kann uns eben dadurch zu einer affirmativen Haltung gegenüber der Wirklichkeit verhelfen. Zusammenfassend gesagt: Die tragische Kunst eröffnet uns eine Perspektive, in der wir die Wirklichkeit so erfassen, dass wir sie bewältigen können – also nicht nur ertragen, sondern auch bejahen können, was wir durch die Kunst der Tragödie sehen, und wie wir dies zu sehen lernen. In diesem Sinne ist die tragische Kunst der dionysischen sehr ähnlich, und diese Ähnlichkeit ist für Nietzsche keineswegs zufällig. Im tragischen Mythos wird, ebenso wie in der Musik und im Tanz, etwas symbolisch zum Ausdruck gebracht, das die bloßen Erscheinungen transzendiert – und indem es zum Ausdruck gebracht ist, wird es für unser Bewusstsein verwandelt. Die symbolischen Formen, die hier zum Einsatz kommen, sind allerdings nicht in erster Linie diejenigen, die für die dionysischen Künste charakteristisch sind, sondern entstammen dem ursprünglich nichtsymbolischen Bereich apollinischer Kunst. Das Leben, insofern es als tragisch betrachtet wird, erscheint nicht mehr einfach nur erbärmlich und bemitleidenswert; das Missvergnügen über „die Last und Schwere des Daseins überhaupt“116 wird überlagert und vergessen, sobald es nicht mehr als sinnloses Leiden und Vergehen, sondern als ein tragisches Schicksal angesehen wird. Wenn der tragische Held sich mutig seinem Schicksal stellt, anstatt es bloß zu erleiden, wird dadurch seine Gestalt eher erhoben, als dass sie abstoßend wirkte; und so dienen diese Heldenfiguren als ein symbolisches Medium, durch welches 116 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 116.

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die individuelle Existenz überhaupt gehoben wird. In eben diesem Sinn muss jener vorzügliche Stimulus verstanden werden, der die tragische Kunst in so ausgezeichneter Weise charakterisiert, obwohl er beständig ergänzt wird durch die Präsenz dessen, was für die dionysische Kunst als charakteristisch gelten kann. Die ausgezeichnete Leistung der tragischen Kunst ist also darin zu sehen, dass sie unser Verständnis der menschlichen Existenz grundlegend verändert – und mithin auch unser Verständnis der mit ihr einhergehenden Umstände, die zum Leiden und zur Zerstörung auch von solch außergewöhnlichen Figuren wie den tragischen Helden der Dramen und Mythen führen. Durch die tragische Kunst erscheinen diese Umstände nicht mehr als bloße Einwnde gegen das Leben und den Wert des Daseins, sondern erweisen sich als dazugehörige Merkmale, die – als Teile des größeren Ganzen, das das menschliche Leben ist und sein kann – zu seiner Bedeutung und seinem Reiz insgesamt sogar beitragen. Aus diesem Grund kommt Nietzsche zu der Aussage, „dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint“.117 Dass Nietzsche hier ganz entschieden „nur“ sagt, ist von immenser Bedeutung. Denn seine entscheidende Pointe liegt darin, dass es nur auf diese Weise für uns möglich ist, das menschliche Leben auszuhalten und als wertvoll zu empfinden, ohne dabei bei Illusionen Zuflucht suchen zu müssen, die das tatsächliche Wesen der menschlichen Wirklichkeit und der Welt im allgemeinen radikal falsch darstellen.

6. Im Zusammenhang mit der Betrachtung apollinischer und dionysischer Kunst ist bereits klar geworden, dass für Nietzsche in einem entscheidenden Sinne alle Bilder wie auch alle Erscheinungen im Allgemeinen als illusorisch betrachtet werden müssen. Gleiches gilt auch für alle Symbole, da von keiner der beiden Ausdrucks- oder Darstellungsformen gesagt werden kann, dass sie auch nur annähernd, geschweige denn exakt, mit dem eigentlichen Wesen der Wirklichkeit übereinstimmen. Es besteht keinerlei Übereinstimmungsbeziehung zwischen diesen Erfahrungsphänomenen und der zugrunde liegenden Wirklichkeit selbst; vielmehr liegt zwischen ihnen ein entscheidender und qualitativer Unterschied. Aber keineswegs gilt für Nietzsche bloß in dieser grundsätzlichen (und ver117 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 152.

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gleichsweise uninteressanten) Hinsicht auch die tragische Kunst als illusionserzeugend. Es ist ebenfalls schon angesprochen worden, dass diese Illusion ihren Dreh- und Angelpunkt in dem ,Bild des Lebens‘118 hat, dem wir im tragischen Helden begegnen. Die tragischen Gestalten sind weder einfach ,realistische‘ Zeichnungen noch zwar fiktive, aber doch dem wirklichen Leben entlehnte Individuen, noch auch Repräsentanten der elementaren Charakteristik „der dionysischen Allgemeinheit“ (wie es der Chor ist);119 und sie sind auch keine bloßen apollinischen schönen Illusionen. Genau wie die apollinischen Idealbilder jedoch konstituieren sie so etwas wie ein „Supplement der Naturwirklichkeit“ und der damit einhergehenden Wirklichkeit des Menschseins und werden „zu deren Ueberwindung neben sie gestellt“.120 Der „in ihnen enthaltene[n] Lebenskern[es]“121 ist zwar derselbe wie der unsre, jedoch künstlerisch verwandelt in Bilder des Lebens. Diese Bilder des Lebens stellen Möglichkeiten dar, die sehr viel menschlicher sind als glanzvolle Erscheinungen und heben sich gleichzeitig vom Alltäglichen deutlich ab; darüber hinaus entsprechen sie keinem vorgängig bestimmten Wesen des Menschen und keinem vorherbestimmten menschlichen Ideal. Daher kann in keiner Weise davon die Rede sein, dass uns in diesen Bildern die „Wahrheit“ menschlicher Existenz begegnet. Und weil das, was uns begegnet, etwas anderes als die Wahrheit ist, kann durchaus gesagt werden, dass sie uns gewissermaßen eine „Illusion“ präsentieren. In diesem Sinne müssen Nietzsches Ausführungen über diesen Effekt verstanden werden. Gleichwohl ist diese „Illusion“ nicht eine bloße Illusion; genauso wenig ist das verwandelte Bewusstsein unserer selbst, das entsteht sobald wir unser eigenes Leben im Licht dieser tragischen Figuren sehen, eine bloße Illusion. Denn die Schöpfungen, denen sie entstammen, sind nicht verzerrte oder fehlerhafte Abbilder von etwas, das einen festgelegten und unveränderlichen Charakter hätte und nur so und nicht anders sein könnte. Sie sind auch nicht bloß imaginierte Substitute, die zeitweilig einen Teil unseres Bewusstseins besetzen, der normalerweise und seiner eigentlichen Aufgabe gemäß von der gewöhnlichen Vorstellung unserer weltlichen Realität eingenommen ist. Vielmehr sind es Symbole menschlicher Mçglichkeiten. Als solche dienen sie uns dazu, über die bloße 118 119 120 121

Vgl. Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 64 – 71. Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 107. Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 151. Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 137.

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Anerkennung unumgehbarer Aspekte der Bedingtheit des Menschseins hinaus zu gelangen, und versetzen uns in die Lage, Wege zu finden, auf denen uns diese Bedingtheit in einer verwandelten Art und Weise begegnet – nämlich als Anlass und Möglichkeit, dem Leben mehr Glanz und Würde zu verleihen. Vermittels dieser Symbole vermag das menschliche Leben eine ästhetische Bedeutsamkeit zu gewinnen, die ausreicht, um den betrüblichen Charakter seiner harten Grundbedingungen zu überwinden. Das Leben zeigt sich so unverhüllt als ein potenziell ästhetisches Phänomen, das in unserer Einschätzung als solches trotz aller seiner widrigen Umstände entsprechend ,gerechtfertigt‘ ist. Für Nietzsche ist es von höchster Wichtigkeit, dass der tragischen Dichtung dieses Kunststück auf nichtapollinische Art und Weise gelingt; die Wahrnehmung bleibt nicht auf die tragischen Figuren selbst beschränkt, würde dies doch eine Anwendung auf unser Leben von vornherein ausschließen. Die tragischen Gestalten fungieren als Symbole, sie dienen dazu, die durch sie zum Ausdruck gebrachten Möglichkeiten zusammen mit dem „in ihnen enthaltenen Lebenskern[es]“122 als unsere eigenen zu erkennen – und derart die Sicht auf unser Leben zu verändern. Wenn man dies wie Nietzsche als eine Illusion bezeichnet, so ist damit weder die Wirklichkeit dieser Veränderung bestritten noch ihre Bedeutung heruntergespielt. Vielmehr geht es darum, dass unser Leben so einen experimentellen Charakter erhält, der nicht aus seinem grundlegenden, ,objektiven‘ Wesen folgt. Diese Bewegung vollzieht sich in einer vermittelnden Verwandlung durch geschaffene Bilder, die es uns ermöglichen die ästhetische Bedeutung menschlicher Existenz zu entdecken – obwohl die grundsätzlichen Umstände menschlichen Lebens als solche keinerlei Bedeutung gewährleisten. Der entscheidende Aspekt in diesem Zusammenhang ist, um es noch einmal zu sagen, die ,ästhetische Rechtfertigung‘123 nicht bloß der Welt im Allgemeinen, sondern auch (und viel entscheidender) der menschlichen Existenz, die wir leben und leben müssen. Und eben dies setzt die Übersteigung des dionysischen wie auch des apollinischen (und auch des gewöhnlichen) Bewusstseins voraus. Die tragische Kunst vermag dieses Ergebnis nur „durch einen Bruderbund beider Gottheiten“124 zu erreichen, also nicht durch den Sieg des Dionysischen über das Apollinische. 122 Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 137. 123 Vgl. Nietzsche, GT 5, S. 47 u. GT Versuch 5, S. 17 f. 124 Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 140.

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Der quasi-apollinische Tragödienheld wird vielleicht „vernichtet“, aber nicht das gesamte apollinische Element. Und obgleich in „der Gesamtwirkung der Tragödie“ das Dionysische „wieder das Uebergewicht“ erlangt,125 bestimmt es keineswegs allein das Feld. Wenn die menschliche Existenz „gerechtfertigt“ ist trotz ihrer unausweichlich grausamen Bedingungen und Schicksale, kann sie nicht so gedacht werden, dass allein Leiden und Vernichtung als letzte Wahrheit Bestand haben, und die ästhetische Rechtfertigung gänzlich dem ,Ur-Einen‘ zugesprochen wird, das gleichsam unter der Oberfläche des Individuellen und der Erscheinung fließt. Das Bewusstsein der menschlichen Existenz und unserer selbst, das Nietzsche tragisch nennt, ist weder rein apollinisch noch nur dionysisch, denn der tragische Mythos, dem entsprechend es gestaltet ist, stellt unsere Existenz in ein neues und anderes Licht. Dadurch wird eine neue Perspektive ermöglicht, in der unser Bezug zur Wirklichkeit, die gleichzeitig Grund und Abgrund unserer Existenz ist, einer apollinischen Verwandlung offen steht. Jetzt allerdings ist unsere individuelle Existenz nicht etwas, das erst in Vergessenheit geraten muss, damit ästhetisches Gefallen empfunden werden kann, so wie dies in der apollinischen Verzauberung und der dionysischen Entrückung als jeweils getrennten ästhetischen Grundformen der Fall war. Vielmehr steht das menschliche Leben selbst im Mittelpunkt einer ästhetischen Zufriedenheit, die mit keinem der beiden identisch, aber auf beide bezogen ist, weil der Vollzug des Tragischen unsere Fähigkeit, beiden Seiten zu entsprechen, ins Spiel bringt. Noch einmal sei betont, dass dabei der zugrunde liegende Charakter der Welt selbst ebenso wenig verändert wird wie die Bedingtheit des Menschseins – wohl aber die Sicht auf die menschliche Existenz, obwohl sie vor ihrem dionysischen Hintergrund erfasst wird. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass die tragische Kunst die Apollinisierung des Dionysischen vollendet, und zwar in unserem Bewusstsein des letzteren, wenn nicht gar in seinem eigentlichen Wesen. Aber man könnte vielleicht noch treffender – und weniger einseitig – sagen, dass es die Vollendung einer komplexen und radikalen Verwandlung von etwas anderem ist: nämlich die Verwandlung der Perspektive auf unsere menschliche Existenz, und zwar teils auf apollinische und teils auf dionysische Weise. Was sich dergestalt verwandelt, ist nicht die Tragödie selbst, denn die Vollendung der tragischen Kunst ist nicht die Verwandlung der Tragödie in etwas anderes. Vielmehr ist die Tra125 Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 139.

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gödie insofern eine Angelegenheit künstlerischer Verwandlung, als durch sie die Existenz als eine tragische erfahren wird. Und das ist tatsächlich eine spezifisch künstlerische Vollendung, weil die Tragödie nicht weniger als die Schönheit letztlich nur im Auge desjenigen Betrachters existiert, dessen Empfindsamkeit durch die Kunst geformt und kultiviert ist. Diese Verwandlung ist eben nicht ein factum brutum der menschlichen Existenz, sondern eine erworbene Sichtweise, derer sie durch die Verwandlungsleistung des tragischen Künstlers innewerden kann. In diesem Sinne ist dem tragischen Mythos für Nietzsche eine „so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit“126 eigen – und gleichzeitig auch ein zutiefst illusorischer Charakter, insofern wir durch den tragischen Mythos etwas als die tiefste und höchste Wahrheit menschlicher Existenz empfinden – nämlich ihren tragischen Grundzug, den sie mit seiner ganzen Erhabenheit und Majestät zu übernehmen vermag –, der weder ihrem ursprünglichen Wesen entspringt noch eine ihr innewohnende und berechtigterweise zuschreibbare Eigenschaft ist. Wir werden schließlich dahin gebracht, das Leben als ein Mittel anzusehen, durch welches der an die menschliche Existenz geknüpfte ästhetische Wert verwirklicht werden soll, den der verklärende Spiegel des tragischen Mythos enthüllt.

7. In der Geburt der Tragçdie setzt Nietzsche seine Hoffnung auf eine Neubelebung der westlichen Zivilisation – angesichts des Zusammenbruchs alles überweltlich-religiösen wie auch rationalistisch-wissenschaftlichen Optimismus – in ein Wiedererstehen des tragischen Lebenssinns. Natürlich hat Nietzsche erkannt, dass eine solche Sicht des Lebens unmöglich ist ohne den tragischen Mythos und ohne Annahme des mit ihm verbundenen Verständnisses der menschlichen Existenz. Aus eben diesem Grund hat Nietzsche in der Geburt der Tragçdie seine Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Mythos wie auch auf das Verlangen nach einer neuen und verbindlichen Form des tragischen Mythos in der modernen westlichen Welt gerichtet. Nietzsche war, als er die Geburt der Tragçdie schrieb, offensichtlich davon überzeugt, dass Wagner auf dem Weg war, die ihm vor Augen stehende Aufgabe zu verwirklichen. Die Details dieser Auseinanderset126 Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 134.

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zung und die damit zusammenhängenden Fragen sind jedoch von verhältnismäßig geringer Bedeutung für das Wesentliche – vor allem, weil wenig später seine Begeisterung für Wagner zu schwinden begann und er sein Bekenntnis zur Unbedingtheit und Ausschließlichkeit derjenigen Form von Kunst aufgibt, die in der Geburt der Tragçdie mit dem tragischen Mythos assoziiert ist. Auf seinem weiteren Denkweg scheint Nietzsche mehr und mehr davon überzeugt, dass die Kunst im Allgemeinen im Verhältnis zum Leben steht und dass sie wie dieses eine Vielfalt von Merkmalen aufweist, denen die Analyse in der Geburt der Tragçdie nicht gerecht wird. In jedem Fall verändert sich danach sein Zugang zur Kunst dahingehend, dass er den Unterschieden der einzelnen Künste und den mit ihnen verbundenen Erfahrungen weniger Aufmerksamkeit schenkt und sich stattdessen mit dem Phänomen der künstlerischen Schöpfungskraft als solcher beschäftigt. Obwohl Nietzsche in beinahe allen seinen späteren Schriften einen (und oft beträchtlichen) Teil seiner Aufmerksamkeit der Kunst widmet, unterzieht er sie doch nie wieder einer so umfassenden, intensiven und zusammenhängenden Untersuchung. Auch behandelt er sie nie wieder in einem so weiten Spektrum seiner visionären Kraft. Im Folgenden hat er sein Verständnis der Kunst in verschiedenen Hinsichten vertieft und modifiziert, seine Auffassung entsprechend neu gestaltet. Dennoch behält er die meisten grundlegenden Begriffe aus der in der Geburt der Tragçdie gegebenen Interpretation der Kunst in der einen oder anderen Form bei und weist ihnen auch in den folgenden Analysen immer wieder eine zentrale Bedeutung zu – und dies nicht nur bezüglich der Betrachtung der Kunst im engeren Sinn, sondern auch in Bezug auf das menschliche Leben im allgemeinen: der von ihm so genannten ,Steigerung des Lebens‘ und der ,Überwindung des Nihilismus‘. Nietzsche kündigt nicht nur Also sprach Zarathustra am Ende der Erstausgabe der Frçhlichen Wissenschaft mit den Worten „ I n c i p i t t r a g o e d i a “ an,127 sondern verbindet bis zum Schluss die Motive von Kunst, Tragödie, Bejahung und Steigerung des Lebens. Wie stark auch immer sich Nietzsches Denken verändert haben mag, an seinem ursprünglichen Urteil über die wesentliche Zusammengehörigkeit dieser Motive hat er stets festgehalten.

127 Nietzsche, FW 342, KSA 3, S. 571.

Die Schönheit ist falsch, die Wahrheit hässlich: Nietzsche über die Kunst und das Leben Christopher Janaway I. Kunst, Einsicht und Illusion In John Keats „Ode an eine griechische Urne“ betrachtet der Dichter eine antike Keramik, die die berühmten Worte „Schönheit ist Wahrheit, Wahrheit ist Schönheit“ trägt, und erhebt sie zum Ideal. Einige kurze Worte Nietzsches mögen die tiefgreifende Uneinigkeit des Philosophen mit diesem Urnenwort verdeutlichen und auch etwas Licht auf den Titel dieses Aufsatzes werfen: Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswerth zu machen, wenn sie es nicht sind? – und ich meine, sie sind es an sich niemals!1 Die Wahrheit ist häßlich: w i r h a b e n d i e K u n s t , damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.2 [D]ie Kunst, in der gerade die L ü g e sich heiligt, der W i l l e z u r T ä u s c h u n g das gute Gewissen zur Seite hat […].3

Diese Zitate aus der mittleren bis späten Schaffensphase zeigen deutlich, dass für Nietzsche die Kunst das Hervorbringen einer trügerischen Schönheit bedeutet und dass die Wahrheit nicht nur hässlich ist, sondern derart hässlich, dass wir nicht leben könnten, ohne sie in irgendeiner Weise zu verfälschen oder zu verschleiern. In der frçhlichen Wissenschaft heißt es dazu: Übersetzt von Boris Eßmann (Freiburg). Erscheint in englischer Sprache als: Beauty is False, Truth Ugly. Nietzsche on Art and Life. In: Nietzsche, Art, and Aesthetics. Oxford 2011. Übersetzt und abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Oxford University Press, alle Rechte vorbehalten. – Zitate aus der englischsprachigen Sekundärliteratur im Haupttext werden, sofern bei Drucklegung keine Übersetzung vorlag, übersetzt und entsprechend gekennzeichnet. 1 Nietzsche, FW 299, KSA 3, S. 538. 2 Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[40], KSA 13, S. 500. 3 Nietzsche, GM III, 25, KSA 5, S. 402.

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Die R e d l i c h k e i t würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den g u t e n Willen zum Scheine. […] Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h , und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können.4

So wie in der vieldiskutierten Passage desselben Buches, in der es darum geht, „[s]einem Charakter ,Stil [zu] geben‘“,5 lädt Nietzsche in diesem Zitat dazu ein, das Verfälschen, Verzerren und Beschönigen, das der Künstler beim Hervorbringen des Kunstwerks vollzieht, auf sich selbst anzuwenden: Wir sind die „Künstler“, die ein verfälschtes „Produkt“ aus dem Rohmaterial herstellen, das wir zugleich selbst sind – und ohne diese Verfälschung unserer selbst durch uns selbst, so scheint es, könnte nichts in die Existenz treten oder auch nur in ihr verbleiben. Aber wenn wir dies von der Kunst selbst lernen sollen, muss sie sich damit auseinandersetzen, einen falschen Schein hervorzubringen. In seinem neuesten Buch vergleicht Bernard Reginster die späte Schaffensphase Nietzsches mit dessen Position in dem Frühwerk Die Geburt der Tragçdie: Die Lehre dieser Tragödie [des Ödipus] gemäß [der Geburt der Tragçdie] lautet, „dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Gräuel“ ist, der durch die apollinische Illusion in eine „Verklärung emporgehoben“ (GT 9) werden musste, eine Verklärung, die, wie im Falle des Ödipus, eine freiwillige Blindheit beinhaltet. […] [Z]u diesem Zeitpunkt hat Nietzsche noch nicht die Lehre vom Willen zur Macht entwickelt, sondern es stehen nur die Illusionen der Kunst zur Verfügung als Antidot für denjenigen, „der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen“, also für denjenigen, der die „dionysische Weisheit“ erlangt hat (GT 7). Die tragische Weisheit, in dieser frühen Ausprägung, verordnet also, die dionysischen Tiefen zu meiden und auf der apollinischen Oberfläche mit ihrem schönen Schein zu verbleiben – das heißt, mit anderen Worten, „oberflächlich [sein] – aus Tiefe“ (FW, Vorrede zur zweiten Ausgabe 4). Im Gegensatz dazu ist die tragische Weisheit in den späteren Werken nicht mehr (teilweise) apollinisch, sondern eine gänzlich dionysische Weisheit. Die Bejahung des Lebens verlangt nun nicht mehr, dass wir meiden, was in der Geburt der Tragçdie als „Einblick in die grauenhafte 4 5

Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464. Nietzsche, FW 290, KSA 3, S. 530 f.

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Wahrheit“ unseres Daseins charakterisiert wird (GT 7). Wir können dieser Wahrheit ins Auge blicken ohne dabei in die nihilistische Verzweiflung getrieben zu werden, denn die durch die Lehre vom Willen zur Macht ermöglichte Umwertung aller Werte befähigt uns, diese Wahrheit zu begrüßen und zu bejahen.6

Reginster stellt den Vergleich mit der Geburt der Tragçdie in erster Linie deshalb an, weil er einen zentrales Element der späten Position Nietzsches herausstellen und glaubhaft machen möchte. Knapp skizziert lautet dieses: Der Wille zur Macht soll der neue Maßstab jeglichen Wertes im menschlichen Leben sein, und wenn wir den Willen zur Macht richtig verstehen, resultiert daraus, dass wir viele Dinge, bei denen wir zu einer stark negativen Bewertung neigen, eigentlich positiv bewerten müssten. Für Reginster ist diese Einsicht die wahre Bedeutung dessen, was Nietzsche mit der Umwertung aller Werte meint. Denn: Wenn wir […] die Macht – das Überwinden von Hindernissen – als einen Wert betrachten, wird schnell deutlich, wie sie das Prinzip hinter einer Umwertung des Leidens sein kann. In der Tat müssen wir, wenn wir das Überwinden von Hindernissen wertschätzen, auch die Hindernisse wertschätzen, die ein Teil des Überwindens sind. Da das Leiden durch die Hindernisse bestimmt ist, müssen wir auch das Leiden wertschätzen.7

In Reginsters aufschlussreichem Interpretationsansatz weist der Wille zur Macht eine paradoxe Struktur auf: Indem wir einen Zweck wollen, wollen wir Behinderungen oder Hindernisse überwinden, die uns im Weg sind; dies impliziert aber, dass wir in gewisser Hinsicht diesen Hindernissen auch ausgesetzt sein wollen. Was wir also wollen, ist nicht einfach Befriedigung oder Vergnügen, sondern das Auftreten von Hindernissen, damit wir unseren Willen an ihnen messen und sie überwinden können. Die darin enthaltene Befriedigung bringt jedoch eine ganz eigene Art der Unzufriedenheit mit sich, denn es handelt sich hierbei um ein Verlangen, das nicht endgültig, nicht ein für alle Mal befriedigt werden kann.8 Anders als Schopenhauer, der darin einen Grund zur Verzweiflung sieht, drängt Nietzsche darauf, in der beständigen Tätigkeit des Entgegentretens und Überwindens von Hindernissen einen neuen Wert zu entdecken, und der Umstand, dass diese Tätigkeit des bestän6 7 8

Bernard Reginster: The Affirmation of Life. Nietzsche on Overcoming Nihilism. Cambridge, Mass. 2006, S. 248 f. [Übers. v. B.E.]. Reginster: The Affirmation of Life, S. 177 [Übers. v. B.E.]. Vgl. hierzu Reginster: The Affirmation of Life, S. 247: „Its satisfaction brings about its own dissatisfaction […] it is a kind of desire that does not allow for permanent (once-and-for-all) satisfaction“.

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digen aktiven Überwindens niemals an ein Ziel gelangt, an dem das Verlangen gestillt wird, bedeutet, ein „neues Glück“ gefunden zu haben.9 Nietzsche bringt diese Haltung mit Dionysos in Verbindung, und Reginster weist darauf hin, dass die charakteristischen Merkmale des dionysischen Lebens auch die Charakteristika des Künstlerlebens sind.10 Die Wertschätzung dieses Künstlerlebens impliziert daher die positive Bewertung des Leidens, des Verlusts, der Unbeständigkeit (oder des Werdens) und des eigenen endgültigen Scheiterns.11 Reginster hebt damit einen wichtigen und zentralen Aspekt bezüglich der Beziehung zwischen dem Willen zur Macht und der Umwertung aller Werte im Spätwerk Nietzsches hervor, den ich an dieser Stelle nicht hinterfragen werde. Seine die Entwicklungslinie von Früh- zu Spätwerk aufgreifende These lautet, dass die späte Position Nietzsches in gewisser Weise eine gänzlich dionysische ist, während es in der Geburt der Tragçdie Nietzsche noch nicht möglich ist, das „neue Glück“ der Teilnahme am künstlerischen Akt als Willen zur Macht zu begreifen. Daher ist das Hervorbringen der apollinischen Bilderwelt notwendig, um die dionysische Wahrheit zu verdecken, dass das Leben im Grunde Leiden, Verlust, Unbeständigkeit und Scheitern bedeutet. Vor dem Hintergrund dieser These möchte ich zwei zentrale Fragen zur Diskussion stellen: (1) In welcher Hinsicht, wenn überhaupt, kann behauptet werden, dass in Nietzsches früher Position nur die Illusionen der Kunst als das Antidot für diejenigen, die die dionysische Weisheit erlangt haben, zur Verfügung stehen?12 (2) Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen der frühen und der späten Auffassung Nietzsches über die Kunst als solche? Um zunächst die zweite Frage zu präzisieren: Steht für den späten Nietzsche die Kunst weiterhin für das Verbergen der Wahrheit und das Hervorbringen schöner Täuschungen, nur dass er nun die nihilistische Verzweiflung mit anderen Mitteln als denen der Kunst (obwohl sich diese Mittel dennoch wesentlich schöpferischer Akte bedienen) vermeiden will? Oder hat sich Nietzsches Verständnis der Kunst geändert? Kann die Kunst jetzt vielleicht die nihilistische Verzweiflung verhindern, indem sie eine Konfrontation mit der Wahrheit bewerkstelligt, statt sich auf Ober9 Vgl. hierzu Reginster: The Affirmation of Life, S. 247 sowie Nietzsche, FW Vorrede 3, KSA 3, S. 351. 10 Vgl. hierzu Reginster: The Affirmation of Life, S. 242. 11 Vgl. ebd., S. 243 – 248. 12 Vgl. ebd., S. 248.

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flächlichkeit und Verfälschung beschränken zu müssen? Keiner dieser Gedanken erscheint auf den ersten Blick plausibel zu sein, zieht man die oben zitierten Passagen in Betracht. Diese legen nahe, dass die Kunst nicht nur wesentlich ein Geschäft der Täuschungen ist, sondern auch das einzige Mittel, um die Verzweiflung abzuwehren – es scheint also, als ob Nietzsches mittlere bis späte Auffassung der Kunst tatsächlich so strukturiert ist, wie Reginster unter Berücksichtigung der Geburt der Tragçdie herausarbeitet. Bevor wir aber alternative Interpretationsansätze zur späten Position aufgreifen, würde ich gerne zunächst die Geburt der Tragçdie für sich betrachten. Bezüglich der ersten oben gestellten Frage möchte ich zeigen, dass selbst in der Geburt der Tragçdie die Kunst nicht bloß für das Hervorbringen beruhigender Illusionen steht. Der Höhepunkt der griechischen Kunst, die attische Tragödie, zeigt nämlich tatsächlich einen Weg auf, sich einer grauenhaften Wahrheit über das Leben (einschließlich der Erkenntnis des Leidens, Verlustes, der Unbeständigkeit und des Scheiterns des Lebens) zu stellen und diese zu bejahen. Wenn wir den tragischen Künstler vom apollinischen Künstler und vom sokratischen „theoretischen Menschen“, dessen besondere Voreingenommenheit angeblich später die Vorherrschaft über die Kunst erlangt habe, unterscheiden, sehen wir, dass in der Geburt der Tragçdie eine Trias verschiedener Einstellungen zur Wahrheit enthalten ist, aus der folgt, dass gerade die tragische Kunst nicht auf oberflächliche oder beschönigende Täuschungen beschränkt ist. Dies ist kein neuer Gedanke – so bekräftigt beispielsweise Michael Tanner, dass in der Geburt der Tragçdie die Schönheit sowohl die Schrecken des Lebens andeutet als auch Trost spendet. Die Kunst auf ihrem Höhepunkt deckt die Wahrheit auf und ermöglicht es gleichzeitig, sie zu ertragen.13

II. Wahrheit und Täuschung in der apollinischen Kunst Die das Ganze der Geburt der Tragçdie tragende Prämisse lautet, dass Apollo und Dionysos für zwei entgegengesetzte Kunsttriebe stehen, die sich in der Natur, der Psyche des Künstlers und seines Publikums, in kulturellen Entwicklungen, Tendenzen und Epochen zeigen. Nietzsche verwendet eine ganze Reihe von verschiedenen Ausdrücken, um die 13 Vgl. Michael Tanner: Introduction. In: Friedrich Nietzsche: The Birth of Tragedy. Out of the Spirit of Music. Übers. v. Shaun Whiteside. Hg. v. Michael Tanner. Harmondsworth 1993, S. vii-xxx, hier S. xxix.

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vom apollinischen Prinzip geprägten Kunstformen zu kennzeichnen. Obwohl diese Ausdrücke kaum erschöpfend zusammengefasst werden können, scheinen Begriffe wie „Traum“, „Bild“, „Illusion“, „Schönheit“, „Gattung“ und „Individuation“ besonders zentral zu sein. Obwohl Nietzsche Apollo zunächst mit den bildenden Künsten in Verbindung bringt und die Skulpturen olympischer Götter als den Höhepunkt dieser Kunstform betrachtet, erkennt er die reinste Manifestation des Apollinischen in den Epen Homers. Dessen epische Helden, besonders aber dessen Darstellungen der Götter porträtieren glorreiche Individuen von überwältigender Schönheit und Tapferkeit, aber auch Beispiele des Widerstands gegen den Tod, die es uns ermöglichen, an der Oberflächlichkeit einer Traumwelt im Sinne Nietzsches Vergnügen zu finden: H o m e r […] [verhält sich] zu jener apollinischen Volkscultur […] wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volkes und der Natur überhaupt. Die homerische „Naivetät“ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen […]. In den Griechen wollte der „Wille“ sich selbst, in der Verklärung des Genius’ und der Kunstwelt, anschauen; um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfinden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehen […]. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen.14

Nietzsche macht unmissverständlich deutlich, aus welchem Grund die Griechen die Schönheit dieser Kunstwelt genießen konnten, warum sie sich dieser Traumwelt so bereitwillig hingaben, statt aus ihr zu erwachen: Sie wurden durch ein „ungeheure[s] Bedürfnis“15 dazu getrieben, nämlich das Bedürfnis nach einer Rechtfertigung des Menschenlebens.16 Um dieses Bedürfnis zu stillen, kämpfte ihr künstlerisches Talent mit ihrem „Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens“,17 und überwand es. Um zu begreifen, warum die Erschaffung der Traumwelt der Olympier einen Triumph darstellt, müssen wir den Blick auf das richten, über das triumphiert wurde – Nietzsche benennt dies in größerer Deutlichkeit als alles andere in der griechischen Volksweisheit des Dämons Silen, der verkündet: Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das 14 15 16 17

Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 37 f. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 34. Vgl. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 38.

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Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu s e i n , n i c h t s zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben.18

Diesen Ausspruch mussten die Griechen für wahr halten, oder zumindest als einen Teil der Wahrheit erachten, denn hätten sie es nicht getan, hätten sie nicht das ungeheure Bedürfnis empfunden, dieser Wahrheit mit der apollinischen Kultur kämpfend entgegenzutreten und über sie triumphieren zu müssen. „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“,19 wie Nietzsche bekräftigt, und daran kann das Verhältnis zwischen dem Illusionscharakter der apollinischen Kunst und der Wahrheit des Silen verdeutlicht werden: Die Griechen verschleierten und verdeckten die Wahrheit mit einer Illusion, indem sie „die glänzende Traumgeburt der Olympischen“20 vor die Schrecken des Daseins stellten. Der Grund und auch das Resultat dieser Handlung ist, dass jene „künstlerische M i t t e l w e l t “21 – ein Spiegel zwischen ihnen und der Wirklichkeit – es ihnen erlaubte, das Menschenleben zu rechtfertigen. Der Wahrheit des Silen zufolge hatte das Dasein keinen Wert und konnte in der Wirklichkeit nicht bejaht werden, nur in einer alternativen Traumrealität, glänzend und bezaubernd wie die olympische Götterwelt, konnte dies bewerkstelligt werden. Reginsters Bemerkung, die apollinische Kunst verbleibe mit dem Hervorbringen eines schönen Scheins an der Oberfläche,22 scheint also angemessen. Doch wie wir gesehen haben, müssen auch hier Künstler, Publikum sowie die apollinische Kultur selbst irgendein Bewusstsein der Wahrheit gehabt haben, über die sie triumphieren sollten. Eine Kultur oder ein Individuum, das nicht in einem bestimmten Grad vom Wissen um die Schrecken des Daseins gepeinigt wurde, hätte nicht die „inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein“23 empfunden; es zöge vielleicht aus anderen Gründen ein Vergnügen aus Illusionen, aber die Motivation der apollinischen Kunst wäre verschwunden, wenn die Schrecken des Daseins sich nicht zumindest angedeutet und damit eine Kraft auf die Psyche entfaltet hätten. Das genauere Verhältnis zwischen der durch die apollinische Kunst hervorgebrachten Kunst-Fassade und der Kraft, die sie motiviert, bleibt 18 19 20 21 22 23

Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Siehe hierzu Reginster: The Affirmation of Life, S. 248. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 38.

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Gegenstand von Spekulationen, jedenfalls gibt Nietzsche keinen Aufschluss darüber, an welcher Stelle das Verschleiern der Wahrheit oder die Abschirmung vor der Wahrheit stattfindet. Daher hat es wenig Sinn, danach zu fragen, ob dies im Geiste des einzelnen Künstlers oder Zuschauers geschieht oder durch den Akt der öffentlichen Aufführung, oder ob es sich im Blick auf eine ganze Kultur zeigt, deren Mitglieder fortwährend die Gedichte lernen und rezitieren. Auf solche Fragen sind keine präzisen Antworten zu erwarten. Allerdings scheint es möglich zu sein, andere Arten des Verschleierns oder Verbergens der Wahrheit zu benennen, beispielsweise, (1) dass man an der vorsätzlichen Vorspiegelung teilnimmt, die Wahrheit sei eine andere, als sie ist, (2) dass man eine Art von Selbstzerstreuung betreibt, indem man den Geist mit Fiktionalem beschäftigt und so von der Wahrheit ablenkt, (3) dass man sich in Selbsttäuschungen begibt und so erfolgreich die Wahrheit vor sich selbst verbirgt, (4) dass man eine Verdrängungsleistung vollzieht, die außerhalb des Einflussbereichs des eigenen Bewusstseins liegt und damit weder die Wahrheit, noch das Bedürfnis, sie zu verschleiern, wahrnimmt, obwohl man immer noch unter ihrem Einfluss steht. Keiner dieser Fälle – nicht einmal der letztgenannte – setzt einen Mangel an Bewusstsein der Schrecken des Daseins voraus. Selbst auf dem Höhepunkt der Erschaffung der apollinischen Traumwelt kann man also nicht von der bloßen Unkenntnis der grauenhaften Wahrheit ausgehen. Die Kunst ist hierbei von einem ursprünglichen, vor-künstlerischen Bewusstsein der Wahrheit getrieben und gipfelt darin, dass sie den Effekt, den diese Wahrheit auf die Psyche entfaltet, abdämpft oder gänzlich entschärft.

III. Tragische Kunst und Wahrheit Die griechische Kultur entwickelt sich jedoch über die apollinische Phase hinaus. Die allseits bekannte These der Geburt der Tragçdie lautet, dass die höchste Kunstform aus der Vereinigung des apollinischen und dionysischen Genius entsteht.24 Die von Reginster zitierten Passagen aus dem siebten Abschnitt der Geburt der Tragçdie betreffen diese Vereinigung der Kunstformen in der Tragödie, und Nietzsche sagt tatsächlich, dass aus dem „Satyr als de[m] dionysische[n] Choreut […] die dionysische

24 Vgl. z. B. den Anfang von Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 42.

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Weisheit der Tragödie spricht“.25 Über genau dieses Element der Tragödie heißt es: Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.26

Der grundlegendste und unmissverständlichste Gegensatz zwischen Apollo und Dionysos zeigt sich in ihrer Verknüpfung mit den zwei formalen Bestandteilen der attischen Tragödie, dem Dialog einerseits, und dem Chor andererseits. Während im Dialog einmal mehr die Welt abgebildet wird – in Bildern klar gezeichneter, herrlicher und glanzvoller Individuen – ist der Chor anikonisch und nimmt keine Individuierung vor. Geboren aus der Musik und den alle Glieder rhythmisch bewegenden Tanzgebärden verbreitet der Chor seine lyrische Botschaft nur durch diese Medien. Laut Nietzsche liegt sein Ursprung in der wilden Berauschtheit ekstatischer Gruppengelage und steht für den Verlust der Individualität, für das Verschmelzen und die Auflösung des Individuums in etwas Größerem. Das Dionysische der Kunst ist durch dieses nichtbildliche, anti-individuelle, ursprünglich musikalische Element gekennzeichnet. Nietzsche beschreibt in Abschnitt sieben der Geburt der Tragçdie, so verworren dieser Abschnitt auch ist, einen Zustand, in dem ein Wissen um die Wahrheit erlangt wurde, aber in dem die apollinische Illusion nicht mehr ausreicht, angesichts dieser Wahrheit weiter zu leben. Der dionysische Mensch, so Nietzsche, habe Ähnlichkeit mit Hamlet: [B]eide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben e r k a n n t , und es ekelt sie zu handeln […] die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen […].27

Für den dionysischen Menschen kann dieses Wissen nicht aus dem Bewusstsein verbannt oder mit den Täuschungen der apollinischen Kunst allein überwunden werden: 25 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 55. 26 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. 27 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56 f.

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Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, […] jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn.28

Wenn Nietzsche nun im Folgenden sagt, in dieser Situation nähere sich „als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“,29 so kann er damit nicht die apollinische Kunst meinen. Diese verschaffte Beruhigung, aber diese Beruhigung verfängt nicht mehr. Die apollinische Kunst erschuf das glanzvolle Spiegelbild der Götter, das jedoch genauso wie die Welt selbst nun verneint wird. Die apollinische Kunst beschützte ihre Anhänger vor dem Ekel vor der Wahrheit, weil sie verhinderte, dass die Wahrheit wirklich ins Bewusstsein drang; aber was ist mit denjenigen, die dieser Wahrheit auf solche Weise ausgesetzt waren, dass sie sich im Bewusstsein festgesetzt hat und nun fortwährend den Ekel erregt? Es ist das dionysische Element der Tragödie, das Nietzsche in diesem Zusammenhang aufruft: „Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst“.30 Die Tragödie bietet etwas, das Nietzsche jetzt als „metaphysische[n] Trost“ bezeichnet und das in der Erkenntnis besteht, „dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“.31 Die Beschreibung, wie die Tragödie dies bewerkstelligt, ist in den Abschnitten sieben bis zehn enthalten. So schwierig diese Beschreibung auch zu erfassen sein mag, ein wesentlicher Gedanke scheint in Folgendem zu bestehen: Die Tragödie ermöglicht es, mit der Wahrheit zu leben, indem man sich ihr gegenüber in eine affirmative Geisteshaltung bringt – statt trotz der Wahrheit zu leben, indem man sie verschleiert. Die tragische Kunst „vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“.32 Das Verb „umbiegen“ deutet hierbei eine gänzlich andere Metaphorik an als die des Verschleierns oder 28 29 30 31 32

Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57.

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Verbergens,33 denn letzteres konnotiert die Ausgrenzung entsetzlicher Gedanken und ihre Ersetzung durch etwas Schönes. In der Tragödie bleiben die entsetzlichen Gedanken jedoch im Bewusstsein, nur dass ihnen auf andere Weise begegnet wird und sie anders gehandhabt werden. Der Beitrag des Dionysischen zur Tragödie ist der willentlich gefasste Vorsatz, die Individualität des Teilnehmers oder Zuschauers aufzulösen und ihn mit dem „Ur-Eine[n]“34 oder „Ur-Sein“35 zu verschmelzen. Im Bewusstsein dieses höheren Standpunktes ist es möglich, sich an der Zerstörungswut des Lebens gegenüber dem Individuum zu erfreuen. Damit dies aber geschehen kann, muss gesichert sein, dass man nicht nur von diesem Zustand jenseits jeglicher Individualität absorbiert wird, sondern dass einem die Vorstellung des Individuums vorschwebt, an dessen Vernichtung man sich nun erfreut – woraus sich gerade die einzigartige Kraft der Einheit von apollinischer Bilderwelt und dionysischem Rausch entfaltet: Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet. […] In mehreren auf einander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegenteil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden.36

Die Tragödie benutzt die schönen Bilder großartiger Individuen nicht als ein Fluchtmittel vor der entsetzlichen Wahrheit des Lebens, sondern setzt sie ein, damit sie im großen Stil als die symbolischen Opfer der wahren Schrecken des Lebens dienen können – und dieses Geschehen wird in 33 Nietzsche verwendet in einer früheren Ausarbeitung dieser Passage (in dem Text „Die dionysische Weltanschauung“ von 1870) das Verb umwandeln: „Vor allem galt es jene Ekelgedanken über das Entsetzliche und das Absurde des Daseins in Vorstellungen umzuwandeln, mit denen sich leben läßt“ (Nietzsche, DW 3, KSA 1, S. 567). Das Umbiegen wird in diesem Zusammenhang jedoch auch verwendet, nämlich wenn Nietzsche erklärt, dass die tragische Kunst es dem hellenischen Willen ermögliche, „jene verneinende Stimmung wieder umzubiegen“ (Nietzsche, DW 3, KSA 1, S. 566). 34 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 38. 35 Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 62. 36 Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 62.

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einer Stimmung und von einem Standpunkt aus erfahren, welche den Betrachter befähigen, sich an der gnadenlosen Vernichtung des Lebens zu erfreuen.37 Begreift also der frühe Nietzsche die Illusionen der Kunst als das einzige Antidot für diejenigen, die mutig in das furchtbare Vernichtungstreiben der Weltgeschichte und die Grausamkeit der Natur geschaut haben? Die Antwort lautet Ja und Nein; die tragische Kunst schließt die Illusion in ihren Charakterdarstellungen und Dialogen mit ein, und ohne diese Illusion würde sie ihr Potential nicht entfalten können. Dies zielt jedoch ausdrücklich nicht auf die apollinische „Erlösung im Scheine“, sondern eher auf eine apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse. Die Tragödie entfaltet ihre Wirkung also nicht allein aus der apollinischen Illusion, sondern vielmehr aus der Kombination der Illusion mit der emotionalen Beteiligung an einer tieferen Einheit, einer Einheit, die das symbolisch dargestellte individuelle Leben des Menschen der Vergessenheit anheim gibt. Damit ermöglicht sie es dem Zuschauer, das Bewusstsein einer grauenhaften Wahrheit – oder zumindest das Bewusstsein über das Leiden, den Verlust, die Unbeständigkeit und das Scheitern des Lebens – zu erlangen und diese Wahrheit anzunehmen und zu bejahen.

IV. Kunst, Wahrheit und Sokratismus Die Überlegung, dass die Tragödie sich mit dem Wissen oder der Erkenntnis der Wahrheit befasst, mag merkwürdig erscheinen, zieht man in Betracht, dass Nietzsche die Tragödie und den Sokratismus, der nicht nur blind für die Tragödie ist, sondern ihren Tod herbeiführt, in einen Ge37 In „Die dionysische Weltanschauung“ thematisiert Nietzsche (vielleicht deutlicher) die Unterscheidung zwischen dem Begriff des Symbols und dem der Wahrheit. Die Vereinigung apollinischer und dionysischer Kunst ist „eine Umschleierung der Wahrheit, die zwar durchsichtiger ist als die Schönheit, aber doch noch eine Umschleierung“; der dionysische Mensch „geht über die Schönheit hinaus und […] sucht doch die Wahrheit nicht. In der Mitte zwischen beiden bleibt er schwebend. Er strebt nicht nach dem schönen Schein, aber wohl nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit, aber nach W a h r s c h e i n l i c h k e i t . (Symbol, Zeichen der Wahrheit)“ (Nietzsche, DW 3, KSA 1, S. 567). Dennoch beruht diese Kunstform „auf einer anderen Götter- und Weltanschauung als die ältere des schönen Scheins“ (Nietzsche, DW 3, KSA 1, S. 568). Die Tragödie steht für die grauenhafte Wahrheit, während die apollinische Kunst der Wahrheit zugunsten der falschen Schönheit ausweicht.

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gensatz bringt. Sokrates ist der „Typus des t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n “,38 der ein unendliches Vergnügen an der Enthüllung der Wahrheit hat, „der in den bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntnis die Kraft einer Universalmedizin beilegt und im Irrtum das Übel an sich begreift“.39 Wenn aber die Tragödie, wie oben herausgearbeitet, selbst eine Wahrheit aufdeckt, wie kann dann der wahrheitsbesessene Sokrates das direkte Gegenteil des tragischen Künstlers sein? Nietzsches Kritik des Sokratismus kann man als eine frühe Ausarbeitung dessen sehen, was er in der Genealogie der Moral als Infragestellen des Willens zur Wahrheit behandelt.40 Hier, in der oben bereits zitierten Passage, stellt Nietzsche dem Willen zur Wahrheit die Kunst gegenüber: „[D]ie Kunst, in der gerade die L ü g e sich heiligt, der W i l l e z u r T ä u s c h u n g das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft“.41 Nietzsche scheint den Vergleich mit seiner früheren Auseinandersetzung mit Sokrates und dem ästhetischen Sokratismus, der die griechische Kunst zum Schlechteren gebracht hat, geradezu zu provozieren, wenn er den Antagonismus von Kunst und asketischem Ideal am „Plato g e g e n Homer“42 exemplifiziert und die Unterwerfung des Künstlers unter das asketische Ideal als die größte Künstler-Korruption beklagt, die es überhaupt geben kann. Hier scheint es, als sei das Aufdecken der Wahrheit an sich schon die Antithese zur Kunst. Wir müssen aber nicht davon ausgehen, dass es nur einen Weg zur Wahrheit gibt. Die Figur des Sokrates, wie sie in der Geburt der Tragçdie dargestellt wird, steht für die Theorie, für bewusste Erkenntnis, Erklärung, rationale Begründung, Dialektik – „alles muss verständig sein, um schön zu sein“.43 Die Tragödie, sofern sie ein mächtiges Zusammenspiel von Traumbild und in Entzückung versetzender Auflösung der Individualität war, vereinte Anschauung und Entzückung; die vom Sokratismus durchdrungene Kunst dagegen ist eine Nachahmung der Tragödie, die die Anschauung durch Gedanken, die Entzückung durch bloße „Affecte“44 ersetzt. Sobald der Sokratismus mit seinem Ziel, das Ästhetische dem Rationalen unterzuordnen, Fuß fasst, 38 39 40 41 42 43 44

Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 98. Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 100. Vgl. Nietzsche, GM III, 23 – 27, KSA 5, S. 395 – 411. Nietzsche, GM III, 25, KSA 5, S. 402. Nietzsche, GM III, 25, KSA 5, S. 402. Nietzsche, GT 12, KSA 1, S. 85. Nietzsche, GT 12, KSA 1, S. 84.

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unterstellen wir, dass Beweis und Erklärung die einzigen oder zumindest grundlegenden Mittel sind, zur Wahrheit zu gelangen. Als das Ästhetische aber noch nicht vom Sokratischen infiziert war, ermöglichte die Tragödie eine einmalige und mächtige sthetische Konfrontation mit der Wahrheit. Bevor das übertriebene Anliegen der rationalen Erklärung in der griechischen Kultur dominant wurde, konnten die Teilnehmer an der Tragödie, sensibilisiert durch die schönen Bilder, zu einer Form dionysischer Erkenntnis gebracht werden. Wenn Nietzsche vorschlägt, dass „der Werth der Wahrheit […] versuchsweise einmal in F r a g e z u s t e l l e n “45 ist, liegt es auf der Hand, dass er damit eine bestimmte Art und Weise meint, in der die Wahrheit gewertet wird, nämlich die „Überschätzung der Wahrheit“ in Form eines „Glauben[s] an die U n abschätzbarkeit, U n kritisierbarkeit der Wahrheit“,46 die Vorstellung, dass die wissenschaftlich favorisierte Methode des Suchens und Erlangens der Wahrheit etwas ist, das nicht in Frage gestellt werden kann. Den Wert der Wahrheit versuchsweise in Frage zu stellen heißt nicht, dass wir uns ausschließlich mit Illusionen begnügen müssen, oder dass es gar keinen Wert hat, die Wahrheit zu suchen. Vielmehr ermöglicht das In-Frage-Stellen zunächst einmal den Gedanken, dass die Abwendung vom sokratischen Ideal der rationalen Betrachtung des Lebens zugunsten der künstlerischen Illusion, der Dichtung, Einbildungskraft oder dem Traum manchmal notwendig ist und dem Leben dient. Wenn jemand mit gutem Gewissen lügt, hält ihn das nicht davon ab, zumindest an einen Teil der Wahrheit zu glauben und nach ihr zu streben. Es gibt allerdings Hinweise darauf, dass Nietzsche unentschieden ist, ob das Streben nach Wahrheit, sei es innerhalb oder außerhalb der Kunst, wünschenswert ist oder nicht. Doch obwohl es Nietzsche beunruhigt, die Wahrheit als unbedingten Maßstab aller Werte vorzufinden, vor der wir unsere persönlichen Interessen und, in gewisser Weise, auch uns selbst opfern müssen – „weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde“, was einhergeht mit einer „gewisse[n] V e r a r m u n g d e s L e b e n s “47 –, plädiert er nicht dafür, der Wahrheit gar keinen Wert beizumessen, sondern lediglich, den Wert der Wahrheit versuchsweise einmal in Frage zu stellen. Aber Warum? Die Antwort hierauf liegt in Nietzsches Frage: „[W]elchen Sinn hätte u n s e r ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst a l s P r o b l e m zum 45 Nietzsche, GM III, 24, KSA 5, S. 401. 46 Nietzsche, GM III, 25, KSA 5, S. 402. 47 Nietzsche, GM III, 24 f. KSA 5, S. 401 f.

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Bewusstsein gekommen wäre?“48 Nietzsches Vorhaben in der Genealogie der Moral, die Untersuchung des Wertes unserer Werte, wird dadurch ermöglicht, dass er sich der Aufrichtigkeit verpflichtet hat und sich von ihr leiten lässt. Beim Gang dieser Untersuchung musste er jedoch feststellen, dass dies einer ganz bestimmten moralischen Verpflichtung entspricht, nämlich der „christliche[n] Wahrhaftigkeit“,49 die den Glauben an Gott untergraben hat und dabei ist, auch die Moralität zu untergraben.50 Zur selben Zeit entwickelte Nietzsche einen Gedanken, der die Aufrichtigkeit in Frage stellt: Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Artzüchtend ist […]. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten.51

Es gibt also andere Werte, die das Suchen und Erlangen wahrer Überzeugungen übertrumpfen können. Und dennoch, zeitweise stellt Nietzsche ein Ideal vor, das beinhaltet, so viel Wahrheit über das Leben zu erlangen wie möglich: „[D]as Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, s o w i e e s w a r u n d i s t , wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus“,52 oder dass man „[n]ichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger verhehlen […], sondern es l i e b e n “.53 Auf ähnliche Art und Weise stellt Nietzsche es in der berühmten Passage54 dar, in der jemand vorgestellt wird, der sich und dem Leben so gut wird, dass er nach nichts mehr verlangt und der in Aussicht stehenden ewigen Wiederkehr des immer gleichen Lebens entgegensieht. An diesen Stellen scheint das Ideal in einer tragischen Weisheit zu bestehen, in der die Entsetzlichkeiten in ihrer wahren Gestalt erblickt und mit außergewöhnlicher Stärke ertragen werden können und in denen ihnen sogar ein positiver Wert zugemessen werden kann. Dies scheint auch zu beinhalten, dem Leben aufrichtig gegenüberzutreten und 48 49 50 51 52 53 54

Nietzsche, GM III, 27, KSA 5, S. 410. Nietzsche, GM III, 27, KSA 5, S. 410. Siehe auch Nietzsche, FW 344, KSA 3, S. 574 – 577. Nietzsche, JGB 4, KSA 5, S. 18. Nietzsche, JGB 56, KSA 5, S. 75. Nietzsche, EH klug 10, KSA 6, S. 297. Vgl. Nietzsche, FW 341, KSA 3, S. 570.

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ein Leben zu lieben und zu bejahen, das unabänderlich ist, ohne es verschleiernd oder verfälschend zu etwas zu machen, das nur noch ein Scheinleben darstellt, mit dem man sich arrangieren oder das man gutheißen kann. Und dennoch heißt es in der fröhlichen Wissenschaft: „Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich e r r e i c h e – sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst“.55 Nietzsche plädiert für eine Gesinnung der positiven Selbsteinschätzung, scheint aber unentschieden darüber zu sein, ob diese eher in Form einer Fiktionalisierung seiner selbst oder in Form einer Konfrontation mit der Wahrheit über sich selbst erreicht werden sollte.56

V. Kunst und Wahrheit beim späten Nietzsche Was können wir aus den frühen und späten Ausführungen Nietzsches über das Verhältnis von Kunst und Wahrheit lernen, wenn wir die Kontinuitäten und Brüche in seinem Werk berücksichtigen? In den späteren Schriften ist eine Abkehr von den krypto-schopenhauerischen Überresten des „Ureinen“ festzustellen, sodass Nietzsche im Vorwort zur Neuauflage der Geburt der Tragçdie von 1886 die ganze darin enthaltene „Artisten-Metaphysik“ als „willkürlich, müssig, phantastisch“57 bezeichnet. Doch was hat sich wesentlich geändert bezüglich der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Wahrheit? Die Auffassung, die Kunst sei wesentlich unredlich und trügerisch, durchdringt die Rhetorik der späten Schriften, was sich an der Fülle von Passagen in Die frçhliche Wissenschaft, Jenseits von Gut und Bçse, der Genealogie der Moral und der Gçtzendmmerung zeigt, in denen die Funktionen der Kunst und des Künstlers auf verschiedenste Weise bezeichnet werden: lügen, vereinfachen, verherrlichen, Auslese betreiben, abrunden, das Hässliche verstecken und umdeuten, sich von den Dingen entfernen, bis man Vieles hinzusehen muss, die Dinge um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen, ihr Bild verfälschen, die Dinge durch gefärbtes Glas anschauen, ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat, hinzudichten, ein Spiel spielen, den Genuss des Lebens nur darin finden, sein 55 Nietzsche, FW 290, KSA 3, S. 531. 56 Zur Spannung zwischen Selbstbestätigung und Selbstzufriedenheit siehe Christopher Janaway: Beyond Selflessness. Reading Nietzsche’s Genealogy. Oxford 2007. 57 Nietzsche, GT Versuch 5, KSA 1, S. 17.

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Bild zu fälschen, die Falschheit mit gutem Gewissen zeigen, dabei helfen, den guten Willen zum Schein bejahen zu können, der Kultus des Unwahren, der Kultus der Oberfläche, die Dinge verwandeln, bis sie die eigene Macht widerspiegeln, der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, der Wille zur Täuschung, der Wille zur Unwahrheit um jeden Preis.58 Nietzsche schwelgt darin, dass die Kunst die Dinge nicht sieht, wie sie sind, was er als „Antikünstlerthum“59 bezeichnet. Es sollte jedoch nochmals darauf aufmerksam gemacht werden, dass es Nietzsche in vielen der zitierten Passagen nicht um die Kunst als solche geht, sondern darum, vom Künstler zu lernen, wie man sich selbst interpretiert und wertschätzt: Wir wollen weiser sein als die Künstler, so Nietzsche, „[d]enn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; w i r aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst.“60 Wenn aber alles, wie wir vom Künstler lernen, diese Arten der Lüge und Verfälschung beinhaltet, kann das nur daran liegen, dass es eben das wesentliche Geschäft des Künstlers ist, in seinen Kunstwerken zu lügen und zu verfälschen. Wenn also Nietzsche zwar Zweifel über den Wert der Wahrheitssuche hegt, muss er jedoch nicht notwendigerweise unentschieden darüber sein, ob die Kunst die Wahrheit richtig darstellt oder verfälscht. Oberflächlich betrachtet legt die Vielzahl der oben zitierten Passagen nahe, dass Nietzsche in der späten Phase der Auffassung ist, die Kunst tendiere eher dazu, das Gegenteil der Wahrheit darzustellen. Wenn man allerdings an der Oberfläche bleibt, entgehen einem möglicherweise subtilere Aspekte der späten Position. Zum einen ist das „an der Wahrheit zu Grunde gehen“ gleichbedeutend mit „sich der Wahrheit nicht stellen“; gleichzeitig ist es aber auch dem „sich der Wahrheit stellen und nicht an ihr zu Grunde gehen“ entgegengesetzt. Die Notiz von 1888, „Die Wahrheit ist häßlich: w i r h a b e n d i e K u n s t , damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn“,61 könnte also sowohl als apollinische, als auch als tragische Wendung verstanden werden, vielleicht auch beides gleichzeitig. Ein Begreifen des Hässlichen mag also etwas sein, vor dem wir uns schützen müssen, indem wir es mit einer 58 Vgl. Nietzsche, FW 85, KSA 3, S. 442 f.; FW 107, KSA 3, S. 464 f.; FW 290, KSA 3, S. 530 f.; FW 299, KSA 3, S. 538; FW 361, KSA 3, S. 608 f.; JGB 59, KSA 5, S. 78; JGB 192, KSA 5, S. 114; GM III, 25, KSA 5, S. 402 f.; GD Streifzüge 9, KSA 6, S. 117. 59 Nietzsche, GD Streifzüge 7, KSA 6, S. 117. 60 Nietzsche, FW 299, KSA 3, S. 538. 61 Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[40], KSA 13, S. 500.

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Illusion kompensieren; wir können uns aber auch dazu befähigen, es zu ertragen, und uns sogar an ihm erfreuen. Ebenfalls im Frühjahr oder Sommer 1888 bekannte Nietzsche: „Über das Verhältniß der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt.“62 Wieso Entsetzen? Ein plausibler Erklärungsversuch lautet, dass angesichts des Zwiespalts ,Kunst versus Wahrheit‘ Nietzsches eigener Standpunkt zwiespältig wird. Im selben Jahr, dem letzten seines produktiven Schaffens, hat Nietzsche etwas niedergeschrieben, das in zwei Werken veröffentlicht werden sollte und das einen Einblick in diese anfängliche tragische Erfahrung erlaubt: Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben, im O p f e r seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – d a s nannte ich dionysisch, d a s errieth ich als die Brücke zur Psychologie des t r a g i s c h e n Dichters. […] [Ü]ber Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n – jene Lust, die auch noch die L u s t a m V e r n i c h t e n in sich schliesst.63

Der Kerngedanke des „Jasagen[s] zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen“ scheint in der Anerkennung einer Wahrheit zu bestehen, die, wie Reginster hervorhebt, maßgeblich an der Umwertung aller Werte beteiligt ist – der Wahrheit, dass aufgrund der Beschaffenheit des Willens zur Macht, Leiden, Verlust, Unbeständigkeit und Scheitern im Leben wertgeschätzt werden müssen – und Nietzsche ist immer noch bereit, diese Einsicht mit der Psychologie des tragischen Dichters in Zusammenhang zu bringen. In der Geburt der Tragçdie kann die grauenhafte Wahrheit entweder gänzlich verschleiert werden oder ihr kann lustvoll mittels des Mediums der Illusion entgegengetreten werden, was uns aber trotzdem dazu befähigt, die Wahrheit anzuerkennen und uns einen „Pessimismus der S t ä r k e “64 anzueignen, und eine ähnliche Spannung setzt sich bis in die späten Schriften fort. Ein Versuch, Nietzsches Ausführungen über Ehrlichkeit und die künstlerische Täuschung in Einklang zu bringen, wurde von Aaron Ridley unternommen, zumindest im Hinblick auf Die frçhliche Wissenschaft von 1882. Zu den Hauptanliegen dieser Schrift gehören die Theoreme des ,intellektualen Gewissens‘, der Tugend der Redlichkeit 62 Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[40], KSA 13, S. 500. 63 Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. Nietzsche zitiert diese Passage auch in EH GT 3, KSA 6, S. 312. 64 Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 12.

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und der künstlerischen Haltung gegen sich selbst, die man den Künstlern ablernen soll. Ridley sieht das verbindende Element dieser Theoreme in Folgendem: Das „intellectuale Gewissen“ des Künstlers, das auf Redlichkeit besteht, treibt ihn – sobald er in redlicher Weise die Beschaffenheit seines und unser aller elementarsten Bedürfnisses erkannt hat – dazu, das Unwahre zu kultivieren und zu schätzen, aber nur soweit, wie es mindestens notwendig ist, um „Ekel und Selbstmord“ abzuwehren […] Die schöpferische Stimmung, die in der frçhlichen Wissenschaft vorgestellt wird, ist […] solcherart, dass sie sich, als erstes, der Wahrheit so aufrichtig wie möglich stellt; dann versucht sie, „das Nothwendige an den Dingen“ zu sehen und daran so viel Schönes wie möglich zu finden […] und letztlich verfälscht sie diejenigen Gegebenheiten, die diesen Versuch vereiteln könnten – dass heißt, verwandelt das „Dasein“ in ein „ästhetisches Phänomen“ – und zwar so wenig wie es eben möglich, aber noch damit vereinbar ist, das Leben „erträglich“ zu machen.65

Wenn Nietzsche also von der Kunst als einer Gegenkraft zur Redlichkeit spricht, heißt das in dieser Lesart, dass er damit nicht eine völlige oder dauerhafte Selbst-Täuschung oder Ausblendung der Wahrheit durch die Kunst meint; stattdessen lässt sich sein Argument mit folgendem Zitat verdeutlichen: „Wir verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten […]. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder ü b e r uns weinen“.66 Für Ridley ist dies daher „ein Zustand einer solchen Art von schöpferischer Kraft, dass man sich zunächst der Wahrheit stellt und erst dann beginnt, sie (in maßvoller Weise) zu verfälschen und auszurunden“.67 Man muss zu einem bestimmten Grad verfälschen – zu wissen, bis zu welchem, bedeutet jedoch, seine „Macht“ zu erproben, wie Nietzsche in Jenseits von Gut und Bçse sagt: „[S]o dass sich die Stärke eines Geistes darnach bemässe, wie viel er von der ,Wahrheit‘ gerade noch aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüsst, verdumpft, verfälscht n ö t h i g h ä t t e . “68 Nach dieser Lesart besteht das Ideal, nach dem die Kunst eine Hilfe darstellt, darin, dass die Kunst es erlaubt, sich der Wahrheit des Lebens so redlich wie es einem möglich ist zu stellen. Die Verfälschungen der Kunst sind keine sich selbst legitimierenden Übungen 65 Aaron Ridley: Nietzsche on Art and Literature. London 2007, S. 82 u. S. 84 [Übers. v. B.E.]. 66 Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464. 67 Ridley: Nietzsche on Art, S. 83 [Übers. v. B.E.]. 68 Nietzsche, JGB 39, KSA 5, S. 57.

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darin, der Wahrheit zu entkommen, sondern eher ein in Anspruch nehmen der Illusion im Dienste des ,intellektualen Gewissens‘, das auf die Konfrontation mit der Wahrheit abzielt – sozusagen ein Strategiewechsel, wenn uns alle anderen Mittel an den Rande dessen bringen, was wir ertragen können. Solch ein friedliches Abkommen zwischen dem Wert, die Wahrheit auszusprechen, und demjenigen, Illusionen hervorzubringen, zeigt uns eine Seite Nietzsches, in der er anscheinend mit sich selbst im Reinen ist. Insgesamt gesehen klingt dies aber nur selten durch. Was ist mit der Fremdartigkeit, die er darin erkannte, dass er der Unwahrheit einen positiven Wert zuwies, oder mit der Vorstellung, dass er selbst der Ort sei, an dem der Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein kommt, oder mit dem ,heiligen Entsetzen’, mit dem er vor dem Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst stand? Es ist zumindest unklar, ob und wie lange Nietzsche ein solches friedliches Abkommen zwischen diesen Spannungen eingehalten hat. Ein radikalerer Ansatz wäre es jedoch, eben jene Unterscheidung zwischen Verfälschung und Einblick in die Wahrheit zu hinterfragen. Wenn sich Nietzsche in der Gçtzendmmerung wieder dem tragischen Künstler zuwendet, taucht die Kunst erneut als das Vehikel einer nackten Wahrheit auf: „[D]ie Kunst bringt auch vieles Hässliche, Harte, Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, – scheint sie nicht damit vom Leben zu entleiden?“69 Auf der anderen Seite, „der Künstler [schätzt] den Schein höher […] als das Leben“ – aber die interessante Wendung besteht in Folgendem: „Der ,Schein‘ bedeutet hier die Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur… Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, – er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h … “.70 Während also die Kunst hässliche Wahrheiten enthüllt, damit man sich ihnen stellen und sie bejahen kann, ist es gleichzeitig möglich, die Unterscheidung zwischen der ,Realität‘ (die ,wahre Welt‘) und der Welt des Scheins oder der Illusion selbst als etwas instabiles und gefälschtes zu begreifen.71 Es zeichnet sich nun ab, dass die künstlerischen Akte des Vereinfachens, Korrigierens und Auslesens Wege sind, andere Perspektiven auf sich selbst zu eröffnen 69 Nietzsche, GD Streifzüge 24, KSA 6, S. 127. 70 Nietzsche, GD Vernunft 6, KSA 6, S. 79. 71 Siehe hierzu den vieldiskutierten Abschnitt der Gçtzen-Dmmerung „Wie die ,wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ und die einflussreiche Interpretation dieses Abschnitts in Maudemarie Clark: Nietzsche on Truth and Philosophy. Cambridge 1990, S. 109 – 117.

Die Schönheit ist falsch, die Wahrheit hässlich

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und Zugang dazu zu erlangen, was man selbst wirklich ist. Bereits in der Frçhlichen Wissenschaft vermerkt Nietzsche bezüglich der Künstler: [E]rst sie [die Künstler] haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem von uns allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne, – die Kunst, sich vor sich selber „in Scene zu setzen“. So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt.72

Es sollte nicht vergessen werden, dass Nietzsche behauptet, dass es „ n u r ein perspektivisches ,Erkennen‘“ gibt und dass „je m e h r Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, j e m e h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger […] unser ,Begriff‘ dieser Sache, unsre ,Objektivität‘ sein“73 wird. Wenn der einzige Weg, die Dinge wirklich zu verstehen, in dieser perspektivischen Erkenntnis liegt, dann scheinen die Künstler darin bewandert zu sein, was alle nach dem besseren Verständnis der Dinge Suchenden sowieso tun müssen, nämlich sich auf die Diversität ihrer Intuitionen einzulassen, neue Interpretationen zu finden und sich zwischen ihnen frei zu bewegen. Folglich wäre der Akt, Wahrheit über sich selbst zu erlangen, letztlich tatsächlich ein kunstvoller Prozess des Auslesens, Vereinfachens, des Betrachtens der Dinge aus der Ferne etc. Unseren Blick auf uns selbst zu wählen und zu vereinfachen ist etwas, das wir ohnehin tun müssen: Künstler sind einfach Experten darin. Daher können wir von der künstlerischen Verzerrung und Stilgebung, die uns Nietzsche nahelegt, erwarten, dass wir durch sie letztendlich eine bessere Einsicht in die Wahrheit erlangen.

VI. Abschließende Anmerkungen Für Nietzsche ist die künstlerische Illusion niemals eine Hingabe an die Unwahrheit um ihrer selbst willen. Vielmehr ist sie immer auf die Wahrheit bezogen, immer in der einen oder anderen Weise eine Antwort auf eine Wahrheit oder die Bewältigung einer Wahrheit, die er auch weiterhin als etwas betrachtet, dem man ansonsten nur schwer Rechnung 72 Nietzsche, FW 78, KSA 3, S. 434. 73 Nietzsche, GM III, 12, KSA 5, S. 365.

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tragen kann. In der Geburt der Tragçdie konnte sich die Kunst auf zwei Arten auf die Wahrheit beziehen: Einerseits, indem sie die Wahrheit mit Hilfe von Illusionen verdunkelte, damit das Leben erträglich wurde; die tragische Kunst auf ihrem Höhepunkt konnte uns jedoch andererseits die Wahrheit auf solche Weise offenlegen, dass eine Konfrontation mit ihr ermöglicht wurde. Indem sie uns durch den Einsatz von Musik und die symbolische Vernichtung der Individualität an einer größeren Einheit teilhaben lässt, kann die tragische Kunst unseren Kampf mit den Entsetzlichkeiten des Daseins in etwas zu Bejahendes verwandeln, an dem wir uns erfreuen können. Im Anschluss an die Frçhliche Wissenschaft sieht es so aus, als ob die Kunst – als unser Vorbild – es hauptsächlich mit Verfälschungen der einen oder anderen Art zu tun hat. Das Streben nach der Wahrheit als dem einzigen unbedingten Wert führt dazu, dass dieses Streben selbst in Frage gestellt werden muss, und die Kunst bietet hierzu das Gegenmittel. Aber Verfälschung allein reicht Nietzsche nicht aus, um das Leben erträglich zu machen: Um überhaupt stark oder bedeutend zu sein, muss man das Ziel haben, sich der Wahrheit zu stellen und sie so viel wie nur irgend möglich zu bejahen. Nietzsche plädiert also sowohl dafür, alles zu bejahen, was war und ist, egal wie hässlich und hart es ist, als auch die künstlerische Verfälschung als ein Mittel zu verwenden, um sich mit allem auseinanderzusetzen, was die eigenen Kräfte bei der Konfrontation mit der Wahrheit übersteigt. Während hier der tragische Künstler, wie schon zuvor, ein Vorbild für die freudige Bejahung des Lebens in seinen problematischsten Aspekten ist, bejaht die Tragödie die Realität durch das Hervorbringen von Illusionen. Letztendlich besteht darin für Nietzsche kein Widerspruch, denn die verfälschenden Akte der Kunst dienen dazu, eine stärkere, heroischere Perspektive auf sich selbst und die Realität zu eröffnen und zu wählen, als es die Perspektive des banalen alltäglichen Daseins zulässt. Das Verhältnis der Kunst zur Illusion und der Illusion zur Wahrheit wird von Nietzsche also in einem Zustand der Offenheit und Ambivalenz belassen, aber von Anfang bis Ende hält er an der Grundidee fest, dass man sich der Wahrheit mit Hilfe verschiedener Arten der Verfälschung bejahend stellen muss, und diese Arten der Verfälschung sind entweder künstlerischer Natur oder zumindest am Vorbild dessen entwickelt, was seiner Auffassung nach zum Kerngeschäft des Künstlers gehört.

Das Tragische in Nietzsches Spätwerk Andreas Urs Sommer Nietzsche als Philosoph des Tragischen? Gewiss, mit seinem philosophischen Erstling Die Geburt der Tragçdie aus dem Geiste der Musik von 1872 scheint sich Nietzsche als Philosoph des Tragischen hinreichend ausgewiesen zu haben. Seine frühen Überlegungen zur Tragödie und zum Tragischen haben trotz oder womöglich sogar wegen ihrer düsterbombastischen Geschraubtheit Scharen von Interpreten angelockt. Die Geburt der Tragçdie gehört zu den meistdiskutierten Texten Nietzsches – ein Sachverhalt, der in sonderbarem Kontrast zu Nietzsches „Versuch einer Selbstkritik“ steht, mit dem er die Neuausgabe seines Werkes 1886 versah: heute ist es mir ein unmögliches Buch, – ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend.1

Dies bedeutet freilich nicht, dass Nietzsche 1886 sein Frühwerk dem Vergessen preisgäbe. Vielmehr stellt er es in der neuen Vorrede als noch unvollkommenen Durchbruch zu etwas ganz Neuem, bisher Ungedachtem dar. Wenn Nietzsche im Spätwerk – und ich werde mich hier auf das letzte Schaffensjahr 1888 (einschließlich Jahresanfang 1889) konzentrieren – über das Tragische und die Tragödie spricht, tut er dies überwiegend im Zuge von Selbstkommentaren. Er sieht sich dabei nicht ohne Stolz „als den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n […], das heisst [als] den äussersten Gegensatz und Antipoden eines pessimistischen Philosophen.“2 Aber inwiefern ist der Nietzsche des Jahres 1888 noch ein tragischer Philosoph – oder ein Philosoph des Tragischen? Wir sind nicht die ersten, die diese Frage stellen. Es ist schon die Frage einiger Nietzsche-Leser des Jahres 1888, genauer gesagt, einiger Leser von Nietzsches Der Fall Wagner. Mit dieser Polemik gegen Richard Wagner als Repräsentanten von dcadence und Nihilismus, damit als Symptom für 1 2

Nietzsche, GT Versuch 3, KSA 1, S. 14. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312.

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den pathologischen Zustand der zeitgenössischen Kultur, erregte Nietzsche jene öffentliche Aufmerksamkeit, die seinen vorangegangenen Schriften weitgehend versagt geblieben war. Bis zum Fall Wagner galt Nietzsche trotz mancher verstreuter Sarkasmen zum Bayreuther Betrieb und zum Bayreuther Meister dem allgemeinen Publikum immer noch als intellektueller Bannerträger der Wagnerschen Musik- und Kulturerneuerungsambitionen.3 Umso größer war die durchaus intendierte Schockwirkung der schroff antiwagnerianischen Schrift – und die Empörung. Repräsentativ für die Gruppe der Empörten ist der Berufswagnerianer Richard Pohl. In dem von Nietzsches Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch verantworteten Musikalischen Wochenblatt lancierte Pohl unter dem Titel Der Fall Nietzsche einen polemischen Artikel,4 der zu Nietzsches Bruch mit Fritzsch führen sollte.5 Pohl wandte den von Nietzsche gegen Wagner geäusserten Pathologieverdacht auf Nietzsche selbst an und bescheinigte ihm: „Der Mann ist krank“.6 Ein Indiz dieser geistigen Krankheit ist Pohl zufolge das im Fall Wagner bezeugte, häufige Hören von Georges Bizets Carmen. Bekanntlich hatte Nietzsche die mediterrane Leichtfüßigkeit Bizets als Gegengift zu Wagner empfohlen. Dabei schien Nietzsche Carmen als Exempel einer neuen tragischen Kunst dienen zu können: „Hat man je schmerzhaftere tragische Accente auf der Bühne gehört? Und wie werden dieselben erreicht! Ohne Grimasse! Ohne Falschmünzerei! Ohne die L ü g e des grossen Stils!“7 Und um einen konkreten Beleg ist Nietzsche nicht verlegen: 3

4 5 6 7

Vgl. z. B. die WA-Rezension von Eduard Hanslick in der Neuen freien Presse, 5. November 1888, S. 4, wieder abgedruckt in Nietzsche, KGB III/7, 3, 2, S. 1036 – 1038 oder von Carl Spitteler im Berner Bund, 8. November 1888, wieder abgedruckt in Nietzsche, KGB III/7, 3, 2, S. 1038 – 1041. Vgl. Richard Pohl: Der Fall Nietzsche. Ein psychologisches Problem. In: Musikalisches Wochenblatt 19, Nr. 44, 25. Oktober 1888, S. 517 – 520, auch in Nietzsche, KGB III/7, 3, 2, S. 1026 – 1033. Vgl. Nietzsche an Ernst Wilhelm Fritzsch, 18. 11. 1888, Bf. 1147, KGB III/5, S. 477 u. Nietzsche an Fritzsch, 20. 11. 1888, Bf. 1152, KGB III/5, S. 483 f. Pohl: Der Fall Nietzsche, zit. nach: Nietzsche, KGB III/7, 3, 2, S. 1028. Nietzsche, WA 1, KSA 6, S. 14. Vgl. aber auch Nietzsches Brief an Carl Fuchs, 27. 12. 1888: „Das, was ich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommt B Tausend Mal für mich nicht in Betracht. Aber als ironische A n t i t h e s e gegen W wirkt es sehr stark; es wäre ja eine Geschmacklosigkeit ohne Gleichen gewesen, wenn ich etwa von einem Lobe Beethovens hätte ausgehen wollen“ (Nietzsche an Carl Fuchs, 27. 12. 1888, Bf. 1214, KGB III/5, S. 554).

Das Tragische in Nietzsches Spätwerk

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Ich weiss keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde, wie im letzten Schrei Don José’s, mit dem das Werk schliesst: „Ja! I c h habe sie getödtet, i c h – meine angebetete Carmen!“ – Eine solche Auffassung der Liebe (die einzige, die des Philosophen würdig ist – ) ist selten: sie hebt ein Kunstwerk unter Tausenden heraus.8

Don Josés Mordbekenntnis weckt bei Nietzsche-Lesern die Erinnerung an den berühmten Abschnitt 125 der Frçhlichen Wissenschaft, in dem der „tolle Mensch“ den Tod Gottes verkündet und skandiert: „ W i r h a b e n i h n g e t ö d t e t , – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!“9 Die paradox klingende Wendung „tragischer Witz“10 lädt zu tiefschürfenden Interpretationsanstrengungen ein, die ich hier jedoch unterlasse, um zum Berufswagnerianer Pohl zurückzukehren. Dieser nämlich lässt sich von Nietzsches Beschwörung des Tragischen im Fall Wagner kaum beeindrucken, sondern meint feststellen zu müssen: Da haben wir den Genussmenschen, der zwanzigmal in ,Carmen‘ läuft. Es soll ihm Alles leicht und angenehm zurecht gemacht werden; nur keine Aufregung, keine Erschütterung. Das Tragische, das Pathos, der Affect – Alles überflüssige Anstrengung, nervenzerstörende, schädliche Dinge. ,Graziös‘ – das Lieblingswort der Franzosen – graziös soll Alles sein. Man soll

8 Nietzsche, WA 2, KSA 6, S. 15. 9 Nietzsche, FW 125, KSA 3, S. 481. Vgl. z. B. Andreas Urs Sommer: „Gott ist todt“ oder „Dionysos gegen den Gekreuzigten“? Über Friedrich Nietzsche. In: Richard Faber/Susanne Lanwerd (Hg.): Atheismus. Ideologie, Philosophie oder Mentalität? Würzburg 2006, S. 75 – 90. 10 Nur an einer einzigen Stelle gebraucht Nietzsche im Werk die Wendung „tragischer Witz“ noch einmal: „Gesetzt, Chamfort wäre damals um einen Grad mehr Philosoph geblieben, so hätte die Revolution ihren tragischen Witz und ihren schärfsten Stachel nicht bekommen: sie würde als ein viel dümmeres Ereigniss gelten und keine solche Verführung der Geister sein“ (Nietzsche, FW 95, KSA 3, S. 450). Wie die Wendung gemeint ist, erhellt eine Nachlassnotiz von 1881 (!), aus der die Passage in WA hervorgegangen ist: „Hinter jeder Tragödie steckt etwas W i t z i g e s u n d W i d e r s i n n i g e s , eine Lust am Paradoxon, z. B. das Schlußwort der letzten tragischen Oper: ,ja i c h habe sie getödtet, meine Carmen, meine angebetete Carmen!‘ Diese Art von Pfeffer fehlt dem Epos ganz – es ist unschuldiger und wendet sich an kindlichere und plumpere Geister, denen alles Saure Bittre und Scharfe noch widersteht. Tragödie ist ein Vorzeichen, daß ein Volk witzig werden will, – daß der esprit seinen Einzug halten möchte“ (Nietzsche, NL Herbst 1881, 15[68], KSA 9, S. 657).

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mit Grazie lügen, mit Grazie betrügen, mit Grazie verrathen, mit Grazie sterben – siehe ,Carmen‘.11

Nietzsches Verlautbarungen des Jahres 1888 stellen für Pohl also nicht nur einen Verrat an Wagner dar, sondern zugleich die rabiate Verabschiedung des Tragischen zugunsten einer zahnlosen hedonistischen Fröhlichkeit. Gestandene Nietzsche-Leser werden schnell die passenden Stellen aus Nietzsches 1888er Werken bei der Hand haben, um Pohl der Verkennung von Nietzsches denkleitenden Maximen zu zeihen, ja ihm völlige Ignoranz im Blick auf Absicht und Mittel von Nietzsches Spätwerk zu bescheinigen. Dennoch bleibt die in Pohls anfechtbarer Diagnose liegende Frage für uns dringlich, nämlich die Frage, ob es für Nietzsche 1888 trotz mancher mit Reizworten aus dem tragischen Feld operierender Äußerungen noch eine Philosophie des Tragischen gibt und geben kann. Wenn Nietzsche, wie er im Fall Wagner selber nahelegt, auf die Wagnerische „Lüge des grossen Stils“ verzichten will, wenn man, wie Pohl nahelegt, das Tragische mit Affekt und Pathos assoziiert, letzteres aber für verdächtig hält, wie ist dann noch eine Philosophie des Tragischen möglich? Oder erschöpft sich beim späten Nietzsche, der seine frühe Philosophie des Tragischen auf Richard Wagner hin modelliert hatte, die Evokation des Tragischen in Schablonen, in rhetorischen Beschwörungsgesten? Dieser Frage werde ich im Folgenden nachgehen. Die Auslegungsordnung sieht zunächst (I) eine Übersicht über Hauptelemente von Nietzsches später Reflexion über das Tragische vor. Manche dieser Hauptelemente fordern eine eingehendere Analyse, der ich mich exemplarisch anhand der Retraktation der Geburt der Tragçdie in Ecce homo widmen will (II), bevor abschließend (III) ein paar generalisierende

11 Pohl: Der Fall Nietzsche, zit. nach Nietzsche, KGB III/7, 3, 2, S. 1030. Weder im Fall Wagner, noch sonst in irgendeinem Werk Nietzsches lässt sich der Ausdruck „graziös“ nachweisen; „Grazie“ hingegen kommt in den Schriften von 1888 nur ein einziges Mal vor, und zwar nach Erscheinen von Pohls Polemik als Antwort darauf in Nietzsche, EH MA II, KSA 6, S. 324: „[I]ch habe alle Art Bekenntnisse ,schöner Seelen‘ über Wagner gehört. Ein Königreich für Ein gescheidtes Wort! – In Wahrheit, eine haarsträubende Gesellschaft! Nohl, Pohl, K o h l mit Grazie in infinitum!“ Hingegen hatte Nietzsche in WA 10, KSA 6, S. 37 „la gaya scienza; die leichten Füsse; Witz, Feuer, Anmuth“ bei Wagner vermisst. Pohl zitiert diese Stelle leicht variiert; auf das Zitat folgt der Passus mit dem „Genussmenschen“ (vgl. Pohl: Der Fall Nietzsche, zit. nach Nietzsche, KGB III/7, 3, 2, S. 1029 f.).

Das Tragische in Nietzsches Spätwerk

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Überlegungen die Frage nach Möglichkeit und Wirklichkeit einer Spätphilosophie des Tragischen bei Nietzsche provisorisch beantworten.

I. Stellt man die Stellen zusammen, in denen es in Nietzsches Spätwerk explizit oder implizit um das Tragische geht, fallen sechs Aspekte auf: Das Tragische ohne Tragiker. Weder in den publizierten oder zur Publikation vorbereiteten Werken von 1888/89 noch im späten Nachlass kommen die klassischen attischen Tragödiendichter oder ihre Werke auch nur vor. Mag einen Leser der Geburt der Tragçdie schon der Verdacht beschlichen haben, der dort als exemplarische Tragödiengestalt ausgegebene Prometheus habe mehr mit Goethe als mit Aischylos zu tun,12 so scheint das Feld nun bereinigt: Die attische Tragödie und ihre Verfasser sind ganz aus dem Blick geraten. Die letzte Erwähnung von Sophokles findet sich in der Frçhlichen Wissenschaft; nicht einmal Nietzsches einstiger Lieblingsfeind Euripides ist 1888 noch eine Zeile wert. In der autobiographischen Reflexion Was ich den Alten verdanke, die die Gçtzen-Dmmerung abschließt, ist im fünften Abschnitt zwar im Allgemeinen von der Tragödie die Rede, aber doch nur als einer literarischen Gattung, die als Gegenstück zum Pessimismus aufgebaut wird. Konkrete Erscheinungsformen dieser Gattung werden ausgeblendet; das „Tragödie“ Genannte referiert nicht mehr auf bestimmte Werke, sondern ist ein Joker, der gegen eine pessimistische Weltanschauung stechen soll. Nietzsche bleibt sonst im fraglichen Kapitel keineswegs derart vage: Beispielsweise zu Thukydides, zu Heraklit und zu Platon werden die Aussagen an konkreten Lektüren festgemacht. Die Vagheit des Bezugs auf „die“ Tragödie entzieht demgegenüber Nietzsches einschlägige Urteile jeder Überprüfung. Doppelte Frontstellung. Seinen Begriff des Tragischen und der Tragödie (will man von Begriff sprechen) entfaltet Nietzsche 1888 in einer zweifachen Abgrenzung: zum einen gegen die Affektentladungstheorie, die Aristoteles seiner Deutung der Tragödie unterlegte, zum anderen gegen die pessimistische Resignation, die Schopenhauer in der Tragödie finden zu können meinte. Während in der Geburt der Tragçdie Aristoteles’ 12 Siehe Barbara von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Kap. 1 – 12). Stuttgart/Weimar 1992, S. 240 – 251.

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Tragödienkonzeption auffälligerweise ausgeklammert blieb und Schopenhauer als Referenzphilosoph für einen Pessimismus der Stärke herhalten musste, für den der Verfasser selbst einzustehen schien, werden Aristoteles und Schopenhauer nun als ruchlose Verderber eines angemessenen Verständnisses der Tragödie und damit des Griechentums an den Pranger gestellt. Diese Positionierung von Aristoteles und Schopenhauer als Antagonisten von Nietzsches spätem Tragödienverständnis dient zum einen der Neuerschaffung der eigenen Vergangenheit, indem Nietzsche die von den Lesern (wie Pohl) ursprünglich darin gefundenen Grundbegriffe und Überzeugungen ins Gegenteil verkehrt. Zum anderen dient dieses Verfahren der Neuerschaffung der europäischen Denkvergangenheit als ganzer, indem die dominierenden Interpretationen der Tragödie und des Tragischen außer Kurs gesetzt werden. Gegensatz der tragischen und der pessimistischen Haltung. In seiner Abgrenzung sowohl vom Aristotelischen wie vom Schopenhauerischen Tragödienverständnis geht es nicht um eine historisch-philologische Quisquilie, sondern um das große Geschäft der Umwertung aller Werte, dem Nietzsche Ende 1888 schließlich alle anderen Anliegen unterordnet.13 Schopenhauers Verständnis des Tragischen wird als symptomatisch für dessen Philosophie begriffen – eine Philosophie, deren Botschaft Weltverneinung, Nihilismus heißt. Es besteht bei Schopenhauer nach Nietzsches Rekonstruktion eine genaue Korrespondenz zwischen seinem Denken im Allgemeinen und seinem Denken des Tragischen – letzteres ist nur ein konkretes Anwendungsbeispiel, das nichts über das Tragische oder gar die griechische Tragödie verrät, aber alles über Schopenhauer, den zeittypischen dcadent. Zwar ist beim späten Nietzsche über das Denken des Aristoteles im Allgemeinen (im Unterschied zu Sokrates und Platon) wenig zu lesen, aber auch hier bietet es sich an, das Denken des Tragischen als konkretes Anwendungsbeispiel eines Denkens im Allgemeinen zu verstehen. Ist die Tragödie ein Purgativ, um sich unerwünschter Affekte zu entledigen, dann dürfte das Denken des Aristoteles auch im Allgemeinen auf Entlastung aus sein. Es wird sich aus dem Blickwinkel des Umwerters um ein Denken handeln, das sich von den harten Zumutungen des Daseins mittels Metaphysik und Ethik freizuhalten trachtet und sich in einer mesotes einrichtet, in der sich ungestört leben lässt. 13 Dazu ausführlich Andreas Urs Sommer: Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar. Basel 2000.

Das Tragische in Nietzsches Spätwerk

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Nietzsche gibt nur knappe, in ihrer Knappheit zur Karikatur tendierende Résumés der konkurrierenden Deutungen des Tragischen. Dabei destilliert er einen tiefgreifenden Gegensatz der Haltungen heraus: Der pessimistischen Haltung Schopenhauers steht die tragische Haltung gegenüber, die Nietzsche bei den Griechen zu finden wähnt und für sich selbst reklamiert: Der tragische Mensch bejaht das Dasein trotz oder gerade wegen der Überfülle des Leidens, während der pessimistische das Dasein aus demselben Grund ablehnt. Der tragische Mensch ist dionysisch, orgiastisch, will die Steigerung, die Überfülle, will das Leid. Der pessimistische Mensch hingegen ist nihilistisch, will lieber das Nichts als diese leidvolle Welt. Das hat für das Verständnis der attischen Tragödie die Konsequenz, dass deren Interpretation als Mittel, sich in die Resignation zu schicken, d. h. sie als Aufdeckung des schrecklichen Weltwillens und seiner Verneinungsbedürftigkeit zu sehen (Schopenhauer), ebenso falsch sein muss wie die Affektabfuhrtheorie des Aristoteles, derzufolge die Tragödie von den negativen Affekten Schrecken und Mitleid reinigt, um uns affektfrei zu stellen. Vielmehr wirke die Tragödie tonisch, messbar mit einem Dynamometer, halte uns zur Bejahung des Lebens mit all seinen Schrecknissen an. Selbstaneignungsfiguren. Nietzsche benutzt das Tragische und sein neues Verständnis des Tragischen als Chiffre für das eigene Philosophieren. Während als emblematische Figur der Geburt der Tragçdie auf dem Titelblatt der Erstausgabe Prometheus auftauchte, ist 1888 Dionysos höchstselbst zur alleinigen Personifikation des Tragischen aufgerückt:14 Dies ist charakteristisch: Es geht nicht mehr um den Trotz, um das Dennoch, mit dem der schopenhauerianisierende Prometheus-Pessimist der Stärke sich 1872 gegen die Widerwärtigkeit des Daseins zu wappnen suchte, sondern darum, diese Widerwärtigkeit als Stimulans zum Leben zu begreifen. Auch hier steht, wie im Fall von Schopenhauer und von Aristoteles, das Denken des Tragischen in exakter Korrespondenz zu Nietzsches Denken im Allgemeinen – ein Denken, das er als ein großes Ja-Sagen verstanden wissen will. Nietzsche instrumentalisiert das Tragische, um seine eigene Philosophie auf den Punkt zu bringen. Dabei 14 Vgl. aber schon Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 71. In den Werken des Jahres 1888 kommt Prometheus nicht mehr vor – im Nachlass aus der Zeit nur einziges Mal, bezeichnenderweise als die Goethe-Figur: „,Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehen, weil nicht alle Blüthenträume reiften?‘ – sagt der Prometheus Goethes“ (Nietzsche, NL November 1887-März 1888, 11[313], KSA 13, S. 133).

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würde eine neuerliche Auseinandersetzung mit dem Bestand an literarischen Werken des Genres Tragödie nur die Eindeutigkeit der Botschaft durch Ab- und Nebenwege konterkarieren und die Gewaltsamkeit von Nietzsches Deutung des Tragischen als erhabenster Form der Lebensbejahung zutage treten. Aber warum denn überhaupt das Tragische als Exempel der Lebensbejahung? Zum einen, weil hier die äußerste Bewährungsprobe einer Lebensbejahungsphilosophie zu erbringen ist: Wenn man angesichts des Furchtbaren nicht nur bei der Lebensbejahung bleibt, sondern man sich von diesem Furchtbaren in seiner Lebensbejahung gesteigert findet, dann scheint die Tauglichkeit einer Lebensbejahungsphilosophie erwiesen. Zum anderen dient das Tragische beim späten Nietzsche als Exempel einer Lebensbejahungsphilosophie, weil es ihm erlaubt, das eigene Frühwerk systematisch in sein späteres Denkgefüge zu integrieren, ja die Geburt der Tragçdie als einen Text zu präsentieren, in dem alle Schopenhauerei und Wagnerei nichts weiter als die Verpackung einer darin bereits vollzogenen Umwertung der Werte gewesen sei: Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die Wahrheit gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Werthmaaß, noch weniger als oberste Macht. […] Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinn, daß es Etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus […].15

Die Geburt der Tragçdie stellt sich im Rückblick als Symptom der Reaktion auf eine Krankheit dar, die 1872 als Krankheit noch nicht erkannt worden war, nämlich die Krankheit des später als Nihilismus entlarvten Pessimismus. Die Wiederkehr des tragischen Themas 1888 ist einerseits also systematisch motiviert als Beglaubigung von Nietzsches aktuellen philosophischen Präferenzen. Andererseits ist diese Wiederkehr das Mittel, autobiographische Kohärenz herzustellen, indem das Frühwerk als zwar noch unvollkommene, aber doch authentische Erscheinungsform desselben Anliegens vereinnahmt wird, das Nietzsche 1888 umtreibt. Dem eigenen Frühwerk widerfährt also dasselbe, was der griechischen Tragödie dort schon widerfahren war: Es wird zu Gegenwartszwecken instrumentalisiert, umgewertet. Der Wagner-Komplex und die Kunst. Nietzsches erneute Auseinandersetzung mit Wagner im Jahr 1888 scheint Rätsel aufzugeben: Weshalb widmet Nietzsche dem längst verabschiedeten und verblichenen Bay15 Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 522.

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reuther Meister zwei Schriften, wo er sich doch schon seit mehr als einem Jahrzehnt denkerisch neu orientiert hat? Auch im Hinblick auf seine frühen pro-wagnerischen Äußerungen nimmt Nietzsche eine Umwertung vor, könne man doch letztlich überall, wo damals Wagner stand, Nietzsche einsetzen.16 Die schonungslose Abrechnung in Der Fall Wagner entlarvt Wagner als dcadent und soll zeigen, dass dieser zwar pessimistisch und nihilistisch sei, aber nicht tragisch. Um dies sinnfällig zu machen, nutzt Nietzsche beispielsweise das Mittel der Travestie: Die scheinbar so erhabenen Wagnerschen Helden und Heldinnen werden ins Psychopathologische oder ins Alltägliche übersetzt, so dass sie und ihr Erfinder nur noch Lachnummern sind.17 Gleichwohl bleibt Nietzsche auch 1888 bei der nach Schopenhauer und Wagner klingenden Prämisse, dass die tragische Existenz, die er visioniert, offensichtlich nur oder doch hauptsächlich in der Kunst gelebt werden könne und müsse.18 „Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, – er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h … “19 Kunst erscheint nicht als Selbstzweck, sondern dient dieser Verherrlichung des Lebens, ist solche Verherrlichung. Damit ist sie beim Geschäft der Existenzbewältigung offensichtlich entscheidend. Woran sich die von Nietzsche nicht beantwortete, ja kaum gestellte Frage anschließt, ob es auch ein tragisches Dasein diesseits oder jenseits der Kunst gebe. Ist die Welt mit ihren Abgründen nur mittels Kunst zu bejahen? Ist Kunst nicht bloß wieder einmal ein Mittel, sich das Dasein faute de mieux erträglich zu machen – unter dem pompöseren Namen eines großen Ja-Sagens? Vereindeutigung. Vergegenwärtigt man sich diese Aspekte von Nietzsches später Reflexion über das Tragische, fällt auf, wie stark in den von Nietzsche publizierten oder zur Publikation fertiggestellten Werken der Charakter und der Sinn des Tragischen vereindeutigt werden. Die Ambivalenzen des Tragischen und seiner Deutung werden systematisch zum Verschwinden gebracht, indem es als Stimulans des Lebens, damit als Beglaubigung einer Lebensbejahungsphilosophie zu dienen hat. Aber hält diese Vereindeutigung kritischen Rückfragen stand? Wie ist eine Tra-

16 Vgl. Nietzsche, EH GT 4, KSA 6, S. 314 u. EH UB 3, KSA 6, S. 320. 17 Vgl. Nietzsche, WA 9, KSA 6, S. 34. 18 Besonders drastisch formuliert Nietzsche dies in Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 521. 19 Nietzsche, GD Vernunft 6, KSA 6, S. 79.

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gödie der Bejahung möglich? Solche Fragen machen es unerlässlich, an der einen oder anderen Stelle genauer auf die Texte einzugehen.

II. Kann es in Nietzsches Denken 1888 das Tragische, gar eine „Wiederherstellung des Begriffs ,tragisch‘“20 noch geben? Ist das Tragische tragisch, wenn es nicht mehr pessimistisch ausbuchstabiert werden darf ? Bringt Nietzsche das Tragische, wenn er es als Stimulans des Lebens zu begreifen lehrt, nicht ebenso zum Verschwinden, wie all jene christlichen Deuter der Tragödie es zum Verschwinden gebracht haben, die zwar die Greuel und Schrecken des irdischen Jammertals drastisch auszumalen verstanden, aber doch nur, um jenseitige Kompensation anzubieten, durch die schließlich der Gute belohnt und der Böse bestraft werden würde. Sicher entfallen bei Nietzsche sowohl die Jenseitserwartung als auch die moralische Unterscheidung von Gut und Böse. Jedoch könnte das „Dennoch“ der Bejahung das Tragische schließlich gleichfalls zum Verschwinden bringen, wird hier doch offenbar auch der Triumph des Positiven – diesmal im Diesseits – vorweggenommen, so dass Greuel und Schrecken nicht das letzte Wort behalten. Im Nachlass behandelt Nietzsche die Diskrepanz zwischen seiner eigenen und der christlichen Auffassung unter dem Stichwort Problem […] vom Sinn des Leidens: ob ein christlicher Sinn, ob ein tragischer Sinn… Im ersten Falle soll es der Weg sein zu einem seligen Sein, im letzteren gilt d a s S e i n a l s s e l i g g e n u g , um ein Ungeheures von Leid noch zu rechtfertigen/Der tragische Mensch bejaht noch das herbste Leiden: er ist stark, voll, vergöttlichend genug dazu […].21

Inwiefern kann man das Tragische bejahen? Sehen wir zu. Nietzsches Äußerungen zum Tragischen in den Werken des Jahres 1888 bemühen sich, es sei wiederholt, nicht um eine Deutung der „Tragödien“ genannten literarischen Werke. Als eine solche Deutungsbemühung stellte sich das Denken des Tragischen von Aristoteles bis Schiller, Hegel und Schelling über weite Strecken dar. So sehr sich Nietzsche in der Sache von Schopenhauer distanziert, der als psychologischer Falschmünzer ohnegleichen „die Tragödie als Folgeerscheinungen der ,Verneinung‘ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des ,Willens‘ 20 Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[50], KSA 13, S. 243. 21 Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[89], KSA 13, S. 266.

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interpretirt“ habe,22 so sehr steht er doch noch insofern im Banne Schopenhauers, als er mit diesem das Weltgeschehen selbst als tragisch interpretiert.23 Tragödie ist beim späten Nietzsche wie bei Schopenhauer primär nichts mehr, was sich im Rahmen des Dionysos-Kultes oder auf der Bühne als therapeutischer Anstalt abspielt, sondern im Leben – vornehmlich im Leben höherentwickelter Menschen: Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, dass sie die muthigsten sind, erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien: aber eben deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen seine grösste Gegnerschaft entgegenstellt.24

Das Interesse an der attischen Tragödie als „ritueller Praxis“, als integralem Bestandteil der „dionysischen Festkultur“25 – ein für Nietzsches frühe Beschäftigung mit dem Thema charakteristisches Moment – tritt in der Gçtzen-Dmmerung zurück. Von der alle Grenzen zwischen Autor, Schauspieler, Chor, Publikum und Gott aufhebenden Macht des kultischen Gesamtkunstwerks Tragödie ist keine Rede mehr, stattdessen wird 22 Nietzsche, GD Streifzüge 21, KSA 6, S. 125. 23 Demgegenüber ist Otto Liebmanns Behandlung des Tragischen noch ganz traditionell an der griechischen Tragödie orientiert. Nietzsche hat sich – gerade in seinen späten Schaffensjahren – intensiv mit Liebmanns Werk auseinandergesetzt, hätte sich aber Liebmanns Schlussfolgerungen ebenso wie seine Voraussetzungen, die er von Aristoteles bezieht, verbeten: Liebmann lässt sich von Schiller und Kant inspirieren, denen zufolge „die Befriedigung am Trauerspiel einen wesentlich moralischen, ethischen Charakter besitzt. Der tragische Dichter hat das seltsame Privilegium, unserem Gemüth Wunden zu schlagen, aber er übernimmt mit diesem Rechte zugleich die Pflicht, Balsam in die Wunden zu träufeln; mindestens muß er ihn uns zur Heilung in die Hand geben; dieser Balsam aber ist ein moralischer“ (Otto Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit. Eine Erörterung der Grundprobleme der Philosophie. Zweite, beträchtlich vermehrte Auflage. Straßburg 1880, S. 618, Lesespuren in Nietzsches Handexemplar). „Und so bin ich denn der Überzeugung: das specifisch Befriedigende der Tragödie […] liegt in der deutlicheren oder undeutlicheren Erregung des ernsten Bewußtseins: Mögen Schuld und Schicksal, Situation und Charaktere, Zufall und Leidenschaften noch so störend, verwirrend, vernichtend in das menschliche Leben eingreifen, die höchsten und edelsten Bestrebungen vereiteln, das Beste, Daseinswürdigste unbarmherzig zerknicken, die Unschuld morden, den Bösewicht triumphiren lassen, – es gibt eine moralische Weltordnung, welcher stets das letzte Wort verbleibt, welche zuweilen sichtbarlich, zuweilen auch für uns unmerklich alles Unrecht sühnt, alles unverdiente Leiden wieder gut macht, alle sittlichen Dissonanzen so oder so auflöst“ (ebd., S. 621, Seite von Nietzsche markiert). 24 Nietzsche, GD Streifzüge 17, KSA 6, S. 122. 25 Enrico Müller: Die Griechen im Denken Nietzsches. Berlin/New York 2005, S. 46 f.

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die Kunstproduzenten-Perspektive privilegiert. Der Künstler verherrliche noch im Fragwürdigsten und Schauerlichsten das Leben – was das Publikum dabei tut oder ihm widerfährt, kümmert Nietzsche nicht weiter. Ein Psycholog fragt dagegen: was thut alle Kunst? lobt sie nicht? verherrlicht sie nicht? wählt sie nicht aus? zieht sie nicht hervor? Mit dem Allen s t ä r k t oder s c h w ä c h t sie gewisse Werthschätzungen… Ist dies nur ein Nebenbei? ein Zufall? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre? Oder aber: ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler k a n n … ? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das L e b e n ? auf eine W ü n s c h b a r k e i t v o n L e b e n ? – Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben: wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehn? – Eine Frage bleibt zurück: die Kunst bringt auch vieles Hässliche, Harte, Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, – scheint sie nicht damit vom Leben zu entleiden? – Und in der That, es gab Philosophen, die ihr diesen Sinn liehn: „loskommen vom Willen“ lehrte Schopenhauer als Gesammt-Absicht der Kunst, „zur Resignation stimmen“ verehrte er als die grosse Nützlichkeit der Tragödie. – Aber dies – ich gab es schon zu verstehn – ist Pessimisten-Optik und „böser Blick“ –: man muss an die Künstler selbst appelliren. W a s t h e i l t d e r t r a g i s c h e K ü n s t l e r v o n s i c h m i t ? Ist es nicht gerade der Zustand o h n e Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt? – Dieser Zustand selbst ist eine hohe Wünschbarkeit; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten Ehren. Er theilt ihn mit, er m u s s ihn mittheilen, vorausgesetzt, dass er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung. Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt – dieser s i e g r e i c h e Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der h e r o i s c h e Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, – ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit.26

Einem Werk der Tragödienliteratur schenkt der späte Nietzsche nun doch seine Aufmerksamkeit. Ihm wird besonderer Quellenwert zuerkannt. Praktischerweise ist es ein Werk, über das Nietzsche Deutungshoheit zu haben beansprucht, nämlich die von ihm selbst verfasste Geburt der Tragçdie. Diesem Text entnimmt Nietzsche in seiner Retraktation, die er in seiner Autohagiographie Ecce homo seinen bisherigen Werken widmet, autoritative Auskünfte sowohl über seine eigenen denkerischen Anfänge als auch über das wahre Wesen des Griechentums. Während er 26 Nietzsche, GD Streifzüge 24, KSA 6, S. 127 f. Auch die „Psychologie des Orgiasmus“ in Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160, blendet alsbald über auf die „Psychologie des t r a g i s c h e n Dichters“ (GD Alten 5, KSA 6, S. 160).

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im „Versuch einer Selbstkritik“ von 1886 das Werk einer fundamentalen Revision unterzog, die fast sämtliche Einwände vorwegnahm, die man gegen Die Geburt der Tragçdie anführen kann,27 verzichtet Nietzsche in Ecce homo auf eine derart abwägende Würdigung. Stattdessen bedient er sich einer Technik der – stellenweise anekdotischen – Verknappung auf Hauptthemen und -thesen, die trotz aller Entwicklung die wesentliche Kongruenz seines frühen und seines späten Denkens aufweisen soll. Das Buch von 1872 wird zugerichtet auf die Bedürfnisse des Jahres 1888 und gewährt so Einblick in Nietzsches späte Selbstdefinitionsversuche. „Um gegen die ,Geburt der Tragödie‘ (1872) gerecht zu sein, wird man Einiges vergessen müssen.“28 Die Retraktation der Geburt der Tragçdie in Ecce homo gibt überdies eine kompakte Zusammenstellung jener Überlegungen, die Nietzsche bewogen haben, sich „als den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n zu verstehn“.29 Vergegenwärtigen wir uns also diese Überlegungen. Die Retraktation setzt ein – obwohl der erste, vorhin zitierte Satz gerade das Vergessen fordert – mit der Erinnerung an die ursprünglich zwar vom Autor intendierte, aber irrtümliche Rezeption der Geburt als Partei- und Propagandaschrift für Wagner. Diese „Nutzanwendung auf die W a g n e r e i “30 habe den eigentlichen Gehalt des Werks verdeckt. Indem Nietzsche Wagner als dekadent und lebensfeindlich diskreditiert – eine Diskreditierung, die im letzten der vier EH-Abschnitte zur Geburt ihre fulminante Fortsetzung findet –, sichert er seine eigene singuläre Position, die der christologische Titel des gesamten Werkes, Ecce homo schon reklamiert: Für die Vierte unzeitgemsse Betrachtung: Wagner in Bayreuth gelte: „an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede, – man darf rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra‘ hinstellen, wo der Text das Wort Wagner giebt.“31 Die Annäherung an die Tragödie und das Tragische gewinnt seine definitorische Kraft zunächst also aus der Negation – der Negation Wagners, damit jener Künstler-Persönlichkeit, von der Nietzsche einst die Erneuerung der tragischen Kunst der Griechen erwartet hatte. Aus dem Begriff des Tragischen fällt nun alles heraus, was mit Wagner, mit dcadence, mit einer Problematisierung und Infragestellung 27 28 29 30 31

Vgl. Müller: Die Griechen, S. 36. Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 309. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 309. Nietzsche, EH GT 4, KSA 6, S. 314.

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des Wertes des Lebens zusammenhängt. Eine zweite, gleich folgende Negation macht diesen Punkt noch deutlicher, nämlich die das Spätwerk leitmotivisch durchziehende Negation der Schopenhauerischen Auffassung der Tragödie: „Die Tragödie gerade ist der Beweis dafür, dass die Griechen k e i n e Pessimisten waren: Schopenhauer vergriff sich hier, wie er sich in Allem vergriffen hat.“32 Dennoch ist mit Wagner und Schopenhauer das Terrain vorgegeben, auf dem sich in Nietzsches Rückblick seine Auseinandersetzung mit der Tragödie 1872 abgespielt hatte, nämlich das Terrain des Pessimismus: „,Griechenthum und Pessimismus‘: das wäre ein unzweideutigerer Titel gewesen: nämlich als erste Belehrung darüber, wie die Griechen fertig wurden mit dem Pessimismus, – womit sie ihn ü b e r w a n d e n … “33 Das Tragische ist also nichts weniger und nichts mehr als die Überwindung des Pessimismus – eines Pessimismus, der angesichts der grausigen Kümmernisse des Daseins sich nachgerade aufdrängen musste und, wäre er erfolgreich gewesen, den Lebens- und Kunstwillen der Griechen dauerhaft gelähmt hätte. Die Tragödie als Kunst bildet die Schrecken des Daseins demnach nicht länger ab, sondern überwindet sie, indem sie sie zur Sprache bringt. Dieses Zur-Sprache-Bringen scheint therapeutische Wirkung zu zeitigen – jedoch nicht aristotelisch als Affekt-Purgativ, sondern eher proto-psychoanalytisch als Verdrängungsvermeidung, als Verarbeitung. Die hier aus der Geburt der Tragçdie gezogene Quintessenz entspricht keineswegs der von anderen damaligen Interpreten gezogenen. Dass diese nach Meinung der zeitgenössischen Leser zutiefst pessimistisch eingefärbte, nicht bloß „in einigen Formeln mit dem Leichenbitter-parfum Schopenhauer’s behaftet[e]“34 Schrift es eigentlich auf die Überwindung des Pessimismus im Tragischen abgesehen gehabt haben könnte, ist ihnen zumindest nicht ein- oder aufgefallen. Man kann sich des Verdachts kaum erwehren, Nietzsche domestiziere seine Frühschrift retrospektiv und konstruiere einen Gegensatz von Pessimismus und Tragik, der nicht schon die Innovation von 1872, sondern erst von 1888 sei. Dass Pessimismus und Tragik den eigentlich tragenden Gegensatz darstellten, überrascht jedenfalls. Da uns hier der Gehalt von Nietzsches Reflexion auf das Tragische interessiert und nicht seine Praktiken der Selbstinszenierung, muss eine 32 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 309. 33 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 309. 34 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310.

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tiefergreifende Erörterung der 1888 vollzogenen, autobiographischen Verortung des Erstlings entfallen. Hinzuweisen ist exemplarisch auf den martialischen Rahmen, in den die Entstehung der Schrift gestellt wird: Sie sei begonnen worden „unter den Donnern der Schlacht bei Wörth“,35 als ob ihr Verfasser dabei gewesen wäre. Der „Versuch einer Selbstkritik“ zur Neuausgabe 1886 hatte zwar die Donner ebenfalls erwähnt, aber doch den damaligen Verfasser anders platziert: Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die G r i e c h e n nieder […].36

Das Werk sei „ t r o t z “ der „aufregende[n] Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/71“ entstanden, heißt es dort weiter – während in Ecce homo diese kriegerische Zeit geradezu als Möglichkeitsbedingung der Geburt der Tragçdie erscheint. Ebenso wie im Spätwerk der im „Versuch einer Selbstkritik“ noch erwähnte „Pessimismus der S t ä r k e “37 als Charakteristikum der tragischen Griechen ersatzlos entfällt, vereindeutigt und vereinseitigt die Retraktation von 1888 auch im Blick auf das Kriegsgeschehen. Die damit beim Leser erzielte Suggestion ist klar: Die Entstehung der Schrift verdankt sich ungeachtet ihrer betonten Unzeitgemäßheit dem Krieg. Krieg, nämlich gegen die Abwertung des Lebens, erscheint damit als der eigentliche Glutkern der Geburt der Tragçdie – ein Krieg, der nichts mit ephemeren zwischenstaatlichen Konflikten zu tun hat, sondern ein weltgeschichtlicher Endkampf zu sein beansprucht. Damit würde sich das Erstlingswerk passgenau in den Bellizismus jener „Umwerthung aller Werthe“ genannten Unternehmung Nietzsches aus dem letzten Schaffensjahr einfügen. „[D]ie ,Geburt der Tragödie‘ war meine erste Umwerthung aller Werthe“, heißt es konsequenterweise in dem erst für Ecce homo vorgesehenen Kapitel „Was ich den Alten verdanke“ der Gçtzen-Dmmerung. 38 Der martialische Rahmen spielt jedoch nicht nur auf das umwertungshalber dominierend werdende Kriegsthema an, sondern ist zugleich eine Selbstanwendung und Selbstbeglaubigung der hier gebotenen Philosophie des Tragischen: Die Geburt der Tragçdie erscheint als Text, der die 35 36 37 38

Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310. Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 11. Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 12. Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160.

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Schrecknisse des Daseins, Krieg und Krankheit (von seinem „Dienste der Krankenpflege“ spricht N. im selben Atemzug)39 produktiv überwindet – ein Text, der wie vorgeblich die großen griechischen Tragödien das Leben gerade aus der Erfahrung seiner Abgründe heraus verherrlicht. So können die attischen Tragödien als Referenztexte für das Tragische entfallen – Die Geburt der Tragçdie reicht hin, artikuliert sie doch dieselbe Erfahrung als Ansporn zur Lebensbejahung. Das in der Literatur zur Geburt der Tragçdie endlos diskutierte Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch hakt Nietzsche in einem Satz ab,40 der die Leser, die die Frühschrift nicht kennen, über Bedeutung und Gehalt dieses Gegensatzpaares weitgehend im Unklaren lässt. Dafür wird als große Innovation des Buches zum einen „das Verständniss des d i o n y s i s c h e n Phänomens bei den Griechen“ als „die Eine Wurzel der ganzen griechischen Kunst“ hingestellt,41 zum anderen „das Verständniss des 39 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310. „Ich habe diese Probleme vor den Mauern von Metz, in kalten September-Nächten, mitten im Dienste der Krankenpflege, durchgedacht“ (Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310). Dafür wird Nietzsche wenig Zeit gehabt haben: Am 2. September 1870 reist er von Nancy nach Ars sur Moselle südöstlich von Metz (Nietzsche an Elisabeth Nietzsche, 2. 09. 1870, Bf. 97, KGB II/1, S. 139), um aber bereits am 3. September bei einem Verwundetentransport nach Karlsruhe an Ruhr und Rachendiphtherie zu erkranken. Vom 4. bis zum 6. September lag Nietzsche in Karlsruhe, vom 6. bis 14. September im Lazarett in Erlangen und hielt sich danach bis Ende Oktober bei der Mutter in Naumburg auf. Insgesamt war Nietzsche als freiwilliger Krankenpfleger (und damit als Zivilist!) eine gute Woche auf den Kriegsschauplätzen. 40 „Eine ,Idee‘ – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser ,Idee‘; in der Tragödie der Gegensatz zur Einheit aufgehoben; unter dieser Optik Dinge, die noch nie einander ins Gesicht gesehn hatten, plötzlich gegenüber gestellt, aus einander beleuchtet und b e g r i f f e n … “ (Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310). 41 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310. Nietzsches 1888 rege benutzte Quelle, nämlich Besnards Kommentar zu Arnobius: Des Afrikaner’s Arnobius sieben Bücher wider die Heiden. Aus dem Lateinischen übersetzt und erläutert von Franz Anton von Besnard. Landshut 1842, S. 564 f., lehnt gerade die Herleitung der griechischen Kultur allein aus dem Dionysischen ab: „Nur bleibt gerade das eben unerklärt, was am meisten Erklärung fordert: die Konsequenz, mit der bei den Griechen das Rasen […] nur gerade im Kult des Dionysos; das muthwillige, zügellose Schäckern und Spotten […] fast allein bei der Demeter vorkam, und überhaupt die Extreme der Empfindung vom Kultus der olympischen Götter ausgeschlossen dem der chthonischen, wozu die genannten gehörten, zugetheilt waren. Wer hier eigenthümliche, wenn auch räthselhafte ja verirrte religiöse Empfindungsweisen und Gemüthsstimmungen verkennt, der versperrt sich of-

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Sokratismus“42 als Auflösungserscheinung griechischer Kultur, als einseitige Vernunftprivilegierung, als dcadence. Erneut ist hier der Vereindeutiger am Werk: bei Sokrates und in seinem Gefolge Vernunft gegen Instinkt, davor – wer oder was immer das gemeinte „Davor“ gewesen sein mag – Harmonie von Vernunft und Instinkt sowie von Apollinischem und Dionysischem. Der Vereindeutigung dient auch der Hinweis auf das, was verschwiegen worden sei: Tiefes feindseliges Schweigen über das Christenthum im ganzen Buche. Es ist weder apollinisch, noch dionysisch; es n e g i r t alle ä s t h e t i s c h e n Werthe – die einzigen Werthe, die die ,Geburt der Tragödie‘ anerkennt: es ist im tiefsten Sinne nihilistisch, während im dionysischen Symbol die äusserste Grenze der B e j a h u n g erreicht ist.43

Diese Stelle ist ein Beleg mehr für die mannigfach zu machende Beobachtung, wie sehr Nietzsche sein Frühwerk für seine momentanen Bedürfnisse ausbeutet. Inwiefern ein Schweigen feindselig ist, kann ein Leser, der nicht über die Innenperspektive des Autors verfügt, schlechterdings nicht abschätzen, so dass er diesem Autor nicht zu widersprechen vermag. Ende 1888 ist Nietzsche der Auffassung, mit seinem Antichrist die Umwertung aller Werte abgeschlossen zu haben – die Umwertung besteht also zur Hauptsache in der Delegitimierung der christlichen Werte, die als nihilistische Werte identifiziert werden. Gegeninstanz hierzu bilden „ästhetische Werthe“ – nicht einfach nur Werte der Kunst und der Sinnlichkeit, sondern der Daseinsbejahung. Sinnlichkeit (vs. Vernunft), Kunst (vs. Christentum?) und Lebensbejahung (vs. Pessimismus/Nihilismus) kommen so auf eine Linie zu stehen – der Umwerter setzt es als selbstverständlich voraus, dass sie zusammengehören, weshalb er sich einer weiteren Argumentation enthoben wähnt, diese Zusammengehörigkeit auch noch zu beweisen. Nietzsche zögert in der Retrospektive nicht, seine eigene moralgenealogische Arbeit bereits in der Geburt der Tragçdie angelegt zu sehen: fenbar den Weg zum Eindringen, welchen eine unbefangene, umfassende historische Psychologie am leichtesten anbahnen könnte“ (ebd., S. 565). Für Besnard ist das Dionysische also die absolute Ausnahme im griechischen Kultleben, nicht die Regel, die Nietzsche daraus zu machen scheint. Es lässt sich nichts Allgemeines für das Griechentum aus dem Dionysischen ableiten, wie Nietzsche dies tut. Das betont auch – ohne Bezug auf die Arnobius-Quelle – Hubert Cancik: Nietzsches Antike. Vorlesung. 2., durchgesehene Aufl., mit einem Nachwort. Stuttgart/Weimar 2000, S. 156. 42 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310. 43 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310.

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„[D]ie Moral selbst als décadence-Symptom ist eine Neuerung, eine Einzigkeit ersten Rangs in der Geschichte der Erkenntniss“.44 Moral ist dabei Lebensbeschneidung, Lebensverneinung, die sich gleichermaßen bei Platon, im Christentum, im Idealismus und bei Schopenhauer finde. Ihr steht „ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst“45 gegenüber: „Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermüthigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die t i e f s t e , die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und aufrecht erhaltene.“46 Da wäre es wohl zu viel verlangt, würde man Belege für diese wissenschaftliche Bestätigung in Augenschein nehmen wollen. Immerhin überrascht, wie selbstverständlich Nietzsche hier einen recht traditionell anmutenden Gebrauch des Wahrheitsbegriffs macht – Wahrheit als adaequatio rei et intellectus, nämlich der bejahenswerten Wirklichkeit und des Begriffs, den wir davon haben –, während Nietzsche diesen Wahrheitsbegriff zeitgleich als metaphysische Illusion brandmarkt.47 Um die Leser bei derlei kritischen Fragen nicht verweilen zu lassen, greift er zu einer anderen Form der Beglaubigung, nämlich der personalen: „Dies zu begreifen, dazu gehört M u t h und, als dessen Bedingung, ein Überschuss von K r a f t : denn genau so weit als der Muth sich vorwärts wagen d a r f , genau nach dem Maass von Kraft nähert man sich der Wahrheit.“48 Wenn freilich die Wissenschaft die Lebensbejahung als das unbedingt Gebotene schon bestätigt, wozu, so fragt der misstrauisch gewordene Leser, ist dann noch jener Mut vonnöten? Die Botschaft lautet jedenfalls, dass es sich bei jenem Ich, das die Geburt der Tragçdie geschrieben hat und jetzt rückschauend als Umwerter agiert, um einen derartig Kraftüberschüssigen handeln müsse – eben nicht um einen dcadent wie Sokrates, Schopenhauer und all die anderen philosophischen Begriffskraftmeier, die letztlich nur dieses Leben verneinen wollten. So wäre Nietzsche selbst die fleischgewordene Beglaubigung für die Wahrheit seiner Theorie des Tragischen. Zur eigentlichen Bestimmung dessen, was das Tragische und die „Psychologie der Tragödie“49 sei, greift Nietzsche freilich nicht auf die 44 45 46 47 48 49

Nietzsche, EH GT 2, KSA 6, S. 311. Nietzsche, EH GT 2, KSA 6, S. 311. Nietzsche, EH GT 2, KSA 6, S. 311. Vgl. z. B. Nietzsche, GD Fabel, KSA 6, S. 80 f. Nietzsche, EH GT 2, KSA 6, S. 311. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312.

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Geburt der Tragçdie, sondern auf die Gçtzen-Dmmerung zurück, aus der er zitiert: Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum Leben im O p f e r seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – d a s nannte ich dionysisch, das verstand ich als Brücke zur Psychologie des t r a g i s c h e n Dichters. N i c h t um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch eine vehemente Entladung zu reinigen – so missverstand es Aristoteles: sondern um, über Schrecken und Mitleiden hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n , jene Lust, die auch noch die L u s t a m V e r n i c h t e n in sich schliesst…50

Das Ich will sich „als den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n “ verstehen, nämlich als „den äussersten Gegensatz und Antipoden eines pessimistischen Philosophen. Vor mir giebt es diese Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos nicht: es fehlt die t r a g i s c h e W e i s h e i t “.51 Nicht einmal bei Heraklit ist sich Nietzsche sicher, einen wirklichen Vorgänger gehabt zu haben. „Die Lehre von der ,ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustra’s k ö n n t e zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein.“52 Die Ewige Wiederkunft, die (ebensowenig wie Zarathustra) in der Geburt der Tragçdie noch keinerlei Rolle spielte, wird hier offenkundig als Bestätigung der Bejahung verstanden: Falls tatsächlich alles wiederkehrt, ist die Bejahung besonders empfohlen – und sie beweist sich darin, dass man sogar will, dass alles – eben auch alles Leiden – ewig wiederkehren solle. Der nächste Abschnitt lenkt zurück zur Tragödienschrift – und erneuert die dort ausgedrückte „ungeheure Hoffnung“: Ich verspreche ein t r a g i s c h e s Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, o h n e d a r a n z u l e i d e n …53

Hier, gegen Ende der Retraktation der Geburt der Tragçdie, zögert das ohnehin nicht zu falscher Bescheidenheit geneigte Ich nicht, sich als Prophet, ja als Erlöser zu gerieren. Es sagt kein tragisches Zeitalter voraus, 50 Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312, nach Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. 51 Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. 52 Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 313. 53 Nietzsche, EH GT 4, KSA 6, S. 313.

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sondern verspricht es, hat es also offensichtlich kraft Umwerterfunktion in der Hand, ein solches Zeitalter herbeizufhren. Dass sich das Ich in dieser Rolle schon bislang nicht unbezeugt gelassen hat, stellt es durch einen Rückblick auf seinen Umgang mit Wagner klar: „Ein Psychologe dürfte noch hinzufügen, dass […] ich instinktiv Alles in den neuen Geist übersetzen und transfiguriren musste, den ich in mir trug.“54 Wir haben also ein Genie der Verwandlung vor uns – der Weltverwandlung ebenso wie der Selbstverwandlung. Nietzsches Spätphilosophie des Tragischen gipfelt in Eschatologie. Auch dies wird womöglich das Misstrauen des Lesers dieser Philosophie des Tragischen gegenüber nicht mindern. Er wird sich erstens fragen, wieso der tragische Philosoph, der seiner Doktrin gemäß noch den schlechtestmöglichen Weltzustand bejahen muss, sich und seine Leser mit der Aussicht auf einen besseren Weltzustand erfreuen zu müssen glaubt. Ist denn die Welt in ihrem gegenwärtigen Zustand womöglich doch nicht so bejahenswert, wie die Doktrin es will? Ist Bejahenswert-Sein steigerbar? Zweitens hat die eschatologische Perspektivierung für den misstrauischen Leser einen falschen, pseudochristlichen Zungenschlag. Was ist die Aussicht auf ein künftiges Tragisch- und damit Besser-Sein der Welt anderes als eine Adaption der christlichen Vertröstungsversprechen? Kann das Ich sein Publikum für seine tragische Philosophie nur dann begeistern, wenn es ein Besser-Sein der Welt in Aussicht stellt? Drittens will dem misstrauischen Leser schließlich nicht einleuchten, weshalb eine tragische Philosophie überhaupt eine eschatologische oder wahlweise geschichtsphilosophische Perspektive braucht. Warum ist ihr der Status quo nicht genug, was ihr anzuraten wäre, falls ohnehin alles wiederkehren sollte?

III. Der Durchgang durch einige einschlägige Äußerungen in Nietzsches Spätwerk erlaubt es, mindestens die Eingangsfrage, ob Nietzsche ein Philosoph des Tragischen gewesen sei, zu bejahen. Ob wir auch seine Philosophie der Bejahung bejahen sollen, ist freilich eine ganz andere Frage. Die Äußerungen zum Tragischen im Spätwerk zeigen einen entschiedenen Willen zur Entdifferenzierung. Hatte Nietzsche früher noch mehrere Formen des Pessimismus unterschieden, gibt es jetzt nur 54 Nietzsche, EH GT 4, KSA 6, S. 313 f.

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noch einen. Dieser wiederum ist identisch mit Nihilismus sowie mit dcadence, alles nichts weiter als Lebens- und Weltverneinung. Dem steht die Lebens- und Weltbejahung gegenüber, die mit Kunst und Hoffnung auf eine grundlegend veränderte Welt gepaart ist, mit einem Triumph ästhetischer Werte über moralische, mit einer Umwertung aller Werte. Das von Nietzsche praktizierte Geschäft der Entdifferenzierung geht gut, solange die Leser durch die Macht des Wortes erfolgreich von kritischen Rückfragen abgehalten werden. Sobald die aber beispielsweise wissen wollen, ob die Kunst die Bürde, nicht nur lebensbejahend zu sein, sondern insgesamt das Dasein zu rechtfertigen, auf Dauer oder auch nur für Momente tragen kann, werden diese Leser von Nietzsches späten Texten allein gelassen. Auch der Verdacht, der manchen Leser beschleicht, wir hätten es bei Nietzsches tragischer Bejahungsphilosophie bloß mit einer etwas zwanghaften Kontradiktion zur Schopenhauerschen Verneinungsphilosophie zu tun, räumen die einschlägigen Passagen nicht wirklich aus. Die Welt wird, so scheint es diesen Lesern, offensichtlich nicht anders gesehen als bei den Nihilisten und Pessimisten, bloß behaupte der selbsternannte tragische Philosoph, es sei gut so, dass die Welt so sei, wie sie sei. Die Frage aber, ob diese Sicht triftig ist, gerät darüber leicht in Vergessenheit. Die Frage ist ganz einfach, ob die Frage von Lebens- und Weltbejahung oder -verneinung eine sinnvolle Frage ist – ob es überhaupt ein Leben und eine Welt gibt, auf die Verneinung oder Bejahung anzuwenden Sinn macht. Nietzsche weist den Nihilisten und Christen in der Gçtzen-Dmmerung nach, dass sie sich in einen performativen Selbstwiderspruch begäben, wenn sie die Welt verneinen zu können glaubten, da die Voraussetzung ihres Verneinens ja das Vorhandensein der Welt sei:55

55 „Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch Etwas Andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, L ü g n e r i s c h e einer solchen Auflehnung. Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit aufgeworfen. Man müsste eine Stellung a u s s e r h a l b des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom W e r t h des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist“ (Nietzsche, GD Moral 5, KSA 6, S. 86).

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Andreas Urs Sommer

„der G e s a m m t w e r t h d e r W e l t i s t u n a b w e r t h b a r , folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge“.56 Aber gilt das Umgekehrte nicht auch? Ist es sinnvoll, über Welt- oder Lebensbejahung zu reden, wenn beides bei jedem Lebewesen ohnehin immer schon vorausgesetzt ist, insofern es lebt? Falls die Frage von Weltbejahung und Weltverneinung keine sinnvolle Frage sein sollte, wäre entsprechend auch Nietzsches Antwort keine sinnvolle Antwort. Sein Wille zur Entdifferenzierung, seine Bejahungs- und Umwertungskaskaden liefern am Ende weder eine wirklich andere Welt noch ein wirklich anderes Leben – bestenfalls eine andere Interpretation derselben. Nietzsches Spätphilosophie des Tragischen vermehrt den Katalog der Erläuterungen, was das Tragische sei, um eine weitere. In ihrem Willen zur Entdifferenzierung im Dienste einer übrigens politisch verstandenen Umwertung aller Werte hat sie Anteil an der völligen Entleerung des Begriffs, die während der letzten 100 Jahre (jenseits der im engen Sinne fachwissenschaftlichen Diskussion der Literatur- und Altertumswissenschaften) stattgefunden hat. Mit der Blähung, die dem Tragischen beim späten Nietzsche widerfahren ist, hat sich das Tragische – nicht nur wegen allgemein schwindender Kenntnis der antiken Quellen – womöglich als zentrale philosophische Größe erledigt. Zu sagen, die Welt oder das Leben sei tragisch, provoziert nur noch Schulterzucken. Wir brauchen Differenzierung, nicht Entdifferenzierung dessen, was der Fall ist. Und mit dem Begriff des Tragischen ist die Differenzierungsleistung nach Nietzsche nur noch unter allergrößter Anstrengung bei sehr zweifelhaftem Ertrag zu erbringen. Bleibt noch, daran zu erinnern, dass Nietzsche in der Gçtzen-Dmmerung unter Rückgriff auf das dem Dionysos heilige Tier57 nicht vor der Selbstaufhebung seines so pathetischen Begriffs des Tragischen zurückgeschreckt hat: „Kann ein E s e l tragisch sein? – Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?… Der Fall des Philosophen.“58

56 Nietzsche, NL November 1887-März 1888, 11[72], KSA 13, S. 36. 57 Besnard in: Des Afrikaner’s Arnobius sieben Bücher wider die Heiden, S. 435: „Ihm [Priapos] sind wie dem Dionysos die Esel heilig, ohne Zweifel wegen der Brunst, durch die sie berüchtigt sind“ (in Nietzsches Handexemplar Lesespur; vgl. ebd., S. 436: „Bei keinem Thier fällt die Brunst so gewaltig und frech auf wie beim Esel“). 58 Nietzsche, GD Sprüche 11, KSA 6, S. 60.

Die tragische Überwindung des Nihilismus. Nietzsches ,Philosophie des Tragischen‘ von der Geburt der Tragçdie bis zum Spätwerk Philipp Schwab Im Nachlass des Jahres 1870/1871 – etwa ein Jahr vor Erscheinen der Geburt der Tragçdie – notiert Nietzsche zuoberst in einer Liste von geplanten „ A b h a n d l u n g e n “ ohne weitere Kommentierung den Titel „Zur Philosophie des Tragischen“.1 Dem antwortet knapp 20 Jahre später am anderen Ende seines Werks jene Partie aus dem Ecce Homo, in der Nietzsche „das Recht“ in Anspruch nimmt, sich „als den ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n “ verstehen zu dürfen.2 Es ist im Folgenden die leitende These, dass Nietzsches Denken in der Tat im Ganzen als ,Philosophie des Tragischen‘ gelesen werden kann.3 Dabei gilt es allerdings zu zeigen, dass der Gedanke des Tragischen nicht eine einzige, sich durchhaltende Grundstruktur ausbildet, sondern einer mehrfachen Wandlung unterliegt, an der zugleich die entscheidenden Stationen von Nietzsches Denkweg sich abzeichnen. Insofern ist zutreffender von pluralen, einander ablösenden Entwürfen zur ,Philosophie des Tragischen‘ zu sprechen, die aber gleichwohl einen inneren Zusammenhang aufweisen. Die folgende Untersuchung hat zum Ziel, eine Perspektive zu skizzieren, in der Nietzsches mehrfache Anläufe zu einer ,Philosophie des Tragischen‘ im Lichte seines Denkwegs auf einer Linie diskutiert werden können. Fluchtpunkt der Untersuchung ist der Gedanke einer ,tragischen Überwindung des Nihilismus‘ im späten Werk, der – so die These – die früheren Entwürfe auf konzentrierte und methodisch reflektierte Weise in sich vereinigt. Diesen Zusammenhang gilt es vorab in aller Kürze anzuzeigen.

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Nietzsche, NL September 1870-Januar 1871, 5[122], KSA 7, S. 127. Nietzsche, EH GT 3, KSA 6, S. 312. Vgl. hierzu Mihailo Djuric´ : Nietzsches tragischer Gedanke. In: Günter Abel/ Jörg Salaquarda (Hg.): Krisis der Metaphysik. Berlin/New York 1989, S. 173 – 204, hier S. 174 f.

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Der Ausgangspunkt von Nietzsches Verständnis des Tragischen ist in philosophischer Hinsicht zweifelsohne das Denken Schopenhauers. Hegels oder gar Schellings Entwürfe einer ,Philosophie des Tragischen‘ scheint Nietzsche nicht zur Kenntnis genommen zu haben; sie hinterlassen jedenfalls in keiner seiner Bestimmungen des Tragischen sichtbare Spuren.4 Es ist insbesondere Schopenhauers pessimistische Lehre vom Unwert und der Nichtigkeit des Daseins, an die Nietzsche im Frühwerk zunächst anschließt. Schon in der Geburt der Tragçdie allerdings widerspricht Nietzsche Schopenhauers Auffassung der Tragödie grundlegend: Während bei diesem die Tragödie dadurch, dass sie den Unwert des Daseins sichtbar macht, zu Resignation und Willensverneinung hinleitet, steht bei Nietzsche die Tragödie gerade für eine Affirmation des Daseins ein – eine Affirmation allerdings, die die Nichtigkeit des Daseins nicht einfach ,aufhebt‘, leugnet oder ungeschehen macht, sondern sie festhält und zugleich verwandelt oder ,überwindet‘. Damit ist ein strukturelles Motiv des Tragischen bei Nietzsche bezeichnet, das – wenn auch auf gänzlich gewandeltem Boden – im Spätwerk wiederkehrt: ,Tragisch‘ meint bei Nietzsche wesentlich eine Bejahung, die ihren notwendigen Gegenhalt in einem ,nichtigen‘, in einem ,negativen‘ Element hat. In der mittleren Phase seines Denkens allerdings werden die Prmissen, auf denen die frühe Konzeption des Tragischen ruht, einer grundstürzenden Kritik unterzogen. Insbesondere die von Schopenhauer aufgenommene und in der Geburt der Tragçdie zweifelsohne leitende Unterscheidung einer ,wahren‘ und einer ,scheinbaren Welt‘ – in Schopenhauers Terminologie: Wille und Vorstellung – erweist sich für den Nietzsche der mittleren Phase als unhaltbar. Indem Nietzsche hier die ,metaphysischen‘ Voraussetzungen tradierter Konzeptionen von Erkenntnis, Moral, Religion und Kunst einer kritischen Infragestellung aussetzt, werden zugleich die hochgespannten Ambitionen, die er im Frühwerk mit dem Gedanken des Tragischen verfolgt, zurückgewiesen. Die mittlere Phase prägt dennoch – wenn auch nicht in vergleichbar zentraler Stellung – eine eigene und spezifische Auffassung des Tragischen aus: den Gedanken einer tragischen Erkenntnis. Grundlegend für die kritische Philosophie der Aphorismenbücher von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Frçhlichen Wissenschaft ist die Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Perspektivität und Interpretabilität; Nietzsches Kritik 4

Auch die retrospektive Bemerkung Nietzsches, die Geburt der Tragçdie rieche „anstössig Hegelisch“, bezieht sich nicht spezifisch auf Hegels Tragödienkonzeption (Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310).

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an tradierten Denkformen besteht wesentlich darin, vermeintlich letztgültige und absolute ,Werteordnungen‘ versuchsweise ,umzukehren‘ und so ihre Gewordenheit und Bedingtheit aufzuzeigen. Der auf Erkenntnis ausgerichtete Philosoph gelangt im Zuge dieser Kritik zu der Einsicht, dass eine letzte Erkenntnis des Wesens der Dinge unmöglich ist; als ,Erkennender‘ sieht er sich somit in einen Widerspruch hineingehalten, den Nietzsche selbst tragisch nennt. Es ist freilich für Nietzsches mittleres Denken charakteristisch, dass diese ,Tragik der Erkenntnis‘ nicht in ihren Konsequenzen ausbuchstabiert, sondern zu Gunsten der heiteren und gelassenen Haltung des ,freien Geistes‘ zurückgestellt wird; gleichwohl bildet sie die methodische Grundlage für die ,Wiederkehr‘ des Tragischen im Spätwerk. Nietzsches erneute affirmative Aufnahme des tragischen Gedankens in seiner späten Philosophie hat – so die Zielperspektive der Untersuchung – ihr Inzitament in der Analyse des Nihilismus, und dies in zweifacher Hinsicht. Einerseits diagnostiziert Nietzsche in der Heraufkunft des ,europäischen Nihilismus‘ die Gefahr eines drohenden ,Umsonst‘, einer vollendeten Sinnleere. Gegen diese Sinnleere setzt Nietzsche die tragische Bejahung als ,Überwindung des Nihilismus‘. Anderseits aber zeigt sich die späte ,Philosophie des Tragischen‘ tiefer mit dem diagnostizierten Nihilismus verwoben als die einfache Opposition des ,Gegen‘ zunächst glauben macht. Für Nietzsche besteht der Nihilismus als heraufziehende Sinnleere in einer ,Entwertung‘ der bisherigen Werte. Die Ursache und Voraussetzung dieser ,Entwertung‘ aber deutet zurück auf sein eigenes Denken der mittleren Phase: ,Entwertung‘ von Werten bedeutet wesentlich, dass bloß vermeintlich absolute und letztgültige Werte in ihrer Bedingtheit durchschaut werden und so ihre Überzeugungskraft verlieren; dem liegt die Einsicht zu Grunde, dass jede Wertsetzung notwendig als perspektivische geschieht, sofern eine un-bedingte Wertbegründung aus einer ,wahren Welt‘ sich als unmöglich erweist. Diese erkenntniskritische Grundeinsicht wird von Nietzsche im späten Nachlass selbst als ,nihilistisch‘, ja als der ,extremste Nihilismus‘ bezeichnet – und eben darin liegt der Ausgangspunkt der späten ,Philosophie des Tragischen‘: Die Bejahung, die Nietzsche gegen den Nihilismus des ,Umsonst‘ setzt, ist die tragische Affirmation des extremsten Nihilismus selbst – eine Bejahung der Einsicht, dass eine ,wahre Welt‘ und mithin eine Letztbegründung von Werten nicht gegeben ist. Das spezifisch Tragische in Nietzsches spätem Denken besteht dann darin, dass es die Wertsetzung im Angesicht der Unmçglichkeit ihrer letztgltigen Begrndung und mithin als uneinholbar ,vorläufige‘ fordert. Die tragische Affirmation vollzieht sich

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so als Bejahung eines notwendigen Zusammenspiels von Wertschçpfung und Wertvernichtung. Es wird zu zeigen sein, dass die Grundworte von Nietzsches später ,Philosophie des Tragischen‘ – das ,trotzdem‘, das ,da capo‘, das ,amor fati‘ und die ,Ewige Wiederkunft‘ – gerade in diesem Zusammenhang ihre spezifische Bedeutung gewinnen. Nietzsches ,tragische Überwindung des Nihilismus‘ ist somit als eine Selbstberwindung des Nihilismus zu lesen – und in der Tat findet sich diese Formel im späten Nachlass. Vor diesem Hintergrund kann auch einer Kritik begegnet werden, welche die spätestens seit Löwiths Aufsatz von 1933 in die Auseinandersetzung mit Nietzsche eingegangene Rede von der ,berwindung des Nihilismus‘5 nachgerade mit Notwendigkeit auf sich zieht. Heidegger hat gegen Nietzsches Formel einer „Überwindung der Metaphysik“6 – der die ,Überwindung des Nihilismus‘ zweifelsohne nachgebildet ist – eingewandt, sie bleibe als einfache ,Umdrehung des Platonismus‘ „notwendig wie alles Anti- im Wesen dessen verhaftet, wogegen sie angeht.“7 Entsprechend heißt es dann auch bei Heidegger, Nietzsches ,Gegenbewegung‘ zum Nihilismus sei nicht dessen „Überwindung“, sondern „die letzte Verstrickung in den Nihilismus“.8 Indem aber die ,tragische Überwindung des Nihilismus‘ als dessen Selbstüberwindung im Sinne des ,extremsten Nihilismus‘ erscheint, zeigt sich ge5

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Vgl. Karl Löwith: Kierkegaard und Nietzsche oder philosophische und theologische Überwindung des Nihilismus. Frankfurt a.M. 1933 (auch in: ders.: Sämtliche Schriften. Stuttgart 1981 – 1988, Bd. 6, S. 53 – 74); vgl. auch HeinzHorst Schrey: Die Überwindung des Nihilismus bei Kierkegaard und Nietzsche. In: ders. (Hg.): Sören Kierkegaard. Darmstadt 1971, S. 90 – 109 sowie aus der neueren Forschung James Crooks: Getting Over Nihilism. Nietzsche, Heidegger and the Appropriation of Tragedy. In: International Journal of the Classical Tradition 9 (2002), S. 36 – 50. Nietzsche, NL August-September 1885, 40[65], KSA 11, S. 666; Nietzsche bezieht sich hier rückblickend auf MA I, 20, KSA 2, S. 41 f. Martin Heidegger: Nietzsches Wort „Gott ist tot“ (1943). In: ders.: Gesamtausgabe. Abt. 1 – 4. Frankfurt a.M. 1975 ff., Abt. 1, Bd. 5, S. 209 – 267, hier S. 217; vgl. auch ders.: Überwindung der Metaphysik (1936 – 1946). In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 7, S. 67 – 98, hier S. 77 – 82. Vgl. Martin Heidegger: Nietzsche. Zweiter Band. In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 6.2, S. 301 – 307, Zitat S. 306; vgl. auch ders.: Zur Seinsfrage (1955). In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 9, S. 385 – 426, hier bes. S. 405 u. S. 410 – 425; vgl. hierzu Ingeborg Schüssler: Zur Frage der Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger. In: Perspektiven der Philosophie 23 (1997), S. 19 – 44; Wolfgang Müller-Lauter: Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung. In: ders.: Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III. Berlin/New York, 2000, S. 267 – 299.

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rade in der ,Philosophie des Tragischen‘, dass Nietzsches Denken tradierte Wertordnungen nicht einfach umkehrt, vielmehr das „Ordnungsschema“ verwandelt – und mithin nicht als Hinter-sich-Lassen oder einfache Überwindung und „Umdrehung“, sondern als „Herausdrehung“9 aus dem Nihilismus respektive der Metaphysik zu verstehen ist. Dieser im Vorgriff abbreviatorisch angezeigte Zusammenhang soll im Folgenden in fünf Schritten entfaltet werden. Im ersten Teil gilt es, den Ausgangspunkt von Nietzsches ,Philosophie des Tragischen‘ in der Geburt der Tragçdie einzuholen. Dabei soll insbesondere in den Blick kommen, dass sich schon im frühen Werk mehrere, konkurrierende Fassungen des Tragischen finden; zugleich gilt es, einige Interpretationsprobleme des frühen Entwurfs anzuzeigen. Im zweiten Teil ist anhand von Nietzsches Nihilismus-Analyse, die vornehmlich im späten Nachlass entwickelt wird, der neue Ansatz der ,Philosophie des Tragischen‘ im mittleren und späten Werk nachzuvollziehen. Der dritte Teil geht – vom Begriff des ,extremsten Nihilismus‘ instruiert – zunächst zum mittleren Werk zurück und skizziert die Konzeption einer tragischen Erkenntnis; es gilt dabei zu zeigen, wie Nietzsche sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich vom Frühwerk distanziert und zugleich methodisch die Bewegung des späten Denkens vorbereitet, der sich der vierte Teil widmet. Während sich in der Nihilismusanalyse trotz der Fragmentarität des Nachlasses und der erheblichen Divergenz der verschiedenen Entwürfe recht problemlos eine zusammenhängende Schicht von Nietzsches Text rekonstruieren lässt, die auf ein sich durchhaltendes Sachproblem bezogen bleibt, ist eine solche Textbasis für den Begriff des Tragischen im Spätwerk nicht in dieser Form aufzuweisen. Nietzsche nennt zwar selbst sein eigenes spätes Denken mehrfach ,tragisch‘, verwendet das Wort aber darüber hinaus in einer Fülle von oftmals auch unspezifischen Kontexten; zudem sind Grundbegriffe der späten Konzeption des Tragischen dieser nicht stets ausdrücklich zugeordnet.10 Die Untersuchung wird daher die Gedankenbewegung des Tragischen aus den zuvor erarbeiteten Ele9 Bei Heidegger heißt es: „Neue Rangordnung und Wertsetzung heißt: das Ordnungsschema verwandeln. Insofern muss die Umdrehung eine Herausdrehung aus dem Platonismus werden“ (Heidegger: Nietzsche. Erster Band. In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 6.1, S. 212 f.). Auf diese Stelle, die zu der Grundtendenz von Heideggers Auslegung in einem wenigstens spannungsreichen Verhältnis steht, hat besonders Jacques Derrida aufmerksam gemacht, vgl. ders.: Sporen. Die Stile Nietzsches. In: Werner Hamacher (Hg.): Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt a.M./Berlin 1986, S. 129 – 168. 10 Vgl. hierzu Djuric´ : Nietzsches tragischer Gedanke, S. 174 f. u. S. 177.

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menten entwickeln und dabei einzelne Äußerungen Nietzsches zum Tragischen in diese Konstellation integrieren müssen. Der abschließende fnfte Teil konturiert die späte ,Philosophie des Tragischen‘ nochmals im vergleichenden Rückgriff auf das Frühwerk.

I. Die ,Philosophie des Tragischen‘ in der Geburt der Tragçdie Die Frage nach einer ,Philosophie des Tragischen‘ bei Nietzsche sieht sich zunächst an seine erste große Schrift, die Geburt der Tragçdie von 1872 verwiesen, findet sich doch an keiner anderen Stelle des Werkes eine derart umfängliche und zusammenhängende Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Tragischen. Es gilt im Folgenden, die Konstellation des Tragischen im Frühwerk nachzuvollziehen und damit den Ausgangspunkt von Nietzsches späterer Denkentwicklung einzuholen. Dabei soll sichtbar werden, dass schon in dieser Schrift mehrere, konkurrierende Konzeptionen des Tragischen am Werk sind, die gleichwohl alle darauf abzielen, die leitende pessimistische Grundeinsicht in tragische Affirmation zu verwandeln; namentlich die apollinische ,Verklärung im Schein‘ und die dionysische Konzeption eines ,metaphysischen Trostes‘ werden als gegenläufige Möglichkeiten einer tragischen Affirmation zu profilieren sein. Vorab sind allerdings einige Interpretationsprobleme der Schrift anzuzeigen, die nicht zu Unrecht als „Nietzsches schwierigstes Werk“11 bezeichnet worden ist. Diese Anzeige dient einerseits dazu, die folgende Rekonstruktion zu schärfen; sie soll andererseits wenigstens partiell die Gründe sichtbar machen, aus denen Nietzsche sich im späteren Werk genötigt gesehen hat, die in der Geburt der Tragçdie eingeschlagene Blickbahn zu verlassen.

1. Die Interpretationsprobleme der Schrift In der Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist zunächst zu beachten, dass Nietzsches erste große Schrift schon ihrem Titel nach weniger eine Philosophie des Tragischen als vielmehr eine Philosophie der Tragçdie, genauer: eine philosophisch-philologische Untersuchung über deren Wesen, Ursprung und Entstehung zu geben beansprucht. Der 11 Giorgio Colli: Nachwort. In: Nietzsche, KSA 1, S. 901 – 904, hier S. 902.

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Erweis, dass die griechische Tragödie aus dem Geiste der Musik, mithin aus dem ,dionysischen‘ Element, unter Einwirkung des ,apollinischen‘ entstanden sei, ist das zentrale erste Ziel des Buchs, und auf dieses ist die gesamte Argumentation der Abschnitte 1 – 10 ausgerichtet. Eine ,Philosophie des Tragischen‘ ist aus der Untersuchung über die Tragödie allenfalls im Umweg zu rekonstruieren. Das grundlegende Problem aber, vor das sich eine solche Rekonstruktion gestellt sieht, lässt sich anhand des „Versuchs einer Selbstkritik“ in den Blick bringen, den Nietzsche der Neuauflage von 1886 vorangestellt hat. Im Mittelpunkt der retrospektiven Kritik steht die begründende Schicht ästhetisch-metaphysischer Spekulation, auf der die gesamte theoretische Beweiskraft der Analyse von Tragik und Tragödie im Frühwerk ruht. Die leitende Rede vom ,Ur-Einen‘ und seiner Manifestation in zwei ursprünglichen künstlerischen Grundkräften; die Annahme einer „Erlösung“ des leidenden Ur-Einen im Schein12 und einer Kunst ,metaphysischen Trostes‘;13 das Szenario von „Welterlösungsfesten und Verklärungstagen“14 – all dies gehört einer Sphäre zu, die für Nietzsche spätestens seit Menschliches, Allzumenschliches nicht mehr tragfähig ist. Nietzsches rückblickende Bezeichnung des Werks als „ArtistenMetaphysik“15 ist – im Gegensatz zu ihrem Vorklang im Buch selber, wo er von seiner „aesthetischen Metaphysik“16 spricht – keineswegs affirmativ gemeint.17 Zwei Jahre später fasst Nietzsche in der Partie über die Geburt der Tragçdie im Ecce Homo seine Kritik am frühen Werk in die Formulierung, es sei dort „[e]ine ,Idee‘ – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt“ worden.18 12 13 14 15 16 17

Vgl. bes. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39 sowie GT 5, KSA 1, S. 44. Vgl. bes. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 2, KSA 2, S. 32. Nietzsche, GT Versuch 2, 5, 7, KSA 1, S. 13, S. 17, S. 21. Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 43. Im „Versuch einer Selbstkritik“ heißt es vielmehr, diese sei „willkürlich, müssig“ und „phantastisch“ (Nietzsche, GT Versuch 5, KSA 1, S. 17). Vgl. hierzu auch John Sallis: Crossings. Nietzsche and the Space of Tragedy. Chicago, Ill./London 1991, S. 10 – 14 sowie Daniel W. Conway: Annunciation and Rebirth: The Prefaces of 1886. In: John Lippitt (Hg.): Nietzsche’s Futures. Basingstoke/New York 1999, S. 30 – 47. 18 Nietzsche, EH GT 1, KSA 6, S. 310. Zur ,ästhetischen Metaphysik‘ des Frühwerks vgl. bes. Dieter Jähnig: Die Befreiung der Kunsterkenntnis von der Metaphysik in Nietzsches ,Geburt der Tragödie‘. In: ders.: Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung. Köln 1975, S. 122 – 160; Margot Fleischer: Dionysos als Ding an sich.

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Zweifelsohne wird von der retrospektiven Kritik her sichtbar, dass Nietzsches späteres Denken des Tragischen nicht mehr auf den Fundamenten des Frühwerks aufbauen wird. Entscheidender noch ist für den Nachvollzug der frühen Konzeption allerdings eine Bemerkung, die Nietzsche zur Argumentationsgestalt des Werks macht: Es sei nicht nur ein „fragwürdige[s]“19 und „unmögliches Buch“, sondern auch „schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwütig und bilderwirrig“, zudem „ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend“.20 In der Tat ist die Argumentation des Frühwerks ungemein beweglich, sprunghaft und durch ständige Perspektivenwechsel und Analogiebildungen gekennzeichnet.21 Dass gerade in der später problematisierten ,Begründungsschicht‘ argumentative Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten kulminieren, die im Werk selbst nicht aufgelöst werden, ist wesentlich durch die zutiefst zweideutige Bezugnahme auf Schopenhauer bedingt. Diese lässt sich formelhaft folgendermaßen anzeigen: Zwar greift Nietzsche bei der Erläuterung eines jeden zentralen Begriffs – etwa des Dionysischen und des Apollinischen, aber auch der Bedeutung der Musik für die Entstehung der Tragödie22 – beständig auf Schopenhauer zurück und lässt sich im Ganzen von der Schopenhauerisch verstandenen Unterscheidung von „Ding an sich“ und „Erscheinung“ leiten; zugleich aber widerspricht er bereits im Frühwerk der grundlegenden Tendenz in Schopenhauers Verständnis der Tragödie entschieden. Während für Schopenhauer die Bedeutung der Tragödie in dem „Aufgehen der Erkenntniß“ besteht, „dass die Welt, das Leben, kein wahres Genügen gewähren könne, mithin unserer Anhänglichkeit nicht werth sei“ und deshalb „zur Resignation“,

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Der Anfang von Nietzsches Philosophie in der ästhetischen Metaphysik der „Geburt der Tragödie“. In: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 74 – 90; Volker Gerhardt: Artisten-Metaphysik. Zu Nietzsches frühem Programm einer ästhetischen Rechtfertigung der Welt. In: ders.: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches. Stuttgart 1988, S. 46 – 71 sowie für die ältere Forschung den Überblick in Bernhard-Arnold Kruse: Apollinisch – Dionysisch: Moderne Melancholie und Unio Mystica. Frankfurt a.M. 1987, S. 321 – 621. Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 11. Nietzsche, GT Versuch 3, KSA 1, S. 14. Vgl. exemplarisch zur besonders analogiereichen Argumentation des siebten Abschnitts Barbara von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ (Kapitel 1 – 12). Stuttgart/ Weimar 1992, S. 179 – 181. Vgl. bes. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25 – 30 sowie GT 16, KSA 1, S. 107.

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also zur Willensverneinung hinleite,23 so liegt schon im Frühwerk für Nietzsche die Wirkung der Tragödie in der Lebensbejahung, ihre Aufgabe besteht – gleich der aller Kunst – darin, als „zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins“ das Leben erst „möglich und lebenswerth“24 zu machen. Daraus ergibt sich die spannungsreiche Konstellation, dass Nietzsche in der Geburt der Tragçdie gleichsam mit Schopenhauerischen Mitteln und auf Schopenhauerischem Boden gegen Schopenhauer denkt. Um aber seine antischopenhauerische Pointe betreffs der Wirkung der Tragödie einzulösen, muss Nietzsche auch die zu Grunde liegende metaphysische Konstruktion in wesentlicher Hinsicht verändern – und gerade in diesen Modifikationen zeigt sich immer wieder eine Uneindeutigkeit der Argumentation. Als zentral und zugleich erläuterungsbedürftg wird sich insbesondere erweisen, dass Nietzsche Schopenhauers Konzeption des Willens durch den in der Tat – wie es im ersten Abschnitt heißt – „geheimnissvollen“25 Gedanken des ,Ur-Einen‘ ersetzt.26

2. Die vier Elemente in der Konstellation des Tragischen Die hier angestrebte Rekonstruktion der Elemente des Tragischen in der Geburt der Tragçdie verfolgt nicht das Ziel, die genannten Ambivalenzen in der Konzeption des Frühwerks durch argumentative Eingriffe zu korrigieren oder zu glätten. Es ist im Gegenteil ihr Anliegen, in der Sonderung verschiedener Elemente die Vielschichtigkeit des Phänomens des Tragischen herauszuarbeiten und zu zeigen, dass sich – Nietzsches Anspruch 23 Schopenhauer, Werke, W II, S. 495. Diese Passage zitiert Nietzsche selbst (vgl. Nietzsche, GT Versuch 6, KSA 1, S. 19 f.). Vgl. auch die ähnlich lautenden Partie in Schopenhauer, Werke, W I, S. 298 – 301. 24 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36 u. GT 1, KSA 1, S. 27 f. 25 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 30. 26 Nietzsche selbst spricht in einem Brief an Rohde von einer den Hintergrund des Werks ausmachenden „sonderbare[n] Metaphysik der Kunst“, die er ausdrücklich als sein „Eigenthum“ von Schopenhauer abgrenzt (Nietzsche an Erwin Rohde, 04. 08. 1871, Bf. 149, KGB II/1, S. 216; Nietzsche bezieht sich hier zwar auf die Abhandlung Sokrates und die griechische Tragçdie, die ,Metaphysik der Kunst‘ ist aber bis zur Geburt der Tragçdie nicht mehr wesentlich verändert worden). Vgl. auch die sehr frühe Schopenhauer-Kritik von 1867/1868 in Nietzsche, BAW 3, S. 352 – 361 u. zum Ganzen Friedhelm Decher: Nietzsches Metaphysik in der „Geburt der Tragödie“ im Verhältnis zur Philosophie Schopenhauers. In: Nietzsche-Studien 14 (1985), S. 110 – 125.

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auf Einheitlichkeit und Geschlossenheit zum Trotz – schon in der Geburt der Tragçdie nicht eine, sondern mehrere und miteinander konkurrierende Versionen des tragischen Gedankens finden, die nur mühsam und äußerlich von dem Gerüst einer spekulativen Grundkonstellation zusammengehalten werden. Vier Elemente sind im Folgenden zu bestimmen: erstens die pessimistische Grundeinsicht, zweitens die apollinische Verklärung im Schein, drittens die dionysische Kunst als ,metaphysischer Trost‘ und viertens das apollinisch-dionysische Wechselspiel. Das erste Element – die pessimistische Grundeinsicht – bildet dabei den Ausgangspunkt der Darstellung Nietzsches und zugleich einen von zwei Polen der tragischen Konstellation. Die folgenden drei Elemente werden verstanden als alternative, teilweise sich überlagernde, teilweise aber auch sich widersprechende Antworten auf die pessimistische Grundeinsicht. Sie stellen verschiedene ästhetische Möglichkeiten dar, der leitenden Einsicht in die Nichtigkeit des Daseins zu begegnen und das Leben trotz seines wesentlichen Charakters als Leiden zum Gegenstand der Bejahung zu machen; sie bilden somit gleichsam Variablen für den zweiten, affirmativen Pol des Tragischen. Schon der Aufriss der vier Elemente des Tragischen zeigt, dass die Rekonstruktion sich von der Abfolge des Gedankengangs in der Geburt der Tragçdie, ihren Zuordnungen und ihrem Sprachgebrauch wird lösen müssen: „Tragisch“ im engeren, nämlich auf Entstehung und Wesen der Tragçdie bezogenen Sinn, heißt bei Nietzsche allein die „Paarung“ des Apollinischen und des Dionysischen im „Kunstwerk der attischen Tragödie“.27 Schon in der ,Vorgeschichte‘ der Tragödie aber lassen sich zentrale Elemente einer ,Philosophie des Tragischen‘ ausweisen. 1. Das erste Element der Philosophie des Tragischen im Frühwerk ist die pessimistische Grundeinsicht, die dem gesamten frühen Verständnis des Tragischen seine Basis gibt. Nietzsche nennt diese Einsicht in späteren Partien des Werks auch „tragische“, ja „dionysische Weisheit“,28 ihre größte Plastizität aber gewinnt sie dort, wo Wesen und Herkunft des Apollinischen geklärt werden sollen – also in der nach Nietzsches Geschichtskonstruktion ,vortragischen‘ und zugleich ,vordionysischen‘ Epoche. Angesichts der „herrlichen olympischen Göttergestalten“, die 27 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 26. 28 Nietzsche, GT 18, KSA 1, S. 118 sowie GT 9, KSA 1, S. 67 u. GT 17, KSA 1, S. 115.

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für Nietzsche wesentlich apollinischen Charakters sind, fragt er nach dem „ungeheure[n] Bedrfniss“, „aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang“.29 Dieses Bedürfnis ist in einer Einsicht hinterlegt, die Nietzsche kontrastierend zur „unerklärliche[n] Heiterkeit“30 der Griechen als den Grund ihrer Kultur aufruft. Nietzsche zitiert die „Sage“ des vom König Midas gefangenen Silen, dem „Begleiter des Dionysos“, und führt dessen Antwort auf die Frage an, was denn „für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei“: Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu s e i n , n i c h t s zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben […].31

Die Einsicht in die Vergänglichkeit des Menschengeschlechts als unhintergehbar, das Leben als dem erbarmungslosen Schicksal heillos unterworfen – kurz, der Unwert und die Nichtigkeit menschlichen Daseins sind in dieser „Philosophie des Waldgottes“32 drastisch ins Wort gesetzt. Es ist höchst auffällig, dass sich die Formulierung dieser pessimistischen Grundeinsicht – wenn auch Nietzsche hier ein Fragment des Aristoteles annähernd wörtlich übersetzt33 – zu weiten Teilen mit der Beschreibung der Tragödie deckt, die sich bei Schopenhauer findet: Gegenstand der Tragödie als „Gipfel der Dichtkunst“ sei nämlich, so Schopenhauer, „die schreckliche[n] Seite des Lebens“; ihr Zweck liege darin, „daß der namenlose Schmerz, der Jammer der Menschheit, der Triumph der Bosheit, 29 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 34 [Herv. v. Verf.]. 30 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. Wenn Nietzsche hier einen „falsch verstandenen Begriff“ der „,griechischen Heiterkeit‘“ zurückweist (Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 65), scheint er sich nicht oder nicht primär gegen das Griechenbild Winckelmanns und Goethes, sondern gegen zeitgenössische Interpretationen zu wenden; vgl. hierzu Nietzsche, NL Februar 1971, 11[1], KSA 7, S. 351 f., den Brief Erwin Rohdes an Nietzsche, 22. 04. 1871, Bf. 179, KGB II/2, S. 361 und zum Ganzen von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, S. 226 – 228. 31 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. 32 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. 33 Die Quellen dieses pessimistischen Diktums haben Nietzsche auch in rein philologischer Hinsicht beschäftigt; vgl. Nietzsche, Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, ihr Geschlecht und ihren Wettkampf, KGW II/1, S. 271 – 337; hierzu von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie“, S. 127 – 131.

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die höhnende Herrschaft des Zufalls und der rettungslose Fall der Gerechten und Unschuldigen uns hier vorgeführt werden“.34 Zweifelsohne bildet auch für Nietzsche die pessimistische, „Weisheit des Silen“35 genannte Einsicht die Grundlage des Tragischen. Er wird im weiteren Gang der Schrift immer wieder auf sie zurückverweisen, insbesondere zur Erläuterung des dionysischen Phänomens36 – eine Verbindung, die durch die Begleiterschaft des Dionysos hier schon angedeutet ist. Von dieser Einsicht des Silen her erschließt sich allererst – so die These – die spezifische Bedeutung und ,Funktion‘ der beiden Grundkräfte des Apollinischen und des Dionysischen: Es sind dies nicht bloß zwei unterschiedene Formen der Kunst, sondern zuerst zwei verschiedene Antworten auf die pessimistische Grundeinsicht, die sich im weisen Silen ausspricht, zwei Mçglichkeiten, im Angesicht dieser Weisheit das Leben „lebenswerth“37 und einer Bejahung fähig zu machen. Ihre jeweilige Wertigkeit wird dann von ihrer Kraft abhängen, diese Überwindung und Bejahung leisten zu können, ohne über die pessimistische Grundeinsicht hinwegzugehen oder sie einfach ungeschehen zu machen. In dieser Konstellation besteht Nietzsches frühe Philosophie des Tragischen: Dem Unwert des Lebens und seinem Grundcharakter als Leiden ins Auge zu sehen und zugleich in den Gegenstand einer Bejahung zu verwandeln. Der Text Die Dionysische Weltanschauung von 1870 definiert den tragischen Künstler geradezu dadurch, „bei der hellsten Erkenntniß von der Nichtigkeit des Daseins doch fortleben zu können, ohne in [seiner] Weltanschauung einen Riss zu spüren“.38 2. Auf die pessimistische Grundeinsicht antwortet nun zunächst die nach Nietzsches geschichtsphilosophischer Konstruktion erste Überwindung, die zugleich das zweite Element der Philosophie des Tragischen im Frühwerk bezeichnet: die apollinische Verklärung im Schein. „[A]us tiefster Nötigung“ sei, so Nietzsche, im Angesicht dieser schrecklichen 34 Schopenhauer, Werke, W I, S. 298. Vgl. hierzu auch Sallis: Crossings, S. 39 f. sowie die Liste pessimistischer Dikta in Schopenhauer, Werke, W II, S. 672 – 675, in denen aber die von Nietzsche angeführte ,Weisheit‘ nicht genannt ist. 35 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39 u. S. 41 sowie GT 24, KSA 1, S. 151. 36 Vgl. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35 f. sowie GT 7, KSA 1, S. 57. 37 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. 38 Nietzsche, DW 3, KSA 1, S. 570. Vgl. hierzu Lore Hühn: Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Lichte der Kritik Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos. In: Günter Figal (Hg.): Interpretationen der Wahrheit. Tübingen 2002, S. 143 – 181, hier S. 180 f.

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Einsicht die olympische Götterwelt als „künstlerische M i t t e l w e l t “ entstanden, aus der „titanischen Götterordnung des Schreckens“ sei „durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude“ hervorgegangen.39 Die apollinische Überwindung des Schrecklichen besteht nun darin, dass das menschliche Dasein noch einmal in den Göttern erscheint, aber im „verklärenden Spiegel“, von „einer höheren Glorie umflossen“.40 Das Apollinische ist die verklärende Überwindung der schrecklichen Einsicht durch und im Schein, und somit zugleich Illusion – freilich produktive und fruchtbare, im Wortsinne lebens-notwendige Illusion. Bestimmendes Prinzip dieser Sphäre schönen Scheins ist die Individuation, das Gesetz des Maßes: Die Grundcharakteristika des Titanenzeitalters, Hybris und Übermaß, erscheinen als die „eigentlich feindseligen Dämonen der nichtapollinischen Sphäre“,41 gegen die das apollinische Gesetz Selbsterkenntnis und Begrenzung einfordert. Diese religions- und kulturgeschichtliche Hypothese zur Entstehung des apollinischen Griechentums wird im Folgenden von Nietzsche durch eine metaphysische Konstruktion gestützt, die zugleich den Status der Weisheit des Silen klärt. Steht diese nämlich zunächst als bloße mythische Volksweisheit da, gewinnt sie nun den Charakter eines Blicks in das Wesen der Welt. Hier ist der Ort, an dem Nietzsche erstmals umfänglicher auf den für die Argumentation der Geburt der Tragçdie zentralen Begriff des Ur-Einen zu sprechen kommt – und zugleich mit seinen Anleihen bei Schopenhauers Unterscheidung von Wille und Vorstellung in Konflikt gerät. Von der „tiefe[n] innere[n] Lust des Traumanschauens“ und den „allgewaltigen Kunsttriebe[n]“ der Natur in ihrer „inbrünstige[n] Sehnsucht zum Schein“ nämlich sieht sich Nietzsche zu der „metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und UrEine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht“.42 Nach Nietzsches Konstruktion steht also die Weisheit des Silen für die Erkenntnis des Weltgrundes – des Ur-Einen als des „ewigen Urschmerzes“, des „ewigen Widerspruchs“ als des „Vaters der Dinge“.43 Diese Attribute des Ur-Einen entsprechen noch ganz denen des Scho39 40 41 42 43

Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 40; vgl. auch GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 38. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39.

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penhauerischen Willens; gänzlich unschopenhaurisch ist hingegen Nietzsches Gedanke einer Erlösungsbedürftigkeit des Ur-Einen durch Schein – und noch mehr die Auffassung, unsere Welt selbst, d. h. die Welt der Vorstellung, sei schon die erste Erlösung des Ur-Einen. Hierzu heißt es im „Versuch einer Selbstkritik“, die „Artisten-Metaphysik“ der Schrift fasse die „Welt“ als „in jedem Augenblicke […] e r r e i c h t e Erlösung Gottes“.44 Über diese erste Verklärung deutet aber die apollinische Traumsphäre noch hinaus: Der Traum gilt ihr gegenüber als potenzierter Schein, nämlich als visionärer „ S c h e i n d e s S c h e i n s “ und mithin als „noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein“.45 Schwankend wird nun Nietzsches Argumentation dort, wo er die Konstellation dieser drei Sphären – Ur-Eines, Erlösung im Schein, Traum als Schein des Scheins – im Rückgriff auf Raffaels Verklrung Christi erläutert: Die untere Hälfte des Bildes als Welt der Vorstellung ist nun doch „Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes“: „[D]er ,Schein‘ ist hier Widerschein des ewigen Widerspruchs“.46 Aus „diesem Schein“ nun steigt eine „visionsgleiche neue Scheinwelt hervor“47 – die Nietzsche wiederum mit deutlichem Anklang an Schopenhauers Charakteristik der Kunstanschauung beschreibt: als ein „schmerzlose[s], aus weiten Augen strahlende[s] Anschauen“.48 Bei Schopenhauer bedeutet zwar ebenfalls die mit der Kunst verbundene Erkenntnis eine, wenn auch nur zeitweilige, Herauslösung aus dem „Sklavendienste des Willens“, sie ist als „schmerzenslose[r] Zustand“ und „Aufgehen in der Anschauung“ beschrieben – keinesfalls aber ist sie Schein, sondern als Erkenntnis der Idee im Gegenteil höchste Freiheit von Schein.49 Bei aller Uneindeutigkeit im Einzelnen ist aber klar genug, dass das Apollinische von Nietzsche als die Kraft produktiven und gelingenden Scheins gedeutet wird, in dem und durch den eine Verklärung und Er44 Nietzsche, GT Versuch 5, KSA 1, S. 17. Entsprechend heißt es schon in der Schrift selbst, in Apollo als „Vergöttlichung des principii individuationis“ trete uns das „ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein“ entgegen (Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39) [Herv. v. Verf.]. 45 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39. 46 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39. 47 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39 [Herv. v. Verf.]. 48 Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 39. 49 Schopenhauer, Werke, W I, S. 231 f. Zudem ist diese Erkenntnisform bei Schopenhauer gerade „Vergessen aller Individualität“ und nicht, wie in Nietzsches Umdeutung, die Vergöttlichung des Individuationsprinzips.

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lösung des in der „Weisheit des Silen“ geschauten widersprüchlichen und leidensvollen Grundcharakters der Welt möglich ist. Bejahung des Scheins als Überwindung des leidenden Widerspruchs – so lautet die Formel für das apollinisch-Tragische. 3. Als derart in sich geschlossen erscheint zunächst die Konstruktion einer Verklärung der pessimistischen Grundeinsicht im apollinischen Schein, dass sich geradezu die Frage aufdrängt, wozu es des dritten Elements des Tragischen, des Dionysischen, noch bedarf – zumal Nietzsche auch im späteren Werk noch auf den Oberflächeneffekt des apollinischen Scheins Bezug nimmt, etwa wenn es in der nachträglichen Vorrede zur Frçhlichen Wissenschaft heißt: „Diese Griechen waren oberflächlich – a u s T i e f e !“50 Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt in der ambivalenten Formulierung, mit der Nietzsche den Transfigurationsprozess der titanenhaft-barbarischen ,Götterordnung des Schreckens‘ in die olympische Göttersphäre beschreibt: Durch die „künstlerische Mittelwelt der Olympier“51 werde die „Philosophie des Waldgottes […] fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls verhllt und dem Anblick entzogen.“52 Die apollinische Verklärung durch Schein ist demzufolge – wenigstens der Tendenz nach – eine ,Verdrngung‘ ihres leidvollen Untergrunds. So ist es dann nach Nietzsche auch erst das Einbrechen der dionysischen Feste, welches „dem apollinischen Griechen wieder […] aufdeckt“, dass „sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung […] auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens“ ruhe.53 Gegenüber dieser Verhüllung im Schein soll nach Nietzsche die Charakteristik des Dionysischen darin bestehen, noch in der Überwindung die Weisheit des Silen festzuhalten – und mithin ist erst das Dionysische die eigentlich tragische Kraft. Gerade an der Darstellung des Dionysischen aber zeigt sich wiederum eine spezifische Uneindeutigkeit der Argumentation in Nietzsches Frühschrift. Das Dionysische wird im Gegensatz zur apollinischen Vergöttlichung des Scheins und der Individuation zunächst als lustvolles Aufbrechen des Individuationsprinzips, als geradezu ,versöhnendes‘ Aufgehen im Ur-Einen beschrieben: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch 50 51 52 53

Nietzsche, FW Vorrede 4, KSA 3, S. 352. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36 [i. Orig. teilw. Herv.]. Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 36 [Herv. v. Verf.]. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 40 [Herv. v. Verf.].

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wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“54 Aus diesem „Evangelium der Weltenharmonie“, in dem der „Schleier der Maja zerrissen“ ist und „nur noch in Fetzen vor dem geheimnisvollen Ur-Einen herumflatter[t]“,55 geht zum einen die enge Verbindung des Dionysischen mit der schrecklichen Weisheit des Silen nicht hervor – zum anderen aber gibt Nietzsche hier eine Bestimmung des Ur-Einen, die der apollinischen Fassung diametral entgegensteht: Keineswegs mehr ist das Ur-Eine der Erlösung durch den Schein bedürftiges Leiden, es ist vielmehr selbst ewige Daseinslust. Diese Spannung wird noch deutlicher, wo Nietzsche die Affekte der dionysischen Schwärmer als spezifische „Mischung und Doppelheit“56 von Schmerz und Lust beschreibt. In der Klage, die sich in den lustvollen Rausch mische, breche nämlich – wie es im Anklang an Schiller heißt –„gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe.“57 Der Schmerz liegt hier – in direktem Widerspruch zur apollinischen Bestimmung – gerade in der Individuation, der Vereinzelung, und die Hoffnung auf ,Versöhnung‘ ist allein auf deren Zerstörung und den Rückgang zur Einheit des Ur-Einen gerichtet: In der dionysischen Musik soll „die Vernichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur“58 zum Ausdruck kommen. Zwar erscheint an mehreren Stellen das Ur-Eine in sich selbst als Einheit von Schmerz und Lust, etwa wenn es heißt, im Dionysischen enthülle sich das „ U e b e r m a a s s […] als Wahrheit“, und „der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne“ spreche „von sich aus dem Herzen der Natur heraus“,59 nirgendwo aber wird deutlich, worin genau die dionysische Weisheit und Einsicht in den Grundcharakter der Welt besteht, die doch den zentralen Unterschied zum verhüllenden Schein des Apollinischen ausmachen soll.60 Selbst als ambivalentes, Lust und Schmerz in sich schließendes Phänomen – und noch mehr als bloß lustvolles Eingehen in das Ur-Eine – müsste doch dem Dionysischen eine 54 55 56 57 58 59 60

Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 29. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 30. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 33. Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 37. Vgl. vor allem die Beschreibung Nietzsche, GT 4, KSA 1, S. 37 f.

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spezifische Erkenntnisform zukommen, die mit der ,rein‘ pessimistischen Weisheit des Silen nicht einfach identisch sein kann.61 Plastisch und greifbar wird hingegen die tragische ,Überwindungsfunktion‘ des Dionysischen im Kernstück des ersten Teils der Geburt der Tragçdie, dem Übergang vom siebten zum achten Abschnitt.62 Hier beschreibt Nietzsche den Entstehungsprozess der griechischen Tragödie, und bekanntlich kommt ihm dabei alles auf die Vorrangstellung des dionysischen Elements und seiner Inkorporisation im Satyrchor an.63 Nochmals greift Nietzsche auf Schillers Bestimmung des Sentimentalischen zurück, wenn er den Satyrchor aus der Perspektive des griechischen „Culturmenschen“ in den Blick nimmt: Ihm gegenüber sind die Satyrn „fingierte N a t u r w e s e n “,64 das „Urbild des Menschen, seiner höchsten und stärksten Regungen“65 und zugleich Vorschein eines neuen, kommenden Zustandes, der durch die Aufhebung der Individuation und die Wiedergeburt des Gottes Dionysos bezeichnet ist.66 Im Satyrchor zeigt sich nun die dionysische Fassung des affirmativ-Tragischen: Der metaphysische Trost, – mit welchem […] uns jede wahre Tragödie entlässt – dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben.67

61 Noch ein Entwurf zur Schrift aus dem Jahr 1871 notiert an der eben zitierten Stelle (d.i. dem Ende von Abschnitt 4) als Titel eines Absatzes die Frage: „Wiedergeburt der Erkenntniß durch das Dionysische?“ – ohne diesen Aspekt allerdings näher auszuführen (Nietzsche, NL 1871, 9[38], KSA 7, S. 286). 62 Vgl. für eine Kommentierung dieses Passus Michael S. Silk/Joseph P. Stern: Nietzsche on Tragedy. Cambridge u. a. 1981, S. 69 – 71. 63 Vgl. hierzu in Bezug auf das Verhältnis von Rausch und kathartischer ,Entladung‘ Iris Därmann: Rausch als „ästhetischer Zustand“: Nietzsches Deutung der aristotelischen Katharsis und ihre Platonisch-Kantische Umdeutung durch Heidegger“. In: Nietzsche-Studien 34 (2005), S. 124 – 162, hier S. 133 – 139. 64 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 55. 65 Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 58. 66 Vgl. hierzu Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 73. 67 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Gerade in der Kritik dieses ,metaphysischen Trostes‘ erhält Nietzsches retrospektives Vorwort seine größte Schärfe; vgl. GT Versuch 7, KSA 1, S. 21 f.

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Abermals liegen Unzerstörbarkeit, Macht und Lust allein auf der Seite des Lebensgrundes – während Wechsel und Vergänglichkeit bloß der Erscheinung zukommen. Der Zusammenhang von tragisch-dionysischer Einsicht und ihrer Überwindung durch den ,metaphysischen Trost‘ aber bleibt wiederum unklar. Nietzsche führt ihn allein in einem Zirkel vor: Der „Ekel“ am Dasein, der Einblick in das „Entsetzliche und Absurde des Seins“ setze nämlich erst dann ein, wenn die „alltägliche Wirklichkeit wieder“ – also nach dem dionysischen Rauschzustand – „ins Bewusstsein“ trete; hier würde nun der Mensch, der „einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan“ hat, gleich Hamlet von der Unfähigkeit zu handeln übermannt, „denn [seine] Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern“.68 Gegen diesen „Ekel des Absurden“ wirke der „Satyrchor“ als „die rettende That der griechischen Kunst“ – ihm gelinge es vermittels des ,metaphysischen Trostes‘, die „Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt“.69 Der Kunst als „heilkundige[r] Zauberin“ bedürfte aber dann nur derjenige, der durch die Kunst den Blick in das „furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte ebenso wie in die Grausamkeit der Natur“70 getan hat – und unverständlich bleibt zumal, wie das Kunsterlebnis, das gerade den ,metaphysischen Trost‘ vermittelt, zugleich Einsicht in das schreckliche Wesen der Dinge sein soll. Dass aber der ,metaphysischen Trost‘ als ,Überwindung‘ einer pessimistischen Grundeinsicht zu gelten hat, wird dort deutlich, wo Nietzsche – auf Schopenhauer anspielend – die Kunst gegen die Möglichkeit einer „buddhaistischen Verneinung des Willens“71 stellt: Vor dieser Resignation, die aus dem Blick in’s Innerste der Welt zu erwachsen droht, rettet den Griechen „die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“72 Die Charakteristika des Dionysischen fasst Nietzsche nochmals gedrängt in einer Formulierung aus dem zehnten Abschnitt zusammen, in der er die „Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie“ folgendermaßen benennt: „die Grunderkenntniss von der Einheit alles 68 69 70 71 72

Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56 f. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 57. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56.

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Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.“73 Die spezifisch dionysische Überwindung der leidvollen Einsicht vollzieht sich demnach zunächst ganz ohne Einwirkung des Apollinischen – der ,metaphysische Trost‘ ist als Rückgang auf die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit des Ur-Einen selbst geradezu das Gegenteil seiner scheinhaften Verklärung. 4. Die Entstehung der Tragödie ist zweifellos von dem dionysischen Moment dominiert – in der zentralen Untersuchung des Chors im Übergang vom siebten zum achten Abschnitt wird das Apollinische nicht ein einziges Mal genannt.74 So kommt auch in der Verschmelzung von Dionysischem und Apollinischem, die Nietzsche programmatisch zu Beginn der Schrift als Wesen der Tragödie ankündigt, dem Apollinischen eine rein dienende Funktion zu: Es bersetzt die dionysische Sphäre als die der unbildlichen Musik in Vision, Szene, Handlung, – ohne aber dabei den dionysischen Grundcharakter des Tragischen zu verwandeln. Wir haben nach Nietzsche „die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet“.75 Ausdrücklich setzt Nietzsche die Tragödie von der Scheinwirkung des Apollinischen ab: Die „Vision des Dramas“ sei zwar „durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur“, andererseits aber stelle sie, „als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein“ dar. Das Drama ist mithin „apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen“.76 73 74 75 76

Nietzsche, GT 10, KSA 1, S. 73. Vgl. Nietzsche, GT 7 f., KSA 1, S. 52 – 61. Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 62. Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 62. Schon im zweiten Abschnitt führt Nietzsche die Formel für das Tragische ein, nach der sich dem tragischen Künstler „durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener [dionysischer] Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt i n e i n e m g l e i c h n i s s a r t i g e n T r a u m b i l d e offenbart“ (Nietzsche, GT 2, KSA 1, S. 31). Ähnlich auch die Beschreibung des Lyrikers Archilochus (vgl. GT 5, KSA 1, S. 45) und die Erklärung der Strophenform des Volkslieds (vgl. GT 6, KSA 1, S. 49). Vgl. hierzu auch Sallis: Crossings, S. 87 – 91.

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Für die Tragödie als Kunstwerk ist freilich die Übersetzung der unbildlichen Musik ins Gebilde von entscheidender Bedeutung – in Bezug auf die Grundlagen einer ,Philosophie des Tragischen‘ aber stehen sich die apollinische Erlösung des Ur-Einen im Schein und das dionysische Einswerden zunächst als unverbundene Alternativen entgegen. Schon in der näheren Bestimmung der Tragödie aber zeichnet sich ein viertes Element einer ,Philosophie des Tragischen‘ als dionysischapollinisches Wechselspiel ab, das im dritten Teil der Schrift weiter an Kontur gewinnt. Bemerkenswerterweise wird dieses Wechselspiel erst dort möglich, wo Nietzsche die Rede vom Ur-Einen fallen lässt;77 eine Vermittlung der beiden widersprechenden Aspekte desselben vermag auch das vierte Element nicht zu leisten. Das apollinisch-dionysische Wechselspiel kommt zuerst dort in den Blick, wo Nietzsche im neunten Abschnitt der Schrift Dialog und Handlung, also das apollinische Element der Tragödie, ausführlicher bespricht. Der tragische Held soll stets Gleichnis, Widerspiegelung der Leiden des Dionysos als des eigentlichen Hauptakteurs der Tragödie sein; er ist mithin „das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild, d. h. Erscheinung durch und durch“.78 Zugleich aber dient die apollinische Übersetzung ins Gleichnis einer höheren Notwendigkeit: Die „Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske“ sind „nothwendige Erzeugungen eines Blickes in’s Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blickes.“79 Der Gedanke, dass die einzige Erlösung im totalen Aufgehen im UrEinen liegt, wird nun offensichtlich zurückgestellt; vielmehr ist gerade der Scheincharakter des Apollinischen notwendig, um das Leben ,möglich und lebenswerth‘ zu machen. Das dionysische Element ist zwar die Wurzel allen Lebens, führt aber, rein für sich genommen, in die Zerstörung.80

77 Es ist im Ganzen auffällig, dass Nietzsche diesen Begriff, der in den ersten Abschnitten zweifelsohne zentral ist, im späteren Verlauf der Schrift kaum noch erwähnt; im zweiten und dritten Teil des Buchs fällt das Wort nur an einer Stelle (vgl. Nietzsche, GT 22, KSA 1, S. 141). 78 Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 65. 79 Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 65. 80 Vgl. hierzu insbes. die Ausführungen zum Mythos und zur Wirkung der Opern Wagners im 21. Abschnitt. Dort spricht Nietzsche u. a. davon, dass die „a p o l l i n i s c h e Kraft“ sich auf die „Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums“ richte (Nietzsche, GT 21, KSA 1, S. 137).

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In eben diesem Sinne spricht sich auch Nietzsche im letzten Abschnitt der Schrift aus:81 Zwar sei „das Dionysische“ die „ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft“, es werde aber in ihrer „Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig […], um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten.“82 Das Dionysische fordert das Apollinische als notwendige Ergänzung: „Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke.“83 Es dürfe dabei „von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann“.84 Der Überwindungs- und Verklärungsprozess der „Weisheit des Silen“ durch das Apollinische wiederholt sich hier noch einmal – mit dem entscheidenden Unterschied, dass der zu überwindende Untergrund nun nicht allein schrecklich und schicksalhaft, sondern zugleich schöpferische Bedingung von Leben überhaupt ist. Das Dionysische und das Apollinische in „strenger wechselseitiger Proportion“85 – darin liegt zwar nicht, wie Nietzsche ankündigt, der Erklärungsgrund der griechischen Tragödie, wohl aber die Schlusspointe der Schrift über die Tragödie. In der skizzierten Rekonstruktion von Nietzsches früher ,Philosophie des Tragischen‘ sollten vier Aspekte deutlich geworden sein: Erstens galt es aufzuzeigen, dass schon Nietzsches Geburt der Tragçdie nicht bloß eine ,Philosophie des Tragischen‘ enthält, sondern mehrere Möglichkeiten des Tragischen auslotet. Zweitens sollte sichtbar geworden sein, dass in allen drei hier verhandelten Fassungen der tragischen Affirmation die Bejahung ihren Gegenhalt in einem ,negativen‘ Element hat, das durch die 81 Vgl. hierzu Lore Hühn: Von Arthur Schopenhauer zu Friedrich Nietzsche. In: Barbara Neymeyr/Andreas Urs Sommer (Hg.): Nietzsche als Philosoph der Moderne. Heidelberg 2011 (in print). 82 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. 83 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. 84 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. 85 Nietzsche, GT 25, KSA 1, S. 155. Vgl. hierzu bes. Bernhard Lypp: Der symbolische Prozess des Tragischen. In: Nietzsche Studien 18 (1989), S. 127 – 140, der dieses Wechselspiel als Zusammengehören von ,Entlastung‘ und ,Erschütterung‘ auslegt.

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,Weisheit des Silen‘ ins Wort gesetzt ist – wenn auch Nietzsche mit dem Dionysischen den Anspruch verbindet, diese Grundsicht in die tragische Überwindung selbst hineinzuholen. Drittens war in den Blick zu bringen, dass alle Fassungen der tragischen Affirmation in einem wesentlichen Sinne auf einer ,metaphysischen‘ Begründungsebene beruhen, die sich in verschiedenen Varianten als Differenz einer ,wahren‘ und einer ,scheinbaren‘ Welt ausprägt. Diese Begründungsschicht ist keineswegs eine zu vernachlässigende Eigentümlichkeit; sie trägt vielmehr die frühe Untersuchung im Ganzen: Die apollinische Verklärung im Schein antwortet auf die Einsicht in das Wesen der Welt als Widerspruch und Leiden; der ,metaphysische Trost‘ des Dionysischen zerbricht umgekehrt die scheinhafte Individuation und verweist auf die Unzerstörbarkeit des Lebens ,im Grunde der Dinge‘; und selbst noch das apollinisch-dionysische Wechselspiel, das nicht gleichermaßen einen Begriff des ,Ur-Einen‘ in Anspruch nimmt, konstituiert sich wesentlich durch den Gegensatz von ,Untergrund‘ und verhüllend-illusionärem ,Schönheitsschleier‘. Viertens, und unmittelbar daran anschließend, sollte sich gezeigt haben, dass Nietzsches früher Versuch, divergierende Konzeptionen unter dem Dache einer einzigen spekulativen Konstruktion zu vereinen, eher zur Unverständlichkeit denn zu systematischer Geschlossenheit beiträgt. Nicht zufällig ist es eben dieser Zugriff, der die retrospektive Selbstkritik auf sich zieht. Die späte ,Philosophie des Tragischen‘ wird aber dem frühen Entwurf nicht einfach ihre argumentativen Fundamente entziehen, sie wird vielmehr die Konzeption im Ganzen verwandeln müssen.

II. Der Begriff des Nihilismus Es ist im Folgenden die leitende These, dass sich an Nietzsches Verständnis des Nihilismus der Ausgangspunkt für die gewandelte Bestimmung des Tragischen in seinem mittleren und späten Werk gewinnen lässt, und dies in zweifacher Hinsicht: Einerseits ,ersetzt‘ in gewisser und erläuterungsbedürftiger Weise der Nihilismus die noch ganz mit Schopenhauers Philosophie konforme ,pessimistische Grundeinsicht‘ des Frühwerks und mithin einen der zwei Pole des Tragischen. Im Spätwerk erlangt das Tragische seine spezifische Bedeutung gerade als Gegenbewegung zum Nihilismus. Andererseits aber lässt sich vom Begriff des Nihilismus her die entscheidende methodische Wende zwischen frühem und mittlerem Werk aufweisen, die noch das spätere Verständnis des

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Tragischen wesentlich trägt – und die deutlich macht, dass es sich im Spätwerk nicht um eine einfache ,Substitution‘ der Aspekte des Tragischen in der Geburt der Tragçdie handeln kann, sondern um eine Verwandlung der tragischen Konstellation im Ganzen. Der Begriff des Nihilismus ist – wie alle zentralen Begriffe in Nietzsches Denken – notorisch vieldeutig und schillernd. Diese Vieldeutigkeit ist allerdings nicht einem Mangel an systematischer Strenge oder Konsequenz geschuldet, sie verweist vielmehr auf die Beweglichkeit von Nietzsches Philosophie, sein Verfahren, Begriffe in unterschiedlichen Kontexten nuanciert auf das jeweilig in Frage stehende Phänomen auszurichten – und nicht zuletzt auf eine „Vorsicht“ gegenüber voreiligen dogmatischen Fixierungen.86 Freilich stellt der Begriff des Nihilismus insofern einen Sonderfall dar, als er mehrere, teils gegenläufige, ja sich widersprechende Bedeutungsebenen ineinander vereint und dies so, dass er einerseits für ein Phänomen einsteht, dem Nietzsches schärfste Kritik gilt, andererseits aber auch Nietzsches eigene Position bezeichnen kann. Die Mehrdeutigkeit des Nihilismus-Begriffs lässt sich annäherungsweise schon in der Geburt der Tragçdie aufzeigen, wo vor dem Hintergrund des Spätwerks in dreifacher Hinsicht von einem Nihilismus gesprochen werden darf – ohne dass freilich der Begriff selbst dort schon fiele: Erstens kann bereits die ,pessimistische Grundeinsicht‘, die in der Weisheit des Silen zur Sprache kommt, ,nihilistisch‘ genannt werden, heißt es doch dort in steigernder Betonung des „nicht“, es sei das Beste, „nicht geboren zu sein, nicht zu s e i n , n i c h t s zu sein.“87 Die Nichtigkeit des Daseins ist die zentrale Botschaft dieser Weisheit. Dementsprechend formuliert Nietzsche in einem späten Fragment des Sommers 1888 rückblickend: „Man sieht, daß in diesem Buche [der Geburt der Tragçdie] der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die Wahrheit gilt.“88 Zwar zielt die gesamte Konzeption des Tragischen schon im Frühwerk darauf ab, diese Einsicht zu ,überwinden‘,89 sie soll aber gerade nicht 86 Vgl. hierzu die auf das mittlere Werk bezogene, höchst aufschlussreiche Selbstcharakterisierung in Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[162], KSA 12, S. 144. 87 Nietzsche, GT 3, KSA 1, S. 35. 88 Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 522. 89 An der gleichen Stelle des Nachlasses heißt es dann auch, das frühe Werk sei „dergestalt sogar antipessimistisch, nämlich in dem Sinn, daß es Etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das ,göttlicher‘ ist als die Wahrheit“ (Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 522). Vgl. hierzu auch die ausführlichen Vorarbeiten NL Frühjahr 1888, 14[14]-14[26], KSA 13, S. 224 – 230.

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verleugnet oder ungeschehen gemacht, sondern festgehalten werden; ohne pessimistische Basis wäre eine ,tragische Lebenshaltung‘ im Sinne des Frühwerks gar nicht denkbar. In einer zweiten Hinsicht kann der Begriff des Nihilismus verwendet werden für den Daseinsekel und die Sehnsucht nach einer „buddhaistischen Verneinung des Willens“,90 die Nietzsche am Ende des siebten Abschnitts behandelt. Diese Sehnsucht ist eine mçgliche Konsequenz aus der pessimistischen Grundeinsicht – aber gerade vor der willensverneinenden, ,nihilistischen‘ Resignation soll der dionysische Mensch durch den ,metaphysischen Trost‘ gerettet werden. Der eigentliche ,Gegner‘ der tragischen Weltauffassung – und mithin die dritte Form des Nihilismus in der Geburt der Tragçdie – ist aber nicht die Willensverneinung, die aus dem Daseinsekel entspringt, sondern der Sokratismus, den Nietzsche in den Abschnitten 11 – 15 über den Tod der Tragödie behandelt. Der Sokratismus ist – nur dem Anschein nach paradox – gerade darin nihilistisch, dass er optimistisch ist und allein auf das rationale Prinzip der Dialektik setzt.91 In der Verleugnung des tragischen und schöpferischen Untergrundes ist er – in der Terminologie des späteren Werks – ,lebensfeindlich‘ und eben dadurch Nihilismus. Der Begriff des Nihilismus selbst wird erstmals 1880 und zunächst nur sporadisch verwendet,92 um dann ab 1886 ins Zentrum von Nietzsches Denken zu treten, wobei der allergrößte Teil der Ausführungen dem Nachlass zugehört. Im Vorblick auf den Gedanken einer ,tragischen Überwindung des Nihilismus‘ gilt es im Besonderen, auf zwei Bedeutungsebenen des Begriffs einzugehen: Erstens auf den Nihilismus als geschichtliche Epochendiagnose, und zwar als spezifisches Charakteristikum der Nietzsche gegenwärtigen und gerade erst heraufziehenden Epoche; zweitens auf den ,erkenntnistheoretischen‘ Nihilismus, den Nietzsche auch als den ,extremsten Nihilismus‘ bezeichnet. Die Diagnose der eigenen und kommenden Epoche als Nihilismus, die von Nietzsche als ,Entwertung der bisherigen Werte‘ charakterisiert wird, eröffnet und 90 Nietzsche, GT 7, KSA 1, S. 56. 91 Vgl. bes. Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 95, wo u. a. die Wendung „sokratischoptimistisch[en]“ fällt. 92 Die ersten beiden Notizen, in denen der Begriff verwendet wird, sind Nietzsche, NL Sommer 1880, 4[103] u. 4[108], KSA 9, S. 125 u. S. 127 f. Zu Nietzsches Quellen und zur weiteren Verwendung bis Sommer 1886 vgl. Elisabeth Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus. Berlin/New York 1992, S. 10 – 57; zur Geschichte des Begriffs bes. Hans-Jürgen Gawoll: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. Stuttgart 1989.

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fordert die Mçglichkeit einer ,tragischen Überwindung‘; der ,erkenntnistheoretische‘ Nihilismus deutet einerseits auf das mittlere Werk und den Gedanken einer ,tragischen Erkenntnis‘ zurück und leitet andererseits unmittelbar zur affirmativen Wiederaufnahme des Tragischen im Spätwerk über. Zweifelsohne ist in diesen beiden Bedeutungsebenen Nietzsches Nihilismus-Analyse nicht vollständig erfasst.93 Abgeblendet wird in diesem Zusammenhang etwa ein ,unspezifischerer‘ Sprachgebrauch, der sich vor allem im publizierten Werk des Jahres 1888 und dem Nachlass ab Frühjahr 1888 findet. Hier wird die Nihilismus-Analyse – wie MüllerLauter zurecht bemerkt – von der Thematik der dcadence geradezu „aufgesogen“:94 ,Nihilismus‘ ist hier nurmehr ein polemischer ,Kampfbegriff‘, den Nietzsche zur Kennzeichnung von ,Niedergangsformen‘ des Lebens und besonders für das Christentum, den Buddhismus sowie die Philosophie Schopenhauers verwendet.95 1. Obgleich im publizierten und für die Publikation bestimmten Werk der eben genannte ,undifferenzierte‘ Sprachgebrauch dominiert, zeichnen sich hier schon in Ansätzen die ausführlichen Reflexionen des Nachlasses ab, die den Nihilismus als Kennzeichen der heraufziehenden Epoche erörtern. Dies gilt insbesondere für die Genealogie der Moral, die nicht zufällig dasjenige zur Publikation gebrachte Werk ist, das der intensiven Analyse des Begriffs im Nachlass zeitlich am Nächsten steht. So nennt Nietzsche in der zweiten Abhandlung den „grossen Ekel“, den „Willen zum Nichts“ und den „Nihilismus“ als Kennzeichen desjenigen, was aus dem „bisherigen Ideal […] w a c h s e n m u s s t e “96 – der Nihi93 Vgl. für eine Typologie des Nihilismusbegriffs Kuhn: Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, bes. S. 8 f. u. S. 237 – 255. 94 Müller-Lauter: Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, S. 289. 95 Im Nachlass vom Frühjahr 1888 heißt es, diesen Sprachgebrauch gewissermaßen zusammenfassend, von den „großen nihilistischen Religionen“, dem „Brahmanismus, Buddhismus, Christenthum[s]“: „[S]ie dürfen nihilistisch genannt werden, weil sie alle den Gegensatzbegriff des Lebens, das Nichts, als Ziel, als höchstes Gut, als ,Gott‘ verherrlicht haben“ (Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[25], KSA 13, 229 f.). Vgl. bes. auch Nietzsche, GM II, 21, KSA 5, S. 331; GD Streifzüge 21, KSA 6, S. 125; AC 6, KSA 6, S. 172; AC 20, KSA 6, S. 186; AC 58, KSA 6, S. 247; EH GT 1, KSA 6, S. 310 sowie die Nachlassnotizen unter dem Titel „die Religion als décadence“ (Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 11[366]11[373], KSA 13, S. 162 – 167; NL Frühjahr 1888, 14[91], KSA 13, S. 267 f.). 96 Nietzsche, GM II, 24, KSA 5, S. 336.

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lismus wird demnach nicht, wie im Werk von 1888, mit der abendländisch-christlichen Moral unmittelbar gleichgesetzt, sondern als dessen notwendige Folge vorgeführt. Dass diese Folge in der Nietzsche zeitgenössischen Gegenwart noch nicht einmal vollständig erreicht ist, deutet eine Partie der dritten Abhandlung an: Nietzsche spricht davon, dass „eines Tages […] etwas vom Unheimlichsten zur Welt“ kommen könnte, „der ,letzte Wille‘ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus“.97 Für eine eingehendere Untersuchung „[j]ene[r] Dinge […] unter dem Titel ,Zur Geschichte des europäischen Nihilismus‘“ verweist Nietzsche schließlich „auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht, V e r s u c h e i n e r U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e “.98 Es ist in der Tat im Umfeld der ersten ausführlicheren, auf den „Sommer 1886“99 datierten Skizze zum Willen zur Macht, dass Nietzsche die Problematik des Nihilismus erstmals umfänglich durchdenkt.100 Schon dem Entwurf selbst lässt sich Nietzsches Zugang zum Begriff des Nihilismus entnehmen – und zugleich die Zentralität des Begriffs für die Konzeption des geplanten Werks. Wie in vielen der folgenden Entwürfe macht die Analyse des Nihilismus dessen erstes Buch aus. Nietzsche notiert hierzu unter dem Stichpunkt „die Gefahr der Gefahren“ in Klammern den Hauptsatz für seine Erörterung des Nihilismus: „(Darstellung des Nihilismus) (a l s d e r n o t h w e n d i g e n C o n s e q u e n z d e r b i s h e r i g e n W e r t h s c h ä t z u n g e n )“.101 Der Nihilismus ist mithin – wie auch die zitierten Passagen der Genealogie der Moral andeuten – nicht 97 Nietzsche, GM III, 14, KSA 5, S. 368 [Herv. v. Verf.]. Vgl. auch GM Vorrede 5, KSA 5, S. 252 u. GM I, 12, KSA 5, S. 278, wo ebenfalls der Nihilismus als Charakteristikum der Gegenwart behandelt wird. 98 Nietzsche, GM III, 27, KSA 5, S. 408 f. 99 Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[100], KSA 12, S. 109. 100 Im Ganzen lassen sich im Nachlass ab Sommer 1886 drei Phasen einer besonders intensiven Auseinandersetzung mit dem Nihilismus nachweisen: Die erste eingehende Erörterung des Nihilismus als bestimmenden Phänomens der Gegenwart und des heraufziehenden Zeitalters findet sich im Sommer 1886 (Gruppe 2), gefolgt von vereinzelten Fragmenten bis zum Frühling 1887 (bes. Gruppe 7); das so genannte „Lenzer Heide“-Fragment und einige Aufzeichnungen in dessen Umfeld (Gruppe 5) vertiefen und verschieben diese Auffassung um den Juni 1887, also kurz vor Abfassung der Genealogie der Moral; in einer dritten Phase, die im Herbst 1887 nach Abschluss der Genealogie beginnt, erwägt Nietzsche insbesondere die Möglichkeit einer affirmativen Aneignung des Nihilismus (Gruppe 9) und notiert bis etwa Frühjahr 1888 immer wieder vereinzelte Anläufe zur näheren Klärung des Begriffs (bes. Gruppe 11). 101 Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[100], KSA 12, S. 109.

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identisch mit der bisherigen Moral, sondern deren Konsequenz, ihre notwendige Folge. Dieser Konsequenz soll das skizzierte Werk zunächst genealogisch nachgehen, indem Nietzsche für das „Zweite[s] Buch“ eine „Kritik der Werthe“ ansetzt.102 Dazu hält Nietzsche am Ende der Aufzeichnung nochmals fest: „Kritik der indischen und chinesischen Denkweise, ebenso der christlichen (als Vorbereitungen zu einer n i h i l i s t i s c h e n – )“, und präzisiert zugleich, worin die „Gefahr der Gefahren“ liegt: „Alles hat keinen Sinn.“103 Der Nihilismus als vollendete Sinnlosigkeit, die aus den bisherigen Wertschätzungen mit Notwendigkeit folgt – so fasst Nietzsche die neue und vertiefte Ausgangsstellung seines Spätwerks. Dabei soll das dritte Buch die Frage klären: „W i e müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen?“; das vierte Buch schließlich behandelt unter dem Titel „der Hammer“ das „Mittel zu ihrer Aufgabe“.104 Zugleich mit der Aufnahme des Nihilismusproblems an entscheidender Stelle des Nachlasses projektiert Nietzsche dessen ,Umkehrung‘ und ,Überwindung‘ – und es wird zu zeigen sein, dass diese wesentlich tragisch zu denken ist. Die Aufzeichnungen, die im unmittelbaren Anschluss an diesen Plan zum Willen zur Macht die Konzeption des ersten Buchs vertiefen,105 begreifen durchweg den Nihilismus als „heraufkommende[n]“106 und fragen zugleich nach seinen Ursachen und seiner Herkunft. Exemplarisch heißt es dort: „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste?“107 „Ausgangspunkt“108 der Analyse ist die Zurückweisung einer „[f]ehlerhafte[n] Ableitung desselben“.109 Seine Ursache liege nicht in „socialen Thatsachen“110 oder „physiologische[n] 102 103 104 105

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Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[100], KSA 12, S. 109. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[100], KSA 12, S. 110. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[100], KSA 12, S. 109. Aus der Gruppe 2, der auch der eben zitierte Plan zum Willen zur Macht zugehört, widmen sich in enger Folge die Aufzeichnungen 118, 127 und 134 dem Nihilismus-Problem. Nietzsche selbst hat offensichtlich nicht die ausführlichste dritte, sondern die zweite Fassung für die reifste gehalten; nur diese findet sich in der Rubrizierung der Einträge, die er wenig später für eine weitere Ausarbeitung vornimmt (vgl. Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[50], KSA 12, S. 202). Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[131], KSA 12, S. 129. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 125. Vgl. auch die verwandte Formulierung NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[118], KSA 12, S. 120. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 125. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[131], KSA 12, S. 129. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[118], KSA 12, S. 120.

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Entartungen“,111 sondern in „Werthschätzungen“,112 genauer: „[I]n einer g a n z b e s t i m m t e n A u s d e u t u n g , in der christlich-moral steckt der Nihilismus“.113 Der Nihilismus ist allerdings nicht – und dies ist von entscheidender Bedeutung – die unmittelbare Folge des Christentums, sondern Folge seines „Untergang[s]“, – eines Untergangs, der darin begründet liege, dass die christliche „Moral“ sich gegen „den christlichen Gott“ und mithin gegen sich selbst wende.114 Am Deutlichsten ist dieser Prozess im „Lenzer Heide“-Fragment vom Juni des darauf folgenden Jahres ausgeführt: Die christliche Moral habe das Bedürfnis nach „ W a h r h a f t i g k e i t “ großgezogen, und „ d i e s e wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre T e l e o l o g i e , ihre i n t e r e s s i r t e Betrachtung – und jetzt wirkt die E i n s i c h t in diese lange eingefleischte Verlogenheit […] gerade als Stimulans. Zum Nihilismus.“115 Die von der christlichen Moral selbst hervorgebrachte Einsicht in ihre eigene Bedingtheit ist es, die in einen „Auflösungsprozeß“116 führt und schließlich im Nihilismus und seinem Grundsatz „Alles hat keinen Sinn“117 gipfelt. Von diesem Gedanken einer „ S e l b s t a u f h e b u n g d e r M o r a l “118 her klärt sich auch die reflexive Formulierung, mit der Nietzsche den Nihilismus beschreibt: „ N i h i l i s m : es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ,Warum?‘ was bedeutet Nihilism? – d a ß d i e o b e r s t e n W e r t h e s i c h e n t w e r t h e n .“119 Das „Umsonst“ des Nihilismus schreibt sich von einem Prozess her, in dem die bislang gültige und absolut geglaubte Begründungsinstanz für einen ,Sinn des Daseins‘ fällt – und damit eine Sinnhaftigkeit des Daseins berhaupt in Frage steht: „ E i n e Interpretation

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Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 125. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[118], KSA 12, S. 120. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 125. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 125 [Herv. v. Verf.]. Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71], KSA 12, S. 211. Vgl. die alternative Formulierung schon in NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 126. Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71], KSA 12, S. 212. Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 126. Nietzsche, M Vorrede 4, KSA 3, S. 16. Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 350; vgl. hierzu Heidegger: Nietzsche. Zweiter Band. In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 6.2, S. 36 f. Schon im Sommer 1886 hält Nietzsche als „Ursache“ des Nihilismus fest: „die Entwerthung der bisherigen Werthe“ (Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[131], KSA 12, S. 131).

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gieng zu Grunde; weil sie aber als d i e Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles u m s o n s t sei.“120 2. Aus der Herkunft des Nihilismus fragt Nietzsche nun nach seiner Folge, seinem „wohin“ – und im Zuge dieser Frage wird der Gedanke des ,extremsten Nihilismus‘ formuliert. In einer wichtigen Aufzeichnung vom Herbst 1887 notiert Nietzsche zunächst, der „ N i h i l i s m “ sei „e i n normaler Z u s t a n d “121 – das heißt im Angesicht der geschichtlichen Situation notwendig und insofern auch ,berechtigt‘. Als Ausdruck der Entwertung der bisherigen Werte aber ist der Nihilismus „zweideutig“: Als „activer Nihilism“ kann er „ein Zeichen von S t ä r k e sein“, sofern „die Kraft des Geistes […] so angewachsen“ ist, „daß ihr die b i s h e r i g e n Ziele […] unangemessen sind.“122 Der Nihilismus ist in diesem Fall die aktive Abschaffung der alten Werte und erreicht somit sein „Maximum von relativer Kraft […] als gewaltthätige Kraft der Zerstçrung“.123 Sein Gegenstück ist der „ p a s s i v i s c h e [ r ] “ oder „passive Nihilism“ als „Zeichen von Schwäche“, als „ N i e d e r g a n g u n d R ü c k g a n g d e r M a c h t d e s G e i s t e s “; eine Schwäche, der gewissermaßen die alten Werte ,zu hoch‘ sind: „die Kraft des Geistes kann ermüdet sein, e r s c h ö p f t sein, so dass die b i s h e r i g e n Ziele und Werthe unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden“.124 Obgleich Nietzsche hier den Nihilismus symptomatologisch125 als „Zeichen“ der ihm jeweils zu Grunde liegenden Kraft interpretiert, ist es doch deutlich, dass diese Untersuchung nach der Konsequenz des Nihilismus fragt: Der „Nihilism“ stelle „einen pathologischen Z w i 120 Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71], KSA 12, S. 212; ähnlich schon NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 126; vgl. auch NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[57], KSA 12, S. 206 und die von Heidegger umfänglich ausgelegte Aufzeichnung NL Sommer 1887-März 1888, 11[99], KSA 13, S. 46 – 49; hierzu Heidegger: Nietzsche. Zweiter Band. In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 6.2, S. 35 f. u. S. 45 – 77. 121 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 350. 122 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 350. 123 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 351. 124 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 351. Diese Gegenüberstellung findet sich erstmals in NL Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[8], KSA 12, S. 292 sowie später in NL Herbst 1887, 9[60], KSA 12, S. 367; in beiden Aufzeichnungen werden allerdings die Begriffe von aktivem und passivem Nihilismus nicht verwendet. 125 Vgl. zu diesem Begriff Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie. Frankfurt a.M. 1985, S. 7 f. u. S. 83.

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s c h e n z u s t a n d dar“, „sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind: sei es, daß die décadence noch zögert und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden hat.“126 Selbst der aktive Nihilismus aber ist noch bloße Zerstörung und in sich nicht dazu fähig, neue Werte zu schaffen – er gleicht darin dem Löwen aus den drei Verwandlungen im ersten Zarathustra, von dem es heißt: „Neue Werthe schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.“127 Gleichwohl erscheint der Nihilismus nun nicht mehr als bloßer Auflösungsprozess, sondern als mögliches Vor- und Durchgangsstadium zu einer neuen Sinnstiftung. Entscheidender noch als die Distinktion zwischen aktivem und passivem Nihilismus ist die Bestimmung eines ,extremsten Nihilismus‘, die Nietzsche im unmittelbar folgenden zweiten Abschnitt der Aufzeichnung anschließt, als „Voraussetzung dieser Hypothese“: „Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein ,Ding an sich‘ giebt – d i e s i s t s e l b s t e i n N i h i l i s m , und z w a r d e r e x t r e m s t e .“128 In der Tat ist dieser Gedanke nicht nur die „Voraussetzung“ der Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Deutungsmöglichkeit, sondern von Nietzsches Verständnis des Nihilismus im Ganzen – ist es doch dem ,heraufkommenden‘ Nihilismus nach Nietzsche eigentümlich, dass vermeintlich absolut begründete Werte in ihrer Bedingtheit durchschaut und mithin als perspektivische Interpretation sichtbar werden. Während im publizierten Werk der Begriff des Nihilismus vornehmlich polemisch gebraucht wird, und selbst noch der aktive Nihilismus in seiner Ablösung tradierter und überlebter Werte allein als negativer ,Zwischenzustand‘ gilt, gewinnt der Nihilismus in seiner ,extremsten‘ Form eine grundlegende und ,erkenntnistheoretische‘ Dimension, die gerade für Nietzsches eigene Philosophie von entscheidender Bedeutung ist. Diese Einsicht hat offensichtlich für Nietzsche den Charakter einer zentralen Selbsterkenntnis, notiert er doch wenig später und offensichtlich im Rückbezug auf den Begriff des ,extremsten Nihilismus‘: „Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich w e i ß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst 126 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 351. 127 Nietzsche, Z I Verwandlungen, KSA 4, S. 30. 128 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[35], KSA 12, S. 351. Vgl. hierzu und zum Folgenden Karl-Heinz Volkmann-Schluck: Die Philosophie Nietzsches. Der Untergang der abendländischen Metaphysik. Würzburg 1991, S. 194 – 203.

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seit Kurzem eingestanden“.129 Nicht zufällig auch findet sich die emphatischste Bestimmung des Nihilismus in derjenigen Eintragung, die das Konzept des ,extremsten Nihilismus‘ vertiefend beleuchtet: Was ist ein G l a u b e ? Wie entsteht er? Jeder Glaube ist ein F ü r - w a h r halten. Die extremste Form des Nihilism wäre: daß j e d e r Glaube, jedes Fürwahr-halten nothwendig falsch ist: w e i l e s e i n e wahre Welt g a r n i c h t g i e b t . Also: ein p e r s p e k t i v i s c h e r S c h e i n , dessen Herkunft in uns liegt (insofern wir eine engere, verkürzte, vereinfachte Welt fortwährend n ö t h i g haben) – daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die S c h e i n b a r k e i t , die Nothwendigkeit der Lüge eingestehn können, ohne zu Grunde zu gehn. I n s o f e r n k ö n n t e N i h i l i s m , a l s Leugnung e i n e r w a h r h a f t e n W e l t , e i n e s S e i n s , e i n e g ö t t l i c h e D e n k w e i s e s e i n : – – –130

Der Nihilismus in seiner extremsten Form als ,göttliche Denkweise‘ – damit ist der tiefste Punkt von Nietzsches Nihilismus-Analyse erreicht. Der ,Auflösungsprozess‘ als Konsequenz der alten Werte erscheint nun in neuem Licht. In ihm wird sichtbar, dass nicht nur die tradierten Auslegungen, sondern jede mögliche Auslegung von Sein und Welt perspektivisch bedingt und mithin beschränkt, aber notwendig beschränkt ist. Der Nihilismus schreibt sich so als unhintergehbarer Grundzug in Welt und Leben ein: Er zieht die Möglichkeit einer letztgültigen und absoluten Auslegung von Welt und Sein berhaupt in Zweifel, eine jede Wertsetzung ist von der Nihilisierung affiziert – dies allerdings so, dass die ,Nihilität‘ in der Perspektive des extremsten Nihilismus nicht mehr die Heraufkunft eines alles unterminierenden, lebensmüden und resignativen „Umsonst“ bezeichnet, sondern eine neue Aufgabe: die Frage nach dem „Maaß der Kraft“, „wie sehr wir uns die S c h e i n b a r k e i t , die Nothwendigkeit der Lüge eingestehn können, ohne zu Grunde zu gehn.“131 Diese Kraft heißt bei Nietzsche tragisch – und nicht zufällig klingt, wenn auch transponiert, in dieser neuen Aufgabe die Definition des tragischen Künstlers aus der Dionysischen Weltanschauung nach: „[B]ei der hellsten Erkenntniß von der Nichtigkeit des Daseins doch fortleben zu können, ohne in [seiner] Weltanschauung einen Riß zu spüren“.132 129 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[123], KSA 12, S. 407. 130 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[41], KSA 12, S. 354. Vgl. die ähnlichen Notizen in NL Herbst 1887, 9[60], KSA 12, S. 368; NL Herbst 1887, 10[22], KSA 12, S. 468; NL Herbst 1887, 10[192], KSA 12, S. 571. 131 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[41], KSA 12, S. 354. 132 Nietzsche, DW 3, KSA 1, S. 570.

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III. Die ,Tragik der Erkenntnis‘ Bevor die Wiederkehr der tragischen Affirmation des Spätwerks in den Blick gebracht werden kann, ist zunächst in einem Zwischenschritt auf Nietzsches mittleres Werk zurückzugehen. Es gilt hier einerseits, den methodischen Ansatz, den Nietzsches Rede vom ,extremsten Nihilismus‘ formuliert, zu schärfen und dort einzuholen, wo er erstmals durchgeführt ist – in den Aphorismenbüchern von Menschliches, Allzumenschliches bis zur Frçhlichen Wissenschaft. Andererseits soll gezeigt werden, wie der Gedanke des Tragischen im mittleren Werk eine spezifische und eigenständige Fassung erhält: In der Abstoßung vom Frühwerk erscheint er in gewandelter Form, nämlich als Tragik der Erkenntnis. Diese Konzeption wird zwar im mittleren Werk als bloß mögliche Konsequenz der ,erkenntniskritischen‘ Grundeinsicht durchdacht, bezeichnet aber früh schon den Ausgangspunkt für den späten Gedanken des Tragischen. Nietzsche selbst hat den Neuansatz seines Denkens, der in der Veröffentlichung von Menschliches, Allzumenschliches 1878 sichtbar wird, ausdrücklich als Abkehr von seinem frühen Werk verstanden133 – und diese Abkehr betrifft in zentraler Hinsicht auch die frühe Konzeption des Tragischen. Nicht erst die späten Rückblicke der 1880er Jahre kritisieren die ,Artisten-Metaphysik‘ des Frühwerks, schon 1876/1877 findet sich in einer geplanten Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches die folgende Formulierung: Lesern meiner früheren Schriften will ich ausdrücklich erklären, daß ich die metaphysisch-künstlerischen Ansichten, welche jene im Wesentlichen beherrschen, aufgegeben habe: sie sind angenehm, aber unhaltbar. Wer sich frühzeitig erlaubt öffentlich zu sprechen, ist gewöhnlich gezwungen, sich bald darauf öffentlich zu widersprechen.134

Diese Zurückweisung der ,metaphysisch-künstlerischen Ansichten‘ des Frühwerks zeigt den Grundzug von Nietzsches mittlerer Philosophie an: Sie ist wesentlich Kritik tradierter Begriffe, Ideen und Wertsetzungen. Die entscheidende methodische Bestimmung dieser Kritik benennt Nietzsche in der nachträglichen Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches, indem er seine Schriften eine „Schule des Verdachts“ nennt.135 Mit dem Wort 133 Vgl. zu dieser „Neuorientierung“ auch Günter Figal: Nietzsche. Eine philosophische Einführung. Stuttgart 1999, S. 103 – 108. 134 Nietzsche, NL Ende 1876-Sommer 1877, 23[159], KSA 8, S. 463. 135 Nietzsche, MA I Vorrede 1, KSA 2, S. 13. Vgl. zum Folgenden in Bezug auf Nietzsches Moralkritik Philipp Schwab: Ethik und Ethikkritik. Philosophie der

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„Verdacht“ ist der experimentelle Charakter von Nietzsches Kritik tradierter Konzeptionen bezeichnet, die Eigentümlichkeit eines kritischen Denkens auf den Versuch hin. 136 Nicht zufällig setzt der erste Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel „C h e m i e d e r B e g r i f f e u n d E m p f i n d u n g e n “ mit einer Frage an: „[W]ie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern?“137 Das von Nietzsche ab Menschliches, Allzumenschliches praktizierte experimentelle Verfahren besteht darin, vermeintlich qualitative und letztgültige Gegenüberstellungen und Hierarchisierungen versuchsweise umzukehren und dem verdeckten Zusammenhang nachzuspüren, der zwischen dem ,Hohen‘ und dem ,Niedrigen‘ besteht. Die Kritik zielt mithin auf eine Dynamisierung tradierter, oppositioneller Wertsetzsetzungen; sie zeigt die Gewordenheit von Wertungen und mithin ihre perspektivische Bedingtheit, ihren Charakter als Interpretation auf. Experimentell ist diese Kritik insofern, als sie noch ihre eigenen Verfahrensweisen als perspektivische begreift – sie ersetzt nicht eine ,falsche‘ Auslegung der Welt einfach durch eine ,wahre‘, sondern hat ihre Pointe darin, die Perspektivität138 von Wertung und Kritik als unhintergehbar auszuweisen und noch auf die eigenen Analysemethoden selbst zurückzubeugen. Diese experimentelle Kritik der Tradition bleibt keineswegs auf Nietzsches mittleres Werk beschränkt – sie schreibt sich vielmehr nach dem Zarathustra in Jenseits von Gut und Bçse, dem fünften Buch der Frçhlichen Wissenschaft, der Genealogie der Moral und selbst noch der Gçtzen-Dmmerung fort. Die gedrängteste Formulierung erhält Nietzsches seit der mittleren Phase leitende und in der Folge nie wieder aufgegebene Grundeinsicht dann auch im Aphorismus 374 der Frçhlichen Wissenschaft über das ,neue Unendliche‘, die dort bemerkenswerterweise selbst als Experiment formuliert ist: „Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h Existenz bei Kierkegaard und Nietzsche. In: Hans Feger/Manuela Hackel (Hg.): Existenzphilosophie und Ethik. Berlin/New York 2012 (in print). 136 Vgl. hierzu Volker Gerhardt: „Experimental-Philosophie“. Versuch einer Rekonstruktion. In: ders.: Pathos und Distanz, S. 163 – 187. 137 Nietzsche, MA I, 1, KSA 2, S. 23. 138 Vgl. zur Sache Volker Gerhardt: Die Perspektive des Perspektivismus. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 260 – 281.

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s c h l i e s s t .“139 Es ist zweifelsohne diese erkenntniskritische, gegen die Möglichkeit einer absoluten und nicht-perspektivischen Wertsetzung gerichtete Position, die Nietzsche im Nachlass als den ,extremsten Nihilismus‘ und ,göttliche Denkweise‘ reformuliert, ist doch dieser durch die Einsicht bestimmt, dass „ e s e i n e wahre Welt g a r n i c h t g i e b t “, sondern allein einen „p e r s p e k t i v i s c h e [ n ] S c h e i n “.140 Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist es nun entscheidend, dass Nietzsche bereits unmittelbar mit dem Neuansatz seiner mittleren Philosophie die Möglichkeit in Betracht zieht, die skizzierte methodische Grundeinsicht als tragische Erkenntnis zu fassen. Gegen Ende der ersten Aphorismenreihe von Menschliches, Allzumenschliches entwickelt Nietzsche den Gedanken, dass „[a]lle Urtheile über den Werth des Lebens“ aufgrund ihrer perspektivischen Bedingtheit „unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht“ sind: „[A]lle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein“.141 Dass die Unhintergehbarkeit von Perspektivität zugleich als solche erkannt werden kann, nennt Nietzsche die Dissonanz des Menschen – eine ganz anders geartete Dissonanz freilich, als sie die Geburt der Tragçdie aufgerufen hatte: „Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, u n d k ö n n e n d i e s s e r k e n n e n : diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins.“142 Tragisch ist diese ,Disharmonie‘ insofern zu nennen, als der Philosoph in seinem Streben nach Erkenntnis der ,Ersten und letzten Dinge‘ zu der Einsicht gelangt, dass eine solche nicht möglich ist, ihm uneinholbar verwehrt bleibt – und sich mithin in die Kollision hineingehalten sieht, in seinem Erkennen gerade dem Erkennen entgegenzuarbeiten. Nietzsche selbst stellt den Bezug zum Tragischen her, indem er den letzten Aphorismus

139 Nietzsche, FW 374, KSA 3, S. 627. Dass diese ,Einsicht‘ als Experiment formuliert ist, zeigt an, dass es sich dabei im strengen Sinne eben nicht um eine ,Grundeinsicht‘ analog etwa zu der „Weisheit des Silen“ aus dem Frühwerk handelt. Insofern ist die in dieser Untersuchung verwendete Formulierung einer ,erkenntniskritischen Grundeinsicht‘ als verkürzte und nur anzeigende Redeweise zu verstehen. 140 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[41], KSA 12, S. 354. Vgl. zur ,Konvergenz‘ von ,Skepsis‘ und ,Nihilismus‘ Andreas Urs Sommer: Gott – Nihilismus – Skepsis. Aspekte der Religions- und Zeitkritik bei Nietzsche. In: Carlo Gentili/Cathrin Nielsen (Hg.): Der Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches. Berlin/New York 2010, S. 17 – 29, hier bes. S. 28 f. 141 Nietzsche, MA I, 32, KSA 2, S. 51. 142 Nietzsche, MA I, 32, KSA 2, S. 52.

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der ersten Reihe mit der Frage beginnt: „Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie?“143 Und weiter heißt es: Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben k ö n n e ? oder, wenn man diess m ü s s e , ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? […] Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge?144

Es ist für das mittlere Werk in seiner Abstoßung von der früheren Gedankenwelt und seiner Grundstimmung einer ,heiteren Erkenntnis‘ bezeichnend, dass die Tragödie – entgegen der affirmativen Tendenz des Buchs von 1872 – unmittelbar mit den resignativen Phänomenen von Verzweiflung und Tod in eins gesetzt wird.145 So ist dann auch der Aphorismus mit dem Titel „ Z u r B e r u h i g u n g “ überschrieben und weist die tragische Konsequenz zu Gunsten eines Typus zurück, der „nur deshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen“ und dem „als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge g e n ü g e n “ muss.146 Dennoch wird hier eine grundlegende Wandlung gegenüber der frühen Konzeption des Tragischen sichtbar. Sie besteht darin, dass der Bereich oder die Sphre, innerhalb derer das Tragische in den Blick genommen wird, sich verschiebt: Bedeutet die ,tragische Einsicht‘ im 143 Nietzsche, MA I, 34, KSA 2, S. 53. 144 Nietzsche, MA I, 34, KSA 2, S. 53 f. 145 In ähnlicher Gestimmtheit wird auch noch der erste Aphorismus der Frçhlichen Wissenschaft die Tragödie dem zu überwindenden Zeitalter „der Moralen und Religionen“ zurechnen; aber „die kurze Tragödie“ sei „schliesslich immer in die ewige Komödie des Daseins“ über- und zurückgegangen und die aischyleischen „Wellen unzähligen Gelächters“ müssten „zuletzt auch über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen“ (Nietzsche, FW 1, KSA 3, S. 370 – 372; vgl. hierzu Kathleen Marie Higgins: Waves of Uncountable Laughter. In: Lippitt (Hg.): Nietzsche’s Futures, S. 82 – 98 u. Drew E. Griffin: Nietzsche on Tragedy and Parody. In: Philosophy and Literature 18.2 (1994), S. 339 – 347). – Vgl. auch die ebenfalls tragödienkritischen Stellen Nietzsche, MA I, 108, KSA 2, S. 107; MA I, 169, KSA 2, S. 157 f.; NL Frühling-Sommer 1878, 27[34], KSA 8, S. 493; NL Sommer 1878, 29[15], KSA 8, S. 515; NL Juli 1879, 41[63], KSA 8, S. 593; NL Frühjahr 1880, 3[65], 3[87] u. 3[108], KSA 9, S. 64 f., S. 69 f. u. S. 77 f.; NL Sommer 1882, 21[3], KSA 9, S. 683; NL Sommer-Herbst 1882, 3[1], KSA 10, S. 62. 146 Nietzsche, MA I, 34, KSA 2, S. 55.

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Frühwerk den Blick in das Wesen der Welt als nichtig und leidhaft, so betrifft hier die Tragödie die Erkenntnis selbst, – sie ist mithin nicht mehr Erkenntnis des Tragischen, sondern Tragik der Erkenntnis. 147 Es gilt hier nicht mehr eine Erkenntnis als tragisch, die einen Grundzustand der Welt erkennt, mit dem sich nicht leben lässt, und die so die Kunst als ,Retterin‘ fordert – tragisch ist vielmehr die Einsicht, dass sich zu einer Erkenntnis der ,wahren Welt‘ gar nicht mehr durchdringen lässt.148 Gerade dieser Gedanke kehrt in Nietzsches Formulierung des ,extremsten Nihilismus‘ wieder – wie ebenfalls die ,Philosophie der Zerstörung‘, die Nietzsche hier als ,theoretisches Ergebnis‘ nennt, schon auf den ,aktiven Nihilismus‘ vorausdeutet. Auch die Grundbewegung der späten Philosophie des Tragischen ist hier schon angedeutet, und zwar in der Frage, ,ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne‘ – die Drehung ins späte Werk liegt allein darin, auf diese Frage eine affirmative Antwort zu geben. Dass aber auch der Gedanke einer tragischen Erkenntnis selbst im Spätwerk noch lebendig ist, zeigt ein kurzer parodisch-tragischer Spruch aus der Gçtzen-Dmmerung an: „Kann ein E s e l tragisch sein? – Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?… Der Fall des Philosophen.“149

147 Angedeutet wird eine solche ,Tragik der Erkenntnis‘ allerdings bereits in der Geburt der Tragçdie – wenn auch nicht im ersten Teil der Schrift, sondern in der Analyse des Sokratismus, der in Nietzsches Konzeption selbst ein ,tragisches Ende‘ nimmt. Dort heißt es anlässlich der „Grenzpunkte“ der Erkenntnis, an denen der „edle und begabte Mensch“ in „das Unaufhellbare starrt“: „Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die t r a g i s c h e E r k e n n t n i s s , die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht“ (Nietzsches, GT 15, KSA 1, S. 101; vgl. hierzu Friedrich Kaulbach: Das Drama in der Auseinandersetzung zwischen Kunst und Wissensmoral in Nietzsches Geburt der Tragçdie. In: Mihailo Djuric´/Josef Simon (Hg.): Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche. Würzburg 1986, S. 112 – 129). Diese Passage bleibt aber – im Gegensatz zu den zitierten Aphorismen des mittleren Werks – noch ganz auf den Gedanken eines tragischdionysischen Lebensgrundes bezogen. 148 Vgl. hierzu auch Nietzsche, FW 300, KSA 3, S. 539, wo Nietzsche u. a. von „der tragische[n] Prometheia aller Erkennenden“ spricht. 149 Nietzsche, GD Sprüche 11, KSA 6, S. 60. – Vgl. zur tragischen Erkenntnis auch Holger Schmid: Nietzsches Gedanke der tragischen Erkenntnis. Würzburg 1984, bes. S. 9 – 12, S. 106 u. S. 117.

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IV. Die tragische Überwindung des Nihilismus im Spätwerk In der späten, von Nietzsche selbst allenfalls skizzenhaft ausgeführten Konzeption einer ,Philosophie des Tragischen‘150 ziehen sich die bis zu diesem Punkt entfalteten Momente zusammen – die tragische Affirmation im Frühwerk, die Analyse des Nihilismus und die perspektivisch gebrochenen Tragik der Erkenntnis der mittleren Phase. Diese Konstellation ist in folgender Weise zu bestimmen: Der Nihilismus als Epochendiagnose der Gegenwart verweist auf die ,Gefahr der Gefahren‘ – auf ein drohendes ,Umsonst‘ und eine resignative Sinnleere, die sich in seiner Ausdeutung als passiver Nihilismus ankündigt; er fordert somit zugleich eine neue Wertsetzung und Sinnstiftung. Diese kann aber nur unter der Voraussetzung einer Kritik der bislang gültigen Werte gegeben werden;151 als eine solche Kritik erweist sich insbesondere Nietzsches mittlere Philosophie in ihrer Infragestellung tradierter Wertkonzeptionen, die im späten Denken zu deren ,Zerstçrung‘ im ,aktiven Nihilismus‘ dramatisiert wird. Die methodische Voraussetzung dieser Kritik allerdings ist die im mittleren Denken gewonnene Einsicht in die Unhintergehbarkeit von Perspektivität und Interpretabilität, die im Spätwerk radikalisiert als ,extremster Nihilismus‘ erscheint. Auf dieser Basis kehrt nun die tragische Affirmation wieder, die in der Geburt der Tragçdie leitend ist; und zugleich wird die tragische Erkenntnis, die das mittlere Werk noch als Resignation und Verzweiflung zurückweist, in Bejahung verwandelt. Diese Konstellation ist im Folgenden näher zu entfalten.

150 Nietzsche behandelt das Tragische im späten Werk vornehmlich in Rückblicken auf die Geburt der Tragçdie. Dabei verschwimmen aber oftmals – wie auch im „Versuch einer Selbstkritik“ – die Grenzen zwischen Reinterpretation, Selbstkritik und Neukonzeption; zudem richtet Nietzsche sein Augenmerk im Zuge dieses Rückblicks besonders auf das Tragische der Tragçdie und deren ,Fehldeutung‘ durch Aristoteles und Schopenhauer. Die entsprechenden Passagen werden, sofern sie für die späte Konzeption signifikante Aussagen enthalten, in der folgenden Rekonstruktion herangezogen. Vgl. bes. im publizierten Werk Nietzsche, GD Streifzüge 10, KSA 6, S. 117 f.; GD Alten 4 f., KSA 6, S. 158 – 160; EH GT 1 – 4, KSA 6, S. 307 – 315 sowie NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[101] u. 2[110]-[113], KSA 12, S. 111 f. u. S. 115 – 118; NL Frühjahr 1888, 14[14]-[26], KSA 13, S. 224 – 230; NL Frühjahr 1888, 15[10], S. 409 – 411; NL Mai-Juni 1888, 17[3], S. 520 – 522. 151 Vgl. hierzu Nietzsche, NL Herbst 1887, 10[42], KSA 12, S. 476, wo es heißt: „[D]ie V e r s u c h e , dem N < i h i l i s m u s > z u e n t g e h n , ohne jene Werthe umzuwerthen: bringen das Gegentheil hervor, verschärfen das Problem.“

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Dass zunächst das Tragische die Gegenbewegung zum ,Umsonst‘ des Nihilismus darstellt, notiert Nietzsche selbst, wenn auch ohne ausführlichere Erläuterungen, an mehreren Stellen. So heißt es über den Nihilismus, in ihm liege „das eigentlich t r a g i s c h e P r o b l e m unsrer modernen Welt“;152 und schon eines der Fragmente im Umfeld der ersten umfänglicheren Skizze zum Willen zur Macht versieht Nietzsche später mit dem Titel: „ d a s t r a g i s c h e Z e i t a l t e r für Europa: bedingt durch den Kampf gegen den Nihilismus.“153 Zweifelsohne ist die tragische Gegenbewegung für Nietzsche als Bejahung zu denken; in einem Fragment notiert er dazu: „Ideal der weltbejahendsten Lehre[:] das tragische Zeitalter“.154 Entscheidend ist aber nun die Frage, worin genau das Tragische dieser Bejahung liegt, und was mithin den Gegenstand dieser Bejahung ausmacht. Tragisch ist die Bejahung offensichtlich allein insofern, als sie sich auf den Nihilismus richtet und auf ihn bezogen bleibt; eine reine Affirmation, die das nihilistische Element einfach hinter sich ließe, wäre nicht tragisch. Die Antwort auf die Frage nach dem Gegenstand der Bejahung mag zunächst überraschend ausfallen: Bejaht wird der Nihilismus selber – und zwar in seiner Ausprägung als ,extremster Nihilismus‘, als ,Leugnung einer wahren Welt‘.155 Gerade die Annahme einer ,wahren Welt‘ ist es, die für Nietzsche das ,Umsonst‘ des Nihilismus zur Konsequenz hat – indem die vorgeblich einzige, für absolut gültig gehaltene Auslegung fällt, scheint es so, „als ob alles u m s o n s t sei.“156 Demgegenüber besteht die Aufgabe einer ,tragischen Überwindung des Nihilismus‘ darin, die Einsicht, dass „ e s e i n e wahre Welt g a r n i c h t g i e b t “,157 zu bejahen. 152 Nietzsche, NL Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[8], KSA 12, S. 291. 153 Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[50], KSA 12, S. 202; dies bezieht sich auf NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[127], KSA 12, S. 125 – 127. Den Titel notiert Nietzsche wohl zunächst ohne Bezug auf das frühere Fragment fast wortgleich in NL Ende 1886-Frühjahr 1887, 7[31], KSA 12, S. 306. – Vom ,tragischen Zeitalter‘ in Bezug auf den Nihilismus spricht Nietzsche auch in NL Herbst 1887, 9[83] u. 9[107], KSA 12, S. 378 u. S. 397; NL Mai-Juni 1888, 17[1], KSA 13, S. 518. 154 Nietzsche, NL Herbst 1887, 10[58], KSA 12, S. 491. 155 Vgl. Volkmann-Schluck: Die Philosophie Nietzsches, S. 200 – 203 u. im Anschluss daran Schüssler: Zur Frage der Überwindung des Nihilismus bei Nietzsche und Heidegger, S. 26 f., die beide eine Verbindung zwischen dem ,extremsten Nihilismus‘ und dem Tragischen andeuten. 156 Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71], KSA 12, S. 212. Vgl. bes. auch NL Herbst 1887, 9[43], KSA 12, S. 355. 157 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[41], KSA 12, S. 354.

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Insofern kann von einer tragischen „ S e l b s t ü b e r w i n d u n g d e s N i h i l i s m u s “ gesprochen werden – und in der Tat findet sich unter den mannigfachen Entwürfen zum Willen zur Macht diese Formel als Titel zum dritten Buch.158 Den Nihilismus des ,Umsonst‘ kehrt Nietzsche auf zwei Ebenen gegen sich selbst: einerseits, sofern er in seiner Genese aus den tradierten Werten sichtbar gemacht wird, die ihrerseits sich perspektivischen, bedingten Wertsetzungen verdanken; andererseits, indem Nietzsche ihn auf die Grundlage von Wertsetzung als solcher, nämlich die unhintergehbare Perspektivität im Sinne des ,extremsten Nihilismus‘ bezieht. Diese wiederum eröffnet die Möglichkeit einer Bejahung – und zwar einer Bejahung sowohl der Perspektivität von Wertsetzungen berhaupt, als auch bestimmter, als perspektivisch bewusster Wertsetzungen. Die tragische Selbstüberwindung des Nihilismus kehrt gleichsam den Prozess der Entwertung um: Während die eine und als allein gltig anerkannte Interpretation dadurch, dass sie als bedingte durchschaut wird, in das ,Umsonst‘ der Sinnleere führt, gilt es nun, in der Herausdrehung aus dem Nihilismus Interpretationen zu geben, die sich als Interpretationen wissen. Die tragische Bejahung vollzieht sich in den Grundworten von Nietzsches später ,Philosophie des Tragischen‘: ,trotzdem‘ – ,da capo‘ – ,amor fati‘. Zumal das ,Trotzdem‘159 zeigt die spezifisch tragische Dimension der Bejahung auf. Diese liegt nicht darin, zu einer bloßen Relativität der Wertungen und der Unmöglichkeit einer ,letzten Erkenntnis der Dinge‘ einfach ,ja‘ zu sagen, und sich in der Indifferenz einzurichten – dies hieße geradezu, im nihilistischen ,Umsonst‘ zu ver158 Vgl. bes. die beiden Skizzen Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[127], KSA 12, S. 411 u. NL Anfang 1888-Frühjahr 1888, 13[4], KSA 13, S. 215, wo der Nihilismus jeweils in verschiedener Zusammenstellung im Titel der ersten drei Bücher verwendet wird; vgl. auch NL Herbst 1887, 9[164], KSA 12, S. 432. 159 Nietzsche spricht zwar im Ecce Homo beiläufig von dem „Beweis meines Satzes, dass alles Entscheidende ,trotzdem‘ entsteht“ (Nietzsche, EH Z 1, KSA 6, S. 337), hat aber diesen Satz an keiner Stelle seines Werkes näher ausgeführt. In Betracht kommen hier nur die Vorrede zur Morgenrçthe, in der Nietzsche sich in die ,pessimistisch‘ genannte Tradition von Kant und Hegel stellt und die hervorgehobene Wendung „trotzdem dass“ mit Luther und dem „credo q u i a absurdum est“ zusammendenkt (vgl. Nietzsche, M Vorrede 3 f., KSA 3, S. 13 – 15); sowie der Aphorismus „E r n s t i m S p i e l e “, der mit einem betonten „t r o t z d e m “ schließt (Nietzsche, MA I, 628, KSA 2, S. 354; vgl. auch die geplante Hervorhebung durch die Wendung „Oh meine Freunde. versteht ihr dieß ,Trotzdem‘? – –“ in Nietzsche, NL August-September 1885, 42[3], KSA 11, S. 695).

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bleiben. Sie besteht vielmehr in einer beständigen und unaufhebbaren Gegenbewegung und Spannung: Die tragische Affirmation ist die Aufforderung zur Wertschätzung im klarsten Bewusstsein einer fehlenden letztgültigen Begründbarkeit von Werten; das ,Trotzdem‘ bejaht die perspektivische Setzung trotzdem und gerade weil sie stets zweideutig, uneinholbar ,vorläufig‘ und perspektivisch gebunden bleibt. Diese Wertsetzung, die sich stets der Unmöglichkeit einer Letztbegründung von Werten bewusst ist, kann experimentell genannt werden – und in der Tat prägt sich in der tragischen Bejahung des Spätwerks Nietzsches affirmative Experimentalphilosophie als Gegenstück zur kritischen oder negativen Experimentalphilosophie aus, die im mittleren Werk als ,Schule des Verdachts‘ formuliert ist.160 Wiederum ist die Philosophie als Experiment aber nicht indifferentes Schweben über mehreren möglichen Denk- und Existenzentwürfen; unter der Maßgabe des ,Trotzdem‘ ist sie vielmehr die Aufforderung zur Entscheidung und Wertsetzung, aber als perspektivische und gerade darin tragische Setzung. Vor diesem Hintergrund zeigt sich auch die von allen sündentheologischen Konnotationen freie tragische ,Schuld‘ in der Konzeption des Spätwerks: Eine Wertsetzung schließt als notwendig einseitige andere Wertsetzungen aus; sie begreift diese aber nicht als ihre Negation, sondern bejaht sich in ihrer unhintergehbaren Differentialität – die tragische Wertsetzung und Wertschöpfung affirmiert sich im „ P a t h o s d e r D i s t a n z “161 zu anderen, stets mçglichen Wertsetzungen. Die Differentialität der Werte erhellt zugleich Nietzsches martialisch anmutende Rede von der ,Zerstörung‘ und ,Vernichtung‘, die im Spätwerk dem Tragischen zugeordnet wird,162 in ihrer doppelten Valenz: Die tragische Wertschöpfung ist nur, indem sie gegen andere steht und diese ausschließt, sie ,vernichtet‘. Die ,Zerstörung‘ ist ihr aber nicht äußerlich, sondern betrifft noch sie selbst – die Wertsetzung bejaht, indem sie sich als perspektivische weiß, noch die Möglichkeit ihrer eigenen ,Vernichtung‘. Die 160 Vgl. zum Begriff Friedrich Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie. Köln/Wien 1980 und bes. Volker Gerhardt: „Experimental-Philosophie“, S. 173 f., der zwischen einem ,kritischen‘ und einem ,visionären‘ Teil der Experimentalphilosophie unterscheidet. 161 Nietzsche, GM I, 2, KSA 5, S. 259 sowie Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[153], KSA 12, S. 424 – 426. 162 Vgl. bes. Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160; EH GT 3, KSA 6, S. 312; NL Frühjahr 1888, 14[24], KSA 13, S. 229; NL Frühjahr 1888, 14[89], KSA 13, S. 266; NL Mai-Juni 1888, 17[1], KSA 13, S. 520 – 522.

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tragische Bejahung zeigt sich somit als Spiel 163 von Wertschçpfung und Wertvernichtung – abermals jedoch nicht als bloßes Spiel, sondern als eines, das zugleich den höchsten Ernst bedeutet und in dem gewissermaßen ,alles auf dem Spiel steht‘. Im tragischen Wechselspiel von Wertschöpfung und Wertvernichtung klingen dann auch „Lust“ und „Schmerz“ zusammen: Der „Schmerz“ sei, so heißt es im Nachlass von 1888, eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, das heißt z u m S c h a f f e n : im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet) Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.164

In dieser Hinsicht vereint sich das ,Trotzdem‘ mit dem da capo: Tragische Bejahung bedeutet wesentlich, das Zusammenspiel von Wertschöpfung und Wertvernichtung zu affirmieren und wieder zu affirmieren. Schon in Jenseits von Gut und Bçse richtet Nietzsche gegen den Pessimismus das „umgekehrte Ideal“ auf: das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, s o w i e e s w a r u n d i s t , wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele […].165

Dass das Zusammengehören von Schöpfung und Vernichtung in diesem ,Schauspiel‘ notwendig und als notwendig zu bejahen ist, dafür steht die Formel des „amor fati“ ein – für eine Notwendigkeit, die aber nicht als mechanische Determination, sondern als Notwendigkeit des Spiels und mithin des Zufalls zu denken ist. Gerade in Bezug auf den Nihilismus macht das amor fati einen entscheidenden Zug von Nietzsches später ,Philosophie des Tragischen‘ sichtbar: In der Bejahung des Notwendigen bejaht sie selbst dasjenige noch, dem sie entgegensteht, weil sie ihm entgegensteht – den Nihilismus des ,Umsonst‘ in seiner Herkunft aus den 163 Vom Begriff des Spiels her ließe sich auch die Notwendigkeit des komischen bzw. parodischen Zugs in Nietzsches später ,Philosophie des Tragischen‘ in den Blick bringen. Es ist keineswegs bloß Zufall oder Laune, dass Nietzsche in der späteren Vorrede zur Frçhlichen Wissenschaft dem ,incipit tragoedia‘ das ,incipit parodia‘ zur Seite stellt (Nietzsche, FW Vorrede 1, KSA 3, S. 346; vgl. auch FW 382, KSA 3, S. 637). 164 Nietzsche, NL Mai-Juni 1888,17[3], KSA 13, S. 522; vgl. auch die Vorarbeit NL Frühjahr 1888, 14[24], KSA 13, S. 229. 165 Nietzsche, JGB 56, KSA 5, S. 75. Vgl. die Vorarbeit NL April-Juni 1885, 34[205], KSA 11, S. 489 f.

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alten Werten. Eine von Nietzsches allerspätesten Aufzeichnungen notiert hierzu „Amor fati… Selbst das Christenthum wird nothwendig: die höchste Form, die gefährlichste, die verführerischeste im Nein zum Leben fordert erst seine höchste Bejahung heraus“.166 In einer etwas früheren Aufzeichnung des Jahres 1888 heißt es zum Zusammenhang von Nihilismus und amor fati, Nietzsches eigenes Denken als „ExperimentalPhilosophie“ nehme versuchsweise selbst die Möglichkeit des grundsätzlichen Nihilismus vorweg: ohne daß damit gesagt wäre, daß sie bei einem Nein, bei einer Negation, bei einem Willen zum Nein stehen bliebe. Sie will vielmehr bis zum Umgekehrten hindurch – bis zu einem d i o n y s i s c h e n J a s a g e n zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl – sie will den ewigen Kreislauf, – dieselben Dinge, dieselbe Logik und Unlogik der Knoten. Höchster Zustand, den eine Philosoph erreichen kann: dionysisch zum Dasein stehn –: meine Formel dafür ist amor fati…167

Das Jasagen durch den Nihilismus hindurch als dessen Selbstüberwindung – darin liegt die tragische Affirmation des späten Werks. Der soeben zitierte ,Kreislauf‘ verweist auf den tiefsten Punkt dieses Zusammenhangs von Nihilismus und tragischer Bejahung: den Gedanken der ,Ewigen Wiederkehr‘.168 Obgleich dieser Gedanke chronologisch frher formuliert ist als die Analyse des Nihilismus, gewinnt er seine Schärfe erst vor dessen Hintergrund, indem er – wie es in Heideggers Auslegung heißt – „noch das äußerste Nein, die Vernichtung und das Leid als zum Seienden gehörig bejaht“.169 Im Ecce Homo nennt Nietzsche selbst den Wiederkunfts-Gedanken die „höchste Formel der Bejahung, 166 Nietzsche, NL Dezember 1888-Anfang Januar 1889, 25[7], KSA 13, S. 641. Zum amor fati vgl. auch die ersten Aufzeichnungen zu diesem Begriff in Nietzsche, NL Herbst 1881, 15[20], KSA 9, S. 643 u. NL Dezember 1881-Januar 1882, 16[22], KSA 9, S. 664 sowie FW 276, KSA 3, S. 521; NW Epilog 1, KSA 6, S. 436 f.; EH klug 10, KSA 6, S. 295 – 297 u. EH WA 4, KSA 6, S. 362 – 364. 167 Nietzsche, NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[32], KSA 13, S. 492. 168 Grundlegend zu diesem Begriff: Karl Löwith: Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen. 3., erw. Aufl. Hamburg 1978; Heidegger: Nietzsche. Erster Band. In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 6.1, S. 225 – 423; Bernd Magnus: Nietzsche’s Existential Imperative. Bloomington 1978; Kaulbach: Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, S. 116 – 130 u. S. 174 – 185; Günter Abel: Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr. Berlin/New York 21998 (hierzu: Volker Gerhardt: Gipfel der Internität. Zu Günter Abels Interpretation der ewigen Wiederkunft. In: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 444 – 466); Wolfgang Müller-Lauter: Über Freiheit und Chaos. Nietzsche-Interpretationen II. Berlin/New York 1999, S. 227 – 349. 169 Heidegger: Nietzsche. Erster Band. In: Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 6.1, S. 249.

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die überhaupt erreicht werden kann“;170 im Nachlass ist für eine Abhandlung der Titel „Das tragische Zeitalter: Lehre von der ewigen Wiederkunft“ notiert,171 und mehrfach werden dort als „G e g e n s t ü c k “ und „Gegenbild“ zum Nihilismus die „Wiederkünftigen“ aufgerufen.172 Abermals ist allerdings die einfache Opposition des ,Gegen‘ verkürzend. Dies zeigt sich bereits in der Art und Weise, in der Nietzsche den Gedanken der ,Ewigen Wiederkehr‘ erstmals im fünften Buch der Frçhlichen Wissenschaft exponiert, nämlich als das „ g r ö s s t e S c h w e r g e w i c h t “.173 Schon hier ist die Wiederkehr als Aufgabe eingeführt: als die Aufgabe, angesichts des Gedankens, dass alles wiederkehrt, nicht der Verzweiflung und Resignation zu verfallen, sondern sich von ihm in der Weise „verwandeln und vielleicht zermalmen“ zu lassen, dass eben diese Wiederkehr die „ewige[n] Bestätigung und Besiegelung“ bedeutet.174 Die ,Ewige Wiederkunft‘ ist in dieser Perspektive nicht als solche die höchste Form der Bejahung, sondern muss erst in Bejahung verwandelt werden. Im „Lenzer Heide“-Fragment wird dieser Zusammenhang noch klarer und zugleich drastischer formuliert. Nietzsche nennt das „Umsonst!“ des Nihilismus als den „ l ä h m e n d s t e [ n ] G e d a n k e n “ und fährt fort: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: „die ewige Wiederkehr“. Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das „Sinnlose“) ewig!175

Die ,Ewige Wiederkunft‘ ist – wenigstens in der hier gegebenen Formulierung176 – selbst der extremste Nihilismus, die vollendete Ziellosig170 Nietzsche, EH Z 1, KSA 6, S. 335. 171 Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[95], KSA 12, S. 388. 172 Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[169], KSA 13, S. 355; NL Frühjahr-Sommer 1888, 16[51], KSA 13, S. 503. 173 Nietzsche, FW 341, KSA 3, S. 570. 174 Nietzsche, FW 341, KSA 3, S. 570. 175 Nietzsche, NL Sommer 1886-Herbst 1887, 5[71], KSA 12, S. 213. Vgl. hierzu Werner Stegmaier: Nietzsches ,Genealogie der Moral‘. Darmstadt 1994, S. 50 f. sowie Sommer: Gott – Nihilismus – Skepsis, S. 23 – 25. 176 Am „Lenzer Heide“-Fragment lässt sich einmal mehr ablesen, wie Nietzsche zentrale Begriffe seines Denkens in unterschiedlichen Kontexten je neu bestimmt und nuanciert. Weder ist hier der ,extremste‘ Nihilismus mit den oben zitierten Fragmenten aus dem Herbst 1887 bedeutungsgleich, noch wird der Gedanke der ,Ewigen Wiederkehr‘ in seiner affirmativen Bedeutung aufgerufen – was schon durch die Anführungszeichen angezeigt ist. Dass aber Nietzsche hier diese Begriffe engführt, ist in jedem Fall für beide Phänomene aufschlussreich.

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keit, und gerade darin die höchste Aufgabe der Bejahung. Der Grundgedanke der späten ,Philosophie des Tragischen‘, dass ein Sinn und Wert in absoluter Bedeutung oder, wie es bei Nietzsche oftmals heißt, ein Wert ,an sich‘ nicht gegeben ist und gerade diese Einsicht bejaht werden muss – dieser Gedanke findet in der ,Ewigen Wiederkunft‘ als Ineinandergreifen von Nihilismus und Affirmation seine gedrängteste Formulierung. Nicht umsonst heißt es auch im Nachlass, die ,Ewige Wiederkunft‘ sei zugleich die „Vollendung“ und die „ K r i s i s “ des Nihilismus.177 In tragischer Perspektive ist die ,Ewige Wiederkunft‘ nicht kosmologische Hypothese, sondern Prfstein der tragischen Bejahung im Angesicht des Fehlens eines letzten Sinns und Zwecks und mithin der Wendepunkt des Nihilismus.

V. Die ,Philosophie des Tragischen‘ im frühen und späten Werk Vor dem Hintergrund der Zusammengehörigkeit von Nihilismus und tragischer ,Überwindung‘ zeigt sich das Verhältnis von früher und später ,Philosophie des Tragischen‘178 als ein doppeltes. Einerseits kehrt der Grundgedanke der Geburt der Tragçdie im Spätwerk wieder, nach dem das Tragische als Bejahung und nicht, mit Schopenhauer, als Hinleitung zu Resignation und Willensverneinung zu fassen sei; im Gegenteil liegt gerade die Bedeutung des Tragischen im frühen wie im späten Werk darin, einem drohenden Nein ein Ja entgegenzusetzen. Darin wird eine weitere Parallele zwischen frühem und spätem Werk sichtbar: Das Tragische ist nur darin tragisch, dass es auf ein ,Element‘ des Nichtigen bezogen bleibt und dieses in sich einschließt. Ohne Schmerz und ,Zerstörung‘ als Gegenhalt ist weder in der Frühphilosophie noch im Spätwerk das Tragische zu denken. Die entscheidende Differenz aber zeigt sich andererseits in der Art und Weise, wie Bejahung und Nichtigkeit jeweils zusammengehören: Das Tragische in der Geburt der Tragçdie setzt bei einem ,metaphysischen‘ Grundzustand der Welt an, der in der pessimistischen ,Weisheit des Silen‘ ausgesprochen ist; gerade diese Negativität zu ,überwinden‘ ist die spe177 Nietzsche, NL Herbst 1887, 8[1], KSA 12, S. 339. Vgl. zum Zusammenhang von Wiederkehr und Tragischem auch Djuric´ : Nietzsches tragischer Gedanke, S. 183 u. S. 203 f. 178 Vgl. hierzu Peter Köster: Die Renaissance des Tragischen. In: Nietzsche-Studien 1 (1972), S. 185 – 209; Eckhard Heftrich: Die Geburt der Tragödie. Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie? In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 103 – 126.

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zifische ,Funktion‘ der apollinischen Verklärung im Schein wie auch des ,metaphysischen Trosts‘ im Dionysischen. Davon unterscheidet sich der tragische Gedanke im Spätwerk in zweifacher Hinsicht fundamental: Das Negative, gegen das zunächst das Tragische aufgerufen wird, ist wesentlich geschichtlich – und nicht ,metaphysische‘ Grundstruktur dessen, was ist; der drohende Nihilismus des ,Umsonst‘ ist von der ,Entwertung der alten Werte‘ her zu verstehen und bildet eine geschichtliche Formation im Abklang der abendländisch-christlichen Moral und Weltsicht. Grundlegender noch ist der zweite Unterschied: Im Spätwerk ist es gerade die Einsicht, dass von einer wahren Welt nicht ausgegangen werden kann, die die tragische Affirmation nicht nur fordert, sondern sich ihr auch unhintergehbar einschreibt. Es ist keineswegs von bloß beiherspielender Bedeutung, dass der im Frühwerk tragenden Schicht von ,Ur-Einem‘, Erlösung im Schein und ,metaphysischem Trost‘ in der späten Konzeption des Tragischen keine Bedeutung mehr zukommt. Es ist vielmehr eben die Fragwürdigkeit der im Hintergrund des Frühwerks stehenden Distinktion von ,wahrer‘ und ,scheinbarer‘ Welt, die das movens des Tragischen im Spätwerk ausmacht. Mithin gehört die Geburt der Tragçdie bei aller Wertschätzung, die ihr rückblickend zuteil wird, jener Weltsicht zu, die Nietzsche – vorbereitet durch die kritische Philosophie des mittleren Werks – in der Konzeption des ,extremsten Nihilismus‘ verabschiedet. Wenn Nietzsche im späten Nachlass sagt, der „TragischErkennende[n]“ blicke in den „furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins“,179 so ist eben diese Fragwürdigkeit im Frühwerk und im Spätwerk klar voneinander zu unterscheiden: Hier die Fragwürdigkeit eines Daseins, dass seinem Wesen nach Leiden, Zufall, Schicksal und Unvernunft ist – dort eine Fragwürdigkeit, die darin liegt, dass sich zu einer Aussage über das Wesen des Daseins nicht mehr durchdringen lässt. Die ,Wiederkehr‘ des Tragischen im Spätwerk ist also keineswegs eine bloße ,Wiederaufnahme‘, sondern eine Verwandlung im Ganzen: Sie tauscht nicht einfach die Elemente des Tragischen im Frühwerk aus und ersetzt sie durch andere, sie entfaltet vielmehr auf einer methodisch gänzlich gewandelten, durch das mittlere Werk vorbereiteten Grundlage einen wesentlich neuen Gedanken des Tragischen. Wenn daher Nietzsche in der Gçtzen-Dmmerung gegen Aristoteles’ Deutung der Tragödie einwendet, diese ziele nicht auf die Entladung von „Mitleid und Schrecken“, sondern darauf, „die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – 179 Nietzsche, NL Mai-Juni 1888, 17[3], KSA 13, S. 521. Vgl. auch die parallele Stelle über den tragischen Künstler in GD, Vernunft 6, KSA 6, S. 79.

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jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst“, und meint, sich mit dieser Einsicht „auf den Boden zurück“ zu stellen, von dem er „einstmals ausgieng“ – nämlich auf den der Geburt der Tragçdie als „erste[r] Umwerthung aller Werthe“180 – so trifft dies die Sache nur zur Hälfte: Zweifelsohne ist der Gedanke der tragischen Bejahung im Frühwerk vorgeprägt – gerade der Boden aber, auf dem sie wiederkehrt, ist verwandelt. Trotz dieses Unterschieds im Ganzen lassen sich Verbindungslinien zwischen der frühen und der späten Philosophie des Tragischen nachweisen, die über die grundlegende Gemeinsamkeit einer affirmativen Auffassung des Tragischen hinausgehen. Im Detail zeigen sich dabei geradezu verblüffende Parallelen. So nimmt etwa eine Aufzeichnung aus dem Nachlass von 1872 – also noch in zeitlich unmittelbarer Nähe zur Geburt der Tragçdie – schon den Gedanken der ,tragischen Erkenntnis‘ im Angesicht eines Niedergangs tradierter Wahrheiten vorweg, der erst im mittleren und späten Werk leitend wird. Unter dem Titel „ D e r P h i l o s o p h d e r t r a g i s c h e n E r k e n n t n i ß “ notiert Nietzsche in nuce schon die Pointe seiner späten ,Philosophie des Tragischen‘: Er bändigt den entfesselten Wissenstrieb, nicht durch eine neue Metaphysik. Er stellt keinen neuen Glauben auf. Er empfindet den w e g g e z o g e n e n B o d e n d e r M e t a p h y s i k t r a g i s c h und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. […] Hier ist ein Begriff zu s c h a f f e n : denn Skepsis ist nicht das Ziel. Der Erkenntnißtrieb, an seine Grenzen gelangt, wendet sich gegen sich selbst, um nun zur K r i t i k d e s W i s s e n s zu schreiten. […] Man muß selbst die I l l u s i o n w o l l e n – darin liegt das Tragische.181

Auch in der Geburt der Tragçdie selbst lassen sich motivische Vorwegnahmen der späten Philosophie aufweisen. So ist dort etwa der Gedanke eines Wechselspiels von Wertschöpfung und Wertvernichtung vorgeprägt, wenn Nietzsche in – bekanntlich höchst eigenwilliger – Anknüpfung an Heraklit von einem „spielende[n] Aufbauen und Zertrümmern“ spricht.182 Und die Formel, mit der Nietzsche den 180 Nietzsche, GD Alten 5, KSA 6, S. 160. 181 Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, 19[35], KSA 7, S. 427 f. Vgl. hierzu und zur ,Abstoßung‘ vom Frühwerk schon 1872/73 Volker Gerhardt: Von der ästhetischen Metaphysik zur Physiologie der Kunst. In: Nietzsche-Studien 13 (1984), S. 374 – 393, bes. S. 379 – 381. 182 Nietzsche, GT 24, KSA 1, S. 153. Vgl. hierzu Jackson P. Hershbell/Stephen A. Nimis: Nietzsche and Heraclitus. In: Nietzsche-Studien 8 (1979), S. 17 – 38; Tilman Borsche: Nietzsches Erfindung der Vorsokratiker. In: Josef Simon (Hg.):

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aischyleischen Prometheus zusammenfasst, könnte auch für den Gedanken einer tragischen Wertsetzung in der Spätphilosophie, für den Zusammenklang von ,trotzdem‘, da capo und amor fati einstehen: „Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt.“183

Nietzsche und die philosophische Tradition. Würzburg 1985, Bd. 1, S. 62 – 87 sowie Figal: Nietzsche, S. 97 – 100. 183 Nietzsche, GT 9, KSA 1, S. 71.

Ein Begriff des Tragischen „zum Hausbedarf“. Julius Bahnsen schreibt an Friedrich Nietzsche Domenico M. Fazio Im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt sich aus dem Stamm des schopenhauerschen Denkens und im Rahmen dessen, was im weitesten Sinne als seine „Schule“ bezeichnet worden ist,1 neben der grandiosen von Friedrich Nietzsche erarbeiteten Konzeption des Tragischen das, was Julius Bahnsen als einen Begriff des Tragischen für den „Hausbedarf“ bezeichnet hat. Wer aber war Julius Bahnsen? „Der Mensch ist nur ein sich bewußtes Nichts.“ Mit diesen Worten aus einem Manuskript von 1847, also weit vor seiner Kenntnis des schopenhauerschen Gedankenguts, verleiht der siebzehnjährige Julius Bahnsen seiner fundamentalen Intuition, die er im Laufe seines gesamten philosophischen Schaffens zu entwickeln versuchen wird, eine Form.2 Die entscheidenden Momente seiner Jugend hat Bahnsen selbst in wenigen Sätzen in einer kurzen, auf 1878 zurückgehenden autobiographischen Notiz zusammengefasst, die zu seinen postumen Schriften gehört: Julius Bahnsen – von nordfriesischer Heerkunft – geb. am 30. März 1830 zu Tondern im Herzogthum Schleswig. Der frühe Verlust der Mutter trug dazu bei, daß er sich für sein ganzes Leben des unersetzlichen Werthes der Mitwirkung des Weibes an der Geistes- und Herzensbildung bewußt blieb. Seinem Vater, der in seiner Stellung als Vorsteher des Volksschullehrerseminars das Ansehen eines verdienstvollen Pädagogen genoß, verdankt er die nachhaltigste Anregung ebenso zu freisinniger wie selbstbewußter Prüfung der aus der Außenwelt aufgenommenen Eindrücke und im Wesentlichen auch die Grundlage seines Wissens in allen Lehrgegenständen.3

Bahnsen, der inmitten der kulturellen Atmosphäre der Debatte zwischen protestantischer Orthodoxie und liberalem Rationalismus, zu dem sein 1 2 3

Vgl. Fabio Ciracì u. a. (Hg.): Schopenhauer und die Schopenhauer-Schule. Würzburg 2008. Heinz-Joachim Heydorn: Julius Bahnsen. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte der modernen Existenz. Göttingen/Frankfurt a.M. 1952, S. 61. Ebd., S. 32.

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Vater neigte, aufgewachsen war, war bereits vor seiner Einschreibung an der Universität mit den Texten der bedeutendsten Vertreter der hegelianischen Linken vertraut, deren Spur seine erste philosophische Bildung folgt. Die Autoren seiner frühen Jugendzeit, in der er sich als vertieft „in die radicalsten der radicalen Velleitäten“4 bezeichnet, sind David Strauss, die Brüder Bruno und Edgar Bauer, Friedrich Christian Baur und vor allem Ludwig Feuerbach, der „größte[n] und liebste[n] Lehrer“.5 Auf 1847 geht, wie schon erwähnt, die fundamentale Intuition Bahnsens nihilistischer Vision der Welt zurück: „[A]m 10. März 1847 […] war, als ich sinnend in meinem kleinen düstern Stübchen neben dem Ofen sass, der nihilistische Kerngedanke all meiner spätern Anschauungen in plötzlicher Intuition mir vors Bewusstsein getreten.“6 Im Jahr 1848 schrieb sich Bahnsen an der Universität zu Kiel ein, um dort Philosophie zu studieren, im darauf folgenden Jahr unterbrach er allerdings sein Studium, um als Freiwilliger im Namen seiner deutschen Herkunft an dem Volksaufstand gegen Dänemark teil zu nehmen, das Schleswig-Holstein annektieren wollte. Nach dem Scheitern des Aufstands nahm er 1851 das Studium diesmal in Tübingen wieder auf, „ein mehr oder minder freiwilliges Exil“.7 Eben dort, möglicherweise 1853, hörte er zum ersten Mal von Schopenhauer, und zwar durch seinen Professor Jakob Friedrich Reiff. Immer noch in Tübingen berief sich Bahnsen in seiner Dissertation in Ästhetik, die er noch in demselben Jahr vor Friedrich Vischer verteidigte, zum ersten Mal auf eine schopenhauersche Lehre – die Doktrin des Mitleids: Die Versuche, die Ethik auf der Theorie des Mitleids aufzuerbauen, sind nicht die schlechtesten, um eine wahre Immanenz des Sittlichen festzuhalten, – und wir sehen also hier wieder, wie das ästhetische und ethische Gefühl zwei von einer gemeinsamen Wurzel, der einheitlichen Seele, auslaufende Richtungen der Bezogenheit des Individuums auf Objekte außer ihm sind.8

4 5 6 7 8

Julius Bahnsen: Wie ich wurde was ich ward. Hg. v. Rudolf Louis. München/ Leipzig 1905, S. 19. Heydorn: Julius Bahnsen, S. 61. Bahnsen: Wie ich wurde was ich ward, S. 20. Ebd., S. 50. Heydorn: Julius Bahnsen, S. 76. An Bahnsens Dissertation mit dem Titel Versuch die Lehre von den drei sthetischen Grundformen genetisch zu gliedern nach den Voraussetzungen der naturwissenschaftlichen Psychologie, die unveröffentlicht geblieben ist, knüpft die aus systematischer Sicht reifere und ca. 25 Jahre später veröffentlichte Arbeit über den Begriff des Tragischen an: Julius Bahnsen: Das Tra-

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In dieser Art der philosophischen Autobiographie, das postume Werk Wie ich wurde was ich ward, hat Bahnsen in dem Kapitel mit der Überschrift Die Stunde bei Schopenhauer über seine Entdeckung der Philosophie Schopenhauers und seine persönliche Bekanntschaft mit dem Philosophen berichtet und zwar in Worten, die den „epochemachenden Ereignisse[n]“9 angemessen sind. Wie so viele andere Anhänger Schopenhauers, hat auch Bahnsen eine Erleuchtung und eine Bekehrung erlebt. Er gibt an, Schopenhauer, „den ich von da an als meinen Meister verehrt und bekannt habe“,10 im Sommer 1856 persönlich kennen gelernt zu haben. Nach Beendigung des Gesprächs hatte Schopenhauer ihn mit den Worten des heiligen Augustinus: „Utinam fiat, ut completus sit numerus sanctorum“, verabschiedet, und ihn auf diese Weise implizit als zu dem Kreis seiner Apostel zugehörig anerkannt: Ich zog von dannen mit dem Bewusstsein, nicht nur einen Genius des Denkens, sondern auch einen Charakter echtester Erhabenheit von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Wie ein treuer Sohn sich gelobt, nichts eines grossen Vaters Unwürdiges sich zu schulden kommen zu lassen, wie ein begeistert gläubiger Confirmand mit einem vom soeben empfangenen religiösen Weihesegen gehobenen Herzen vom Altar der ersten Communion zurücktritt, getränkt mit dem heiligen Vorsatz, hinfort nichts zu tun, womit er ,solch Wein und Brot unwürdig empfahe‘, dass er ,sich nicht selber zum Gericht esse und trinke‘, – so fühlte ich mich wie in ein neues Dasein entrückt, – der Seligkeit des Nirwana zustrebend. Franz von Assisi und die anderen Helden der Askese waren meine Ideale geworden […], so wollte ich mich dabei jetzt nur vergewissern, Fortschritte zu machen in der ,Ertötung des Fleisches‘.11

Daraufhin vertiefte Bahnsen sein „Studium jeder Zeile, deren ich aus der Feder des Meisters habhaft werden konnte“, so sehr, dass, während eines zweiten Besuchs bei Schopenhauer im darauf folgenden Jahr, „der Meister im Bescheidwissen in seinen Werken mich dem einzigen Frauenstädt verglich“.12 Aber trotz seines Einsatzes in apostolischen Aktivitäten, die in der Planung bestanden, in Hamburg Konferenzen über Schopenhauer abzuhalten und eine Zeitschrift mit dem alleinigen Ziel der Diskussion

9 10 11 12

gische als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen. Lauenburg 1877 (neu hg. u. eingl. v. Anselm Ruest. Leipzig 1931). Julius Bahnsen: Wie ich wurde was ich ward, S. 45. Ebd. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48.

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seiner Philosophie zu gründen, und trotz seines begonnenen Briefwechsels mit dem Meister, kann man nicht sagen, dass Bahnsen jemals ein Schüler Schopenhauers im engeren Sinne, oder ein „Apostel“ oder „Evangelist“ war, wie Schopenhauer die Mitglieder des Kreises, den er als seine Schule betrachtete, nannte. Vielmehr muss Bahnsen als autonomer Nachfolger Schopenhauers angesehen werden. Dies wurde bereits deutlich mit der Publikation seines ersten wichtigen philosophischen Werkes im Jahr 1867: die Beitrge zur Charakterologie. 13 Diese umfangreiche Schrift Bahnsens erscheint als eine „Phänomenologie des Willens“,14 oder als Studie über grundlegende Typen individueller Charaktere, die in der Kindererziehung anzuwenden ist. Als Analyse der Persönlichkeit geht die Untersuchung auf die Psychologie und Anthropologie zurück, aber wie jede andere philosophische Disziplin kann sie nicht darauf verzichten, sich auf ein metaphysisches Fundament zu stützen. Ein solches metaphysisches Fundament ist schon zu Beginn der Einfhrung von Bahnsen angesprochen worden, wenn er Folgendes klarstellt: „Indem also die hier gelieferten Beiträge auf dem von Arthur Schopenhauer gelegten Fundamente Fuß fassen, setzen dieselben im ganzen eine Bekanntschaft mit dessen Lehre und Ausdrucksweise voraus.“15 In der Tat spricht man, nach Bahnsen, wenn vom individuellen Charakter die Rede ist, über das Problem „vom lebendigen Verhältniß zwischen Wille und Motiv“.16 Der Lehre Schopenhauers gemäß, erfolgt angesichts eines bestimmten individuellen, angeborenen Charakters oder einer determinierten Form, in der sich der Wille objektiviert, und angesichts determinierter Motive, die Handlung notwendigerweise: Es gibt demnach keinen Ort für Freiheit und Verantwortung. Und in Anbetracht seines Angeborenseins besteht nicht einmal die Möglichkeit, den Charakter durch die Erziehung zu verändern. Schopenhauers Prämissen nach zu urteilen, müsste eine Charakterologie folglich ausschließlich im deskriptiven Sinne verstanden werden, und ihr wäre jegliche Möglichkeit der Anwendung auf den pädagogi13 Vgl. Julius Bahnsen: Beiträge zur Charakterologie. Mit besonderer Berücksichtigung pädagogischer Fragen. 2 Bde. Leipzig 1867 (neu hg. u. eingl. v. Johannes Rudert. Leipzig 1932). 14 Bahnsen: Beiträge zur Charakterologie, Bd. 1, S. 1. 15 Ebd., S. 1 f. 16 Ebd., S. 2.

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schen Bereich versperrt. Bahnsen hingegen, der nach dem Hochschulabschluss den Lehrerberuf in der Stadt Lauenburg in Pommern ergriffen hat, liegen auch die möglichen praktischen Auswirkungen seiner Untersuchung sehr am Herzen. Aus diesem Grund bemüht er sich, in dem langen und zentralen Kapitel des ersten Bandes seines Werkes mit dem Titel Die Imputabilittsfrage und das Modificabilittsproblem zu beweisen, dass gerade die von Schopenhauer festgelegten Prämissen, wenn man sie kohärent weiterentwickelt, der Behauptung zustimmen, dass der Charakter modifizierbar ist. Tatsächlich muss Schopenhauer selbst zugeben, dass wir nicht wissen „wie tief, im Wesen an sich der Welt, die Wurzeln der Individualität gehen“,17 und diese und andere derartige Eingeständnisse seinerseits „mildern“ nach Bahnsen „endlich auch die Schroffheit bei Leugnung jeder Perfectibilität“.18 Die Perfektionierung des Charakters allerdings – welche Bahnsen mit einer „Wiedergeburt“ vergleicht – kann nie von außen gestaltet werden und ist einzig als „Product der Selbsterziehung“19 zu verstehen. Daraus entspringt eine antiautoritäre Konzeption der Pädagogik, die vor allem anstrebt, das Positive im Charakter eines jeden zur Geltung zu bringen, da „die erziehende Seite jedes Unterrichts im ,Anregen‘ besteht“.20 Die Beitrge zur Charakterologie brachten Bahnsen die Wertschätzung einer einflussreichen Persönlichkeit der deutschen Kultur jener Zeit ein, nämlich die Eduard von Hartmanns, der nach der Publikation seiner Philosophie des Unbewußten, erschienen 1869, plötzlich zum modernsten Philosophen in ganz Deutschland geworden war. Hartmann schreibt, dass Bahnsen als „das einzige Talent der Schopenhauer’schen Schule“21 angesehen werden müsse, und zwischen den beiden im Namen Schopenhauers vereinten Denkern entstand ein Verhältnis der Freundschaft und Zusammenarbeit.

17 Schopenhauer, Werke (L), W II, Kap. 50, S. 745 (Schopenhauer wird zitiert nach: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden. Hg v. Ludger Lütkehaus nach den Ausgaben letzter Hand. Zürich 1988). Vgl. Bahnsen: Beiträge zur Charakterologie, Bd. 1, S. 202. 18 Ebd., S. 203. 19 Ebd., S. 205. 20 Ebd., S. 215. 21 Eduard von Hartmann: Neukantianismus, Schopenhauerismus und Hegelianismus in ihrer Stellung zu den philosophischen Aufgaben der Gegenwart. Berlin 1877, S. 13.

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So diskutiert Bahnsen 1870 die Philosophie des Unbewußten vom Standpunkt der Charakterologie in der kleinen Schrift Zum Verhltniss zwischen Wille und Motiv 22 aus, in der er umreißt, wie sich seine historische Position gegenüber Schopenhauer verhält: Ergänzend, erläuternd und vielfach apologetisch ausführend gedenken wir uns zu Schopenhauer zu verhalten, und das schönste Ziel würden wir als erreicht betrachten, sollte es uns gelingen, zu Schopenhauer das Verhältnis einzunehmen, welches er Kanten gegenüber eingenommen hat. Indem wir uns bemühen werden, Lücken auszufüllen, werden sich von selbst durchgreifende Veränderungen auch in Anlage des Gesamtsystems ergeben.23

1871 rezensierte Bahnsen noch einmal befürwortend das Hauptwerk Hartmanns in der berlinischen National-Zeitung 24 und nannte, als Ausdruck der Verbundenheit, seinen dritten Sohn Arthur Eduard Hartmann. Die Freundschaft zwischen Bahnsen und Hartmann endete abrupt, als letzterer eine anonyme Selbstwiderlegung der Philosophie des Unbewußten in darwinistischer Hinsicht, mit dem Titel Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie 25 veröffentlichte. Bahnsen verurteilte dies als ein „anonyme[s] Doppelspiel“26 und übersandte Hartmann einen polemischen Aufsatz mit dem Titel Das Unbewusste und kein Ende, 27 der den Bruch beschloss: „[D]er diplomatisch mit dem Pessimismus transigierende E. v. Hartmann [schnappte] uns ehrlicher gebliebenen Jüngern den Erfolg vor der Nase weg.“28 In dem Kapitel Die Stunde bei Schopenhauer seiner Autobiographie gibt Bahnsen seine geistige Entwicklung jener Jahre in folgenden Worten wieder: Erst in der Polemik, erst an der Seite von, später gegen E. v. Hartmann erstarkte meine Zuversicht, bis ich allmählich vorbehaltslos mich zu einer 22 Vgl. Julius Bahnsen: Zum Verhältniss zwischen Wille und Motiv. Eine metaphysische Voruntersuchung zur Charakterologie. Lauenburg 1870. 23 Heydorn: Julius Bahnsen, S. 85 f. 24 Vgl. Julius Bahnsen: Rezension zu Eduard von Hartmann: Philosophie des Unbewußten. Zweite vermehrte Auflage. In: National-Zeitung, Nr. 359, 04. 08. 1871, S. [1 f.]. 25 Vgl. [Eduard von Hartmann]: Das Unbewußte vom Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie. Berlin 1872. 26 Bahnsen: Wie ich wurde was ich ward, S. 73. 27 Der Aufsatz gegen Hartmann ist daraufhin in der kleinen, anonym erschienenen Schrift [Julius Bahnsen]: Landläufige Philosophie und landflüchtige Wahrheit. Unprivilegierte Forderung eines Nicht-Subventionierten. Leipzig 1876 veröffentlicht worden. 28 Bahnsen: Wie ich wurde was ich ward, S. 115.

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individualistischen Realdialektik als meinem eigenen System bekannte, nachdem ich mir lange genug hatte sagen lassen, es sei nicht nur zu bescheiden, sondern auch sachlich incorrect, mich immer nur noch als blossen Anhänger Schopenhauers einzuführen. Jetzt nennt man mich wohl noch seinen Schüler, auch mal Jünger – aber nicht bloss Apostel, sondern – die Freundlichstgesinnten – auch schon Fortführer und Vollender.29

Bahnsen präsentierte 1877 den kleinen Band mit dem Titel Das Tragische als Weltgesetz und der Humor als sthetische Gestalt des Metaphysischen als einen „Ausschnitt aus meiner ,Realdialektik‘“.30 Mit seiner Schrift intendierte Bahnsen, die bestehenden Unterschiede seiner eigenen ästhetischen Konzeption der Realdialektik und der Ästhetik seines alten Meisters an der Universität Tübingen, Friedrich Theodor Vischer, hervor zu heben, der in seiner Bestrebung, die Ästhetik Hegels und Schellings fortzusetzen und zu vervollständigen, in seiner sthetik oder Wissenschaft des Schçnen im Schönen das Mittel zur Überwindung der Widersprüche der Realität und zur Versöhnung des Menschen und der Welt gesehen hatte.31 Tatsächlich setzt sich die Realdialektik das Ziel, „die phänomenalen Widerspruchsverhältnisse aus dem tiefsten Wesen der Dinge selber nicht blos verbaliter zu deduciren, sondern auch realiter abzuleiten“.32 Um dies zu realisieren, basiert die Realdialektik auf der metaphysischen Voraussetzung schopenhauerschen Ursprungs, dass die tiefste Essenz der Dinge der Wille ist, aber sie versteht ihn als selbstentzweit und in sich widersprüchlich. Es handelt sich, wie Bahnsen schreibt, um die „metaphysische[n] Realnegativität eines Willens, der ebensosehr will als nicht will“ und „Voluntas nolens und Noluntas volens in Einem ist“.33 Dieser Selbstwiderspruch des Willens ist – welcher, wie Bahnsen in seinem Hauptwerk Der Widerspruch schreiben wird, „will, was er nicht will, und nicht will, was er will“34 – das metaphysische Fundament der Realdialektik und nicht der ewig wollende Wille Schopenhauers. Und da die Selbstkontradiktion des Willens real ist und nicht ideal, sogar den unmodifizierbaren metaphysischen Kern der Realität bildet, besteht 29 Ebd., S. 49. 30 Bahnsen: Das Tragische und der Humor, S. XXVIII. 31 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. 3 Bde. Leipzig 1846 – 1857. 32 Bahnsen: Das Tragische und der Humor, S. 1. 33 Ebd., S. 6. 34 Julius Bahnsen: Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt. Princip und Einzelbewährung der Realdialektik. 2 Bde. Berlin 1880 – 1882, Bd. 1, S. 53.

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weder jemals die Möglichkeit der Überwindung des Widerspruchs, noch der Versöhnung, oder der Erlösung. Daher ist in der Realdialektik, die sich als „die Wissenschaft vom realen Widerspruch“35 versteht, „die Anthitesis Alles […], indem Thesis und Synthesis für sie keine Bedeutung haben“.36 Laut Bahnsens These erscheint dies alles am deutlichsten in der Ästhetik: Wenn der Wille tatsächlich nicht darauf angewiesen wäre, sich selbst bezüglich seiner Selbstwidersprüchlichkeit zu belügen, wäre es nicht nötig, sich in die Erscheinung des Schönen zu flüchten, um dort, wie Schopenhauer behauptet, einen vorübergehenden Trost zu finden. So ist es doch überall der nämliche Wille: der im Schönen mittels seiner Grundeinheit über seine fundamentale Selbstentzweiung sich selber belügt, im Tragischen sich als Selbstentzweiten erkennt und im Humor die eigene Zweiheit wider sich selber kehrend und den Geist sieghaft wider das Gewollte stellend, sich über sich selbst erhebt […].37

„Nur Eines von Beidem thun können, wo man Beides will, ist das unerbittliche Gesetz der Wirklichkeit, das allen tragischen Monologen ihren Inhalt giebt.“38 Diese Situation des Selbstkonfliktes, in der der tragische Held sich unweigerlich wieder findet, hängt nicht mit einer Schwäche seines Charakters zusammen, auch kann sie nicht, wie es die christliche Lehre will, durch das Eingeständnis der Möglichkeit des moralischen Zweifels erklärt werden, noch hat sie ihren Ursprung in der Unfähigkeit, aus der Klarheit des kategorischen Imperativs zu schöpfen. All diese Erklärungen, die sich mit einer rein phänomenalen Betrachtung zufrieden geben, sind einseitig und oberflächlich. Das Tragische hingegen erfordert eine ethisch-metaphysische Erklärung. Tatsächlich enthüllt nach Bahnsen das „echt Tragische […] uns den Einblick in das geheimste Innere des Urewigen selber“:39 den Willen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die Selbstentzweiung des Willens des tragischen Helden als eine phänomenale Manifestierung und als künstlerischer Ausdruck des unüberwindlichen und unvereinbaren Widerspruchs, welcher der Essenz der Welt innewohnt, der Widersprüchlichkeit und der Unlogik des Willens, welcher ebenso will wie nicht will. „[G]rade dieser Ursprung ist es auch, was dem Tragischen 35 36 37 38 39

Ebd., S. 1. Bahnsen: Das Tragische und der Humor, S. 1. Ebd., S. 6. Ebd., S. 14. Ebd., S. 47.

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seinen Adel verleiht, ihm den Charakter der Erhabenheit giebt und es mit jener Majestät umkleidet.“40 Daher steuert der tragische Held, nach Bahnsen, unvermeidlich auf die Schwierigkeit und die Katastrophe zu: Und doch gäbe es gar keine Tragik, wenn nicht auch das Sterbliche als ein im Innersten Unzerstörbares sich empfände und die zarteste Blume im Garten der Menschheit erst recht den Eindruck erweckte, dazustehen als die Sichtbarkeit eines Etwas, über welches die phänomenale Vernichtung keine Gewalt hat. Diese allereinfachste Form des metaphysischen Widerspruchs: die zeitliche Scheinendlichkeit inmitten der überzeitlich wahren Unendlichkeit […].41

Am 22. Februar 1878 sandte Julius Bahnsen, „berufen […], unter dem Stern des heutigen – neunzigjährigen – Geburtstages unseres gemeinsamen Meisters Ihnen hiermit Waffenbrüderschaft anzutragen“,42 an Friedrich Nietzsche, also an den Verfasser der Geburt der Tragçdie, der Schopenhauer in der dritten Unzeitgemssen Betrachtung als einen „Lehrer[s] und Zuchtmeister[s], dessen ich mich zu rühmen habe“43 bezeichnet hatte, den folgenden Brief: Geehrter Herr! Ein Zufall hat es gefügt, daß ich grad’ erst in diesen Tagen zu einer genaueren Lektüre einiger Ihrer Schriften („Geb‹urt› der Trag‹ödie›“ „Unzeitgem‹äße› Betr‹achtungen› 1 und 3“) gelangt bin, nachdem ich […] mit großem Nachdruck auf die – in der That […] buchstäbliche – Übereinstimmung hingewiesen worden war, in welcher sich einige unserer beiderseitigen Grundanschauungen begegnen. Ganz unbekannt waren Ihre Bestrebungen mir freilich schon früher nicht geblieben; und schon vor bald zwei Jahren habe ich öffentlich Zeugniß abgelegt für Ihre Bekämpfung des Bildungsphilisters, obgleich ich mich zu Ihrer engeren Fassung des CulturBegriffs nicht ganz bekennen kann – vielleicht infolge eines individuellen Mangels, durch welchen mir das Organ für spezifisch musikalische Auffassung versagt geblieben. Das trug dazu bei, mich Ihrer Darstellung der „Tragödie“ fern zu halten, zumal mir in dieser Abgelegenheit Aufführungen Wagner’scher Musik unerreichbar sind. Also schon insofern muß ich, wenn ich nicht allen Verständnisses fürs Tragische mich begeben will, zu meinem Hausbedarf sozusagen, nach einem anderen Begriff des Tragischen mich umsehen und fasse denselben, wie meine Festschrift zum Tübinger Universitäts-Jubiläum zeigt, mehr metaphysisch, oder wenn Sie wollen: praktisch, als ausschließlich ästhetisch und kunsthistorisch. Allein trotz solcher fundamentalen Abweichungen bleiben, glaube ich, zwischen uns doch der

40 41 42 43

Ebd., S. 48. Ebd., S. 55. Julius Bahnsen an Nietzsche, 22. 02. 1878, Bf. 1034, KGB II/6, 2, S. 804. Nietzsche, UB III, KSA 1, S. 341.

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Berührungspunkte genug, ja wirklicher Coincidenzpunkte principieller Auffasungen.44

In der Geburt der Tragçdie, in Gestalt einer historisch-philologischen Hypothese über den Ursprung der griechischen Tragödie, hatte Nietzsche in Wirklichkeit eine Art ästhetische Utopie der Reform der deutschen Kultur unter der Ägide der Philosophie Schopenhauers und der Musik Richard Wagners präsentiert. Die Tragödie, deren ursprüngliches Element durch die Musik geschaffen wird, ist für Nietzsche „die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen“.45 Die zwei antithetischen Impulse, die, indem sie sich für kurze Zeit vereinigen, „durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ,Willens‘, […] das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen“,46 werden von Nietzsche mit einer expliziten Berufung auf die Welt als Wille und Vorstellung beschrieben. Das Apollinische ist „das herrliche Götterbild des principii individuationis“,47 die Welt der schönen Erscheinung – welche sich in der plastischen Kunst und im poetischen Text des tragischen Werkes äußert –, strukturiert auf dem Fundament der apriorischen Formen des Raumes, der Zeit und der Kausalität: mit einem Wort, die Welt der Erscheinung. Das Dionysische ist hingegen das „Zerbrechen des principii individuationis“48 – das sich in der Tragödie durch die Musik Ausdruck verschafft – welches über den „Schleier der Maja“49 der Erscheinung hinaus erlaubt, die metaphysische Essenz der Realität, die Welt als Wille, zu erkennen. Nietzsche schreibt, indem er sich auf Schopenhauer bezieht: 44 45 46 47

Bahnsen an Nietzsche, 22. 02. 1878, Bf. 1034, KGB II/6, 2, S. 803. Nietzsche, GT 8, KSA 1, S. 62. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 25 f. Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche verweist explizit in Bezug dazu auf Schopenhauer, Werke (L), W I, § 63, S. 457: „Denn, wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wasserberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt voll Quaalen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis, oder die Weise wie das Individuum die Dinge erkennt, als Erscheinung.“ 48 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28. Nietzsche schreibt: „An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure G r a u s e n geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird“ (Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 28). 49 Nietzsche, GT 1, KSA 1, S. 29.

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Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der großen Denker in dem Maaße offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle.50

Aus der Unterscheidung von Wille und Erscheinung lässt Nietzsche dennoch Konsequenzen hervorgehen, die ihn merklich von Schopenhauer distanzieren. Anstatt den Akzent auf das beschränkte und irrationale Wesen des Willens zu legen, der bei Schopenhauer das metaphysische Fundament des Pessimismus bildet, unterstreicht Nietzsche vielmehr die Charakteristik der ewigen Produktivität, Einheit und Unteilbarkeit. Der Wille ist für Nietzsche demzufolge als unstillbarer und unerschöpflicher Wille des Lebens zu verstehen. Und während der Wille unaufhörlich den ewigen Triumph des Lebens feiert, erweist sich das Schicksal des Schmerzes und des Todes, das nicht nur den Helden der Tragödie, sondern allen Individuen zu Teil wird, lediglich als eine reine Erscheinung. Der Pessimismus Schopenhauers kann so von Nietzsche in eine tragisch-dionysische Vision des Lebens umgekehrt und umgewandelt werden: Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren: ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das e i n e Lebendige, mit dessen Zeugungsverlust wir verschmolzen sind.51 50 Nietzsche, GT 16, KSA 1, S. 103 f. 51 Nietzsche, GT 17, KSA 1, S. 109.

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Auf diese Weise ist „das Dasein und die Welt“ in der attischen Tragödie, wie Nietzsche mit einer Akzentuierung, die nicht mehr nach Schopenhauer klingt, schreibt, „nur als a e s t h e t i s c h e s P h ä n o m e n […] e w i g g e r e c h t f e r t i g t “.52 Die Kurzlebigkeit der großen Zeit der tragischen Kunst des antiken Griechenlands erklärt Nietzsche mit der Oberhand, die der Text oder auch das apollinische Element gegenüber der Musik, bzw. dem ursprünglichen dionysischen Element gewonnen hat: ein Prozess, der mit Euripides anfängt und seine wahren Protagonisten in Sokrates und in seiner „optimistische[n] Dialektik“ hat, welche „mit der Geissel ihrer Syllogismen die M u s i k aus der Tragödie“ treibt: „d. h. sie zerstört das Wesen der Tragödie“.53 Die Bedingungen der deutschen Kultur zu jener Zeit jedoch, und hier findet sich auch das wahre, der Schrift Nietzsches zu Grunde liegende Motiv, lassen mit Sicherheit die Voraussetzungen einer Wiedergeburt der tragischen Kunst erkennen, in der Nation, die sich für den Erben des klassischen Griechentums hält: Deutschland. Diese Voraussetzungen bilden für Nietzsche die deutsche Philosophie, die mit Kant und Schopenhauer den dialektischen Optimismus der sokratischen Kultur zu besiegen wusste, und die deutsche Musik, der mit dem Wort- und Ton-Drama Wagners das Wunder gelungen ist, das antike Gleichgewicht von Musik und Text, vom dionysischen und apollinischen Element wieder herzustellen: [W]elche Hoffnungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien d e n u m g e k e h r t e n P r o z e s s , d a s a l l m ä h l i c h e E r w a c h e n d e s d i o n y s i s c h e n G e i s t e s in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen! […] Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, d i e d e u t s c h e M u s i k , wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. […] Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste d e r d e u t s c h e n P h i l o s o p h i e , durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste d i o n y s i s c h e 52 Nietzsche, GT 5, KSA 1, S. 47. 53 Nietzsche, GT 14, KSA 1, S. 95.

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W e i s h e i t bezeichnen können: wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwischen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können?54

Die geschichtlich philologische Hypothese über den Ursprung der griechischen Tragödie aus der Sicht Nietzsches, des Philologen, Philosophen, Dichters und Musikers zugleich, mündet so in die Großartigkeit der utopischen Vision. Welche „Coincidenzpunkte“ bestehen nun möglicherweise zwischen Nietzsches genialer und üppiger Konzeption des Tragischen, die dazu in der Lage war, den traditionellen Begriff der Klassizität selbst zu modifizieren, und der von Bahnsen umrissenen Interpretation der Tragödie „zum Hausbedarf“? In Die Welt als Wille und Vorstellung schreibt Schopenhauer, dass die Tragödie „der Widerstreit des Willens mit sich selbst“ ist, und dass seine wahre Bedeutung „die tiefere Einsicht“ ist, „daß was der Held abbüßt nicht seine Patrikularsünden sind, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseyns selbst“.55 Aus dieser Sicht erscheint die von Bahnsen erarbeitete Konzeption des Tragischen zum Hausbedarf, der gemäß das Tragische der Ausdruck der Widersprüchlichkeit des Willens ist, sicherlich der Lehre Schopenhauers getreuer als dessen freie Aufarbeitung, wie sie Nietzsche in der Geburt der Tragçdie vollzieht. Beide, sowohl Nietzsche als auch Bahnsen, weisen in schopenhauerscher Manier dem Tragischen die Fähigkeit zu, aus der phänomenalen Welt hinaus zu führen, indem es die noumenische Essenz der Realität entschleiert. Die Übereinstimmungen enden allerdings hier: Während für Nietzsche diese Entschleierung tatsächlich das Mittel der ästhetischen Überwindung des Pessimismus ist, stellt sie für Bahnsen hingegen einen unwiderlegbaren Beweis zu Gunsten einer Konzeption der Welt dar, die so sehr unüberwindbar und trostlos pessimistisch ist, dass sie als „desperate[r] Miserabilismus“56 bezeichnet werden kann. Von diesem Standpunkt aus endet Julius Bahnsens Konzeption des „Tragischen zum Hausbedarf“ paradoxerweise, auch ohne den großartigen Apparat der Musik und des Textes, des Orchesters und der Sänger, 54 Nietzsche, GT 19, KSA 1, S. 127 f. 55 Schopenhauer, Werke (L), W I, § 51, S. 335 f. 56 Eduard von Hartmann: Die Schopenhauer’sche Schule. In: ders.: Philosophische Fragen der Gegenwart. Leipzig/Berlin 1885, S. 38 – 56, hier S. 48.

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des Theaters und des Orchesterraums mit radikaleren Resultaten als die von Friedrich Nietzsche ersehnte ästhetische Utopie. Dennoch geschieht es im Namen des gemeinsamen schopenhauerschen Glaubens und „in dem Bewußtsein gemeinsamen Strebens“ die „Leistungen unserer Schule“57 zu fördern, dass Bahnsen sich an Nietzsche wandte, indem er sich anbot, ihm die eigenen Schriften zu senden, vor allem aber mit der recht offensichtlichen Hoffnung auf seine Hilfe bei der Veröffentlichung seines Hauptwerkes, Der Widerspruch, für das er weder einen Herausgeber noch eine philosophische Zeitschrift finden konnte, die daraus wenigstens einen Auszug aufgenommen hätte. Man weiß nicht, ob Nietzsche, der bereits 1867 die Beitrge zur Charakterologie 58 gelesen und gewürdigt hatte, und der 1868 geplant hatte „unsre philosophischen Freunde“ zu versammeln, indem er sich mit Bahnsen und Julius Frauenstädt, dem „Protagonist[en] des Kultus“59 in Kontakt gesetzt hatte, auf den Brief von Bahnsen geantwortet hätte. Es ist sehr unwahrscheinlich, da jener Brief zu spät eintraf. Im Jahre 1878 hatte Nietzsche bereits mit Menschliches, Allzumenschliches seine Wende im aufklärerischen Sinne vollzogen, indem er seine künstlerische, von Schopenhauer und Wagner inspirierte Metaphysik verwarf.

57 Bahnsen an Nietzsche, 22. 02. 1878., Bf. 1034, KGB II/6, 2, S. 805. 58 Vgl. Nietzsche an Carl von Gersdorff, 1. 12. 1867, Bf. 554, KGB I/2, S. 238 f. 59 Nietzsche an von Gersdorff, 16. 02. 1868, Bf. 562, KGB I/2, S. 258.

Die Dichtung der Wahrheit. Nietzsches tragische Weltansicht im Kontext seiner Sprachauffassung Mirko Wischke Was bedeutet tragisch für Nietzsche? Auf diese Frage zu antworten ist auf verschiedene Weise denkbar: Zum einen bietet sich die Möglichkeit an, das Tragische als die Folge eines Pessimismus der Strke zu betrachten; zum anderen die Möglichkeit, im Tragischen die Konsequenz einer Deutung der Welt in der Perspektive einer Ontologie des Werdens zu erblicken; und drittens schließlich ist die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass das Tragische als Ausdruck der Trauer angesichts der Unabwendbarkeit der Illusion und der Lüge anzusehen ist.1 Um eine Antwort auf die Ausgangsfrage zu finden, konzentriert sich der erste Teil meiner Darlegungen auf Nietzsches Verständnis von Wahrheit, wie es sich in den 1870er Jahren herausformt; der zweite Teil meiner Ausführungen gilt Nietzsches Auffassung von Sprache; im dritten Teil schließlich geht es mir darum, wie man sich die Tätigkeit des philosophischen Sprachschöpfers vorstellen soll, die Nietzsche in den 1880er Jahren intensiv beschäftigt. Wie meine Darlegungen zeigen sollen, ist die Frage nach Nietzsches Verständnis vom Tragischen im Kontext seiner Sprachauffassung nicht zu trennen von der Erörterung der Gefahr des Nihilismus.

1

Als die Wirkung eines machtvollen, starken Eindrucks, mehr noch aber des Konflikts innerhalb der Werte und deren Trägern erscheint das Tragische bei Max Scheler: Zum Phänomen des Tragischen. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Der Abhandlungen und Aufsätze zweite durchgesehen Auflage. Leipzig 1919, Bd. 1, S. 237 – 270, hier S. 242.

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I. Laut Nietzsche gibt es „nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn… Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt… W i r h a b e n L ü g e n ö t h i g , um über diese Realität, diese ,Wahrheit‘ zum Sieg zu kommen das heißt, um zu l e b e n “.2 Wahrheit ist ihrem Wesen nach ihre eigene Negation, nämlich Irrtum (ein Wähnen, ein Wahn):3 Die Wahrheit ist eine Art von Irrtum, ohne die der Mensch nicht leben könnte. Laut Nietzsche gibt es zum Irrtum, zum Wahn keine Alternative: Das Sein ist „als ein Nichtsein, das sich als Sein präsentiert“, d. h. „als Schein, zu interpretieren“.4 Der Schein, oder wie Nietzsche auch sagt: der Irrtum und der Wahn, ist die Bedingung der Möglichkeit des Lebens, da es zum Irrtum, Wahn und Schein keine Alternative gibt. Die unwirkliche Welt des Irrtums ist […] nicht eine vom Menschen ausgedachte Fiktion sondern die reale Welt der lebendigen Wesen. Alle lebendigen Wesen überhaupt existieren nur durch den Glauben an Beharrendes, das heißt durch ihr Streben nach der organisierenden Einheit […]. Aber das, wonach sie streben, hat niemals ein Sein. Sie existieren also nur kraft des Irrtums.5

Daraus folgt, dass die Lüge einerseits eine absichtsvolle Täuschung ist, da sie einen Sachverhalt so darstellt und schildert, wie er in Wirklichkeit nicht ist. In diesem Sinne ist die Lüge ständig mit der Möglichkeit konfrontiert, durchschaut zu werden; die Wahrheit bricht immer wieder durch die Lüge hindurch. Andererseits ist die Lüge keine absichtsvolle Täuschung, da Nietzsche ihre Notwendigkeit und Unentbehrlichkeit betont: eine instinktive Selbsttäuschung, die durchsichtig genug ist, um uns daran zu erinnern, dass das, was wir als Wirklichkeit nehmen, ein zerbrechliches Gewebe von Illusionen ist. Was aber sind Illusionen anderes als Unwahrheiten, Erfindungen, Entstellen und Fälschungen, d. h. Lügen? Genauer: eine Lüge (im außermoralischen Sinne), die weniger von der Täuschung über Wahres, als vielmehr von der Ungewissheit

2 3 4 5

Nietzsche, NL November 1887-März 1888, 11[415], KSA 13, S. 193. Vgl. Georg Picht: Nietzsche. In: ders.: Vorlesungen und Schriften. Studienausgabe. Hg. v. Constanze Eisenbart in Zusammenarbeit mit Enno Rudolph. Stuttgart 21993, Bd. 6, S. 244. Ebd., S. 251. Ebd.

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getragen ist, wie es in Wahrheit um den vorgetragenen Sachverhalt oder das dargestellte Ding eigentlich bestellt ist. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens ist auf die eingangs gestellte Frage zu antworten: Das Tragische besteht darin, sich bewusst zu sein, in einer Scheinwelt, einer Welt der Illusion und Lüge zu leben, immerfort über einen Abgrund der Selbsttäuschung schwebend, ohne in Resignation zu verfallen. Insofern ist das Tragische, wie Lore Hühn in ihrem Beitrag im vorliegenden Band betont, eine Grenzerfahrung6 – aber eben nicht nur. Denn bei der Erfahrung einer Grenzsituation wird der erschütternde Blick in den Abgrund der Täuschung und des Wahns menschlichen Daseins durch den „Pessimismus der S t ä r k e “7 kompensiert: eines Pessimismus des lachenden Frohsinns und der gelassenen Heiterkeit angesichts der Unabwendbarkeit der Lüge und des Wahns. Diese Art des Pessimismus wendet sich gegen den ,romantischen Pessimismus‘, den Nietzsche von der Sehnsucht nach Erlösung charakterisiert sieht. Den in der Tradition christlicher Lebensverneinung stehenden ,romantischen Pessimismus‘ kritisiert Nietzsche, weil dieser Gestalt von Pessimismus die schöpferische Kraft fehle, die notwendig sei, um nicht in Resignation zu verfallen und auf diese Weise dem Nihilismus zu erliegen. Der lebensverneinenden Haltung des ,romantischen Pessimismus‘ stellt Nietzsche den dionysischen Pessimismus bzw. den ,Pessimismus der Stärke‘ entgegen: einen Pessimismus, der vom Wissen getragen ist, dass die menschliche Kultur und Zivilisation ein zerbrechliches Gewebe von Illusionen ist, die notwendig und daher ohne Alternative sind, um im Angesicht einer Welt zu leben, in der nicht allein nur Absurdität, Sinnlosigkeit und Grausamkeit herrschen, sondern auch letztlich all das, was wir an der Welt als wahr nehmen, sprachliche Bezeichnungen der Dinge, nicht aber die Dinge selbst sind. Daraus folgt, dass das, was die Erkenntnis zu ergründen trachtet, das Resultat der gestaltenden und dichtenden Kraft des Menschen und somit eine Illusion ist.8 Im platonischen Gedanken einer ,wahren‘ Welt offenbart sich für Nietzsche die Projektion einer dem Werden und der Vergänglichkeit entzogenen Welt; der metaphysische Wille zur Wahrheit ist laut Nietzsche letztlich 6 7 8

Vgl. hierzu in diesem Band den Beitrag von Lore Hühn: Tragik und Dialektik. Zur Genese einer Grundkonstellation nihilistischer Daseinsdeutung. Nietzsche, GT Versuch 1, KSA 1, S. 12. Vgl. Nietzsche, NL Frühjahr 1884, 25[505], KSA 11, S. 146.

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nichts anderes als eine „Form des Willens zur Illusion“.9 Eine solche Illusion ist der metaphysische Trost, an dem der Pessimist festhält, auch wenn sein lachender Frohsinn davon zeugt, dass er die Lügenhaftigkeit und Wahnhaftigkeit einer solchen Illusion zu durchschauen vermag. Die angesichts der Einsicht in die Illusion den Pessimisten überkommende, mit Schauder vermischte Lust, wie sie sich im Lachen Bahn bricht, kennt keine Trauer angesichts der Unabwendbarkeit der Destruktion der Fiktion einer ,Welt des Bleibenden‘: Ihr solltet […] l a c h e n lernen, [empfiehlt Nietzsche seinen imaginären Freunden], wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt; vielleicht dass ihr darauf hin, […] irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt […].10

Tragisch wäre ein solcher Pessimist zu nennen, den Nietzsche als Pessimisten der Stärke charakterisiert, insofern sein Lachen über den illusionären Glauben an eine ,Welt des Bleibenden‘ mit der Einsicht ringt, dass die Lüge, d. h. die Täuschung und der Wahn unabdingbar für das Leben in einer Welt sind, für die die Vergänglichkeit und das Werden charakteristisch sind.11 Der ,Pessimismus der Stärke‘ verleiht dem Denken sowohl eine tragische Prägung als auch befreiende Perspektive: tragisch, weil vom Bewusstsein durchzogen, in einer Scheinwelt, einer Welt der Illusion zu leben, ohne wie der ,romantische Pessimismus‘ in Resignation zu verfallen; befreiend, weil der erschütternde Blick in den Abgrund der Täuschung und des Scheins mit dem Wissen gekoppelt ist, dass das Fälschende und Täuschende eine notwendige Voraussetzung menschlichen Lebens ist. Dass das Bewusstsein der Unabwendbarkeit des Scheins mit einer gelassenen Heiterkeit, einer „Kunst des d i e s s e i t i g e n Trostes“ vereinbar ist, die keiner „metaphysische[n] Trösterei“ bedarf,12 ermöglicht die Einsicht, dass weder Schein noch Wahrheit etwas ist, „was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, d a s z u s c h a f f e n i s t “, d. h. „ein processus in infinitum, ein a k t i v e s B e s t i m m e n , n i c h t ein Bewußtwerden von etwas, ,an sich‘ fest und bestimmt wäre“.13 Im ,Pessimismus der Stärke‘ findet Nietzsche zusammen mit seiner Auffassung von der Kunst als einer ,Artisten-Metaphysik‘ nicht allein die 9 10 11 12 13

Nietzsche, NL Frühjahr 1888, 14[24], KSA 13, S. 229. Nietzsche, GT Versuch 7, KSA 1, S. 22. Vgl. Nietzsche, NL Sommer 1872-Anfang 1873, 19[104], KSA 7, S. 453. Nietzsche, GT Versuch 7, KSA 1, S. 22. Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[91], KSA 12, S. 385.

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konzeptionelle Kraft, die es ihm erlaubt, sich vom Einfluss Schopenhauers und seiner „Lehre von der R e s i g n a t i o n als tragische Weltbetrachtung“ zu befreien.14 Der ,Pessimismus der Stärke‘ ist für Nietzsche auch insofern von Bedeutung, als er darin einen konzeptionellen Weg erblickt, Pessimismus und Nihilismus ins Verhältnis zu setzen. Ist der ,Pessimismus der Stärke‘ Ausdruck des Standhaltens gegen das Wahnbild einer ,bleibenden Welt‘ und der Bejahung der Selbsttäuschung des Menschen über die wahre Natur dieser Welt, kann das Tragische nicht seine Folge sein. Die Folge des ,Pessimismus der Stärke‘ ist ein abgedämpfter Nihilismus. Ebenso wenig ist das Tragische das Werk bzw. die Folge einer ,Deutung‘ der Welt; sonst wäre tragisch bei Nietzsche gleichbedeutend mit jenem ethischen Pessimismus, den er bei Schopenhauer kritisiert. Vielmehr scheint das Tragische bei Nietzsche ausgelöst zu sein durch die Wirkung eines machtvollen Eindrucks: den der Unabwendbarkeit einer Vernichtung, einer Vernichtung ohne Trost, und zwar den der Wahrheit als Wert(schätzung). Diese Antwort auf die Ausgangsfrage ist nicht unproblematisch, legt sie doch den Grundstein für ein Verständnis des Tragischen als Nihilismus Die nihilistische Beurteilung der überlieferten Einheit von Wahrheit, Sein und Wert ergibt sich notwendig, wenn man an Wahrheit, Sein und Wert festhält, im Wissen um ihre Illusionarität. Dafür spricht, dass der Mensch darauf angewiesen ist, in einer ,Welt‘, d. h. in einer Einheit von Bezügen zu leben, selbst wenn ihm nicht länger mehr die Welt, in der er leben kann, vorgegeben ist. Der Schein der etablierten und sich als ,ewig‘ ausgebenden Ordnungsgefüge, die als Gehäuse des wachsenden Lebens dienen, sind jedoch zu destruieren, genauer gesagt: zu depotenzieren, gerade weil das Leben auf solche Gehäuse angewiesen ist; ohne Ordnungsgefüge ist kein Leben möglich.15 Leben und Ordnungsgefüge sind in einem Verhältnis des Kontrastes aufeinander bezogen: dem der Bedrohtheit des Ordnungsgefüges des Bleibenden, auf das menschliches Leben angewiesen ist, durch die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen. Wie Nietzsche lehrt, ist das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, […] eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflusse am nächsten der

14 Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[110], KSA 12, S. 116. 15 Vgl. Picht: Nietzsche, S. 295.

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Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert.16

Indem der ,Pessimismus der Stärke‘ sich dieser Grenzerfahrung aussetzt, vollzieht er eine Hinwendung zum Abgrund der Selbsttäuschung. Nietzsches Formel vom ,Pessimismus der Stärke‘ deutet Georg Picht als die Einsicht, wonach erst durch die Erkenntnis des notwendigen Scheins das Denken „als ein Sich-Entwerfen in die Zukunft zu begreifen“ vermag.17 Daraus leite sich Nietzsches selbst gestellte Aufgabe ab: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens“.18 Nietzsche sehe den Prozess des Entwerfens des Scheins einer dauerhaften Welt unter der Perspektive des Künstlers. Diesem Interpretationsansatz von Picht ist darin zuzustimmen, dass das Problem, das dem ,Pessimismus der Stärke‘ zu Grunde liegt, nicht darin besteht, dass die Meinung des Menschen, die Dinge seien real und wirklich und folglich wahr, als ein Wahn zu destruieren ist; auch besteht das Problem nicht darin, dass ohne die Kraft dieses Wahns die Menschen nicht vermögen, die ihnen vorgegebene Welt als eine sinnvolle Einheit zu nehmen, die sinnvoll ist, weil eine vorfindliche Ordnung sich in ihr zu orientieren, d. h. zu leben erlaubt. Als problematisch erweist sich der Umstand, dass die Welt dem Menschen nicht vorgegeben ist, sondern eine ihm aufgegebene Ordnung ist, dessen Einheit er stets neu zu konstituieren hat.19 Die Frage ist, wie diese Aufgabe mit der von Nietzsche formulierten „Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“ zu setzen ist.20 Festzuhalten ist zunächst, dass das Wissen um den Irrtum den Irrtum nicht aufhebt, sondern zu einer neuen, kunstvollen Formung der dem Menschen aufgegebenen Ordnung seines Daseins verpflichtet. Diesen Aspekt betont Nietzsche mit der Formulierung, dass die „Lüge […] die Menschenfreundlichkeit des Erkennenden“ ist,21 wobei die Menschenfreundlichkeit nicht in einem moralischen Sinne zu verstehen ist. Auch für den Erkennenden wäre die „Einsicht in den Wahn und Irrthum […] gar nicht auszuhalten“ und unerträglich,22 wenn es ihm nicht möglich 16 17 18 19 20 21 22

Ebd., S. 247. Ebd., S. 278. Nietzsche, GT Versuch 2, KSA 1, S. 14 [i. Orig. Herv.]. Vgl. Picht: Nietzsche, S. 248. Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464. Nietzsche, NL Sommer-Herbst 1882, 2[34], KSA 10, S. 49. Nietzsche, FW 107, KSA 3, S. 464.

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wäre, kraft dieser Einsicht zu begreifen, dass die Welt dem Menschen nicht vorgegeben ist, sondern eine ihm aufgegebene Ordnung ist; und die Formung des menschlichen Daseins zu einem ,ästhetischen Phänomen‘, ohne die die Einsicht in den Wahn und Irrthum unerträglich sein würde, beschreibt nichts anderes als jene Formung der dem Menschen aufgegebenen Ordnung. Vor dem Hintergrund der Prämisse, dass die Einsicht in den Wahn und Irrtum eine Bedingung menschlichen Daseins ist, bedeutet Nietzsches These, dass die Wahrheit unter der Optik des Künstlers zu sehen sei, hingegen die Kunst unter der des Lebens, dass der Prozesscharakter der Wahrheit des Scheins nicht radikal genug begriffen ist, „wenn er nur auf das Für-sich-Werden dessen, was an sich schon vorgegeben ist, bezogen wird“.23 Wenn das menschliche Dasein ohne eine ,ästhetische‘, d. h. kunstvolle Umformung unerträglich wäre und die Wahrheit des Scheins nicht beschränkt auf das ist, was vorgegeben ist, sondern auf das, was erst zu schaffen ist, erhält Nietzsches Ansicht, dass die Wahrheit der (illusorische, d. h. lügenhafte) Schein ist, in dem die Gegenwart erscheint, einen programmatischen Charakter, der sich m. E. in seiner Auffassung von Sprache widerspiegelt: programmatisch, weil die Formung der dem Menschen aufgegebenen Ordnung seines Daseins auf die Sprache angewiesen ist. Eine Klärung über das, was Sprache zu leisten vermag und worin ihre Grenzen liegen, erlangt Nietzsche in der Abhandlung Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne: eine Abhandlung, in der Nietzsche offensichtlich Gedanken von Herder übernimmt und sich kritisch von Platon abhebt.

II. Wie am platonischen Sokrates zu lernen ist, gehört zum Begreifen der Welt die Verständigung, deren Medium die Sprache ist. Die Entdeckung der Sphäre sprachlicher Begriffe durch Sokrates legt diesen Zusammenhang frei: In der Sprache bringen wir unsere Erfahrungen für Andere zum Ausdruck, um sie für uns selbst begreifbar und auslegbar zu machen.24 Nietzsche teilt mit Platon die Ansicht von der elementaren Bedeutung der Sprache für das menschliche Selbst- und Weltverständnis, bezweifelt 23 Picht: Nietzsche, S. 294. 24 Vgl. Emil Angehrn: Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik. Weilerswist 2003, S. 25.

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jedoch, dass das Bedürfnis nach sprachlicher Verständigung frei von allen praktischen Zwecken ist.25 Die im platonischen Dialog Kratylos geführte Kontroverse, ob der Ursprung der sprachlichen Bezeichnungen einer Konvention, einer Setzung entstammt, oder einer natürlichen Ähnlichkeit mit den Dingen, ist für Nietzsche insofern gegenstandslos, als er davon ausgeht, dass Worte willkürlich festgelegte Konventionen, Erfindungen sind, die praktischen Zwecken dienen; insofern nämlich, als sie die Perspektive spiegeln, in der Menschen die Dinge wahrnehmen und für ihre Zwecke gebrauchen. Dass allein in der Sprache „das menschliche Innere seinen vollständigen, erschöpfenden und objektiv verständlichen Ausdruck“ findet,26 wie Dilthey betont, ist in der Perspektive Nietzsches eine präzisierungsbedürftige These. Unproblematisch erscheint unter der Prämisse Nietzsches die Annahme, dass in der Sprache der menschliche Intellekt sich instinktartig ein Medium erschafft, mittels dessen er Gedanken und Gefühle gegenüber anderen zum Ausdruck bringen kann. Sprachlich zum Ausdruck kommen Gedanken und Gefühle jedoch in Form von Bezeichnungen, d. h. laut Nietzsche in Form von Namen, die Konventionen entstammen, nicht aber eine wie auch immer bestimmbare Relation zwischen sprachlich Verlautbartem und dem Sachverhalt benennen, der zur Sprache kommen soll: Es ist ein sprachliches Bezeichnungssystem, das das Denken verwendet, wenn es sich auf die Welt bezieht. Sprachliche Bezeichnungen decken sich jedoch ebenso wenig mit den Dingen wie die Sprache der „adäquate Ausdruck aller Realitäten“ ist.27 Da keine Sprache „Sachen“ ausdrückt, wie auch Herder mit Nachdruck betont, und kein „wesentlicher Zusammenhang“ zwischen der Sprache und „der Sache selbst“ besteht,28 erfasst das Denken nicht die Sachen selbst (in unserem Fall Gefühle und Gedanken), sondern lediglich

25 Nietzsches Zweifel ist das Resultat der Annahme, dass das Wort und der Begriff gegenüber dem ,wirklich Vorhandenen‘ in mehrfacher Hinsicht versagen: weil sie fixieren, was im Werden ist, Ungleiches als gleich setzen und Ungleiches gleichsetzen. Vgl. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 880. 26 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Karlfried Gründer. Stuttgart/Göttingen 21957, Bd. 5, S. 317 – 338, hier S. 319. 27 Nietzsche, WL, KSA 1, S. 878. 28 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. In: ders.: Sprachphilosophische Schriften. Hg. v. Erich Heintel. Hamburg 1960, S. 161 – 179, hier S. 174.

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„Merkmale“ von Sachen, die „mit Worten bezeichnet“ werden.29 Sprache ist keine Widerspieglung der objektiven, wirklichen, wahren oder tatsächlichen Welt, sondern eine Verlautbarung unserer Beziehung zu den Dingen in Form von Metaphern. Das Vergessen der Metaphorizität der Sprache verleite zur Illusion, als habe Sprache einen direkten Bezug zur Wahrheit und zum Wesen der Dinge. Die Desillusionierung der Annahme, Sprache habe einen direkten Bezug zum Wesen der Dinge, ist nicht ohne Konsequenzen für die Bewertung der Leistungskraft des Denkens; insofern nämlich, als das Denken das, was es ergründen will, im Horizont des jeweiligen Sprachgebrauchs betrachtet, ohne sich dieser Abhängigkeit bzw. Perspektivität bewusst zu sein: Das Denken verfällt der Illusion, als eine bleibende Wirklichkeit der Dinge, d. h. als ein dauerhaftes Ordnungsgefüge zu nehmen, was lediglich sprachliche Benennungen, Metaphern an den Dingen zum Ausdruck bringt. Ist Sprache für den menschlichen Zugang zur Welt konstitutiv, ohne einen Bezug zur Wahrheit des wirklich Vorhandenen30 zu haben, so übermittelt und überträgt die Sprache keine wahrheitsfähigen Erkenntnisse, sondern lediglich ,Meinungen‘. Diese Folgerung, die Nietzsche in einer Vorlesungsnotiz über Rhetorik von 1872 zieht, ist die Konsequenz aus der Annahme, dass das Problem der Wahrheit in der Sprache irrelevant ist: Mit den Worten und der Sprache lässt sich das ,wirklich‘ Vorhandene nicht bezeichnen. Zwischen Meinung (doxa) und wahrheitsfähiger Erkenntnis (episteme) gibt es keine wählbare Alternative. Die Notlage, keinen Zugang zur Wahrheit und zum Wesen der Dinge zu haben, bewältigt der Mensch mit dem Schein, d. h. dem Spiegelbild menschlicher Meinungen. Nietzsches Formulierung vom „Leben im Schein als Ziel“31 ist vom Gedanken getragen, dass der Schein die Kunst des Menschen ist, mit seinem Mangel an Wahrheit fertig zu werden. Die Frage ist, ob diese Deutung in Nietzsches Sprachauffassung untergründig das Fundament für das legt, wovor im ersten Teil bei der ersten Annäherung an Nietzsches Verständnis des Tragischen ausdrücklich gewarnt worden war: Nihilismus. Nietzsche selbst scheint einer solchen Deutung entgegenzuarbeiten, und zwar mit einer Eintragung, die sich im Fragment Tagebuch des Nihilisten findet; darin heißt es: K a t a s t r o p h e : […] ob nicht der Werth aller Dinge darin beruht, daß sie falsch sind?… 29 Ebd., S. 173 [i. Orig. Herv.]. 30 Vgl. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 880. 31 Nietzsche, NL Ende 1870-April 1871, 7[156], KSA 7, S. 199.

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ob nicht die Verzweiflung bloß die Folge eines Glaubens an die G o t t h e i t d e r W a h r h e i t ist ob nicht gerade das L ü g e n und F a l s c h m a c h e n (Umfälschen) das SinnEinlegen ein Werth, ein Sinn, ein Zweck ist […].32

Die Bezeichnung der Lüge als das Einlegen eines Sinns in Dinge und Sachverhalte, den diese von sich aus gar nicht haben, ermöglicht zwei Folgerungen: Zum einen, dass wir die Unentbehrlichkeit und Unvermeidlichkeit der Lüge einsehen und auch wollen, wenn wir ihren spezifischen Lebenswert anerkennen;33 und zum anderen die Gefahr eines verzweifelten Fatalismus angesichts dessen, dass die Unwahrheit, in der wir leben, weder etwas Zufälliges noch Vorübergehendes und erst recht nicht etwas Überwindbares ist. Die Frage ist, ob der Nihilismus die einzige Konsequenz aus Nietzsches Sprachauffassung ist. Dieses Problem soll im letzten Abschnitt meiner Darlegungen vor dem Hintergrund der Frage erörtert werden, inwiefern die Umwertung der Werte, von der Nietzsche behauptet, sie sei die Aufgabe des Philosophen, eine Leistung ist, die der, dem diese Umwertung zufällt, allein mit Hilfe der Sprache gerecht zu werden vermag.

III. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts integriert Nietzsche in seine pessimistisch-tragische Diagnose menschlichen Daseins die Figur des Philosophen als eines heiteren Schöpfers von Werten. Was aber ist von Wert? Laut Nietzsche sind es jene Wahrheiten, ohne die der Mensch nicht auskommt, obwohl sie aufgrund ihrer sprachlichen Fixierung fiktiv und illusionär sind. Wahrheit ist kein rezeptives Bewusstwerden von etwas, was an sich bestimmt wäre und daher nur aufzufinden oder zu entdecken ist, sondern etwas Geschaffenes, Erdachtes.34 Es ist die Aufgabe des Philosophen, in diesem Prozess aktiv mitzuwirken, und zwar in Form des Sprachschöpfers und Rhetorikers. Klar ist freilich nicht ganz, wie Nietzsche sich die Verteilung dieser Aufgabe denkt. Sprachbildung und Rhetorik fallen nicht zusammen, auch wenn Nietzsches Ausführungen zuweilen genau diesen Eindruck evozieren. 32 Nietzsche, NL November 1887-März 1889, 11[327], KSA 13, S. 139 f. 33 Vgl. Pavel Kouba: Die Welt nach Nietzsche. Eine philosophische Interpretation. München 2001, S. 163. 34 Vgl. Nietzsche, NL Sommer-Herbst 1884, 26[226], KSA 11, S. 209.

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Ist Sprache wie ein Wörterbuch verblasster Metaphern, die den „ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen“,35 und überträgt Sprache Metaphern der Dinge, in denen unsere Interpretationsleistungen sich spiegeln, so bedient der Philosoph sich der poetischkreativen Potenz und des Kunstwerk-Charakters der Sprache in zweifacher Weise: erstens, indem er in einem knstlerischen Akt eine Metapher schafft, mittels der sich Umwertungen in für andere Menschen wahrnehmbare Zeichen übertragen; und zweitens, indem er zu den Umwertungen kraft seiner rhetorischen Kompetenz Zustimmung bei anderen erlangt (oder nicht). Die Stärke dieses Ansatzes liegt primär eigentlich nicht in den Sprachschöpfungen schlechthin, sondern in einer besonderen sprachlichen Schöpfung: der des Namens und des mit dem Namen gegebenen Versprechens eines Umgangs mit zuvor Unbegriffenem. Darum geht es jedoch Nietzsches Sprachbildner nicht, fällt doch nicht der Name in die Aufgabe des Sprachbildners, sondern die Metapher. Der Anthropozentrismus der Sprache, auf den Nietzsche wiederholt verweist, besagt, dass der Mensch sich eine Vorstellung von der Welt mit der Sprache macht, die er dann als Meinung über die Welt ratifiziert, sobald er in der Sprache redet und denkt; für den menschlichen Zugang zur Welt ist die Sprache konstitutiv.36 Mit der Sprache ist der Mensch gleichsam vorgängig vertraut mit der Welt, d. h. nicht mit der Welt, wie sie ,objektiv‘, ,wirklich‘, ,wahr‘ oder ,tatsächlich‘ existiert, sondern der Welt, wie sie sich in den Ansichten, Meinungen widerspiegelt, die wir über die Welt in der Sprache angesammelt haben, und zwar in einer ganz bestimmten Weise: nämlich in der Weise, wie wir zu den Dingen stehen. Daraus folgt: Die Art, wie wir jeweils zu den Dingen stehen, tritt ins Bewusstsein, nicht jedoch die Dinge selbst. Insofern ist Sprache gleichsam die „Metamorphose der Welt in den Menschen“.37 Aus der Vertrautheit und Geborgenheit der Meinungen über die Welt, die der Mensch im Umgang mit der Sprache gewonnen hat, stört der philosophische Sprachbildner auf, und zwar mit Hilfe der Metapher. Der Sprachbildner gebraucht weder die „gültigen Bezeichnungen, die Worte, um das Unwirkliche als wirklich erscheinen zu machen“, noch missbraucht er „die festen Conventionen durch beliebige Vertauschun35 Nietzsche, WL, KSA 1, S. 879. 36 Vgl. dazu Josef Kopperschmidt: Nietzsches Entdeckung der Rhetorik. Rhetorik im Dienste der unreinen Vernunft. In: ders./Helmut Schanze (Hg.): Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“. München 1994, S. 39 – 62. 37 Nietzsche, WL, KSA 1, S. 883.

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gen oder gar Umkehrungen der Namen“.38 Aufgabe des Sprachschöpfers wie die „aller grossen Denker“ ist es, „Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein“:39 eine Tätigkeit, die auf das Erschaffen von Wertschätzungen zielt. Im Wissen darum, dass die Benennung der Dinge mögliche Welten und Bewusstseinsräume erschließt und die „Bezeichnung der Dinge durch das Wort“ festlegt, was „überhaupt als potentieller Besitz in den (allgemeinen) Blick kommen soll“,40 gibt der „Sprachbildner […] den Dingen eben [nicht] nur Bezeichnungen“41 vielmehr ist die „Entstehung der ,Dinge‘ […] ganz und gar das Werk der […] Denkenden, […] Erfindenden“,42 d. h. der Sprachbildner, mit denen Nietzsche die Tätigkeit der Philosophen gleichsetzt, die er als „Befehlende und Gesetzgeber“ bezeichnet, da ihr ,Erkennen‘ ein „ S c h a f f e n “ des Wertes von Dingen ist.43 Der Sprachbildner weiß um die „Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur“, die er darin erblickt, „eine eigene Welt neben die andere“ zu stellen, ohne dem Wahn zu verfallen, „in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben“.44 Auf diese Weise ist die Tätigkeit des Sprachbildners sowohl schöpferischer als auch zerstörender Natur: Da „Werthschätzungen […] nichts Genommenes, Gelerntes, Erfahrenes“, sondern etwas „ G e s c h a f f e n e s “ sind, muss der „Schöpfer“ in erster Linie „ein Vernichter sein“; „um dem neu-Geschaffenen Platz zu machen“, muss das „Geschaffene […] vernichtet werden“.45 Das Maß und den Wert der Dinge legen die jeweiligen Wertschätzungen fest, durch die der Mensch „Werthe […] in die Dinge“ legt. Die Umwertung der Werte vollzieht sich im „Wandel der Werthe“,46 die der Sprachschöpfer herbeiführt. Dieser Wandel ist kein einmaliger Akt, sondern vollzieht sich im Rhythmus des Zerstörens alter Schöpfungen und des Hervorbringens neuer Schöpfungen. Die Vorstellung, dass das Denken „bis in die tiefsten Abgründe des Seins“ vorzudringen vermag, muss Nietzsche als ein 38 Nietzsche, WL, KSA 1, S. 877 f. 39 Nietzsche, UB III, KSA 1, S. 360. 40 Erwin Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewußtseins. Berlin/New York 1999, S. 141. 41 Nietzsche, MA I, 11, KSA 2, S. 30 f. 42 Nietzsche, NL Herbst 1885-Herbst 1886, 2[152], KSA 12, S. 141. 43 Nietzsche, JGB 211, KSA 5, S. 145. 44 Nietzsche, MA I, 11, KSA 2, S. 30. 45 Nietzsche, NL November 1882-Februar 1883, 5[1]234, KSA 10, S. 214. 46 Nietzsche, Z I Ziele, KSA 4, S. 75.

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„Wahn“ erscheinen,47 geht er doch davon aus, dass die Wertschätzungen den jeweiligen Denkhorizont abstecken. Ein solcher Denkhorizont ist prinzipiell unabgeschlossen, und der Aphorismus ist die „Form des Denkens in unabgeschlossenen Horizonten“.48 Der Perspektivismus der Wertschätzungen, die Nietzsche auch mit Weltbildern vergleicht, die an die Stelle alter „Wahnvorstellungen“ treten sollen,49 ist für das Denken unhintergehbar. Die vom Sprachbildner geschaffenen Metaphern, in deren Bahnen sich der Perspektivismus der Wertschätzungen bewegt, verändern die in der Sprache vorgängig geleistete gemeinsame Interpretation von Welt, weil die Metapher primär gegenüber der allgemeinen Begriffsbildung ist: Das inhaltlich-anschauliche Moment der Metapher ist die Grundlage ihrer weiteren begrifflichen Extensionalisierung. Indem der Sprachbildner etwas Unbekanntes auf Bekanntes zurückführt, zum Beispiel mittels des Verfahrens der Genealogie, beginnt er insofern mit einer Umwertung, als er den Weg von der begrifflichen Externalisierung zurück zum anschaulichen Moment der (vergessenen) Metapher geht. Unterliegt die Sprache Veränderungen, ist die Vertrautheit mit der Welt, die die Sprache dem Menschen vermittelte, gestört. Wirken sprachliche Umwertungen verstörend, bedarf der Philosoph der Hilfe der Rhetorik, nicht um zu etwas zu überreden, wovon wir bessere Erkenntnisse haben, sondern um die umwertende Art, wie der Philosoph zu den Dingen steht, zustimmungsfähig und glaubhaft zu machen. Hat die umwertende Sichtweise auf Dinge und Sachverhalte bei anderen Menschen Zustimmung gefunden, hat dieser Bezug etwas überzeugendes, d. h. er ist plausibel. Der Prozesscharakter der auf diese Weise erfolgenden Umwertung ist ein fortschreitendes Aufheben alles dessen, was sich im Gang des Prozesses selbst stabilisiert, verfestigt und gleichsam gerinnt. Folgt aus der unhintergehbaren Perspektivität menschlicher Weltbezüge, dass unsere Existenzbedingungen uns vorschreiben, was wir wahrzunehmen vermögen und was nicht,50 so besteht die Aufgabe des Sprachbildners darin, durch die Benennung der Dinge mögliche Welten und Bewusstseinsräume zu erschließen. Deshalb behauptet Nietzsche, dass der Sprachbildner ein Gesetzgeber ist, da er durch die sprachliche Benennung festlegt, was 47 48 49 50

Nietzsche, GT 15, KSA 1, S. 99. Picht: Nietzsche, S. 56 [i. Orig. Herv.]. Nietzsche, NL Ende 1870, 6[12], KSA 7, S. 133. Vgl. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 884.

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überhaupt potentiell in den (allgemeinen) Blick kommen soll (und was nicht).51 In dieser Fähigkeit lässt er sich von der Notwendigkeit der Lüge und der wahnhaften Täuschung leiten. Die Einsicht in die Notwendigkeit eines konsequenten Getäuschtwerdens hebt die Täuschung bzw. Unwahrheit nicht auf; wir müssen bewusst mit der Unwahrheit leben, und das kleidet die Tätigkeit des Sprachschöpfers in das Gewand einer tragischen Trauer. Das tragische Trauern ist nicht die Folge der Unvermeidlichkeit des Verlustes der Wahrheit, sondern der Umwertung des Wertes der Wahrheit: Dem Verlangen nach einer „Welt des Bleibenden“, den der Wille zur Wahrheit ausdrückt,52 geht der „Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens“ voraus.53 Das Verlangen nach einer Welt des Bleibenden blendet das Werden aus; insofern zählt die Illusion, die Lüge und der Irrtum zu den Grundbedingungen menschlichen Lebens: „Das Werthschätzen […] i s t d a s L e b e n “, weshalb es sich als Akt von Wertschätzungen auch nicht „vernichten“ kann,54 was nicht bedeutet, dass gesetzte Wertschätzungen zerstört werden müssen, wenn sie nicht länger mehr eine Bedingung menschlichen Lebens sind. Die Lüge zu zerstören, hieße die Bedingung menschlichen Lebens in Frage zu stellen; Wertschätzungen zu vernichten, gehört hingegen zum „ L e b e n k ö n n e n der Werthschätzungen“.55 Daraus folgt: An die Stelle der Lüge eine andere beliebige Lüge zu setzen, ohne noch ihren Wert in Betracht zu ziehen, hieße die Position eines alternativlosen Nihilismus einzunehmen. Das ist laut Nietzsche nicht die Aufgabe des philosophischen Sprachbildners bzw. des mit und in der Sprache umwertenden Philosophen. Der philosophische Sprachbildner setzt sich als Umwerter von Wertschätzungen der Gefahr des Nihilismus aus, ohne ihr zu erliegen, vollzieht er doch in der Umwertung eine Hinwendung zum Abgrund der Selbsttäuschungen und eine Zuwendung zu neuen Selbsttäuschungen. Der Nihilismus ist eine denkbare Folgerung aus Nietzsches Sprachauffassung, jedoch nicht die einzig denkbare, auch wenn er in seinen Ausführungen zur Sprache mit dem Nihilismus spielt, und zwar dann, wenn es weniger um die Umwertung von Wertschätzungen, d. h. der Modifikation der Perspektive geht, unter der wir die Dinge und die Welt 51 52 53 54 55

Vgl. Schlimgen: Nietzsches Theorie des Bewußtseins, S. 141. Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[60], KSA 12, S. 365 [i. Orig. Herv.]. Nietzsche, NL Herbst 1887, 9[60], KSA 12, S. 365. Nietzsche, NL November 1882-Februar 1883, 5[1]234, KSA 10, S. 214. Nietzsche, NL November 1882-Februar 1883, 5[1]234, KSA 10, S. 214.

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wahrnehmen, als vielmehr um die Manipulation der Sprache in Form einer Rehabilitierung der Rhetorik. Die Hinwendung zum Abgrund der Selbsttäuschungen und die Zuwendung zu neueren Selbsttäuschungen machen aus Nietzsches Umwerter qua Sprachbildner einen Philosophen der tragischen Trauer, weiß dieser doch, dass „die Lüge nöthig ist, um zu leben“: eine Einsicht, die laut Nietzsche mit zum „furchtbaren und fragwürdigen Charakter“ menschlichen Daseins gehört,56 an dem der Umwerter qua Sprachbildner weder etwas ändern kann noch will.

56 Nietzsche, NL November 1887-März 1888, 11[415], KSA 13, S. 193. – Der Sprachbildner trägt Züge, wie sie Nietzsche in Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne bereits dem ,intuitiven‘ Menschen zuschreibt, der aufgrund seiner Fähigkeit, kunstvoll Metaphern (um)bilden zu können, sowohl ,Begriffsschranken‘ durchbricht als auch dem Nihilismus nicht hilflos ausgeliefert ist. Vgl. Nietzsche, WL, KSA 1, S. 889 f.

Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben I. Zitierweise der Werke Schopenhauers 1) Die Normalzitierung der von Schopenhauer selbst veröffentlichten Werke erfolgt nach: Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Arthur Hübscher. 7 Bände. Mannheim 41988 (= Werke). G

Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde (Werke I: Schriften zur Erkenntnislehre) F Ueber das Sehn und die Farben (Werke I: Schriften zur Erkenntnislehre) W I Die Welt als Wille und Vorstellung I (Werke II) W II Die Welt als Wille und Vorstellung II (Werke III) N Ueber den Willen in der Natur (Werke IV [I]) E Die Beiden Grundprobleme der Ethik (Werke IV [II]) I. Ueber die Freiheit des menschlichen Willens II. Ueber das Fundament der Moral P I Parerga und Paralipomena I (Werke V) P II Parerga und Paralipomena II (Werke VI) Wird nach einer anderen Ausgabe als der Hübschers zitiert, so ist diese Ausgabe in der ersten Fußnote vollständig ausgewiesen und im Folgenden durch ein eindeutiges Kürzel kenntlich gemacht: (Lç) für „Löhneysen“, (L) für „Lütkehaus“ und (ZA) für „Zürcher Ausgabe“; zudem sind neben der Seitenzahl die entsprechenden Kapitel bzw. Paragraphen angegeben. 2) Der Nachlass Schopenhauers wird zitiert nach: Arthur Schopenhauer: Der Handschriftliche Nachlaß. Hg. v. Arthur Hübscher. 5 Bände in 6. Frankfurt a.M. 1966 – 1975. Taschenausgabe (band- und seitengleich) München 1985 (= HN). HN I

Die frühen Manuskripte 1804 – 1808

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Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben

HN II HN III HN IV (1) HN IV (2) HN V

Kritische Auseinandersetzungen 1809 – 1818 Berliner Manuskripte 1818 – 1830 Die Manuskripte der Jahre 1830 – 1852 Letzte Manuskripte/Graciáns Handorakel Arthur Schopenhauers Randschriften zu Büchern

GBr.

Arthur Schopenhauer: Gesammelte Briefe. Hg. v. Arthur Hübscher. 2., verbesserte u. ergänzte Aufl. Bonn 1987. Arthur Schopenhauer: Gespräche. Hg. v. Arthur Hübscher. 2., stark erweiterte Aufl. Stuttgart 1971.

Gespr.

II. Zitierweise der Werke Schellings Die Werke Schellings werden zitiert nach den folgenden Ausgaben: AA Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayrischen Akademie der Wissenschaften hg. v. Hans M. Baumgartner/Wilhelm G. Jacobs/Hermann Krings. Stuttgart 1976 ff. SW Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Sämmtliche Werke. Hg. v. Karl Friedrich August Schelling. 14 Bände. Stuttgart 1856 – 1861.

III. Zitierweise der Werke Nietzsches 1) Die Werke Nietzsches werden zitiert nach den folgenden Ausgaben: BAW Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe: Werke. 5 Bände [Jugendschriften 1854 – 1869]. München 1933 – 1942. GOA Nietzsche’s Werke. 20 Bände. Leipzig 21899 – 1926 [GroßoktavAusgabe]. KGB Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari. Berlin/New York 1975 ff. KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Berlin/New York 1967 ff. KSA Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München/Berlin/New York 21988, 31999.

Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben

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2) Dabei finden folgende Siglen für Werke und Nachlass Verwendung: AC Der Antichrist CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern DD Dionysos-Dithyramben DW Die dionysische Weltanschauung EH Ecce homo FW Die fröhliche Wissenschaft GD Götzen-Dämmerung GM Zur Genealogie der Moral. GMD Das griechische Musikdrama GT Die Geburt der Tragödie JGB Jenseits von Gut und Böse MA I Menschliches, Allzumenschliches I MA II Menschliches, Allzumenschliches II M Morgenröthe MD Mahnruf an die Deutschen NCW Nietzsche contra Wagner NW Ein Neujahrswort NL Nachlass PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen SGT Sokrates und die griechische Tragoedie ST Sokrates und die Tragoedie UB Unzeitgemässe Betrachtungen. UB I David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller UB II Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben UB III Schopenhauer als Erzieher UB IV Richard Wagner in Bayreuth WA Der Fall Wagner WL Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Z Also sprach Zarathustra ZB Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

IV. Zitierweise der Werke Kants 1) Die Normalzitierung der Werke Kants erfolgt nach: AA Kant’s gesammelte Schriften, I. Abteilung: Werke (Bd. I-IX); II. Abteilung: Briefwechsel (Bd.X-XIII); III. Abteilung: Nachlaß (Bd. XIV-XXIII); IV. Abteilung: Vorlesungen (Bd. XXIV-XXIX). Hg.

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Verzeichnis der Siglen und Werkausgaben

v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900 ff. 2) Dabei werden folgende Siglen verwendet: KpV Kritik der praktischen Vernunft, AA V (A: 1. Aufl., 1788). KrV Kritik der reinen Vernunft, AA IV (A: 1. Aufl., 1781); AA III (B: 2. Aufl., 1787). KU Kritik der Urteilskraft, AA V (A: 1. Aufl., 1790; B: 2. Aufl., 1793). Log. Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Hg. v. Gottlob Benjamin Jäsche, AA IX. Prol. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, AA IV.

V. Zitierweise der Werke Hegels 1) Die Normalzitierung der Werke Hegels erfolgt nach: TWA Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845. Hg. v. Eva Modenhauer/Karl-Markus Michel. Frankfurt a.M. 1969 ff. 2) Dabei werden folgende Siglen verwendet: Enz. I/II/III Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften GuW Glauben und Wissen oder Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie NR Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften Phän. Phänomenologie des Geistes Rph Grundlinien der Philosophie des Rechts WdL Wissenschaft der Logik Ästh. I/II/III PhGesch PhRel I/II GeschPh I/II/III

Vorlesungen über die Ästhetik Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte Vorlesungen über die Philosophie der Religion Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Emil Angehrn, Promotion 1976 in Heidelberg; Habilitation 1983 an der Freien Universität Berlin. 1989 Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Seit 1991 Professor für Philosophie an der Universität Basel. 2000 – 2004 Mitglied des Forschungsrats des Schweizerischen Nationalfonds. Publikationen (u. a.): System und Freiheit bei Hegel (1977); Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos (1996); Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik – Platon – Aristoteles (2000); Interpretation und Dekonstruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik (2003); Die Frage nach dem Ursprung. Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik (2007); Wege des Verstehens. Hermeneutik und Geschichtsdenken (2008); Sinn und Nicht-Sinn. Das Verstehen des Menschen (2010). Damir Barbaric´, Promotion 1982; seit 1979 tätig am Institut für Philosophie an der Universität Zagreb; seit 1992 wissenschaftlicher Rat bzw. ordentl. Professor. 1992/93 Gastprofessor an der Universität Wien; 1994 Gastforscher an der Universität Tübingen; 2004 Gastprofessor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; 2005 Gastprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin; 2006 Gastforscher an der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Mitglied des Wiss. Beirats der Internationalen Schelling-Gesellschaft. Publikationen auf Deutsch (u. a.): Anblick Augenblick Blitz (1999); Der lebendige Spiegel des Unendlichen. In: Denkwege 3 (2004); Platon über das Gute und die Gerechtigkeit (Hg.) (2005); Das Spätwerk Martin Heideggers: Ereignis – Sage – Geviert (Hg.) (2007); Aneignung der Welt. Heidegger – Gadamer – Fink (2007). Domenico M. Fazio, ordentl. Professor für Geschichte der Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Salento (Lecce, Italien). Mitarbeiter des Kollegs Friedrich Nietzsche in Weimar und der Stiftung Weimarer Klassik für die Zusammenstellung der Weimarer NietzscheBibliographie. Leiter des Centro interdipartimentale di ricerca su Arthur Schopenhauer e la sua scuola der Universität Salento.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Publikationen (u. a.): Il caso Nietzsche. La cultura italiana di fronte a Nietzsche (1988); Nietzsche e il criticismo (1991); Giulio Cesare Vanini nella cultura filosofica tedesca del Sette e Ottocento. Da Brucker a Schopenhauer (1995); Paul Rée. Philosoph, Arzt, Philanthrop (2005, i. Orig. 2003), La scuola di Schopenhauer. I contesti (2009). Gnter Figal, Promotion 1976 in Heidelberg; Habilitation 1987. 1989 Professor für Philosophie in Tübingen; seit 2001 Lehrstuhl für Philosophie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Gastprofessuren u. a. in Aarhus, Nishinomiya/Osaka und Rom. Inhaber des Kardinal MercierLehrstuhls an der Katholischen Universität Leuven (2005/2006). 2008 Gadamer Distinguished Visiting Professor am Boston College. Herausgeber des „Internationalen Jahrbuchs für Hermeneutik“. Präsident der Martin-Heidegger-Gesellschaft. Publikationen (u. a.): Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit (1988, 3. Aufl. 2001); Sokrates (1995, 2. Aufl. 1998); Nietzsche. Eine philosophische Einführung (1999); Lebensverstricktheit und Abstandnahme. „Verhalten zu sich“ im Anschluß an Heidegger, Kierkegaard und Hegel (2001); Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie (2006); Verstehensfragen. Studien zur phänomenologischhermeneutischen Philosophie (2009); Zu Heidegger. Antworten und Fragen (2009); Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie (2010). Volker Gerhardt, Promotion 1974 in Münster; Habilitation 1984. 1985 Professor für Philosophie in Münster; 1992 Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vorsitzender der Nietzsche- und der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 2001 – 2007 Vizepräsident mit der Zuständigkeit für die Akademievorhaben; seit Juni 2001 Mitglied des Nationalen Ethikrats bzw. des Deutschen Ethikrats. Seit 2002 Mitherausgeber der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches (KGW); seit 2005 Mitglied der Kommission zur Herausgabe der Schriften von Schelling an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; seit 2008 Mitglied der Kommission zur Betreuung des Nietzsche-Kommentars an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Mitglied der Academia Scientiarum et Artium Europaea/Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste. Publikationen (u. a.): Vernunft und Interesse (1976); Pathos und Distanz (1989); Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (1995); Vom Willen zur Macht (1996); Selbstbestimmung. Das Prinzip der Indivi-

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dualität (1999); Individualität. Das Element der Welt (2000); Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität (2001); Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002); Die angeborene Würde des Menschen (2004); Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007). Anselm Haverkamp, Promotion 1975 in Heidelberg; Habilitation 1983 in Konstanz; 1996 – 2009 Lehrstuhlinhaber für Westeuropäische Literaturen an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder. Seit 1996 Direktor des Heinrich-von-Kleist-Instituts für Literatur und Politik. Seit 2009 Honorarprofessor für Philosophie an der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Zahlreiche Gastprofessuren u. a. an der Yale University, der École des Hautes Études en Sciences Sociales Paris, Universität Bergen, Norwegen, der Cardozo School of Law, New York. Seit 1996 Sprecher der DFG-Graduiertenkollegs „Repräsentation – Rhetorik – Wissen“ und „Lebensformen und Lebenswissen“. Mitherausgeber der Werke von Hans Blumenberg. Publikationen (u. a.): Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie (1991); Leaves of Mourning. Hölderlin’s Late Work (1996); Hamlet, Hypothek der Macht (2001); Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz (2002); Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg (2004); Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs (2007); Diesseits der Oder. Frankfurter Vorlesungen (2008); Begreifen im Bild. Methodische Annäherung an die Aktualität der Kunst (2009). Katia Hay, Studium der Philosophie und Literatur in Madrid, München, Paris und London. 2008 Promotion über Schelling und das Tragische an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Universität Sorbonne Paris-IV. 2008/2009 adjunct professor am Eugene Lang College der New School University in New York. Seit 2009 Post-docStipendium an der Universität Lissabon und Arbeit an einem Projekt über Nietzsche; Lehrbeauftragte an der Universität Freiburg. Mitbegründerin des NIL (Nietzsche International Lab) in Lissabon. Publikationen (u. a.): Als die Bilder denken lernten. Neues zur Filmtheorie. In: Philosophische Rundschau 56/2 (2009); Identität und Gewalt in Bergmans Persona. In: Kaliope. Zeitschrift für Literatur und Kunst 3 (2009); August Wilhelm Schlegel. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy, http://plato.stanford.edu/entries/schlegel-aw/; The Loss of the Absolute. In: C.J. Correia (Hg.): A Religião e o Ateísmo Contemporâneo (2009); Die unerwartete Harmonie. In: J. Halfwassen/M. Gabriel (Hg.): Philosophie und Religion (2010); Vom Bruno zu den Welt-

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altern. Die Rolle der Zeit für die Darstellung des Absoluten. In: M. Galland/L. Knatz (Hg.): Endlichkeit in Schellings Philosophie (2011). Klaus Heinrich, Promotion 1952; Habilitation 1964; emerit. Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Mitbegründer der Freien Universität Berlin 1948. Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2002. Publikationen (u. a.): Dahlemer Vorlesungen (9 Bde., 1981 – 2006); Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen (1964, 4. Aufl. 2002) Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte (1983); Anfangen mit Freud (Reden und kleine Schriften 1) (1997); Der Gesellschaft ein Bewußtsein ihrer selbst zu geben; Kinder der Nibelungen. Klaus Heinrich und Heiner Müller im Gespräch (2007); Der Staub und das Denken (Reden und kleine Schriften 4) (2009). Lore Hhn, Promotion 1992/93 in Berlin; Habilitation 2002/03; 1986 – 1999 Lehrbeauftragte und Wissenschaftliche Mitarbeiterin, später wissenschaftliche Assistentin an der Freien Universität Berlin. Ab 2003 Lehrtätigkeit an der HU Berlin und an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit WS 2003/04 Professorin für Philosophie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. 2005 Gründungsmitglied und Mitglied des Direktoriums des interdisziplinären Ethik-Zentrums Freiburg. Vorstandsmitglied der Schopenhauer-Gesellschaft. Seit Oktober 2007 Präsidentin der Internationalen Schelling-Gesellschaft. Seit 2008 Kommissionsmitglied der Forschungsstelle „Nietzsche-Kommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Seit 2009 Mitglied der Kommission zur Herausgabe der Schriften von Schelling in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Leiterin der Schelling Forschungs- und Editionsstelle Freiburg. Publikationen (u. a.): Fichte und Schelling oder: Über die Grenze menschlichen Wissens. (1994); Kierkegaard und der Deutsche Idealismus. Konstellationen des Übergangs (2009); Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling) (Hg.) (2006); Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings „Freiheitsschrift“ (1927/ 28) und die Akten des Internationalen Schelling-Tags 2006 (Lektüren F.W.J. Schellings I) (Mhg.) (2010); Schopenhauer – Kierkegaard (Mhg.) (2011).

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Christian Iber, Promotion 1983 in Berlin; Habilitation 1993; wissenschaftl. Assistent bei M. Theunissen, später Dozent am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin; Gastprofessuren in Prag, Jena, Magdeburg und Berlin. Derzeit als Gastprofessor an der Bundesuniversität von Ceará in Fortaleza, Brasilien tätig. Publikationen (u. a.): Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik (1990); Das Andere der Vernunft als ihr Prinzip. Grundzüge der philosophischen Entwicklung Schellings mit einem Ausblick auf die nachidealistischen Philosophiekonzeptionen Heideggers und Adornos (1994); Subjektivität, Vernunft und ihre Kritik. Prager Vorlesungen über den Deutschen Idealismus (1999); Grundzüge der Marx’schen Kapitalismustheorie (2005). Platon Sophistes. Griechisch-deutsch. Kommentar von Christian Iber (2007) Christopher Janaway, B.A.; Dr. phil Oxford; Professor für Philosophie an der University of Southampton, England, zuvor an der University of Sydney und am Birkbeck College, London. Leiter des Forschungsprojekts „Nietzsche and Modern Moral Philosophy“, University of Southampton 2007 – 2010. Publikationen (u. a.): Self and World in Schopenhauer’s Philosophy (1989); Images of Excellence. Plato’s Critique of the Arts (1995); Schopenhauer. A Very Short Introduction (2002); Beyond Selflessness. Reading Nietzsche’s Genealogy (2007). David Farrell Krell, Promotion 1971 an der Duquesne University; Professor für Philosophie an der DePaul University in Chicago; Gastdozent an Universitäten in Deutschland, Frankreich und England. Publikationen (u. a.): Postponements: Woman, Sensuality, and Death in Nietzsche (1986); Intimations of Mortality: Time, Truth, and Finitude in Heidegger’s Thinking of Being (1986); Daimon Life: Heidegger and Life-Philosophy (1992); Infectious Nietzsche (1996); The Good European: Nietzsche’s Work Sites in Word and Image (1997); Contagion: Sexuality, Disease, and Death in German Idealism and Romanticism (1998); The Purest of Bastards: Works of Mourning, Art, and Affirmation in the Thought of Jacques Derrida (2000); The Tragic Absolute: German Idealism and the Languishing of God (2005). Juichi Matsuyama, Promotion 1981 zum PhD an der Ritsumeikan Universität Kyoto mit der Dissertation „Ohnmacht der Natur. Zur Differenz

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

zwischen der Schellingschen und Hegelschen Naturphilosophie“; seit 1985 Professor für Philosophie an der Gakuin Universität Osaka. WS 2002/03 Gastprofessor an der Universität Kaiserslautern. Von 2006 bis 2008 Präsident der Schelling-Gesellschaft Japan. Professor für Philosophie an der Osaka Gakuin Universität und Generalsekretär der SchellingGesellschaft Japan. Publikationen auf Deutsch (u. a.): Atomistische Dynamik und dynamische Atomistik. Schellings Begriffsbildung des Dynamischen durch seine Kritik an Kant. In: Bulletin of the Cultural and Natural Sciences in Osaka Gakuin University 21 (1998); Die Vereinigung des Entgegengesetzten. Zur Bedeutung Platons für Schellings Naturphilosophie. In: J. Jantzen (Hg.): Die Realität des Wissens und das wirkliche Dasein (1998); Mechanisch versus dynamisch – Zur Bedeutung des dynamischen Naturverständnisses und zum Vergleich der Materiekonstruktion bei Kant und Schelling. In: J. Matsuyama/H.J. Sandkühler (Hg.): Natur, Kunst und Geschichte der Freiheit. Studien zur Philosophie F.W.J. Schellings in Japan (2000). Barbara Neymeyr, Promotion in Philosophie 1993; Habilitation in Neuerer deutscher Literaturgeschichte 2000. Professorin am Deutschen Seminar II der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2008 Wissenschaftliche Kommentatorin in der Forschungsstelle „NietzscheKommentar“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Publikationen (u. a.): Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik (1996); Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes (2004); Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften (2005); Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays (2009); Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. 2 Bände (Mhg.) (2008); Nietzsche als Philosoph der Moderne (Mhg.) (erscheint 2011); ca. 60 literaturwissenschaftliche und philosophische Aufsätze. Martha C. Nussbaum, Promotion in Klassischer Philologie 1975; seit 1999 Ernst Freund Distinguished Service Professor of Law and Ethics an der University of Chicago. Begründerin und Leiterin des Center for Comparative Constitutionalism.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Publikationen (u. a.): Aristotle’s De Motu Animalium (1978); The Fragility of Goodness: Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy (1986); Love’s Knowledge (1990); The Therapy of Desire (1994); Poetic Justice (1996); For Love of Country (1996); Upheavals of Thought: The Intelligence of Emotions (2001); Liberty of Conscience: In Defense of America’s Tradition of Religious Equality (2008); Not For Profit: Why Democracy Needs the Humanities (2010). Richard Schacht, Promotion 1967 in Princeton; emerit. Professor für Philosophie an der University of Illinois in Urbana-Champaign. Herausgeber der International Nietzsche Studies; Präsident der North American Nietzsche Society. Publikationen (u. a.): Alienation (1970); Hegel and After (1975); Nietzsche (1983); Classical Modern Philosophers: Descartes to Kant (1984); The Future of Alienation (1994); Making Sense of Nietzsche (1995); Finding an Ending: Reflection’s on Wagners Ring (mit P. Kitcher) (2004). Brigitte Scheer, Promotion 1964 in Wien; pens. Professorin für Philosophie am Fachbereich Philosophie und Geschichtswissenschaften der Goethe-Universität in Frankfurt a.M. seit 1972. Publikationen (u. a.): Zur Begründung von Kants Ästhetik und ihrem Korrektiv in der ästhetischen Idee (1971); Dimensionen der Sprache in der Philosophie des deutschen Idealismus (Mhg.) (1982); Einführung in die philosophische Ästhetik (1997). Markus Scheffler, Promotion 2006 an der Freien Universität Berlin. Seit 2010 Leiter „Strategie und Marketing“ bei einem Dienstleister der deutschen Kreditwirtschaft. Publikationen (u. a.): Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Arthur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa (2008). Claus-Artur Scheier, Promotion 1972; Habilitation 1979; seit 1982 Professor für Philosophie an der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig. Seit 1990 o. Mitglied, seit 2001 Generalsekretär der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (BWG). Publikationen (u. a.): Die Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der neueren Philosophie. Von Descartes zu Hegel (1973); Analytischer Kommentar zu Hegels Phänomenologie des Geistes. Die

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Architektonik des erscheinenden Wissens (1980); Kierkegaards Ärgernis. Die Logik der Faktizität in den Philosophischen Bissen (1983); Nietzsches Labyrinth. Das ursprüngliche Denken und die Seele (1985); Friedrich Nietzsche: Ecce auctor. Die Vorreden von 1886 (Hg.) (1990); Wittgensteins Kristall. Ein Satzkommentar zur Logisch-philosophischen Abhandlung (1991); Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert (2000). Dennis J. Schmidt, Promotion 1980 am Boston College; seit 2003 Liberal Arts Professor of Philosophy, German, and Comparative Literature an der Pennsylvania State University. Gastprofessuren in Italien und Deutschland. Herausgeber der Reihe Contemporary Continental Philosophy bei Suny Press. Publikationen (u. a.): Natural Law and Human Dignity. A Translation of Naturrecht und menschliche Würde von Ernst Bloch (1986); The Ubiquity of the Finite: Hegel, Heidegger and the Entitlements of Philosophy (1988); Hermeneutische Wege: Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten (Mhg.) (2000); On Germans and Other Greeks: Tragedy and Ethical Life (2001); Lyrical and Ethical Subjects: Essays on the Periphery of the Word, Freedom, and History (2005); The Difficulties of Ethical Life (Mhg.) (2007). Wilhelm Schmidt-Biggemann, Promotion 1974; Habilitation 1981; 1984 apl. Professor und Leiter des Wissenschaftsprojektes „Geschichte der barocken Philosophie im Reich und in Nordeuropa“. Seit 1989 Professur für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Gastprofessuren, u. a. in Prag, Princeton, Cambridge und Kopenhagen. 1993 – 1998 Leiter der Berliner Schelling-Forschungsstelle. Seit 2003 Sprecher bzw. stellv. Sprecher des Interdisziplinären Zentrums „Mittelalter – Renaissance – Frühe Neuzeit“ der Freien Universität Berlin. Publikationen (u. a.): Spinoza, Werk und Wirkung (1977); Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung (1988); Geschichte als absoluter Begriff. Der Lauf der neueren deutschen Philosophie (1991); Sinn-Welten Welten-Sinn. Eine philosophische Topik (1992); Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit (1998); Politische Theologie der Gegenaufklärung (2004); Praktische Philosophie als Provokation (2008).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Philipp Schwab, Studium der Philosophie, der neueren deutschen Literaturgeschichte und der Anglistik; M.A. 2006; Promotion 2009 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; seit 2009 Mitarbeiter am Philosophischen Seminar und Koordinator des Editions- und Forschungsprojekts zu F.W.J. Schellings Erlanger Phase (Fritz Thyssen-Stiftung). Forschungsaufenthalte am Søren Kierkegaard Research Centre, University of Copenhagen (2008) und an der Kommission zur Herausgabe der Schriften von Schelling an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München (2010). Publikationen (u. a.): Zwischen Sokrates und Hegel. Der Einzelne, die Weltgeschichte und die Form der Mitteilung in Kierkegaards ber den Begriff der Ironie. In: Kierkegaard Studies. Yearbook (2009); Sprung und intelligible Tat. Zu Kierkegaards Transformation einer Grundfigur aus Schellings Freiheitsschrift. In: G. Wenz (Hg.): Die Rezeption von Schellings Freiheitsschrift (2010); Wie kommt der Geist zur Erscheinung? Anmerkungen zur dialektischen Methode von Hegels Phnomenologie des Geistes. In: Hegel-Jahrbuch (2010); Protokolle einer Übung von Heidegger über Schellings Freiheitsschrift. In: L. Hühn/J. Jantzen (Hg.): Heideggers Schelling-Seminar (1927/28) (Co-Edition) (2010); Schopenhauer – Kierkegaard (Mhg.) (2011); Der Rückstoß der Methode. Kierkegaard und die indirekte Mitteilung (2011). Andreas Urs Sommer, Promotion 1998 in Basel; Habilitation 2004 in Greifswald. 1998/99 Visiting Research Fellow Princeton University; 2001Visiting Fellow University of London; 2007 Lehrstuhlvertretung in Mannheim; seit 2008 Wissenschaftlicher Kommentator der Werke Nietzsches an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Privatdozent am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Direktor der Friedrich-Nietzsche-Stiftung und Stv. Vorsitzender der Nietzsche-Gesellschaft e. V. Publikationen (u. a.): Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck (1997); Friedrich Nietzsches „Der Antichrist“. Ein philosophisch-historischer Kommentar (2000); Die Kunst, selber zu denken (2002, 2. Aufl. 2003); Die Kunst des Zweifelns (2005, 3. Aufl. 2008); Sinnstiftung durch Geschichte? Zur Entstehung spekulativuniversalistischer Geschichtsphilosophie zwischen Bayle und Kant (2006); Die Kunst der Seelenruhe (2009, 2. Aufl. 2010).

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Asmus Trautsch, Studium der Philosophie und Germanistik sowie der Komposition in Berlin und London. Dissertation über den Begriff tragischen Handelns an der Humboldt-Universität. 2008 Visiting Scholar an der Columbia University. 2010/11 Fellow im Programm art, science & business der Akademie Schloss Solitude. Publikationen (u. a.): Glauben und Wissen. Jürgen Habermas zum Verhältnis von Philosophie und Religion. In: Philosophisches Jahrbuch 111/1 (2004); Schopenhauer und das Trauerspiel der Gelassenheit. In: Schopenhauer-Jahrbuch 90 (2009); Was ist Leben? Festgabe für Volker Gerhardt zum 65. Geburtstag (Mhg.) (2009). Tilo Wesche, Promotion 2003 in Tübingen; 2001 – 2003 Lehrbeauftragter an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; seit 2003 wissenschaftlicher Oberassistent am Philosophischen Seminar der Universität Basel. 2008 Habilitation an der Universität Basel. Karl Jaspers Förderpreis 2009. 2009 – 10 Lehrstuhlvertretungen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Universität Basel. Publikationen (u. a.): Kierkegaard. Eine philosophische Einführung (2003); Anfang und Grenzen des Sinns (Mhg.) (2006); Was ist Kritik? (Mhg.) 2009; Wahrheit und Werturteil. Eine Theorie der praktischen Rationalität (in Vorbereitung). Mirko Wischke, Promotion an der Humboldt-Universität Berlin 1993; Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 2000. 2001 Gastdozent an der European Humanities University Minsk (Belarus); Gastdozent an der Palacky´ University Olomouc (Tschechien) im Rahmen des Fachlektorenprogramms und der Dozentenförderung der Robert Bosch Stiftung. 2006 – 07 Gastdozent an der „Kiev Mohyla Academy“ (Ukraine); 2007 – 2008 Gastdozent an der Universität Poznan (Polen); 2008 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Seit 2009 Gastprofessor und DAAD-Langzeitdozent an der Taras Shevchenko Universität Kiew (Ukraine). Publikationen (u. a.): Kritik der Ethik des Gehorsams. Zum Problem der Moral bei Theodor W. Adorno (1993); Die Geburt der Ethik. Schopenhauer, Nietzsche und Adorno (1994); Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers (2001); Recht ohne Gerechtigkeit? Hegel und die Grundlagen des Rechtsstaates (Mhg.) (2010).

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Bernhard Zimmermann, Promotion 1983 an der Universität Konstanz, dort 1983 – 1985 wissenschaftlicher Angestellter und 1985 – 1988 Hochschulassistent; Habilitation 1988. Seit 1989 ständiger Gastdozent für Lateinische Philologie an der Universität Basel. 1990 – 1992 Assistenzprofessor für Klassische Philologie an der Universität Zürich. 1992 – 1996 Professor für Klassische Philologie, insbesondere Gräzistik, an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 1997 Professor für Klassische Philologie (Gräzistik) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Seit 2001 Landesvorsitzender des Deutschen-Altphilologen-Verbandes Baden-Württemberg. Publikationen (u. a.): Untersuchungen zur Form und dramatischen Technik der Aristophanischen Komödien. Bd. 1: Parodos und Amoibaion (1984), Bd. 2: Die anderen lyrischen Partien (1985), Bd. 3: Metrische Analysen (1987); Die griechische Tragödie (1986); Dithyrambos. Geschichte einer Gattung (1992); Die griechische Komödie (1998); Europa und die griechische Tragödie. Vom kultischen Spiel zum Theater der Gegenwart (2000); Sophokles, König Ödipus. Erläuterungen und Dokumente (2003); Epikur, Philosophie des Glücks (2006); Spurensuche. Studien zur Rezeption antiker Literatur (2009). Gnter Zçller, Studium der Philosophie, Romanistik und Komparatistik an der Universität, Bonn (Promotion 1982), der École normale supérieure, Paris, und der Brown University, Providence, U.S.A.; 1984 – 1999 Professor für Philosophie in den U.S.A.; seit 1987 an der University of Iowa. Seit 1999 Universitätsprofessor für Philosophie an der LudwigMaximilians-Universität München. Mitglied der Kant-Kommission der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Fichte-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften sowie Mitherausgeber der J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Gastprofessuren u. a. an der Princeton University, der Emory University und der Seoul National University. Publikationen (u. a.): Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini „objektive Realität“ und „objektive Gültigkeit“ in der „Kritik der reinen Vernunft“ (Kant-Studien Ergänzungshefte, Bd. 117) (1984); Fichte’s Transcendental Philosophy. The Original Duplicity of Intelligence and Will (1998); Immanuel Kant, Anthropology, History, and Education (Mhg.) (2007); Übertragene Anfänge. Imperiale Figurationen um 1800 (Mhg.) (2010). 30 Buch- und über 210 Aufsatzpublikationen, vor allem zur klassischen deutschen Philosophie.

Personenregister Abeken, Bernhard Rudolf 165 Abel, Günter 616 Adorno, Theodor W. 7, 20, 24, 29, 49, 56, 150, 164 Aischylos 40, 51, 56, 91, 119, 127, 135 f., 138, 140 f., 152, 187, 189, 217, 219, 235 f., 241–245, 453, 455, 482, 557 Alberti, Leon Battista 433 Alkibiades 115 Allen, Woody 435 Alt, Peter-André 6 Anaxagoras 456 Anaximander 32, 35 Angehrn, Emil 6, 12, 46, 51, 56, 496, 400, 402, 643 Anouilh, Jean 157, 159, 167 von Aquin, Thomas 63, 66 Archilochus 593 Arendt, Hannah 119 Aristophanes 137, 140 f., 286 Aristoteles 7, 12 f., 25, 30 f., 40, 45, 53, 63, 66, 71 f., 74, 95, 102 f., 109, 117, 120, 133–139, 141, 144–153, 169, 175, 178, 187–190, 192, 194, 199, 211–213, 218, 223–233, 235 f., 239, 242, 248, 270, 319, 325, 361, 373, 378, 385, 393, 395, 398–404, 411 f., 422, 424 f., 445 f., 449, 450, 454, 475, 557–559, 562 f., 566, 571, 585, 611, 619 Arnobius d. Ä. 568 f. Äsop 126 Augustus (Gaius Octavius) 93 Bahnsen, Julius 15, 360, 623–632, 635 f. Barbaric´, Damir 13, 104, 113 Bauer, Bruno 624

Bauer, Edgar 624 Baeumer, Max L. 271 Baur, Friedrich Christian 624 van Beethoven, Ludwig 554, 634 Bellingreri, Antonio 32, 359 Benjamin, Walter 26, 45, 293, 360 Benn, Gottfried 458 Bernays, Jacob 211 f. Bernhard, Thomas 22, 393 von Besnard, Franz Anton 568 f., 574 Bizet, George 554 Blumenberg, Hans 19, 150 f. Bodin, Jean 91 Boehm, Gottfried 314 Boenke, Michaela 27 Böhm, Wilhelm 159 Bohrer, Karl Heinz 1, 6, 9, 23, 117, 120 Bonaventura (Giovanni di Fidanza) 65 Borsche, Tilman 620 Böschenstein, Bernhard 22 Bradley, Andrew C. 299 Brandom, Robert B. 300 Braungart, Wolfgang 187 Brecht, Bertolt 157, 159, 164–167 Bremer, Dieter 299 Brunkhorst, Hauke 281, 287, 292 f. Buddha 173, 344, 349, 429, 461, 532, 539, 592, 598 f. Burckhardt, Jacob 171 Burge, Tyler 423 Caesar, Gaius Julius 93 Calderón (Pedro Calderón de la Barca) 322, 334, 336 Camus, Albert 14, 417, 435 f. Cancik, Hubert 569 von Canterbury, Anselm 76

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Personenregister

Carpenter, Tom 355 Cassirer, Ernst 49 Chamfort, Nicolas 555 Chrysippos von Soloi 328 Cicero, Marcus Tullius 93 Ciracì, Fabio 623 Clark, Maudemarie 339, 550 Colli, Giorgio 580 Conacher, Desmond J. 153 Conway, Daniel W. 581 Corneille, Pierre 227 Courtine, Jean-François 27, 235 Creuzer, Friedrich 272 Crooks, James 578 Danto, Arthur C. 2 Dareios 141 Därmann, Iris 374, 591 Darwin, Charles 97 f., 628 Debnar, Paula 144 Deleuze, Gilles 603 Demokrit 455 f. Demosthenes 90, 93 Derrida, Jacques 189, 196, 579 Diels, Hermann 172, 456 Dietzsch, Steffen 198 Dilthey, Wilhelm 48, 644 Diogenes Laertius 328 Djuric´, Mihailo 575, 579, 618 Dodds, Eric Robertson 232 Düsing, Klaus 285 Eagleton, Terry 1 Eliot, Thomas Stearns 153 Else, Gerald F. 199, 224 f. Empedokles 211, 456 Emrich, Wilhelm 21 Emundts, Dina 304 Epiktet 328, 333 Epikur 328 f., 411 Escola, Marc 249 Eßman, Boris 531 Ette, Wolfram 1, 309 Euripides 12, 51, 55, 133, 135 f., 139–141, 148–153, 176, 189, 210, 242 f., 319, 335, 337, 453, 455, 482–484, 557, 634

Falkenburg, Brigitte 85 Farone, Chris 355 Fazio, Domenico M. 15 Felski, Rita 2 Feuerbach, Ludwig 624 Fichte, Johann Gottlieb 8, 79 f., 193, 195, 197 f., 200 Figal, Günter 15, 314, 606, 621 Flashar, Hellmut 156 f., 171, 181, 252 Fleischer, Margot 581 Foley, Helene 336 Frank, Manfred 272 Fränkel, Hermann 172 f. Frauenstädt, Julius 32, 625, 636 Frede, Dorothea 111 Freud, Sigmund 97 f., 151, 156, 159, 162, 174, 237 f., 241 von Fritz, Kurt 199 Fritzsch, Ernst Wilhelm 554 Fuchs, Carl 554 Fulda, Daniel 1, 3, 6, 10, 20, 23 Fülleborn, Ulrich 202 Furtwängler, Adolf 471 Gadamer, Hans-Georg 450 Galle, Roland 1, 20 Gauß, Carl Friedrich 189 Gawoll, Hans-Jürgen 598 Gerhardt, Volker 12, 86 f., 91, 94, 101, 117, 119, 390, 423, 431, 582, 607, 614, 616, 620 Gersdorff, Carl von 636 Gethmann-Siefert, Annemarie 286 Geulen, Eva 2 Ghislanzoni, Antonio 177 von Goethe, Johann Wolfgang 69, 139, 165, 169, 243 f., 252, 386 f., 465, 557, 559, 585 Goldschmidt, Victor 145 Golla, Korbinian 473 Goodman, Nelson 346 Gorgias 40, 137–139, 329 Gouhier, Henri 248 Graf, Fritz 55 Greenblatt, Stephen 247 Greve, Gisela 155, 158

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Personenregister

Griffin, Drew E. 609 Gumbrecht, Hans Ulrich 314 Halleran, Michael R. 153 Halliwell, Stephen 25, 137, 355 Hanslick, Eduard 554 von Hartmann, Eduard 627 f., 635 Hasenclever, Walter 157 Haverkamp, Anselm 12 Havertz, Ralf 5 Hay, Katia 13, 262 Hebbel, Friedrich 316, 426 Heftrich, Eckhard 618 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2 f., 8–11, 13 f., 19, 23–25, 28–30, 40, 47–52, 54–56, 80 f., 143, 153, 157, 193 f., 204 f., 219, 242 f., 281–288, 290, 293, 295, 297–309, 311–314, 365, 417, 425 f., 430, 434 f., 450 f., 473, 486, 488, 502, 562, 576, 613, 624, 629 Hegenbart, Sarah 109 Heidbrink, Ludger 2 Heidegger, Martin 7, 32, 71, 77, 157, 216, 475, 578 f., 602 f., 616 Heine, Heinrich 79 Heinrich, Klaus 12, 52, 79, 162, 164, 168 f. Henrich, Dieter 44, 423 Heraklit von Ephesos 101, 172, 177, 188, 218 f., 221, 448, 557, 571, 620 von Herder, Johann Gottfried 48, 425, 643 f. Herodot von Halikarnassos 93 f., 97, 127, 138, 144 f. Hershbell, Jackson P. 620 Hesiod 224 Herter, Hans 103 Heydorm, Heinz-Joachim 623 Higgins, Kathleen Marie 609 Hilmer, Brigitte 2 Hippokrates von Kos 118 Hitler, Adolf 99 Hoessly, Fortunat 137 Hogrebe, Wolfram 9

Hölderlin, Friedrich 13, 19, 155, 157, 159 f., 162 f., 165, 167, 169, 180 f., 183, 203–205, 211–218, 221 Hölscher, Lucian 119 Homer 101, 118, 138, 160, 224, 226, 232, 267, 275, 475, 536, 543 Horkheimer, Max 150, 164 Hörmann, Raphael 293 Horstmann, Rolf-Peter 304 Huchel, Peter 162 Hühn, Lore 3, 6, 9, 21, 23, 25, 27, 29, 31, 239, 249 f., 257, 586, 595, 639 Hume, David 195, 197 Iber, Christian 13 Iffland, August Wilhelm Isokrates 93, 127

228

Jacobi, Friedrich Heinrich 193–195, 197 Jaeger, Werner 128 Jähnig, Dieter 581 Janaway, Christopher 15, 546 Janke, Wolfgang 25, 249 Jaspers, Karl 8, 27, 33, 43 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 197 Jendis, Matthias 206 f. von Jhering, Rudolf 94 Jonas, Hans 100 Kant, Immanuel 8, 13, 24, 28, 50, 73, 94, 119, 168, 192, 194 f., 197–200, 204 f., 213, 234, 321, 339 f., 342, 371, 374, 378 f., 386, 458, 462, 465–467, 486, 563, 613, 628, 634 Kaulbach, Friedrich 610, 614, 616 Keats, John 531 Kein, Otto 272 Kerényi, Karl 22, 168, 170, 173, 176 Kierkegaard, Søren 28, 34, 82, 450 Kirchhoff, Bodo 5 von Kleist, Heinrich 202, 214 Kleopatra 240 Kohrs, Ingrid 202

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Personenregister

von Koller, Hermann 224 Kommerell, Max 147, 215 Konfuzius 97, 101 König, Christoph 22 Kopernikus, Nikolaus 97 f. Kopperschmidt, Josef 647 Köster, Peter 618 von Kotzebue, August 228 Kouba, Pavel 646 Kranz, Walther 172, 456 Krell, David Farrell 13, 203, 217 Kriton 110 Krüger, Manfred 23 Kruse, Bernhard-Arnold 582 Küchenhoff, Joachim 6 Kuhn, Elisabeth 598 f. Kuhn, Helmut 113 Lacan, Jacques 210, 216 Lacoue-Labarthe, Philippe 204 Langbehn, Claus 428 Leibniz, Gottfried Wilhelm 30, 76–78, 365 Leicht, Robert 5 Lessing, Gotthold Ephraim 7 f., 195–197, 200 f., 227 f., 417, 425 Leukipp 456 Lévinas, Emmanuel 57–59 Liebmann, Otto 563 Lincoln, Abraham 290 Link, Jürgen 195 Link-Heer, Ursula 195 Livius, Titus 93 Lloid-Jones, Hugh 232 Loock, Reinhard 193 Loraux, Nicole 215 Löwith, Karl 31, 578, 616 Lucas, Donald W. 146 von der Lühe, Astrid 195 Luhmann, Niklas 151 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 329 Lypp, Bernhard 2, 271, 595 Marc Aurel 328 Maeterlinck, Maurice 39 Maffesoli, Michel 1 Magnus, Bernd 616 Malter, Rudolf 33, 405 f., 416

Marcuse, Ludwig 9 f., 22, 368 Marquet, Jean-François 260 Martinec, Thomas 23 Marx, Karl 13, 56, 99, 190, 281, 285, 287–294 Matsuyama, Juichi 13 Meier, Christian 91, 127 Melville, Herman 206 f., 221 Mendelssohn, Moses 7 f., 196 f., 200, 228 Menke, Christoph 1, 10, 45, 148, 154, 285, 293, 309, 314, 396, 434 Merkel, Reinhard 84 von Morbeke, Wilhelm 95 Morrow, Glenn R. 101, 114 Müller, Enrico 373, 563 Müller, Wilhelm 79 Müller-Lauter, Wolfgang 578, 599, 616 Murray, Gilbert 152 f. Nancy, Jean-Luc 204 Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) 99, 243, 290, 292 Napoleon III. (Louis Bonaparte) 287, 290–292 Neuweiler, Gerhard 86 Newiger, Hans-Joachim 140 Neymeyr, Barbara 14, 33, 369, 378, 382 f., 386 f., 389, 420, 423 Nicolai, Friedrich 7 f., 227 f. Nietzsche, Friedrich 5, 7, 9–16, 31 f., 38, 41 f., 44 f., 48, 50, 67, 76, 99, 103, 125, 127, 156–158, 171, 195, 202 f., 210 f., 217 f., 223, 242, 244, 257, 263–272, 276, 280, 293, 319–321, 323, 326 f., 336–355, 370–375, 378, 381, 385–391, 417, 427–436, 441–651 Nimis, Stephen A. 620 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 205 Nussbaum, Martha C. 14, 319, 325, 328, 333, 335 f. Ohly, Dieter 471 Oka, Michio 238 Oldenberg, Hermann

173

Personenregister

Oresme, Nicole 95 Orff, Carl 157 f. Ottmann, Henning 100 Otto, Walter F. 172 Overbeck, Franz 271 Ovid (Publius Ovidius Naso) 340

150,

Paetzold, Heinz 282 Panno, Giovanni 122 Parmenides 174, 182 Pater, Walter 471 f. Pauen, Michael 428 Pearson, Alfred Chilton 155, 163 Peisistratos 190 Peppler, Charles William 133 Perikles 90, 118, 229, 468 Phidias 207 f. Philolenko, Alexis 32 Phrynichos 136, 138 Picht, Georg 638, 641–643, 649 Pieper, Annemarie 27 Pindar 224, 322 Platon 12, 14, 83, 89–91, 95, 100–117, 119, 121–130, 137, 148, 188–190, 192–194, 196, 217, 225, 227, 269, 322, 328 f., 354, 361, 389, 395, 424, 433, 441–444, 449, 455–457, 557 f., 570, 639, 643 f. Plessner, Helmuth 427, 433 Plutarch 190, 193, 328 Pohl, Richard 554–556, 558 Popper, Karl Raimund 106 Port, Ulrich 425 Pothast, Ulrich 421 Preller, Ludwig 178 Protagoras 101, 140 Proust, Marcel 331 Pseudo-Heraklit 221 Putnam, Hilary 339 Pythagoras 456 Racine, Jean Baptiste 1, 454 Raphael (Raffaelo Sanzio) 207–209, 588 Reginster, Bernard 532–535, 537 f., 548 von Reibnitz, Barbara 557, 582, 585

673

Reiff, Jakob Friedrich 624 Reinhardt, Karl 155, 163, 215 Ricœur, Paul 46, 48, 57–59 Ridley, Aaron 548 f. Roche, Mark W. 6 Rohde, Erwin 171, 271, 583, 585 Rosen, Stanley 102 Rosenzweig, Franz 293 Roth, Gerhard 84, 86 Rousseau, Jean-Jacques 195–198, 201 f. Rüsen, Jörn 51 Sagnol, Marc 55 Sallis, John 581, 586, 593 Sandkühler, Hans-Jörg 106 Saunders, Trevor J. 108 Schacht, Richard 15 Schadewaldt, Wolfgang 155, 163, 182, 299 Scheer, Brigitte 14 Scheffler, Markus 14 Scheier, Claus-Artur 9, 13, 23 Scheler, Max 27, 32 f., 360, 368, 637 von Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 6–11, 13, 19, 23, 26 f., 30 f., 34, 38, 54, 77, 82, 190, 193–195, 200–212, 217 f., 220 f., 233–237, 239–246, 248–262, 271–280, 282, 293, 417, 425, 442, 450, 486, 562, 576, 629 Schiller, Friedrich 8, 73, 139, 189, 195, 198–201, 228, 234 f., 237, 240, 245, 377–379, 417, 419 f., 425, 441, 562 f., 590 f. Schlegel, August Wilhelm 425 Schlegel, Friedrich 293 Schlimgen, Erwin 648, 650 Schmid, Holger 610 Schmidt, Dennis J. 15, 23, 442 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 12 Schmitt, Carl 192 f., 287, 293 Schopenhauer, Arthur 6, 9–12, 14 f., 30–38, 202 f., 211, 223, 253, 319–436, 459–462, 470, 498–500, 506, 509, 533, 546, 557–564, 566, 570, 573, 576, 582 f., 585–588,

674

Personenregister

592, 596, 599, 611, 618, 623–636, 641 Schöpsdau, Klaus 103 Schrey, Heinz-Horst 578 Schulte, Michael 10, 297 Schulz, Walter 383 Schüssler, Ingeborg 578, 612 Schwab, Philipp 15, 21, 23, 319, 473, 497, 606 Schwartz, Eduard 199 Scott, David 6 Seel, Martin 314 Segal, Charles 336 Seidensticker, Bernd 23, 25, 136, 147 Seneca, Lucius Annaeus 176, 328 Shakespeare, William 1, 143, 152, 237, 240, 247, 254, 322, 360 Silk, Michael S. 338, 591 Simmel, Georg 48 Simon, Robert 319, 497 Singer, Wolf 84 Skemp, Joseph B. 104 Small, Jocelyn P. 152 Sokrates 2, 55, 90, 102 f., 110, 114, 125 f., 140 f., 189, 442, 453, 455 f., 458, 483–486, 488, 543, 558, 569, 570, 634, 643 Solmsen, Friedrich 148 Solon 13, 97, 101 f., 128, 190–195 Sommer, Andreas Urs 15, 555, 558, 608, 617 Sophokles 12 f., 40 f., 43 f., 49, 51, 53, 56, 91, 135, 137, 139–141, 148 f., 151, 155–159, 171, 173–184, 203, 210 f., 213–216, 219, 221, 229–233, 235–238, 241–244, 248 f., 252, 283 f., 322, 432, 453, 455, 475, 557 Spinoza, Baruch de 87, 323 Spitteler, Carl 554 Staiger, Emil 21, 133 f. Stegmaier, Werner 617 Steiner, George 1, 156 Stern, Joseph P. 338, 591 Stewart, John Alexander 103 Stobaeus, Johannes 328 Strauß, Botho 4 f., 187

Sturma, Dieter 254 Szondi, Peter 7, 9 f., 13, 19–23, 31, 135, 190, 239, 248 f., 442, 451 Tanner, Michael 535 Taylor, Alfred E. 103 Taylor, Charles 48 Thales von Milet 192 Theophrast 400, 409–413 Thespis 136, 190 Theunissen, Michael 2, 28, 56, 409 Thorvaldsen, Bertel 471 Thukydides 90, 93, 97, 118 f., 127, 144 f., 557 Tilliette, Xavier 250 Trautsch, Asmus 14 Tugendhat, Ernst 423 Turk, Horst 23 Unseld, Siegfried

9, 22

Valk, Thorsten 1, 10, 23 Verdi, Giuseppe 177 Vernant, Jean-Pierre 6, 218, 220, 271 Vidal-Naquet, Pierre 6, 218, 220, 271 Vischer, Friedrich Theodor 624, 629 Vogel, Martin 271 Vogl, Joseph 434 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 30, 604, 612 Voß d. J., Johann Heinrich 165 Wagner, Cosima 455, 459 Wagner, Richard 156, 347, 372, 455, 459 f., 463, 469 f., 473, 475, 486 f., 492 f., 529 f., 553–556, 560 f., 565 f., 572, 594, 631 f., 634, 636 Weber, Max 43, 127, 193 Wegner, Bernd 99 Weinstock, Heinrich 155 Wellbery, David E. 430 Wesche, Tilo 14, 310 Westerkamp, Dirk 199 von Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich 172, 337 f.

Personenregister

Wilcox, John T. 339 Willi, Andreas 133 Wilm, Marie-Christin 23 Wilson, John Elbert 257, 272 Winckelmann, Johann Joachim 585 Winkelmann, Stephan August 197 Wischke, Mirko 16 Wolf, Ursula 51

675

Zierl, Andreas 231, 245 Zimmermann, Bernhard 4, 12, 40, 51, 134, 136 f., 139 f., 441 Zˇizˇek, Slavoj 257 Zöller, Günter 15, 458

Register der literarischen Figuren und mythologischen Gestalten Achill 118, 146, 160 Agamemnon 161 Ajax 114, 434 Alkmene 202 Antigone 41, 44, 49, 140, 156–159, 161–168, 171, 175–177, 181–183, 215–217, 244, 299, 302, 305 f., 312, 451 Aphrodite 217 Apollon 11, 41, 48, 223, 233, 241 f., 263, 272, 320, 337–342, 350 f., 386–389, 428, 449, 454, 458 f., 476–484, 490–494, 501–503, 507–522, 524–528, 532, 534–542, 547, 568 f., 580–582, 584–590, 593–596, 619, 632–634 Athene 90, 244 f., 451 Carmen 554–556 Circe 353 Claudius (Bruder Hamlets)

423

Danaë 214 f. Demeter 217 f., 276, 568 Desdemona 240 Dionysos 11, 13, 41, 48, 135–137, 156–158, 160, 165–167, 169–183, 190, 209, 217 f., 223 f., 229, 263–280, 319–321, 326, 335–340, 342–346, 348–354, 371 f., 374 f., 385 f., 388 f., 428, 430, 432, 436, 449, 454 f., 459, 476–487, 490–494, 500–503, 507–511, 513–522, 524–528, 532, 534 f., 538–542, 548, 559, 563, 568 f., 571, 574, 580–582, 584–586, 589–596, 598, 610, 615 f., 619, 632–634, 639

Don José 555 Don Quijote 71 Elektra 69 Eros 176, 215 f., 269, 354, 483 Eurydike 161 Gretchen

69

Hades 162, 169, 172–177, 179 f., 217, 277 Haimon 161, 171, 175, 177, 182, 305 Hamlet 152, 194, 349, 423, 431, 500, 539, 592 Hektor 160 Herakles 146, 177, 273, 492 Hestia 217 Hiob 46 Hippolyta 247 Iago 240, 423 Iokaste 167 f., 215, 232, 236–238 Iphigenie 241 Ismene 165 f., 171, 175 Jason

150, 152

Kassandra 69 Kreon 44, 153, 157, 161 f., 166, 168, 171, 175, 177, 181 f., 299, 302, 305 f., 451 Kronos 217, 276 f., Kybele 218, 276 Labdakos 167, 211 Lady Macbeth 240

678

Register der literarischen Figuren und mythologischen Gestalten

Laios 167, 211, 232, 236–238 Lyssa 176 Medea 12, 143 f., 148–153 Midas 585 Mohr, Franz 240 Niobe

208, 215

Ödipus 7, 45, 52 f., 69, 134 f., 156, 158, 162 f., 166–168, 175, 201, 210 f., 215, 229–233, 235–239, 241, 244, 252–257, 262, 485, 532 Odysseus 138, 164 Orest 127, 136, 241 f., 244 Osiris 273 Othello 240, 423 Pentheus 167, 175, 177, 181, 335 Persephone 177, 217 Philoktet 221 Poseidon 217, 277 Priamos 160 Prometheus 47, 243 f., 254, 557, 559

Rhea 276 Rigoletto 69 Rodogune 240 Silen 536 f., 540, 585–587, 589–591, 595–597, 608, 618 Semele 167, 217 f. Sisyphos 435 f. Strepsiades 140 Tantalus Teiresias Thanatos Theseus Thyestes

35, 328 166, 182, 212 f., 237, 305 216 53, 247 231

Urania 217 f., 273, 276 Uranos 276 Werther 203 Zarathustra 353, 565, 571 Zeus 191 f., 208, 213–217, 273, 277 f.