Nietzsche: Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie 9783110829471, 9783110035773


235 111 6MB

German Pages 195 [204] Year 1971

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Erstes Kapitel. Der Schein der Gegensätze und die wirklichen Gegensätze der Willen zur Macht
Zweites Kapitel. Das Gegensatzproblem in Nietzsches Geschichtsphilosophie
Drittes Kapitel. Nihilismus als Wille zum Nichts
Viertes Kapitel. Nihilismus und Christentum
Fünftes Kapitel. Wille zur Wahrheit und Wille zur Macht
Sechstes Kapitel. Der Weg zum Übermenschen
Siebentes Kapitel. Die beiden Typen des Übermenschen und die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen
Siglen der zitierten Nietzsche-Texte
Verzeichnis der zitierten Schriften
Namenregister
Recommend Papers

Nietzsche: Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie
 9783110829471, 9783110035773

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Müller-Lauter · Nietzsche

w DE

G

Wolfgang Müller-Lauter

Nietzsche Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie

"Walter de Gruyter · Berlin · New York 1971

ISBN 3 11 003577 4 © 1971 by Walter de Gruyter & Co.» vormals G. J. GÖschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Printed in Germany Alle Redite, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Thormann Sc Goetsch, Berlin 44

Vorwort Die hier vorgelegte Arbeit ist aus meinen Untersuchungen zur Geschichte des neuzeitlichen Nihilismus herausgewachsen. Deren vorläufige Ergebnisse habe ich zwar in Vorlesungen und Vorträgen mitgeteilt, über sie jedoch noch nichts veröffentlicht, abgesehen von einigen knappen Ausführungen in einem Beitrag zur Diskussion über W. Weischedels Entwurf einer philosophischen Theologie1. Die Überlegungen zur Bedeutung Nietzsches für die Nihilismus-Problematik führten mich vor die Notwendigkeit, die Grundfragen seines Philosophierens neu zu durchdenken. Dabei erwies sich Nietzsches Thematisierung der Gegensätze als fruchtbarer Ausgangspunkt. Die Ausarbeitung der aus ihm hervorgehenden Fragen und Antworten Nietzsdies läßt, so meine ich, ein helles Licht auf die tatsächlichen und die nur vermeintlichen Widersprüche dieses Philosophen fallen, auf die sich dessen Interpreten immer wieder bezogen haben. Diese Arbeit schlägt den Weg einer immanenten Darstellung und Kritik der Philosophie Nietzsches ein. Mir scheint die Bemühung, einen Denker in seinem eigensten Anliegen zu verstehen, auch dann unumgänglich zu sein, wenn man ihn — unter welchen Gesichtspunkten auch immer — ,νοη außen* betrachten will. Werden dadurch doch voreilige Deutungen und Wertungen vermieden, für welche die Nietzsche-Literatur eine Vielzahl von Beispielen darbietet. Mag auch jeder Versuch immanenter Kritik von einem Vorverständnis geleitet sein, so erfährt dieses doch Korrekturen durch den Gegenstand der Kritik, die zu dessen angemessenerem Verständnis hinführen können. Die in dieser Arbeit vollzogene Beschränkung auf eine immanentkritische Darstellung von Nietzsches Philosophie besagt unter Berück1

V f . , Zarathustras Schatten hat lange Beine . . . , in: Evangelische Theologie 23, 1963, 1 1 3 ff. Wieder abgedruckt in: Philosophische Theologie im Schatten des Nihilismus. Mit Beiträgen yon W. Weischedel, G . Noller, H . - G . Geyer, W . Müller-Lauter, W. Pannenberg, R . W . Jenson. Hrsg. von J . Salaquarda, Berlin 1 9 7 1 , 88 ff.

sichtigung des Vorstehenden zweierlei. Nietzsches Bedeutung innerhalb der Geschichte des neuzeitlichen Nihilismus wird nicht zum Thema dieser Untersuchung gemacht. Freilich werden in ihr die notwendigen Vorarbeiten für eine solche Betrachtung in Angriff genommen. Und es wird auf eine Kritik verzichtet, deren Standpunkt außerhalb der Philosophie Nietzsches liegt. Für eine s o l c h e Kritik will das in dieser Arbeit Ausgeführte erst die Voraussetzungen darlegen. Mein letztes Wort zu Nietzsches Philosophie ist in ihr also nicht gesagt: vorausgesetzt, daß man — angesichts des Reichtums und der Offenheit dieser Philosophie — zu ihr überhaupt sein letztes Wort sagen kann. Derzeit steht jede Beschäftigung mit Nietzsche vor der Schwierigkeit, daß eine nicht geringe Zahl wichtiger Niederschriften aus seinem Nachlaß noch nicht publiziert worden sind. Von der neuen Kritischen Gesamtausgabe, die diesem Mangel abhelfen wird, sind erst acht von wahrscheinlich dreißig Bänden erschienen. Daher mußte ich midi an die in mancherlei Hinsicht problematische Groß-Oktav-Ausgabe halten, nach der ich auch zitiere. Die bisher erschienenen Bände der Kritischen Gesamtausgabe wurden allerdings berücksichtigt. Darüber hinaus verdanke ich Herrn Dr. Mazzino Montinari, Florenz, dem Mitherausgeber dieser Ausgabe, bedeutsame Hinweise, vor allem auf noch nicht veröffentlichte Texte. Dr. Montinari hatte die Freundlichkeit, die Druckfahnen zu dieser Arbeit mitzulesen. Da die Druckarbeiten währenddessen schon nahezu abgeschlossen waren, konnten einige interessante Nachlaßfragmente Nietzsches in meine Ausführungen nicht mehr einbezogen werden. Eine Modifikation der von mir vertretenen Auffassungen hätten sie nicht nahegelegt. Manche Anregung und manchen Hinweis insbes. auf Sekundärliteratur verdanke ich meinem Assistenten, Herrn Dr. Jörg Salaquarda. Er hat darüber hinaus diese Arbeit von ihren Anfängen an in formaler Hinsicht mitbetreut und auch das Verzeichnis der zitierten Literatur sowie das Namenregister zusammengestellt. Berlin, im März 1971

Wolfgang Müller-Lauter

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Einleitung

ι

Erstes Kapitel. Der Schein der Gegensätze und die wirklichen Gegensätze der Willen zur Macht

ιo

Zweites Kapitel. Das Gegensatzproblem in Nietzsches Geschichtsphilosophie

34

Drittes Kapitel. Nihilismus als Wille zum Nichts

66

Viertes Kapitel. Nihilismus und Christentum

81

Fünftes Kapitel. Wille zur Wahrheit und Wille zur Macht Sechstes Kapitel. Der Weg zum Übermenschen

95 116

Siebentes Kapitel. Die beiden Typen des Ubermenschen und die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen 135 Siglen der zitierten Nietzsche-Texte

189

Verzeichnis der zitierten Schriften

190

Namenregister

193

„Es ist gleich tödtlidi für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sidi also wohl entsdiliessen müssen, beydes zu verbinden." (Fr. Schlegel, Athenäumsfragment 53)

Einleitung Die dem Werke Nietzsches immanenten Gegensätze haben seinen Interpreten seit dessen Wirksamwerden zu schaffen gemadit. Zwar löst sich das Gegeneinander in vielen Fällen in ein Nacheinander auf, wenn Nietzsches Aussagen im Rahmen seiner philosophischen Entwicklung betrachtet werden, deren übliche Einteilung in drei oder fünf Phasen die auffälligsten Umbrüche oder Neuorientierungen zu markieren gestattet. Andere Selbstwidersprüche dieses Philosophen erweisen sich bei genauerem Zusehen als Schein, der daraus entsteht, daß Nietzsche mit dem gleichen allgemeinen Begriff dessen verschieden bewertete Besonderungen benennt1 oder daß er einen Sachverhalt je nach seiner Beziehung zu anderen Sachverhalten entgegengesetzt bewertet2 bzw. ihn hinsichtlidi der verschiedenen ihm eigentümlichen Aspekte charakterisiert'. Gleichwohl bleiben Unvereinbarkeiten: auch, ja vor allem in den fun1

2

s

So beziehen sich ζ. B. negative Äußerungen über die von Nietzsche hochgeschätzten Griechen auf die Zeit von Sokrates an. „Die vorsokratisdie Welt steht unantastbar für ihn da", schreibt K. Jaspers, Nietzsche, 1946a, 239. — S. dazu aber im folgenden S. 84, Anm. 28. So sind nach W. Bröcker {Nietzsche und der europäische Nihilismus, Z. f. ph. F. III, 1949, 166) Nietzsches antisemitische Äußerungen letztlich antidiristlich motiviert, seine philosemitischen antideutsch. Das ist freilich ein wenig kurz gegriffen. Ursprünglicher, nämlich in Hinsicht auf Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, versteht L. Klages (Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, 1926, i$2 f.) dessen zwiespältige Bewertung der Juden: Nietzsche sehe in ihnen „das Volk der bisher mächtigsten und erfolgreichsten Priesterlichkeit". Er bewundere dessen tiefen und starken Machtwillen, seine Weisheit und Genialität; er bekämpfe diesen Machtwillen, insofern er letztlich gegen das Leben gerichtet sei. — S. dazu im folgenden S. 56 f. Vgl. M. Heideggers Ausführungen zur scheinbaren Widersprüchlichkeit in Nietzsches Deutung des „Toten": Nietzsche, 2 Bände, 1961,1 341—343.

1

damentalen Ausführungen Nietzsdies. Die Skala der Reaktionen hierauf reicht in der Nietzsche-Literatur von der Erklärung, daß dieser Denker wegen der Verworrenheit seiner Aussagen nicht zu den großen Philosophen zu zählen sei4, über seine Einschätzung als eines Künstlers, den man mit einem Philosophen verwechseln könne®, als eines philosophischen Dichters, von dem keine begriffliche Strenge erwartet werden dürfe', als eines allzu phantasievollen Schriftstellers, der die ,luftigen Kinder' seines Geistes nicht der „Kritik und Kontrolle durch die Wirklichkeit" unterworfen habe, weshalb er weder mit dieser nodi mit sich selbst zum „Einklang" gelangt sei7, über seinen Mißbrauch als eines Aphoristikers, dessen Denken „eine beliebige Auswahl aus zeitansprechenden Sätzen" bietet8 — bis zu den mannigfachen Bemühungen um den Nachweis der inneren Geschlossenheit der wesentlichen Gedankenführungen Nietzsches oder den Versuchen ihrer nachträglichen Systematisierung. Die beiden zuletzt genannten Bemühungen lassen sich hinsichtlich der angezeigten Problematik differenzieren. Die extremste Position bestreitet, daß bei Nietzsche überhaupt bedeutsame Widersprüche zu finden seien. So führt H. Vaihinger aus, daß dessen Gedanken „trotz ihrer aphoristischen Form, trotz ihrer systemlosen Folge einen streng geschlossenen, logisch befriedigenden Zusammenhang darstellen; sie fließen mit immanenter Notwendigkeit aus einem Grundprinzip und schließen sich zu einem lückenlosen Ring zusammen"9. Er sieht seine Aufgabe darin, „die anscheinend ordnungslos zerstreuten Splitter, die disjecta membra in ein streng konsequentes System" zu bringen10. Freilich muß er zugeben, daß neben der von ihm herausgearbeiteten „Hauptströmung noch allerlei Neben- und Unterströmungen bei Nietzsche" anzutreffen seien. Wenn er hinzufügt, daß dies auch bei anderen Denkern der Fall sei", so verharmlost er die kaum vergleichbaren Schwierigkeiten, vor denen die Nietzsche-Interpretation steht. Ein wenig vorsichtiger äußert sich A. Baeumler, dem es aber nicht weniger um den Erweis der Geschlossenheit des Werkes NietzR. H. Grützmacher, Nietzsche, 1917 3 , 143. A. Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, 1923 e , 25. β W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, 19 $ 7 " (hrsg. von H. Heimsoeth), Í77&. 7 P. Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, 1901, 100. 8 Auf welchen Mißbrauch K. Löwith in Von Hegel zu Nietzsche, 1950®, 2 1 1 , hinweist. — Löwith gibt an der gleichen Stelle eine Reihe von Beispielen für vordergründige und auflösbare Widersprüche im Werke Nietzsches. • Nietzsche als Philosoph, 1916 4 , 69. 10 AaO, 6 f. 11 AaO, 69. 4 8

2

sdies geht als Vaihingen ihm zufolge sollen die „Intuitionen Nietzsches" ein System bilden, das hervortrete, wenn man nur „wesentliche Aufzeichnungen von flüchtigen Notizen zu sondern" wisse". Das Kriterium für solche Sonderung sdieint allerdings letztlich in Baeumlers eigener »Intuition' zu suchen zu sein. Zum ,Flüchtigen' muß er den Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zählen, der sidi nicht in „das System" einfügen lasse, da er Nietzsches Grundlehre vom Willen zur Macht widerspreche. Er wird als „Ausdruck eines höchst persönlichen Erlebnisses", das religiösen Charakters sei, beiseite geschoben.13 Die Einsidit, daß sidi im Werke Nietzsches einander widersprechende Gedankenreihen finden, nötigt durchaus nicht zum Verzicht auf,Systematisierung'. Man kann, wie G. Simmel es getan hat, aus der Gesamtheit von Nietzsches Äußerungen „diejenigen auswählen, die einen bündigen, einheitlichen, bedeutsamen Gedankenzusammenhang ergeben". Simmel gesteht zu, daß sich Aussagen Nietzsches anführen lassen, die der von ihm vorgetragenen Interpretation „unversöhnlich entgegenstehen"". Trotz der im Vergleich mit Vaihinger und Baeumler behutsameren Einschätzung des eigenen Interpretationsversuches bleibt dodi bei Simmel das GegensatzProblem selber ebenfalls ausgespart. Man kann aber auch den in seiner Widersprüchlichkeit erst , ganzen' Nietzsche im Blick zu behalten suchen und gleichwohl die innere, ursprüngliche Einheit seines Werkes behaupten. Dies ist so geschehen, daß man als dieses Innerste etwas angesetzt hat, das nicht, oder wenigstens nidit in seinem die Gegensätze begründenden Sinn, in dem von Nietzsche selbst Geäußerten Ausdruck gefunden hat. Die Versuche, die verborgene Wurzel des Denkens Nietzsches freizulegen, haben zu grob simplifizierenden wie auch zu tiefgründigen Deutungen geführt. So schreibt G. Lukdcs, „das Systematische" der „vielfarbig sdiillernden, einander widersprechenden Mythen" Nietzsches liege darin, daß sie samt und sonders „Mythen der imperialistischen Bourgeoisie zur Mobilisierung gegen ihren Hauptfeind", nämlich den Sozialismus, darstellen16. K. Jaspers hingegen meint, „die Widersprüdilichkeiten und Zirkel der Nietzscheschen Gedankenbewegung" seien „am Ende nur das Mittel, indirekt zu berühren, was über Gestalt, Gesetz und Sagbarkeit hinausliegt", den 12

13 14 ls

Zur Einführung, in: Fr. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens. Der Nachlaß, 2 Bände, 1956, I, X X I I I . Nietzsche, der Philosoph und Politiker, 1931, 79 ff. Schopenhauer und Nietzsche, 1907, I X . Die Zerstörung der Vernunft, 1954, 316 f.

3

verborgenen Seinsgrund1®. M. Heidegger verzichtet darauf, „die einzelnen Unstimmigkeiten, Widersprüche, Nachlässigkeiten, das Voreilige und oft auch Oberflächliche und Zufällige in Nietzsches Darstellungen" aufzustöbern, um „demgegenüber den Bereich seines eigentlichen Fragens" aufzufinden17. Er sucht hierbei in das von Nietzsche Ungesagte, diesem selber Verborgene, sein Werk jedoch Tragende vorzudringen, das in der seinsvergessenen Metaphysik beruhe. In solchen Interpretationen wird die Problematik der Gegensätze beiseite geschoben zugunsten eines von Nietzsche selber nicht mehr thematisierten oder bedachten gegensatzfreien Fundamentes seines Philosophierens. Als dieses wird, je nach dem philosophischen Standort des Interpreten, höchst Verschiedenartiges angesehen. Orientiert man sich an der Mannigfaltigkeit solcher Deutungen, so gerät man in die Gegensätze der Nietzsche-Interpretationen hinein, ohne doch Nietzsches Philosophie der Gegensätze in ihrer Eigentümlichkeit zureichend bedacht zu haben. Dieser Eigentümlichkeit scheinen nun die Versuche Rechnung zu tragen, die Nietzsches Denken aus der Besonderheit seiner Persönlichkeit ableiten. Selbstzeugnisse des Philosophen legen eine solche psychologische Begründung nahe. Er schreibt: „Ich würde an jedem einzelnen meiner Affecte zu Grunde gegangen sein. Ich habe immer einen gegen den anderen gesetzt."18 Im Rückblick auf sein Werk spricht Nietzsche in ,Ecce homo' von einer „doppelte(n) Reihe von Erfahrungen", einer „Zugänglichkeit zu anscheinend getrennten Welten", die sich in seiner Natur „in jeder Hinsicht" wiederhole. Sei er doch sowohl ein décadent, als and) „dessen Gegensatz": ein Wohlgeratener.1" Schon L. Andreas-Salomé hat den Versuch unternommen, die „Vielspältigkeit" Nietzsches, die sich in der Folge des „Innenkrieges" seiner Triebe auf eine „um so tiefer gehende Zweispaltung" reduziere20, als Basis seiner ganzen Philosophie zu begreifen. Im Zuge ihrer Entwicklung werde diese immer mehr „zu einer ungeheuren Widerspiegelung seines Selbstbildes", Nietzsche verallgemeinere „seine Seele zur Weltseele"81. Auch E. Bertram geht in seiner Bemühung um eine mythische VerNietzsche, aaO, ι $4. Nietzsche, aaO, I 78 f. 19 Nachlaß, XII224. » EH, X V Ii ff. 20 Friedrich Nietzsche in seinen Werken, 1894, 33. 21 A a O , 23. — Andreas-Salomé führt u. a. aus, daß Nietzsches angebliche „Selbstvergottung" darin wurzele, daß er ein „Dividuum" sei: zerspalten in zwei „Wesenheiten", verhalte er sich zu der einen wie zu einem höheren Wesen (aaO, 34—39). D a ß er die andere unterjochen müsse, finde in seiner Auffassung des Kampfes zwischen 18 17

4

klärung Nietzsches von dessen „Doppelseelenhaftigkeit" aus". Während Andreas-Salomé betont, daß Nietzsche vergeblich die Einheit seiner Persönlichkeit erstrebt habe, spricht Bertram dem Philosophen die „Aufgabe der Versöhnung, der Vereinigung des Nichtzuvereinenden" zu8a. Offensichtlich soll die Mythenbildung diese Aufgabe übernehmen und weiterführen: es scheint Bertram, „als nehme die ganze Entwicklung des Nietzschebildes den Verlauf zu einem Mythos des gläubigen Zweiflers, zu einer Legende des gottsuchenden Lästerers, zur Gestalt eines prophetischen Endbeginns hinüber"84. Dodi ob die Gegensätze psychologisch deduziert oder mythisch vernebelt werden: die solchen Verfahren vorausgehende Reduktion auf die Eigenart der Persönlichkeit Nietzsches hat die philosophische Fragestellung immer schon eliminiert. Der Wahrheitsanspruch der in Widerstreit zueinander stehenden Gedankenreihen kann nicht mehr ernstlich von den Sachverhalten her bedacht werden, die Nietzsche erörterte, wenn diese Erörterungen lediglich als Ausfluß seiner individuellen Konstitution aufgefaßt werden. Anders steht es, wenn man mit M. Landmann die Widersprüche Nietzsches „nicht aus einer persönlichen Querköpfigkeit" zu verstehen sucht, sondern sie als „schicksalhafte(n) Ausdruck einer Spätsituation" begreift88. Diese Spätsituation sei bestimmt durch das Bewußtsein der sich mehrenden Diskrepanzen, die sich durch das „Autonomwerden der Kulturgebiete" seit der Renaissance entwickeln und die bis dahin „mögliche Geschlossenheit des Kosmos" durchbrechen8*. Wenn es sich so verhält, dann sind die Selbstwidersprüche Nietzsches nicht wesentlich persönlicher Natur. In ihnen drückt sich dann vielmehr die Widerspriichlichkeit der modernen Welt aus. Und es ist Landmann redit zu geben, wenn er findet, daß Nietzsches Zerrissenheit „noch immer unsere Zerrissenheit" sei und daher die Beschäftigung mit seinem Denken nicht bloß historische Bedeutung habe.87 Nietzsche versteht sich selbst wesentlich als Kritiker seines Zeitalters. Zwar kann er sagen: „Wer seine Zeit angreift, kann nur sich angreifen: Herren- und Sklavenmoral Ausdruck. Sie sei „nichts als eine vergröberte Illustration dessen, was im höchsten Einzelmenschen vorgeht, des grausamen Seelenprozesses, durch den dieser sich in Opfergott und Opferthier spalten muß". Hierin aber schildere Nietzsche die Gegensätzlichkeit seines eigenen Idi (aaO, 196 f.). 22 Nietzsche, Versuch einer Mythologie, 1919®, 10. 23 AaO, i j . Vgl. u. a. aaO, 41, 52, 13$, 196, 203, 213, 308. ** AaO, 8. 25 Geist und Leben. Varia Nietzscheana, 19ji, 8$. » AaO, 121. 87 AaO, 97 f.

5

was kann er denn sehen wenn nicht sich?"28 Aber damit im Idi die eigene Zeit angegriffen werden kann, muß es sich deren vielfältigen geistigen Strömungen ausgesetzt haben, muß es zum vollen Zeitbewußtsein ausgeweitet worden sein. Daher bestehen Nietzsches Ehrgeiz, seine Tortur und zugleich sein Glück darin, „den ganzen Umkreis der modernen Seele umlaufen, in jedem ihrer Winkel gesessen zu haben". 2 ' Er, der „passionirt" ist „für die Unabhängigkeit", hat doch, weil er sich solchermaßen seiner Gegenwart ausliefert, „die abhängigste Seele" und wird „an allen kleinsten Stricken mehr g e q u ä l t . . . als andere an Ketten". 80 Nun findet er, auf sich, d. h. auf seine Zeit, reflektierend: „Wir haben, wider Wissen, wider Willen, Werthe, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Herkunft im Leibe." 31 Er konstatiert, daß „das Problem des neunzehnten Jahrhunderts" in der „Verschiedenheit seiner Ideale und deren Widerspruch" bestehe. Ihn beschäftigt die Frage, ob diese Gegensätzlichkeit nur Ausdruck der Schwäche, der,Krankheit', des Zerfalls sein müsse, welche er in den Erscheinungen seiner Zeit so vielfältig antrifft, oder ob in ihr auch der Keim zu einer künftigen Stärke und Gesundheit, zu einer Synthese liege. Und er findet, es könnte „die Vorbestimmung zur Grösse sein, in diesem Ma[a]sse in heftiger Spannung zu wachsen."82 Was Nietzsche hier nur als Möglichkeit nennt, spricht er in den verschiedenartigsten Zusammenhängen als seine Uberzeugung aus: daß die Gegensätze in Kultur und Gesellschaft zu fördern und zu vertiefen seien, weil nur durch sie Höheres erreicht werden könne. Er sagt es auch umgekehrt: daß die Annäherung von einander Entgegengesetzten zu deren Entartung führen müsse.33 Die allgemeinen Hinweise auf die Herkunft der Gegensätze im Denken Nietzsches können uns allerdings so wenig von der eigentlichen philosophischen Fragestellung befreien wie Andeutungen hinsichtlich ihrer Uberwindung in irgendeiner Zukunft. Die genannte Gegensätzlichkeit muß zum Austrag gebracht werden. In der Nietzsche-Literatur hat man sich dabei überwiegend auf den Widerspruch konzentriert, der zwischen den Lehren vom Willen zur Macht bzw. vom Ubermenschen und der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen herrsche. K. Löwith sieht in ihm den „fundamentalen Widerspruch" Nietzsches, „der einem Grund28

Nachlaß, X I 1 3 5 . » WzM, X V I 378. 30 Nachlaß, X I 391. 31 WA, VIII 51. 32 WzM, X V 222. 33 Z. B. WzM, X V I 259. 2

6

konflikt im Verhältnis von Mensch und Welt — ohne Gott und gemeinsame Schöpfungsordnung" entspringe. Er sei der Widerspruch Nietzsdies schlechthin und liege auf einer anderen Ebene als die vielfältigen auflösbaren „Gegen-Sätze", die sich in seinem Werke fänden.34 Löwith findet, daß Nietzsche auf der Spitze der Modernität mit dem Wiederkunftsgedanken die antike Ansicht der Welt wiederholt, ohne diesen Gedanken mit seinen Ausführungen zum Ubermenschen in Einklang bringen zu können. Im Rahmen einer eindringlichen Untersuchung Nietzschescher Texte wird damit der Herkunft des Wiederkunftsgedankens besondere Bedeutung zugemessen und mit dem ,modernen* Gedanken des Übermenschen konfrontiert. Demgegenüber betont E. Fink die Zukunft der beiden Lehren Nietzsches. Dieser denke, so führt Fink aus, „die beiden Gesichter des Janus zusammen in seinem Begriff des Dionysos". Nietzsche greife „nicht zur mythischen Erinnerung nur, wenn er seine widerspenstig-einheitliche Grundauffassung des Lebens aussagen" wolle, er stehe „in der Morgendämmerung eines neuen Mythos von der Göttlichkeit der Welt". Er lösche den Gegensatz zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkunft nicht aus, aber binde doch beide zur Einheit ineinander. Freilich bleibe bei ihm „das eigentümliche Wesen dieser Einheit" unbegriffen.85 Der Mangel, der diesen wie anderen Bemühungen anhaftet, die Gegensätze des Philosophierens Nietzsches zu bedenken, beruht darin, daß in ihnen nicht vorgängig Nietzsches Philosophie der Gegensätze in zureichendem Maße Rechnung getragen wird. Grundlegender, als es seine oben genannten Äußerungen vermuten lassen, hat er den Gegensatz als Konstitutivum der Welt zur Geltung zu bringen versucht. Weil für Nietzsche von vornherein das Ganze der Wirklichkeit durch den .Kampf' von Gegensätzen bestimmt wird, deshalb sieht er sich im Vollzuge seines Philosophierens genötigt, die Gegensätze im einzelnen mit aller Schärfe herauszuarbeiten. Zwar ist sein Ziel die Synthese dessen, was schon durch sein Gegeneinander in eigentümlichen Beziehungen zueinander steht. Schließlich bricht jedoch immer wieder auseinander, was Nietzsche zu in sich gegliederter Einheit zu bringen sucht. Die Unvereinbarkeit tritt an die Stelle des Gegeneinander. Je entschiedener er jene zu überwinden trachtet, desto deutlicher tritt sie hervor. Aus seiner Philosophie der Gegensätze erwachsen so die unüberbrückbaren Gegensätze seines Philosophierens. a4 35

Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Nietzsches Philosophie, i960, 173—176.

1955s, 13 f. 7

Nietzsche hat das Problem der Gegensätzlichkeit immer wieder thematisiert. Die Ausführungen in dieser Arbeit werden zeigen, welchen Umfang diese Thematisierung annimmt und in welche Gründe und Abgründe sie hinabführt. Indem Nietzsche nach der Beschaffenheit der .wirklichen' Gegensätze fragt, gelangt er über eine Destruktion metaphysischer Uberzeugungen und logischer Geltungsansprüche zu seiner Lehre von den Willen zur Macht, die in ihrem Kräftespiel aufeinander verweisen. Indem er der Herkunft der Wertgegensätze nachgeht, die in seinem Jahrhundert lebendig sind, wird er zur Ausarbeitung seiner primär am Phänomen der Moral orientierten gescbichtsphilosophischen Vorstellungen genötigt. Indem er den Machtwillen nachfragt, die unter dem Streit der Widersprüche in sich zerfallen, eröffnet sich ihm das Problem des Nihilismus. Indem er von der Gegensätzlichkeit der Machtwillen als dem letztlich Wirklichen ausgeht, wandelt sich ihm das Verständnis von Wahrheit. Doch die beiden Momente, die seine »neue Wahrheit' konstituieren sollen, erweisen sich als mit einander unvereinbar. Indem er den Menschen zu denken versucht, der die Gegensätze zu bewältigen vermögen soll, richtet er das Bild des Übermenschen auf. Dodi dieses spaltet sich in zwei Bilder, die einander ausschließen. Indem er in dem einen Typus des Übermenschen die Synthese aller Gegensätze vorstellt, das Ja zu allem, was war, ist und sein wird, muß er ihn dem Anspruch der Lehre von der ewigen Wiederkunft aussetzen, die dieses Ja uneingeschränkt fordert. Auch der andere Typus des Ubermenschen, der rücksichtslose Starke, erfährt seine höchste Ausprägung in der Konfrontation mit der Wiederkunftslehre. Doch selbst noch diese erweist sich als in sich auf eine Weise widerspruchsvoll, die es unmöglich macht, sie als gültigen Ausdruck des einen, durch Gegensätze gespeisten Weltzusammenhangs zu denken. Man könnte nun meinen, diese Untersuchung gelange, wenn auch auf anderen Wegen, schließlich doch zu den gleichen Ergebnissen, die bereits in der Nietzsche-Literatur vorliegen. Daß dem nicht so ist, soll in der Arbeit selber zutage treten. Dabei wird sich z. B. die immer wieder behauptete Unverträglichkeit der Lehren vom Willen zur Macht resp. vom Ubermenschen und der Wiederkunftslehre als Schein enthüllen, während andererseits wesentliche Unvereinbarkeiten aufbrechen, die bisher nicht in den Blick der Nietzsche-Interpreten geraten sind. Die nachstehenden Ausführungen stellen den Versuch dar, Nietzsches Werk vom Grunde seines philosophischen Ansatzes her zu verstehen und, von diesem ausgehend, zu den höchsten Ausprägungen seiner Gedankengänge zu führen. Erst so können deren Zusammenhänge wie auch das sich 8

auf den verschiedenen Gedankenstufen wiederholende Scheitern Nietzsches sichtbar gemadit werden. Zu fragen bleibt, ob ein Philosoph unvermeidlich scheitert, der dem „Zauber der entgegengesetzten Denkweise" immer wieder erliegt und der schließlich nicht gewillt ist, sich „den Anreiz des änigmatisdien Charakters" des Daseins nehmen zu lassen.3"

» WzM, XVI 4 f.

9

„Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äussern..." (WzM, X V I 1 2 3 )

ERSTES K A P I T E L

Der Schein der Gegensätze und die wirkliche Gegensätzlichkeit der Willen zur Macht Der Erörterung der Gegensatz-Problematik im Denken Nietzsdies stellt sich eine eigentümliche Schwierigkeit in den Weg: seine Äußerungen über das Bestehen von Gegensätzen scheinen selber von gegensätzlicher Art zu sein. So führt er einerseits aus, man sei fruchtbar nur „um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein"1. „Um Classiker zu sein", müsse man „alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben"*. An Händel, Leibniz, Goethe und Bismarck — die „für die deutsche starke Art charakteristisch" seien — bewundert er die Unbedenklichkeit des Lebens „zwischen Gegensätzen..., voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält"3. Es ist Nietzsches grundsätzliche „Einsicht", „dass mit jedem Wadisthum des Menschen auch seine Kehrseite wachsen muss"4. Sucht man die Kehrseite abzuschaffen, so schwindet auch das Ideal der Vorderseite hin, das man doch gerade erhalten sehen möchte®. Die Gegensätze gehören komplementär zueinander. Daher gilt es, die Gegensatz-Spannungen zu fördern in Richtung auf das Entstehen des höchsten Menschen. Er könnte „den Gegensatz-Charakter 1 2 3 4 5

10

G D , V I I I 86. WzM, X V I 264. WzM, X V I 297 f. WzM, X V I 296. »Will man einmal eine Person sein, so muss man audi seinen Schatten in Ehren halten": M A II (VM), III 46; vgl. auch die Vorstufe, Nadilaß 1878, K A W , IV/3 369: „Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, audi einen Schatten zu haben." — Gegen die Anhänger sozialistischer Theorien schreibt Nietzsche: „Wenn ihr die starken Gegensätze und Rangverschiedenheiten wegschaffen wollt, so schafft ihr die starke Liebe, die hohe Gesinnung, das Gefühl des Für-sidi-seins auch ab." (WzM, X V I 327)

des Daseins am stärksten" darstellen. Und dieses soll in ihm seine „Glorie und einzige Rechtfertigung" finden®. Umso befremdlicher klingt es, wenn Nietzsche andererseits bestreitet, daß in der Wirklichkeit überhaupt Gegensätze anzutreffen seien. „Es giebt keine Gegensätze: nur von denen der Logik her haben wir den Begriff des Gegensatzes — und von da aus fälschlich in die Dinge übertragen."7 Demzufolge fordert er, „dass man die Gegensätze herausnimmt aus den Dingen, nachdem man begreift, dass wir sie hineingelegt haben"8. Bei näherem Zusehen erweist sich der damit auftretende Widerspruch freilich als Schein. Um dies deutlich zu machen, soll zunächst der fundierenden Bedeutung der Logik für die Gegensätze nachgefragt werden. Dabei ist zu beachten, daß für Nietzsche die Logik selbst ein Gewordenes ist. Ihre Grundsätze sind nicht ein Letztes, Irreduzibles, aller Weltorientierung immer schon Vorgegebenes. Sie entspringen der „Nöthigung, uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird"'. Diese Nötigung ist eine „subjektive", d. h. eine aus den besonderen Lebensbedingungen des Menschen erwachsende und insofern „eine biologische Nöthigung"10. Im ursprünglichen »Reich der Unlogik' — so führt er in der .Fröhlichen Wissenschaft' aus — gingen diejenigen Wesen zugrunde, „welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen". „Wer zum Beispiel das ,Gleiche' nicht oft genug aufzufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang — denn es giebt an sich nichts Gleiches —, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen."11 In Wirklichkeit hat das Ähnliche nichts mit einem vermeintlich Gleichen zu schaffen. Es „ist kein Grad des Gleichen: sondern etwas vom Gleichen völlig Verschiedenes". Genau be« WzM, X V I 2 9 6 . 7 WzM, X V I $6. 8 WzM, X V 231. » WzM, X V I 34. 10 WzM, X V I 28. — Zum Vorwurf des Biologismus gegen Nietzsche vgl. M. Heidegger, Nietzsdie, 2 Bände, 1961, Bd I, 615 ff. 11 FW, V 152. — „Jede uns fördernde Erkenntniss ist ein Identificiren des Nichtgleichen, des Ähnlichen d. h. ist wesentlich unlogisch. Wir gewinnen einen Begriff nur auf diesem Wege und thun nachher, als ob der Begriff ,Mensch' etwas Thatsädiliches wäre, während er doch nur durch Fallenlassen aller individuellen Züge von uns gebildet ist." (Nadilaß, X 172)

11

sehen gibt es freilich so wenig an sich Ähnlidies wie an sich Gleiches: Ähnlichkeit ist immer nur Ähnlichkeit „für uns"12. Zuvor, in Menschliches, Allzumenschliches', war Nietzsche bei seinem Bemühen, dasjenige ausfindig zu machen, dem die Logik entspringen könnte, noch weiter zurückgegangen: von den „niederen Organismen her" sei „dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt"13. In diesen wie auch in späteren Bemühungen um die Genealogie des Logisdien hält er daran fest, daß der aller Logik vorausgehende und sie begründende Akt im Gleichmachen des an sich Ungleichen besteht14. Dieses Gleichmadien, durch das sich die Lebewesen erhalten, ist dann ein Verfälschen dessen, was wirklich ist. Und erst auf der Grundlage der Fälschung kann sidi „der Wille zur logischen Wahrheita vollziehen. Ein „Trieb" ist es, der in beiden waltet: in der grundlegenden Fälschung und in der auf dieser errichteten Logik16. Die Wirklichkeit wird aber nicht nur verfälscht, indem das Verschiedene als gleich angesehen wird. Solche Gleichsetzung hat die täuschende Uberzeugung zu ihrer Grundlage, daß jedes der Gleichgesetzten mit sich selbst identisch ist und bleibt. Das Gleichmadien ist immer auch schon ein Fest-madien. In Wirklichkeit gibt es nichts Festes, nichts Beständiges, sondern nur den Strom unaufhörlichen Werdens und Vergehens. Diesem Grundgedanken Nietzsches steht am schroffsten der jEleatismus' gegenüber, welcher freilich in den Bedürfnissen der Lebewesen tief verwurzelt ist. So legt Nietzsche dar, daß für die Pflanze nicht nur „jedes Ding mit sich selbst gleich", sondern auch „ruhig", ja „ewig" ist. Er mutmaßt schließlich, darin das Gleichmachen wie das Festmachen in ihren äußersten Möglichkeiten fassend, der „Urglaube alles Organischen von Anfang an" könne darin bestanden haben, daß für es die Welt „Eins und unbewegt" gewesen sei". Mittels der Akte des Gleich- und Festmachens ,bilden* die Menschen die Dinge. Die aufgrund solcher Bildung erfolgende Annahme von Dingen stellt „die Voraussetzung für den Glauben an die Logik" dar. Das A der " Nachlaß, X I I 28. MA I, I I 3$. — Vgl. Nachlaß, X I I I 21 ff. 14 »Vor der Logik, welche überall mit Gleichungen arbeitet, muss das Gleichmachen, das Assimiliren gewaltet haben: und es waltet noch fort, und das logische Denken ist ein fortwährendes Mittel selber für die Assimilation, für das Sehen-wollen identischer Fälle." (Nachlaß, X I I I 236) Hierbei wirken Begriffsbildung und Sinneswahrnehmung zusammen. Auch die letztere wird von der Nötigung zum Gleichmachen bestimmt. Ihr „Vereinfachen, Vergröbern, Unterstreichen und Ausdichten" wird vom Verstand „unterstützt" (WzM, X V I 34). 15 WzM, X V I 26. »· MA I, I I 3 f . 18

12

Logik ist eine „Nachconstruktion des ,Dinges* Und die logischen Grundsätze sind lediglich Imperative „zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt"18. Zwar finden wir uns immer schon in einer „logisch" geordneten Wirklichkeit vor. Dies aber nur deshalb, weil wir, „längst bevor uns die Logik selber zum Bewusstsein kam, nichts gethan haben, als ihre Postulate in das Geschehen hineinlegen Daß die Logik wirklichkeitsinadäquat ist, läßt sie keineswegs entbehrlich werden. Sie war ursprünglich „als Erleichterung gemeint"20 und ist uns inzwischen habituell geworden. Insofern sind wir „necessitirt zum Irrthum"21. In solchen Grenzen läßt Nietzsche sie audi gelten. Ohne ihre Fiktionen könnte der Mensch nicht leben22. Ihre Falschheit tut ihrer Lebensdienlidikeit keinen Abbruch23. Seine Kritik richtet sich allein darauf, daß sie später als Wahrheit gewirkt hat24. Obwohl die Logik nur „eine Art Rückgrat für Wirbelthiere", selber „nichts an-sich-Wahres" ist25, zweifelt sie nicht daran, „etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können"2®. Es läuft auf dasselbe hinaus, ob sie in den Dingen selber oder in Urbildern von diesen ihre angeblichen Wahrheiten zu finden meint, oder ob sie diese als reine Erkenntnisse ansieht, die aller Erfahrung vorhergehen. In beiden Fällen wird davon abgesehen, daß es sich bei ihren Grundsätzen um nichts anderes als um „regulative Glaubensartikel" handelt27. Eine bloß scheinbare Welt wird als die wahre ausgegeben und über die Wirklichkeit gelegt: die Logik entartet zur Zwei-Welten-Lehre, zur Metaphysik. Was denn die Menschen dazu getrieben hat, die lebensdienlichen Funktionen der Logik zu metaphysischen ,Wahrheiten* aufzublähen, wird später noch zu erörtern sein. Die voranstehenden Hinweise sollten lediglich erst einmal den Horizont für die Frage nach dem Ursprung der Gegensätze aus der Logik abstecken. Dieser Ursprung kann nun herausgearbeitet werden. Das Gleich- und Festmachen konstituiert die Logik. Seinen für die Gegensatzproblematik wesentlichen Ausdruck findet es im Satz vom Widerspruch. Dieser scheidet die Möglichkeit aus, daß ein und derselben ,Sache' 17 18

»

20 21 28

»

24 21

» »

WzM, XVI29. WzM, XVI29. WzM, XVI 31. WzM, XVI47. GD, VIII79. JGB, VII 12 f. JGB, VII 12 f. WzM, XVI47. Nachlaß, XIII 88. WzM, XVI 30. WzM, XVI42. 13

zur gleichen Zeit entgegengesetzte Prädikate zukommen können. In ihm „regiert" das von Nietzsche als grob und falsch charakterisierte Vorurteil, man könne nicht zwei entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben88, wie im Satz von der Identität der oberflächliche „,Augenschein', dass es gleiche Dinge giebt"2". Daß es uns „misslingt", dasselbe zugleich zu bejahen und zu verneinen, ist nur „ein subjektiver Erfahrungssatz" ohne sachgegründete Notwendigkeit30. „Das Nicht-widersprechen-können beweist ein Unvermögen, nicht eine,Wahrheit' " 31 . Jedenfalls kann nicht vorausgesetzt werden, der Satz des Widerspruchs gelte bei den „Dingen", „die Verschiedenes, Entgegengesetztes sind"S2. Nietzsche nimmt auf diese Weise die Gegensätzlichkeit, die ihm zufolge dem Wirklichen selbst zukommt, in Schutz gegen die Ansprüche der Logik. Dabei steht ihm allerdings vor Augen, daß aus dem logisdien Postulat der Widerspruchslosigkeit nun selber eine freilich nur scheinbare Gegensätzlichkeit erwächst, die jedoch den wirklichen Gegensatzcharakter des Lebens verschleiert. Die Ausscheidung entgegengesetzter Bestimmungen aus einem Sachverhalt kann das Ausgeschiedene nicht schlechtweg negieren, da es faktisch vorgefunden wird bzw. sich immer erneut aufdrängt. Sie trennt es nur von dem ab, das mit sich selbst identisch sein soll. Das Abgetrennte kann dann nach dem Schema der Identität in sich weiter gegliedert werden. So wird eine Vielheit von für sich Gesetzten gedacht. Wenn die Logik nun zum „Kriterium des wahren Seins" erhoben wird und in Metaphysik umschlägt, dann werden die ursprünglich subjektiven Ausdrucksmittel in die Wirklichkeit hineinprojiziert. „Alle jene Hypostasen: Substanz, Prädikat, Objekt, Subjekt, Aktion u.s.w." werden „als Realitäten" gesetzt33. Die Wirklichkeit wird auseinandergerissen und erst naditräglich ein commercium der angeblich Insichselberberuhenden konstruiert, ζ. B. mittels des Schemas von Kausalität. Aber „Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie — in Wahrheit steht ein continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren"84. Dem Glauben an sie liegt zugrunde „die Trennung des .Thuns' vom ,Thuenden', des Geschehens von einem, der geschehen madht, des Processes von einem Etwas, das nicht Pro28 28 30 31 32 33 34

14

WzM, X V I 3 0 . WzM, X V I 32. WzM, X V I 28. WzM, X V I 28. Nachlaß, IX 187. WzM, X V I 29. FW,Vi$4.

cess, sondern dauernd, Substanz, Ding, Körper, Seele u.s.w. ist"85. Wo nun die scheinbaren Realitäten sich nicht ohne weiteres in einen Zusammenhang bringen lassen, nehmen sie sich „für ein gewisses Maass an Optik" als Gegensätze aus. Um solche handelt es sich aber in Wahrheit nicht: die als Dinge gesehenen und miteinander verglichenen Geschehenskomplexe weisen bloß eine Gradverscbiedenheit auf, ζ. B. „eine Verschiedenheit im Tempo des Geschehens", wie im Falle des vermeintlichen Gegensatzes Bewegung— Ruhe38. Und da es „leichter" ist, „Gegensätze zu denken als Grade"37, führt uns „schlechte Gewohnheit" dazu, „audi noch die innere Natur, die geistigsittliche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen"38. So entsteht schließlich „der Grundglaube der Metaphysiker": „der Glaube an die Gegensätze der Werthea3t. Soviel über das Entstehen der vermeintlichen, als wirklich geglaubten Gegensätze aus „denen der Logik"40. Nicht dem Gebrauch der letzteren, deren lebenserleichternde Funktionen dem Menschen unentbehrlich sind, wohl aber der Annahme der ersteren gilt Nietzsches Kritik. Nun wurde aber schon darauf hingewiesen, daß er andererseits gegen den Satz vom Widerspruch die Wirklichkeit der Gegensätze ins Feld führt. Gleichwohl stoßen wir hier nicht auf Unvereinbares. Dem genaueren Zusehen zeigt sich nämlich, daß Nietzsche allein jede als absolut verstandene Gegensätzlichkeit bestreitet, in der für sich bestehende, in sich beruhende Seiende unvermittelt einander gegenüberstehen sollen. Wohl aber behauptet er eine immanente Gegensätzlichkeit der Weltwirklichkeit. Sie soll in den konkreten Entgegensetzungen beruhen, in die sich die eine Welt immer schon entfaltet hat und ständig weiter entfaltet. Es ist das Grundmotiv seines Denkens (nach der Uberwindung des Einflusses insbesondere der Schopenhauerschen Metaphysik), das hier ins Spiel tritt: gegen jede Art von metaphysischem Dualismus die Einzigkeit dieser Welt zu behaupten. Die wirklichen Gegensätze, die sein Philosophieren zugesteht, sollen einander nicht ausschließen, sie sollen von einander abgeleitet werden können. Der zweite Aphorismus des ersten Hauptstücks von ,Jenseits von Gut und Böse' läßt Nietzsches Auffassung noch deutlicher hervortreten als seine früheren WzM, X V I 109, ygl. audi $2 ff.; ferner GM, VII 326 ff., Nadilaß, XIII 60, 61 und Nachlaß, X I V 328 f. 39 WzM, X V I 55 f. 37 Nadilaß, XII 101. Vgl. audi WzM, X V 166 f.: „Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäss, weil leichter fasslich 38 M A II (WS), III 67. 38 JGB, V I I 10. » WzM, X V I 5 6. 35

15

Ausführungen.41 Er wendet sieb hier gegen den Schein, der Wille zur Wahrheit könne nicht aus dem Willen zur Täuschung entspringen, die selbstlose Handlung nidit aus dem Eigennutze, die interesselose Kontemplation nicht aus der Begehrlichkeit. Der metaphysischen Folgerung: „die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, eigenen Ursprung haben", dieser liege „im Schoosse des Sein's, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im ,Ding an sich' " — hält er entgegen, daß der „Werth jener guten und verehrten Dinge" gerade darin bestehen könne, daß sie „mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich" seien.42 Von der Methode der Ableitung eines Sachverhalts aus dem ihm entgegengesetzten macht Nietzsche bekanntlich reichen Gebrauch. Die Genealogie des Logischen aus dem Unlogischen, auf die wir stießen, ist nur ein Beispiel. Uberhaupt gilt ihm der Wille zum Nichtwissen, zum Unwahren, als der Grund alles Wissenwollens. Letzteres ist nur die „Verfeinerung", nicht aber der (absolute) Gegensatz des ersteren.48 Die Genealogien Nietzsches, insbesondere die seiner moralkritischen Entlarvungspsychologie, haben zu nicht geringem Teile die Faszination mitbegründet, die sein Denken in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts ausgeübt hat. Im Gegenschlag dazu ist immer wieder auf ihre Fragwürdigkeiten, vor allem auf ihre Simplifikationen und Gewaltsamkeiten, hingewiesen worden. Die im einzelnen oft berechtigten Nietzsche-Kritiken bleiben dabei freilich zumeist dem Vordergründigen verhaftet. Wesentlicher ist es, die Grundbemühung des Philosophierens Nietzsches zu würdigen: den Gegensatzcharakter des Daseins als Faktizität, ja als Letztgegebenheit (die sich in ihrer Konkretion freilich immer wieder entzieht, wenn man sie in den Griff zu bekommen sucht) zu akzeptieren, ohne damit einem metaphysischen Dualismus oder einem Systemdenken im Sinne Hegels anheimzufallen. Kann denn aber Nietzsche überhaupt noch ernsthaft von Gegensätzen sprechen, wenn er sie auf Gradverschiedenheiten reduziert? Ist der affirmative Gebrauch des Begriffs Gegensatz, von dem oben schon einige Beispiele gegeben wurden44, vielleicht nur uneigentliche Ausdrucksweise, bei der man ihn nicht behaften sollte? Läßt denn seine Lehre vom Kontinuum des haltlosen Geschehens als des wahrhaft Wirklichen einem tatsächlichen Gegeneinanderstehen überhaupt noch Raum? 41 42 43 44

16

In ΜΑ 1 , 1 1 1 7 f. JGB, VII 10 f. JGB, VII 41. S. S. IO f.

Nietzsche will nun aber gerade im Grunde dieses Geschehens die wirklichen Gegensätze aufzeigen, und zwar als das, was das Geschehen erst ermöglicht. Um sie aufzufinden, müssen zuvor die Konsequenzen aufgezeigt werden, zu denen seine Leugnung des Beständigen zugunsten des reinen Prozesses gelangt. Die Fiktion von Beständigem resultiert aus dem Gleichund Vest-machen. Das Wesen, das diese Akte vollzieht, ist aber selber ursprünglich nicht schon ein mit sich selbst gleiches und festes. Zwar versteht es sich als solches. Dies aber nur darum, weil es sich als mit sich selbst identisch fest-stellt. Auch hier gilt, daß „nicht die Gleichheit", die „zu leugnen" ist, sondern „das Gleich-seizera und 2.ureàit-machen" den „Thatbestand" bilden45. Nietzsche sagt sogar einmal, erst nach dem Vorbild unseres Selbstverständnisses hätten wir „die Dinglichkeit erfunden und in den Sensationen-Wirrwarr hineininterpretirt"4®. Wie gehen wir in der Konstituierung unseres Selbstverständnisses vor? Wir glauben „an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls", die uns gegeben sind. Diese Einheit führen wir auf einen dem Mannigfaltigen solcher Erfahrungen gemeinsamen Grund zurück. Letzterer wird als die eine Ursache verstanden, aus der als Wirkung all das hervorgehen soll, was mit dem genannten Glauben umgriffen wird. Da die Realitätsgefühle eine Ursache anzuzeigen scheinen, werden sie selbst als gleich gesetzt. Der Ursache selber geben wir ζ. B. den Namen des ,Subjekts'. „,Subjekt* ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände in uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber wir haben erst die ,Gleichheit' dieser Zustände geschaffenWie läßt sidi dann aber dieses ,Wir' charakterisieren, das an die vorgenannte Einheit glaubt und das aller Selbstidentifikation vorausgeht? So wenig diesem Ursprünglichen der Titel .Subjekt' angemessen ist, so wenig auch der des ,Individuums'. Auch bei diesem handelt es sich um unsere sekundäre und „falsche Verselbständigung... als Atom"*". Läßt sich aber auf ein Vor-Individuelles ein Personalpronomen anwenden? Ist es denn in Wahrheit ein ,Wir', ein ,Ich'? Das Ich, unser ältester „Glaubensartikel"49, ist Nietzsche zufolge nur 45

WzM, X V I 1 4 . WzM, X V I 5$. — Eine Aufzeidmung aus der Zeit der Entstehung der ,Fröhlichen Wissenschaft' (1881/82) stellt dieses Verhältnis allerdings umgekehrt dar: „Zuerst entsteht der Glaube an das Beharren und die Gleidiheit ausser uns, — und später erst fassen wir uns selber nadi der ungeheuren Einübung am Ausser-uns als ein Beharrendes und Sich-selber-Gleiches, als Unbedingtes auf." (Nadilaß, X I I 27) " WzM, X V I 1 4 . 48 WzM, X V I 218. 48 WzM, X V I 1 1 2 · 46

17

ein anderes Wort für das Subjekt. Wie er von diesem sagt, es sei „nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes"50, so heißt es von jenem, es sei hinzuerdacht, hinzuerfunden: und zwar vom Denken „zur Vielheit seiner Vorgänge" hinzuerfunden 51 . „Durch das Denken wird das Ich gesetzt.""2 Die Vielheit der Denkvorgänge ist aber selber nur „Aussenseite": „Symptom viel innerlicheren und gründlicheren Geschehens"53. So sieht man sidi wiederum auf das verwiesen, was Nietzsche Geschehen nennt. Als Geschehen muß auch das verstanden werden, was sich selbst als ,Individuum* mißversteht: Das .Individuum' ist in Wahrheit „der ganze Process in gerader Linie" 54 . Es ist unaufhörlich Sichwandelndes. Der Wandel vollzieht sich gründlich': es liegt kein Bleibendes zugrunde, woran er geschieht. In solcher Einsicht löst sich ,das Individuum' in eine Unzahl von »Individuen' auf, die in unendlich kleinen Augenblicken nacheinander folgen55. Diese Charakterisierung reicht freilich nicht aus. Zu fragen ist doch: was hält dieses Mannigfaltige gleichwohl in jenem Zusammenhang, der von einem Prozeß zu reden gestattet? Was überhaupt ermöglicht das Geschehen in seinem Nacheinander? Das Nacheinander wird durch das Gegeneinander einer Vielheit von Kräften konstituiert. Immer wieder stellt Nietzsche den Menschen als eine solche Vielheit heraus. „Das ego ist eine Mehrheit von personartigen K r ä f ten, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen wie ein Subject nach einer einflussreichen und bestimmenden Aussenwelt hinsieht. Der Subjectpunkt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe wie Nähe und Ferne, und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Quantitätsgraden ist." 5 ' Innerhalb des Zusammenspiels einer Vielheit von Kräften und Trieben übernimmt je einer die Herrschaft. Da aber jeder von ihnen „eine Art Herrschsucht" ist, mit ihm zugehöriger „Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte"57, ist die Herrschaft nur im Kampf zu erringen und zu verteidigen. Hierbei müssen „auch das Verhältniss des Herrschenden zum Beherrschten 60

WzM, X V I i2. « WzM, X V I 7 1 . 62 WzM, X V I 1 2 . 63 Nadilaß, XIII 59. 51 WzM, X V I 216. 85 Nadilaß, XII 45. 6 « Nadilaß, XI 23$. « WzM, X V I 1 2 . 18

nodi als ein Ringen, und das Verhältniss des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben", also als Kampf verstanden werden". Das somit gegebene Gegeneinander der Triebe resp. Kräfte ist die Bedingung allen Geschehens59. Dieses kann nie zum Stillstand kommen, denn „durch jeden Trieb wird auch sein Gegentrieb erregt"®0. „Ein Trieb regt den anderen an, jeder phantasirt" (sc. legt aus, entfaltet seine Perspektive) „und will seine Art Irrthum durchsetzen: aber jeder dieser Irrthümer wird sofort wieder die Handhabe für einen anderen Trieb (zum Beispiel Widerspruch, Analyse u.s.w.)"61. So hat der Mensch „eine Fülle gegensätzlicher Triebe und Impulse in sich gross gezüditet"®2. Mit den entgegengesetzten Trieben werden weitere .bewegt"3. „Jeder dieser Triebe fühlt sich in Hinsicht auf jeden anderen gehemmt oder gefördert, geschmeichelt, jeder hat sein eigenes Entwicklungsgesetz (sein Auf und Nieder, sein Tempo u.s.w.) — und dieser ist absterbend, wenn jener steigt."64 In ihrem „Für und Wider"65, im „Wettstreit der Affekte" 66 , bilden sich Parteiungen und zerfallen wieder, die Herrschenden lösen einander ab: der Subjektpunkt springt herum. „Zusammenspiel und Kampf" in einer solchen Vielheit liegen „unserem Denken und überhaupt unserem Bewusstsein zugrunde"67. Damit ist diese Untersuchung zu den wirklichen Gegensätzen im Sinne Nietzsches durdigedrungen, die vor aller Logik liegen. Selbst deren Axiome sind nur Ausdruck der Machtkonstellationen von Trieben resp. Kräften zueinander. Aus ihrem Gegeneinander soll sich die „Herkunft der logischen Functionen" allererst ableiten lassen"8. „Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab."6" 68 59 80 61 82 63 61

•s M

" « «·

Nachlaß, XIII 62, vgl. 2$8 f. „Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf..(WzM, X V I $7). Nachlaß, X I 283. Nachlaß, X I I 7. WzM, X V I 344. Nachlaß, X I 283. Nachlaß, XIII 70. WzM, X V I 1 2 . WzM, XVI100. WzM, X V I 1 6 . Nachlaß, XIV 32. FW, V i $3. 19

Hält man an dem nun erreichten Punkte inne, um das bisherige Ergebnis der Destruktionen Nietzsches in näheren Augenschein zu nehmen, so drängt sich die Vermutung auf, sie seien vergeblich. Stellt sieht das Destruierte nicht immer wieder her? Aus ,dem Individuum' ist eine Unzahl von .Individuen' hervorgegangen, das Ego der Person hat sich als eine Mehrheit von personartigen Kräften erwiesen, das Subjekt sich in „eine Vielheit von Subjekten"70 zerspalten. Bilden am Ende die verworfenen, auf die Logik zurückgeführten metaphysischen Scheinrealitäten nicht doch die Sphäre des wahrhaft Wirklichen? Zwar hat sich die cartesische Substantialität des denkenden Ich, gegen die Nietzsche immer wieder polemisiert71, als unhaltbar erwiesen. Aber besteht ihm zufolge denn nicht das Ich aus einer Vielzahl von Substanzen? Nur in der verfeinerten Anwendung der Substanz-Vorstellung scheint die Differenz zu Descartes zu beruhen. Aber eine solche Kritik nähme Nietzsche beim Wort, wo ihm die Worte fehlen: „Wir haben leider keine Worte, um das wirklich Vorhandene . . . zu bezeichnen."72 Will er, trotz seiner immer wieder ausgesprochenen Überzeugung von der „Unmittheilbarkeit der letzten Einsichten"7®, von diesen Kunde geben, so muß er sich sowohl der Worte des alltäglichen Sprachgebrauchs74 wie auch der überlieferten Sprache der bekämpften Metaphysik bedienen. Er übernimmt deren Begriffe, allerdings ohne zu meinen, mit ihnen könne man etwas ,begreifen'. „Aus dem Begriff führt kein Weg in das Wesen der Dinge." 75 Dies haben schon die grundlegenden Hinweise auf seine Logik-Kritik deutlich gemacht. Der Begriff versagt in zweifacher Hinsicht gegenüber der Wahrheit des wirklich Vorhandenen: erstens insofern er fixiert, wo sidi in Wahrheit halt-loses Geschehen vollzieht7"; zwei70 71

72 73 74

75 76

20

WzM, X V I 16. Von großer Bedeutung für die Entwicklung dieser Polemik — und nicht für sie allein — ist der Einfluß von A. Spir und G. Teichmüller auf Nietzsches Denken gewesen. Vgl. dazu K.-H. Dickopp, Nietzsdies Kritik des Ich-denke, Diss. 1965. — Auf die Bedeutung, die Teicbmüller für Nietzsches philosophische Entwicklung zukommt, hat zuerst Η. Ν ohi (Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmüller, die wirkliche und die sSeinbare Welt. Zeitschriii für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 149, 1913) aufmerksam gemacht. Nachlaß, X I V 37. Nachlaß, X I V 419. „Ob wir schon fortwährend in die Noth kommen, mit der Sprache und den Gewohnheiten des Verstandes uns behelfen zu müssen, so spricht der Anschein des beständigen Sichwidersprechens noch nidit gegen die Berechtigung unsres Zweifels (sc. am Begreifen)« (Nachlaß, X I I I 52). Nachlaß, I X 264. „Die Ausdrucksmittel der Sprache sind unbrauchbar, um das ,Werden" auszudrücken." (WzM, X V I 172)

tens insofern er „lauter ungleiche Fälle" sich als gleich subsumiert. Der Begriff entsteht allererst „durch Gleichsetzen des Nichtgleichen"77. Nietzsche verwirft daher alle Worte, sofern mit ihnen der Anspruch des Begriffes erhoben wird, und gebraucht sie lediglich als ¡Zeichen'. Sie sollen auf Sachverhalte nur hinweisen. Man muß diesem ihren Hinweisungscharakter folgen, man darf sich nicht auf sie versteifen, man muß das ,Begriffliche' hinter sich lassen, um zu dem zu gelangen, was .wirklich vorhanden' ist. Als Zeichen für das sich der Benennung Entziehende verwendet Nietzsche Wörter wie Subjekt, Ich, Individuum, Person. Und er verwirft sie, sobald er auf sie als auf Begriffe reflektiert. Dasselbe gilt für die Wörter, mit denen er die Seinsweise des wahrhaft Wirklichen kennzeichnet: Trieb, Kraft, Affekt. Das Wort „ .Trieb' ist nur eine Ubersetzung in die Sprache des Gefühls aus dem Nichtfühlenden"78. Es ist auch noch niemals „eine Kraft constatirt" worden, sondern es wurden immer nur „Wirkungen. übersetzt in eine völlig fremde Sprache"79, festgestellt. Und auch Affekte sind nichts als „eine Erdichtung von Ursachen, die es nicht giebt"80. Wir sollten „sie leugnen und als Irrthiimer des Intellekts behandeln"81. Gelegentlich zieht sich Nietzsche nach solchen Destruktionen der metaphysischen Begrifflichkeit auf weitgehend formalisierte Bestimmungen des Wirklichen zurück. So, wenn er dieses als „dynamische Quanta" charakterisiert, die „in einem Spannungsverhältniss zu allen anderen dynamischen Quanten" stehen82. Natürlich darf man auch eine solche Redeweise nicht »begrifflich' verstehen. Im Ausgang von ihr kann aber nun das Eigentüm77

78 78 80 81 88

»Über Wahrheit und Lüge im ausiermoralischen Sinne', X 195. Nietzsche fährt an der zitierten Stelle fort: „So gewiss nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durdi beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das .Blatt" wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correct und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen .ehrlich'; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die ,die Ehrlichkeit' hiesse, wohl aber von zahlreichen individualisirten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formuliren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: .die Ehrlichkeit'." Nachlaß, X I I I 254. WzM, X V I 104 f., vgl. 128 f. WzM, X V I 1 3 4 . WzM, X V I 13$. WzM, X V I 1 1 3 . 21

lidie der wirklichen Gegensätze im Sinne Nietzsches vollends herausgearbeitet werden. Hierbei ist zu beachten, daß die Charakteristika, die in der Analyse des ,Ich' herausgestellt wurden, für das Wirkliche schlechthin zutreffen. Die oben dargelegte ,Perspektivik' ist auch „im Reiche des Unorganischen" wirksam' 3 . Oder, wie Nietzsche auch radikaler formuliert: es gibt „keine unorganische Welt" 84 . Es gibt nur Leben, d. h.: unaufhörliche Prozesse von Kraftfeststellungen 85 . Der Geschehenszusammenhang, den wir ,Ich' nennen, ist nichts als eine besondere Konkretion des Lebens. Das Spannungsverhältnis der dynamischen Quanten zueinander macht ihr „Wesen" aus8'. Sie bestehen nicht erst für sich, um dann in ein Verhältnis zueinander zu geraten. Sie sind nur in der (unaufhörlich wechselnden) Bezogenheit aller auf alle. Die Spannung innerhalb des Beziehungsfeldes resultiert aus dem Gegeneinander der Quanten. Quanten stehen einander entgegen: damit wird eine ursprüngliche qualitative Verschiedenheit der Gegensätze geleugnet, hinter deren Behauptung Nietzsche immer den bekämpften metaphysischen Dualismus auftauchen sieht. „Wir machen uns schwer von den Qualitäten los"' 7 . So empfinden wir „blosse QuantitätsDifferenzen als etwas von Quantität Grundverschiedenes . . . , nämlich als Qualitäten, die nicht mehr aufeinander reducirbar sind"". Doch was wir da Qualität nennen, ist nur „eine perspektivische Wahrheit für uns; kein ,Ansich l "8®. Die bloßen Qualitätsdifferenzen ergeben nur eine Gradverscbiedenheit des Wirklichen, welchen Begriff Nietzsche ja dem des Gegensatzes gelegentlich seiner Kritik an Logik und Metaphysik entgegensetzt". Nietzsche sieht aber andererseits, daß die Reduktion des Qualitativen auf Quanten für die Deutung des ,Geschehens' nicht ausreicht: „In einer rein quantitativen Welt wäre Alles todt, starr, unbewegt"®1. Die Welt ist aber in unaufhörlicher Bewegung. Die Dynamik der Quanten läßt sich nur unter der Annahme eines bestimmten quale verstehen. Insofern lassen sich nicht alle Qualitäten auf Quantitäten zurückführen"2. Es gehört „zur WzM, X V I 114. Nachlaß, X I I I 81. 88 Vgl. WzM, X V I 117. 8» WzM, X V I 1 1 3 . 87 Nadilaß, X 151. 88 WzM, X V I 6 $ . 89 WzM, X V I 64. — „Eine Qualität existirt für uns, d. h. gemessen an uns. Ziehn wir das Maass weg, was ist dann nodi Qualität!" (Nadilaß, X 152) 90 S. oben S. j . " WzM, X V I 65. • 2 WzM, X V I 65. 83 84

22

Dynamis noch eine innere Qualität"' 3 . Diese muß die einzige sein, die es überhaupt gibt, wenn denn im Wirklichen nur quantitative (Grad-)Unterschiede auffindbar sind. Alles Geschehen setzt ein Gegeneinander voraus. Dann muß das, was dieses Gegeneinander konstituiert, das gesuchte quale sein. Bestimmt Nietzsche es als Kraft, so gilt: „es giebt nur Eine Art Kraft""4. Die Verwendung dieses Namens legt es zwar nahe, an den Kraftbegriff der Mechanik zu denken. Aber dieser ist für Nietzsche nur „ein leeres Wort"*5. Er soll die Ursache von Bewegungs- und Formveränderungen von Körpern benennen, ohne daß er doch ausdrücken kann, was da im Grunde am Werke ist. Daher bedarf er zumindest „einer Ergänzung: es muß ihm ein innerer Wille zugesprochen werden"". Dieser innere Wille darf aber nicht im Sinne der aristotelischen Tradition aufgefaßt werden: es handelt sich nicht um die bloße Verwirklichung eines immer schon als Anlage Vorgegebenen. Nietzsche sucht aus dem Wollen die vorgegebenen „Zwecke zu eliminiren"Daher bekämpft er das teleologische Denken früherer Philosophen mit großer Entschiedenheit. Und er entdeckt noch in Sdiopenhauers Lehre vom blinden Willen, welcher gleichwohl imstande sein soll, sich einen Intellekt zu seinem Dienste zu erfinden, „eine verkappte Teleologie"98. Es gilt nun, die Möglichkeit weiterer Mißverständnisse auszuräumen, die sich einstellen können, wenn Nietzsche die einzige Qualität mit dem Namen ,Wille' belegt. Hinweise auf seine Kritik an Schopenhauers Willenslehre können hier zur Klärung beitragen. Mit besonderem Nachdruck wendet er sich gegen die These von der Einfachheit des Willens. Schopenhauer hat, so führt Nietzsche aus, damit nur ein „Volks-Vorurtheil übernommen und übertrieben"®9. In Wahrheit ist der Wille nicht „etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An-sich-Verständliches"190, 83 M 05

»«

87

»8 «· 100

WzM, X V I 1 0 4 . WzM, X V I 243, vgl. i j i f. WzM, X V I l o j . WzM, X V I 1 0 4 . Nadilaß, X I I I 133. — Natürlich meint Nietzsdie nicht, das Wollen könne zwedefrei sein. Vielmehr gilt: „.Wollen*: ist gleiA Zwei-Wollen" (WzM, X V 336). Dessen Unterschied zu einem durch den Entelediie-Gedanken geprägten Willensbegriff tritt besonders deutlich in einer Niederschrift heraus, in der er sich gegen Hegels teleologisch bestimmtes Geschichtsdenken wendet. Er schreibt in diesem Zusammenhang: „Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar: dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas andres. Aber ein Staat hat keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen." (Nadilaß, X 27$) Nadilaß, X I 161. J G B , V I I 28. FW, V 165.

23

sondern „etwas Complicates, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist"101. Der Handelnde glaubt zwar an die Unmittelbarkeit und an die Unhintergehbarkeit seines Wollens, er versteht es als etwas, das wirkt, als ein Vermögen102. Aber dabei täuscht er sich. Er bemerkt nichts „von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muss", damit es zur Handlung kommen kann. Und er ahnt nichts „von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun"103. Was also Schopenhauer, sich auf das „Jedem unmittelbar Bekannte" berufend104, Wille nennt, ist nicht das gesuchte quale Nietzsches. Es ist es so wenig für ihn, daß er das Gegebensein eines solchen Willens überhaupt bestreiten kann. „Es giebt keinen Willen" : diesen nämlich aufgefaßt als ein Einfaches, das, einer Ich-Substanz zugehörig, unserem Tun als Ursache zugrunde liegen könne105. Auch ihn haben wir nur „zu gewissen Erscheinungen des Bewusstseins . . . hinzugedichtetα10β. Als solche Erdichtung ist er selber „bereits eine Wirkung, und niât der Anfang und die Ursache"107. ,Der Wille' teilt also das Los der anderen oben abgehandelten Selbstbestimmungen des in Wahrheit komplexen Geschehens .Mensch': er wird von Nietzsche als bloßer Schein einer Einfachheit aufgefaßt, der von einer sich auf diese Weise verbergenden Vielheit bewirkt wird. Die Vielheit ist wirklich, die „Einheit eingebildet"1"6. Der Schein bleibt ,dem' Bewußtsein verborgen; ist es dodi selber nichts anderes als ein solcher Schein: nämlich soweit es als irreduzibler Intellekt auftritt. Nietzsches „Kritik der neuen Philosophie" im allgemeinen zielt darauf, daß die letztere angebliche .Tatsachen des Bewußtseins' zu ihrem Ausgangspunkt genommen hat, ohne den „Phänomenalismus in der Selbstbeobachtung" zu durchschauen100. Dem „gewöhnlich als einzig gedachten Bewusstsein" liegt nämlich das unzählig Vielfache in den Erlebnissen von „vielen Bewusstseins" zugrunde110, wie Nietzsche im Blick auf die „ungeheure Vereinigung von lebenden 101 102

JGB, VII 28. GD, VIII 80.

103 F W , y

l 6 j

.

Die Welt als Wille und Vorstellung I, 2, § 18 (WW ed. A. Hübscher, Band 2, 119). 105 WzM, XVI 15; vgl. Nadilaß, XII 267. 108 Nadilaß, XIII 262, vgl. auch 265. 107 Nadilaß, XIII 2J4. 108 Nadilaß, XII 156. 10» WzM, XVI 6, vgl. audi 6—12. 110 Nadilaß, XIII 249. 104

24

Wesen""1 darlegt, die den menschlichen Leib ausmachen112. Im „Zusammenspiel vieler sehr ungleichwerthiger Intelligenzen"118 bekommt ,der' Intellekt „nur eine Auswahl von Erlebnissen vorgelegt . . . , dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und fasslich gemachte, also gefälschte Erlebnisse, — damit er seinerseits in diesem Vereinfachen und Übersichtlich-machen, also Fälschen, fortfahre"114. Wozu dient das fälschende Vereinfachen? Wir trafen auf einen solchen Vorgang schon gelegentlich der Betrachtung von Nietzsches Logik-Genealogie: zu den Bedingungen der Lebenserhaltung gehört es, Verschiedenartiges als gleichartig anzusehen. Wenn nun das Lebewesen Mensch die ihm begegnende Wirklichkeit vereinfachen und verfälschen muß, so bleibt zu fragen, weshalb er die Vielheit, die er jeweils ist, hinter fingierten Einheiten verbirgt, so sein eignes Wesen vor sich selbst vereinfachend und verfälschend. Die Notwendigkeit hierfür ist leicht einzusehen. Nur diejenige Vielheit kann den Kampf gegen eine andere bestehen, die als ein Einfaches in Erscheinung tritt, d. h. die die ihr immanenten Herrschaftskämpfe verbirgt, und zwar nicht nur anderen Vielheiten, sondern auch sich selbst: das ,Einfache' muß vor seiner Wahrheit „geschützt und abgeschlossen" bleiben. Denn nur so kann es die Aufgabe erfüllen, die ihm gestellt ist: die durch Gegensätze konstituierte Vielheit als ein homogenes Ganzes nach außen zu vertreten. Und nur so kann das vorbereitet werden, „was man gemeinhin ,einen Willen* nennt": der Willensakt115. Dieser erscheint dann im abgeschirmten Bewußtsein des Intellekts als unableitbare Gegebenheit, obwohl er nur „eine Resultante" darstellt, „eine Art individueller Reaktion, 111

Nachlaß, X I I I 247 f. Eine solche .Selbsterfahrung' soll sidi grundlegend von der Selbstbeobachtung unterscheiden, in der ein .Subjekt' seine Subjektivität' in den Blick zu nehmen sucht, — von jener „Selbst-Bespiegelung des Geistes" (WzM, X V I 18), in der der Intellekt sich über sich selbst täuscht. Sie gelangt über den Phönomenalismus des letzteren (s. oben S. 24) hinaus zu den wirklichen inneren Fakten. „Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils miteinander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet, in der Bejahung ihres Einzelwesens unwillkürlich auch das Ganze bejahen." (Nachlaß, X I I I 16$) Im „Ausgangspunkt vom Leibe... gewinnen (wir) die richtige Vorstellung von der Art unserer Subjekt-Einheit, nämlich als Regenten an der Spitze eines Gemeinwesens (nicht als .Seelen' oder ,Lebenskräfte'), insgleichen von der Abhängigkeit dieser Regenten von den Regierten und den Bedingungen der Rangordnung und Arbeitstheilung als Ermöglichung zugleich der Einzelnen und des Ganzen." (WzM, X V I 17 f.) " a Nachlaß, X I I I 250. 114 Nachlaß, X I I I 249. »« Nachlaß, X I I I 249.

1,2

25

die nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt""®. Hinter dem Bewußtsein und dem Willen treten also „eine Menge Bewusstseins und Willens" hervor, und zwar „in jedem complicirten organischen Wesen"117. Nur in solchen grundlegenden Willen kann daher Nietzsches einzige Qualität zu finden sein. Er hat schließlich für sie den Namen Wille zur Macht geprägt. Auf diesen führt er die schon herangezogenen Charakterisierungen des wahrhaft Wirklichen zurück: nicht nur die Kraft muß letztlich als Wille zur Macht verstanden werden118, auch die Affekte sind nichts als „Ausgestaltungen" des Willens zur Madit, der „die primitive Affekt-Form ist" 11 ', und audi von den Trieben heißt es, daß man sie auf diesen zurückführen könne. Zu einem der Pläne aus der Zeit 1882—188$ notiert Nietzsche: „Unser Intellekt, unser Wille, ebenso unsere Empfindungen sind abhängig von unseren Werthschätzungen: diese entsprechen unsern Trieben und deren Existenzbedingungen. Unsre Triebe sind reducirbar auf den Willen zur Macht. Der Wille zur Macht ist das letzte Faktum, zu dem wir hinunterkommen."120 Und dies ist nicht nur das Ergebnis von Nietzsches Analyse des menschlichen Selbst, wie immer wieder betont werden muß. Der Wille zur Macht ist als letzter „Grund und Charakter aller Veränderung"121 der Welt „Essenz"122: er stellt das einzige quale dar, das in seinen mannigfachen Gradabstufungen die Welt konstituiert. Die „Strahlung von Machtwillen" steht hinter allem, was als Kraft erscheint. Ein Kraftquantum ist in Wirklichkeit ein „Machtquantum", oder schärfer: „ein Quantum ,Wille zur Macht' Die Qualität des quantitativ Verschiedenen, seine Essenz, kann als „Wille zur Vergewaltigung und sich gegen Vergewaltigung zu wehren" näher bestimmt werden.123 Der ,Sinn' des Vergewaltigens ist die schon oben charakterisierte Herrschaft. Die Ausübung von Herrschaft aber setzt Macht voraus. Insofern alles Wollen Macht will, ist es ein „Etwas116 117

119 118 120 121 122 123

26

A C , V I I I 230. Nachlaß, X I I I 239. — Zum Vorurteil der Scheidung von Organischem und Anorganischem vgl. Nachlaß, X I I I 81 und WzM, X V I 114 f. — Zur Geistigkeit jedes Willensquantums vgl. Nadilaß, X I I I 227, 227 f., 232 und WzM, X V 486 f. Vgl. WzM, X V I 104. WzM, X V I 1 5 2 , vgl. auch 221. Anhang zu WzM, X V I 41 j ; vgl. Nachlaß X I V 327. WzM, X V I 1 4 9 . JGB, VII H J . WzM, X V I i n .

Wollen". Dieses Etwas kann vom Willen nicht abgezogen werden. Wo dies geschieht, wird der Wille nicht mehr als das gedacht, was er ist.124 Doch auch die Bezeichnung .Wille zur Macht' gibt zu den Fehldeutungen Anlaß, auf die schon oben, bei der Erörterung anderer Bestimmungen, die Nietzsche für das Letztgegebene heranzieht, eingegangen wurde. Vielleicht nicht zuletzt deshalb hat Nietzsche ein Buch unter diesem „nicht ungefährlichen Titel" 125 nicht veröffentlicht: es blieb bei Plänen, Entwürfen, Materialzusammenstellungen. Im folgenden soll von Mißverständnissen, gegen die Nietzsches Lehre bewahrt werden muß, die Rede sein. Dabei können wesentliche Eigentümlichkeiten des Willens zur Macht herausgearbeitet werden. In der Zweiten Hälfte des von P. Gast und E. Förster-Nietzsche edierten Nachlaßbandes X I V der G A findet sich im Kontext einer Passage, in der Nietzsche schreibt, die Deutschen von heute seien keine Denker mehr, der Satz: „Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen (sc. den Deutschen) schon verständlich."129 Was darin gesagt wird, muß nach den Ausführungen in diesem Kapitel überraschen. Der Wille zur Macht ein Prinzip? Noch dazu eines, das den gedankenlosen Deutschen offenbar nicht allzuschwer verständlich sein soll? Spricht jener Satz nicht deutlich gegen die hier vorgelegte Interpretation des Willens zur Macht? Ist dieser dann nicht doch eine .genauere Bestimmung' von Schopenhauers Willen zum Leben, wie E. Horneffer ausgeführt hat?127 Der in G A X I V gedruckte Text des Satzes geht auf eine Entzifferung der Brüder E. und A. Horneffer zurück, die P. Gast bei der Vorbereitung der Edition übernahm188. Als er später, nach dem endgültigen Bruch mit E. Förster-Nietzsche, den Satz noch einmal überprüfte, entdeckte er, daß ein Wort falsch entziffert und daß dadurch der Sinn des Satzes in sein Gegenteil verkehrt worden war. M. Montinari bestätigt in K A W VIII/2 1 1 4 diese berichtigte Lesart, derzufolge der Satz lautet: „Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen schwer verständlich."129 Was soll er zum Ausdruck bringen? 124 125 12e 127 128

128

WzM, X V I 133, vgl. IJ5 f. Nachlaß, XIV 418. Nachlaß, XIV 420. Vorträge über Nietzsche. Versuch einer Wiedergabe seiner Gedanken, 1904, 42, vgl. 45. Dies geht aus einem bisher unbekannten Brief Gasts an E. Holzer vom 26. 1. 1910 hervor, den M. Montinari im Anhang des Bandes VIII/2 der KAW auszugsweise zitiert (47$). Hervorhebung vom Vf. — Da der in der vorigen Anmerkung genannte Briefauszug

27

Den gedankenlosen Deutschen könnte die Rede vom Willen zur Macht, insofern in ihr von Madot gesprochen wird, „als Bestärkung irgendwelcher reichsdeutschen Aspirationen" erscheinen130. Außerdem sind sie an den Gebrauch des Willensbegriffes im Sinne Schopenhauers und seiner Nachfahren gewöhnt. Daher muß ihnen das, was Nietzsche vom Willen zur Macht sagt, schwer zugänglich sein. Ist der Wille zur Macht dodi gerade nicht ein .Prinzip* im Sinne traditioneller Metaphysik. Nietzsche spridit zwar in dem zitierten Satz von einem ,Prinzip1; aber wie alle anderen Wörter, mit deren Hilfe er das Letztgegebene zu bezeichnen sucht, darf über das Entzifferungsmißgeschick hinaus den Mißbrauch des Satzes durch E. FörsterNietzsche schildert, sei er hier vollständig zitiert: »... z» dem Capitel ,Der Wahrheitssinn der Frau Förster' muß ich Ihnen eines der Beispiele erzählen, die mir gerade vorschweben und midi lächeln ηιαώεη. Lächeln — denn was sollte man als einstiger Archivmensch niât alles mitvertreten, das man als anständiger Mensch eben nie vertreten kann. Als wir 1904 an dem II. Band der Biographie druckten [gemeint ist: E. Förster-Nietzsche, Das Leben Friedrich Nietzsches, Zweiter Band (Zweite Abtheilung), Leipzig 1904. Zusatz M-L], kam auch der Brief N.'s hinein, in welchem unser damals 2$jähriger Kaiser für missfällige Äusserungen über Antisemiten und Kreuzzeitung belobt wird. Nun ist Ihnen bekannt, wie heftig Frau Förster danach brennt, den Kaiser für Nietzsche zu interessieren und ihn womöglich zu einer anerkennenden Äusserung über N.'s Tendenz zu bringen. Was thut sie zu diesem Zweck? (Bitte nehmen Sie Bd. II der Biogr. zur Hand.) Sie schiebt einen Satz ein, der in dem betreffenden Brief N.'s von Ende (niât Anfang) Oktober 1888 gar nicht steht: — sie schreibt auf S. 890, Z. 9 v. u. den Satz hin ,Der Wille zur Madit als Princip wäre i h m (dem Kaiser) schon verständlich!' Sie erinnern sich, woher dieser Satz stammt: aus der Vorwort-Skizze zum Willen zur Macht, welche in Bd. XIV, S. 420 abgedruckt ist. Die Niederschrift dieser Skizze (auf dem inneren Wachstuch-Umschlag des Heftes WIX stehend) gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Nietzsche-Entzifferung. Vor mir hatten sich schon die Horneffers daran versucht; ihr Entzifferungstext wies aber mehr Lacunen als Worte auf. Nur gerade diesen Satz hatten sie vollständig hingeschrieben. Solche Vorarbeit wird dem, der sich als Zweiter darüberher macht, oft mehr zum Hemm-, als zum Förderniss. Genug: mir, als dem Zu-Ende-Entzifferer des Stücks, entging damals, dass die Horneffer'sche Entzifferung ,Der Wille zur Macht als Princip wäre ihnen (den Deutschen) schon verständlich' im Zusammenhang der Vorwort-Skizze keinesfalls richtig sein kann. Und wie ich im April vorigen Jahres das Hefl WIX wieder in die Hand bekomme, bestätigt sich mein Verdacht, dass es ja fraglos ,s c h w e r verständlich' statt,schon verständliih' heissen müsset Ist der Witz nun nicht sehr gut, dass wenn Frau Förster exact sein wollte, sie jetzt drucken lassen müsste ,der Wille zur Madit als Princip wäre ihm (dem Kaiser) schwer verständlich'?!" Gast hat offenbar nicht gewußt, daß Förster-Nietzsche nidit nur einen Satz in den angeblich von Nietzsche an sie gerichteten Brief hineingeschmuggelt hat. Dieser ,Brief' wurde überhaupt nicht geschrieben. Er ist, wie viele andere Briefe, eine Fälschung der Schwester Nietzsches. Vgl. dazu K. Schlechtas Philologischen Nachbericht z u seiner dreibändigen Ausgabe der Werke Nietzsches, dort III 1410 ff.; ferner K A W , VIII/2 475· 180

28

Nachlaß, X I V 420.

audi dieses nicht im Sinne eines Begriffs mißverstanden werden. Audi das Wort .Prinzip' dient Nietzsche lediglich als Vehikel, auf dem er zu noch Ungesagtem vorzudringen sudit. Eine genauere Bestimmung von Schopenhauers Prinzip des Willens zum Leben ist Nietzsches Wille zur Macht gewiß nicht. Er ist auch nicht ein Wille en miniature, der als das nun wahrhaft Einfache noch hinter dem vermeintlich einfachen Willen stünde, wie ihn Schopenhauer auffaßt. Argumentierte Nietzsche so, dann bliebe er noch immer dem von ihm zurückgewiesenen metaphysischen Denkschema verhaftet. Er sucht ja überhaupt nicht das Vielfache aus einem Prinzip zu deduzieren, ihm stellt sich umgekehrt alles Einfache als Produkt einer wirklichen Vielheit dar. Der Gedanke Nietzsches ist bei der oben vorgeführten Destruktion des Subjekts schon deutlich geworden und konnte bei der Destruktion unseres angeblich einfachen Willensbewußtseins wieder aufgenommen werden. Hier kommt es darauf an, das Mißverständnis auszuschalten, die Vielheit weise ihrerseits am Ende doch noch auf eine letzte,Einheit' im Sinne einer ARCHÄ zurück, der sie entspringe. Es ist ζ. B., so notiert Nietzsche, „nicht nöthig", hinter der Vielheit der Affekte eine Einheit anzusetzen131. Sind die Affekte ihrerseits auch auf den Willen zur Macht,reduzierbar', so bildet dieser doch nicht das Eine, in dem jene gründen. Denn immer schon ist eine „ Vielheit von ,Willen zur Macht': jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen"132 gegeben. Was Nietzsche in derartigen Ausführungen über den Menschen sagt, gilt auch für das Ganze der Wirklichkeit: »Diese Welt ist der Wille zur Macht — und Nichts ausserdem!"™ Das besagt: sie ist „als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sidi mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte"134. Mit seiner Rede von der Einheit des Vielen zielt Nietzsche nicht auf eine metaphysische Wurzel, sondern auf die wechselseitige Bezogenheit, ja: Abhängigkeit der Vielen von einander, die diese in den Zusammenhang der einen Welt bringt. In ihr ist alles derart ineinander verflochten, „dass jede Macht-Verschiebung an irgendeiner Stelle das ganze System bedingt"135. Grundsätzlich gilt: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders, als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegen131 132 133

»M 135

Nadilaß, XIII 24 j. Nadilaß, XIII70. WzM, XVI402. WzM, X V I 4 0 1 . WzM, X V I 1 1 $ .

29

satz der atomistischen Anarchie, somit ein Herrschafls-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins ist."" 6 D a ß sich solche Einheit der Organisation und des Zusammenspiels allein durch das mannigfach abgestufte Gegeneinander der Vielen, ihren Kampf miteinander, bildet und ständig umbildet, ist hinlänglich deutlich geworden. Was bedeutet das für das Verständnis ,des' Willens zur Macht? Nietzsche weist darauf hin, daß dieser auf das angewiesen ist, was ihm Widerstand leistet; „er sucht also nach Dem, was ihm widersteht"" 7 . Deshalb kann die Macht eines Willens danach geschätzt werden, „wieviel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiss"188. Was ihm aber Widerstand zu leisten vermag, kann ebenfalls nur Wille zur Macht sein, wenn dieser denn das einzig Wirkliche sein soll. Jede Äußerung von Willen zur Macht setzt also schon eine Mehrheit von Willen zur Macht voraus. Die Wirklichkeit, auf die Nietzsches Philosophieren letztlich trifft, ist die in Gegensätzen auf einander bezogene und in solcher Beziehung die eine Welt bildende Vielheit von Willen zur Macht. Der Wille zur Madit ist zwar die dem quantitativ (machtmäßig) Verschiedenen gemeinsame Qualität. Diese Gemeinsamkeit darf aber nicht auf die Einfachheit eines gründenden Prinzips reduziert werden: es gibt diese Qualität nur in der Vielfalt quantitativer Verschiedenheit. Andernfalls könnte sie nicht Wille zur Macht sein, weil es kein Entgegengesetztes mehr gäbe, das die Ubermächtigung gestattete. Von der Qualität so reden, als bestünde sie in irgendeiner Weise ,an sich', ,vor' den quantitativen Besonderungen, heißt Nietzsche im Sinne einer Metaphysik mißverstehen, gegen die er sich mit aller Entsdiiedenheit gewandt hat. Als ein Beispiel für eine solche Interpretation sei M. Heideggers Auslegung des Willens zur Macht herangezogen. Nach Nietzsche, so führt Heidegger aus, hat das Leben nicht nur „den Drang zur Selbsterhaltung" im Sinne des Darwinismus, es ist „Selbstbehauptung""". Sich selbst behaupten aber kann das Leben nur, wenn es sich ständig selbst übermächtigt. Der Wille zur Macht ist dieses „Sichübermächtigen"140. Der sich hierin zeigende „Steigerungscharakter des Willens" 141 läßt diesen von Machtstufe zu Machtstufe schreiten142. Er übersteigt und überhöht „je sich selbst". So be136 137 138 139 140 141 142

30

WzM, X V I 6 3 . WzM, X V I 123, vgl. ι j6 und Nadilaß, XIII 274. WzM, X V 416. Nietzsche, aaO, I 72. AaO, II 103. AaO, I 73. AaO, II 103.

sagt schließlich,Wille zur Macht' für Heidegger: „das Sith-ermächtigen der Macht zur eigenen Ubermächtigung"148. Nach dieser Auslegung ist der Wille zur Macht nicht auf andere Machtquanten, auf andere Willen zur Macht gerichtet, sondern er entfaltet sich in seiner Einzigkeit in sich selbst. Er bewegt sich, seiner selbst genug, im Bereich seines eigenen Wesens. Heidegger setzt in seiner Auslegung die Qualität für sich, während sie Nietzsche zufolge doch allein in den Quanten gegeben ist. Daher ist für ihn die genannte „Selbstbehauptung" nichts anderes als „ursprüngliche Wesensbehauptung,cl44. Bei allem „Uber-sich-hinaus-wollen" des Willens zur Macht handelt es sich nach seiner Deutung um ein „Zu-sich-selbst-kommen, sich in der geschlossenen Einfachheit des Wesens finden und behaupten"145. Heidegger hat den Willen zur Macht damit zu einem sich aus sich selbst entfaltenden, gleichwohl bei sich bleibenden, ja: letztlich in seinen eigenen Ursprung zurückgehenden14' metaphysischen Prinzip gemacht. Hierbei sucht er „die innere Beziehung von Nietzsches Willen zur Macht zu D Y N A M I S , ENERGEIA und ENTELECHEIA des Aristoteles"147 aufzuweisen. In Nietzsches Begriff der Macht meint er wiederzufinden: einmal das Vermögendsein zu . . . im Sinne der D Y N A M I S , zum anderen auch den Vollzug der Macht im Sinne der ENERGEIA, und schließlich das schon oben erwähnte Zu-sich-selbst-kommen (nämlich in seine Wesenseinfachheit) im Sinne der ENTELECHEIA. Zwar meint Heidegger nicht, man könne Nietzsche „unmittelbar mit Hilfe der Aristotelischen Lehre auslegen". Er fordert vielmehr, beide „in einen ursprünglichen Fragezusammenhang" zurückzunehmen.148 Als dieser stellt sich ihm die als Wesensgeschichte des Willens gedeutete Geschichte der Metaphysik dar, deren Vollendung sich im Denken Nietzsches vollziehen soll. Auf den Entwurf Heideggers kann hier nicht weiter eingegangen werden. Es gilt jedoch darauf aufmerksam zu machen, daß der Versuch, die obersten Seinsbestimmungen des Aristoteles in Nietzsches .Willen zur Macht' einzutragen, den Zugang zu dessen Eigentümlichkeit verstellt. Dieser läßt nicht eine — auch noch so verborgene — Differenzierung hinsichtlich von D Y N A M I S und ENERGEIA erkennen. Und der Gedanke 143 144 145 149 147 148

AaO, AaO, AaO, AaO, AaO, AaO,

II 36. I 73. I 77. I 73. I 78. I 76 f.

31

eines Zu-sich-selbst-kommens im Sinne von ENTELECHEIA wird von Nietzsche für den Machtwillen ausdrücklich zurückgewiesen.14" Vor allem aber muß der These Heideggers, Wille zur Macht sei „immer Wesenswille", „nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen"150, entschieden widersprochen werden. Freilich besteht dieser Wille faktisch nie als vereinzelter, isolierter, sondern nur in der Vielheit gegensätzlich aufeinander bezogener Willen. Angesichts dieses Sachverhalts stellt sich ein Problem. Die Willen zur Macht sind zwar nicht isoliert vorkommende, aber doch, und zwar gerade in ihrer Bezogenheit auf einander, die aus sich selbst heraus Mächtigen. Was aber sind sie dann in sich selbst? Diese Frage verschärft sich noch, wenn bedacht wird, daß sie für Nietzsche die Letztgegebenheiten darstellen. Sie entspringen weder einem metaphysischen Prinzip, nodi lassen sie sich aus dem Ganzen der Welt ableiten. Konstituieren sie doch allererst das in sichflutendeMeer, das die Welt in Nietzsches Sicht ist. Sie können weder Atome noch Substanzen sein: der Destruktion dieser wie auch der ihnen verwandten Begriffe gilt ja, wie gezeigt wurde, Nietzsches Bemühen. Die Frage: „Wer will Macht?"151 ist, so hören wir von ihm, absurd, wenn in ihr nach einem letzten Träger des Machtwillens gefragt wird. Was aber soll dann das sein, das aus sich heraus mächtig ist? „Es giebt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren", schreibt Nietzsche einmal152. Im gleichen Textstück spricht er von „Monaden" : freilich dürfe man von ihnen, wie von „Atomen", nur „relativ" reden, weil damit immer „eine gröbere Welt von Bleibendem" gesetzt werde. In der Tat erinnern Nietzsches ,Willenspunkte' am ehesten noch an die immateriellen des Leibniz. Auch seine Ausführungen zum „Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum — und nicht nur der Mensch — von sich aus die ganze übrige Welt construirt"153, lassen an die Leibnizsche Monadologie denken. Man darf diese Verwandtschaft freilich nicht überbewerten. Die Gonaden' Nietzsches sind weder konstant, noch .fensterlos', noch gar sind sie ,Entelechien' im Sinne des Leibniz. Wenn auch „die kleinste Welt an Dauer die dauerhafteste ist", so ist sie doch nicht von zeitlich unbegrenztem Be149 150 151 152 153

32

S. oben S. 23, insbes. Anm. 97. Nietzsche, aaO, I 73. WzM, X V I 156. WzM, X V I 1 7 2 . WzM, X V I 1 1 4 . — Der Perspektivismus Nietzsdies gerät nidit in Widerstreit mit der Lehre vom kontinuierlichen Fluß alles Gesdiehens. Wir müssen uns „das Ganze der organisdien Welt" als „die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sidi" denken (Nadilaß, X I I I 80).

stand154. Nietzsches Willen zur Macht am Ende dodi nodi eineSubstantialität (nämlich im Leibnizschen Sinne) zuzusprechen, verbietet sich also. Der „Kampf der Atome" führt „bei gewissen Stärkeverschiedenheiten" dazu, daß „aus zwei Atomen Eins" wird. „Ebenso umgekehrt aus Eins werden Zwei, wenn der innere Zustand eine Disgregation des Macht-Centrums bewerkstelligt"155. „Die ,Zahl' der Wesen ist selber im Fluss"158. Dasjenige, was aus sich heraus mächtig ist, ist also selber ein sich ständig Änderndes, Machtaufbauendes oder Machtabbauendes. Nietzsches Rede von der Vielheit der Willen zur Macht geht nicht von fixen Einheiten aus. Das philosophisch Letzte, auf das er stößt, ist nie ein faktisch (quantitativ) Letztes: jedes Quantum an Willen zur Macht kann nicht nur noch wachsen, sondern auch immer noch abnehmen, nicht nur sich neue Quanten einverleiben, sondern auch ständig weiter zerfallen.157 Auf die Frage aber, was denn die unablässig sich wandelnden Organisationen von Willen zur Macht sowohl zusammenbringe und in sich zusammenhalte wie auch zerfließen lasse, ist die letzte Antwort: es sind Gegensätze, die alle Aggregation wie auch alle Disgregation ermöglichen, und zwar sowohl die Gegensätze, die einer Organisation je immanent sind, als auch diejenigen, die ihr je ,νοη außen', von einer anderen Organisation her, entgegentreten. Der Wille zur Macht ist des Gegensatzes bedürftig, der freilich selber nur Wille zur Macht sein kann. Der Gegensatz macht ihn allererst zum Willen zur Macht.159 In solcher Angewiesenheit auf den Gegensatz ist der Wille zur Macht, wie Nietzsche sagt, „ursprünglich nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos", aus dem „sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt.. ."15e.

154 155 158 157

158

159

WzM, X V I 1 7 2 . Nachlaß, X I V 3 2 j ; vgl. WzM, X V I 123 und Nachlaß, X I I I 259, X I V 37. WzM, X V I 32. In einer Vorplatoniker-Vorlesung, die Nietzsche in den siebziger Jahren mehrfach vortrug, heißt es gelegentlich der durch Exkurse in die zeitgenössische Wissenschaft aktualisierten /ferafeiii-Darstellung: „Die Natur ist nach innen ebenso unendlich als nach aussen: wir gelangen jetzt bis zur Zelle und zu den Theilen der Zelle: aber es giebt gar keine Grenze, wo man sagen könnte, hier ist der letzte Punkt nach innen, das Werden hört bis ins unendlich Kleine nie auf." ( X I X = Philologica III 176) A. Anders weist darauf hin, daß sich Nietzsche hier vom Gedankengang Κ. E. v.Baers, dem er in seinem Exkurs gefolgt ist, löst und eigenen Überlegungen Raum gibt (K. Schlecbta/A. Anders, Fr. Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, 1962, 66 f.). So ist auch der Regent innerhalb einer Organisation von den Regierten abhängig: WzM, X V I 18; vgl. Nachlaß, X I I I 243 und 243 f. WzM, X V I 1 1 3 .

33

„Die Ziele sind nicht da, die Ideale widersprechen sich . . (Nachlaß, X I V 335)

ZWEITES K A P I T E L

Das Gegensatzproblem in Nietzsches Geschichtsphilosophie Im voranstehenden Kapitel wurde Nietzsches Philosophie der weltimmanenten Gegensätzlichkeit bis zu ihren grundlegenden Bestimmungen hinab verfolgt. Schon dabei rückte der konstitutive Charakter der Gegensätze für das als Prozeß begriffene Menschsein ins Licht. Allerdings hielten sich die bisherigen Ausführungen noch in einer Allgemeinheit, die die Frage nach den besonderen Konkretionen offen ließ, in denen sich Organisation und Desorganisation von Machtwillen im Menschen und in den zwischenmenschlichen Bereichen abspielen. Es besteht kein Zweifel, daß Nietzsches Philosophie der Gegensätze von der lebendigen Erfahrung solcher .Konkretionen' ihren Ausgang genommen hat. Von dieser her konnte ihm erst die Problematik des Menschen als eines,Wesens der Widersprüche' erwachsen. Und seine Bemühung, die Angewiesenheit auf den Gegensatz als Grundzug des Wirklichen schlechthin herauszuarbeiten, welcher in den bisher dargelegten Aspekten der Lehre vom Willen zur Macht zutage trat, muß sowohl als Differenzierung menschlichen Selbstverständnisses wie auch als Ausweitung jenes Erfahrungsgehalts auf das Ganze des Seienden verstanden werden. Auf dem Hintergrund des im Ersten Kapitel Dargestellten müssen freilidi die zeitkritischen und geschichtsphilosophischen Betrachtungen Nietzsches als Vergröberungen erscheinen. Aber er meint gleichwohl nicht dem „Grundirrthum aller Historiker" zu unterliegen, welche nicht wahrhaben, daß „die Facta . . . alle viel kleiner" sind, „als dass sie zu fassen wären" 1 . Er weiß jedoch auch, daß er oft nicht anders reden kann als diejenigen, denen grobe Fakten letzte Wahrheiten bedeuten. Die Vergröberung in der Darstellung ist nirgends vermeidbar, nicht einmal in der Beschreibung gesetzmäßiger' 1

34

Nachlaß, XIII 32!.

Vorgänge in der natürlichen Welt, geschweige denn im Bereich des Historischen. In Wahrheit verweisen die Fakten überall auf sie konstituierende Prozesse von Machtmehrung oder Machtminderung. Die Konstituentien entziehen sich ständig der abschließenden Betrachtung. Sie verweisen auf eine Mannigfaltigkeit, die nie voll darstellbar ist. Gleichwohl aber finden sie Ausdruck in dem, was sie konstituieren2. Was auch immer bei Nietzsche den Eindruck irreduzibler Einfachheit erweckt, es ist doch stets als Komplexes gemeint, das von einem dominierenden »Trieb' zusammengehalten wird oder dessen in Erscheinung tretende .Elemente' auseinanderstreben. Nietzsche, der die .moderne Seele' umkreist und sich in jedem ihrer Winkel niederläßt3, findet allerorts die Kennzeichen der Auflösung zusammenhängender Gebilde. Die Moderne ist die Zeit des Zerfalls: „die desorganisirenden Principien" charakterisieren sie4. Die Desorganisation zeigt sich in der Verschiedenartigkeit einander widersprechender Wertschätzungen5. „Wir leben in der Periode, wo verschiedene Lebensauffassungen neben einander stehen: deshalb ist die Zeit so lehrreich, wie selten eine, deshalb so krank, weil sie an den Übeln aller Richtungen zugleich leidet."6 Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts ist „der vielfache Mensch, das interessanteste Chaos, das es vielleicht bisher gegeben hat" 7 . Ihm fehlt der Maßstab, der es gestatten würde, das eine zu bejahen und das andere zu verwerfen. Die erstrebte „Universalität im Verstehn" führt zu einem „An-sich-heran-kommen-lassen von Jedwedem" ; dessen Ergebnis wiederum ist „ein Nicht-wissen-wo-aus-noch-ein"8. Wo der Anspruch von allem, selbst des Entgegengesetztesten, gerechtfertigt wird, kann sich kein „neues Ideal" bilden9. Eines solchen aber bedürfte die Zeit: seine Herrschaft könnte die auseinanderstrebenden Kräfte bändigen und sie in Richtung auf ein einigendes Ziel zusammenführen. Die Frage nach der Möglichkeit einer solchen Zukunft kann nicht beantwortet werden, ohne daß zuvor die Herkunft der gegenwärtigen VerDie Konstituentien sind immer nur in dem von ihnen Konstituierten, sie gehen in diesem auf. Sie bilden also keine erste Wirklichkeit, die sich allererst eine zweite schafft. Nietzsdie läßt nidit etwa die bekämpfte Zwei-Welten-Metaphysik wieder über die Hintertreppe ein, nadidem er sie aus dem Haus seiner Philosophie gewiesen hat. 3 S. oben S. 6. 4 WzM, X V 193. 5 Nachlaß, X I V 203. • Nachlaß, X 406. 7 WzM, X V I 297. 8 G D , V I I I 164. • Nachlaß, X I I 367. 2

35

fallstendenzen bedacht w i r d . D i e Verschiedenheit der L e b e n s a u f f a s s u n g e n w u r z e l t in der M a n n i g f a l t i g k e i t überlieferter

W e r t s c h ä t z u n g e n . „ E i n sehr

genaues Z u r ü c k d e n k e n f ü h r t z u der Einsicht, dass w i r eine M u l t i p l i c a t i o n vieler V e r g a n g e n h e i t e n s i n d " . 1 0 D a m i t w i r d die U b e r l i e f e r u n g selbst z u m P r o b l e m . N i e t z s c h e ist diesem P r o b l e m schon f r ü h z e i t i g nachgegangen, besonders eindrucksvoll in seiner F r a g e nach d e m „Nutzen der Historie seiner

für das Leben".

Unzeitgemäßen

und

Nachtbeil

D i e A n t w o r t e n , z u denen er in der

Betrachtungen

11

gelangt,

haben

zwar

zweiten nur

den

C h a r a k t e r des V o r l ä u f i g e n . N i e t z s c h e ist in dieser leicht lesbaren u n d doch —

der v i e l f ä l t i g e n T e n d e n z e n w e g e n , die sie in sich v e r e i n i g t 1 2 —

nicht

leicht deutbaren Schrift erst auf d e m W e g e zu jenen Erkenntnissen v o m K o n t i n u u m des W e r d e n s d e r einzigen W e l t , die i m Ersten

Kapitel

dieser

U n t e r s u c h u n g schon herausgestellt w u r d e n . E r sucht hier noch den K o n s e quenzen zu entgehen, die er später ziehen w i r d 1 3 . S p ä t e r v e r s t e h t er die ,historische K r a n k h e i t ' , v o n der er schon in der f r ü h e n Schrift spricht, als ein S y m p t o m der décadence u n d begreift diese selbst in ihrer geschichtlichen H e r k u n f t . D a m i t sucht er zu erfüllen, w a s er in d e r Zweiten 10 11

12

13

36

Unzeit-

Nachlaß, X 352. Sie sind unzeitgemäß nur insofern, als sie sagen, was die Zeit über sich nicht hören will, obwohl es ,an der Zeit' ist. Nietzsche versteht sich im späteren Rückblick auf sie als einer der „Modernsten der Modernen" (Nachlaß, X I V 373). — Nietzsche hatte 187$ und 1876 noch die Absicht, die Reihe der ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' über Jahre hinaus fortzuführen. Zu seinen Programmen vgl. Nadilaß, X 473 ff., ferner die bisher nur von F. Koegel edierten Fragmente K A W , IV/1 85 f . und 128, sowie das bisher noch unedierte Fragment 16 [ 1 2 ] K A W , IV/ 2 386. Dies erweckte in E. Rohde „den Eindruck, als ob einzelne Stücke und Abschnitte zuerst für sich fertiggearbeitet worden wären, und dann, ohne in dem Fluß des Metalls völlig wieder aufgelöst worden zu sein, dem Ganzen eingefügt worden wären." So schreibt er in einem Brief an Nietzsche vom 24. 3 . 1 8 7 4 (Ges. Br. I I 452). Nietzsche ist auf diese Kritik nicht eingegangen. Zu beachten bleibt, was K. Schlecbta in NietzsAes Verhältnis zur Historie schreibt: „Die Zeit der Konzeption und der Ausarbeitung der .Unzeitgemäßen', die Jahre 1872—1875 umfassend, ist besonders reich an mehrdeutigen Einfallen, ambivalenten Gedanken, noch zu verdrängenden Notizen. Manches steht schon in den Heften, was sich erst später ans Licht wagt; ja in der Reihe der ,Unzeitgemäßen' selbst nehmen die fluktuierenden und irisierenden Stellen immer mehr zu . . . " (Der Fall Nietzsche, 1959 2 , 56). So finden sich schon vor der Veröffentlichung der Zweiten Unzeitgemäßen — vor allem in der von Nietzsche nidit veröffentlichten Schrift ,Über Wahrheit und Lüge im außermoralisthen Sinne' (1873) — Gedanken formuliert, die in ihrer Radikalität weit über das hinausreichen, was in ,Vom Nutzen und Nachteil' Ausdruck gefunden hat (vgl. K. Scblecbta/A. Anders, Fr. Nietzsche, aaO, 10—20, 48). Versuche der entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung Nietzsches stehen angesichts eigentümlicher Diskrepanzen zwischen Niederschriften und Notizen, die teilweise in spätere Veröffentlichungen eingegangen sind, und dem zur Zeit solcher Niederschriften Veröffentlichten vor ganz ungewöhnlichen Schwierigkeiten.

gemäßen gefordert hat: daß der Ursprung der historischen Bildung selbst wieder historisch erkannt werden müsse". Bei aller Vorläufigkeit ihrer Resultate und trotz (in gewisser Weise: gerade wegen) mancher Ambivalenzen führt ,Vom Nutzen und Nachteil· jene Gegebenheiten besonders eindringlich vor Augen, von denen Nietzsches Philosophie der Gegensätze ihren Ausgang nimmt15. Einige der wichtigsten Aspekte dieser Schrift sollen daher im folgenden in den Blick genommen werden. Nietzsche schildert in seiner Abhandlung, wie „der junge Mensch" des neunzehnten Jahrhunderts „durch alle Jahrtausende gepeitscht" wird": Folge „der so mächtigen historischen Z e i t r i c h t u n g . . . , wie sie bekanntlich seit zwei Menschenaltern unter den Deutschen namentlich zu bemerken ist" 17 . Eine ständig wachsende Flut von Vergangenem und Fremdem ergießt sich in die Seele des modernen Menschen. Vergeblich sucht sie der „Überschwemmung" 18 Herr zu werden: „Das Gedächtnis öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet, . . . diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren"1®. Früher war es anders. D a stand die Historie im Dienst des Lebens, dessen Bedürfnisse die Vielfalt des Gewesenen bändigten. Doch nun ist die Konstellation von Grund auf verändert, und zwar „durch die Wissenschaft, durch die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll". Die HL, I 3JI. — Hier unternimmt Nietzsche nur einen ersten und vorsichtig tastenden Schritt in Richtung auf ein historisches Verstehen des modernen Übermaßes an Historie, wenn er dieses aus dem mittelalterlichen ,Memento mori' ableitet (HL, I 349). — Eine pauschalierende Bemerkung aus dem Jahre 1873 lautet: „Wie die Wissenschaft zu dem werden konnte, was sie jetzt ist, ist nur aus der Entwicklung der Religion deutlich zu machen.0 (Nachlaß, X 185) 1 5 In welchem Maß dieser Schrift persönliche Erfahrungen zugrundeliegen, zeigt das Vorwort: „Ich habe mich bestrebt, eine Empfindung zu schildern, die midi oft genug gequält hat. Ich räche mich an ihr, indem ich sie der Öffentlichkeit preisgebe. . . . Auch soll zu meiner Entlastung nicht verschwiegen werden, dass ich die Erfahrungen, die mir jene quälenden Empfindungen erregten, meistens aus mir selbst und nur zur Vergleichung aus Anderen entnommen habe, und dass ich nur, sofern ich Zögling älterer Zeiten, zumal der griechischen bin, über mich als ein Kind dieser jetzigen Zeit zu so unzeitgemäßen Erfahrungen komme." (HL, I 280 f.) « H L , I 343 f. " H L , I 280. 18 HL, I 383. 19 HL, I 311. — Im Nachlaß zur Zweiten Unzeitgemäßen findet sich die Notiz: „Die Zahl der jährlich erscheinenden historischen Schriften! Dazu noch zu rechnen, dass fast die ganze Alterthumswissenschaft nodi hinzugehört! Und überdies in fast allen Wissenschaften beinahe die überwiegende Masse Schriften historisdi ist, ausgenommen die Mathematik und einzelne Disciplinen der Medicin und Naturwissenschaften." (Nachlaß, X 271 f.) 14

37

Wissenschaft ist zwischen das Überkommene und das Leben getreten als ein neues, leuchtendes, beherrschendes Gestirn20. Sie übt ihre Herrschaft aus, indem sie das Vergangene objektiviert. Im Wesen solcher Objektiva20

38

H L , I 3 1 0 f. — Nietzsches schon früh ausgesprochene Kritik am wissenschaftlichen Erkennen überhaupt hat vielfältige Ansatzpunkte. Sie bedürfte einer eigenen Untersuchung. Im folgenden werden nur diejenigen Momente genannt, die für seine Kritik an der historischen Wissenschaft wesentliche Relevanz gewonnen haben. — Daß Nietzsche hier noch meint, die historische Wissenschaft als das ansehen zu können, woraus der Zeitgeist der Desorganisation entspringt, hat ihm eine wiederholt vorgebrachte Kritik eingetragen, auf die ihrer grundsätzlichen Bedeutung wegen hier eingegangen werden soll. Als erster hat K. Hillebrand sie geäußert (Ueber historisches Wissen und historischen Sinn, in: Zeiten, Völker, Menschen. Zweiter Band: Wälsches und Deutsches, 1892 2 ) : „Hr. Nietzsche spricht, als ob die ganze deutsche Nation eine akademische Erziehung genossen und im historischen Wissen erstickt wäre" (316). Es sei „ein Grundirrthum" Nietzsches und der ihm verwandten Geister, „daß sie Deutschland nodi immer für eine große Universität halten und meinen, jeder Deutsche sei ein Privatdozent oder Professor für Geschichte und Philologie. Gingen sie einmal nach Hamburg oder Chemnitz, so würden sie schon genug und nur zu viele ,unhistorische' Deutsche finden, und blickten sie ein wenig in die Berufsthätigkeit deutscher Beamten und Officiere, so würden sie sich schon überzeugen, daß die .hypertrophische Tugend' der Historik sie nicht am rasdien, sicheren, dem Augenblick gemäßen Handeln hindert." (306) Hillebrand meint, daß die Mehrzahl der Gebildeten, welche ihm zufolge allein den Namen der Nation verdienen (323), nur an „der Richtung" Anteil nehmen, „welche der Schriftsteller in der geschichtlichen Entwicklung findet, oder in sie hineingelegt, oder gar von seinen Lesern selber sich aufzwingen läßt". Natürlich kümmern sich „die Bürger und Officiere, welche sich durch die Werke jener Gelehrten durchgearbeitet haben, sei's den Nachklang, sei's den Auszug soldier Werke aufgenommen haben", wenig um das „Quellenstudium", „auf das die Herren Verfasser so stolz sind" (307). Aber dies ist auch gar nicht die Problematik, die Nietzsche im Blick hat. Gerade weil die Gebildeten nur an den Richtungen Interesse nehmen, müssen sie sich einem Chaos widersprechender Wertschätzungen gegenüber sehen, das sich aus den verschiedenen, selber geschiditlich vermittelten Positionen der modernen Historiker ergibt. Die grundlegende Differenz zwischen Nietzsche und seinem Kritiker liegt darin, daß jener schon der äußersten Konsequenz des Historismus, nämlich des historischen Relativismus, ansichtig wird, während sie diesem nodi verborgen bleibt. Hillebrand mag es so erschienen sein, daß 1 8 7 J , als seine Kritik zum ersten Mal erschien, noch immer der seit den Zwanzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts wirksame nationale und antikatholische Geist das allgemeine Geschiditsverständnis bestimmte (vgl. 307). Aber Nietzsche hat die Verfallserscheinungen erspürt, die sich hinter dieser und anderen Fassaden ausbreiteten und audi heute nodi immer ausbreiten. Sie bleiben audi nicht auf ,die Gebildeten' besdiränkt. Deren Unsicherheit strahlt in alle Richtungen aus. So sieht Nietzsche, daß die „Einheit der Volksempfindung" verloren geht; das Volk fällt „in Gebildete mit verbildeter und verführter Innerlichkeit und in Ungebildete mit unzugänglicher Innerlidikeit" auseinander. D a „die Instincte des Volkes gestört" sind, kommen sie den großen produktiven Geistern nicht mehr entgegen (HL, I 3 1 7 — 3 1 9 ) . „ Cui tur ohne V o l k " notiert sich Nietzsche gelegentlich einer Aufzählung von „Factoren der gegenwärtigen Cultur" im Jahre 1873 (Nadilaß, X 253). — Darüberhinaus bedenkt Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen audi die Folgen, die aus der allgemeinen Verbreitung der „Lehren vom souveränen Werden" (der Lehren „von der Flüssigkeit aller Begriffe, Typen und

tion liegt es, daß ihr das Verschiedenartigste gleich viel gilt21. Dem Entlegendsten widmet die historische Wissenschaft nicht geringere Aufmerksamkeit als dem, was noch die Zeitgenossen bewegt hat. So wächst die Stoffmenge unaufhörlich. Aber sie geht die Lebenden, die Handelnden nichts an. Was von der Historie zum Objekt gemacht wird, das erscheint als in sich abgeschlossen. Das Eigentümliche jedes Wissens beruht auf „Separation, Abgrenzung, Beschränkung"22. Objektivierung isoliert, läßt keine praktische Ausweitung zu. So bewacht historische Wissenschaft die Geschichte, „dass nichts aus ihr heraus komme als eben Geschichten, aber ja kein Geschehen"23. Abgetrennt vom Gegenwärtigen und Zukünftigen kann das Vergangene „in ein Erkenntnisphänomen aufgelöst" werden24. Dabei zeigt sich: der in der Geschichte Handelnde war blind. Ihn trieb voran, was er selbst nicht durchschaute. Er wähnte zu handeln, und es wurde doch nur durch ihn hindurch gehandelt. Nun wird sein Tun von dem wissenschaftlichen Historiker in das helle Licht des Erkennens gerückt. „Der wahrhaft geschichtliche Connexus von Ursachen und Wirkungen"25 wird festgestellt. Ein so in sich abgeschlossenes und durchschautes „historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt . . . , ist für den, der es erkannt hat, todt"2®. In sich trägt es kein Leben mehr: die Illusionen27, aus denen sich das es konstituierende Handeln speiste, sind zerstört. Und was in sich tot ist, vermag auch kein Leben in Gegenwart und Zukunft hineinströmen zu lassen. Vielmehr nimmt derjenige selber „Leichengeruch" an, Arten, von dem Mangel aller cardinalen Verschiedenheit zwischen Mensch und Thier") — also letztlich aus dem Verlust des Glaubens an überhistorische Mächte — erwachsen. Werden diese Lehren, so schreibt er, „in der jetzt üblichen BelehrungsWuth noch ein Menschenalter hindurch in das Volk geschleudert..., so soll es Niemanden Wunder nehmen, wenn das Volk am egoistischen Kleinen und Elenden . . . zu Grunde geht, zuerst nämlich auseinanderfällt und aufhört, Volk zu sein: an dessen Stelle dann vielleicht Systeme von Einzelegoismen, Verbrüderungen zum Zweck raubsüchtiger Ausbeutung der Nicht-Brüder und ähnliche Schöpfungen militärischer Gemeinheit auf dem Schauplatz der Zukunft auftreten werden." (HL, I 366 f.) 21 Herrschaft der Wissenschaft läßt den „Erkenntnisstrieb ohne Auswahl" walten. Dieser sei dann, wie Nietzsche bemerkt, „gleich dem wahllosen Gesdileditstrieb — Zeichen der Gemeinheit!" (Nachlaß, X i n ) 22 Nachlaß, X i j j . 23 HL, I 322. — Das historische Erkennen ist „rein luxuriirend, dadurch wird die gegenwärtige Cultur um nichts höher." (Nachlaß, X 154) 24 HL, I 293. — „Durch Isolation können einige BegrifFsfolgen so vehement werden, dass sie die Kraft andrer Triebe an sich ziehn. So zum Beispiel der Erkenntnisstrieb." (Nachlaß, X 174) 26 HL, I 299. 28 HL, I 293. « HL, I 339.

39

der der Gefahr historischer Anempfindung erliegt28. Es entsteht „der blosse Gelehrte", der — wie Nietzsche zufolge Mommsen — alles „mumienhaft lässt"28. „Die Geschichte als reine Wissenschaft gedacht und souverän geworden", könnte jedenfalls nichts anderes mehr sein als „eine A r t von Lebens-Abschluss und Abrechnung für die Menschheit"80. Das ist freilich nur einer der Gesichtspunkte, unter denen der junge Nietzsche die historische Wissenschaft sieht. Härter konnte er sie nicht verurteilen, als indem er sie als das Tötende dem Leben entgegensetzte. Aber die Antithese erweist sich als zu schroff. Denkt man nur von ihr her, so bleibt unverständlich, wieso die Gegenwart in dem von Nietzsche geschilderten Maße an der historischen Krankheit leiden kann. Um das, was tot ist, braucht sich das weiterschreitende Leben dodi nicht zu kümmern. Und steht es den Lebenden im Wege, so können sie es beseitigen, wie es der „Verwegenste" in einer nachgelassenen Aufzeichnung zur Zweiten Unzeitgemäßen fordert: „weg mit allem Vergangenen, in's Feuer mit den Archiven, Bibliotheken, Kunstkammern! Lasst dodi die Gegenwart selbst produciren, was ihr noththut, denn nur dessen, was sie selbst kann, ist sie werth. Quält sie nicht durch Mumisirung des einmal, in ferner Zeit Gültigen und Nothwendigen und schafft die Todtengerippe weg, damit die Lebenden ihres Tages und Thuns froh werden können!" 81 Aber nicht einmal auf diese Weise läßt sich das Vergangene abtun: vor diese Einsicht führt gerade die wissenschaftliche Betrachtungsweise. Auch der gegenwärtig Lebende gehört ja in den ,wahrhaft geschichtlichen Connexus' hinein. „Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung"32. Wir sind „nun einmal die Resultate früherer . . . Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen". Zwar können wir es „im besten Falle zu einem Widerstreit" gegen das Ererbte und Überkommene bringen, gelegentlich gelingt sogar „der Sieg" einer neu gepflanzten „zweiten Natur" über die erste, schon mitgebrachte.83 Unterwirft man sich jedoch dem wissenschaftlichen Gesichtspunkt, so erweist sich der Sieg als bloßer Schein: in Wahrheit ist dann auch noch der Widerstreit gegen das Vergangene dessen notwendige Folge. „Der historische Erkenntnisstrieb" hat das Ziel, „den Menschen im 28 29 30 31 38 33

40

Nachlaß, X 416. Nachlaß, X 255. HL, I 294. Nachlaß, X 268. Nachlaß 187$, K A W , IV/i 117. HL, I 309.

Werden zu begreifen". In der Auflösung alles Beständigen entzieht er „dem Culturtriebe die grösste Kraft". 34 Denn die „Lehren vom souveränen Werden" 35 , die der Hypertrophie des historischen Sinnes entspringen, zerstören das Bewußtsein der Verantwortlichkeit, das dem Handelnden unentbehrlich ist. Sein Wille ist, so muß er sich sagen, durch die Vergangenheit nezessitiert. Fragt er ihr nach, um sein Wollen hinsichtlich der wirklichen Bestimmungsgründe zu begreifen, so wird er in der Reihe der Ursachen immer weiter zurückgetrieben. Nicht einmal am Anfang der „Menschheitsgeschichte" kann er innehalten. Diese ist für die radikalisierte historische Betrachtungsweise „nur die Fortsetzung der Thier- und Pflanzengeschichte".86 Und wie ihm das Woher des Prozesses entgleitet, in den er sich hineingestellt weiß, so auch dessen Wohin. Er erfährt sich als ohnmächtiges Glied innerhalb einer endlosen Kette. Aber nicht nur die Überzeugung von der Eigenmächtigkeit des Menschen wird durch die Lehre vom ,souveränen Werden' zerstört. Versteht er sich als Glied einer Kette, so spricht er sich noch eine gewisse Stabilität zu. Doch diese löst sich auf, wenn der Prozeß als einzige Wirklichkeit gelten soll. Dann wird die Identität mit sich selbst zur bloßen Fiktion. Stellen wir uns mit dem Nietzsche der Zweiten Unzeitgemäßen, als „das äusserste Beispiel, einen Menschen" vor, „der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen" oder „der durch und durch nur historisch empfinden wollte" 87 . Von ihm müßten wir sagen: er „glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein, glaubt nicht mehr an sich, sieht alles in bewegte Punkte auseinander fliessen und verliert sich in diesem Strome des Werdens" 38 . Das Bild des Stromes erscheint Nietzsche besonders geeignet, um die Bewegtheit des Wirklichen auszudrücken. 1872 notiert er: „Von einer Zeit zur andern fliesst ein Strom über, jede giebt etwas Neues hinzu, jede verschlingt und verdunstet eine Menge des über34 85 36

37 38

Nachlaß, X I J 4 . HL, I 3 6 6 . H L , I 359. — 1862 hat sich Nietzsche sogar gefragt: „Ist nicht vielleicht der Mensch nur die Entwicklung des Steins durch das Medium Pflanze, Thier?" (BAW, II 56) Den Gegensatz „organisch — unorganisch" rechnet er dabei der „Erscheinungswelt" zu (Nachlaß, X I V 36). Gibt es aber nur das Organische, so kann es nicht entstanden sein (Nachlaß, X I I I 232, X I V 35): es muß ewig sein. — Neben solcher Beseitigung der Differenz zwischen Anorganischem und Organischem finden sich audi Versuche, den Unterschied zwischen ihnen herauszuarbeiten (Nachlaß, X I I I 231) oder den Übergang vom ersteren zum letzteren zu beschreiben (Nachlaß, X I I I 227). In allen drei Fällen bleibt Nietzsches Grundthese von der bruchlosen Einheit der Wirklichkeit des Werdens unangetastet. H L , 128$. HL, I 2 8 5 . 41

kommnen Wassers. Der Strom wächst nicht immer: denn manche Zeiten geben wenig dazu und vernichten sehr viel." 38 Das radikal durchgeführte „Historisiren" führt zum „Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente", zu ihrer „Auflösung in ein immer fliessendes und zerfliessendes Werden" 40 . Der Mensch bedarf aber, so heißt es hier noch, des Glaubens „an das Beharrliche und Ewige". Dieser ist ihm letztes „Fundament aller seiner Sicherheit und Ruhe". 41 Deshalb stellt Nietzsche den Ansprüchen des wissenschaftlich-historischen Denkens in der Zweiten Unzeitgemäßen die überbistorischen Mächte der Kunst und Religion entgegen. Sie sollen „den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden giebt".42 Auf Nietzsches Rechtfertigung dieses Bedürfnisses wird hier nur hingewiesen, um die zweite Antithese in den Blick zu heben, die er im Zuge seiner Auseinandersetzungen mit der historischen Wissenschaft herausstellt: die Antithese von Werden und Sein. Hierbei ist Sein der Name für das dem ruhelosen Werden und Vergehen Entzogene, für das Beständige. In der frühen Schrift hält Nietzsche den Glauben an ein überhistorisches Sein noch für lebensnotwendig. „Die Ausschweifungen des historischen Sinnes" gehen „auf Unkosten des Seins und Lebens"43. Nietzsche preist hier noch das Uberhistorische, weil es einen Damm bilde gegenüber dem unendlichunbegrenzten „Lichtwellen-Meer des erkannten Werdens" 44 . Der .Nachteil* der wissenschaftlichen Historie für das Leben zeigt sich also nicht nur darin, daß sie das überlieferte Vergangene abtötet, indem sie es durchschaut. Die Einsicht in die Souveränität des Werdens erweist sich noch in anderer Hinsicht als tödlich45. Sie vernichtet auch das Selbstvertrauen des in seiner Gegenwart auf die Zukunft hin handelnden Menschen. Und sie löst das Selbst schließlich in den Prozeß des Werdens auf. N u r wenn der Mensch aus diesem Prozeß herausspringt und sich an ein Beständiges hält, vermag er sich im Reiche des Unbeständigen zu behaupten. Freilich durchschaut Nietzsche den Glauben an Beständiges: er ist eine Illusion. Aber wenn diese unentbehrlich wäre? Wenn nur sie dem Menschen ge-

'» Nachlaß, X 481. « HL, I 359 f. 41 HL, I 380. « HL, I 379. 43 HL, I 366. 44 HL, I 379. 45 HL, I 366 f.

42

stattete, im Strome von Werden und Vergehen einen Halt zu finden? Wäre sie damit nicht gerechtfertigt?46 Audi mit dieser zweiten Antithese ist aber noch nicht erschöpft, was Nietzsdie zur ,historischen Krankheit' des modernen Menschen in seiner frühen Schrift zu sagen hat. In der dritten Antithese, die sich ihm darbietet, geht er über die Einseitigkeit hinaus, in der die beiden bisher erörterten das Vergangene beließen. Denn dieses stirbt weder unter dem Medusenblick des Erkennens gänzlich ab, noch ist es im Bilde einer Kette, an die Gegenwart und Zukunft geschmiedet werden, zureichend zu fassen. Menschliche Geschichte ist kein bloßes Verfließen von Geschehnissen. In seiner einführenden Abhebung des menschlichen Zeitbewußtseins vom tierischen47 schreibt Nietzsche: „die Kette läuft mit. Es ist ein Wunder: der Augenblick, im Husch da, im Husch vorüber, vorher ein Nichts, nachher ein Nichts, kommt doch als Gespenst wieder und stört die Ruhe eines späteren Augenblicks. Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort — und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schooss."48 Hier ist das gewußte Vergangene weder das ,Tote', noch auch das im Strome des Werdens Verflossene, das alle Gegenwart nach sich zieht. Es ist vielmehr gerade als Vergangenes lebendige Gegenwart. 46

Gelegentlich wird dem Nietzsche der ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' diese Illusion zur Wahrheit, die .Wahrheit des Werdens* zur Illusion. Eine Aufzeichnung aus dem Jahre 1874 sei angeführt: „will nidit jede Cultur den einzelnen Menschen heraus aus dem Stossen, Schieben und Zermalmen des historischen Stromes nehmen und ihm zu verstehen geben, dass er nicht nur ein historisdi-begrenztes, sondern auch ein ganz und gar ausserhistorisdb-unendliches Wesen sei, mit dem alles Dasein begann und aufhören wird? Ich mag es nicht glauben, dass dies der Mensch sei, was da mit trübem Fleisse durch das Leben kriedit, lernt, rechnet, politisirt, Bücher liest, Kinder zeugt und sich zu sterben legt — das ist wohl nur eine Insectenlarve, etwas Verächtliches und Vergängliches und ganz und gar Oberfläche. So zu leben heisst nur auf eine schlechte Art zu träumen. Nun ruft der Philosoph und der Künstler dem, der also träumt, ein paar Worte zu, Worte aus der wachen Welt; werden sie den unruhigen Schläfer wecken? Selten genug: gewöhnlich hört er audi in diesen Tönen nichts, was seinen Traum zerstörte, er webt sie mit hinein und vermehrt die Unklarheit und das Gedränge seines Lebens." (Nachlaß, X 320 f.) Schopenhauers Einfluß setzt sich da nodi einmal machtvoll durch.

47

Seine diesbezüglichen Ausführungen sind bis in einzelne Formulierungen hinein der Lektüre des § 153 von Schopenhauers Parerga und Paralipomena, Bd. 2 (WW ed. A. Hübscher, Bd. 6), verpflichtet. So heißt es bei Schopenhauer z. B. vom Tier, es kenne nur ein „äußerst kurz angebundenes" Fürchten und Hoffen (314); bei Nietzsche, die Herde sei „kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks" (HL, I 283). Auf der nächsten Seite spricht Schopenhauer vom „gänzliche(n) Aufgehn in der Gegenwart" (31 j ) ; bei Nietzsche heißt es: das Tier „geht auf in der Gegenwart wie eine Zahl" (HL, I 284).

« HL, I 283 f.

43

Für Nietzsche besteht kein Zweifel: „Erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebraudien und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen"49. Das Leben braucht „den Dienst der Historie" 60 . Den Dienst: sie hat sich ihm unterzuordnen. Damit wird der Anspruch, Historie müsse Wissenschafl sein, endgültig zurückgewiesen. „Vermehrung der Erkenntniss" soll nicht um ihrer selbst willen geschehen, sie soll nicht „das Ziel selbst" sein, sondern „nur zum Zweck des Lebens und also auch unter der Herrschaft und obersten Führung dieses Lebens" erfolgen 61 . Was nicht zum Leben taugt, „ist keine wahre Historie" 68 . Nietzsche arbeitet drei Arten solcher Historie heraus: die monumentalisdie, die antiquarische und die kritische. Auf diese Unterscheidung, wie auch auf Nutzen und Naditeil dieser Arten für das Leben braucht hier nicht eingegangen zu werden. Für die im Rahmen dieser Untersuchung zu erörternden Zusammenhänge interessiert vor allem eine Frage: was geschieht, wenn das Wissen um Vergangenes die Grenzen, die die Bedürfnisse des Lebens setzen, überflutet? Darauf, daß diese „Überschwemmung" durch Überliefertes Nietzsche zufolge das Kennzeichen des neunzehnten Jahrhunderts bildet, wurde oben schon hingewiesen: eine Vielzahl .fremder Gäste* drängt sidi in die Gegenwart hinein. Vergeblich sucht das Gedächtnis sie zu ordnen. Die Ausarbeitung dieser Frage führt vor die dritte Antithese der Geschichtsphilosophie des frühen Nietzsche. Er stellt in ihr die lebensschwächende Disgregation der Antriebe, die aus einem Ubermaß von Historie — insbesondere in ihrer Gestalt als Wissenschaft — erwachsen kann, dem Bedürfnis des Lebens nach Organisation gegenüber53. In ihr wird vollends deutlich, daß „unsre historische Bildung auf den Tod jeder Cultur" geht54, « HL, 1288 f. HL, 1294. 51 H L , I 310. 52 Nadilaß, X 255. 68 Genannt hat die drei Antithesen schon J. Burckhardt, wenn er am Ende seines Briefes vom 2$. 2. 1874, in welchem er Nietzsche für die Zusendung der Zweiten Unzeitgemäßen dankt, von dem in der Schrift dargestellten „Antagonismus zwischen dem historischen Wissen und dem Können (hier: zwischen dem Tötenden der Historie und dem Anspruch des Lebens) resp. Sein (hier: zwisdien Werden und Sein), und wiederum denjenigen zwisdien der enormen Anhäufung des Wissens überhaupt und den materiellen Antrieben der Zeit" (hier: Disgregation und Bedürfnis nadi Organisation) spricht. (Zitiert nadi E. Salin, J. Burckhardt und Nietzsche, 19482, 208. Zur Interpretation des Burckhardt-Briefes vgl. daselbst 113 f.; vgl. audi Κ. Schlecbta, Nietzsches Verhältnis zur Historie, aaO, 62 ff.) 81 Nadilaß, X 164.

50

44

wenn diese denn in der „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes" beruht55. Nietzsche sieht, daß die Vielfalt des historisch Gewußten die Einheit des Wollens sprengen kann. „Sollte man es nicht zu büssen haben", bemerkt er, „wenn man in kostbaren Bildergallerien aller Zeiten lebt und der Blick immer vergleichend zu dem Betrachter zurückkehrt, mit Frage, was er eigentlich in diesen Räumen zu suchen habe."68 Nietzsche beruft sich auf Goethes Äußerung: „Hätte idi so deutlich wie jetzt gewusst, wieviel Vortreffliches seit Jahrhunderten da ist, idi hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes gethan."67 Daher Nietzsches Forderung nach dem Unbistorischen, der „Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einem begrenzten Horizont einzusdiliessen"58: also auszuschließen, was sich in diesen nicht einfügen lassen will. Nur so ist „die durch Historie gestörte Gesundheit" wiederherzustellen6". Warum lassen sich die vielen .fremden Gäste' nicht,ordnen'? Weil sie „im Kampfe miteinander" liegen®0. Der eine widerspricht dem anderen. Deshalb gewinnt keiner von ihnen wahrhaft Autorität' 1 . Ihr Einfluß auf den Gastgeber wechselt je nach dessen Laune: „Man handhabt jetzt die Maassstäbe der verschiedensten Culturen zugleich und vermag durch diese beinahe jedes Ding als sittlich oder als unsittlich abzuschätzen, wie man eben will, das heisst je nach unserm guten oder bösen Willen gegen die Mitmenschen oder gegen uns selbst."'2 Das fortwährende „Verschieben der Horizont-Perspectiven", zu dem das dargestellte „Übermaass von Historie" führt, kann zur Folge haben, daß sich der Mensch „aus der Unendlichkeit des Horizontes auf sich selbst, in den kleinsten egoistischen Bezirk", zurückzieht. Weil sich ihm die verschiedenartigsten Perspektiven eröffnen, vermag er sich keiner ganz anzuvertrauen. Er glaubt an nichts mehr, aber er gebraucht alles, was sich ihm darbietet, für die begrenzten Zwecke des Augenblicks. So wird er ,klug': „Er lässt mit sich reden, rechnet und verträgt sich mit den Thatsadien, wallt nicht auf, blinzelt und versteht es, den « H L , I j 14. 54 Nachlaß, X 268. 57 Nachlaß, X 272. — D a s „Wissen um das Höhere und Bessere", schreibt Nietzsche, kann »so mächtig" werden, „dass man gar nicht mehr den Muth hat, das Geringere auch nur z u können. Hier ist die grösste G e f a h r der Historie." (Nachlaß, X 279) » H L , I 379. » H L , I 314, vgl. 383 f. «· H L , I 3 1 1 . 61 D e r Mangel an Autorität gehört z u den Kennzeichen der Moderne: Nachlaß, X I V 203. 62 Nachlaß, X I 1 9 6 .

45

eigenen Vortheil oder den seiner Partei im fremden Vortheil und Nachtheil zu suchen".63 Dieser Egoismus stellt nur eine der möglichen Konsequenzen des ,Zugleichseins der Maßstäbe der verschiedensten Kulturen' dar. Die Vielfalt des Uberlieferten kann audhi erdrücken. Diejenigen, die sich nur als „Epigonen", als „Spätlinge" erfahren, „leben eine ironische Existenz". „Lebende Gedächtnisse", die sie sind, wissen sie doch um die Unfruchtbarkeit ihres Wissens, um ihre Zukunftslosigkeit.64 Die jungen Menschen, die der historischen Bildung ausgeliefert werden, werden daran gewöhnt, „über nichts mehr übermässig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen". Schließlich können sie nur noch versuchen, sich „mit einem vorsätzlichen Stumpfsinn zu retten". Sie verfallen in einen Zustand geistiger Lähmung. Und „wo ein feineres und stärkeres Bewusstsein zu Grunde lag, stellt sich wohl audi eine andere Empfindung ein: Ekel. Der junge Mensch ist so heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiss er es: in allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist. In schwermüthiger Gefühllosigkeit lässt er Meinung auf Meinung an sich vorübergehn".65 Die sich objektiv gebärdende Gleichgültigkeit", die die historische Wissenschaft fordert, kann auch zur Teilnahmslosigkeit führen. Oder zu der Gewohnheit, „das überreichlich sich Aufdrängende . . . so leicht wie möglich anzunehmen, um es schnell wieder zu beseitigen und auszustossen". Auch dabei wird nichts mehr ernst genommen. „Daraus entsteht die ,schwache Persönlichkeit', zufolge deren das Wirkliche, das Bestehende nur einen geringen Eindruck macht".67 Das Individuum wird „zaghaft und unsicher und darf sich nicht mehr glauben: es v e r s i n k t . . . in dem zusammengehäuften Wust des Erlernten, das nicht nach aussen wirkt, der Belehrung, die nicht Leben wird." 68 Nietzsche sieht so in den historisch Gebildeten seiner Zeit „ein Geschlecht von Eunuchen", von „Neutra", die „auch die Geschichte als ein Neutrum" nehmen69. Infolge der „Austreibung der Instincte durch Historie" werden „die Menschen fast zu lauter abstractos und Schatten umgeschaffen". Was ihnen wirkliches Profil zu geben 63

H L , I 3 7 1 f. H L , I 3 5 2 f., vgl. 349 f. und 358. 85 H L , I 343. 86 H L , I 336, vgl. 329. « HL, I 314. 68 HL, I 321. " H L , I 3 2 j . — »Dem Eunuchen ist ein Weib wie das andere, eben nur Weib, das Weib an sich, das ewig unnahbare — und so ist es gleichgültig, was ihr treibt, wenn nur die Geschichte selbst schön .objectiv' bewahrt bleibt, nämlich von soldien, die nie selber Geschichte machen können." (HL, I 32 j , vgl. 322) "

46

scheint, erweist sich bei näherem Zusehen als Maske. „Greift man solche Masken an . . . , so hat man plötzlich nur Lumpen und bunte Flicken in den Händen." 70 Auch später noch gebraucht Nietzsche das Bild der Maskerade, wenn er das Charakteristische der Wirksamkeit des historischen Geistes herauszustellen sucht: Der Mensch habe jetzt „die Historie nöthig als die Vorratskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht auf den Leib passt — er wechselt und wechselt." Zum „Wechsel der Stil-Maskeraden" gehören audi „die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns ,nichts steht'. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barocco oder »national* vorzuführen, in moribus et artibus: ,es kleidet nicht'!" 71 Warum steht dem Menschen des neunzehnten Jahrhunderts kein Kostüm? Weil er keines redit ausfüllen kann. Er ist, geriert er sich z. B. florentinisch, doch zugleich auch anderes — und daher eben nicht überzeugend florentinisch, nicht einmal eine Maske, die einen Florentiner vorzutäuschen vermöchte. Die Flicken an seinem Gewand sind nicht zu übersehen. Er kann nichts mehr glaubwürdig darstellen, weil er zu vieles ist: „das Sensorium für tausenderlei Anempfindungen, der unersättliche Magen, der dodi nicht weiss, was ein rechtschaffner Hunger und Durst ist"72. Im Vergleich mit dem Menschen, der sich in der Vielfalt des Überkommenen verliert, „der kränkelt und zusammenfällt, weil die Linien seines Horizontes immer von neuem unruhig sich versdiieben", kann Nietzsche sogar die Beschränktheit desjenigen positiv anerkennen, dessen Horizont „eingeengt wie der eines Alpenthal-Bewohners" ist: steht er doch „trotz aller Ungerechtigkeit und allem Irrthum . . . in unüberwindlicher Gesundheit und Rüstigkeit da und erfreut jedes Auge" 73 . Ja, das unanfechtbare Festhalten an einem einmal gewonnenen Standpunkt wird in der Zweiten Unzeitgemäßen sogar als die wahrhaft philosophische Haltung gepriesen, die freilich nicht mehr anzutreffen sei: niemand wagt mehr „das Gesetz der Philosophie an sich zu erfüllen, niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, w o er audi war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugesagt hatte" 74 . 7» 71 72 73 74

HL, I 321. JGB, VIII 176; vgl. Nadilaß, X I V 207. HL, I J7J. HL, I 288. HL, I 323.

47

Im Unhistorischen75 und im oben beschriebenen Uberhistorischen findet der frühe Nietzsche „die natürlichen Gegenmittel gegen die Uberwucherung des Lebens durch das Historische, gegen die historische Krankheit". 76 Das Gegenmittel des Uberhistorischen fällt im Fortgange des Philosophierens Nietzsches mit seiner Metaphysikkritik dahin77. Er kann sich nicht mehr an Illusionen klammern78. Das Unhistorische, die Kraft des Vergessens, wird dagegen auch später von ihm als lebensdienlich hervorgehoben. In £ur Genealogie der Moral' führt er aus, „Vergesslichkeit" sei „keine blosse vis inertiae", sondern „ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen". Sie sei eine „Thürwärterin gleichsam", eine „Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung".79 „Das Bedürfniss nadi beschränkten Horizonten, . . . die Verengerung der Perspektive" gilt ihm in ¡Jenseits von Gut und Böse' „als eine Lebens- und Wachsthumsbedingung"80. Aber neben der Tendenz zur Eliminierung dessen, was die .gesunde' Geschlossenheit des Horizontes stören könnte, findet sich dann dodi auch die andere: selbst das Entgegengesetzte aufzunehmen, in gefährlicher Unabgeschlossenheit seines Fühlens und Denkens zu leben. Der historische Sinne, dieser sechste Sinn des neunzehnten Jahrhunderts81, so hat Nietzsche sich inzwischen überzeugt, muß nicht Krankheit sein. Er braucht nicht zur Bildungsphilisterei zu entarten. Er könnte sogar zur Tugend des Zeitalters werden. Die ,Fröhliche Wissenschaft' sieht in 75

7e 77

78

79 80 81

48

Nietzsche vertraut in ¡Vom Nutzen und Nachteil' auf die gesunden Instinkte der Jugend. Um irgendwann wieder einmal die Historie „im Dienste des erlernten Lebens" treiben zu können, bedarf es des Kampfes gegen die Gelehrsamkeit, die in der „historisdje(n) Jugenderziehung des modernen Menschen" zum Ideal erhoben wird (HL, I 373), in Wahrheit jedoch für das Leben verdirbt. Die Griechen werden als Vorbild herausgestellt. Von der „Überschwemmung durch das Fremde und Vergangne" bedroht, hätten sie schließlich gelernt, „das Chaos zu organisiren, dadurch dass sie sich . . . auf ihre ächten Bedürfnisse zurück besannen und die Schein-Bedürfnisse absterben Hessen" (HL, I 383). Die Jugend zu seiner, Nietzsches, Zeit habe historische Enthaltsamkeit nötig, ja „Gleichgültigkeit und Verschlossenheit... selbst gegen manches Gute", das der Uberlieferung entstammt: bis zu jener Zeit, da sie wieder gesund genug sein werde, um sich dem Vergangenen unter der Herrschaft des Lebens erneut zuzuwenden (HL, I 382). H L , I 380. Vgl. dazu Vf., Metaphysik und Wissenschaft in Nietzsches Aufklärungsphilosophie, in: Th. Viat. IX, 1964, 156 ff. Im selbstkritischen Rückblick aus den Jahren 1881—1883 schreibt Nietzsche: „Hinter meiner ersten Periode grinst das Gesicht des Jesuitismus, ich meine : das bewusste Festhalten an der Illusion und zwangsweise Einverleibung derselben als Basis der Cultur." (Nachlaß, X I I 212) GM, V I I 343 f. JGB, V I I 118. JGB, V I I 177.

ihm einen „Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte". Indem Nietzsche auf die Vielfalt des durch den historischen Sinn Vermittelten blickt, scheint es ihm freilich fast, „als ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle handele".82 Aber der Gedanke, „dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind"83, wird nun ins Positive gewendet. Das Neuartige leben, könnte dann heißen: „Alles auf seine Seele nehmen, Ältestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, Siege der Menschheit; diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen: — diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch nicht kannte — eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens".84 Sich selbst historisch verstehend ist Nietzsche stolz auf seine „Herkunft"', „in dem, was Zarathustra, Moses, Muhamed, Jesus, Plato, Brutus, Spinoza, Mirabeau bewegte, lebe ich auch schon, und in manchen Dingen kommt in mir erst reif an's Tageslicht, was embryonisch ein paar Jahrtausende brauchte."85 Aber lassen sich die Gegensätze, die mit der Zusammenstellung dieser oder anderer Namen aufbrechen, tatsächlich vermitteln? Das wird noch zu fragen sein. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß Nietzsches Bemühungen, der vielfältigen Probleme Herr zu werden, die sich ihm mit seiner ,Umwertung' des Historischen stellten, mannigfaltig sind. Sie reichen von der weitergetriebenen Erörterung der schon in ,Vom Nutzen und Nachteil' bedachten Konsequenzen seines historischen Perspektivismus, der darin besteht, daß man sich das Vergangene für die Bedürfnisse seines gegenwärtigen Lebens zurechtlegt88, bis zu den Versuchen einer großen Synthese der überlieferten, in der Gegenwart aufeinanderprallenden Gegensätze, von denen später noch zu sprechen sein wird. Daneben findet sich auch die 82 83 84 85

86

FW, V 2j8 f. Nachlaß, X 352. FW, V 2 J 9 f . Nachlaß, X I I 216 f. — Zwei andere „Ahnenreihen", die Nietzsche nennt: „Meine Vorfahren Heraklit, Empedokles, Spinoza, Goethe" (Nachlaß, X I V 263). „Wenn ich von Plato, Pascal, Spinoza und Goethe rede, so weiss idi, dass ihr Blut in dem meinen rollt" (Nachlaß, X I I 217). Diejenigen, so führt Nietzsdie in der ,Fröhlichen Wissenschafl' aus, die in vergangenen Zeiten Bücher übersetzten, über-setzten sie wirklich in ihre Gegenwart. Haben sie nidit recht, wenn sie uns zu fragen scheinen: „Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen?" (FW, V 1 1 3 ) Letztlich ist er überzeugt: „Historisdies Erkennen ist nur Neuerleben.' (Nachlaß, I X 264) „Ein Faktum, ein Werk ist für jede Zeit und jede neue Art von Mensch von neuer Beredsamkeit. Die Geschichte redet immer neue Wahrheiten." (WzM, X V I 3J0) Solches Neuerleben ist wie alles Erken-

49

Tendenz, die Historie zum Kunstwerk umzubilden87, und die dieser verwandte: „anstelle des Historischen: die mythenbildende Kraft" wirksam werden zu lassen88. Verraten audi die zuletzt genannten Bemühungen gewisse Vorbehalte gegen die Ansprüche des historischen Sinnes, weist Nietzsche auch immer wieder auf Gefahren der „üblichen Geschichtsbetrachtung" hin8', so macht er dodi von ,Μ^ώΙίώεί, Allzwnenschliches' an £rnst mit dem dort aufgestellten Satz, die ganze Philosophie sei von jetzt ab „der Historie verfallen"®0. Von der historischen Krankheit „langsam, mühsam genesen", ist er „ganz und gar nicht Willens . . . , fürderhin auf »Historie' zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte"91. Vor ihren Erkenntnissen will er nun nicht mehr die Augen verschließen, wie dies noch in der Zweiten Unzeitgemäßen geschah92. Jetzt erhebt er den Vorwurf gegen frühere Philosophen, ihnen mangele es an historischem Sinn. Dabei verfährt er oft allzu pauschal93, nur gelegentlich spezifiziert er ihn94.

87

88 88

nen immer auch ein „Fälschen" (Nachlaß, X I V 134). £5 gibt also „keine ,objective Historie'": die Aneignung der Geschidite vollzieht sich immer „unter der Leitung der Reize und der Triebe" (Nachlaß, X I V 314), die aus gegenwärtigem Leben gedeutet werden müssen. Vgl. ζ. B. H L , I 339. — Schon 1872 schreibt Nietzsche, daß „gegen die ikonische Gesdiichtschreibung und gegen die Naturwissenschaft ungeheure künstlerische Kräfte nöthig" seien (Nadilaß, X 114). Verschieben sich in den ersteren immer wieder die Horizonte, so vereinfaàt das Kunstwerk, konzentriert „unter Ein Gesetz", wie es in einer späteren Aufzeichnung heißt (Nadilaß, X I V 134). Nachlaß, X 2j2. Die Ansatzpunkte für solche Vorbehalte sind vielgestaltig. Erwähnt seien hier nur die historisierende Gleichmacherei: Nietzsche spricht von der Zudringlichkeit derjenigen, die sich des historischen Sinnes bedienen (Nadilaß, X I V 182). Hinter ihr steht „eine beleidigende Skepsis, gegen die Rangversdiiedenheit von Mensch zu Mensch", die auch auf die Toten ausgedehnt wird (Nadilaß, X I V 189); die Ideallosigkeit: Historischer Sinn ist „ein Beweis des Misstrauens gegen ein eigenes Ideal, oder das Fehlen desselben" (Nadilaß, X I I 136, vgl. X I V 213). „Dadurch dass man sucht, wie alles gekommen ist", flüchtet man „vor dem Ideal-bilden, dem Besser-machen" (Nachlaß, X I V 198); der Verlust an Einheit: Der historische Sinn, in das Mannigfache sich zerstreuend, erscheint als „ein Zeichen von Schwädje und Mangel der Einheit" (Nachlaß, X I V 207); der Verlust an gutem Geschmack: Der historische Sinn eröffnet das Verständnis für so vieles, beinahe für alles, daß er den Blick für das Vornehme, in sich Vollkommene trübt (JGB, V I I 176 ff.). M A II (VM), III 18 f.

M A II (Vorrede von 1886), III 4. Nachlaß 1878, K A W , IV/3 3JI. ·* GD, V I I I 76; vgl. WzM, X V 437. M Er wird ausdrücklich gegen Plato (Nachlaß, X I V 207), Leibniz, Kant (Nachlaß, X I I I 10) und gegen die englischen Moralphilosophen (GM, V I I 303) vorgebracht. 91

92

50

Der Wandel in der Einschätzung des Wertes der Historie läßt Nietzsches Verständnis der Geschichte in wesentlichen Zügen unangetastet. Menschengeschichte ist Fortsetzung der Geschichte des Organischen, die selber keinen Anfang hat. Was in ihr geschieht, vollzieht sich mit Notwendigkeit. Z w a r kann es sich bei jener Geschichte nach der Destruktion des Kausalitätsbegriffes 95 nicht mehr um einen ,Connexus' von Ursachen und Wirkungen handeln. Doch mit dem Kontinuum des Werdens, das an dessen Stelle tritt, wird nur die mechanistische Deutung jener Notwendigkeit ausgeschlossen. Diese darf allerdings auch nicht teleologisch verstanden werden. Geschichte hat weder ein ihr von außen gesetztes noch ein in ihr immanent angelegtes Ziel. Deshalb kann es in ihr auch nicht vorwärts gehen. Die Illusion des geschichtlichen Fortschritts bildet sich in uns nur, weil wir die Zeit als vorwärtslaufend erfahren. In Wahrheit ist nicht einmal der Mensch ein „Fortschritt gegen das Thier", umsoweniger „das neunzehnte J a h r h u n d e r t . . . gegen das sechzehnte". In seinen Betrachtungen der Geschichte der Menschheit konstatiert Nietzsche vielmehr immer wieder Bewegungen niedergehender Lebenskraft. „Der Kultur-Zärtling ist eine Missgeburt im Vergleich zum Araber und Korsen", „der deutsche Geist von 1888 ist ein Rückschritt gegen den deutschen Geist von i788" 9 \ Dodi waltet auch nicht in solcher Bewegung des Rückganges ein noch verborgener Sinn. Alles „geht . . . blind und dumm zu. Wie in einem Bache ein Blatt seinen Weg läuft, ob es schon hier und da aufgehalten wird" 97 . Die Geschichte ist ein Würfelspiel des Zufalls, hat Nietzsche schon in der Zweiten Unzeitgemäßen geschrieben98. Dieser Satz erfährt später freilich eine bedeutsame Einschränkung. Bisher, so heißt es dann, herrschte in der Geschichte der Menschheit der Zufall 99 . „Einiges gelingt" in ihr, „zerstreut durch alle Zeiten, und Unsägliches missräth", da ihr in sich Ordnung und sinnhafter Zusammenhang 85 96

97 98

99

S. oben S. 14 f. WZM,XV204· — Vgl. a u c h A C , VIII219: „Der Europäer von Heute bleibt in seinem Werthe tief unter dem Europäer der Renaissance." Nadilaß, X I I I 321. H L , I 299; vgl. Za, V I 334 f. — Den Kämpfern »gegen die Geschithte, das heisst gegen die blinde Madit des Wirklichen", gilt die Hochschätzung des frühen Nietzsche (HL, I 357). Die Größten unter ihnen bilden eine Genialen-Republik im Sinne Schopenhauers. Man mißversteht ihre Wirksamkeit, wenn man meint, diese GenialenRepublik ginge im Geschichtsprozeß auf. Jene Größten leben „zeitlos-gleichzeitig" (HL, I 364); die Geschichte ist hier noch nichts anderes als die Ermöglichungsbedingung des zeitlosen Gesprächs zwischen den hohen Geistern. Vgl. Nachlaß, X I I I 322: „Die erste Einsicht ist, dass es keinen Plan bisher gab, weder für die Menschen noch für ein V o l k . "

51

fehlen100. »Jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher .Geschichte* hiess", kann dadurch „ein Ende" gemacht werden 101 , daß das von sich selbst her Sinnlose als Material für die schöpferische Kraft unseres Willens in Ansprudi genommen wird. Indem Nietzsche Möglichkeiten für einen solchen Neuanfang vorzeichnet, kann er sich selbst als denjenigen begreifen, mit dessen Auftreten die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke gebrochen wird102. Es wird nodi zu zeigen sein, daß er meint, in der Freisetzung des Menschenwillens könne der Nihilismus überwunden werden, der sich in der bisherigen Geschichte ausgebildet hat. Soll die Sinnlosigkeit nidit das letzte Wort haben, so muß nun, nach der Destruktion des Uberhistorischen, in der Geschichte selbst, dem einzig verbleibenden Wirklichkeitsbereich, durch den Menschen allererst Sinn gestiftet werden. „Wenn kein Ziel in der ganzen Geschichte der menschlichen Geschicke liegt, so müssen wir eins hineinstecken."103 Ein Ziel in die Geschichte hineinstecken wollen: das entbindet nicht davon, auf die bisherige Geschichte zurückzublicken. Führte diese ja gerade die Notwendigkeit einer Zielsetzung durch den Menschen herauf. Erst nachdem ihm das Chaos einander widerstreitender Wertschätzungen durch die Ausbildung des historischen Sinnes in seiner Herkunft voll zu Bewußtsein gekommen ist, kann er sich fühlen lernen „als der Gestaltende, welcher nicht nur zusieht und zusehen will" 104 . Der Bruch der Geschichte in zwei Stücke kann also nicht bedeuten, daß jeder Zusammenhang zwischen der zufälligen Vergangenheit und der geplanten Zukunft zerreißt. Das Spätere knüpft an das Frühere an. N u n soll sich in jenem aber auch der Gegensatz zu diesem ausdrücken. Daher muß Nietzsche in seiner Betrachtung der 100

101

102 103

101

52

WzM, X V 204. — „Die allergröblichsten Zufälle sind das Gebieterische im Grossen gewesen, — sie sind es nodi." (Nachlaß, X I I I 322) JGB, V I I 138. — Vgl. dazu Nadilaß, X 402: „wer nicht begreift, wie brutal und sinnlos die Geschichte ist, der wird auch den Antrieb gar nicht verstehn die Geschichte sinnvoll zu machen." In den Bemühungen, ihre Vernünftigkeit nachzuweisen, sieht Nietzsche die „geborenen Theologen" am Werke, die die Wirklichkeit verfälschen. (Nachlaß I8 7 J, K A W , IV/i IJ2) EH, X V 1 2 5 . Nadilaß, X I I I 78. — In einer kritischen Bemerkung zu Hegels Geschichtsphilosophie schreibt Nietzsche: „ . . . jede Erzählung muss einen Zweck haben, also auch die Geschichte eines Volkes, die Geschichte der Welt. Das heisst: wir fordern Erzählungen nur mit Zwecken. Aber wir fordern gar keine Erzählungen vom Weltprocess, weil wir es für Schwindel halten, davon zu reden. Dass mein Leben keinen Zweck hat, ist schon aus der Zufälligkeit seines Entstehens klar: dass ich einen Zweck mir setzen kann, ist etwas andres. Aber ein Staat hat keinen Zweck: sondern nur wir geben ihm diesen oder jenen." (Nachlaß, X 275) Nadilaß, X I I I 284.

Menschheitsgeschichte beides zu vereinen suchen: er muß sowohl den Zusammenhang des Künftigen mit dem Vergangenen als audi deren Gegensatz herausarbeiten105. Diese Bemühung setzt wieder die im Ersten Kapitel aufgezeigte Uberzeugung Nietzsches voraus, daß die wirklichen Gegensätze nicht absolut sind, sondern von einander abgeleitet werden können. Die angeführten allgemeinen Charakteristika reichen natürlich nicht aus, um das Eigentümliche der Geschichtsbetrachtung Nietzsches ins Licht zu rücken. Empfängt sie doch ihre Impulse von den Zerfallserscheinungen, die er in seiner Zeit antrifft. Die Antwort, die er in der Zweiten Unzeitgemäßen auf die Frage nach der Herkunft solcher Desorganisation gab, mußte sich im Fortgang seines Philosophierens als unzureichend erweisen. Soll es das leuchtende, aber dem Leben feindliche Gestirn der Wissenschaft sein, das das gegenwärtige Chaos der Überzeugungen heraufgeführt hat, so muß weiter gefragt werden: wodurch entstand jenes Gestirn?, woraus bezieht es seine Macht über das Leben? In den Veröffentlichungen nach Zarathustra* antwortet Nietzsche, die Herrschaft des wissenschaftlichen Denkens sei letztlich nur Symptom einer tiefgreifenden Erkrankung des menschlichen Lebenswillens"11. Auf diese wird nun die historische Krankheit zurückgeführt"7. Der Grund für die Disgregation in der Moderne ist schon gelegt, bevor die Bemühungen um historische Objektivität eingesetzt haben. Seit langem ist die Geschichte des Zufalls eine Geschichte des Niederganges, der Rückschritte. Zwar war unter den Zufällen auch „mancher günstige"108. Es gab Gegenbewegungen, die sich jedoch nicht auf die Dauer durchzusetzen vermochten. Die Römer, 105

109

107

108

Insofern man der bisherigen Geschichte einen religiös-transzendent bestimmten Sinn unterschob, hieß man „die Läge Wahrheit". Nietzsche sieht in ,Ecce homo' sein Los darin, sich »gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden in Gegensatz" zu wissen. Wenn er nun auch ausrufen kann: „Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist", so ergänzt er dodi sofort, er sei „trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes" (EH, X V h 6 f.). Wenn G. Häuptner in seiner Kritik der Zweiten Unzeitgemäßen auch zuredit darauf hinweist, daß die historische Bildung im Sinne der Geschichtswissenschaft nicht am Nachlassen der plastischen Kraft des Lebens Sdiuld tragen könne, wie Nietzsche dort ausgeführt hat, daß vielmehr die plastische Kraft bereits nachgelassen haben müsse, damit so etwas wie historische Bildung überhaupt entstehen könne, so ist doch darauf aufmerksam zu machen, daß der spätere Nietzsche durchaus die Konsequenz gezogen hat, die Häuptner fordert: daß die historische Bildung nur „ein Symptom der Entartung des Lebens, nidit aber der Grund der Entartung" sein könne (Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsdie, 1936, 95 Anm.). In ,Zur Genealogie der Moral' wird nicht nur „die gesamte moderne Geschichtsschreibung" als ein Symptom des absinkenden Lebens beschrieben (GM, V I I 467 ff.), sondern die neuzeitliche Wissenschaft überhaupt (GM, V I I 471 ff.). Nachlaß, X I 356.

53

die Großen der Renaissance, Napoleon: sie sind die von Nietzsche am häufigsten herangezogenen Beispiele dafür. Sie konnten den Niedergang jedoch nicht aufhalten. Was niedergeht, muß aber seinen Ausgang von einer Höhe nehmen: am Anfang der Geschichte jeder Kultur steht der gesunde Mensch. Ungehemmt bricht sich in ihm der Wille zur Macht, „das Ur-factum aller Geschichte"108, seine Bahn, wogegen der Machtwille des .Kranken' gelähmt oder von seinen natürlichen Zielen abgelenkt ist. „Sagen wir es uns ohne Schonung", ruft Nietzsche aus, „wie bisher jede höhere Cultur auf Erden angefangen hat! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstände des Wortes, Raubmenschen, nodi im Besitz ungebrochner Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte." 110 Der zunächst Siegreiche ist stets das gesündeste „aller tropischen Unthiere und Gewächse", das Raubtier Mensch, der Raubmensch 1 ", die „Bestie der That"112, ζ. Β. die vielberufene „blonde Bestie"118, gewesen. In ihm setzt sich die Tiergeschichte machtvoll fort. Wie konnte es aber dazu kommen, daß schließlich die Schwachen, die Kranken die Herrschaft an sich rissen, behaupteten und ausbauten? Die Voraussetzung dafür ist, daß die Starken sich selber geschwächt haben. Die Selbstschwächung kann bis zu ihrer Selbstvernichtung führen. Vom Willen zu immer mehr Macht getrieben, setzten sie ihr Leben allzu rücksichtslos aufs Spiel. „Die Erfahrungen der Geschichte" zeigen Nietzsche: „Die starken Rassen decimiren sich gegenseitig", „sie reiben sich unter einander auf", zumindest treten nach solchen Kämpfen „Perioden tiefer Abspannung und Schlaffheit ein"114. Eine Selbstschwächung der Starken erfolgt aber audi, wenn ihre Herrschaft unangefochten bleibt. „Der Sieger wird meistens dumm", vermerkt Nietzsche sdion I874115. Die Starken bedürfen der Feinde: des beständigen Kampfes „mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten". Generell gesprochen: sie bedürfen der „ungünstigen Bedingungen". Und nur wenn diese wesentlich ,gleidi' bleiben, ist ihr Zusammenhalt als herrschende 109

Nadilaß, XII 238. » · JGB, VII 23 j f. "» JGB, VII 127; vgl. GM , VII 321 ff. 112 GM, VII 391. 113 GM, VII 323. 114 WzM, XVI 2S5. 118 Nadilaß, X 483.

54

Kaste gewährleistet. Tritt eine „Glückslage" ein, sind weder Kriege noch Aufstände zu befürchten, fallen die zuvor gegebenen Erschwernisse des Lebens fort, wird schließlich ein ungestörter Lebensgenuß möglich, so zerfällt die bisher durdi gemeinsame Interessen zusammengehaltene Gemeinschaft119. Die Starken sind also auf bestimmte, in der Geschichte bisher nur zufällig und zeitweilig gegebene Steigerungsbedingungen des Willens zur Macht angewiesen, sollen sie die Starken bleiben können. Ein Zuviel wie ein Zuwenig an Kampf zerstören ihre Herrschaft. Nach aufreibenden Kriegen sind die Starken „schwächer, willenloser, absurder als die durchschnittlich-Schwachen"117. Und bei gänzlichem Wegfall der gemeinsamen Gegner drängt die aufgehäufte Kraft die Einzelnen gegeneinander, und zwar in solchem Maße, daß nach einer kurzen Blütezeit des Individualismus „ein ungeheures Zugrundegehen und Sich-zu-Grunde-Richten" einsetzt, das nur die Mittelmäßigen übrig läßt118. Nur gegen die auf die eine oder andere Weise geschwächten Starken konnte sich der zunächst unterdrückte Gegenwille der Schwächeren durchsetzen. Bisher waren die Starken „werthescbaffend" gewesen. In ihren Werten hatten sie alles verherrlicht, was sie an sich selbst kannten118. Vor allem aber drückte sich in ihnen, wie Nietzsche gern sagt, ein „Pathos der Distanz" aus: sie dienten dem „Nieder- und Fernhalten" der Unterlegenen"0. Diese mußten sich selber verachten, legten sie ihrer eigenen Wertschätzung den Maßstab der Starken zugrunde. Erstrebten sie aber nun die Herrschaft über die ursprünglich Starken, so bedurften sie der Gegenwerte. In diesen mußte der Haß gegen die Starken deren Verachtung der Schwachen entgegentreten. „DerSclavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert"."1 116

117 118 118 120

121

JGB, V I I 246 f. — Deshalb prophezeit Nietzsche den schließlichen Zerfall des Monstrestaates, dessen Entstehung er in der Zukunft annimmt. Dieser werde den Großstaat verschlingen, der zuvor den Kleinstaat verschlungen haben werde. Der Monstrestaat müsse auseinanderplatzen, „weil ihm endlich der Gurt fehlt, der seinen Leib umspannte : die Feindseligkeit der Nachbarn. Die Zersplitterung in atomistisdie Staatsgebilde ist die fernste nodi scheinbare Perspektive der europäischen Politik." (Nachlaß, X I 139) WzM, X V I 28 j . J G B , V I I 247. J G B , V I I 240 f. J G B , V I I 235. — Werte sind für Nietzsche „Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrediterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde" (WzM, X V i j 1). GM, V I I 317. 55

Wie aber konnte es geschehen, daß die Ressentiment-Werte siegten? Nietzsche fragt immer wieder danach. „Warum unterlag das Leben, die physiologische Wohlgerathenheit überall?"122, „wie kamen Die zur Macht, die die Letzten sind?"123 Und weiter: wie konnten die Schwachen die einmal errungene Herrschaft im Laufe der Geschichte aufrecht erhalten (bzw. wiedergewinnen) trotz aller (zeitweise erfolgreichen) Gegenbewegungen der Starken? Sind doch nodi „wir modernen Menschen... die Erben d e r . . . Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden", wie sie in den Werten der Schwachen gefordert wird124. Nietzsches erste Antwort lautet: die Schwachen triumphierten durch ihre Zahl. Sie hatten „die grosse Fruchtbarkeit, die Dauer" auf ihrer Seite, während wir bei den Starken „die rasche Verwüstung, die schnelle ZahlVerminderung"125 aus den oben schon dargestellten Gründen finden. Die Schwachen waren die „numerisch" Stärkeren12'. Nun ist aber Uberzahl nicht ohne weiteres Macht. Die Ressentiment-Werte sind nicht schon deshalb die herrschenden Werte geworden, weil sie von vielen vertreten wurden. Um sie gegen die Werte der Starken durchzusetzen, ja: um sie allererst zu erfinden, war die Aktivierung eines Mediums nötig, über das die zunächst Herrschenden in nur geringem Maße verfügten, weil sie seiner nicht bedurften: der Klugheit. Für die Schwachen aber war diese von jeher „eine Existenzbedingung ersten Ranges" gewesen. Gegenüber dem Vorrang der „unbewussten Instinkte" oder der draufgängerischen Unklugheit bei den Starken haben die Menschen des Ressentiments ihre Geistigkeit ins Spiel gebracht.127 Sie haben — und das ist Nietzsdies zweite Antwort — nicht nur „durch die Menge", sondern auch „durch die Klugheit, durch die List" das „Ubergewicht" erlangt und bewahrt128. Klugheit und List setzen eine Kenntnis der inneren Antriebe des zu Überlistenden voraus. Diese wird auf dem Wege über die Se/foierkenntnis gewonnen. Die kluge Anwendung des Gewonnenen auf die Starken ermöglichte es den Schwachen, die Instinkte jener umzuleiten. Der Siegeszug der Ressentiment-Werte hat die Geschichte Europas bestimmt. Er beginnt in der Geschichte des jüdischen Volkes. Israel hat „mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen 122 123 124 126 128 127 128

56

WzM, XV 431 f. WzM, XV 181. GM, VII 394. WzM, XVI i j i . WzM, XV 433. GM, VII 319. WzM, XVI ijo; vgl. GD, VIII 127 f.

Ideale, über alle vornehmeren Ideale immer wieder triumphiert" 129 . D i e Juden haben „gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt": „,Die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, — dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein!'" 130 Das Christentum baut diese „Lüge" des Judentums nur aus: „es ist dessen Folgerichtigkeit selbst" 131 . In ihm, „als der Kunst heilig zu lügen, kommt das ganze Judenthum, eine mehrhundertjährige jüdische allerernsthafteste Vorübung und Technik zur letzten Meisterschaft. D e r Christ, diese ultima ratio der Lüge, ist der Jude noch einmal — drei Mal selbst . . ." 132 Erst durch das Christentum wird der Triumph der Schwachen über die Starken zum geschichtlichen Verhängnis. Es konnte zur Macht nur gelangen, weil die römischen Herrscher entartet waren 133 . Seitdem hat es seine Herrschaft immer weiter gefestigt; an ihm liegt es, daß „die Geschichte Europa's seit der römischen Kaiserzeit . . . ein Sclavenaufstand" ist184. Stellt für Nietzsche das Christentum auch nur die Fortsetzung des Judentums dar, so betont er doch andererseits auch den Unterschied zwischen beiden. D i e Juden, „ein V o l k der zähesten Lebenskraft", waren noch nicht willensschwach wie die Christen. Sie bedienten sich der „décadence-Instinkte" nur, um sich unter schwierigsten Bedingungen zu erhalten. Sie waren nicht von diesen Instinkten beherrscht, sie beherrschten sie vielmehr als ein Mittel, sich gegen die Welt durchzusetzen 135 . Freilich hatten sie schon alle ursprünglich starken Instinkte überlebt, ihre Zähigkeit w a r „greisenhaft" geworden 13 ". Schon diese ersten Hinweise auf die jüdisch-christliche Umwertungsgeschichte können dazu dienen, das Schema von Nietzsches Geschichtsbetrachtung herauszuheben. In aller bisherigen, vom Zufall vorangetriebe»» GM, VII 315. 130 GM, VII 313. 181 AC, VIII242. 133 AC, V i l i 274. 139 WzM, XVI292. 134 Nachlaß, XIII 327. 135 AC, VIII 244. 139 WzM, XV 258. 57

nen Geschichte lassen sidi zwei Phasen untersdieiden. Anfänglich, in der ersten Phase, herrschen die Starken und Gesunden, in der zweiten die Schwachen und Kranken. Deren Supremat soll in der Zukunft aufgehoben werden. Dazu bedarf es einer erneuten Umwertung der leitenden Werte. Mit ihr sollen die Starken wieder an die Macht kommen. Diese, durch noch zu erörternde Maßnahmen befestigt137, soll dem blind wirkenden Zufall entzogen bleiben. Nietzsches genealogische Methode sucht nun immer wieder die drei Phasen nach- bzw. vorzuzeichnen, in die die Geschichte aufgegliedert werden muß, wenn sie unter dem Aspekt des zweimaligen Umschlages der grundlegenden Werte in ihre Gegensätze betrachtet wird. 138 Die Geschichte der Wertschätzungen ist eine Geschichte der sich befehdenden Moralen der Starken und Schwachen. Zumeist gebraucht Nietzsche allerdings den Begriff Moral nur zur Kennzeichnung der RessentimentWertsetzung. So unterscheidet er „die vormoralische Periode der Menschheit", die „die längste Zeit der menschlichen Gesdiidite", „die prähistorische Zeit", umfaßt, von der moralischen Periode, die „in den letzten zehn Jahrtausenden . . . auf einigen grossen Flächen der Erde" allmählich die erste abgelöst hat. In ihr vollzieht sich „der erste Versuch zur Selbst-Er-

137 138

58

S. im folgenden S. 121 f., 156 f. Von der oben dargestellten Dreiteilung der Gesdiidite spridit audi Κ. Reinhardt in Nietzsche und die Geschichte (Vermächtnis der Antike. Gesammelte Essays zur Philosophie und Geschichtsschreibung. Hrsg. v. C. Becker, 1960, 298). Es heißt da: „Aus der einfadien Bejahung und Verneinung, die aus seinen (sc. Nietzsdies) Jugendschriften, aus seinen ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' redet, aus der Bejahung der großen Vergangenheiten, vor allem der Griechen, und aus der Verneinung seiner eigenen ,Zeit', entsteht, je mehr er zum Vernichter und zum Schöpfer neuer Werte sich berufen fühlt, ein dreigeteiltes Schema; die Teile dieses Schemas sind 1. die prähistorische Zeit, 2. die historische Zeit, 3. die Gegenwart, und zwar die Gegenwart entweder als das Ende des Bisherigen, oder als der Anfang einer andersgearteten Zukunft (denn beides ist im Grunde dasselbe). Das Schema ist also zuletzt ganz einfach: vormals — dann — jetzt." Allerdings hat Reinhardt die drei Phasen damit zu guter Letzt auf eine Weise formalisiert, daß mit der vorwärtslaufenden Zeit der auf ihr basierende Fortsdirittsgedanke herausspringt, gegen den sich die spätere Geschiditsphilosophie Nietzsdies gerade wendet (s. S. $1). Die Nivellierung auf jenes Schema wird dessen Problembewußtsein in keiner Weise geredit, wie oben nodi deutlich zu machen sein wird. Daß für Nietzsdie die zu planende Zukunft der Mäditigen zugleich (in freilich nicht eindeutig bestimmter Weise) Rückkehr zu Früherem bei Bewahrung des im Zuge der ersten Umwertung Gewonnenen auf neuer und höherer Ebene sein soll, gemahnt eher an Hegels Denkweise. Man darf sidi aber audi nicht dazu verführen lassen, bei Nietzsche „nur schlechte Hegelsdie Geschichtskonstruktion" finden zu wollen, „deren Resultate vor der Untersuchung festliegen", wie dies bei A. Riehl geschieht (Fr. Nietzsche. Der Künstler und der Denker, 1923 e , 114). Von seinem eigenen Fragen her ist Nietzsdie vielmehr genötigt, die Zukunft der Mensdiheit auf eine ihm eigentümlidie Weise zu bedenken.

kenntniss" des Menschen. W i r Heutigen stehen „an der Schwelle" einer neuen Periode, „welche, negativ, zunächst als die aussermoralische zu bezeichnen wäre". 1 3 9 Eine erneute „Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen" soll ihn „nochmals" zur „Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe" veranlassen 140 . Moralische Selbsterkenntnis ist aber nicht etwa bloße Kontemplation. In ihr richtet sich der Mensch nicht nur auf sich selbst, er richtet sich gegen sich selbst. Dies sucht Nietzsches Genealogie des Gewissens deutlich zu machen. A l s die „der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepassten Halbthiere" der ersten Periode der Menschheitsgeschichte schließlich „endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens" eingeschlossen waren, verloren ihre Instinkte ihr natürliches Betätigungsfeld. Sie konnten nicht mehr, wie zuvor, in ungehemmter und gesunder K r a f t nach außen dringen. D e r Druck einer Gesellschaft v o n schon Geschwächten lenkte die Antriebe der anfänglich Starken um. D i e unterdrückte Lust an Verfolgung und Zerstörung wandte sich nach innen, gegen die Träger dieser Instinkte. Solcher krankhaften „Verinnerlichttng des Menschen" entsprang das „schlechte Gewissen" 1 4 1 . Auch Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung und Selbstopferung — nach Nietzsche widersprüchliche Begriffe, weil das Selbst in solchen Verhaltensweisen gar nicht abgelegt w i r d — sind nichts als Ausdrudssweisen der grausamen Vergewaltigung des Selbst durch das Selbst, die sich im schlechten Gewissen manifestieren. Erst der ganz selbstische „Wille zur Selbstmisshandlung giebt die Voraussetzung ab für den Werth des Unegoistischen." 142 Z w a r wurde mit der Ausbildung des schlechten Gewissens „die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, v o n welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist". D a s darf aber nicht übersehen lassen, d a ß sich mit dieser Erscheinung, w i e überhaupt mit der moralischen Periode, etwas begibt, „dessen Ende durchaus noch nicht abzusehn ist". Im Rätselhaften und Widerspruchsvollen des moralischen Menschen verbirgt sich etwas »2ukunftvolles". Es ist, „als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas v o r bereite, als ob der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei . . ." 14S Ja, Nietzsche äußert Im Begriff des Außermoraliscben negiert Nietzsche nur die herrschende „Heerdent h i e r - M o r a l . . . , neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten." (JGB, V I I 13$) "« JGB, V I I 51 ff. 141 GM, V I I 378 f. 142 GM, V I I 384 f. 143 GM, V I I 380 f. 139

59

im Zusammenhang einer Genealogie des Götterglaubens die Annahme, „dass wir nachgerade in die umgekehrte Bewegung eingetreten sind". Dem „Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott", in dem sich „das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht" hat, korrespondiere ein erheblicher „Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins". „Eine A r t zweiter Unschuld" zeichne sich in der Zukunft ab. „Der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus" wird, so kündet Nietzsche, sie heraufführen.144 Die zweite Unschuld soll aber nicht in einer bloßen Wiederheraufführungder ersten bestehen. Die Geschichte ist irreversibel. „Eine Rückbildung, eine Umkehr in irgendwelchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich."145 Auch die moralische Periode kann nicht einfach rückgängig gemacht werden. Das Neue muß, trotz aller Gegensätzlichkeit zu ihr, aus ihr heraus wachsen. Andererseits läßt Nietzsche diese Geschichtlichkeit des starken Menschen der Zukunft oft unbeachtet. Dann erhält dessen Bild die Züge des Menschen im vormoralischen Zeitalter. Nicht selten hat man den Eindruck, daß Nietzsche eine Rückkehr der Vorzeit, die ohnehin in uns nicht gänzlich ausgelöscht sei, nicht nur für möglich hält14", sondern auch für wünschenswert147. Doch häufiger erscheint der künftige Mensch als derjenige, der nicht das Vergangene der moralischen Epoche nur durchzustreichen sucht, der es vielmehr in sich aufnimmt, um es in ein Neues zu verwandeln. Nietzsches Genealogie der Objektivität kann einen ersten Eindruck von dieser Möglichkeit vermitteln. Wie aus den Bedürfnissen der Erhaltung und Steigerung des Lebens anfänglich das Fingieren von,Dingen', von .Objekten' entstehen konnte, ist im Ersten Kapitel beschrieben worden. Der diese Fiktionen konstituierende Wille ist später von den Willensschwächen gewissermaßen subtrahiert worden, wodurch die Objekt-,Erkenntnisse* den Rang von selbständigen Wahrheiten erhielten. Schließlich wurde ein „,reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss' angesetzt", dem diese Wahrheiten zugänglich seien: in Wirklich144 145 149 147

60

G M , V I I 388. GD, VIII15$. GM, V I I 361. wir haben 2. B. mit aller Anspannung von drei Jahrhunderten noch nidit den Menschen der Renaissance wieder erreidit, und hinwiederum blieb der Mensdi der Renaissance hinter dem antiken Menschen zurück." (WzM, X V I 297) Die Tendenz der Forderung solchen Rückganges zielt, wie sich aus dem Kontext ergibt, auf das Antimoralische bzw. Vormoralische ab.

keit eine neue Fiktion, um sich die ursprünglichere zu verschleiern148. So gelangte man zu einer Objektivität, die sich „solcher contradiktorischer Begriffe wie,reine Vernunft', .absolute Geistigkeit', ,Erkenntniss an sich'" bediente"9. Doch die Vielfalt gerade der vermeintlich objektiven Deutungen — insbesondere in der Historie, die Nietzsche mit Vorliebe als Modell für seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen heranzog — ließ die grundlegenden aktiven und interpretierenden Kräfte, die nur scheinbar unterbunden waren, sichtbar werden. „Derselbe Text erlaubt unzählige Auslegungen: es giebt keine .richtige* Auslegung."160 Hinter dem vielfältigen Gegeneinander der Interpretationen tritt die erstrebte Objektivität als „Willens-Disgregation" hervor151. Nietzsche fordert hier nun aber nicht, daß diese zugunsten der naiven, reflexionslosen Praxis des vormoralischen Zeitalters rückgängig gemacht werde. Die unnatürliche Objektivität des zweiten Menschen stellt nämlich „keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen,Objektivität"1 dar. Bleibt die erstere auch an die Kräfte gebunden, denen sie sich zu entziehen sucht, so hat sie doch einen Abstand zwischen ihnen und ihren Gegenständen hergestellt. Diese Distanznahme kann fruchtbar gemacht werden. Die künftige .Objektivität' im Sinne Nietzsches soll der bisherigen als das Vermögen des Menschen entwachsen, „sein Für und Wider in der Gewalt zu haben und ausund einzuhängen". Im Gegensatz zum früheren Anspruch auf Objektivität soll eingesehen werden, daß es „nur ein perspektivisches ,Erkennen'" gibt. Es gilt gerade, „die Verschiedenheit der Perspektiven und Affekt-Interpretationen" zu nutzen. „Je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ,Begriff' dieser Sache, unsre ,Objektivität' sein."152 Die Vollständigkeit wird freilich, nach 148

GM, V I I 429. — Eine weitergehende Analyse hätte zu zeigen, inwiefern in Konsequenz der Gedanken Nietzsches „das Objektive nur ein falscher Artbegriff und Gegensatz wäre innerhalb des Subjektiven." (WzM, X V I 61) 149 GM, V I I 429. 15 ° Nadilaß, X I I I 69. 151 WzM, X V 473. 152 GM, V I I 428 f. — Vgl. Nadilaß, X I I 13 f.: „Aufgabe: die Dinge sehen, wie sie sind! Mittel: aus hundert Augen auf sie sehen können, aus vielen Personen! Es war ein falscher Weg, das Unpersönliche zu betonen und das Sehen aus dem Auge des Nächsten als moralisch zu bezeidinen. Viele Nächste und aus vielen Augen und aus lauter persönlichen Augen sehen — ist das Rechte. Das,Unpersönliche* ist nur das %esd}wädit Persönliche, Matte." Nietzsche fügt allerdings hinzu, daß solches Unpersönliche „hier und da auch schon nützlich sein" könne, und zwar dort, „wo es eben gilt, die Trübung der Leidenschaft aus dem Auge zu entfernen." Da sich, wie oben dargestellt, die zweite und längste Phase der Objektivität durch die Sdiwächung der Subjektivität aus61

Nietzsches Voraussetzungen, immer nur eine relative sein können. Auch führt eine solche Summierung von Perspektiven nicht zu einer perspektivefreien Erkenntnis. Und schließlich kann die Aufnahme der mannigfachen Gesichtspunkte in ein Bewußtsein nicht den Widerstreit beseitigen, in dem diese sich befinden. In der Forderung nach einer neuen,Objektivität* wird den Ansprüchen der perspektivischen Vielfalt ein unbeschränkter Spielraum eröffnet, den Nietzsche ihnen in der Zweiten Unzeitgemäßen, im Blick auf die Historie, noch verweigerte. Nach seiner Uberzeugung verfällt er selbst aber damit nicht dem Zeitgeist, den er so heftig bekämpft. Indem er dessen Tendenzen radikalisiert, glaubt er ihn überwinden zu können153. In welchem Maße er in Gegensatz zu seinen Ausführungen in der frühen Schrift gerät, kann der Vergleich der oben herangezogenen,Stoiker-Apologie' 154 mit einer späteren Niederschrift deutlich machen. In dieser heißt es: „Wenn sich Einer tausend Male widerspricht und viele Wege geht und viele Masken trägt und in sich selber kein Ende, keine letzte Horizontlinie findet: ist es wahrscheinlich, dass ein Solcher weniger von der ,Wahrheit' erfährt als ein tugendhafter Stoiker, welcher sich ein für alle Mal wie eine Säule und mit der harten Haut einer Säule an seine Stelle gestellt hat? Aber dergleichen Vorurtheile sitzen an der Schwelle zu allen bisherigen Philosophien". 155 Andererseits aber hatte Nietzsche den Keim für die spätere Auffassung schon in der Zweiten Unzeitgemäßen gelegt, insofern er es nur als eine Frage der plastischen Kr aß eines Menschen bezeichnet hatte, was alles sie sich einzuverleiben vermöchte: „Dächte man sich die mächtigste und ungeheuerste Natur, so wäre sie daran zu erkennen, dass es für sie gar keine Grenze des historischen Sinnes geben würde, an der er überwuchernd und schädlich zu wirken vermöchte^ alles Vergangne, eignes und fremdestes, würde sie an sich heran-, in sich hineinziehen und gleichsam zu Blut umschaffen."156 Nietzsche fügt freilich hinzu: was diese Natur nicht bezwinge, wisse sie zu

153

154 155 168

62

zeichnet, muß es für Nietzsche eine Bestätigung seiner Objektivitäts-Genealogie darstellen, daß bisher »die Zweige der Erkenntniss, wo schwache Persönlichkeiten nützlich sind, am besten angebaut" worden sind. Er nennt als Beispiel die Mathematik. Es ist K. Schlechta zuzustimmen, der schreibt: „Nietzsche hat im großen und ganzen — bis zum Jahre 1 8 7 J etwa — die ,Historie", vorzüglich die extreme Historie, den ,Historismus', verneint, weil er Ausdruck eines nihilistischen Triebes ist; er hat ihn etwa seit 1 8 7 6 bejaht, weil er zum Nihilismus führt, zu jenem Endzustand, der Nietzsche immer deutlicher zur unabdingbaren Voraussetzung seines neuen Anfangs geworden war." (Nietzsches Verhältnis zur Historie, aaO, 6 0 , vgl. $ 4 ) S. oben S. 4 7 . Nadilaß, X I I I 3 4 f., vgl. X I V 1 0 2 . HL, I 2 8 7 .

vergessen157. Dodi wird die Möglichkeit, das vielfältige Gegeneinander des Uberlieferten in einem positiven Sinne in sich zum Austrag zu bringen, hierin sdion grundsätzlich zugestanden158. Und damit natürlich auch die Möglichkeit, die Vielfalt der auf ein und denselben Gegenstand gerichteten Perspektiven, die ja selber in ihrer Geschichtlichkeit begriffen werden müssen, zu vereinen. Der Gedanke, daß nur die mächtigste Natur dies vermöge, hält sich bis ins Spätwerk Nietzsches durch. Was in der frühen Schrift als Fiktion erschien, wird für Nietzsche zum Ideal, um dessen Realisierbarkeit er ringt. Es bedarf „der Erzeugung des synthetischen, des summirenden, des rechtfertigenden Menschen."15' Es gibt ihn noch nicht: „Der grosse synthetische Mensch fehlt".160 Jedoch „bei einer gewissen Erhöhung des Typus Mensch kann eine neue Kraft sich offenbaren, von der wir bisher Nichts wussten (—: nämlich eine Synthesis von Gegensätzen!)"151. Der „Europäer der Zukunft", den die bedeutenden Menschen des neunzehnten Jahrhunderts „in der geheimnisvollen Arbeit ihrer Seele . . . vorzubereiten und versuchsweise . . . vorwegzunehmen" trachteten"2, soll alles bisher Erkannte in den Dienst seiner Leidenschaft stellen1'3. „Die Welt wird für Den immer voller, welcher in die Höhe der Menschlichkeit hinauf wächst; es werden immer mehr Angelhaken des Interesses nach ihm ausgeworfen; die Menge seiner Reize ist beständig im Wachsen"."4 Solche Reizüberflutung macht zwar die Krankheit des modernen Menschen aus. Mag der starke Mensch aber auch „alle krankhaften Züge des Jahrhunderts haben", so kann er sie doch „ausgleichen in einer überreichen plastischen wiederherstellenden Kraft."" 5 Er, der „umgekehrt werthschätzen" soll, als dies zuvor geschah, muß „alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug" sein, H L , 1287. Zwei Beispiele für Nietzsdies Gedanken der Vereinigung von Gegensätzen in einem Mensdien seien schon hier angeführt (diese Problematik wird im Sechsten Kapitel dieser Untersuchung erörtert werden): „Ehemals waren Gegensätze der Geistliche und der esprit fort: eine A r t Neugeburt beider in Einer Person jetzt möglich." (Nadilaß 1876, K A W , IV/2 391, vgl. 400) — „Ich imaginire zukünftige Denker, in denen sich die europäisch-amerikanische Rastlosigkeit mit der hundertfach vererbten asiatischen Beschaulichkeit verbindet: eine solche Combination bringt das Welträthsel zur Lösung." (Nachlaß 1876, K A W , IV/2 402) 1S» WzM, X V I 287. 1 M WzM, X V I 297. 161 Nachlaß, X I V 44 f. 162 JGB, V I I 229. 163 Nachlaß, X I 246. iei FW, V 230. 186 WzM, X V I 366.

157

158

63

„sie in lauter Gesundheit umzuwandeln"16®. Nur für die Schwachen gilt nun nodi, was Nietzsche zur Zeit der Entstehung der „Morgenröthe" notierte: „Entwickele alle deine Kräfte — aber das heisst: entwickele die Anarchie! Gehe zu Grunde!" 167 Soll der starke Mensch der Zufälligkeit des bisherigen Geschehens ein Ende bereiten können, so bedarf er nicht nur eines gesunden Lebenswillens. E r muß auch über die Klugheit verfügen, die die Schwachen emporgezüchtet haben. Die menschliche Geschichte bliebe „eine gar zu dumme Sadhe ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist" 188 . „Denken wir nicht gering von Dem, was ein paar Jahrtausende Moral unserm Geiste angezüchtet haben!", ruft Nietzsdie aus169. Die moralische Epoche der Menschheit gerät so in eine Doppeldeutigkeit: einmal erscheint sie als Zeit des Verfalls 17 ", zum anderen aber als Zeit der Vorbereitung zu einem reicheren Menschentum, das ohne sie nicht möglich wäre. Ist, um ein Beispiel dafür zu nennen, das schlechte Gewissen die Krankheit der Lebensmüdigkeit, die zur Selbstvernichtung treibt, oder handelt es sich bei ihm um Krankheit nur in dem Sinne, „wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist" 171 ? Kann es beides sein, wie Nietzsches Ausführungen uns nahelegen wollen? Ist sein Gedanke der Entwicklung von Gegensätzen aus einander hier noch tragfähig? Kann der Vorgang der Auflösung die ihm entgegengesetzte Tendenz zur Einheit aus sich hervortreiben? Solchen Fragen wird in den folgenden Kapiteln, die den Begriff des Nihilismus in die Untersuchung einbeziehen, nachgegangen werden. Die Sache des Nihilismus stand schon in den Ausführungen dieses Kapitels im Thema. Ist doch für den späten Nietzsche die Geschichte des Nihilismus nichts anderes als die Krankheitsgeschichte des moralischen Menschen. Die Verfallstendenzen der historischen Wissenschaft172 werden dann als Erscheinungen der Spätphase des Nihilismus gedeutet173. In den bisherigen Hinweisen auf den starken 1M 167 1,8

1M 170

171 172 178

64

Anhang zu W z M , X V I 4 1 7 . Nachlaß, X I 2 7 7 . G M , V I I 3 1 2 . — In der Zeit der Entstehung der ,Morgenröte' notiert Nietzsche: „Sicherlich wäre die Welt unendlich weiter, wenn der menschliche Intellect an Stelle des Zufalls hätte schalten und walten dürfen, auch hätte er Milliarden yon Jahren gespart." (Nadilaß, X I 1 7 5 ) W z M , X V 340. Zur Genealogie der Moral gehört am Ende ihre Auflösung. Diese aber führt, wie Nietzsdie in der ersten Hälfte der achtziger Jahre notiert, „in der practischen Consequenz zum atomistisdien Individuum und dann noch zur Zertheilung des Individuums in Mehrheiten." (Nachlaß, X I I 3 j 8 ) G M , V I I 38 j . S. oben S. jo, bes. Anm. 89. G M , V I I 476. — Vgl. audi W z M , X V 1 4 2 f. und 194 f.

Menschen der Zukunft zeichnete sich sogar schon der Versuch einer Überwindung des Nihilismus ab. Bevor die von Nietzsche in diesem Zusammenhang erhobene Forderung einer wahrhaften Synthese der vielfältigen Gegensätze erörtert werden kann, wie sie in seiner Lehre vom Übermenschen sich darstellt, muß die nihilistische Auflösungsbewegung in ihrer vollen Bedeutung dargestellt werden.

65

„Lieber will nodi der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen..." (GM, VII 484)

DRITTES KAPITEL

Nihilismus als Wille zum Nichts Auf den Begriff Nihilismus, den er in den achtziger Jahren aufnahm, war Nietzsche zweifellos bei einer Reihe von zeitgenössischen Schriftstellern gestoßen. Infolge seiner Verwendung durch die russischen Anarchisten hatte er eine weitgehende Popularität auch im deutschen Sprachraum erhalten1. Das Bild, das Nietzsche sich von ihnen machte, ist weitgehend durch die Lektüre der Romane Dostoevskijs bestimmt worden2; er hat aber z. B. auch Veröffentlichungen von I. Turgenev und A. Herzen gelesen (und 1

Auf die Geschichte dieses Begriffes ist hier nidit ausführlich einzugehen. Einige Hinweise sollen jedoch gegeben werden. Diese Geschichte weist in Frankreich bis zur Französischen Revolution zurück, wo das Wort .nihiliste' zur Kennzeichnung der Haltung politischer oder religiöser Indifferenz verwendet wird. Der philosophische Gebrauch des Wortes findet sich zuerst bei F. H. Jacobi, der in seinem Sendschreiben an Fichte (1799) dessen Idealismus einen Nihilismus schilt. Von da an spielt der Begriff in verschiedenen philosophischen und politischen Auseinandersetzungen eine Rolle. Seine Anwendung auf die Bewegung des französischen Sozialismus im neunzehnten Jahrhundert sowie auf die Linkshegelianer (die die .Erben' des Nihilismusvorwurfes sind, der gegenüber den idealistischen Philosophien Fiâtes, Schellings und Hegels erhoben worden war) bestimmt den Gebrauch des Wortes innerhalb der sozialen und politischen Kämpfe in Rußland. Von dort wirkt es in den mitteleuropäischen Sprachraum zurück: die vorgängige Begriffsgeschidite in solchem Maße verdeckend, daß I. Turgenev in seinen Litteratur- und Lebenserinnerungen (deutsche Ausgabe von 1892, 105) meinen konnte, er habe das Wort erfunden, welcher Irrtum ihm bis in unsere Zeit nachgesprochen worden ist (z. B. von G. Benn: Nach dem Nihilismus, 1932, GW I 19J9, 156 f., und von A. Stender-Petersen: Geschichte der russischen Literatur, II, 19J7, 2 j i ) . Turgenev ist aber nicht einmal der erste gewesen, der das Wort in Rußland verwendet hat; nicht wenige Autoren haben es dort schon vor ihm gebraucht.

2

Die geistige Verwandtschaft zwischen Nietzsche und Dostoevskij ist seit der Jahrhundertwende insbesondere in Frankreich häufig herausgestellt worden, ausgelöst vor allem durch die Obersetzung von D, S. Mereskovskijs Buch über Tolstoj und Dostoevskij (1903). A. Suarès, A. Gide und L.Sestov haben sich dieses Themas angenommen. Hierfür sei auf H. F. Minssen: Die französische Kritik und Dostojewski, Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen, Bd. 13, 1933, verwiesen. — E. Benz hat die Einwirkung Dostoevskijs auf Nietzsche in Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, 1938, 83—93 unter Berücksichtigung der Arbeiten von Minssen

66

z w a r spätestens 1 8 7 7 in Sorrent 8 ) und vielleicht P. Kropotkin N a c h Ch. Andlet6

exzerpiert 4 .

ist Nietzsches Gebrauch des Wortes Nihilismus die Frucht

seiner Lektüre von P. Bourgets Essais de psychologie

contemporaineHierzu

ist zu bemerken, daß Bourget von Nihilismus v o r allem im Blick auf die russischen Anarchisten spricht. Allerdings bringt er diesen Nihilismus in engen Zusammenhang mit anderen, teilweise recht verschiedenartigen Erscheinungen seiner Zeit, die alle auf ein Grundübel verweisen: den Abscheu v o r der Welt. In seinem Baudelaire-Essay sucht Bourget

die Herkunft dieses

Gefühls aufzudecken. E r stößt dabei auf das MißVerhältnis zwischen den Bedürfnissen

der Moderne, die sich im Z u g e der Entwicklung der Z i v i l i -

sation einstellten, und den Unzulänglichkeiten

der vorfindlichen Wirklich-

keit. I m neunzehnten Jahrhundert gelange der aus dieser Diskrepanz erwachsende Weltekel zum universalen Durchbruch. Z w a r seien seine E r -

3

4 5 6

und Ch. Andler erörtert. Eine erweiterte und teilweise umgearbeitete Fassung seines Budies hat Benz unter dem Titel Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche im Jahre 1956 vorgelegt. Er bezieht sich hierbei audi auf Arbeiten von Sestov und Tschizevskij über das Problem Nietzsche — Dostoevskij (aaO, 92). Dieses Problem wird in beiden Fassungen der Arbeit von Benz so wenig zureichend behandelt wie bei den von ihm genannten Autoren. Das Ausmaß der Einwirkung Dostoevskijs auf Nietzsche mußte freilich auch unbekannt bleiben, solange man nur unvollständig über Nietzsches Dostoevskij-Lektüre unterrichtet war. Erst neuerdings haben G. Colli und M. Montinari im Band VIII/2 der K A W (383—39$) die Exzerpte veröffentlicht, die Nietzsche aus der französischen Übersetzung von Dostoevskijs Roman Die Dämonen ((Les Possédés>) gezogen hat. Nur bei Berücksichtigung von Nietzsches Kenntnis der Dämonen wird man seinem Verständnis Dostoevskijs und darüber hinaus des russischen Nihilismus gerecht werden können. Vgl. M. Montinari, Das Leben Friedrich Nietzsches in den Jahren i8yj—/S79. Chronik, in: KAW, IV/4 27. — Ich verdanke M. Montinari darüber hinaus wichtige Hinweise auf mir unzugängliche Quellen über Nietzsches Lektüre der beiden russischen Autoren. Ihnen ist leider nidit zu entnehmen, ob Nietzsche Turgenevs Romane Väter und Söhne (1862) und Neuland (1876) gelesen hat, in denen dieser den Begriff Nihilismus verwendet. Idi halte es jedoch für in hohem Maße wahrscheinlich. Dies meint F. Würzbach in Bd. X I X der Musarion-Ausgabe, 432. Vgl. jedoch O. Weiß in GA, X V I 51$ f. Nietzsche, sa vie et sa pensée, 6 Bde., 1920 ff., III 418, 424. Der erste Band erschien 1883, der zweite 1885. — H. Platz, Nietzsche und Bourget, in: Neuphilologische Monatsschrift, 1937, 177—186, vermißt eine Bestätigung für Ch. Andlers Annahme, daß Nietzsche nicht nur den zweiten, sondern auch den ersten Band von Bourgets Essais gelesen habe (181). Doch besteht daran kein Zweifel. Neben anderen Autoren hat Bertram (Nietzsche, aaO, 231) darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsches (hier auf S. 70 herangezogene) Schilderung der literarischen décadence „eine Paraphrase von Sätzen" aus Bourgets erstem Band darstellt. Der Beweis für Nietzsches Lektüre dieses Bandes findet sich in einem bisher noch unveröffentlichten Fragment in Mp X V I I (Sommer 1887), dessen Mitteilung idi M. Montinari verdanke: „Stil des Verfalls bei Wagner: die einzelne Wendung wird souverän, die Unterordnung und Einordnung wird zufällig. Bourget, p. 25)." 67

scheinungsweisen verschieden. Bei den Slawen äußere er sich als Nihilismus, bei den Germanen als Pessimismus, bei den Romanen in einer ungewöhnlichen nervösen Reizbarkeit7. In alledem jedoch findet Bourget den gleichen Werthe< Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näherkommt?'" Für sie muß „die Dauer, mit einem .Umsonst', ohne Ziel und Z w e c k , . . . der lähmendste Gedanke" sein, „namentlich nodi, wenn man begreift, dass man gefoppt wird und dodi ohne Macht ist, sich nicht foppen zu lassen". Wird solche Dauer gar unter dem Aspekt der ewigen Wiederkehr gedadit, „ohne ein Finale in's Nichts", welches doch ein Ende dieses Spuks gewährte, so muß jenen dekadenten Edlen auch die letzte Hoffnung schwinden. Ihnen erscheint der Wiederkunftsgedanke „in seiner furchtbarsten Form". Nietzsche schreibt: „Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nidits (das ,Sinnlose') ewig!" 99 Nidit aus eigenem Welt- und Selbstverständnis gewinnen die differenzierten décadents, bei denen Nietzsche wohl zunächst vor allem die Repräsentanten des zeitgenössischen Pessimismus vor Augen hat, den Gedanken der Dauer als ewiger Wiederkehr in jener sie zu äußerster Verzweiflung treibenden Gestalt. Er muß ihnen von Stärkeren mit aller Eindringlichkeit vor Augen geführt werden. „Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen)" wird dann „den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut". Der aktive Nihilismus des „Alles auslösdien machen" wird um sidi greifen.94 Soldie Bewegungen heraufzuführen, ist die Aufgabe, die Nietzsche den 81

Nachlaß, X I I 6 3 . Nachlaß, X I V 264. • a WzM, X V 182. o* WzM, X V 186.

88

156

gewalttätigen Übermenschen zuspricht"5. In ihrer Hand wird die Wiederkunftslehre zur Waffe, zum Hammer. Sie nehmen sie als den züchtenden Gedanken in Anspruch. In der Konfrontation mit der Wiederkunftslehre wird offenbar, wer „für eine neue Ordnung des Lebens" zu schwach ist. Wer sie nicht erträgt, ist „verurtheilt". Wer sie hingegen „als grösste Wohlthat" empfindet, ist „zur Herrschaft ausersehen".'" Nietzsche stellt so diese Lehre in den Dienst „der Kraft", ja der „Barbarei". Als „auswählendes Princip" soll sie nicht nur die Lebenstüchtigen in ihrem Machtanspruch bestätigen, sondern zugleich die Schwächeren aussondern."7 Die Gewalttätigen, die die charakterisierte geschichtliche Aufgabe zugesprochen erhalten, unterscheiden sich nun aber wieder so wesentlich von den Weisen, daß es nach wie vor unfaßbar bleibt, wie die beiden Typen, die sich ins Ubermenschliche steigern und in soldier extremen Steigerung zusammenlaufen sollen, zusammengedacht werden können. Die Probleme, die sich im Sechsten Kapitel dieser Untersuchung abzeichneten, stellen sich erneut, ja, im Zusammenhang der Darstellung des Wiederkunftsgedankens in noch verschärfter Form. Wie soll derjenige, der auswählt und ausstößt, der züchtet und vernichtet, derselbe sein können wie derjenige, der alles, was ist, was war und was sein wird, unbedingt bejaht, ohne zu verurteilen? Wie kann der Ubermensch, der zu dem Gedanken getrieben wird, das Verschiedenartigste — einschließlich des seinem eigenen Ideal Entgegengesetzten — auf dieselbe Weise mit aller Intensität immer wieder zu wollen, diesen Gedanken als Waffe mit dem Ziel der Eliminierung des von seinem Ideal her Verwerfbaren gebrauchen? Die letztgenannte Verhaltensweise fällt nicht nur hinter die erste zurück, sie ist von dieser grundlegend verschieden. Jeder der beiden Typen des Ubermenschen muß mit seiner konsequenten Selbstverwirklichung zerstören, was das Eigentümliche des anderen ist. Ihre Unvereinbarkeit liegt nach wie vor auf der Hand. Die Bemühung, einen Ubergang zwischen den beiden Typen in Gestalt ihrer geschichtlichen Abfolge zu konstruieren, scheitert. Davon, daß der Weise aus dem Gewalttätigen hervorgehen könne, läßt sich nicht ohne die Annahme eines unbegreiflichen qualitativen Sprunges reden98. Außerdem bliebe dann der Gewalttätige als bloße Vorstufe des sich im Ja zu allem vollendenden Ubermenschen zurück, er selbst wäre nicht schon wahrhafter Ubermensch. « S.S. 138. »» WzM, XVI 393 f. 87 WzM, XVI 395. 88 S. S. 125. 157

Gegen die Behauptung der Unvereinbarkeit ließe sich nodi einwenden, in ihr werde das Esoterische des Wiederkunftsgedankens vom Exoterischen geschieden und gegen dieses ausgespielt. Es sei eines, den Prozeß extremster Intensivierung des Sichselbstwollens darzustellen, der die innere Entwicklung des Ubermenschen bestimmen müsse. Es sei ein anderes, von der Geschidite der Wirkungen zu reden, die der Wiederkunftsgedanke hervorrufen solle, wenn ihn der gleiche Ubermensch als Mittel zur Aussonderung gebrauche. Das Innere und das Äußere würden definitiv getrennt, wo es doch darum gehen müsse, sie als zwei Seiten des Einen, in sich Einheitlichen, anzusehen. Nun spricht zwar Nietzsche in einer Aufzeichnung zum „letzten Theil" des Zarathustra' von der großen „Synthesis des Schaffenden, Liebenden, Vernichtenden"". Aber in solcher Synthese das Moment der Liebe als das Esoterische und die Vernichtung als das Exoterische aufzufassen, verbietet sich, weil damit das uneingeschränkte Ja-sagen in eine ,praxislose Innerlichkeit' abgedrängt würde, welche Auffassung den Intentionen Nietzsches zweifellos gänzlich zuwider läuft. Zeigte sich doch, daß das genannte J a sagen gerade aus einem Selbstverständnis des Ubermenschen erwächst, der sich dem faktischen Gegeneinander der Willen zur Macht ausgesetzt weiß und der die Gegensätze der Wirklichkeit in einer Weise zum Austrag zu bringen imstande sein soll, die diese Wirklichkeit als einzige auf sich nimmt. Für eine Unterscheidung in ein ,Innen' und ein ,Außen', in Selbstbezogenheit und in Weltbezogenheit, bietet diese Philosophie keinen Raum. „ . . . wir lachen schon, wenn wir,Mensch und Welt' nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmassung des Wörtchens ,und'! al0 ° Es gilt von der Einheit auszugehen, die vor allen vordergründigen oder scheinbaren Trennungen in Innen ,und' Außen, in Subjekt ,und' Objekt, in Mensch ,und' Welt u. dgl. gegeben ist. Wir verwenden zu ihrer Kennzeichnung — mit einiger Freiheit im Gebrauche — Heideggers Begriff des In-der-Welt-seins. Dieser gestattet es, den Zusammenhang eines Wer mit dem Wie des Begegnenlassens von Seienden im Ganzen von Welt zu bezeichnen. ,Mehr' als der faktisch-,existenzielle' Zusammenhang ist nicht gemeint, wenn hier vom In-der-Welt-sein die Rede ist. Die existentialontologische Bedeutung des In-der-Welt-seins, wie sie von Heidegger in Sein und Zeit herausgearbeitet wird, liegt schon infolge von dessen ganz anders gearteter Methode gänzlich außerhalb von Nietzsches Betrachtungsweise, um die allein es uns geht. In der Ausgrenzung jeder Bemühung von m

Nachlaß, X I I 412.

100 FW> γ 158

2go-

,Fundamentalon tologie' läßt sich jedoch sagen: Das Ja zur ewigen Wiederkunft konstituiert das In-der-Welt-sein des Übermenschen. Er (das Wer) versteht sich der Vielfalt .seiender' Machtwillen in deren Gegeneinander zugehörig (das freilich noch modifikable Wie), die das Ganze der Welt ausmachen, deren ewige Wiederkunft er begehrt. Zunächst sehen wir uns noch immer dem Anspruch Nietzsches ausgesetzt, im .Schaffen' des Ubermenschen Liebe und Vernichtung zusammendenken zu sollen. Dabei muß dem bisher Ausgeführten zufolge auch das, was vernichtet wird, auf die intensivste Weise geliebt werden101. Deshalb ist noch einmal die Frage zu stellen, ob unter dem Aspekt der ewigen Wiederkunft des Gleichen die Verurteilung und Vernichtung der Schwachen sich mit deren uneingeschränkter Bejahung verbinden lassen kann. Zwar läßt uns Nietzsche hier im Stich. Aber wir können die Konsequenzen durchdenken, die sich aus seiner Lehre ableiten lassen. So ließe sich sagen: Der Vernichtende kann der Liebende bleiben, wenn er weiß, daß die Vernichtung nicht endgültig ist. „Ewig kehrt er wieder, der Mensch, des du müde bist, der kleine Mensch"102. Zarathustra soll den Ekel überwinden, der ihn mit dieser Einsicht überkommt. Für die Synthese von Vernichtung und Liebe, die der Übermensch (dessen Ankunft Zarathustra nur vorbereitet) darstellen soll, könnte der zu Vernichtende der immer wieder Kommende und in seinem Zurückkommen Begehrte sein. Bedarf doch der .große Mensch' des .kleinen Menschen' als seines Gegensatzes. Der Wille, daß der .kleine Mensch' zugrunde geht, wäre dann eins mit dem Willen, daß er wiederkommt. De facto kann jedoch ein solches Schaffen weder als Vernichten noch als Lieben bezeichnet werden. Was immer und immer wiederkehrt, wird nicht vernichtet. Das scheinbar Vernichtete wird nur für den weiteren Ablauf der jeweiligen Periode .aus dem Spiel' gebracht. Und was als das Entgegengesetzte bloß um der Entgegensetzung willen begehrt wird, wird nicht geliebt, d. h. auf das Intensivste bejaht, wie dies vom Übermenschen gefordert wird. Das Schaffen erscheint in solcher Betrachtung gleich dem Werfen eines Bumerangs. Fortgeworfen kehrt er wieder zum Ausgangspunkt zurück, um ein erneutes Fortwerfen zu ermöglichen. Die Sinnlosigkeit, die Nietzsche mit seiner Wiederkunftslehre zu überwinden trachtet, stellt sich erneut ein, wenn mit deren Hilfe versucht wird, den lieben101 Vgl. Za, V I 324. Dort redet Zarathustra zu seiner Seele: „ . . . ich lehrte didi das Verachten, das nidit wie ein Wurmfrass kommt, das grosse, das liebende Veraditen, welches am meisten liebt, wo es am meisten verachtet". 10! Za, V I 319. 159

den mit dem vernichtenden und verurteilenden Ubermenschen zu einer einzigen Gestalt verschmelzen zu lassen. Wir kommen also nicht darum herum, eine zwiespältige Wahrheit des In-der-Welt-seins des Übermenschen annehmen zu müssen. Oder vielmehr: jeder der beiden Typen des Übermenschen läßt sich durch ein anderes .äußerstes Um-willen' (Worumwillen) charakterisieren, wenn es in diesem auch beiden um Macht geht. Das je verschiedene ,Um-willen' bestimmt das Wie des Verständnisses alles anderen Seienden und audi des Selbstverständnisses des Übermenschen. Das letzte ,Um-willen' des Ubermenschen, der sich gewalttätig durchgesetzt hat, ist die Sicherung der eigenen Macht. Diese wird schließlich durch die Uberzeugung garantiert', daß die gewonnene Machtfülle ewig wiederkehren wird. Und zugleich dient ihm die Wiederkunftslehre als Waffe, mit der er den Herrschaftsanspruch Schwächerer bekämpft. Während er zu vernichten trachtet, was sich seinem eigenen Herrschaftsanspruch nicht fügt, öffnet sich der Übermensch der allumfassenden Synthese liebend audi dem, was seinem eigenen Ideal entgegengesetzt ist. Sein .äußerstes Um-willen' besteht in der Aufnahme von allem, was war, ist und sein wird, die zugleich Freigabe des Verschiedenartigen in dessen Eigenstes sein soll. Der synthetisierende Übermensch fügt sich selber dem Kreisgang allen Geschehens ein. Doch nicht nur in Hinsicht auf den Versuch einer ,Vermittelung' von Vernichtung und Liebe im Ubermenschen läßt sich kein einheitlicher Sinn des Wiederkunftsgedankens finden. Wird er als Gedanke für sich genommen, aus dem Bedeutungszusammenhang gelöst, in den er für den ,Weisen', den liebend-synthetisierenden Ubermenschen gehört, so erweist er sich als vieldeutig. Wie oben dargestellt wurde, sucht Nietzsche der Vieldeutigkeit dadurch Herr zu werden, daß er die Bedeutungen, die der Gedanke gewinnen kann, als Momente eines geschichtlichen Ablaufs zu fassen sucht, der, ganz allgemein betrachtet, auch schon das Geschick aller bisherigen großen Gedanken bestimmt haben soll. Wir haben gehört, daß der Wiederkunftsgedanke zuerst ,das Gesindel' anspreche, dann die Edleren zerstöre, die zu schwach für ihn sind, bevor er sich schließlich die besten Naturen erobere103. Doch blieb in der Darstellung der wirkungsgeschichtlichen Abfolge unberücksichtigt, daß es in allen Zeiten mittlere und untermittlere Typen geben wird, zu denen sich die Ubermenschen in einem für sie wesentlichen Gegensatz befinden müssen104. In den Ausführungen zum Schaffen, das in einem vernichten und lieben können soll, wurde wieder 103 101

S.S. IJ5. S.S. ijj.

160

daran erinnert. Das heißt aber: nach dem „Wendepunkt der Geschichte"103, nachdem sich der Wiederkunftsgedanke als Wahrheit durchgesetzt haben wird, werden gleichzeitig die verschiedenartigsten Rezeptionen dieser Lehre vollzogen werden. Von da an werden immer wieder niedere Typen in dieser Lehre Beruhigung finden: dann nämlich, wenn sie ein ihnen bequemes Leben geführt haben und führen. Andere werden sich mit der Vorstellung zufrieden geben, daß nicht nur Schmerz und Leid wiederkehren, sondern auch die Freuden, die ihnen vergönnt waren. Diejenigen, deren Leben überwiegend leidvoll verlaufen ist, werden sich mit Grauen dem Gedanken ausgesetzt sehen, daß sich ihre Leiden unzählige Male wiederholen müssen: wenn sie nicht über die Stärke verfügen, selbst das Grauenvolle zu bejahen. Wieder andere werden in fatalistische Gleichgültigkeit versinken. Sublime Naturen wie die Pessimisten müssen, aus der Einsicht in die Schalheit alles Wünschbaren heraus, verzweifeln, wenn ihnen die Hoffnung auf das Ende ihres Daseins genommen wird.10® Aktive Nihilisten werden ihre Verzweiflung nadi außen kehren. Sie werden zu Zerstörungen getrieben werden, die sinnlos bleiben müssen, weil sie immer wieder ,das Gleiche' zerstören, ohne ihm ein definitives Ende setzen zu können, ja ohne auch sich selbst damit ein Ende setzen zu können, wie sie es insgeheim anstreben107. Die Lehre kann aber auch „den guten Willen zum Leben" mehren, indem sie den falschen, transzendenzbezogenen Unsterblichkeitsglauben ersetzt108. Wer Höheres aus ihr zu ziehen sucht, wird sich vor die Aufgabe gestellt sehen, die wahre Unsterblichkeit ertragen zu lernen100. Zwar liegt eine solche Differenzierung der gleichzeitigen Wirkungen der Wiederkunftslehre durchaus in Nietzsches Blickfeld. Soll sie doch sowohl zum Prüfstein der Stärke der Starken dienen wie auch den Wunsch nadi Selbstauslöschung in den Schwachen erwecken. Aber gerade das letztere kann die Lehre nicht leisten, wenigstens nicht im Hinblick auf alle Typen geringeren Menschseins. Daß das Gleiche immer wiederkommt, wird u. U. dem kleinen Egoisten nicht weniger recht sein als dem großen Liebenden110. 105 107

108 109

1,0

106 Nachlaß, X I V 264. S. S. 156. WzM, X V 186, 185. — Über die aktiven Nihilisten sdireibt Nietzsche, „dass sie zerstören, um zerstört zu werden", daß sie „auch ihrerseits Maà)t wollen, indem sie die Mächtigen zwingen, ihre Henker zu sein" (WzM, X V 18$). Nachlaß, X I V 29$. Nachlaß, X I I 369. — WzM, X V I 395 f., heißt es, es sei „der Genuss an aller Art Ungewissheit, Versuchhaftigkeit, als Gegengewicht gegen jenen extremen Fatalismus" nötig, wie er aus dem Wiederkunftsgedanken resultieren könne. P. Gast meint in einem Brief vom 2 9 . 1 1 . 1913 sogar, daß der Wiederkunftsgedanke

161

Damit sollte deutlich geworden sein, daß die Wiederkunftslehre, im Sinne des .alten* Wahrheitsverständnisses aufgefaßt, Sinn, ja sogar Rechtfertigung für das Verschiedenartigste bieten kann. Das wiederum besagt, daß sie, in soldier Äußerlichkeit verstanden, keinen eindeutigen Sinn hergibt. Weil sie den Menschen das Entgegengesetzteste zu bedeuten geben kann, deshalb hat sie keine Bedeutung an sich. Als allgemeingültige .Wahrheit' ist sie bedeutungsleer1". Im Dritten Teil des Zarathustra' hat Nietzsche solcher Bedeutungsleere in der für dieses Werk charakteristischen Gestalt Ausdruck verliehen. Zarathustra spricht in dem Stück Vom Gesicht und Rätsel zu dem Zwerg, der ihn begleitet, von der Ewigkeit des Kreislaufes. Doch der Zwerg murmelt nur „verächtlich", als handele es sich um eine Allerweltsweisheit: „Alles Gerade l ü g t . . . Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis." Zarathustra zürnt „dem Lahmfuss" ob der gedankenlosen Selbstverständlichkeit, mit der dieser vom Wiederkunftsgedanken spricht. Er sagt ihm: „Du Geist der Schwere! . . . mache es Dir nicht zu leicht!""2 — In einem späteren Stück des Werkes, das den Titel Der Genesende trägt, finden wir Zarathustra noch immer bemüht, seinen abgründlidisten Gedanken, der sich wie ein „verschlafener Wurm" gebärdet, wach zu „krähen". Nachdem er sieben Tage lang mit dem Gedanken gerungen hat, sprechen ihn seine Tiere an. Sie reden heiter von dem „Ring des Seins", der alles zusammenschließt, was ist, war und sein wird. Obwohl Zarathustra ihrem,Geschwätz' gern zuhört, weiß er dodi, daß sie dem Gedanken nicht gerecht werden. Die Tiere verstehen nicht dessen tiefen Ernst; sie kennen

111

112

„den Philister mit der langen P f e i f e mehr frohlocken macht, als den Helden und N e u erer" (zit. nach E. Podadi, Gestalten um Nietzsche, 1932, 121). — Heidegger schreibt, es bestehe nur eine „schmale K l u f t . . . zwischen solchem, w a s sich auf eine Weise gleicht, d a ß es als dasselbe erscheint. A u f der einen Seite steht: alles ist nichts, alles ist gleichgültig, so daß sich nichts lohnt: alles ist gleich. A u f der anderen Seite steht: alles kehrt wieder, es kommt auf jeden Augenblick an, es kommt auf alles an: alles ist gleich. Die kleinste Kluft, die Scheinbrücke des Wortes .alles ist gleich' verbirgt das schlechthin Verschiedene: ,alles ist gleichgültig' und: ,nichts ist gleichgültig*. D i e Uberwindung dieser kleinsten K l u f t ist die schwerste Überwindung im Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen als dem wesenhaft überwindenden Gedanken. N i m m t man den Gedanken vermeintlich ,für sich', nach seinem Inhalt: ,Alles dreht sich im Kreis', dann ist er vielleicht ein Wahngebilde. A b e r dann ist es audi nicht der Gedanke Nietzsches . . . " (Nietzsche, a a O , I 446). Wenn man die Wiederkunftslehre „mit voller Schärfe" ausdenke, so bemerkt Simmel, dann würde jede absolut gleiche Wiederholung meines Verhaltens immer wieder eintreten müssen. Dies „würde nicht die geringste Bedeutung für mich haben können" {Schopenhauer und Nietzsche, a a O , 2 j i f.). Za, V I 231.

162

nicht die Schmerzen, mit denen die Einverleibung der Wiederkunftslehre erfolgen muß. „Und ihr", so ruft Zarathustra ihnen zu, „ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege ich d a . . . , krank nodi von der eigenen Erlösung. Und ihr schautet dem Allen zu?"113 Zurecht weist Heidegger darauf hin, daß „die Rede des Zwerges und die der Tiere eine verfängliche Ähnlichkeit" zeigen. Das Wesentliche des Wiederkunftsgedankens werde im Leierlied der „Drehorgeln" nicht weniger verfehlt als in dem verächtlichen Murmeln des Zwergs, der ihn als banale Selbstverständlichkeit auffaßt 114 . In Anknüpfung an das weiter oben Ausgeführte läßt sich sagen: der Gedanke ist überall dort nur in seiner Unwesentlichkeit begriffen, wo er den Charakter einer allgemeingültigen Aussage im Sinne der ,alten Wahrheit' angenommen hat. Dies gilt audi dann, wenn er, wie im Zarathustra', nicht ausdrücklich als ,Theorie' vorgetragen wird. In solcher Allgemeingültigkeit kann der Gedanke alles Mögliche bedeuten, deshalb bedeutet er dann nichts Bestimmtes. Wesentlich, d. h. wahr im Sinne der »neuen Wahrheit' Nietzsches, wird er erst, wenn er nicht nur von außen ,angeschaut' wird, sondern wenn man ihn sich einverleibt115. Auch Zarathustra ringt im Dritten Teil von Nietzsches Buch noch um solche Einverleibung. In einer nachgelassenen Aufzeichnung Nietzsches aus dem Jahre 1883 werden Überlegungen genannt, von denen Zarathustra in der Furcht vor den Folgen der Lehre befallen wird 1 1 '. Zarathustra findet da „Beruhigung" in der Uberzeugung: „es lässt sich die Wirkung niât voraussehn!" Aber die grundlegende Beunruhigung, die der Gedanke hervorruft, läßt sich nicht abweisen: „Vielleicht ist er nicht wahr: — mögen Andre mit ihm ringen!" 117 Es ist nicht Nietzsches Zweifel an der Wiederkunftslehre, der in dieser Aufzeichnung zum Ausdruck gelangt. In dem letztzitierten Satze markiert er nur eine Phase innerhalb der .Entwicklung' Zarathustras, die, wie sich aus dem Kontext ergibt, im Dritten Teil des Werkes ihre Darstellung erfahren sollte.118 113 114 115 118 117 118

Za, V I 314 ff. Nietzsche, aaO, I jo8 f. S. oben S. 143. S. obenS. i j j . Nadilaß, X I V 29$. Heidegger versteht die ganze oben herangezogene Passage als Ausdrude von Nietzsches eigenem Ringen um Beruhigung sowie um die Wahrheit der Wiederkunftslehre (Nietzsche, aaO, I 409 f.). Er beaditet die Komposition der kurzen Aufzeichnung Nietzsches nicht, an deren Ende sowohl Zarathustras Zweifel wie audi dessen Abweisung der Lehre in einem ,beseligenden Reifwerden' überwunden sind. 163

Hierbei bewegt sich Zarathustras Frage nach der Wahrheit der Lehre noch im Horizont des,alten' Wahrheitsverständnisses. Für uns scheint sich die Frage schon deshalb zu erübrigen, weil, gemäß den Ausführungen im Fünften Kapitel dieser Untersuchung, Wahrheit ihr neues Kriterium Nietzsche zufolge im aufsteigenden Willen zur Macht gefunden hat. Zwar trat hierbei eine Aporie zutage. In der .neuen Wahrheit' wird eine Perspektive absolut gesetzt; die Absolutsetzung verlangt aber zugleich nadi ihrer relativierenden Aufhebung, um den sich ständig wandelnden Konstellationen im Weltganzen durch neue Absolutsetzungen gerecht werden zu können, die ihrerseits wieder sowohl absolut gesetzt wie auch relativiert werden müssen. Die Aporie wurde in die Problematik des Weges zum Ubermenschen aufgenommen, wobei sich zeigte, daß dann nur noch von zwei Arten des Übermenschen gesprochen werden konnte, die sich als grundverschieden auch im Hinblick darauf erwiesen, was die Lehre von der ewigen Wiederkunft für sie bedeutet. Über ein solches verschiedenartiges Bedeuten kann nicht mehr hinausgegangen werden. Erfüllt sich in ihm doch das Wesen von Wahrheit, wie Nietzsche es denkt. Nach der Wahrheit der Wiederkunftslehre in einer ,objektiven', von den Entwürfen der perspizierenden Machtwillen ablösbaren Weise zu fragen, müßte sich von daher verbieten. Würde solche ,Objektivität' doch einen Rückfall in den alten, überwundenen Wahrheitsbegriff darstellen. Trotz des fundamentalen Unterschiedes der hier vorgelegten Nietzsche-Interpretation zu der Heideggers ist diesem zuzustimmen, wenn er schreibt: „ W i r d . . . die Wiederkunftslehre für sich herausgelöst und als eine ,Theorie' durch eine Zusammenstellung von Sätzen auf die Seite gebracht, dann ist ein solches Gebilde wie eine dem Boden entrissene und vom Stamm abgesägte Wurzel, also keine Wurzel mehr, die wurzelt — keine Lehre als Grundlehre —, sondern nur noch etwas Absonderliches."11® Wir brauchten uns daher nicht weiter bei solcher Absonderlichkeit aufzuhalten, — wenn Nietzsche sie uns nicht zumutete, und wenn diese Zumutung in der Nietzsche-Literatur nidit Widerhall gefunden hätte. Nietzsche hat in einer nicht geringen Zahl von Aufzeichnungen, die in der G A vor allem in den Bänden X I I und X V I abgedruckt worden sind, seine Lehre theoretisch zu begründen gesucht. O. Becker ist dem in einem Aufsatz aus dem Jahre 1936 unter dem Titel Nietzsches Beweise für seine 119 120

Nietzsche, aaO, I 256. Blätter für Deutsche Philosophie, IX, 1936, 368—387; erneut abgedruckt in dem Band gesammelter philosophischer Aufsätze Bedeers, der 1963 unter dem Titel Dasein und

164

Lehre von der ewigen Wiederkunft™ nachgegangen. Er beklagt, daß im Gegensatz zu einigen französischen Interpreten (Andler, A. Rey) die Diskussion in Deutschland, infolge der hier besonders ausgeprägten Spaltung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften, „die rein theoretische Seite der Sache" nicht ernsthaft behandelt habe121. Nicht zuletzt auf Beckers Veröffentlichung im Jahre 1936 dürfte sich Heideggers Bemerkung in der ein Jahr später gehaltenen Vorlesung über Die ewige Wiederkunft des Gleichen beziehen: „So nimmt man die Beweise ernst. Man zeigt sogar mit mathematischem Aufwand, daß diese Beweise nicht so schlecht sind, von einigen .Fehlern' abgesehen. Nietzsche habe sogar einige Gedanken der heutigen Physik vorausgenommen; und was kann es für einen heutigen Menschen Größeres geben als seine Wissenschaft! Diese scheinbar sachlichere und bejahendere Stellung zu Nietzsches »Beweisen' ist nun aber gleich fragwürdig wie die gegenteilige; sie ist unsadilich, weil sie ,die Sache', um die es sich handelt, nicht trifft und nicht treffen kann. Denn sowohl die Ablehnung dieser Beweise wie auch die Zustimmung zu ihnen halten sich an die gemeinsame und gleiche Voraussetzung, daß es sich hier um .naturwissenschaftliche' Beweise handle. Diese Vormeinung ist der eigentliche Irrtum, der im voraus jedes Verständnis, weil jedes rechte Fragen, unmöglich macht."1'2 Bedeer vermerkt kritisch, daß man gelegentlich sogar bezweifelt habe, „ob Nietzsche selbst seine Lehre ganz ernst genommen habe, im Sinne einer beweisbaren Lehre. Indessen darf demgegenüber auf die bekannte biographische Tatsache hingewiesen werden, daß er im Jahre 1881 den Plan faßte, zur wissenschaftlichen Begründung seiner Lehre zehn Jahre lang Mathematik und Physik zu studieren".129 Becker geht so weit zu sagen, daß erst die sachliche, will heißen: theoretische Beweisbarkeit der Wiederkunftslehre über deren ethische oder religiöse Bedeutung entscheide124. Aber er sieht sich auch genötigt, auf die in dieser Untersuchung mehrfach begründete Auffassung Nietzsches hinzuweisen, daß dieser mit dem Anspruch naturwissenschaftlicher Wahrheit wie mit dem physikalischen „Unterworfensein unter Natur-,Gesetze(n)'" auf Grund seiner Lehre vom Willen zur Macht in Widerstreit liege125.

121 122 123 124 128

Dawesen erschienen ist. Der Nietzsche-Aufsatz findet sidi dort auf den Seiten 41 bis 66. Dasein und Dawesen, aaO, 41 f. Nietzsthe, aaO, I 368. Dasein und Dawesen, aaO, 41. AaO, 66. AaO, jo f. 165

Wieder stoßen wir auf einen Gegensatz im Philosophieren Nietzsdies. Nimmt man seine mathematisch-naturwissenschaftlichen Beweisversuche ernst, so stellen sich zunächst grundlegende Fragen: Wie kann das, was allein als das Einverleibte Wahrheit zu beanspruchen in der Lage sein soll, durch derartige Beweisführungen ,schlüssig' gemacht werden? Oder haben seine ,Beweise' nur den Charakter exoterischen Redens? Will er, dem naturwissenschaftlich orientierten Zeitgeist Rechnung tragend, zum Wiederkunftsgedanken in zunächst unangemessener Form hinführen, um den Prozeß einer allmählichen Annäherung an die ,neue Wahrheit' zu befördern? Dagegen spricht unter anderem, daß sich seine Aufzeichnungen zu den Beweisen der Lehre in Nachlaß-Notizen finden, die offensichtlich Nietzsches Selbstverständigung über seinen Gedanken der Gedanken dienten. Oder verfällt Nietzsche einfach jener,alten Wahrheit', die er doch sdion hinter sich zurückgelassen hat? Zugestanden werden muß zunächst, daß Nietzsdies Beweisgänge an wesentliche Einsichten anknüpfen, die für sein Philosophieren konstitutiv sind. Ob die bei den Beweisen verwendeten Bestimmungen von Kraft, Endlichkeit, Endlosigkeit, Gleichheit, Wiederkehr, Werden, Raum, Zeit, Chaos, Notwendigkeit, in ihrer Ursprünglichkeit gedacht, überhaupt mit Naturwissenschaft zu tun haben, muß mit Heidegger bezweifelt werden. Setze doch die Naturwissenschaft solche Bestimmungen voraus, und zwar „als solches, was ihrem Fragebereidi und ihrer Beweisform ewig verschlossen bleibt".128 Andererseits aber bezieht sich Nietzsche doch gelegentlich auch auf naturwissenschaftliche Grundsätze der Neuzeit. So schreibt er ζ. B.: „Der Satz vom Bestehen der Energie fordert die ewige Wiederkehr"1". Daher bleibt uns nichts anderes, als seinen Beweisgängen nachzufragen. Audi wenn ihre Bedeutung für seinen Wiederkunftsgedanken noch so gering sein sollte, selbst wenn sich herausstellen sollte, daß sie verfehlt sind: an den von Nietzsche in diesem Zusammenhang vollzogenen Überlegungen kann man nicht vorbeigehen. Vier Aufgaben stellen sich dann: Erstens müssen die Beweise hinsichtlich der sie tragenden theoretischen Voraussetzungen sichtbar gemacht werden. Zweitens wird nach der Schlüssigkeit der Beweise im Sinne mathematisch-naturwissenschaftlicher Wahrheit gefragt werden müssen. Drittens wird sich die Frage stellen, ob die Voraussetzungen der Beweise mit den aus Nietzsdies Denken sonst erwachsenden Vor· Nietzsche, aaO, I 371. WzM, X V I 398.

12

127

166

aussetzungen, die zur Wiederkunftslehre führen, in Einklang gebracht werden können. Und viertens wird nach der Bedeutung zu fragen sein, die Nietzsches Beweisführungen für das Ganze seines Philosophierens zugesprochen werden kann. Zum ersten ist zu sagen, daß Nietzsches Niederschriften, in denen die Lehre eine theoretische Begründung erfährt, in sich nidit einheitlich komponiert sind. Man ist genötigt, unterschiedliche Beweisversuche aus verschiedenen Niederschriften zusammenzustellen. Dies hat Bedeer in seiner beachtenswerten Untersuchung getan. Freilich wird sich zeigen, daß seine Differenzierungen das trotz verschiedenartiger Ansätze einheitliche Gefüge von Nietzsches Gedankengängen auseinanderreißen. Gleichwohl gehen wir im Nachstehenden von Beckers Darstellung aus, weil sie die Grenzen einer theoretischen Beweisführung der Wiederkunftslehre besonders deutlich hervortreten läßt. In der Auseinandersetzung mit ihr werden gelegentlich schon die anderen Aufgaben mit bedacht, zum Beispiel darin, daß Nietzsches eigene Auffassung von der Beweiskraft mathematischer Sätze ins Spiel gerät. Bewiesen werden soll: „Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt." 1 * 8 A ) Der erste Beweisgang, den Becker findet, geht davon aus, daß Nietzsche die Existenz eines willkürlich handelnden Gottes leugnet12®. Der „Kreisprocess des Alls" steht in fundamentalem „Gegensatz zu allen bisherigen theistischen" Betrachtungen130. Ist die Annahme einer willkürlichen göttlichen Schöpferkraft ,nicht wahr', so fällt die Möglichkeit dahin, die Kraftmenge in der Welt als ständig wachsend anzunehmen. Becker bemerkt hierzu: Nietzsche „übersieht vor allem, daß — wie schon die Dezimalbruchentwicklung einer irrationalen Zahl wie j / i oder π zeigt — ins Unendliche gehende nichtperiodisdie Entwicklungen möglidi sind, die nach einer von vornherein bestimmten gesetzlichen Regel ablaufen, ohne göttlich-schöpferische Willkür." 131 Beckers Gegenargument berücksichtigt freilich nicht Nietzsches Vorbehalt gegenüber dem Wahrheitsansprudi der Mathematik, der sich zu dessen kritischer Zurückweisung steigert. So schreibt Nietzsche: „Wenn die Mathematik angewendet wird, . . . wird das Wirkliche erst zurechtgemacht und vereinfacht (ge128

Nachlaß, XII j i .

120

Dasein und Dawesen, aaO, 42.

130

Nachlaß, X I I j 7 . AaO, 42.

181

167

fälscht — —)."132 Ist sie dodi — wie die Medianik — „angewandte Logik" 138 . In der Mathematik als angewandter Logik „kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat."134 Die Unzulänglichkeit von Beckers Argumentation gegen Nietzsche wurzelt darin, daß er dessen Wissenschaftskritik nicht berücksichtigt. Mit diesem Hinweis soll nun aber nicht etwa die Kraft des »ersten Beweises' wiederhergestellt werden. Der Beweis, darin ist Becker redit zu geben, ist „zu unbestimmt, um sachlich gewürdigt zu werden"135. Man könnte nodi schärfer sagen: um auf der Ebene des Beweisens zu bleiben, müßte vorerst die Nichtexistenz einer schöpferischen, immer neue Kräfte spendenden Instanz bewiesen werden, wenn denn jener Beweis Gültigkeit beanspruchen können sollte. Die genannte Niditexistenz ist aber weder beweisbar nodi widerlegbar. Selbst Nietzsches Genealogie des Theismus hat ja nicht den Charakter des hier von ihm geforderten formalen Beweises. B) Der zweite Beweisgang geht von der Endlichkeit des Weltraums aus. Diese Endlichkeit gestatte nur eine endliche Zahl von Kraftlagen in diskreter Mannigfaltigkeit. Hieraus resultiere, daß „bloß eine endliche Anzahl von möglichen Kombinationen dieser einen bestimmten Weltzustand festlegenden Elemente, also nur eine endliche Zahl möglicher Weltzustände" denkbar sei. Tritt zu diesem Resultat die Annahme hinzu, daß jeder bestimmte Weltzustand den nächsten eindeutig festlegt, so ist die ewige Wiederkunft des Gleichen „unbedingt notwendig. Denn nach Erschöpfung aller möglichen Weltzustände muß notwendig einer von ihnen einmal wiederkehren. Da dieser nun einen eindeutig bestimmten Nachfolger hat und dieser wiederum ebenso, so laufen die Weltzustände auch in der festgelegten Reihenfolge so lange ab, bis sich der zuerst wiedergekehrte zum zweitenmal wiederholt usw., in alle Ewigkeit." 13 ' Am deutlichsten hat sich Nietzsche darüber wie folgt ausgesprochen : „Wenn die Welt als bestimmte Grösse von Kraft und als bestimmte Zahl von Kraftcentren gedacht werden darf — und jede andre Vorstellung bleibt unbestimmt und folglich unbrauchbar —, so folgt daraus, dass sie eine beredienbare Zahl 132

183 134

135 138

Nadilaß, X I V 320; vgl. X I V 37: „der Mathematik wird beständig im wirklichen Gesdiehen widersprochen". Nadilaß, X I V 22. GD, V I I I 78. — Zu Nietzsches These, daß die Bevorzugung der Mathematik ein Ausdruck der schwachen Persönlichkeit sei, s. o. S. 61 f., Anm. i j 2 . Dasein und Dawesen, aaO, 42. AaO, 43.

168

von Combinationen, im grossen Würfelspiel ihres Daseins, durchzumachen hat. In einer unendlichen Zeit würde jede mögliche Combination irgendwann einmal erreicht sein. Und da zwischen jeder Combination und ihrer nächsten Wiederkehr alle überhaupt noch möglichen Combinationen abgelaufen sein müssten und jede dieser Combinationen die ganze Folge der Combinationen in derselben Reihe bedingt, so wäre damit ein Kreislauf von absolut identischen Reihen bewiesen: die Welt als Kreislauf, der sich unendlich oft bereits wiederholt hat und der sein Spiel in infinitum spielt." 1 " Es fällt auf, daß Nietzsche die Voraussetzungen seiner Beweisführung in Hypothesen-Form (Wenn . . . gedacht werden darf), sprachlich audi im weiteren in der Gestalt des potentiellen Konjunktivs vorträgt. Becker bezeichnet die Schlußfolgerung Nietzsches als „tadelsfrei", er fragt nur nodi nach, inwieweit die in seiner Darstellung hervorgehobenen „Endlichkeitsbedingungen von Nietzsche wirklich angegeben worden sind"138. Da er bei diesem die Endlichkeit der Summe aller Kraft, die Endlichkeit des Raumes, die diskrete Stufung der Kraft, eine bestimmte Anzahl von Kraftstufen, das Bestehen einer eindeutigen Kausalverknüpfung, schließlich auch, wenn auch nur indirekt, die Diskretheit von Raum und Zeit gelehrt findet, sieht er, „daß Nietzsche eine in allen wesentlichen Punkten vollständige Aufzählung der Voraussetzungen seines Gedankenganges gibt; unter diesen Voraussetzungen ist sein Beweis der ewigen Wiederkunft durdiaus klar und zwingend." Freilich frage sich, „ob jene Annahmen in der wirklichen Welt zutreffen"; die Entscheidung darüber sei „Sadhe umfangreicher physikalischer Forschungen", weshalb der zweite Beweisgang ein „bloßes Programm" bleibe.13* Die von Nietzsche genannte, für den zweiten Beweis unentbehrliche Annahme der Unendlichkeit der Zeit wird von Becker in diesem Zusammenhang freilich nicht ausdrücklich angeführt. Becker behält sich ihre Erörterung für den dritten Beweisgang vor. Nur als eine Variante des zweiten Beweisganges erscheint bei Becker Nietzsches Rede vom großen Würfelspiel des Daseins140. In ihr kommt jedoch Nietzsches Grundgedanke des Gegeneinander der Willen zur Macht zu angemessenerem Austrag als in der Annahme ,eindeutiger Kausalität', die Becker als „sonst" konstitutiv für Nietzsches Beweisversuche ansieht"1. 137 188

» 140 141

WzM, X V I 400 f. Dasein und Dawesen, aaO, 43. AaO, 43-45. A a O , jo Anm. — S. audb oben S. j i . Dasein und Dawesen, aaO, 50. — Zu Nietzsches Kritik am Kausalitätsbegriff, die Becker nicht berücksichtigt, s. oben S. 14.

169

Läßt sich dodi denken, was Nietzsche „als Gegenhypothese gegen den Kreisprocess" einwendet: „dass das Entstehen der mechanischen Welt ein gesetzloses Spiel wäre . . . So dass alle unsere mechanischen Gesetze nicht ewig wären, sondern geworden, unter zahllosen andersartigen mechanischen Gesetzen, von ihnen übrig geblieben, oder in einzelnen Theilen der Welt zur Herrschaft gelangt, in anderen nicht? — Es scheint, wir brauchen ein Belieben, eine wirkliche Ungesetzmässigkeit, nur eine Fähigkeit gesetzlich zu werden, eine Urdummheit, weldie selbst für Mechanik nicht taugt? Die Entstehung der Qualitäten setzt das Entstehen der Quantitäten voraus, und diese wieder könnten nach tausend Arten von Mechanik entstehen." Am Ende der Niederschrift, nach Überlegungen, auf die wir hier nicht einzugehen brauchen, stellt sich Nietzsche mehrere Fragen: „Sollte aus der ,Kraft' Verschiedenes entstehen können? Beliebiges? Sollte die Gesetzmässigkeit, welche wir sehen, uns täuschen? Nicht ein Urgesetz sein? Sollte die Vielartigkeit der Qualitäten auch in unserer Welt eine Folge der absoluten Entstehung beliebiger Eigenschaften sein? Nur dass sie in unserer Weltecke nicht mehr vorkommt? Oder eine Regel angenommen hat, die wir Ursache und Wirkung nennen, ohne dass sie das ist (ein zur Regel gewordenes Belieben, zum Beispiel Sauerstoff und Wasserstoff chemisch)??? Sollte diese .Regel' eben nur eine längere Laune sein? " 142 Becker sucht unter Hinweis z. B. auf den Aphorismus 1062 des ,Willens zur Macht'1*3 darzulegen, daß der Gedanke eines willkürlichen Abweichens von der ewigen Wiederkehr in der Welt Nietzsche zufolge ein Verhaftetsein an überlieferte religiöse Denkmodelle offenbare. In der Tat schreibt Nietzsche an der angegebenen Stelle: „Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und Wunschweise, eine Art Sehnsucht, zu glauben, dass irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei — dass irgendworin doch ,der alte Gott noch lebe'", wobei Nietzsche Spinoza in Erinnerung bringt. Aber hierauf kommt es Becker weniger an. Er schiebt den Gedanken der möglicherweise anstrebbaren Vermeidung der Wiederkehr in der Welt beiseite und wendet sich der Überlegung zu, daß die Abläufe in der Welt nicht kausal, sondern durch das „Gesetz des Zufalls" beherrscht seien. Auf den Weltzustand A würde dann unter Umständen nicht „ein ganz bestimmter Zustand Β unmittelbar" folgen, sondern vielleicht B' oder B". Das aber spräche nicht gegen die schließliche Wiederkehr von A. Schließlich müßten doch „bei endlich vielen möglichen Zuständen A, B, C . . i m m e r 142 143

Nachlaß, XII 58 f. WzM, X V I 396 f.

170

wieder auftreten: der Wahrscheinlichkeitsrechnung gemäß. Seine These, Nietzsche befürworte „eine reine Kraftmechanik ohne alle Zwänge durch starre Verbindungen", sucht er u. a. mit Hilfe des Aphorismus 22 aus Jenseits von Gut und Böse' zu belegen. Freilich berücksichtigt er nicht den wichtigen Schlußsatz dieses Textes. 1 " Seiner weit ausholenden und grundlegenden Bedeutung halber sei der genannte Aphorismus hier vollständig zitiert: „Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nidit lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen: aber jene .Gesetzmässigkeit der Natur', von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten .Philologie', — sie ist kein Thatbestand, kein ,Text', vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt!,Überall Gleidiheit vor dem Gesetz, — die Natur hat es darin nidit anders und nidit besser als wir': ein artiger Hintergedanke, in dem nodi einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, insgleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. ,Ni dieu, ni maître' — so wollt audi ihr's: und darum ,hoch das Naturgesetz!' — nidit wahr? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nidit Text; und es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleidien Erscheinungen, gerade die tyrannisdi-rüdksiditenlose und unerbittlidie Durchsetzung von Maditansprüdien herauszulesen verstünde, — ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ,Willen zur Madit' dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort,Tyrannei' schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher — als zu menschlich — erschiene; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass sie einen . n o t wendigen' und .berechenbaren' Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser. — " M 5 Der Aphorismus legt zunächst dar, daß auch naturwissenschaftliche .Tatbestände', »Gesetzmäßigkeiten in der Natur' als eine menschliche Zurechtmachung, ja als eine .Sinnverdrehung' aufzufassen sind. Nehmen wir 144 145

Dasein und Dawesen, aaO, jo f. JGB, VII 34 f.

171

das damit Gesagte ernst, so müssen wir gegenüber Schlecbtas schon vorsichtiger Bemerkung, das strenge wissenschaftliche Fragen sei nach Nietzsche „zufolge einer allgemein verbindlichen Methode dasjenige Fragen, das am wenigsten — seiner wahren Natur nach — von fälschenden .Interessen' des Subjekts abhängt", noch vorsichtiger urteilen. Schlecbta gebraucht „absichtlich" die Formulierung ,am wenigsten', „denn in bezug auf die völlige Unabhängigkeit" habe Nietzsche „zeitlebens seine sehr interessanten Zweifel gehabt".14" Wir werden die Behauptung einer relativ geringeren Zurechtmachung des Wirklichen in den Naturwissenschaften nur für die ,aufklärerische Phase' gelten lassen können, nicht aber, wie Schlechta, auch für die späteren Werke und Aufzeichnungen Nietzsches. Wenn Nietzsche in dem zitierten Aphorismus den Begriff ,Tyrannei' noch als ,zu menschlich' für die Interpretation der Hintergründe naturwissenschaftlicher Verfälschung charakterisiert, so spricht das nicht gegen das von uns Vorgetragene. Kommt es ihm doch darauf an, in allem Geschehen (auch dem nichtmenschlichen) das Gegeneinander der Willen zur Macht am Werke zu sehen, das mit all zu anthropologischen Bestimmungen (wie .Tyrannei') nur unzulänglich ausgedrückt werden kann. Dodi zurück zu Bedeers Auffassung. Daß es Nietzsche zufolge keine Naturgesetze gebe, daß „jede Macht in jedem Augenblick ihre letzte Consequenz zieht", führt ihn zu der Folgerung, daß „diese Wahrscheinlichkeitsphysik und Kraftmechanik . . . keineswegs der ewigen Wiederkunft" widerspreche, sondern sie gerade erfordere1". Man könnte dies vielleicht hingehen lassen, wenn Nietzsche nicht den Aphorismus mit dem Satz beschlösse: „Gesetzt dass auch dies (sc. das absolute Fehlen von Gesetzen) nur Interpretation ist — und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? — nun, um so besser." In diesem Satz wird der grundlegende, in ständigem Wandel begriffene Perspektivismus der .neuen Wahrheit' zur Geltung gebracht. Nietzsche geht mit ihm auch über das hinaus, was Becker,Gesetz des Zufalls' nennt. Gewiß, die ,neue Wahrheit' hat sich uns in ihrer unaufhebbaren Zwiespältigkeit enthüllt. Doch gerade ihr haben wir insoweit Rechnung zu tragen, als jede Setzung (auch die einer Wahrscheinlichkeitsphysik und die einer Kraftmechanik) ihren Absolutheitsanspruch zugleich mit der Setzung preisgeben muß. Becker, der an der ,alten Wahrheit' orientiert bleibt, hält sich allein an die Absolutsetzung. Deshalb paßt der letzte Satz des Aphorismus nicht in seine Kon14(1 147

Nachworten: Fr. Nietzsche, Werke in drei Bänden, Dasein und Dawesen, a a O , 51.

172

München o. J. (1954 s.), III 1441.

zeption, er wird fortgelassen. Wird doch in ihm die Möglichkeit der Preisgabe ins Spiel gebracht. C) Was Becker aus Nietzsches Niederschriften herausdestilliert, soll seinen wesentlichsten Niederschlag in dem dritten Beweisgang erfahren, den er vor Augen führt. Dieser soll „für den heutigen sachlichen Beurteiler . . . der ausschlaggebende" sein14". Den Ausschlag gebe, daß Nietzsche in ihm den unendlichen Kreisgang der Zeit bewiesen habe. Der Beweis soll „sachlich vom ersten und zweiten ganz unabhängig" sein. Daß er „oft mit den beiden ersten in den Texten verflochten auftritt", läßt es Becker „zweifelhaft" erscheinen, „ob sidi Nietzsche über die Bedeutung gerade dieses Beweisgangs völlig im klaren war".149 Becker will nicht wahrhaben, daß das in den beiden ersten Beweisgängen Dargestellte die Funktion einer Absicherung gegen mögliche Einwände zum dritten Beweis ausübt, von welcher er auch, freilich beiläufig, Gebrauch macht. Diese Absicherungsfunktion läßt deutlich werden, daß Nietzsche zurecht ineinander zu verflechten sucht, was Becker voneinander trennt. Folgen wir weiterhin Beckers Argumentation, so finden wir, daß er dem dritten Beweisgang „unter der Voraussetzung des »systematischen' Ganzen" von Nietzsches Philosophie in besonderem Maße Beweiskraft zuspricht. Mehr noch als für das zweite Argument soll für das dritte gelten, daß es „kaum zu widerlegen" sei.150 In seinen Ausführungen zum Beweis der Unendlichkeit der Zeit, die sich notwendigerweise zum Kreisgang fügen soll, geht Becker bis zur antiken Philosophie zurück. Dabei legt er dar, wie faktisch immer wieder die der Wirklichkeit unangemessene Scheidung von regressus in infinitum und progressus ex infinito vollzogen worden ist. Er erörtert einerseits Gedanken von Empedokles und Plato, andererseits von Parmenides und Aristoteles, geht auf den Beweis der Thesis in der ersten Antinomie von Kants Kritik der reinen Vernunft, sowie auf deren Bestreitung durch Schopenhauer ein und wendet sich auch naturphilosophischen Erörterungen im neunzehnten Jahrhundert zu (E. Dühring, J. G. Vogt). Sich mit Beckers diesbezüglichen, sehr konzisen (wenn auch vielleicht gerade deshalb nidit unproblematischen) Darlegungen kritisch auseinanderzusetzen, verbietet sidi angesichts der in dieser Arbeit auf Nietzsdies Denken beschränkten Aufgaben. Wir müssen uns damit begnügen, Beckers Darlegungen nachzugehen, 118 149 1M

AaO, jj. AaO, j2. AaO, 66. 173

soweit in ihnen erwiesen werden soll, daß Nietzsches Wiederkunftslehre theoretisch ,kaum' anfechtbar ist. Werden in ihr doch die oben genannten Scheidungen überwunden. Er zieht Nietzsche-Stellen heran, die den progressas ex infinito thematisieren151. So führt Nietzsche aus, man brauche nur in der Zeit rückwärts zu gehen, um konstatieren zu müssen, daß die Welt weder ein Ziel noch einen unbeabsichtigten Endzustand haben könne, weil das eine wie der andere sonst schon erreicht sein müßten152. Becker findet die Zumutung eines unendlichen Prozesses unerträglich, wenn er als Fortgang zu immer Neuem gedacht wird. Er hält den unendlichen Progress andererseits schon in der Formulierung für unanfechtbar, wie Kant ihn dargestellt hat. Da Becker weder der transzendentalen Lösung des Problems153 noch der Annahme einer transzendenzbezogenen, rational unbegreifbaren Wandlung154 zustimmen kann, bleibt nur die Notwendigkeit der „Ansetzung des unendlichen Weltlaufs als eines streng periodischen"155. Wir können nun die zweite Aufgabe in Angriff nehmen, die sich aus der Frage nach Nietzsches theoretischem Beweisversuch ergibt. Beckers Beweisführung basiert auf Voraussetzungen, die er bei Nietzsche findet, aber nicht hinreichend problematisiert. Nun soll seine im Beweisgang C kulminierende Argumentation auf ihre naturwissenschaftliche Tragfähigkeit hin untersucht werden. Dabei müssen wir uns wesentliche Beschränkungen auferlegen. Stellen wir in Rechnung, daß Becker überzeugt ist, die Annahme der Unendlichkeit der Zeit sei wohlbegründet, so genügt es für unsere Frage, die extreme Gegenposition herauszustellen. Diese besteht in der Ausweitung des zweiten thermodynamischen Hauptsatzes zu einer Theorie der Endlichkeit des Weltprozesses. Ihr zufolge kann es in der Welt nur einen beschränkten Vorrat von Geschehnissen geben, der schließlich endgültig aufgezehrt sein wird. Ihren populärsten Vertreter in jüngster Zeit hat jene Theorie in C. F. von Weizsäcker gefunden, dessen Vorlesungen über Die Geschichte der Natur aus dem Jahre 1946 hier herangezogen werden sollen156. 151

A a O , j i ff. Vgl. insbes. WzM, X V I 396. 158 Dasein und Dawesen, aaO, 63. 154 Vgl. d a s 2 u m ersten Beweisgang Beckers Ausgeführte, ferner Dasein und Dawesen, aaO, 64. 155 AaO, 57. 156 Zitiert werden im folgenden die als Buch unter dem genannten Titel erschienenen Vorlesungen nach der j . Auflage von 1962. 162

174

Obwohl wir uns im folgenden von Nietzsches Ausführungen entfernen müssen, gehen wir doch von einer seiner Notizen aus, auf die wir schon hingewiesen haben. Sie besagt, daß der Satz vom Bestehen der Energie die ewige Wiederkehr fordere 1 ". Dieser Satz aber ist der erste Hauptsatz der Thermodynamik, aus dem sich der schon kurz charakterisierte zweite Hauptsatz ableiten läßt. Auch Nietzsche hat den zweiten Hauptsatz gekannt168. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, daß die Quantität der Energie innerhalb eines abgeschlossenen Systems keiner Veränderung unterliegt. Der zweite Hauptsatz besagt, daß sich die Energieformen innerhalb eines solchen Systems ändern. So vollzieht sich ständig die Umwandlung von kinetischer Energie in Wärme und umgekehrt die Umwandlung von Wärme in kinetische Energie. Nun ist aber die Erzeugung von Wärme in gewissem Maße unumkehrbar. Es entsteht Wärmeenergie, die nicht mehr arbeitsfähig ist. Hinsichtlich ihrer Größe spricht man von Entropie. Weizsäcker formuliert den zweiten Hauptsatz wie folgt: „Die Entropie eines abgeschlossenen Systems kann zunehmen oder konstant bleiben, aber nicht abnehmen. Konstant bleibt sie nur solange, als keine anderen Energieformen in Wärme umgesetzt werden; sonst nimmt sie zu." Weizsäcker fährt fort: „Da praktisch jeder Naturvorgang Wärme erzeugt, wenn auch oft in sehr kleinen Mengen, ist jeder Vorgang strenggenommen unumkehrbar. Jede Pendelschwingung erlisdit, und selbst die Planetenbewegung um die Sonne erleidet durch das interstellare Gas eine schwache Bremsung. Kein Vorgang wiederholt sich daher genau. Die Natur ist ein einmaliger Ablauf. Der Endzustand wäre, daß alle Bewegungen zur Ruhe kämen und alle Wärmeunterschiede ausgeglichen würden. Diesen Zustand hat man als Wärmetod bezeichnet."15' Zwei einander entgegengesetzte Lehren sind also aus dem Satz von der Erhaltung der Energie abgeleitet worden: die Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und die Lehre vom Ende aller Bewegung im Wärmetod. Beide sind umstritten. Wir können es uns nicht so leicht machen, die letztere gegen die erstere auszuspielen und solcherart Nietzsches Versuch einer theoretischen Begründung der Wiederkunft abzuweisen, wie dies schon Gast getan hat1"0. Wohl aber kann von jeder der beiden Lehren lä7

S. oben S. 166. Vgl. A. Mittascb, Friedrich Nietzsches Naturbeflissenheit, 1950, 22. »5» Die Geschichte der Natur, aaO, 37. 100 Zu Gasts Auseinandersetzung mit Nietzsches naturwissenschaftlichen Vorstellungen sei auf eine Stelle aus dem schon erwähnten Brief Gasts vom 29. 1 1 . 1 9 1 3 hingewiesen 158

175

ein Licht auf die andere geworfen werden. Dabei werden Schwäche und Stärke jeder von ihnen sichtbar. Hierauf sollen die nachstehenden Ausführungen beschränkt bleiben. Gehen wir von einem Jetzt' aus, so wird in der Wärmetod-Theorie gewissermaßen nach vorn gedacht. Sie bildet eine in sich geschlossene Erklärung künftigen Geschehens, das mit dem schließlichen Erlöschen aller Ereignisse endet. Im Aufweis dieses progressas liegt die ihr eigentümliche Stärke an Uberzeugungskraft. Ihre Schwäche zeigt sich, wenn vom Jetzt zum Anfang der Zeit zurückgegangen wird. Weizsäcker folgert, „daß auf die Ereignisse nicht nur ein Ende im Wärmetod wartet, sondern daß sie auch einen Anfang in der Zeit gehabt haben müssen. Dabei ist es ebensowohl denkbar, daß die Ereignisse plötzlich begonnen haben, wie, daß sie aus einer unendlichen ereignislosen Zeit langsam herausgewachsen sind, so, wie ja auch der Wärmetod im allgemeinen asymptotisch erreicht wird. Wieweit es Sinn hat, auf ein ereignisloses Intervall den Begriff der Zeit noch anzuwenden, will ich offenlassen."1®1 Jedenfalls finden wir nach dieser Theorie die Ereignislosigkeit nun nicht mehr nur als die uns bevorstehende ,Zukunft', sondern auch als den allen Ereignissen vorgängigen Zustand beschrieben. Die beiden Möglichkeiten, die Weizsäcker anbietet, um das Entstehen von Ereignissen aus der Ereignislosigkeit heraus zu erklären, ihr plötzliches Auftreten oder ihr allmähliches Herauswachsen, lassen unbefriedigt. Nimmt man diese Erklärungsversuche ernst, so legt sich der Gedanke nahe, daß der künftige Wärmetod nicht den Charakter der Endgültigkeit zu haben braucht. Läßt sich doch denken, daß nach einer künf-

161

(s. oben S. 162, Anm. 110): »Das Tollste für mich ist, daß Nietzsche gegen Robert Mayer, mit dessen Wärmetheorie idi ihn erst bekannt gemacht habe, den Ragusaner Boscovich ins Feld führt, einen bloß mathematisch denkenden Astronomen, der infolge seiner irrigen Vorstellung vom Wesen der Kraft an den Punkt gelangt, die Existenz der Materie zu leugnen: es gebe nur Kraft. Boscovich kommt von seinen atomistischen Spekulationen auf diesen Unsinn: und da Methode darin lag, so gefiel er Nietzsche um so mehr, als diesem die instinktgewordenen Physiker-Einsichten zur Kontrolle abgingen." — Gast schreibt dann weiter: „Die Lehre von der Ewigen Wiederkunft, durch welche Nietzsche seinem Übermenschen den wuchtigen Akzent aufsetzen will, fällt mit der in den letzten Jahren sehr wahrscheinlich gewordenen Ineinander-Verwandlung der chemischen Elemente in sich zusammen." (zitiert nach Podach, Gestalten um Nietzsche, aaO, 121). — Der Einfluß Gasts auf Nietzsches spätere naturwissenschaftliche Lektüre darf nicht gering eingeschätzt werden, so wenig dieser Einfluß auch die Grundposition Nietzsches zu verrücken imstande war. Im einzelnen ist dem hier nicht nachzugehen. Es bedürfte dazu der Auswertung des PeterGast-Nachlasses, der inzwischen den Nietzsche-Beständen im Goethe- und SchillerArdiiv zu Weimar angegliedert worden ist (vgl. K A W , VI/3, 161). Die Geschichte der Natur, aaO, 43. — Zu Weizsäckers Auseinandersetzung mit der Theorie einer ständigen Neuentstehung von Materie vgl. aaO, $4.

176

tigen Ereignislosigkeit wieder ein Ereignisneubeginn erfolgen könnte. Die Schwierigkeiten, die sich in der Frage nach dem Anfang des Geschehens für die Verfechter der Wärmetod-Theorie ergeben, sobald sie den regressus in die Vergangenheit zu durchdenken suchen, sind schon im neunzehnten Jahrhundert gesehen worden. Auch Nietzsche hat schon von der Diskussion um diese Schwierigkeiten Kenntnis genommen, ζ. B. bei der Lektüre von /. G. Vogts Buch Die Kraft. Eine realmonistische Weltanschauung, das 1878 erschien. Auf diese Lektüre Nietzsches hat Becker ausdrücklich aufmerksam gemacht. Am Ende einer Aufzeichnung bezieht sich Nietzsche auf S. 90 von Vogts Arbeit" 2 . Vogts Ausführungen sind zwar „ziemlich dilettantisch", wie Becker zurecht bemerkt. Aber immerhin bringt schon er an der von Nietzsche vermerkten Stelle unter anderem das Argument vor, die Verfechter der ,Entropie-Lehre' vermöchten nicht zu zeigen, „auf welche Weise die zwingenden Faktoren, welche die heutige ungleichartige Wärmeverteilung und die Bewegungserscheinungen bedingten, in die Welt gekommen sind". 143 Aber auch wenn die Wärmetod-Theoretiker die Frage nach dem Wie des Anfangs ausklammern, ja selbst wenn sie einen Anfang des aperiodisch gedachten Weltlaufs bestreiten, so kommen sie doch nicht aus der Verlegenheit heraus. Daher sieht Becker zwar immerhin „in der Form eines asymptotischen Sich-Annäherns an einen gleichförmigen und toten Endzustand: Zerstreuung aller Energie (,Wärmetod'), Zerstrahlung aller Materie, Zerstreuung des .expandierenden Universums' in gänzlich zusammenhanglose Teile (wenn die Expansionsgeschwindigkeit die Lichtgeschwindigkeit überschreitet)" die einzige „präzise Vorstellung von einem aperiodischen unendlichen Prozeß", die in der Geschichte des menschlichen Denkens sichtbar geworden sei. Aber man scheitere bei der Vorstellung, sich im Zusammenhang mit solchen unendlichen Prozessen eine unendliche zeitliche Vergangenheit zu denken. Nichts könnte erklären, „wieso die verflossene unendliche Zeit denn nicht hingereicht hätte, den Minimalpunkt der Entropie schon vor unendlicher Zeit (von jetzt ab gerechnet) zu erreichen. Noch weniger könnte man sich aber ein Bild von dem »Anfang' des Prozesses machen, der ja doch definitionsgemäß anfang/os sein soll, und dessen Anfang trotzdem auch wiederum existieren müßte, weil ja alles Gewesene als solches ein aktuales Sein gehabt hat! — Unlösbare 162

Vgl. dazu Nachlaß, X I I 433 (nicht, wie Becker irrtümlich angibt, 432).

na Vgl. Belker, Dasein und Dawesen, aaO, 61 f. 177

Schwierigkeiten, die nur bei der Annahme der Periodizität verschwinden!"" 4 Ist es der Weg vom Jetzt zurück in die Vergangenheit, auf dem man den Verfechtern der Wärmetod-Theorie nicht folgen können wird, so ist es der Weg vom Jetzt in die Zukunft, der die Akzeptation der Theorie der ewigen Wiederkunft unmöglich macht. Auch der von Becker differenziert vorgetragenen und in seinem dritten Beweisgang (oben unter C) kulminierenden Gedankenführung läßt sich entgegenhalten, was schon Simmel gegen Nietzsches Beweis einer ewigen Wiederkehr vorgebracht hat. Er führt einen Gegenbeweis vor „nur für den einfachsten Fall eines Systems, welches nur aus drei Elementen besteht. Man denke sich drei gleidi große Räder, welche um eine gemeinsame Achse laufen. Auf jedem dieser ist ein Punkt markiert, und zwar derart, daß in irgend einem Augenblick diese drei Punkte auf einer Geraden liegen, die durch einen über die Räder gespannten Faden bezeichnet ist. Nun lasse man die Räder rotieren, und zwar so, daß das zweite Rad sich doppelt so schnell dreht als das erste. Dann werden die beiden auf ihnen markierten Punkte nur in dem Augenblick wieder gemeinsam unter dem Faden liegen, wenn das erste Rad eine Umdrehung, das zweite aber deren zwei gemacht hat; dann wieder nach der zweiten ganzen Umdrehung des ersten und der vierten des zweiten Rades; kurz, die Anfangslage für diese beiden Räder wird ausschließlich nach η ganzen Umdrehungen des ersten und 2 η Umdrehungen des zweiten Rades erfolgen. Dem dritten Rad nun gebe man eine Umdrehungsgeschwindigkeit von des ersten Rades. Hat dieses erste also 1,2,3 η Umdrehungen vollendet, so hat sich das dritte —, π

π

— η

— mal it

gedreht. Nach der Natur der Zahl π kann keiner dieser Brüche eine ganze Zahl sein. Das heißt, daß das dritte Rad niemals eine ganze Zahl von Umdrehungen vollendet haben wird, wenn das erste Rad eine ganze Zahl vollendet hat. Da es nun aber zu der gleichzeitigen Lage des auf dem ersten und des auf dem zweiten Rade markierten Punktes unterhalb des Fadens nach dem Obigen nur dann kommen kann, wenn das erste Rad jeweils eine ganze Umdrehung gemacht hat, so kann der bezeichnete Punkt des dritten Rades niemals den Faden in dem Augenblick passieren, in dem diese Punkte an den beiden andern Rädern unter ihm liegen. Das heißt: die Lage der drei Punkte, von der die Bewegung angehoben hat, kann in alle Ewigkeit nicht wiederkehren. Wenn es also nur irgend wo in der Welt 1M

AaO, 66.

178

drei Bewegungen gibt, welche dem Bewegungsverhältnis dieser drei Räder entsprechen, so können die Kombinationen zwischen ihnen niemals zu ihrer Ausgangsform zurückkehren. Die Endlichkeit in der Zahl der Elemente bewirkt also, selbst wenn für ihre Bewegungen eine unendliche Zeit zur Verfügung steht, durchaus nicht mit Notwendigkeit, daß die Situation irgendeines Momentes sich unverändert wiederhole. — Natürlich kann es sich auch anders verhalten. Die Weltbewegungen könnten so angeordnet sein, daß sie einen sich immer wiederholenden Kreis von Kombinationen durchlaufen. Allein die bloße soeben skizzierte Möglichkeit reicht aus, um den angeblichen Beweis für die ewige Wiederkehr des Gleichen als Illusion darzutun."163 Wir haben Simmeis Gegenbeweis in aller Ausführlichkeit wiedergegeben. Die Voraussetzungen für die Richtigkeit seines Gedankenexperiments können hier so wenig herausgearbeitet werden wie etwa diejenigen Voraussetzungen, die letztlich den dritten Beweisgang Beckers oder den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik tragen. Dies würde eine Besinnung erfordern, die über den mit dieser Untersuchung gesteckten Rahmen weit hinausginge. Als für unser Vorhaben wesentlich ist aber die ,Beweisrichtung' festzuhalten, die Simmeis Argumentation bestimmt. Diese hat ihre Stärke im progressus ex nunc. Sie zeigt an, wo die Schwäche einer theoretischen Begründung der Wiederkunftslehre liegt. Der progressus ex nunc bildet demgegenüber die Stärke der Wärmetod-Lehre und der ihr verwandten Theorien. Deren Schwäche wiederum zeigt sich im regressus ex nunc: bis zu einem unbegreifbaren Anfang oder bis ins Unendlidie. Der letztere regressus wiederum ist der Ausgangspunkt der zu beweisenden Wiederkunftslehre und verleiht ihrer Argumentation Stärke. Gezeigt werden sollte im Hinblick auf die erörterten Beweisversuche: wo der progressus ex nunc theoriebildende Funktion zugesprodien erhält, läßt sich die Vergangenheit nicht angemessen interpretieren; wo der regressus ex nunc die entscheidende Bedeutung gewinnt, läßt sidi auf der Ebene beweisenden Vorgehens die dem Jetzt nachfolgende Zukunft nicht in dem intendierten Sinne widerspruchslos deuten. Letzteres ist das Los der Bemühungen, Nietzsches Wiederkunftslehre theoretisdi zu begründen. Mit dem Versuch der Lösung der dritten Aufgabe, die wir uns gestellt haben, kehren wir wieder zu Nietzsdies Philosophie der Gegensätze zurück, nachdem wir zuletzt die Wiederkunftslehre aus dieser herausgenom163

Schopenhauer und Nietzsche, aaO, 250 f., Anm.

179

men und für sich betrachtet haben. Denn Becker hat seine Argumentationen durchaus nicht, wie er meint, auf der Grundlage des systematischen Ganzen von Nietzsches Denken erörtert16". Dazu wäre zumindest eine Auseinandersetzung mit Nietzsches Kritik am ,alten' Wahrheitsbegriff nötig gewesen. Demgegenüber haben wir im ersten Teil dieses Kapitels die Wiederkunftslehre als die Konsequenz des sich in seinem ,neuen' Wahrheitsverständnis findenden synthetisierenden Ubermenschen herausgearbeitet. Es ging darum zu zeigen, wie dieser Ubermensch sich mit letzter Intensität und äußerster Extensität im Zusammenhang der einzigen Wirklichkeit wollen muß. Daraus erwuchs der Gedanke der ewigen Wiederkunft in seiner für das In-der-Welt-sein des Ubermenschen konstitutiven Bedeutung. Man verfehlt diese, wenn man, wie oft genug geschehen, dabei nur vom ethischen Sinn dieses Gedankens spricht und ihn von dessen wissenschaftlichem Gehalt abhebt. Allerdings brach schließlich doch auch ein Zwiespalt im hier versuchten Bedenken von Nietzsches Ausführungen zur Wiederkunftslehre auf. Er trat zutage, als Nietzsches Bemühungen um die Beweisbarkeit der Lehre mit dem uneingeschränkten Ja-sagen zur Wiederkunft konfrontiert wurden, welches Ja jede Beweisbarkeit, als der ,alten Wahrheit' zugehörig, hinter sich zurückgelassen hat. Wenn wir weiterhin versuchen, Nietzsches Beweisführungen ernst zu nehmen, so stellt sich die Frage, ob sie — bei allen oben erörterten wissenschaftlichen Unzulänglichkeiten' — wenigstens nicht mit seinen eigenen Denkvoraussetzungen in Widerstreit geraten. Nun ist dies aber der Fall, wie die beiden folgenden Darlegungen zeigen sollen. A ) Wir erinnern uns: Nietzsches Charakterisierung des Willens zur Macht als der Letztgegebenheit darf nicht so verstanden werden, als ob wir mit ihr auf ein Einfaches, letztlich der Veränderbarkeit Entzogenes stoßen könnten. Wir sollen immer schon mehrere Willen zur Macht im Kampfe miteinander finden: insofern gibt es kein numerisch Letztes, zu dem wir hinunterkommen. In solchem Gegeneinander können aus einem Machtwillen zwei werden, wie umgekehrt auch aus zweien einer. Jedenfalls ist die ,Zahl' der Wesen selber im Fluß 167 . Nietzsche darf auch keine Grenze der Teilbarkeit der Machtwillen akzeptieren, würde er doch sonst in Positionen zurückfallen, die er gerade überwinden will. Mit der Voraussetzung einer potentiell unbegrenzten Aufsplitterung der Machtwillen läßt sich aber die Beweisbarkeit des Satzes, daß alles, was war, ist und 166

187

Dasein und Dawesen, aaO, 66.

S. S. 33.

180

sein wird, wiederkehrt, nicht mehr aufrecht erhalten. Zwar ist es nicht unmöglich, daß unter der genannten Voraussetzung Disgregationen und Aggregatzustände der Machtwillen immer wieder in der gleichen Konstellation auftreten. Die Notwendigkeit einer solchen Annahme aber hat Nietzsche in der Konsequenz seiner Lehre von der unbegrenzten Teilbarkeit der Maditwillen selber ausgeschaltet"8. B) Doch die Wiederkunftslehre widerspricht nicht nur der Lehre vom Willen zur Macht als Lehre vom Letzten, zu dem wir hinunterkommen, welches kein numerisch Letztes ist. Sie steht auch in Gegensatz zu Nietzsches Überlegungen, in denen es ihm um die Züchtung Ubermächtiger geht: also zu seinen Ausführungen im Hinblick auf die höchste Ausprägung des Machtwollens. In ihnen sucht Nietzsche aufzuzeigen, wie die Herrschaft der Starken über die Mittleren und Schwachen durch die Herstellung ungünstiger Bedingungen definitiv zu festigen ist. Durdi die Herbeiführung von schwierigen Lebensumständen, die im wesentlichen gleich bleiben, soll verhindert werden, daß die künftigen Großen sich im Ubermut von Machtkämpfen gegenseitig dezimieren, wie audi andererseits, daß sie durch Mangel an Gegnerschaft erschlaffen. Wird auf das Planen solcher Bedingungen verzichtet, so erringen die Mittleren oder die Schwachen schließlich wieder die Macht. Um der Erhaltung ihrer eigenen Herrschaft willen müssen die künftigen Starken deshalb die relative Stärke ihrer Gegner erhalten oder gar befördern.1"® Gelingen Züchtung und Planung, so kann sich der höchste Mensch voll entfalten. Dann kann er „die grösste Vielheit der Triebe haben, und audi in der relativ grössten Stärke, die sich noch ertragen lässt"170. Diese Möglichkeit einer definitiven Herrschaft der sich zu Übermenschen steigernden Starken fällt nun dahin, wenn alles Gewesene immer 168

Me

Schon Ewald hat dieses Problem gesehen. Dessen Bedeutung wird freilich in seiner weitgehend kantianisch bestimmten Interpretation nicht in der Nietzsche angemessenen Weise herausgearbeitet. Ewald schreibt: „Die Hypothese, dass in einem zählbaren Quantum die Totalität der Materie enthalten sei, setzt voraus, es müsse wenigstens physisch, objektiv nicht unmöglich sein, den Umkreis des materiell Daseienden zu durchlaufen und die Reihe numerisch fixierbar zum Abschlüsse zu bringen. Damit ist aber nodi nichts über die in der entgegengesetzten Dimension sich ergebenden Grenzwerte gesagt. Wie weit hier die unermüdlich fortgesetzte Teilung führt, wie weit sie führen kann, ob mit dem unendlich Grossen auch das unendlich Kleine der Ausschaltung verfallen ist, ob die in den beiden Richtungen unternommenen Operationen sidi demselben Erfahrungsganzen, denselben Gesetzmässigkeiten unterordnen, sind Probleme, über die nodi nichts entschieden ist. Hier liegen Anschauung und Begriff in hartnäckiger Fehde." (Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen, aaO, 2 6 ) S. S. 121 f. WzM, X V I 344.

181

wiederkehrt. Nicht daß das Kleine und Erbärmliche sich als letztlich uniiberwindbar zeigt, ist hier das .schwer Erträgliche', sondern daß die Übermenschen trotz Züchtung und Planung dodi immer wieder ihre Macht verlieren müssen, wenn die ewige Wiederkunft als die äußerste Ausprägung der ,neuen Wahrheit' ihr Recht behaupten soll. Züchtung und Planung mögen den Untergang der Starken länger hinauszögern, als dies unter den ,zufälligen Bedingungen' bisheriger Geschichte möglich sein konnte. Aber es kann sich doch dabei ebenfalls nur um eine relative Prolongation ihrer Herrsdiaft handeln. Unter diesem Aspekt fällt jede grundsätzliche Unterscheidung zwischen der Geschichte des Zufalls und der geplanten Geschichte dahin. „Das Ideal ,Affe' könnte irgendwann einmal vor der Menschheit stehen — als Ziel", schreibt Nietzsche. Gewiß wird auch ein solches „Rückwärtsgehn und Verfallen . . . seine Ideale erzeugen : und immer wird man glauben, fortzuschreitenlam Doch die Ideale Nietzsches gehen in solchem Fortschreiten gerade verloren. N u n trägt der genannte Aspekt — der unvermeidliche Verfall des Ubermenschentums — zweifellos nicht der vollen Wahrheit der Wiederkunftslehre Rechnung. Wird doch auch der Ubermensch immer wiederkehren, freilich auch immer wieder untergehen. Aber die Unvermeidlichkeit des Untergangs entbindet doch nicht von dem Anspruch, das Höchste verwirklichen zu sollen. Rechtfertigt doch schließlich nur das Erreichen des Höchsten innerhalb einer Kreisbahn deren Wiederkehr als ganze. So kann Nietzsche gar den Untergang wollen, — um der Wiederkehr willen. Er schreibt: „Man muss vergehen wollen, um wieder entstehen zu können, — von einem Tage zum anderen. Verwandlung durch hundert Seelen, — das sei dein Leben, dein Schicksal! Und dann zuletzt: diese ganze Reihe noch einmal wollen!" 1 " Die Rede von der Reihe ist aufschlußreich. Nietzsche denkt den Kreis alles Geschehens von der Reihe her, die auf etwas hinausläuft; die Reihe erfährt ihre Rechtfertigung durch den Kreis, der alles wiederbringt. Damit werden wir auf den letzten Gegensatz des Philosophierens Nietzsches verwiesen, der aus seiner Philosophie der Gegensätze erwächst. Dem Übermenschen wird ein Zwiefaches zugemutet: er soll zugleich seine höchste Ausprägung in der Reihe wie seinen Untergang in das Kreisen wollen. Noch einmal gilt es also jene Gegensätzlichkeit zum Austrag zu bringen, die uns von der Darstellung der zwiespältigen Wahrheit des Willens zur Macht an über die Ausarbeitung der zwei Grundtypen des 171 172

Nachlaß, X I V 273. Nadilaß, XII 369.

182

Übermenschen beschäftigt hat. Gelingt es Nietzsche, in der Wiederkunftslehre die bisher aufgezeigten Unvereinbarkeiten schließlich dodi noch aufzuheben? Die Schwierigkeiten der angeschnittenen Problematik werden deutlicher, wenn mit Nietzsche nach der Mitte allen Geschehens gefragt wird. Wird dieses als reiner Kreisgang gedeutet, so gibt es keine Mitte. Man kann audi sagen, wie die Tiere zu Zarathustra, die Mitte sei dann „überall"178. Auch für den synthetisierenden Ubermenschen ist — bei aller oben erörterten grundlegenden Verschiedenheit zur Auffassung der Tiere — jeder Augenblick Mitte174. Wird hingegen die Mitte jener Reihe von Ereignissen gesucht, die abgelaufen sein muß, ehe alles von neuem beginnt, so nimmt die Einverleibung der Wiederkunftslehre durch den sich damit vollendenden Ubermenschen diesen Platz ein175. So verkündet Zarathustra den großen Mittag, an dem der höhere Mensch zum Herrn wird176. „In jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt giebt es immer eine Stunde, wo erst einem, dann vielen, dann allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge: — es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags.""'' Gelegentlich ersdieint es so, als ob Nietzsche diese Bedeutung der Mitte der Geschichte zugunsten des periodischen Flusses aufgeben wollte. So notiert er: „Über heroische Grösse als einzigen Zustand der Vorbereitenden. (Streben nach dem absoluten Untergange, als Mittel, sich zu ertragen.) Wir dürfen nicht Einen Zustand wollen, sondern müssen periodische Wesen werden wollen — gleich dem Dasein."178 Andererseits aber sollen die großen Gestaltenden durch die Kraft ihres schöpferischen Willens der bisherigen Gesdiidite des Zufalls ein Ende bereiten, sie sollen der Geschichte doch allererst ein Ziel geben178. Dann wäre „der grosse Mittag" jene Stunde, „da der Mensch auf der Mitte seiner Bahn steht zwischen Thier und Übermensch und seinen Weg zum Abende als seine höchste Hoffnung feiert". Dieser Weg zum Abend führt zwar Za, V I 317. In seinem Sinne ist gedacht, wenn Nietzsdie schreibt: „Das Werden muss gerechtfertigt erscheinen in jedem Augenblick . . . es darf absolut nicht das Gegenwärtige um eines Zukünftigen willen oder das Vergangene um des Gegenwärtigen willen gerechtfertigt werden" (WzM, X V I 167). 119 In einem Entwurf Nietzsches heißt es unter dem Titel: „Die ewige Wiederkunft. Eine Prophezeiung." : „Ihr Platz in der Gesdiidite, als eine Mitte.' (WzM, X V I 394) "» Za, V I 418. 177 Nachlaß, X I I 63. 178 Nachlaß, X I V 267. 179 S. S. $2. 173 174

183

zum Untergang des Menschen, aber er ist zugleich Hinübergang zu jenem „neuen Morgen", an dem der Ubermensch zu leben beginnt.180 Die Mitte des Geschehens kann demzufolge Mehrfaches bedeuten: einmal wird sie als der erreichte Gipfel in einer Periode (Reihe) der Menschheitsgeschichte gedacht, zum zweiten als der Mittag, an dem der Mensch der Möglichkeit des Ubermenschen erst ansichtig wird, zum dritten wird jedes Geschehnis im Kreisgang zur Mitte. In den beiden ersten Fällen wird die unendliche Wiederholung von der Reihe der Ereignisse her gedacht, nur im dritten Fall dominiert der Kreisgang über jeden erreichbaren Zustand innerhalb der Reihe. Insofern die ewige Wiederkunft sowohl als Ziel der Geschichte wie auch als das alle Geschichte in sich Aufnehmende erscheint, kann man wie Löwith finden, daß mit diesem Gedanken „einmal ein neues Wozu des menschlichen Daseins über sich selbst hinaus" gelehrt werde, ein Wille zur „Selbstverewigung", wie „aber auch das genaue Gegenteil: ein ebenso selbstloses wie zielloses Kreisen der natürlichen Welt in sich selber, mitumfassend das menschliche Leben".181 „DasProblem der Wiederkunftslehre" sei „die Einheit dieses Zwiespalts zwischen dem menschlichen Willen zu einem Ziel und dem ziellosen Kreisen der Welt".182 Doch der fundamentale Widerspruch Nietzsches besteht nicht zwischen den Lehren vom Übermenschen und der ewigen Wiederkunft, wie Löwith meint. Läßt sich dodi, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, die Wiederkunftslehre als Konsequenz aus dem Ja zur Welt des synthetisierenden Ubermenschen verstehen. Nietzsches fundamentaler Widerspruch bricht in seiner Konzeption des Willens zur Macht auf, wie im Fünften Kapitel dieser Untersuchung dargetan wurde. Er führt zum Auseinandertreten der Charakteristika des Übermenschen, die sich schließlich nur in zwei in Gegensatz zueinander stehenden Typen unterbringen lassen. Deren Zwiespalt wird auch nicht in Nietzsches Ausführungen zur Wiederkunftslehre überbrückt, vielmehr wird er noch in letztere hineingetragen. Man darf also nidit, wie Löwith verfährt, die grundlegende Unvereinbarkeit an der falschen Stelle anbringen. Wenn Löwith dann des näheren vom Widerstreit des kosmischen mit dem anthropologischen Sinn der Wiederkunftslehre spricht, „so daß der eine zum Widersinn des anderen wird" 183 , dann bewegt er sich, wie auch andere Nietzsche-Interpreten, auf einer Ebene, auf der der Gegensatz 180 181 182 183

Za, V I I i 5 . Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleidien, aaO, 64. A a O , 66 \ vgl. 88 ff. A a O , 64.

184

zwischen welthafter .Wahrheit' der Lehre und praktischem Postulat aufgerichtet werden kann184. Er zitiert Nietzsches Satz: „Meine Lehre sagt: so leben, dass du wünschen musst, wieder zu leben, ist die Aufgabe — du wirst es jedenfalls!"" 5 Dabei bedeutet für ihn der Gedankenstrich „in Wirklichkeit einen Bruch im Gedanken"188. Ist aber die ewige Wiederkunft die ,neue Wahrheit', die Nietzsche zu verkünden hat, so muß man den Satz von seinem zweiten Teil her verstehen. Diese Wahrheit besagt, daß über alles Wünschen hinaus die Wiederkunft das In-der-Welt-sein des höchsten Menschen konstituiert. Die Aufgabe, von der im ersten Teil des Satzes die Rede ist, nennt dann das, was es anzustreben gilt, wenn man sich auf den Weg macht, dessen Ziel das unüberbietbare .Wissen' bildet, welches im Ja zu allem, was ist, war und sein wird, zum Ausdruck gelangt. Der vermeintliche Brudi ist dann ein Übergang. Die Aufforderung, die bis zum Gedankenstrich ausgesprochen wird, hat Nietzsche freilich schon überholt durch die Wahrheit, daß alles wiederkehrt. Diese Wahrheit hat keinen bloß kosmischen Sinn, sie soll ursprünglicher die Einheit des In-der-Welt-seins des Übermenschen zum Ausdruck bringen. Kosmologie wie Ethik können von dieser Einheit aus nur abgeleitete Bestimmungen darstellen. Nietzsche hat das Ursprüngliche, das er intendierte, freilich nicht selten verdunkelt, so durch seine Beweisversuche. Damit rückt die vierte Aufgabe, die wir uns gestellt haben, ins Blickfeld: die Frage nach der Bedeutung seiner Beweise für die Wiederkunftslehre. Wir können uns hier kurz fassen. Wenn Nietzsche ausführt, daß die Welt einen Endzustand bereits erreicht haben müßte, wäre ein solcher überhaupt möglich, und seine Theorie durch die oben in der Auseinandersetzung mit Becker genannten Begründungen zu untermauern sucht, so darf dem keine Eigenständigkeit zugesprochen werden. Zwar heißt es in solchem Zusammenhang: „Das ist unsre einzige Gewissheit, die wir in den Händen halten, um als Correktiv gegen eine grosse Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen."187 Aber vor dieser (als Theorie fragwürdigen) Gewißheit im Sinne der ,alten Wahrheit' liegt, sie allererst fundierend, das Ja des Ubermenschen, das dieser zu sich und der Welt auf extensivste und intensivste Weise sagt. Jede Erklärung der Wiederkunft — auch die Nietzsches selber — kommt zu spät, um die aus dem A a O , 90 ff. Nachlaß, X I I 64, vgl. 64 f. ιββ Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, aaO, 91. 187 WzM, XVI400. 184 185

185

In-der-Welt-sein des Ubermenschen geforderte Einstimmigkeit im Sinne der .neuen Wahrheit' erreichen zu können. Wir dürfen Nietzsches Rückgriffen auf die ,alte Wahrheit' letztlich nur prohibitiven Charakter zugestehen, wobei freilich bezweifelt werden muß, ob er sie selbst so aufgefaßt hat. Ist es nicht nur zu verständlich, daß er gegenüber den anderen ,Welt-Hypothesen' die Wiederkunftslehre ins Spiel bringt? So wendet er sich im Zusammenhang der zuletzt zitierten Niederschrift gegen W. Thomson, der aus dem Medianismus die Konsequenz eines Finalzustandes gezogen hat. Er kann die ,alte Wahrheit', deren Ausdruck er in der Naturwissenschaft seiner Zeit auf mannigfache Weise vorfand, nicht als Wahrheit gelten lassen. Um jene zu bekämpfen, begibt er sich auf deren eigenes Gebiet. Dabei verfällt er selbst der »alten Wahrheit'. Das geschieht freilich in der Erwartung, daß diese sich in ihren die Wiederkunft bestreitenden Hypothesen als unhaltbar erweisen muß. Um solche Unhaltbarkeit darzutun, trägt er die Wiederkunftslehre selber als Theorie vor, womit er freilich den wahren Sinn der Lehre nicht nur verkürzt, sondern verkehrt. Wir haben oben ausgeführt, daß die Errichtung des Gegensatzes zwischen einem kosmischen und einem anthropologischen oder ethischen Sinn der Wiederkunftslehre unzulänglich bleibt. Die beiden Bestimmungen müssen in die Einheit des In-der-Welt-seins des Ubermenschen zurückgenommen werden. Nun erfährt jedoch diese Einheit eine zwiespältige Darstellung durch Nietzsche, wie in der Erörterung der Mitte allen Gesdiehens deutlich wurde. Soll der Übermensch zum periodischen Wesen werden, für das jeder Augenblick die Mitte des Geschehens bildet, oder stellt er den Höhepunkt einer Entwicklungsreihe dar, die sich wiederholen soll? Hat die Reihe den Primat vor dem Kreisgang, oder verschlingt der Kreisgang die Reihe? Mit solchen Fragen kommt noch einmal die Problematik der beiden Typen des Übermenschen hinsichtlich ihres unvereinbaren In-der-Weltseins zum Vorschein. Der synthetisierende Übermensch bejaht alles, was war, ist und sein wird, einschließlich seiner selbst, in gleichem Maße188. Er fügt sich in seinem Jasagen dem Gang der Geschehnisse ein. Er will alles so wieder, wie es unzählige Male schon war, und zwar nicht nur um seinetwillen, sondern um aller Dinge willen18'. Auch der Wiederkunfts188 18

S. S. 128 f. ° S. S. 140 f.

186

gedanke, wie er sich in diesem Übermenschen repräsentiert, springt nicht aus der Geschlossenheit heraus, in der sich der Kreislauf damit darbietet. Nietzsche schreibt: „Es ist alles wiedergekommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in dieser Stunde und dieser dein Gedanke, dass alles wiederkommt." Die Aufzeichnung, an deren Ende dieser Satz steht, beginnt bezeichnenderweise mit der Aufforderung: „Hüten wir uns zu glauben, dass das All eine Tendenz habe, gewisse Formen zu erreichen, dass es schöner, vollkommener, complicirter werden wolle!" 1 ' 0 Demgegenüber will der herrschende Übermensch sich als den Gipfelpunkt einer Reihe. Sein Ziel ist der Ausbau seiner Herrschaft, nur um ihretwillen bejaht er seine Gegner. Für ihn zählt der Augenblick der Selbstverwirklichung: um seinetwillen bejaht er, was war und ist. So wird Nietzsche diesem Typus gerecht, wenn er schreibt: „Unsterblich ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunft zeugte. Um dieses Augenblickes willen ertrage idi die Wiederkunft."191 Für den Typus des Herrschers hat freilich die Wiederkunft einen anderen Sinn als für den Weisen. Man kann schließlich fragen, ob die machtvoll Herrschenden sie überhaupt wollen müssen, wenn man einmal davon absieht, daß sie eine brauchbare Waffe im Kampf gegen die Schwächeren abgibt: können die Herrschenden dodi nach Nietzsches Uberzeugung die Bedingungen für den Erhalt ihrer Herrschaft schaffen. Doch mit der Wiederkunft wird diese Herrschaft nicht nur erhalten, sondern festgestellt, und zwar ein für allemal. Das aber bedeutet im Hinblick auf die völlige Gleichheit des Ablaufs der Perioden: „es giebt kein .zweites Mal' " ,9ä . Ist doch vor allem Werden immer schon entschieden, was sein wird. Deutlich ist, wie hier die Reihe den Kreis bestimmt. So kann Nietzsche in dieser Auslegung des Wiederkunftsgedankens sogar „die Erlösung vom ewigen Flusse" lehren: „der Fluss fliesst immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluss, als die Gleichen."193 Für den Herrschenden gilt: „Dem Werden den "» Nachlaß, X I I 61 f. m Nachlaß, X I I 371. 192 Nachlaß, X I I I 6z. 193 Nachlaß, X I I 369. — Die im Ersten Kapitel (oben S. 11 f.) herausgestellte These Nietzsches, es gebe nichts Gleidies, gilt nur für die Vorgänge innerhalb einer Reihe. Vgl. dazu Nachlaß, X I I 51 f.: „Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleidies dagewesen ist, ist ganz unerweislich.Es scheint, dass die Gesammtlage bis in's Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so dass zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, zum Beispiel zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, dass sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, dass bis in alle Ewig187

Charakter des Seins aufzuprägen — das ist der höchste Wille zur Macht . . . Dass Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des SeinsalM. Sein (Beständigkeit) und Werden gelangen in Nietzsches Wiederkunftslehre in ihre äußerste Nähe. Doch was dabei sogar ineinander überzugehen tendiert, bleibt am Ende voneinander geschieden. Schließlich finden wir nodi immer den Gegensatz zweier Möglichkeiten, der sich nun auch so ausdrücken läßt: Entweder sucht die Unendlichkeit die Endlichkeit aufzusaugen. Oder die Unendlichkeit hat keine andere Funktion als die der definitiven Fixierung der Endlichkeit. Diese Differenz zeigt sich angesichts des unterschiedlich gearteten Inder-Welt-seins der beiden Typen des Übermenschen besonders deutlich. Zwar wird dieses in beiden Fällen durch das Jasagen zu allem, was ist, war und sein wird, konstituiert. Dodi hat das J a jeweils eine andere Bedeutung. Dem einen Typus geht es darum, im Strome des Werdens, sidi und alles andere uneingeschränkt immer wieder begehrend, aufzugehen. Er ist der Mächtige, insofern er dem Wedisel entspricht und in solcher Entsprechung über jede fixierbare Besonderung des Wollens hinaus ist. Der andere sucht seine Herrschaft im Wollen der Wiederkehr für alle Zeiten zu befestigen. In solcher Befestigung, der Verewigung seiner Herrschaft, wird er zum Mächtigen. Obwohl beide Typen des Übermenschen die Wiederkehr wollen, wollen sie doch in ihr und durch sie Verschiedenes. Da die Wiederkehr jedoch nur als Gedanke und Lehre ist, so bleibt ihr Sinn auf unüberbrückbare Weise in eine Zweiheit gespalten. Wo die Widersprüchlichkeit der Gedankengänge Nietzsches am Ende überwunden zu sein scheint, bricht letztlich wieder jene Kluft auf, auf die wir in dieser Untersuchung bei allen seinen wesentlichen Ausführungen gestoßen sind.

194

keit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften — eine unmögliche Annahme!" — Auch Nietzsches Rede vom Obermenschen als dem Vernichtenden (s. oben zuletzt S. 158 ff.) erhält nur Sinn im Falle der Prärogative der Reihe gegenüber dem Kreislauf. WzM, X V I 101.

188

Siglen der zitierten Nietzsche-Texte

Die in der Arbeit nach den Siglen ohne weitere Kennzeichnung stehenden Angaben von Band- und Seitenzahlen beziehen sich, wenn keine andere Ausgabe genannt wird, auf die Groß-Oktav-Ausgabe. — Die für die Nietzsche-Ausgaben verwendeten Siglen sind im Quellenverzeichnis zu finden. HL

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ( = Zweite Unzeitgemäße Betrachtung)

SE

Schopenhauer als Erzieher ( = Dritte Unzeitgemäße Betrachtung)

MA I

Menschliches, Allzumenschliches, Erster Band

M A II (VM)

Menschliches, Allzumenschliches, Zweiter Band, Erste Abteilung: Ver-

Ma II (WS)

Menschliches, Allzumenschliches, Zweiter Band, Zweite Abteilung:

mischte Meinungen und Sprüche Der Wanderer und sein Schatten M

Morgenröte

FW

Die fröhliche Wissenschaft

Za

Also sprach Zarathustra

JGB

Jenseits von Gut und Böse

GM

Zur Genealogie der Moral

WA

Der Fall Wagner

GD

Götzendämmerung

NW

Nietzsche contra Wagner

AC

Der Antichrist

EH Nachlaß

Ecce homo Die nachgelassenen Schriften, Fragmente, Entwürfe etc. werden generell als „Nachlaß" zitiert; dieser Angabe wird eine zeitliche Spezifizierung beigegeben, sofern aus der neuen Kritischen Gesamtausgabe ( K A W ) zitiert wird. — Die von Nietzsche zurückgehaltene Schrift ,Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn' von 1873 wird mit vollem Titel zitiert; an einigen wenigen Stellen wird zusätzlich zu der Sigle „Nachlaß" ein Titel genannt (z. B. ,Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen'). — Für diejenigen Nachlaßfragmente, die in die Kompilation von Nietzsches vorgeblichem ,Hauptwerk' ,Der Wille zur Macht' aufgenommen wurden, wurde eine eigene Sigle gewählt. Diese Heraushebung bedeutet nicht Zustimmung zu der Kompilation, trägt aber ihrer geschichtlichen Wirksamkeit Rechnung.

Nachlaß (1878)

WzM

189

Verzeichnis der zitierten Schriften

I

Qttellenverzeidmis

GA

Nietzsche's Werke („Groß-Oktav-Ausgabe"), hrsg. vom Nietzsche-Archiv, X I X Bände in drei Abteilungen mit einem Registerband, Leipzig 1894— 1912. Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe, 5 Bände, Leipzig 1905 ff. Friedrich Nietzsche, Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke, 5 Bände, München (Beck) 1933 ff. (unvollständig, Erscheinen eingestellt). Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von G . Colli und M . Montinari, ca. 30 Bände in acht Abteilungen, Berlin 1967 ff. (bisher erschienen: I V 1 — 4 , V I 1 — 3 , V I I I 2).

Ges. Br. BAW

KAW

II

Literaturverzeichnis

Andler, Charles, Nietzsche. Sa vie et sa pensée, 6 Bände, Paris 1920 ff. Andreas-Salomé, Lou, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Wien 1894. Baeumler, Alfred, Zur Einführung, in: Fr. Nietzsche, Die Unschuld des Werdens. Der Nadilaß, 2 Bände (Kröners Taschenausgabe 82 und 83), Erster Band, Stuttgart 1956, IX-XXXVI. Baeumler, Alfred, Nietzsche, der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931. Becker, Oskar, Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft, in: Blätter für Deutsche Philosophie I X , 1936, 368-387; zitiert nach dem Wiederabdruck in: Oskar Becker, Dasein und Dawesen. Ges. phil. Aufsätze, Pfullingen 1963,

41—66. Benn, Gottfried, Nach dem Nihilismus, in: Ges. Werke in vier Bänden, hrsg. von D . Wellershoff, Erster Band, Wiesbaden 19J9, i j i — 1 6 1 . Benz, Ernst, Nietzsches Ideen zur Gesdiichte des Christentums, in Zeitschrift für Kirchengeschichte 56,1937, 1 6 9 — 3 1 3 ; zitiert nach dem Sonderdruck: Stuttgart 1938. Benz, Ernst, Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums und der Kirche (Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Beiheft 3), Leiden 1956. Bertram, Ernst, Nietzsche, Versuch einer Mythologie, Berlin 1919 8 . Biser, Eugen, G o t t ist tot. Nietzsches Destruktion des christlichen Bewußtseins, München 1962. Bröcker, Walter, Nietzsche und der europäische Nihilismus, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 3, 1949, 161—177. Bourget, Paul, Essais de psychologie contemporaine, 2 Bände, Paris 1887 5 .

190

Camus, Albert, L'Homme révolté, Paris 1 9 5 1 ; deutsch: Der Mensch in der Revolte, Hamburg 1953. Camus, Albert, Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942. Deussen, Paul, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901. Didcopp, Karl-Heinz, Nietzsches Kritik des Ich-denke (Phil. Diss., Bonn 1965), Bonn Düringer, Adelbert, Nietzsches Philosophie und das heutige Christentum, Leipzig 1907. Ewald, Oskar, Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen. Die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Sinn des Übermenschen, Berlin 1903. Fink, Eugen, Nietzsches Philosophie (Urban-Bücher 45), Stuttgart i960. Foerster-Nietzsche, Elisabeth, Das Leben Friedrich Nietzsches („Große Biographie"), 2 Bände in 3 Büchern, Leipzig 1895 (Band 1), 1897 (Band 2, 1), 1904 (Band 2, 2). Grau, Gerd-Günther, Christlicher Glaube und intellektuelle Redlichkeit. Eine religionsphilosophische Studie über Nietzsdie, Frankfurt/Main 1958. Grützmacher, Richard Heinrich, Nietzsche, Leipzig 1917 a . Häuptner, Gerhard, Die Gesdiichtsansicht des jungen Nietzsche, Stuttgart 1936. Hanel, Alfred, Fr. Nietzsche und sein Verhältnis zum Relativismus (Phil. Diss. Jena 1923), Jena 1923. Heftrich, Eckhard, Nietzsches Philosophie. Identität von Welt und Nichts, Frankfurt/ Main 1962. Heidegger, Martin, Ober den Humanismus, Frankfurt/Main 1947. Heidegger, Martin, Nietzsche, 2 Bände, Pfullingen 1961. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1953'. Hillebrand, Karl, Ueber historisches Wissen und historischen Sinn, in: Zeiten, Völker, Menschen. Zweiter Band: Wälsches und Deutsches, Straßburg 1892 s , 314—338. Homelier, Ernst, Vorträge über Nietzsche. Versuch einer Wiedergabe seiner Gedanken, Berlin 19048. Jaspers, Karl, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin

1946s.

Jaspers, Karl, Nietzsche und das Christentum, München 19 5 z 2 . Klages, Ludwig, Die psychologischen Errungenschaften Fr. Nietzsches, Leipzig 1926. Landmann, Michael, Geist und Leben. Varia Nietzscheana, Bonn 19 j 1. Löwith, Karl, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Marx und Kierkegaard, Stuttgart 195o 2 . Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956*. Lukács, Georg, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954. Minssen, Hans Friedrich, Die französische Kritik und Dostojewski (Hamburger Studien zu Volkstum und Kultur der Romanen, Band 13), Hamburg 1933. Mittasch, Alwin, Friedrich Nietzsches Naturbeflissenheit (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, mathematisch-naturwissenschaftliche Klasse, 1950/52), Heidelberg 1950. Montinari, Mazzino, Das Leben Fr. Nietzsches in den Jahren 1875—1879. Chronik, in: KAW, IV/4 7—90. Müller-Lauter, Wolfgang, Metaphysik und Wissenschaft in Nietzsches Aufklärungsphilosophie, in: Theologia Viatorum I X , Berlin 1964, 156—174. Müller-Lauter, Wolfgang, Thesen zum Begriff des Absurden bei Albert Camus, in: Theologia Viatorum VIII, Berlin 1962, 203—215. Nohl, Hermann, Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspektivismus: G. Teichmüller, die wirkliche und die scheinbare Welt, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 149, 1913, 106—115. 191

Obenauer, Karl Justus, Friedrich Nietzsche. Der ekstatische Nihilist. Eine Studie zur Krise des religiösen Bewußtseins, Jena 1924. Platz, Hermann, Nietzsche und Bourget, in: Neuphilologische Monatsschrift 8, 1937, 177—186.

Podach, Erich F., Gestalten um Nietzsche. Mit unveröffentlichten Dokumenten zur Geschichte seines Lebens und seines Werkes, Weimar 1932. Reinhardt, Karl, Nietzsche und die Geschichte, in: Vermächtnis der Antike. Ges. Essays zur Philosophie und Geschichtssdireibung, hrsg. von C. Becker, Göttingen i960, 296—309.

Richter, Raoul, Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk, Leipzig 1903. Riehl, Alois, Fr. Nietzsche. Der Künstler und der Denker, Stuttgart 1923e. Rittelmeyer, Friedrich, Fr. Nietzsche und die Religion, München 19203. Salin, Edgar, J. Burckhardt und Nietzsche, Heidelberg 19482. Schlechta, Karl, Philologischer Nachbericht, in: Fr. Nietzsche, Werke in drei Bänden, München o. J . (19J4 ff.), I I I 1381—1432.

Schlechta, Karl, Nachwort, in: Fr. Nietzsche, Werke in drei Bänden, Mündben o. J. (1954 ff.), III 1433—14J2; Wiederabdruck »inter dem Titel: Das Werk und seine Intention, in: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge, München 19J92, ij—43. Schlechta, Karl, Nietzsdies Verhältnis zur Historie, in: Der Fall Nietzsche. Aufsätze und Vorträge, München 19592,44—72. Schlechta, Karl, und Anders, Anni, Fr. Nietzsche. Von den verborgenen Anfängen seines Philosophierens, Stuttgart — Bad Cannstadt 1962. Schlegel, Friedrich, Prosaische Jugendschriften II, ed. Minor, Wien 1906*. Schmidt, Hermann Josef, Nietzsche und Sokrates. Philosophische Untersuchungen zu Nietzsches Sokratesbild (Monographien zur phil. Forschung, Band 59), Meisenheim 1969.

Schopenhauer, Arthur, Parerga und Paralipomena, 2. Band (WW ed. A. Hübscher, Band 6), Leipzig 1939. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Band (WW ed. A. Hübscher, Band 2), Leipzig 1938. Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche, Leipzig 1907. Stender-Petersen, Adolf, Geschichte der russischen Literatur, Band II, München 1957. Ulmer, Karl, Nietzsche. Einheit und Sinn seines Werks, Bern und München 1962. Vaihinger, Hans, Nietzsche als Philosoph, Berlin 19164. Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als O b . . . Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche, Leipzig 19204. Weizsäcker, Carl Friedrich von, Die Geschichte der Natur (Kleine Vandenhoeck-Reihe i/ia), Göttingen 19625. Windelband, Wilhelm, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hrsg. von H. Heimsoeth, Tübingen 1957".

Wolff, Hans M., Friedrich Nietzsche. Der Weg zum Nichts (Sammlung Dalp 83), Bern I9j6.

Ziegler, Theobald, Friedrich Nietzsche, Berlin 1900.

192

Namenregister Das Register führt alle im Text genannten Personen-Namen auf, mit Ausnahme von Personen aus Sage und Dichtung, von Personen, die in Titeln von zitierten Werken erscheinen, und von Personen, die lediglich als Herausgeber genannt werden, ι f. bedeutet, daß der Name auf den Seiten ι und 2, 1—3, daß er auf den Seiten i , 2 und 3, ι A , daß er in einer Anmerkung auf Seite 1 zu finden ist (die zuletzt genannte Angabe entfällt, wenn der Name audi im Text der Seite 1 erscheint).

Anaximander 84 A Anders, Anni 33 A , 36 A Andler, Charles 67, i 6 j Andreas-Salomé, Lou 4 f. Aristoteles 23, 31, 173 Augustinus 92

Darwin, Charles 30, 78, 130A, 1 3 1 A Descartes, René 20, 83 A Deussen, Paul 2 A Dickopp, Karl-Heinz 20 A Dostoevskij, Fjodor M. 66, 67 A , 87 A , 90 Diihring, Eugen 173 Düringer, Adelbert 130 A , 131 A

Baader, Franz von 68 Bacon, Francis 82, 126 Baer, Karl Ernst von 33 A Baeumler, Alfred 2 f., 136, 145 A Becker, Oskar 164 f., 167—170, 172—174, 177—180, 185 Benn, Gottfried 66 A Benz, Ernst 66 A , 87 A Bertram, Ernst 4 f., 6j A , 136 A Biser, Eugen 76 A Bismarck, Otto von 10 Boscovich, Roger Joseph 176 A Bourget, Paul 67 f. Bröcker, Walter 1 A Brutus 49 Buddha 88 f.

Empedokles 49 A , 173 Epikur 82 Ewald, Oskar 136, 1 8 1 A

Burckhardt, Jakob 44 A , 83 A , 93 A

Calvin, Jean 93 Camus, Albert 1 1 1 A , 112 A Carlyle, Thomas 82 Colli, Giorgio 6j A Comte, Auguste 82

Fichte, Immanuel Hermann 68 Fichte, Johann Gottlieb 66 A Fink, Eugen 7, 76 A , 77 A , 1 3 1 A Flaubert, Gustave 83 A Förster-Nietzsche, Elisabeth 27, 28 A Franz von Assisi 90 A Gast, Peter (Pseudonym für: Heinrich Köselitz) 27, 28 A , 83 A , 93 A , 161, 17$, 176 A Gautier, Théophile 83 A Gavarni (Pseudonym für: Sulpice Paul Chevalier) 83 A Gide, André 66 A Goethe, Johann Wolfgang von 10,4j, 49 A Goncourt, Edmont Huot de und Jules H u o t d e 83 A Grau, Gerd-Günther 83 A , 9 1 A Grützmacher, Richard Heinrich 2 A, 1 3 1 A

193

Haeckel, Ernst 130 Λ Händel, Georg Friedrich 10 Häuptner, Gerhard 53 Λ Hanel, Alfred 102 A Hartmann, Eduard von $2 Heftrich, Eckhard 144 A Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 16, 23 A, 52 A, j8 A, 66 A Heidegger, Martin 1 A , 4, 1 1 A , 30—32, 1 0 2 Ϊ . Α , 103 A, 109, 127, 133 A, 136 f., 142A,

1 4 4 , I 4 J A , IJ8, 1 6 2 A ,

163—

166 Heimsoeth, Heinz 2 A Heraklit 3 3 A , 49 A Herzen, Alexander I. 66 Hillebrand, Karl 38 A Hölzer, Ernst 27 A Horneffer, August 27, 28 A Horneifer, Ernst 27, 28 A Jacobi, Friedrich Heinrich 66 A, ¿8 Janssen, Johannes 93 A Jaspers, Karl 1 A , 3, 87 A, 9 1 A , 116, 132, 133A, 153A Jesus von Nazareth 49, 85—92, 124 A, 133A

Napoleon $4 Nohl, Herman 20 A Obenauer, Karl Justus 133 A Parmenides 173 Pascal, Blaise 49 A, 83 Paulus 92, 142 Plato 49, 50A, 82—85, 173 Platz, Hermann 67 A Podadi, Erich F. 176 A Pyrrho 82 Reinhardt, Karl 58 A Renan, Ernest 83 A Rey, Abel 165 Richter, Raoul 1 3 1 A Riehl, Alois 2 A, j8 A Rittelmeyer, Friedrich 91 A Rohde, Erwin 36 A, 83 A Rousseau, Jean Jacques 93 A

Landmann, Michael ; Leibniz, Gottfried Wilhelm 10, 32 f., 50 A Leopardi, Giacomo 82 Löwith, Karl 2 A, 6 f., 1 3 1 A, 136, 184 Lukács, Georg 3 Luther, Martin 93

Saint-Beuve, Charles Augustin de 83 A Salin, Edgar 44 A Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 66 A Schérer, Edmonde 83 A Schledita, Karl 28 A, 33 A, 36 A, 44 A, 6iA, 172 Schlegel, Friedrich von 1 Schmidt, Hermann Josef 84 A Schopenhauer, Arthur 15, 23, 27—29, 4 3 A , j i A, 68 A, 75, 82, 83A, 84A, i o j , 146, 173 Sestov, Leo 66 A, 67 A Shakespeare, William 126 Simmel, Georg 3, 129 A, 162 A, 178 f. Sokrates 1 A, 68, 82—84 Spencer, Herbert 82 Spinoza, Benedictus de 49, 170 Spir, Afrikan 20 A Stender-Petersen, Adolf 66 A Suarés, André 66 A

Markus 92 Mayer, Robert 176 A Mereskovskij, Dimitrij S. 66 A Minssen, Hans Friedrich 66 A Mirabeau, Honoré Gabriel 49 Mittasch, Alwin 17 j A Mommsen, Theodor 40 Montinari, Mazzino 27, 67 A, 68 A Mohammed 49

Taine, Hyppolite 83 A Teichmüller, Georg 20 A Tertullian 92 Thaïes 84 A Thomas von Aquin 92 Thomson, William 186 Tolstoj, Leo N. 66 A, 83, 87 A Tschizevskij, Dimitrij 67 A Turgenev, Ivan S. 66, 83 A

Kant, Immanuel 50 A, 82—84, 97, 173 f., 181A Kierkegaard, Seren 153 A Klages, Ludwig 1 A , 74 A Kleist, Heinrich von 84 A Koegel, Fritz 36 A Köselitz, Heinrich s. Gast, Peter Kropotkin, Peter 67

194

Ulmer, Karl 132 A

Vigny, Alfred Comte de 82 Vogt, Johannes Gustav 1 7 3 , 1 7 7

Weisse, Christian Hermann £8 Weizsäcker, Carl Friedrich von 174—176 Wilhelm II. 28 A Windelband, Wilhelm 2 A Wolff, Hans M. 1 3 1 A Würzbach, Friedrich 67 A

Wagner, Richard 67 A, 83 Weiß, Otto 67 A

Zarathustra 49 Ziegler, Theobald 130 A, 1 3 1 A

Vaihinger, Hans 2 f., 131 A, 133 A

195