Die Zeit des Willens und das Ende der Metaphysik: Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und Schelling 9783110694253, 9783110694116

From 1936 to 1940, Heidegger took on Nietzsche’s philosophy in a number of Freiburg lectures. This study examines Heideg

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German Pages 838 Year 2020

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung und Erkenntnisinteresse
1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption (1936– 1953)
1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37)
1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst
1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus: Heideggers Auslegung des Rausches und des großen Stils in der ersten Nietzsche-Vorlesung (1936/37)
1.4 Die Umdrehung des Platonismus: Der „Entsetzen erregende Zwiespalt“ und die Verhältnisbestimmungen von Kunst und Wahrheit in der Politeia und im Phaidros
1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit. Die Herausdrehung aus dem Platonismus
1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises: Die ewige Wiederkehr als Intensivierung der persönlichen Zeiterfahrung und als Selbstaufhebung des Nihilismus
1.7 Die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche
1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939)
1.9 Der europäische Nihilismus (1940)
1.10 Der Wille und die Zeit: Die ewige Wiederkehr als „vergeistigte Form der Rache“ an der Vergänglichkeit in Heideggers Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953)
2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs in den Schelling-Vorlesungen von 1936 und 1941
3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins: Versuch einer Systematisierung, Charakterisierung und Beurteilung der Willenstheorie Heideggers
Schlusswort: Die Wandlung der fünf Grundworte
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Die Zeit des Willens und das Ende der Metaphysik: Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und Schelling
 9783110694253, 9783110694116

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Jan Kerkmann Die Zeit des Willens und das Ende der Metaphysik

Quellen und Studien zur Philosophie

Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler und Michael Quante

Band 142

Jan Kerkmann

Die Zeit des Willens und das Ende der Metaphysik Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und Schelling

ISBN 978-3-11-069411-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069425-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069430-7 ISSN 0344-8142 Library of Congress Control Number: 2020933824 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort

XI

Einleitung und Erkenntnisinteresse

1

. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche39 Rezeption (1936 – 1953) . Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der 39 Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) .. Problemaufriss und Exposition der vier Relationsmodelle 39 .. Das erste Modell: Die ewige Wiederkehr als Sinn des Seins und der Wille zur Macht als Sein des Seienden 48 .. Das zweite Modell: Der Wille zur Macht als Werden und die ewige Wiederkehr als Garant des Seins (im Sinne der 52 Beständigkeit) .. Das dritte Modell: Der Wille zur Macht als Sein und die ewige 61 Wiederkehr als Zeit .. Das vierte Modell: Der Wille zur Macht als Verfassung (essentia) und die ewige Wiederkehr als Seinsweise (existentia) des Seienden 81 . Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in der Vorlesung 92 Der Wille zur Macht als Kunst .. Die Abgrenzung des Willens von den tradierten Kennzeichnungen 92 als Seelenvermögen und Streben .. Zur Etablierung des Willens zur Macht als Grund des gestimmtaffektiven Weltbezuges 103 .. Die Profilierung des Willensidealismus und die Eingliederung der 113 Vorstellung in den Willen .. Resümee der ersten Auslegung des Willens zur Macht 117 . Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus: Heideggers Auslegung des Rausches und des großen Stils in der ersten 120 Nietzsche-Vorlesung (1936/37) .. Die fünf Sätze über die Kunst 120 .. Der Rausch als ästhetischer Grundzustand und die Bestimmung der Leiblichkeit 134 .. Die Interesselosigkeit und die Verehrungswürdigkeit als Charakteristika des Schönen 142 .. Die Beziehung zwischen dem Rausch und der Form 152

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Inhalt

Der große Stil als Vereinigungsinstanz von Chaos und Gesetzgebung sowie von Werden und Sein 160 Die Umdrehung des Platonismus: Der „Entsetzen erregende Zwiespalt“ und die Verhältnisbestimmungen von Kunst und Wahrheit in der Politeia und im Phaidros 178 Die Kunst als Grundgeschehen des Seienden und die 178 Notwendigkeit einer neuen Zielsetzung Die Geschichtlichkeit des Wahrheitswesens: Der Platonismus und 181 der Positivismus als maßgebliche Erkenntnisparadigmen „Das Leben im Schein als Ziel“: Nietzsches frühe Kennzeichnung seiner Philosophie und der kooperative Einklang von Wahrheit 185 und Kunst als vorläufiges Ergebnis der Umdrehung Zu den leitenden Prämissen in Heideggers Rückgang auf die beiden platonischen Urgestalten der Konstellation von Wahrheit und Kunst 192 Der qualitative Rangabstand von Wahrheit und Kunst in Platons 204 Politeia: Die Kunst als „dritte Erzeugung“ Der „beglückende Zwiespalt“ in Platons Phaidros: Der Einklang von Wahrheit und Schönheit im Offenbarmachen des Seins 213 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit. Die 223 Herausdrehung aus dem Platonismus Die Niedergangserzählung der Zwei-Welten-Dichotomie: Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde 223 Heideggers „Kritischer Exkurs“: Die Herausdrehung als Verfestigung des Platonismus? 237 Der Perspektivismus und die Vervielfältigung der Formen des 243 Scheins im Bereich des Organischen Die endgültige Konfiguration des Entsetzen erregenden Zwiespalts: Der Antagonismus von festmachender Wahrheit und verklärender Kunst innerhalb der perspektivischen Realität 259 Die Ursprungsrekonstruktion des Gedankens der ewigen Wiederkehr und die Duplizität des „perspektivischen 267 Scheinens“

Inhalt

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Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises: Die ewige Wiederkehr als Intensivierung der persönlichen Zeiterfahrung und als Selbstaufhebung des Nihilismus 277 Allgemeines zur ewigen Wiederkehr des Gleichen und zum Themenschwerpunkt der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 277 Die Notwendigkeit der Wiederkehr: Raum, unendliche Zeit und 280 endliche Kraft als Koordinaten des Beweisganges Der Wiederkunftsgedanke in Heideggers Besprechung der Entwürfe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1881 – 1888 290 Selbstsein und kairologische Theophanie: Heideggers Auslegung der Mitteilungen aus der Fröhlichen Wissenschaft und aus Jenseits 301 von Gut und Böse Der nihilistische Abgrund des „Alles ist gleich“: Vom Gesicht und 310 Rätsel und Der Genesende Die Eröffnung des individuellen Freiheitshorizontes im Glauben an 323 die ewige Wiederkehr des Gleichen Die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche 331 Die Hypostasierung des Willens zur Macht zu Nietzsches „einzigem Gedanken“ und zum Vollendungsprinzip der 332 Neuzeit Die Bestimmung der Wahrheit als Illusion 351 Das „Festhalten einer Ansicht“ als Wesen der Erkenntnis in Heraklits Fragment 28 und die Genealogie des Bildbegriffs 355 Heideggers Diskussion der Aufzeichnung Nr. 507: Die Wertschätzung als Wesen der Wahrheit und das Verhältnis von 359 Glauben und Urteil Das Chaos des Werdens und die kategoriale Horizontbildung 380 394 Der Satz vom Widerspruch als Imperativ Die Freilegung der Lebenstätigkeit als Grund für die Auflösung des platonischen Sein-Schein-Dualismus und die Krisis der Korrespondenzwahrheit 402 Die bauend-ausscheidend-vernichtende Gerechtigkeit als letzte Gestalt des innermetaphysischen Wahrheitswesens 414

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Inhalt

Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) 419 Die äußerste Bestätigung des metaphysischen Leitentwurfs in der 419 „Lebendigkeit des Lebens“ Das Kriterium der „Beständigung“ als gemeinsamer Wesenszug des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen 429 inmitten des „Sichwiederholens des Identischen“ Nietzsches Verschärfung und Verschüttung der Differenz von 434 Essenz und Existenz Die „reine Selbigkeit“ der beiden Hauptlehren auf dem Grunde der Physis und der metaphysische Wettbewerb zwischen dem 439 Sein und dem Werden Die Maßlosigkeit und das Zeitalter der „vollendeten Sinnlosigkeit“ 442 447 Der europäische Nihilismus (1940) Die Erosion der kosmologischen Werte 447 Der Nihilismus als innere Logik der abendländischen 456 Geschichte Die Umwertung der Werte als Akzeptanz einer neuen Setzungsquelle 461 Vom unvollständigen zum ekstatischen Nihilismus: Heideggers 466 Entfaltung der Erscheinungsformen Die „hyperbolische Naivität“ und die Angewiesenheit des Willens zur Macht auf die Wertsetzung 474 Der Wille und die Zeit: Die ewige Wiederkehr als „vergeistigte Form der Rache“ an der Vergänglichkeit in Heideggers Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) 490 Zur Einordnung des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? in das Gefüge der Heideggerschen Auseinandersetzung mit 490 Nietzsche Zarathustra als Fürsprecher und Lehrer des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft 492 496 Heideggers späte Wesensbestimmung des Übermenschen Die Bedeutung des Überganges und die Versammlung von „Einst“ und „Ehemals“ im „Heute“ 501 Die Erlösung von der Rache und ihr Verhältnis zur Gerechtigkeit 506 Die Rückgründung der Rache in der neuzeitlichen Willensmetaphysik und die Zeit als „Stein des Anstoßes“ 512

Inhalt

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Die Befreiung des widerwilligen Willens durch die ewige Wiederkehr des Gleichen 522 Zu dem fundamentalen Bruch im Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? : Die „Protection“ des Werdens als Vollendung der präsenzontologischen Vereinnahmung 528 Die nicht überwundene Zerklüftung der Metaphysik: „Dionysos 535 gegen den Gekreuzigten“

. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs in den Schelling-Vorlesungen von 1936 und 1941 544 544 . Zur Gliederung des 2. Teils . Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens in der Schelling-Vorlesung von 1936 552 .. Zu den Erkenntniszielen der Vorlesung von 1936 und zu der denkerischen Verwandtschaft zwischen Heidegger und 552 Schelling .. Der Begriff der Ontotheologie: Zum Verhältnis zwischen dem Seienden im Ganzen und dem Seienden als solchem in der Schelling-Vorlesung von 1936 559 .. Ontotheologie und System im Hinblick auf das Zwiegespräch mit 562 Nietzsche .. Die Hinführung zum Diktum „Wollen ist Urseyn“: Der formelle Freiheitsbegriff des Idealismus 563 .. Die Seynsfuge als Erfordernis einer Metaphysik des 570 Bösen . Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens als Gipfel der neuzeitlichen Subjektivität in der Schelling-Vorlesung von 1941 576 .. Die Verdopplung der Subjektivität: Zu Heideggers geschichtlicher 577 Rekonstruktion der Begriffe „Existenz“ und „Grund“ .. Die Fundierung des Seins als Wille: Die Vereinigung der metaphysischen Wesensprädikate im Willen 581 .. Der Wille als Wurzel der Unterscheidung 606 .. Exkurs zum Schelling-Seminar von 1927/28: Heideggers Interpretation der Liebe als „Sinn des Seins“ sowie als „Wesen des Personseins“ und die Bedeutung der Ichheit 620 .. Heideggers willenszentrische Relektüre der Systemprätention 635 Schellings .. Die Verfasstheit des Willens als immanente Selbstzerspaltung des Wider-willens und als sich offenbarendes Vor-stellen 651

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Inhalt

Negativität und Anerkennung: Zum Einbezug Hegelscher Motive in Heideggers Willensbegriff 659 Der Evidenzcharakter der Unterscheidung als aus der Selbstbejahung des Willens erwachsender Ausschluss des Nichts 676 Der Wille der Liebe und der Wille zur Macht – zu Heideggers Synthese der willensmetaphysischen Ansätze Schellings und 681 Nietzsches

. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins: Versuch einer Systematisierung, Charakterisierung und Beurteilung der Willenstheorie Heideggers 694 . Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik in Heideggers Aufsatz Überwindung der Metaphysik (1936 – 1946) 694 694 .. Das Dilemma der Willenskritik Heideggers .. Heideggers seinsgeschichtlich-eschatologische Transformation der Willensanalyse Schopenhauers und die äußerste Krisis im Sein: Zur Bedeutung der Motive des „Einsturzes“, der „Verwüstung“ und der „Nichtigkeit“ 699 .. Die Vollendung des Anthropomorphismus: Die Fusion von Wahrheit (Bestandsicherung) und Kunst (Steigerung) in der Technik und die vergegenständlichende Reduktion von Natur und 710 Geist auf die Ichheit .. Die Figur des verborgenen Hirten als Korrektiv und als (utopischer) Gegenentwurf 747 . Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik: Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944 – 757 1946) .. Das Wesen des Nihilismus 757 .. Die Willensmetaphysik als eigentlicher Nihilismus 763 767 .. Das Ausbleiben des Seins als ungedachte Ankunft .. Das Sein als das Un-ab-lässige und die Not der Notlosigkeit 781 Schlusswort: Die Wandlung der fünf Grundworte Literaturverzeichnis Personenregister Sachregister

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Vorwort Die Zeit des Willens und das Ende der Metaphysik. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und Schelling. Bei der vorliegenden Monographie handelt es sich um die stilistisch und formal überarbeitete Fassung einer Dissertationsschrift, die im Sommersemester 2018 an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angenommen wurde. Die Erstellung und Beendigung dieser Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die tatkräftige und konstruktive Unterstützung, die ich in den letzten Jahren von zahlreichen Personen erfahren habe. In erster Linie gilt mein Dank Frau Prof. Dr. Lore Hühn. Als Erstbetreuerin hat Frau Prof. Hühn den Entstehungsprozess der Arbeit von Anfang an unermüdlich begleitet und mit vielen hilfreichen Ratschlägen und anregenden Ideen befördert. Den Herausgebern der Quellen und Studien zur Philosophie weiß ich mich für die Aufnahme dieser Publikation in die wissenschaftliche Reihe sehr verbunden. Des Weiteren möchte ich mich ausdrücklich bei Herrn Prof. Dr. Andreas Urs Sommer bedanken, der mir besonders im Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte Nietzsches wertvolle Erkenntnisse vermittelt hat und die Dissertation freundlicherweise als Zweitgutachter betreut hat. Herr Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff hat sich bereiterklärt, als Drittgutachter der Arbeit zu fungieren. Hierfür gebührt ihm mein herzlicher Dank. In den von Frau JProf. Dr. Angela Ulacco geleiteten Seminaren zur antiken Philosophie durfte ich immens von ihrer erhellenden und differenzierten Platon-Interpretation profitieren. Im Rahmen der aufschlussreichen Lehrveranstaltungen von Herrn JProf. Dr. Philipp Schwab konnte ich den Deutschen Idealismus in einer prinzipientheoretischen und problemorientierten Lesart kennenlernen. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat es mir durch die großzügige Gewährung eines Promotionsstipendiums ermöglicht, mich der Ausarbeitung der Dissertation konzentriert widmen zu können. Alejandro Benavides, Felix Gawlik, Philipp Höfele, Lucian Ionel, Tim Kerkmann, Julian Meergans, Armin Thomas Müller und Robert Pfeiffer haben ausgewählte Kapitel der Arbeit gelesen und mit mir diskutiert. Dafür sei ihnen aufrichtig gedankt. In diesem Zusammenhang möchte ich auch die Freiburger Kolleginnen und Kollegen Alexander Bilda, Pedro Manuel Bortoluzzi, Johannes Busch, Alexandre Derot, Louisa Estadieu, Silvia Feindt, Felix Herkert, Johanna Hueck und Herrn PD Dr. Sebastian Kaufmann hervorheben, die mit mir in Kolloquien oder auf privatem Wege zentrale Thesen der Arbeit besprochen haben und mir mit ihren tiefsinnigen Rückfragen und Empfehlungen zur Seite standen. Frau Dr. Serena Pirrotta, Herrn Dr. Marcus Böhm und Herrn Tim Vogel vom Verlag De Gruyter bin ich für die verständnisvolle, kompetente Behttps://doi.org/10.1515/9783110694253-001

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Vorwort

treuung, für die sorgfältigen Erläuterungen sowie für die zielbewusste Begleitung der einzelnen Arbeitsschritte zu großem Dank verpflichtet. Frau Marie Aurich hat den Satz der Arbeit und die formale Gestaltung routiniert übernommen und mich im Rahmen der Korrekturlektüre der Druckfahnen vorzüglich unterstützt. Abschließend möchte ich eine besondere Dankbarkeit gegenüber meinen Eltern aussprechen, die mich seit dem Beginn des Studiums ideell und finanziell gefördert haben.

Einleitung und Erkenntnisinteresse Von 1936 – 1940 setzte sich Martin Heidegger in mehreren Freiburger Vorlesungen mit der Philosophie Friedrich Nietzsches auseinander.¹ 1961 wurden diese Vor-

 Im Rahmen der Heidegger-Gesamtausgabe wurden die Werke Nietzsche I (1936 – 1939) und Nietzsche II (1939 – 1946) im Jahre 1996 als Bände 6.1 und 6.2 von Brigitte Schillbach herausgegeben. Innerhalb der Gesamtausgabe befinden sie sich in der I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910 – 1976. Darüber hinaus wurden die einzelnen Nietzsche-Vorlesungen ediert und separat publiziert. Diese gehören demnach zur II. Abteilung: Vorlesungen 1919 – 1944. Die erste Vorlesung Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst aus dem Wintersemester 1936/1937 wurde von Bernd Heimbüchel im Jahre 1985 als Band 43 der Gesamtausgabe herausgegeben. Im Jahre 1986 folgte als Band 44 die von Marion Heinz edierte handschriftliche Fassung der Vorlesung: Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, die ursprünglich im Sommersemester 1937 gehalten wurde. Die dritte Vorlesung, die aus dem Sommersemester 1939 stammt, trägt den Titel: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis. Die Benennung lehnt sich an den 1. Teil des Dritten Buches der von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche zusammengestellten Aphorismensammlung Der Wille zur Macht an. Diese Vorlesung ging als Band 47 in die Gesamtausgabe ein. Eberhard Hanser gab sie im Jahre 1989 heraus. Die vierte und letzte von Heidegger tatsächlich gehaltene Nietzsche-Vorlesung Nietzsche: Der europäische Nihilismus stammt aus dem II. Trimester des Jahres 1940. Petra Jaeger fungierte im Jahre 1986 als Herausgeberin des Bandes 48 der Gesamtausgabe, der diese Vorlesung beinhaltet. Für das Wintersemester 1941/1942 kündigte Heidegger die Vorlesung Nietzsches Metaphysik an, die allerdings entfiel. Auf Wunsch Heideggers sollte sie in der Gesamtausgabe mit dem Text der vorzeitig abgebrochenen Vorlesung: Einleitung in die Philosophie: Denken und Dichten aus dem Wintersemester 1944/1945 zusammengeführt werden. Die beiden Vorlesungen wurden als Band 50 der Gesamtausgabe von Petra Jaeger herausgegeben; dieser liegt seit 2007 in zweiter Auflage vor. Die Vorlesung Nietzsches Metaphysik korrespondiert mit der Darlegung der fünf Haupttitel, die sich im Band Nietzsche II (S. 231– 301) einsehen lässt. Um die Vorlesungen hat Heidegger thematisch verwandte Seminare gruppiert, die in der Gesamtausgabe ebenfalls berücksichtigt werden. Im Wintersemester 1938/1939 bot Heidegger ein Seminar zu Nietzsches Historienschrift an. Der von Hans-Joachim Friedrich im Jahre 2003 herausgegebene Band 46: Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung enthält neben den Aufzeichnungen Heideggers einige Seminar-Berichte und die von Hermann Heidegger angefertigte Nachschrift. In die III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen Vorträge – Gedachtes wurde der Band 67 der Gesamtausgabe aufgenommen, der an den von Nietzsche aufgeworfenen Fragekreis anschließt. Unter dem Titel Metaphysik und Nihilismus versammelt er die beiden Abhandlungen Die Überwindung der Metaphysik (1938/39) und Das Wesen des Nihilismus (1946 – 48). Hans-Joachim Friedrich ist der Herausgeber dieses im Jahre 1999 erschienenen Bandes. Zu beachten sind darüber hinaus die Nietzsche-Seminare aus den Jahren 1937 und 1944, die in den von Peter von Ruckteschell im Jahre 2004 veröffentlichten Band 87 eingegangen sind. Das erste Seminar heißt: Nietzsches metaphysische Grundstellung (Sein und Schein) und wurde von Heidegger im Sommersemester 1937 als „Arbeitskreis zur Ergänzung der Vorlesung“ ausgeschrieben. Das Seminar aus dem Sommersemester 1944 ist betitelt mit: Grundbegriffe des Denkens. https://doi.org/10.1515/9783110694253-002

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Einleitung und Erkenntnisinteresse

lesungen in leicht gewandelter Form² in zwei Buchbänden veröffentlicht, die den Namen des Denkers und der mit ihm verknüpften Sache des Denkens erhielten: Nietzsche I und Nietzsche II. ³ Die im Wintersemester 1936/1937 gehaltene Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst bildete den Auftakt für ein intensives, ein Jahrzehnt anhaltendes Zwiegespräch, das Heidegger nach der Anfertigung der Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944 – 1946) unterbrach, um es 1953 in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? ein letztes Mal aufzunehmen. Auch wenn Nietzsche in Heideggers früher Schaffensphase kaum präsent ist, muss berücksichtigt werden, dass sich die Nietzsche-Rezeption bis auf das Jahr 1910 zurückdatieren lässt und erst 1976 mit Heideggers Tod endete. Sie überspannt somit einen Zeitrahmen, der sich über ein halbes Jahrhundert erstreckt. In einem Rückblick aus dem Jahre 1957 hat Heidegger die einschneidenden intellektuellen Erfahrungen benannt, die ihn und seine Generation in der Zeit zwischen 1910 – 1914 prägten: Neben Kierkegaard und Dostojewski, der Dichtung Rilkes und Trakls und der Philosophie Hegels und Schellings führt er die zweite, im Jahre 1906 um das Doppelte vermehrte Ausgabe von Der Wille zur Macht an.⁴ Konträr zum damaligen Zeitgeist, nährte sich Heideggers Affinität zu Nietzsche

 Zu den Veränderungen, Streichungen und Kürzungen in den Nietzsche-Bänden im Vergleich zu den Vorlesungsmanuskripten ist besonders zu beachten: Katrin Meyer, Denkweg ohne Abschweifungen. Heideggers Nietzsche-Vorlesungen und das Nietzsche-Buch von 1961 im Vergleich, in: Alfred Denker / Marion Heinz / John Sallis / Ben Vedder u. Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, 1. Aufl., Freiburg / München 2005, S. 132– 157.  In dieser Arbeit werden die Bände Nietzsche I und Nietzsche II unter den Siglen N I und N II nach der folgenden Ausgabe zitiert: Martin Heidegger, Nietzsche. Zwei Bände, 7. Aufl., Stuttgart 2008. Martin Heidegger wird, soweit möglich, nach der Heidegger-Gesamtausgabe zitiert, die seit 1975 in 102 Bänden bei Vittorio Klostermann (Frankfurt a. M.) erscheint. Friedrich Nietzsche wird zitiert nach der Kritischen Studienausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. Aufl., Berlin / New York 1988; sowie nach der Kritischen Gesamtausgabe der Werke (KGW), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967 ff. Sofern keine entsprechenden Verweise auf diese beiden Gesamtausgaben beigefügt sind, wird Nietzsche nach der Digitalen Kritischen Gesamtausgabe (eKGW) zitiert, die von Paolo D’Iorio auf der Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe der Werke herausgegeben wird. Um Heideggers Auslegungsgang besser nachvollziehen zu können, soll auch das Werk Der Wille zur Macht einbezogen werden. Es wird zitiert nach: Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, hrsg. von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche, 13. Aufl., Stuttgart 1996. Arthur Schopenhauers Schriften werden zitiert nach der Zürcher Ausgabe in zehn Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Zürich 2007.  Vgl. Heidegger, Frühe Schriften 1912 – 1916, GA 1, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 1978, S. 56. Diese skizzenhafte Übersicht orientiert sich an: Helmuth Vetter, Heideggers Annäherung an Nietzsche bis 1930, in: Synthesis philosophica 13 (1998), S. 373 – 385.

Einleitung und Erkenntnisinteresse

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nicht aus einer emphatisch-ästhetischen Begeisterung (wie z. B. im George-Kreis). Neben der ursprünglichen Rückbesinnung auf die Vorsokratiker fasste Heidegger das unbeirrte Fragen nach dem Göttlichen als schöpferische Quelle auf. In seiner Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916) erwähnt Heidegger Nietzsche kurz. Er attestiert ihm eine „plastische Darstellungsfähigkeit“⁵ und zitiert Nietzsches Formulierung vom „Trieb, der philosophiert“⁶, um die These einer existenziell-persönlichen Bedingtheit philosophischer Entwürfe zu untermauern. Weil Heidegger in den darauffolgenden Jahren einen streng wissenschaftlichen Begründungsanspruch in den Denkbahnen der Phänomenologie Edmund Husserls vertrat, geriet Nietzsche zunächst aus dem Blickfeld. In der Vorlesung des Wintersemesters 1921/1922, in der bereits wegweisende Motive der Kennzeichnung des faktischen Lebens zur Sprache kommen, wird Nietzsche aufgrund der „bekannten ressentimentgeladenen, oft billigen Invektiven“⁷ gegen die Universitätsphilosophie auf derselben Valenzstufe wie Schopenhauer verortet. Dies markiert den Tiefpunkt der Beurteilung von Seiten Heideggers. Die zu Beginn der 1920er-Jahre wahrnehmbare Distanz zu Nietzsche bekundet sich auch darin, dass Heidegger sich in einem Brief an Löwith (19.08. 1921) als „christlichen Theologen“⁸ bezeichnet. Heideggers positiver Einstellungswandel lässt sich am ehesten im Rückgriff auf Sein und Zeit (1927) ausweisen. Zwei auf Nietzsche referierende Textstellen aus Sein und Zeit sind besonders hervorzuheben. In der ersten manifestiert sich die Aufnahme Nietzsches in den Kanon der philosophischen Klassiker; die zweite akzentuiert die Vergleichbarkeit der Fragerichtung und des damit verknüpften Problemhorizonts. Im §56, der den Rufcharakter des Gewissens thematisiert, stellt  Heidegger, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, in: Heidegger, Frühe Schriften 1912 – 1916, GA 1, S. 195 – 196: „Die Philosophie lebt zugleich in einer Spannung mit der lebendigen Persönlichkeit, schöpft aus deren Tiefe und Lebensfülle Gehalt und Wertanspruch. Zumeist liegt daher jeder philosophischen Konzeption eine persönliche Stellungnahme des betreffenden Philosophen zugrunde. Dieses Bestimmtsein aller Philosophie vom Subjekt her hat Nietzsche in seiner unerbittlich herben Denkart und plastischen Darstellungsfähigkeit auf die bekannte Formel gebracht vom ‚Trieb‘ der philosophiert.‘“  Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 20: „Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier [in der Philosophie, J.K.] als inspirirende Genien [….] ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, – und dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu philosophieren.“  Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, GA 61, hrsg. von Walter Bröcker und Käte Bröcker-Oltmanns, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1994, S. 66.  Diese briefliche Mitteilung Heideggers ist dem oben genannten Aufsatz von Helmuth Vetter entnommen.

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Heidegger die Gewissensinterpretation Nietzsches in einer Anmerkung gleichberechtigt neben die von Kant, Hegel und Schopenhauer.⁹ Im fünften Kapitel des zweiten Abschnitts findet sich im §76 die bedeutendste Bezugnahme auf Nietzsche. Das von Heidegger präferierte existenziale Ideal der Historie überlagert das Geschehene weder mit der Einordnung in ein „überzeitliches Muster“¹⁰ noch taxiert sie dieses unter dem voreingenommenen Index der eigenen Gegenwart. Ebenso wenig erfüllt die eigentliche Historie die Funktion, singuläre Ereignisse oder allgemeine Lineaturen in einer objektiven Darstellung aufzubereiten. Heidegger sieht ihr genuines Wirkungsfeld vielmehr in der Widerspiegelung der ekstatischen Zukünftigkeit des Daseins. In der Erschließung und Schilderung des einstmals Möglichen untermauert und bestätigt sie die Befreiung zum eigenen Seinkönnen. Aus diesem Grund wird die Frage nach dem „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ relevant. Heidegger konzediert, dass es Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung (1874) gelungen sei, durch die Aufspaltung historiographischer Aneignungsarten in die Trias von monumentalischer, antiquarischer und kritischer Historie die Möglichkeit einer weltgeschichtlichen Inanspruchnahme in der Geschichtlichkeit des Daseins zu fundieren.¹¹ Diesen Zusammenhang habe Nietzsche aber nicht gänzlich durchdrungen, weil er den „Grund ihrer Einheit“¹², in der sich die eigentliche Historie konturiere, nicht eigens exponiert habe. Indem Heidegger die Dreiheit der spezifischen Geschichtsschreibungsformen auf die horizontalen Entrückungen der Zeitlichkeit und auf den zukünftig-wiederholenden Verstehensmodus zurückführt, spricht er Nietzsches triadische Konzeption von dem möglichen Vorwurf einer willkürlichen Einteilung frei. Daraufhin lenkt er den Fokus kurz auf den Anfang der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, die mit einer Unterscheidung der Augenblickserfahrung beim Tier und beim Menschen einsetzt. In seinen Rekurs auf die Historienschrift schließt Heidegger einen geheimnisvollen Satz ein, der in variierter Form im späteren Agon mit Nietzsche wiederkehren wird: „Der Anfang seiner ‚Betrachtung‘ läßt vermuten, daß er mehr verstand, als er kundgab“.¹³ Ab 1929 wird deutlich, dass der Philosoph Friedrich Nietzsche Heideggers Antwort auf die in Sein und Zeit als Wiederholung einer gewesenen Existenz-

 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl., Tübingen 2006, §56, S. 272.  Heidegger, Sein und Zeit, §76, S. 395.  Vgl. zur Historienschrift besonders: Andreas Urs Sommer, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, 1. Aufl., Berlin 1997.  Heidegger, Sein und Zeit, §76, S. 396.  Heidegger, Sein und Zeit, §76, S. 396.

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möglichkeit beschriebene Herausforderung der Heldenwahl darstellt.¹⁴ Dieses Bekenntnis zu Nietzsche, das mit einer Ausrufung desselben zum Schicksal der abendländischen Philosophie einhergeht, inszeniert Heidegger ab 1929 durch entsprechende Bekundungen, zum Beispiel gegenüber Karl Löwith. 1931 versendet er zu Weihnachten Postkarten an seine Freunde, die er mit der verortenden, mahnend-tastenden Frage Nietzsches: „Ihr wendet euch?“ (aus dem Nachgesang von Jenseits von Gut und Böse: „Aus hohen Bergen“) beschriftet.¹⁵ Auf diese Weise signalisiert Heidegger einen grundlegenden Wandel, ein „Sich-Entsprungensein“, das auf einem (mit Nietzsche) gegen sich selbst errungenen Sieg über die Theologie beruhen könnte. Ab 1935 war Heidegger als Mitglied des Wissenschaftlichen Ausschusses federführend an einer historisch-kritischen Neuausgabe des Werkes Der Wille zur Macht beteiligt. In einem Brief an den Juristen Richard Leutheußer, der Vorstandsmitglied der Stiftung Nietzsche-Archiv war, gab Heidegger am 26. Dezember 1942 seinen Austritt aus dem Ausschuss bekannt.¹⁶ Wenn Heidegger am Ende seines Lebens¹⁷ im privaten Kreis auf seinen Denkweg zurückblickte, mischte sich ein resignatives Urteil in seine Auseinandersetzung mit Nietzsche. Hans-Georg Gadamer hat die denkwürdige, konsternierte Äußerung Heideggers „Nietzsche hat mich kaputtgemacht“¹⁸ überliefert. Es fällt der Spekulation an Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §74, S. 385.  Vgl. Helmuth Vetter, Heideggers Annäherung an Nietzsche bis 1930, S. 380. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 241– 243.  Vgl. hierzu die abgedruckten Briefe im Dokumentationsteil des Heidegger-Jahrbuches 2. Zum Brief an Leutheußer vgl. Martin Heidegger und das Nietzsche-Archiv in Weimar, in: Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 36. Andreas Urs Sommer beleuchtet in seinem Aufsatz Nietzsche als Drehscheibe in „die“ Moderne? die Beziehung Heideggers zum Nietzsche-Archiv eingehend. Sommer zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass Heideggers zunehmender Zweifel an der Umsetzbarkeit einer Neuausgabe des Werkes Der Wille zur Macht in einem Korrespondenzverhältnis mit den sich wandelnden Gütebeurteilungen der Philosophie Nietzsches steht, die sich in den Schwarzen Heften unverhüllt niederschlagen. Vgl. Andreas Urs Sommer, Nietzsche als Drehscheibe in „die“ Moderne? Heideggers Nietzsche in den „Schwarzen Heften“ und die Rolle des Philosophen, in: Hans-Helmuth Gander / Magnus Striet (Hrsg.), Heideggers Weg in die Moderne. Eine Verortung der „Schwarzen Hefte“, Frankfurt a. M. 2017, S. 71– 94.  Eine ausgewogene und materialreiche, biographische Gesamtdarstellung des Lebensweges Heideggers gibt Rüdiger Safranski. Vgl. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 2009.  Vgl. Hans-Georg Gadamer, Heidegger und Nietzsche: „Nietzsche hat mich kaputtgemacht!“, in: Aletheia 5, S. 6 – 8. Die Faktizität dieser bemerkenswerten Konzession Heideggers wird von Babette Babich untermauert. Sie verweist darauf, dass Gadamer ihr diese Äußerung Heideggers im persönlichen Gespräch bestätigte. Vgl. Babette Babich, Poesie, Eros und Denken bei Nietzsche und Heidegger. Heideggers Nietzsche-Interpretation aus der Sicht der Nietzsche-Forschung, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, Freiburg / München 2005, S. 239 – 264. Der Verweis findet sich auf Seite 245.

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heim, inwieweit Heidegger damit ein Scheitern seines Unterfangens, die Metaphysik mit und über Nietzsche hinaus zu verwinden, eingeräumt hat. Ebenfalls von Hans-Georg Gadamer stammt die resümierende Beurteilung dieses Diktums: „Das, was Nietzsche versucht hat, hat auch er nicht gekonnt“.¹⁹ Durch die Veröffentlichung der Nietzsche-Vorlesungen Heideggers im Jahre 1961 (in den Bänden Nietzsche I und Nietzsche II) hat sich eine weitreichende Forschungsdiskussion entwickelt, in deren Rahmen sich zwei Hauptströmungen der Kritik an Heideggers Auslegungsverfahren unterscheiden lassen. Auf der einen Seite wurde Heideggers Bewertung von Also sprach Zarathustra als „Vorhalle“²⁰ und die Privilegierung des Nachlasses als „eigentliche Philosophie“²¹ Nietzsches kritisiert. Diese Gewichtung verbindet sich bei Heidegger mit einem Rückgriff auf die von Peter Gast und Elisabeth Förster-Nietzsche unter höchst fragwürdigen, verfälschenden Editionsrichtlinien zusammengestellte Nachlasskompilation Der Wille zur Macht. Heidegger empfahl diese Auswahl noch im Jahre 1936 seinen Studenten, später monierte er die Willkür der Zusammenstellung und bezeichnete sie als „verhängnisvolles Buch“.²² Diese Kritik an Heideggers methodischem Verfahren lässt sich jedoch abmildern. Da in der heutigen Nietzsche-Forschung eine große Einigkeit darüber besteht, die Jahre nach der Veröffentlichung von Also sprach Zarathustra als die philosophisch ergiebigsten zu betrachten, erscheint Heideggers Konzentration auf Nietzsches letzte Phase keineswegs abwegig. Darüber hinaus herrscht ein weitgehender Konsens, dass sich im Nachlass keine wesentliche Differenz gegenüber Nietzsches veröffentlichten Werken bemerken lässt. Oftmals handelt es bei den aussagekräftigen Fragmenten um Vorstufen, die später in einem ausgefeilten Stil und in einem eher hypothetischen, weniger apodiktischen Duktus im Druck erschienen. Daher hätte Heidegger hinsichtlich des Willens zur Macht und der Erkenntnislehre eine ähnliche, jedoch weniger systematische Lesart wahrscheinlich auch dann verfechten können, wenn er – freilich geleitet von einer vorgefassten Interpretationsabsicht – nur auf die zu Lebzeiten publizierten Schriften zurückgegriffen hätte. Indes darf nicht unter-

 Hans-Georg Gadamer, Heidegger und Nietzsche: „Nietzsche hat mich kaputtgemacht!“, in: Aletheia 5, S. 7.  Heidegger, Nietzsche I, 7. Aufl., Stuttgart 2008, S. 10 [im Folgenden werden die beiden Nietzsche-Bände unter der Sigle N I bzw. N II zitiert].  Heidegger, N I, S. 7.  Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, hrsg. von Petra Jaeger, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2007, S. 109. Vgl. zu Heideggers wechselhaften Beurteilungen der Nachlasszusammenstellung Der Wille zur Macht: Wolfgang Müller-Lauter, Der „Wille zur Macht“ als Buch der ‚Krisis‘ philosophischer Nietzsche-Interpretation, in: Müller-Lauter, Nietzsche-Interpretationen I. Über Werden und Wille zur Macht, Berlin / New York 1999, S. 339 – 348.

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schlagen werden, dass die herausragende Stellung des Wiederkunftsgedankens bei einem Verzicht auf den Nachlass schwerer aufrechtzuerhalten ist. Die zweite Komponente der Zurückweisung schreibt sich maßgeblich von dem Vorwurf einer die Autorintention diametral umkehrenden Interpretation Heideggers her, durch die der erklärte Anti-Metaphysiker Nietzsche als Gipfelpunkt und Vollender der Metaphysik erscheine.²³ Diesbezüglich ist zu bedenken, ob dieser Einwand nicht gerade das restituiert, was er exemplarisch an Heidegger strikt ablehnt: Dass es die eine hervorstechende Autorintention Nietzsches und eine ihr korrespondierende Lesart geben könnte, auf deren Basis eine andere Interpretation als grundsätzlich verfehlt gekennzeichnet werden könnte. Zudem birgt dies die Gefahr, Heideggers Auslegung erst als maßgebendes Negativbeispiel verabsolutieren zu müssen, um sie alsdann als prinzipiell verengend angreifen zu können. Die Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Wandel in Heideggers Nietzsche-Verständnis ist seit der aktiven, in den 1960er-Jahren einsetzenden Rezeption der Bände Nietzsche I und Nietzsche II ein zentrales Interesse der Forschung geblieben.²⁴ In bewusster Auseinandersetzung mit der als metaphy-

 Vgl. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph, Psychologe, Antichrist, Darmstadt 1982; Wolfgang Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III. Berlin / New York 2000; Werner Stegmaier, Nietzsche nach Heidegger, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 321– 339; Werner Stegmaier, Auseinandersetzung mit Nietzsche I. Metaphysische Interpretation eines Anti-Metaphysikers, in: Dieter Thöma (Hrsg.), HeideggerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung, 2. Aufl., Stuttgart / Weimar 2013, S. 174– 181.  So hat Otto Pöggeler bereits 1963 die Aussagekraft des Entwicklungsganges der NietzscheVorlesungen als Verständnisschlüssel zur Entwicklung von Heideggers eigenem Denken akzentuiert. Vgl. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 1963, S. 108: „Die Auseinandersetzung mit Nietzsche ist, als Entscheidung über den Austrag der Seinsfrage, auch eine Entscheidung über Heideggers Denken, ein Weg, auf dem Heidegger bestimmte Voraussetzungen, die sein Denken bestimmten, abarbeitet.“ Auch Hans-Georg Gadamer beleuchtet die Nietzsche-Vorlesungen vor dem Hintergrund der jeweils virulenten philosophischen Problemstellungen Heideggers, wobei er besonders die Bedeutung von Sein und Zeit in den Vordergrund rückt.Vgl. HansGeorg Gadamer, Heideggers Wege, Tübingen 1983, S. 99 ff. Ein weiteres frühes Rezeptionszeugnis bildet Eckhart Heftrichs 1970 erschienener Aufsatz Nietzsche im Denken Heideggers. Heftrich konzentriert sich auf den eschatologischen Charakter und den entsprechenden Deutungssinn der Heideggerschen Nietzsche-Interpretation, insofern in Nietzsche als „letztem Namen“ das bisherige „philosophische Fragen“ kulminiere. Vgl. Eckhard Heftrich, Nietzsche im Denken Heideggers, in: Vittorio Klostermann (Hrsg.), Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1970, S. 331 ff. Hinsichtlich der neueren Forschungsliteratur ist besonders zu berücksichtigen: Katrin Meyer, Denkweg ohne Abschweifungen. Heideggers Nietzsche-Vorlesungen und das Nietzsche-Buch von 1961 im Vergleich, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 132– 157; Jeffrey L. Powell, Die Nietzsche-Vorlesungen im Rahmen des Denkweges Martin Heideggers, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. HeideggerJahrbuch 2, S. 117– 132; Michael E. Zimmerman, Die Entwicklung von Heideggers Nietzsche-Inter-

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sisch beurteilten Einheitssicht Heideggers hat Wolfgang Müller-Lauter 1971 seine breit rezipierte Theorie einer Vielheit der Willen profiliert, durch die Nietzsche den Monismus und die Beständigungstendenz der Metaphysik zugunsten einer „Philosophie der Gegensätze“²⁵ überwinde. Obgleich Müller-Lauter von einer „grundlegenden Kontinuität“²⁶ in Heideggers Positionierung zu Nietzsche ausgeht, ist ihm zugute zu halten, als einer der ersten Wissenschaftler auch die Aufsätze der 1950er-Jahre als Maßstab seiner Bewertung zugrunde gelegt zu haben. Müller-Lauter bestreitet Nuancierungen in Heideggers Nietzsche-Deutung nicht und untersucht sie durchaus differenziert; doch sind für ihn eher jene Zeugnisse bedeutsam, die seine Lesart zu bestätigen vermögen. Mit einer prägnanten, gegenläufigen These zur Einteilung des Heideggerschen Denkweges ist Hannah Arendt in ihrem (posthum von Mary McCarthy herausgegebenen) Werk Vom Leben des Geistes hervorgetreten, indem sie das Geschehen der Kehre im Spannungsgefüge von Nietzsche I und Nietzsche II lokalisiert: Sieht man bei der Lektüre dieser beiden Bände von Heideggers (vorher erschienener) späterer Neudeutung ab, so möchte man die ‚Kehre‚ als konkretes autobiographisches Ereignis genau zwischen dem ersten und dem zweiten Band ansetzen; denn, grob gesprochen, erklärt der erste Band Nietzsche, während der zweite in einem gedämpften, aber unverkennbar polemischen Ton spricht. […] Die Bedeutung dieses Einschnitts dürfte auf der Hand liegen: die Kehre wandte sich ursprünglich in erster Linie gegen den Willen zur Macht. Für Heidegger ist der Wille zum Herrschen eine Art Sündenfall, dessen er sich selbst schuldig befand, als er seine kurze Vergangenheit in der Nazibewegung aufzuarbeiten suchte.²⁷

Damit votiert Arendt für eine scharfe Zäsur zwischen den in den Jahren 1936 – 1939 vorgetragenen Nietzsche-Vorlesungen Der Wille zur Macht als Kunst (WS 1936/37), Die ewige Wiederkehr des Gleichen (SoSe 1937) und Der Wille zur Macht als Er-

pretation, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 97– 117. Für eine komprimierte, hauptsächlich die Stellungnahmen und Auslegungen Pöggelers, Löwiths und Müller-Lauters besprechenden Übersicht über die deutschsprachige Rezeptionsgeschichte der Heideggerschen Nietzsche-Vorlesungen vgl. Tracy Colony, Die deutschsprachige Rezeption von Heideggers Nietzsche-Interpretationen, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 339 – 347.  Vgl. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971. Vgl. ferner Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, Berlin / New York 1999.  Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, Berlin / New York 2000, S. 30.  Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Wollen, 9. Aufl., München / Berlin 2016, S. 400 – 401.

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kenntnis (SoSe 1939) auf der einen Seite und den Vorlesungen und Abhandlungen Der europäische Nihilismus (1940) und Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944 – 1946) auf der anderen Seite. Generell ist Arendts Ansatz beachtenswert, weil sie den Willen als denjenigen Zentralbegriff exponiert, über den die gesamte Bewegung der Kehre koordiniert wird. Die gängige Version der Kehre als Übergang von der Daseinsanalyse und Fundamentalontologie²⁸ hin zum geschichtlichen Denken des Seins²⁹ wird dergestalt als Vordergrund dechiffrierbar,

 Die Fundamentalontologie verfolgt in erster Linie das Erkenntnisziel, die menschliche Endlichkeit als Grund des Seinsverständnisses herauszuarbeiten. Der unumgängliche, jedwedes Verhalten zum Seienden tragende Vollzug des Seinsverständnisses soll als Ermöglichungsbedingung der Metaphysik überhaupt aufgewiesen werden. Vgl. dazu Heideggers einprägsame Bestimmung des endlichen Existenzsinns aus dem 1929 publizierten Kantbuch: „Angewiesen auf das Seiende, das er nicht ist, ist er zugleich des Seienden, das je er selbst ist, im Grunde nicht mächtig. – Mit der Existenz des Menschen geschieht ein Einbruch in das Ganze des Seienden, dergestalt, daß jetzt erst das Seiende […] als Seiendes offenbar wird. Dieser Vorzug aber, nicht nur unter anderem Seienden auch vorhanden zu sein, ohne daß sich dieses Seiende unter sich je als solches offenbar wird, sondern inmitten des Seienden an es als ein solches ausgeliefert und sich selbst als einem Seienden überantwortet zu sein, dieser Vorzug, zu existieren, birgt die Not, des Seinsverständnisses zu bedürfen, in sich.“ Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2010, S. 205 f. Zum Verhältnis zwischen der Fundamentalontologie, dem philosophischen Ansatz einer Metaphysik des Daseins und dem Kernziel einer Ergründung der ursprünglichen Endlichkeit des Menschen vgl. Jean Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928 – 1932. Von der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 91– 102.  Demgegenüber setzt Winfried Franzen die Kehre auf der Grundlage einer stringenden Argumentation bereits im Jahre 1930 an und lässt sie mit Heideggers Besinnung auf das Wesen der Wahrheit beziehungsweise auf das Wesen des Grundes beginnen. Vgl. Winfried Franzen, Von der Existenzialontologie zur Seinsgeschichte. Eine Untersuchung über die Entwicklung der Philosophie Martin Heideggers, Meisenheim am Glan 1975, S. 80 f. Zu den vielfältigen Deutungsmöglicheiten, der Datierung und der Semantik der Kehre vgl. Dieter Thomä, Stichwort: Die Kehre. Was wäre, wenn es sie nicht gäbe?, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 102– 108. Neben der klassischen Lesart, wonach Heideggers Denkweg durch eine (je verschiedenartig datierbare und inhaltlich zu bestimmende) einschneidende Kehre gekennzeichnet sei, präsentiert Thomä auch die Lesart zweier Kehren. In diesem Modell bildet die in Sein und Zeit avisierte, jedoch nicht vollzogene Ergründung der Temporalität des Seins die erste Kehrbewegung. Nach der zweiten Kehre untersucht Heidegger den geschichtlichen Bezug des unverfügbaren Seins in seinem Offenbarwerden für den Menschen. Thomä selbst plädiert dafür, dass es in Heideggers Werk keine Kehre gegeben habe (vgl. Thomä, Die Kehre, S. 107– 108). Er markiert die werkübergreifende Konstanz einer Doppelstruktur, die in Heideggers philosophischer Entwicklung eine variierte Gewichtung erfahre. Bestimmend bleibe allerdings stets die Polarität zwischen der hermeneutischen Analyse der Modi des menschlichen Selbstverhältnisses und des faktischen Lebensvollzuges auf der einen Seite und der Freilegung der diesen konkreten Existenzweisen jeweils zu-

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dessen Motivationskern die desillusionierte Einsicht in den verhängnisvollen Charakter prometheischer Willensentschlossenheit bildet. Nach Arendt befreit sich Heidegger von diesem kompromittierenden Einfluss, indem er Nietzsche im zweiten Band ebenjene Bejahung eines „Willens zum Herrschen“³⁰ attribuiert und seinerseits dem zurückhaltenden Hören auf „den stummen Anspruch des Seins“³¹ nachdenkt. Arendts Sichtweise erscheint durchaus berechtigt. So ließe sich die in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen aus Nietzsche I vorgenommene Charakterisierung der Zeit als Möglichkeitsbedingung einer ethisch-existenziellen Scheidung, in der sich der Einzelne eine neue Geschichte unterlegt, von der in Nietzsche II offenbar werdenden Beurteilung als entscheidungsbefreites Territorium des sich ewig selbst wollenden, anfangs- und endlosen Willens abheben. Das Schemabedürfnis der Vernunft kann in Nietzsche I hauptsächlich als unumgängliche, lebensnotwendige Zugangsweise zu dem Chaos begriffen werden. Kontrastierend dazu, kann im Hinblick auf Nietzsche II gesagt werden, dass Heidegger die epistemische Vollzugsform dieser Lebensnotwendigkeit an die von Descartes eingeleitete Festlegung des Denkens auf das Vor-stellen anbindet und ihre Unhintergehbarkeit auf diese Weise torpediert. Dessen ungeachtet, ist die Problematik der von Hannah Arendt vorgetragenen, internen Werkgewichtung nicht darin zu sehen, dass sie einen signifikanten Wandel in Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche stipuliert. Anzufechten ist vielmehr die Auffassung einer Koinzidenz zwischen dem (nach Arendt) nahezu übergangslosen, mit der werkgeschichtlichen Kehre in einem Korrespondenzverhältnis stehenden Bruch und der spezifischen Anordnung der jeweiligen Vorlesungen innerhalb der beiden Nietzsche-Bände. Zwar soll auch in dieser Arbeit der Nachweis erbracht werden, dass sich zu Beginn von Nietzsche II ein markanter Tonwandel und eine sich verschärfende Kritik konstatieren lässt, deren agonale Verfasstheit signifikant von der in Nietzsche I dominierenden, sachlichen Auseinandersetzung abweicht. Des Weiteren ist nicht zu bezweifeln, dass Heidegger in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939), der den Band Nietzsche II eröffnet, die technisch-kalkulierende und seinsverstellende Dimension des Willensgedankens zum ersten Mal in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche deutlich markiert. Gegenüber Arendt ist allerdings darauf zu insistieren, dass Heideggers Beurteilung der Philosophie Nietzsches als Endpunkt eines metaphysikgeschichtlichen Verhängniszusamgrundeliegenden, aus der Vergessenheit zu befreienden, zeithaften Seinsverfassung sowie den inneren Geschehenszusammenhängen auf der anderen Seite.  Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Wollen, S. 404.  Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Wollen, S. 401.

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menhanges nicht in Nietzsche II inauguriert wird, sondern ihren Anfang in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis von 1939 (und somit noch in Nietzsche I) nimmt. Wie im 1. Teil dieser Arbeit validiert werden soll, fasst Heidegger den Willen zur Macht dort erstens als Prinzip einer im Dienste der Machtsteigerung stehenden Wertsetzungspermanenz, expliziert zweitens dessen neuzeitvollendenden, die menschliche Subjektivität letztgültig legitimierenden Charakter und privilegiert ihn drittens gegenüber der Lehre der ewigen Wiederkehr, indem er ihn zum einzigen Gedanken Nietzsches ernennt. Diese hegemoniale Verschiebung diagnostiziert Arendt³² ebenfalls erst im Hinblick auf Nietzsche II. Auf der Basis seiner These einer „grundlegenden Kontinuität“³³ hat Wolfgang Müller-Lauter Hannah Arendts Deutung widersprochen und sie als „anthropologische Verengung, die Heideggers Intentionen schon der ersten Nietzsche-Vorlesungen nicht gerecht wird“³⁴ bezeichnet. Er favorisiert die These, dass Heidegger Nietzsches Philosophie bereits zu Beginn der Auseinandersetzung als Vollendung der abendländischen Metaphysik und somit als Übergang in den anderen Anfang in Stellung bringt. Müller-Lauter klammert die existenzielle Dimension der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen weitgehend aus und betrachtet die besonders in den Vorlesungen der Jahre 1936 und 1937 recht stark ausgeprägten Anklänge an Sein und Zeit als terminologisches Beiwerk ohne sachliche Entsprechung. David Farrell Krell geht hingegen wie Hannah Arendt von einer Anbindbarkeit der ersten Nietzsche-Vorlesung an Sein und Zeit aus. Er konstatiert eine markante Parallele zwischen der Willensexposition als beständiges Über-sich-hinaus-sein in Der Wille zur Macht als Kunst und der Sorgestruktur in Sein und Zeit. ³⁵ Trotz zahlreicher Publikationen in Form von Aufsätzen, wegweisender Sammelbände³⁶ und bedeutender Monographien³⁷, die der Konstellation „Heidegger

 Vgl. Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Wollen, S. 404: „Im zweiten Band verlagert sich das Schwergewicht entscheidend vom Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘ auf eine Deutung des Willens fast ausschließlich als Willen zur Macht, in dem spezifischen Sinne eines Willens zum Herrschen und nicht eines Ausdrucks des Lebenstriebes.“  Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, S. 30.  Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, S. 30.  Vgl. David Farrell Krell, Intimations of Mortality: Time, Truth and Finitude in Heidegger‚s Thinking of Being, 1. Aufl., Pennsylvania State University Press 1986, S. 131: „Will to Power is a perpetual self-over coming […] another word for epimeleia, Sorge, ‚care’.“  Vgl. Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, Frankfurt a. M. 1994; Alfred Denker / Marion Heinz / John Sallis / Ben Vedder u. Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, Freiburg / München 2005; Babette Babich / Alfred Denker / Holger Zaborowski (Hrsg.), Heidegger & Nietzsche, Amsterdam 2012.

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und Nietzsche“ gewidmet sind, bildet eine entwicklungsgeschichtliche Studie, die den gesamten Textkorpus des nahezu zwei Jahrzehnte überspannenden, intensiven Zwiegesprächs von 1936 – 1953 unvoreingenommen beleuchtet, nach wie vor ein Desiderat der Forschung.³⁸ Unleugbar gebührt den Dissertationsschriften von Harald Seubert ³⁹ und Rita Casale ⁴⁰ sowie der Untersuchung von Helmuth Vetter ⁴¹ das Verdienst, die werkinterne Vorgeschichte der Annäherung Heideggers an die Philosophie Friedrich

 Vgl. Krell, Nietzsche and the task of thinking: Martin Heidegger’s Reading of Nietzsche, Pittsburgh 1971; Krell, Intimations of Mortality: Time, Truth and Finitude in Heidegger’s Thinking of Being, Pennsylvania State University Press 1986; Francois Laruelle, Nietzsche contra Heidegger. Thèses pour une politique nietzschéenne, Paris 1977; Tadashi Otsuru, Gerechtigkeit und Dike. Der Denkweg als Selbst-Kritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung, Würzburg 1992; Harald Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens, Köln 2000; Rita Casale, Heideggers Nietzsche. Geschichte einer Obsession, Bielefeld 2010; Louis Blond, Heidegger and Nietzsche. Overcoming metaphysics, London 2010.  Zu einer ähnlichen Einschätzung der Forschungssituation gelangt auch Babette Babich. Sie betont ebenfalls mit Nachdruck, dass eine akribische, umfangreiche und neutral-unvoreingenommen verfahrende Gesamtdeutung der Nietzsche-Vorlesungen trotz der mannigfaltigen Bezugnahmen auf diesen Textkorpus nach wie vor aussteht. Für diese Forschungslücke macht sie u. a. die einseitigen und prädeterminierten Interpretationsabsichten und Lesarten der HeideggerForscher bzw. der Nietzsche-Forscher verantwortlich. Vgl. Babich, Poesie, Eros und Denken bei Nietzsche und Heidegger, in: Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 240: „Obwohl Heideggers Vorlesungen über Nietzsche sehr oft interpretiert wurden, werden die meisten Interpretationen von Heidegger her durchgeführt. Im Allgemeinen vermeiden NietzscheForscher die Anforderungen, die eine kritische Auseinandersetzung mit Heideggers NietzscheInterpretation mit sich bringen würden. Wegen der Herausforderungen von Nietzsches rhetorischem Stil wie auch wegen der mit den politischen und historischen Umständen der Vorlesungen Heideggers verbundenen Probleme (ganz zu schweigen von Heideggers lebenslanger Auseinandersetzung mit Nietzsche) ist eine adäquate Interpretation dieser Vorlesungen immer noch ein Desiderat der Forschung. Ohne jeden Zweifel sind die Forscher von beiden Denkern fasziniert, aber man darf nicht vergessen, dass die Interpretation Nietzsches entweder nur von Heidegger her (oder besser: von der Heidegger-Forschung her) geschieht oder dass auf der anderen Seite Heideggers Interpretation auf der Grundlage der gegenwärtigen Nietzsche-Interpretation zurückgewiesen wird. Dies zu sagen bedeutet, dass wir einer interpretatorischen Härte, also der (wie Nietzsche sagte) Philologie bedürfen. So sind wir in gewisser Weise noch gar nicht fähig, uns überhaupt mit Heideggers Nietzsche-Interpretation auseinanderzusetzen.“ Es ist daher der erklärte Anspruch und das Ziel dieser Arbeit, das von Babich erwähnte und erläuterte Desiderat einer „adäquaten Interpretation dieser Vorlesungen“ zu beheben.  Harald Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang. Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und die Sache seines Denkens, Köln 2000.  Rita Casale, Heideggers Nietzsche. Geschichte einer Obsession, Bielefeld 2010.  Helmuth Vetter, Heideggers Annäherung an Nietzsche, in: Synthesis philosophica 13 (1998), S. 373 – 385.

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Nietzsches rekonstruiert und differenziert ausgelotet zu haben. So zeigt Casale in dem ersten Teil ihrer Dissertation (Die Begegnung mit Nietzsche ⁴²) überzeugend auf, dass sich eine durch Nietzsche vorgegebene Fragerichtung bereits in den frühen Freiburger Vorlesungen der Jahre 1919 – 1923 findet. In diesen ringt Heidegger um seinen eigenen Standort gegenüber der Lebensphilosophie, weswegen die Verhältnisbestimmung von Denken und Lebensvollzug, Geschichtlichkeit und Christlichkeit, Zeitlichkeit und Augenblick in den Vordergrund rückt. Im zweiten Teil (Die Verklärung von Nietzsche ⁴³) veranschaulicht Casale luzide die Parallelen der ersten Deutung des Willens zur Macht (in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst) mit der Entschlossenheitskonzeption aus Sein und Zeit und dem Willen zum Wesen aus der Rektoratsrede. ⁴⁴ Im Rahmen dieser Kontextualisierung unterlässt sie es jedoch, die Spur des Willens zur Macht im Gang der Vorlesungen bis in die Texte der 1940er-Jahre zu verfolgen. Die ewige Wiederkehr wird von ihr im Horizont eines Denkens der Krisis untersucht.⁴⁵ Es ist hervorzuheben, dass Casale die Zielrichtung der Vorlesung von 1937 erhellend umgrenzt, indem sie die ewige Wiederkehr zum einen als Antidot gegenüber dem individuellen Negativphänomen der Langeweile versteht und sie zum anderen als Selbstüberwindung des Nihilismus expliziert.⁴⁶ Aufgrund der Einschränkung auf die im Jahre 1937 gewählte, affirmative Blickbahn bleiben die mannigfaltigen Ausgestaltungen, die die Lehre der ewigen Wiederkehr in Heideggers Auseinandersetzung mit den veröffentlichen Nennungen sowie im entwicklungsgeschichtlichen Wechselspiel mit Nietzsches anderen Leitgedanken erfährt, in Casales Studie allerdings verborgen. Hingegen soll in dieser Arbeit für die Bandbreite der Heideggerschen Klassifikationen der ewigen Wiederkehr sensibilisiert werden, die von der Wertschätzung als „innerster Mitte des metaphysischen Denkens“⁴⁷ bis hin zur kritischen Beurteilung als sublimierter „Geist der Rache“⁴⁸ an der Vergänglichkeit reichen. Harald Seubert wählt in seiner exzellenten Dissertation, in der die Strahlkraft Nietzsches als Übergangsfigur zwischen dem ersten und dem anderen Anfang im Fokus steht, einen ähnlichen Ausgangspunkt wie Casale. Er setzt bei der ersten expliziten Nietzsche-Referenz in der Habilitationsschrift Heideggers an und för-

 Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 25 – 222.  Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 223 – 329.  Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 241– 252.  Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 277– 329.  Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 285 ff.  Heidegger, N I, S. 20.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a. M. 2000, S. 119.

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dert den „Nietzscheschen Grundton“⁴⁹ in dem frühen phänomenologischen Methodenprofil einer Hermeneutik der Faktizität zutage. Im zweiten Teil (Heideggers Weg in die „Kehre“ und das Denkgespräch mit Nietzsche ⁵⁰) folgt Seuberts Studie dem verschachtelten Charakter der Vorlesungen, die er durch eine „windungsreiche Zwiesprache“⁵¹ gekennzeichnet sieht. Er kritisiert die Deutungsauffassungen einer sich durchhaltenden Kontinuität der metaphysischen Lesart, eines klar benennbaren und ausleuchtbaren Bruches inmitten der Nietzsche-Vorlesungen wie auch die Vorstellung einer linearen Abkehrbewegung Heideggers mit dem triftigen Verweis, „dass mitunter in ein und demselben Text- und Gedankenzusammenhang Zustimmung und Kritik gegenüber Nietzsche unvermittelt wechseln können“.⁵² Seubert schlägt in seinem kenntnisreichen Durchgang durch die einzelnen Nietzsche-Vorlesungen stets den Bogen zu Heideggers Denken des anderen Anfangs zurück, wobei die Beiträge zur Philosophie die wichtigste Referenz darstellen. Aus diesem Grunde ist für ihn eine abrundende Synopsis der immanenten Widersprüchlichkeit jedes einzelnen Haupttitels von geringerer Relevanz. Die in dieser Arbeit beabsichtigte Vereinigung von entwicklungsgeschichtlicher Studie und willensmetaphysischer Rekonstruktion steht nicht im Lichtkegel der Untersuchung Seuberts. Gegenüber den eine entwicklungsgeschichtliche Ausweitung anbahnenden Werken von Casale und Seubert kommen andere Monographien darin überein, sich innerhalb einer hoch selektiven Textauswahl mit hervorstechenden Themen und Anknüpfungspunkten des von Heidegger entfalteten Spektrums zu befassen. So analysiert Hak-Soon Kang in seiner Dissertationsschrift Die Bedeutung von Heideggers Nietzsche-Deutung im Zuge der Verwindung der Metaphysik ⁵³ die Präsenz des Motivs der Seinsvergessenheit in der Nihilismus-Diagnose Heideggers⁵⁴ und profiliert davon ausgehend die Notwendigkeit eines anderen Anfangs. Während das Zentrum der Darlegungen Kangs auf den Abhandlungen Heideggers zum Nihilismus liegt, konzentriert sich Michael Skowrons Schrift Nietzsche und Hei-

 Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 37.  Vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 69 – 182.  Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 13.  Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 22.  Vgl. Hak-Soon Kang, Die Bedeutung von Heideggers Nietzsche-Deutung im Zuge der Verwindung der Metaphysik, Bern 1990.  Vgl. zu diesem ideengeschichtlichen Thema besonders: Hans-Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Stuttgart-Bad Canstatt 1989. Im Hinblick auf Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Nihilismus ist nach wie vor grundlegend: Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin / New York 1992. Vgl. ferner Eike Brock, Nietzsche und der Nihilismus, Berlin / New York 2014.

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degger. Das Problem der Metaphysik ⁵⁵ vorrangig auf Nietzsches Bewältigung des Platonismus, um von dort zu Heideggers Wiederholung der Seinsfrage vorzudringen. Tadashi Otsuru hat in seinem Werk Gerechtigkeit und Dike. Der Denkweg als Selbst-Kritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung die Ambivalenz der Gerechtigkeit herausgearbeitet. Als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise vollstreckt die Gerechtigkeit einerseits die Gesetzgebung des Willens zur Macht. Andererseits deutet sie als Dike auf eine Akzeptanz der Einfügung in die Endlichkeit hin, wie Otsuru anhand der von Heidegger vorgetragenen Auslegung des Anaximanderspruches untermalt. Des Weiteren betont Otsuru, dass Heidegger die Gerechtigkeit sowohl in der Abhandlung Nietzsches Metaphysik (1940) als auch in dem Aufsatz Nietzsches Wort „Gott ist tot“ (1943) als das „verhüllte Wesen der Einheit und Wahrheit seiner [Nietzsches, J.K.] Metaphysik“⁵⁶ kennzeichnet. Dass Otsuru sich trotz dieser fundamentalen Einsicht kaum der von Heidegger gezogenen Verbindungslinie Heraklit – Nietzsche zuwendet, liegt darin begründet, dass Heidegger diese Vergleichsstiftung maßgeblich in dem 2003 herausgegebenen Seminar zur Historienschrift (GA 46)⁵⁷ entfaltet, das Otsuru zum Zeitpunkt seiner Dissertation (1992) noch nicht vorliegen konnte. Mit der Absenz einer entwicklungsgeschichtlichen Gesamtstudie gehen zwei Desiderate einher, die in dieser Arbeit behoben werden sollen: Erstens sollen die zahlreichen Relationsverschiebungen, Einschubstellen und veränderten Durchblicksbahnen in den Nietzsche-Vorlesungen im Verständnishorizont der fünf Grundworte nachvollzogen werden.⁵⁸ Dies geschieht im Rahmen

 Vgl. Michael Skowron, Nietzsche und Heidegger. Das Problem der Metaphysik, Frankfurt a. M. 1987.  Vgl. Tadashi Otsuru, Gerechtigkeit und Dike. Der Denkweg als Selbstkritik in Heideggers Nietzsche-Auslegung. Würzburg 1992, S. 94.  Vgl. Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung. Freiburger Seminar Wintersemester 1938/1939, GA 46, hrsg. von Hans-Joachim Friedrich, Frankfurt a. M. 2003.  Die Komposition der Fünf Grundworte von Nietzsches Denken prägt sich als Geflecht aus, das sich aus dem Willen zur Macht, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, dem Übermenschen, dem Nihilismus und der Gerechtigkeit zusammensetzt. Diese Konzeption lässt sich zum ersten Mal in dem Text Nietzsches Metaphysik nachweisen und stammt demnach aus dem Jahre 1940. Sie findet sich auch in der für das Wintersemester 1941/1942 angekündigten Vorlesung, die ebenfalls den Titel Nietzsches Metaphysik trägt. In der Vorlesung Der europäische Nihilismus aus dem II. Trimester 1940 hatte Heidegger bereits ein strukturanaloges Modell der Fünf Haupttitel im Denken Nietzsches entwickelt. Diese sind nahezu deckungsgleich mit den fünf Grundworten, allerdings nimmt die Umwertung aller bisherigen Werte hier (noch) den Platz der Gerechtigkeit ein.Vgl. zu den fünf Haupttiteln: Heidegger, N II, 23 – 32. Zu den fünf Grundworten vgl. Heidegger, N I, 231– 301; Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, 3 – 82.

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der Entwicklungsgeschichtlichen Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption (1936 – 1953), die den 1. Teil der vorliegenden Arbeit bildet.⁵⁹ Im 1. Teil soll die im Inneren der einzelnen Grundworte vor sich gehende, rekursive Wandlungsvielfalt freigelegt werden. Gegenüber der bisherigen Forschungstendenz soll die These profiliert werden, dass sich dieser Wandel nicht allein einer zunehmend kritischen Beurteilung von Seiten Heideggers zuschreiben lässt, sondern aus der spezifischen Durchleuchtungsart der fünf Grundworte im Spiegel eines ebenfalls ihrem Geflecht entsprungenen Gedankens resultiert. In der komprimierten Entfaltung der einzelnen Stationen jedes der fünf Grundworte soll verdeutlicht werden, dass Heidegger in der Darlegung der jeweiligen Kernmerkmale eine Eindeutigkeit anstrebt, die er tatsächlich erzielt und erreicht. Da jedoch alle diese Schilderungen in einen perspektivischen Betrachtungskontext eingebunden sind, ist es gerade der sich situationsgebunden äußernde Systematisierungswille Heideggers, durch den jede der Lehren eine Fülle von Bestimmungen erhält und birgt, die teilweise innerhalb der Metaphysik verbleiben, partiell aber auch über sie hinausweisen. Die einzelnen Charakterisierungen fungieren somit nicht nur als plausible Interpretationsoptionen. Zugleich treten sie in einen unauflöslichen Konflikt zu anderen von Heidegger gewählten Deutungszugängen. Um diese Abstoßbewegungen zu veranschaulichen, ist besonders die changierende Verhältnisbestimmung zwischen den als Grundlehren Nietzsches exponierten Gedanken des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr in sämtlichen Filiationen und in einer detaillierten Rekonstruktion nachzuzeichnen. Es soll gezeigt werden, dass die immer wieder neu ansetzende Relationsauslotung beider Lehren die übergreifende Kernherausforderung in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche bildet. Deswegen eignet sich dieses Gefüge vorzüglich als Auslegungskriterium, um die wesentlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten im internen Vergleich einzelner Vorlesungen sichtbar machen zu können. Im Hinblick auf den Gesamtgang der Auseinandersetzung, die sich von der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) bis zum Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) erstreckt, soll die Privilegierung der Konstellation zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen als Gravitationszentrum die hier vertretene These untermauern, dass sich in Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche keineswegs allein eine monodirektionale Abkehrbewegung ereignet, sondern ebenso eine Rekursivität von Deutungsmustern festzustellen ist.

 Die entwicklungsgeschichtliche Studie geht in Teilen auf eine Masterarbeit zurück, die im Sommersemester 2016 am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verfasst wurde.

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Zweitens ist die Genese des von Heidegger geschilderten Voluntarismus einer planetarisch ausgreifenden Subjektivität zu erwähnen. Diesem Sachgebiet widmen sich der 2. und der 3. Teil der Arbeit. Die von Heidegger gezogene Linie einer die Weltaneignung der Subjektivität vollendenden, neuzeitlichen Willensmetaphysik, die von Leibnizens vis primitiva activa über Schellings Willen der Liebe bis hin zu Nietzsches Willen zur Macht reiche, ist in höchstem Maße diskussionswürdig. Die Arbeit zielt auf eine umfassende Auslotung der Fragestellung ab, inwieweit die Leibnizsche Fusion von Wille (appetitus) und Vorstellung (perceptio), die in den Schelling-Vorlesungen 1936 und 1941 exponierte Selbstunterscheidung als „Wesen des Wollens“⁶⁰, die Zirkularität eines in der Steigerung zu sich selbst zurückkehrenden Willens zur Macht und Hegels Überlegungen zur Negativität in Heideggers eigene Konzeption des Willens zum Willen eingegangen sind. Im 2. Teil soll die tiefgreifende Rolle Schellings im Hinblick auf die Evolution des Willensverständnisses Heideggers thematisiert werden. Die Zentralität der zweiten entscheidenden Bezugsfigur in Heideggers Fundierung des voluntaristischen Paradigmas soll anhand der Vorlesungen zur Freiheitsschrift in den Jahren 1936 und 1941 entfaltet werden. In einer systematischen Perspektive ist die Frage aufzuwerfen, ob Heidegger in der Integration diverser Vergleichsanbindungen in den Willensbegriff allein die untergründige Verlaufsrichtung der Metaphysik der Subjektivität rekonstruiert oder den metaphysischen Holismus selbst auf seinen Gipfelpunkt führt, indem er vormals disparate Momente miteinander vereinigt. Um diese Problematik zu erhellen, ist es vonnöten, die Struktur, Funktion und Figuration des Willens zum Willen in ausgewählten Texten Heideggers herauszuarbeiten. Diese Aufgabe erfüllt der 3. Teil der Arbeit. Insgesamt verfolgt die Arbeit das Hauptziel, das Verhältnis zwischen Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zu erschließen und es in systematischer Hinsicht (d. h. unter der Signatur der Willenstheorie) als spannungsreichen Austragungsort einer philosophischen Selbstbesinnung auf den Nexus von Metaphysik, Geschichtlichkeit und Lebenswelt zu konturieren. Als leitendes Ordnungsprinzip fungiert die im Hintergrund der konkreten Ziele angesiedelte Auffassung, dass Heidegger seine eigene, modernediagnostische Konzeption des Willens zum Willens nicht nur als letzte Stufe der Ausfaltung des Seins des Seienden als Wille etabliert, sondern seinen Entwurf selbst durch die Synthese der Willensbegriffe Schellings, Schopenhauers und  Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809), GA 49, hrsg. v. G. Seubold, Frankfurt a. M. 1991 [im Folgenden = GA 49], S. 87.

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Nietzsches gewinnt. Dabei kann – so die These – gegenüber der vermeintlichen Geschlossenheit, Irreversibilität und unauflösbaren Autoimmunisierung des Willens zum Willen ein philosophisches Potenzial der Relativierung aufgeboten werden. Dieses Relativierungspotential lässt sich bemerkenswerterweise aus Heideggers Nietzsche-Vorlesungen entnehmen und ist maßgeblich mit Heideggers keineswegs einheitlicher Exegese des Willens zur Macht verbunden. Darauf aufbauend, soll veranschaulicht werden, dass Heidegger gerade in der Initiierung und Untermauerung der subkutanen Willensdeterminiertheit des modernen Weltverständnisses eine von ihm selbst nicht freigelegte Gegenbewegung hervorbringt. Diese könnte die Unhintergehbarkeit der von Heidegger gezeichneten Formierungslinie abmildern (sekundiert von der Rekonstruktion der konkreten Entstehungsstufen, die sich in Heideggers Anamnese der Subjektivität versammeln), ohne ihre philosophische Komplexität reduzieren oder gar einebnen zu müssen. Vielmehr kann die ideengeschichtliche Bedeutung der Subjektivitätsanalyse Heideggers durch die Nachzeichnung der Einflüsse, der Abwägungen und Prämissen, die für dessen Willensverständnis zentral sind, erst entsprechend gewürdigt und für die Anbringung einer sachhaltigen, immanenten Kritik zugänglich gemacht werden. Der Aktualitätsbezug der Arbeit ist zum einen werkgeschichtlicher und forschungsinterner Natur. Es soll eine grundsätzliche Neubesinnung auf die Gelenkstellen, Abstoßpunkte und Impulse, die Heideggers Spätwerk ab 1944/45 einläuten, vorbereitet werden. In der bisherigen Forschung dominiert das Paradigma, Heideggers mit den Feldweg-Gesprächen (1944/45) anhebende Gelassenheitskonzeption als Antwort auf die Einsicht in die vermeintlich „fatale“, sich in der technischen Nutzbarmachung der Welt äußernde Verfügungsgewalt einer anonymen Willensinstanz zu beurteilen. Heideggers Zuwendung zur Gelassenheit wird als Eröffnung eines Denkens verstanden, das sich in einem Unterwegs hält, die Nähe zur Dichtung sucht und zuletzt auf den philosophischen Begriff verzichtet. Zwar soll die Triftigkeit des geradezu klassisch zu nennenden, denkbiographischen Narrativs nicht bestritten werden. Die Genese der für diesen Erklärungsstrang grundgebenden Fundamentaldisjunktion zwischen willensgeprägter Metaphysik einerseits und jenseits des Wollens situierter Gelassenheit andererseits soll jedoch in der Konzentration auf den ersten Vergleichspol reflektiert werden. Zum anderen möchte die Arbeit die Grenzen,Widersprüche und konstruktiven Anschlussmöglichkeiten der Modernitätskritik beider Denker ausloten und dabei in einer differenzierten Vorgehensweise transparent machen, dass Heidegger in der auf Nietzsche aufbauenden Schilderung der Ausweglosigkeit des Willens zum Willen unfreiwillig vermeintlich untergeordnete Motive wie das Geltenlassen, die Selbstzurücknahme und die Anerkennung der Endlichkeit bei Nietzsche aufspürt.

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Diese Motive können angesichts des aktuellen und virulent bleibenden Diskurses um „Entfremdung“, „Beschleunigung“ und die verrinnende Zeit sowie im Hinblick auf die dringliche Debatte um die Regulierbarkeit der Technik als Korrektiv dienen. Gleichzeitig soll ein bewusster Verhältnisbezug zu diesen Phänomenen eine philosophische Untermauerung erfahren. Um den rezeptionstheoretischen Fragenkomplex zu beantworten, ob sich ein leitender Ariadnefaden oder eine unveränderte Grundauffassung durch Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche zieht, inwieweit sich unbedeutend erscheinende Modifikationen zu dem Gesamtbild einer signifikanten Distanzierung zusammenfügen oder ob sich ein unvermittelter Bruch konstatieren lässt, ist es von grundlegender Relevanz, sich Nietzsche I und Nietzsche II mit einer möglichst unvoreingenommenen Behutsamkeit zu nähern. Es kann daher nicht das Erkenntnisinteresse und Ziel dieser Arbeit sein, die Rechtmäßigkeit einer apologetischen Parteinahme für den als Antimetaphysiker klassifizierten Nietzsche oder für den Seinsdenker Heidegger in einem selektiven Durchgang durch den Text zu erweisen. Gleiches gilt für Pauschalthesen, die eine vollständige Überwindung Nietzsches durch Heidegger behaupten oder Heideggers Umgang mit Nietzsche auf einen Überbietungsgestus festlegen, der sich schließlich selbst in den Netzen der Metaphysik verfange. Es ist offenkundig, dass das gegenseitige Ausspielen der beiden Denker inmitten dieser vielleicht letzten Gigantomachie um das Sein nicht nur die Einstimmigkeit des Anliegens ignorieren muss. Das Pathos der Abgrenzung verdeckt auch die gemeinsam und gegeneinander errungenen Lichtblicke und Einbruchsstellen einer freimütigen Anerkennung des ungegründeten Werdens inmitten der menschlichen Endlichkeit. Diese Akzeptanz könnte die sowohl von Nietzsche als auch von Heidegger diagnostizierte Ranküne gegen das ‚Es war‘, gegen die Vergänglichkeit der Zeit hinter sich lassen. Es ist daher geboten, sich auf Heideggers seinsgeschichtliche Sichtweise einzulassen und wachsam an jenen Gelenkstellen zu intervenieren, an denen sich ein Widerstand Nietzsches abzeichnet. Dieser Widerstand kann sich allerdings nur in einem veränderten Zugang Heideggers artikulieren, in der Wiederaufnahme, Neubewertung und Abkehr von leitenden Verhältnisbestimmungen. Daher ist eine ausführliche, textimmanente Darlegung erforderlich, die einen weiten zeitlichen Bogen überspannt. Im Rahmen der entwicklungsgeschichtlichen Studie gilt es, die wesentlichen Verschiebungen im Gefüge der Hauptgedanken Nietzsches zu markieren, an denen sich Heideggers Einstellungswandel ausweisen lässt. Das zentrale Erkenntnisinteresse besteht in dem Nachweis eines diachronen, in jeder einzelnen Vorlesung wiederkehrenden Aufwurfes von kontradiktorischen Deutungsmöglichkeiten, die Nietzsche in den Zwiespalt zwischen der Befreiung von der Metaphysik und dem vollendenden Rückgang in die Metaphysik einrü-

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cken lassen.⁶¹ Die leitende, im Laufe der Arbeit zu validierende These lautet, dass sich in Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche eine Tiefenschicht freilegen lässt, die ein alternatives Nietzsche-Bild generiert. Dieses reichert Heideggers gewonnene Kernbestimmungen des Willens zur Macht, der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen nicht nur an, sondern stellt sie in Frage. Nietzsche soll von Anfang an in einen Dialog mit Heidegger gebracht werden, indem in den Fußnoten auf Nachlassaufzeichnungen und Passagen aus den veröffentlichten Werken hingewiesen wird, die eine anderslautende Lesart erlauben und Nietzsches Unausdeutbarkeit unterstreichen. Es ist an dieser Stelle unerlässlich, den Topos, die Methodik und das epistemologische Potenzial des Begriffs der ‚Entwicklungsgeschichte‘ in einer hermeneutischen Klärung zu reflektieren, um möglichen Missverständnissen vorzubeugen. Das Konzept der ‚Entwicklung‘ soll in dieser Arbeit in einem offenen Sinn verstanden werden. Angestrebt ist eine idiographische Verwendung dieses Terminus, um sowohl Heideggers affirmative Kontinuitäten in der Interpretation einzelner Gedanken Nietzsches als auch potenzielle Standpunktwechsel, Verschärfungen oder abrupt-unerwartete Wendungen dokumentieren zu können. Im Medium eines verstehenden Nachvollzuges soll die Geschichte der NietzscheVorlesungen Heideggers abgebildet und anhand der wesentlichen Begriffe und Lehren Nietzsches ausdifferenziert werden. Es ist die methodische Leitthese dieser Arbeit, dass allein durch die konsequente Befolgung eines solchen Entwicklungsparadigmas die innerhalb der Nietzsche-Vorlesungen Heideggers zutage tretende Verflechtung von veränderungsresistenten Positionierungen und gewandelten Urteilskategorien synthetisiert und beurteilt werden kann. Zudem kann dergestalt der Eigenwert jeder einzelnen Vorlesung gewürdigt werden, ohne die in dem jeweiligen Situationszusammenhang gewählte Perspektive Heideggers mitsamt den daraus entspringenden Deutungsmustern in einer finalursächlichen Gesamtdynamik nivellieren zu müssen. Durch diese richtungsoffene, die Überlappung und Durchdringung verschiedener exegetischer Zeitschichten⁶² respektierende Formierung des Entwick-

 Eine Darstellung und Auslotung der divergierenden Gebrauchsweisen und Beurteilungen des Terminus „Metaphysik“ in Heideggers Gesamtwerk und eine Rekonstruktion der dezidierten Inanspruchnahme dieses Titels für dessen eigene Konzeptionen der Fundamentalontologie, der Metontologie und der Metaphysik des Daseins gibt Jean Grondin. Vgl. Jean Grondin, Der deutsche Idealismus und Heideggers Verschärfung des Problems der Metaphysik nach „Sein und Zeit“, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln / Weimar / Wien 2003, S. 41– 57, bes. S. 46 – 52.  Zur Theorie der Zeitschichten vgl. Reinhart Koselleck, Zeit, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 2019, S. 334: „Verschiedene Systeme zeitigen zu-

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lungsbegriffs können neben der bildhaft-sukzessiven Modellierung der Linie auch die Narrationsformen des Brückenschlages, des Kreises oder des Schnittes berücksichtigt werden. Folglich soll in dieser Arbeit keineswegs eine Erzählstruktur befördert werden, die eine teleologisch verlaufende Notwendigkeit unterstellt. Eine solche Teleologie kann die bedeutsamen Ausstrahlungsweisen der latenten, in den Nietzsche-Vorlesungen meist nur indirekt zum Vorschein kommenden Wandlungen des metaphysikgeschichtlichen Rekonstruktionsanliegens Heideggers nicht einfangen. Des Weiteren ist sie nicht imstande, ein Gespür für mögliche Kontingenzen zu entwickeln. Einer Suggestion des Unausweichlichen wird beispielsweise Vorschub geleistet, wenn behauptet wird, dass schon zu Beginn der dezidierten Auseinandersetzung im Jahre 1936 die Weichen für Heideggers (vermeintliche) Auslegung der Metaphysik Nietzsches als auf den Gipfel geführter Anthropomorphismus gestellt worden seien. Ebenso wenig soll der Begriff der Entwicklung als werthaft aufgeladene Sukzession nach Maßgabe einer Evolution erörtert werden. Demzufolge müsste Heideggers späte Nietzsche-Deutung der 1940er-Jahre einen philosophischen Vorrang gegenüber den ersten Vorlesungen Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) und Die ewige Wiederkehr des Gleichen (1937) beanspruchen dürfen, weil Heidegger das Sujet der metaphysikgeschichtlichen Stellung Nietzsches im Prozess der Auseinandersetzung immer schärfer und kenntnisreicher durchleuchtet und eindeutiger umrandet hätte. Neben diesem Theorierahmen einer Fortschrittslogik der progressiv vertieften Erkenntnis ist auch die umgekehrte, ein negatives Ende proklamierende Version zurückzuweisen. Ein solcher Rekonstruktionszugriff fußt ebenfalls auf der Ansicht einer monodirektionalen Grundausrichtung des Heideggerschen Zwiegespräches mit Nietzsche. Dass Heidegger nach einer anfänglichen und verheißungsvollen Emphase zunehmend die problematischen Aspekte der Philosophie Nietzsches in das Wahrnehmungsfeld rückt, ist zwar – wie in der entwicklungsgeschichtlichen Darstellung dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird – grundsätzlich korrekt. Dennoch folgt die unterkomplexe Sichtbahn einer unverbrüchlich fortschreitenden Abkehr jenem Verfallsnarrativ eines unverfälschten Anfanges und eines den ursprünglichen Sinn verkehrenden Endes, das Heidegger seinerseits als Hintergrundstruktur der Seinsgeschichte aufruft.

gleich verschiedene Zeiten: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Diese Zeitbestimmungen hängen vom Standpunkt der Beobachter ab – sowohl in der Natur- als auch in der Geschichtswissenschaft; sie lassen sich nicht widerspruchsfrei auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Gemeinsam ist den innovationsträchtigen Zeitbestimmungen aber, dass sie immer von Faktoren der Wiederkehr abhängen, die sich in den Ereignissen rhythmisch verschieden wiederholen, ohne die keine Neuerung denkbar ist.“

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Gleichwohl ist festzuhalten, dass die beiden soeben genannten Verständnisweisen auf den ersten Blick durchaus unter einem entwicklungsgeschichtlichen Verfahren subsummiert werden könnten. Beide Modelle gehen von einer in den Nietzsche-Vorlesungen zu konstatierenden Gesamtbewegung veränderlicher Bewertungen aus. Umso markanter tritt allerdings hervor, dass sich die in dieser Arbeit bevorzugte Charakterisierung der Entwicklung mit Nachdruck gegen die Hypothese einer übergreifenden, alle Grundworte Nietzsches betreffenden Deutungskonstanz wendet. Gemäß diesem geschlossenen Systematisierungsversuch wäre Heideggers metaphysische Nietzsche-Auslegung von Anfang an zementiert. Diese Urentscheidung würde sich im Fortgang der Vorlesungen nur in mannigfaltige Aspekte ausfalten, ohne dass Heidegger zu neuartigen oder transformierenden Reflexionsstufen gelangen würde. Obwohl die vorliegende Studie also weder das nicht-differenzsensitive Ordnungsmuster der bloßen Wiederholung noch die These eines permanenten Wandels⁶³ bestätigen möchte, sind auch organologisch-biologische Konnotationen des Entwicklungssinnes fernzuhalten. Die organische Lesart müsste dem Schema eines gleichsam unausgereiften Anfangsstadiums der Nietzsche-Rezeption Heideggers folgen, das von einem intensiven Zwiegespräch und einem Zenit der positiven Annäherung abgelöst würde, um schließlich in eine Phase der Distanzierung oder sogar des Desinteresses überzugehen. Um den potenziellen Einwand einer methodischen Unschärfe zu entkräften, ist an diesem Ort zuzugestehen, dass auch die vorliegende Untersuchung von einem hermeneutischen Vorgriff geleitet wird. Diese Interpretationsaussicht begreift die Vielschichtigkeit und den Perspektivenreichtum des Dialoges zwischen Heidegger und Nietzsche als Grundbefund und Strukturprinzip der Vorlesungschronologie. Trotz der gliedernden Linearität einer werkgeschichtlichen Darstellungsform sollen Figuren und Konzepte aufgerufen werden, die den auf der formalen Ebene unvermeidlichen Anschein einer inhaltlichen Pfadeinseitigkeit konterkarieren können. Vielmehr soll demonstriert werden, dass sich die Semantik der komplexen, in sich einen spezifischen Bereich der Metaphysik bündelnden Leitbegriffe im Laufe der Zeit verschiebt, während andere Gegen- und Unterbegriffe bedeutungskonstant bleiben. Durch diese begriffsgeschichtliche⁶⁴

 Vgl. Reinhart Koselleck, Zeit, S. 334 f.: „Wenn alles, auf der linearen Zeit-Skala gemessen, nur neu wäre, fiele die Menschheit dauernd in ein Loch. Wenn sich alles nur stetig wiederholte, gäbe es keinen Wandel. Daher lautet die für Natur- und Geisteswissenschaften gemeinsame Herausforderung, Prozesse zu erkennen, die sowohl innovativ sind, als auch auf wiederkehrenden Voraussetzungen ihrer Innovation beruhen.“  Vgl. zur Eingrenzung des begriffsgeschichtlichen Erkenntnisinteresses und zur inneren Temporalität der Begriffe die luzide Definition von Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte, in:

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Orientierung an selektiven Leitgrößen, deren Relevanz sich aus Heideggers vorlesungsinterner Exposition der sachhaltigen Erkenntnisziele nahezu automatisch und ungezwungen ergibt, soll vermieden werden, dass das Methodenprofil der Entwicklungsgeschichte zu einer diffusen Chiffre ungeordneter und willkürlich herauszugreifender Veränderungen gerinnt. Dazu ist es unabdingbar, dass die Begriffe zum einem in ihrem jeweils isolierten Binnenhaushalt und in ihrer sich über den Korpus der Vorlesungen erstreckenden Geschichte analysiert werden. Neben dieser gewissermaßen monadischen Betrachtungsart müssen die Grundworte parallel auch relational in ihrem Verhältnis zu „Begleit- und Nebenbegriffe[n]“⁶⁵ überprüft werden. Durch diesen untersuchenden wie erzählenden topologischen Ansatz sieht sich die vorliegende Arbeit in die Lage versetzt, die in Heideggers Beschäftigung mit Nietzsche häufig verborgene „Überlagerung chronologisch verschiedener Herkunftsbestände“⁶⁶ aufzuspüren. Es eröffnet sich die Chance, Heideggers konkrete Ortsbestimmungen der Grundworte und Hauptlehren Nietzsches mit der Werkentwicklung vor und nach der Kehre zusammenzuschließen. Explizit soll der Versuchung einer monothematischen Bezugnahme auf Heideggers Nietzsche-Vorlesungen widerstanden werden. Eine solche Vereinfachungstendenz könnte sich auf einen einzigen, plakativen Zentralbegriff wie z. B. den Willen zur Macht stützen, indem sie diesen als scheinbar relationslosen Terminus aus den prägenden Kontexten des Gesamtganges der Vorlesungen herauslösen würde. Im Kontrast zu einer derartigen, statisch-metaphysischen Verengung und im Gegenhalt gegen eine teleologische Interpretationstendenz wird in dieser Arbeit eine genuin perspektivische und textimmanente For-

Stefan Jordan (Hrsg.), Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, S. 42: „Je nach Fragestellung sind also in jeder Begriffsgeschichte Synchronie und Diachronie auf verschiedene Weise verschränkt, niemals isolierbar. Deshalb enthalten alle Begriffe eine zeitliche Binnenstruktur. Je nachdem, wie viele vorausliegende Erfahrungsgehalte in ihm angesammelt wurden, und je nachdem wie viel innovative Erwartungshaltungen in ihn eingehen, hat ein Begriff unterscheidbare zeitliche Wertigkeiten. Es gibt rückblickende Begriff, die alte Erfahrungen gespeichert halten und sich gegen Umdeutungen sperren, und vorausschauende Begriffe, Vorgriffe, die eine neue oder andere Zukunft heraufbeschwören, terminologisch gesprochen: Erfahrungs-, Bewegungs-, Erwartungs-, Zukunftsbegriffe u. a.“  Zu dieser relationalen Einbettung der Untersuchungsbegriffe vgl. Koselleck, Begriffsgeschichte, S. 43: „Speziell ohne Gegenbegriffe, Ober- und Unterbegriffe, Begleit- und Nebenbegriffe lässt sich kein Begriff analysieren. Er verweist zwangsläufig auf größere Texteinheiten, ohne deshalb seinen Status zu verlieren, denknotwendige Voraussetzung semiotischer Prozesse zu bleiben, über die gestritten werden muss:“  Paul Nolte, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft, S. 134.

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schungsmaxime angestrebt, angewendet und verteidigt. Auf diese Weise sollen mannigfaltige Deutungsspielräume für den in der bisherigen Forschungsdiskussion noch unterrepräsentierten Modus einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ⁶⁷ erschlossen und ein Einblick in die Synchronie einzelner Elemente gewährt werden. In methodischer Hinsicht verfährt die Arbeit daher a) im 1. Teil rezeptionsgeschichtlich und konstellativ, insofern sie sich zwar auf die vier Nietzsche-Vorlesungen der Jahre 1936 – 1940 fokussiert, dabei jedoch alle veröffentlichten Texte, Aufsätze, Seminare und Stellungnahmen Heideggers zu Nietzsche als Kontextualisierungselemente einbezieht; b) hermeneutisch-exegetisch, insofern die Untersuchungen gerade im Rahmen des 2. und 3. Teils an eine klar konturierte und präzise eingegrenzte Textbasis zurückgebunden werden und c) im Ganzen systematisch, sofern die Neugewinnung eines methodisch gesicherten und interpretatorisch ambitionierten Standpunktes an das Narrativ der Willensmetaphysik angekoppelt wird. Diese Sinnerzählung wird unter dem Gesichtspunkt des Willens zum Willen und dessen Zusammenhang mit dem Willen der Liebe und dem Willen zur Macht beleuchtet. Im Rahmen der übergeordneten, den rezeptionsgeschichtlichen und den systematischen Zugriffsbereich zusammenschließenden Zielsetzung verfolgt die Arbeit im Einzelnen somit zwei aufeinander aufbauende konkrete Ziele, in deren Bearbeitung beide Themenfelder ineinandergreifen und aufeinander zulaufen sollen: erstens eine umfassende Erarbeitung von Heideggers expliziter Nietzsche-Rezeption auf Basis sämtlicher zugänglicher Materialien; und zweitens eine Neuevaluation der Heideggerschen Perspektive auf die neuzeitliche Willensmetaphysik. Aus dem methodischen Programmaufriss ergibt sich die folgende Gliederung der drei Teile der Arbeit: 1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption (1936 – 1953)

 Vgl. Nolte, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, S. 136: „In der modernen Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen […], bündeln sich insoweit die Polaritäten von Diachronie und Synchronie, von Ereignis und Struktur, von Dauer und Wandel, von Erfahrung und Erwartung. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird neben der Irreversibilität von Ereignissen und den Wiederholungsstrukturen zu einer von drei fundamentalen ‚temporalen Erfahrungsmodi‘ von Geschichte (Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979). […] Sie steht […] für die Erfahrung von Brüchen und Differenzen und verweist auf die verlorene Eindeutigkeit der Moderne und ihrer ‚Meistererzählungen.‘“

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Der erste Teil folgt einer motivorientierten und textchronologischen Verfahrungsweise und sucht den gewählten Aufbausinn, die innere Bewegung und die Beziehung der vier großen Freiburger Nietzsche-Vorlesungen (Der Wille zur Macht als Kunst, Die ewige Wiederkehr des Gleichen, Der Wille zur Macht als Erkenntnis sowie Der europäische Nihilismus) in einer akribischen und textnahen Lektüre zu erschließen, nachzuvollziehen, zu deuten und zu kontextualisieren. Neben der Bezugnahme auf die konkrete Darstellungsebene ist stets zu reflektieren und zu ermitteln, inwieweit sich tieferliegende Intentionen in den einzelnen Schritten, Zwischenzusammenfassungen und Akzentuierungen Heideggers manifestieren. Um der entwicklungsgeschichtlichen Studie den Rückhalt eines formgebenden Ordnungssinnes zu verleihen, wird in der Folge das Distinktionskriterium von Mikrokosmos und Makrokosmos als Beurteilungsgrundlage verwendet. Auf diese Weise soll der Beleg erbracht werden, dass sich die frühen Nietzsche-Vorlesungen Der Wille zur Macht als Kunst und Die ewige Wiederkehr des Gleichen dadurch auszeichnen, dass sie ihren Ausgang vom Einzelnen nehmen und von dort zum Weltganzen fortschreiten. Vor diesem Hintergrund kann das Auslegungsparadigma entwickelt werden, dass sich im Laufe der Nietzsche-Vorlesungen nicht schlichtweg eine sukzessive Distanzierung Heideggers ablesen lässt, sondern dass er ab 1939 einen Perspektivwechsel initiiert, in dem der Einzelne sich in ein vom Willen zur Macht dominiertes Weltgeschehen eingespannt sieht. Dieser Perspektivwechsel muss jedoch nicht zwangsläufig die Aufhebung der früheren, über das Individuum koordinierten Begründung des Willens zur Macht sowie die Zurückweisung des 1937 in der Begegnung mit der Lehre der ewigen Wiederkehr entfachten Möglichkeitsdiskurses implizieren. Der Schwerpunkt des 1. Teils liegt auf der ersten Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst, die Heidegger im Wintersemester 1936/37 in Freiburg hielt. Diese Vorlesung soll in insgesamt fünf Kapiteln thematisiert und interpretiert werden: 1) Im Anfangskapitel der entwicklungsgeschichtlichen Studie wird die Verflechtung des Gedankens der ewigen Wiederkehr des Gleichen mit dem Willen zur Macht im Ausgang von Heideggers erster Behandlung dieses Themas, die innerhalb der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst in dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung ⁶⁸ zu lokalisieren ist, untersucht. Um die 1936/1937 bestehende Pluralität und Unabgeschlossenheit der Heideggerschen Verhältnisbestimmung der beiden Lehren transparent zu machen, werden vier verschiedene Modelle der Synthesebildung präsentiert. Es gilt zu zeigen, dass Heidegger Nietzsche einerseits noch in der Metaphysik verortet,

 Vgl. Heidegger, N I, S. 15 – 22.

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ihn andererseits jedoch als Wiederentdecker des „verborgenen Wesen[s] der Zeit“⁶⁹ dieser Tradition enthebt. Auf der einen Seite ist bereits 1936/37 die Unterscheidung der Lehren mithilfe der schulmetaphysischen Titel von essentia und existentia angelegt, wenn Heidegger das Verhältnis wie folgt markiert: „Der Grundcharakter des Seienden als solchen ist der ‚Wille zur Macht‚. Das Sein ist die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‚“.⁷⁰ Auf der anderen Seite sieht Heidegger Nietzsche als zentralen Vorläufer seines eigenen Ansatzes in Sein und Zeit: „Das Sein, den Willen zur Macht, als ewige Wiederkehr denken, den schwersten Gedanken der Philosophie denken, heißt, das Sein als Zeit denken“.⁷¹ 2) Das darauffolgende Kapitel widmet sich der internen Differenzierung des Willens zur Macht, die Heidegger ebenfalls in der Vorlesung von 1936/1937 darlegt. Im ersten Unterabschnitt dieses Kapitels soll illustriert werden, wie Heidegger Nietzsches Willensbegriff von den herkömmlichen Konnotationen abgrenzt. Darauf aufbauend ist herauszuarbeiten, dass Heidegger das selbstreferentielle Befehlen-Können der aus Sein und Zeit bekannten Konzeption der Entschlossenheit annähert und beide Elemente in der Wesensbestimmung der Macht vereinigt. Die Macht kommt in jeder Aufstufung auf sich zurück, da sie sich nur in der Übersteigerung als vollgültige Macht bewahren kann. Es soll die These vertreten werden, dass Heidegger im Rückbezug auf den Leib und die menschliche Affektivität die Vervielfältigung miteinander konkurrierender Willensgestaltungen durchaus beachtet. Weil er die Kantische Autonomiebestimmung des Willens als Unterwerfung unter das selbstgegebene Gesetz in den Binnenhaushalt jedes einzelnen Machtzentrums einträgt, kann er die Pluralität der Antriebe jedoch auf eine vorübergehende Entzweiung reduzieren. Als innerer Aufruf läuft diese wieder in diejenige Einheit zurück, von der sie ihren Ausgang nahm. Diese auf den Selbstvollzug beschränkte Intentionalität, die jedes Wünschen und Streben nach Nicht-Willensförmigem ausschließt, dehnt Heidegger per Strukturanalogie in einer Weise auf die Allheit des Seienden aus, in der er dieses zugleich in den Wesenswillen hineinnimmt. Dabei rückt die Frage in den Vordergrund, inwieweit Heidegger die metaphysische Allheitsprätention des Willens zur Macht angesichts der analytisch-phänomenologischen Reduktion auf menschliche Lebensvollzüge einlösen kann. 3) Das dritte Kapitel der entwicklungsgeschichtlichen Studie befasst sich mit dem zentralen Thema der Vorlesung von 1936/37: Dem Zusammenhang zwischen dem Willen zur Macht und der Kunst. Als leitgebende Interpretationsansicht soll

 Heidegger, N I, S. 17.  Heidegger, N I, S. 22.  Heidegger, N I, S. 17.

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entwickelt werden, dass Heidegger insofern über Nietzsches kunsttheoretische Überlegungen hinausgeht, als er die Kunst ontologisiert und sie zur höchsten Repräsentation und durchsichtigsten Darstellungsstufe des Willens zur Macht potenziert. Einerseits begreift Heidegger das schöpferisch-verklärende Potential der Kunst im Einvernehmen mit Nietzsche als Gegenbewegung gegen den Platonismus, der aufgrund seiner Fokussierung auf das Übersinnliche die sinnlichhiesige Welt entwertet und deswegen als nihilistisch zu kennzeichnen ist. Andererseits etabliert Heidegger die Kunst als Grundgeschehen der Wirklichkeit selbst, als eine diesem innewohnende, belebende wie zerstörerisch-auflösende Kraft. Einen zweiten Hauptstrang des Kapitels bildet die Dokumentation und Ergründung der von Seiten Heideggers gezeichneten, komplexen Beziehungsverhältnisse zwischen den Topoi des Rausches, der Form und der Schönheit. Dass Heidegger den Willen zur Macht 1936/1937 positiv, ja emphatisch als freiheitsstiftendes Bindeelement scheinbar widerwendiger und sich ausschließender Pole würdigt, soll anhand seiner fulminanten Interpretation des großen Stils bekräftigt werden. In diesem vereinigen sich nach Heidegger das urwüchsige Chaos und das maßvolle Gesetz, das Werden und das Sein, der Rausch und die Form. 4) Die Ausführungen des vierten Kapitels mit dem Titel: Die Umdrehung des Platonismus: Der „Entsetzen erregende Zwiespalt“ und die Verhältnisbestimmungen von Kunst und Wahrheit in der Politeia und im Phaidros entfalten sich innerhalb des Horizontes der Problematik einer Umdrehung des Platonismus. Zuvorderst ist zu erhellen, warum Heidegger ein adäquates Verständnis der Metaphysik Nietzsches im Allgemeinen (sowie der Sachgebiete der Wahrheit und der Kunst im Besonderen) an eine Durchdringung der philosophiegeschichtlichen Gegenstellung zum Platonismus knüpft. Ein weiterer Hauptaspekt des Kapitels gruppiert sich um die kritische Erörterung und Gewichtung der von Seiten Heideggers entworfenen, partiell intrikaten Konstellationen des Zwiespalts und des Einklangs zwischen Wahrheit und Kunst bei Platon und bei Nietzsche. Eine exzeptionelle Rolle kommt dabei dem Motiv des Entsetzen erregenden Zwiespalts zu. Angesichts des gewählten Erkenntnisinteresses ist ein kommentierender Durchgang durch Heideggers Bestimmungen der Hierarchie von Kunst und Wahrheit in Platons Politeia sowie im Phaidros unabdingbar. 5) Im Rahmen des fünften Kapitels (Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit. Die Herausdrehung aus dem Platonismus) soll zunächst expliziert werden, dass und weswegen Heidegger Nietzsche eine gelungene Aufhebung der Dichotomie von wahrer und scheinbarer Welt und somit auch die erfolgreiche Herausdrehung aus dem Platonismus im Rückgriff auf das Stück Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde (Götzen-Dämmerung) durchaus zugesteht. Ein besonderes Augenmerk soll darauf gelegt werden, wie Heidegger seine mit einem

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frühen Nachlassfragment validierte Grundauffassung, Nietzsches Philosophie sei umgekehrter Platonismus, zeitweise aufgibt.⁷² Nach dem Hinwegfall der „wahren Welt“ der übersinnlichen Ideen reüssiert keineswegs die Ubiquität der Täuschung, da im Zuge dieses geschichtlichen Ereignisses auch der Gegenhalt verschwindet, von dem aus die Welt des Werdens als scheinbar und täuschend diskreditiert werden konnte. Deswegen mündet die Herausdrehung aus dem Platonismus nicht in die Allgegenwart des bloßen, täuschenden Scheins ein. Stattdessen zerfällt die Welt und mit ihr das organische Leben in das perspektivische Beziehungsnetz jener Betrachtungsweisen, die divergierende, unaufhörlich miteinander ringende Kraftpunkte auf sie werfen. Es soll demonstriert werden, dass Heidegger der Vielschichtigkeit des Perspektivismus bei Nietzsche durchaus gerecht wird, indem er drei Verwendungsweisen des Scheinbegriffes unterscheidet: Den Schein als perspektivische Unbestimmtheit, den Schein als festgemachten Anschein und den Schein als Aufscheinenlassen der Werdemöglichkeiten im Medium der Kunst. Zum Ende des Kapitels zum Perspektivismus ist zu skizzieren, dass sich die Herausbildung der späteren, ‚absolutistischen‘ Lesart des Willens zur Macht als einer bestandsichernd-überhöhenden Wertsetzungsentität trotz der 1936/37 festzustellenden, affirmativen Lesart in der Gestalt des Zusammenschlusses von Wahrheit und Kunst bereits in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst anbahnt. Indem Heidegger die Herausdrehung aus dem Platonismus nämlich als Selbstbefreiung des Willens zur Macht zu sich selbst als der perspektivischen Wirklichkeit begreift, kann er das binäre Modell der höherwertigen, verklärenden Kunst auf der einen Seite und der festmachend-beständigen Wahrheit auf der anderen Seite in die einzige Realität überführen. Als koordinierendes Prinzip wäre der Wille zur Macht gleichwohl nicht mehr von den Nachwirkungen des platonischen Chorismos betroffen – Nietzsche wäre die Überwindung des Platonismus tatsächlich gelungen. Diese Emanzipation birgt allerdings die Gefahr, den weltimmanenten Willen zur Macht doch wieder jenseits oder unterhalb der Wirklichkeit anzusetzen. Um an der These eines Zusammenfalls von Sein und Schein innerhalb der willensdurchdrungenen Realität festhalten zu können, veranschaulicht Heidegger, dass der Wille zur Macht selbst nichts anderes ist als die permanente Einfügung in dieses dynamisierte Geflecht. Daraus leitet sich ein immens folgenschwerer Schritt ab, der für den gesamten weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit Nietzsche bestimmend sein wird: Heidegger löst die  Heidegger untermauert diese Kennzeichnung mit einer frühen Nachlassnotiz von 1870/1871, in der Nietzsche seine Philosophie als „umgedrehten Platonismus“ charakterisiert. Vgl. Nietzsche, NF-1870,7[156], KSA 7, S. 199: „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“

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Kunst aus ihrer Gleichsetzung mit der Sinnlichkeit und befreit die Wahrheit aus der platonisch grundierten Parallelisierung mit dem Übersinnlichen, um die in einem Entsetzen erregenden Zwiespalt situierten Elemente in die Performativität des allumfassenden Willens einzubetten. Auf der Grundlage der gewonnenen Ergebnisse und im Anschluss an das Kapitel zur Neuen Auslegung der Sinnlichkeit soll im sechsten Kapitel die Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen aus dem Sommersemester 1937 besprochen werden. In der Analyse des Willens zur Macht benennt Heidegger den Wesenswillen zwar als Akteur, bestimmt ihn aber vom Einzelnen her. Dieser kann seine Einfügung in den Willen nicht ausschlagen, weil er als Befehlsunwilliger zum Diener würde, der in die Herrschaftslogik des Machtwillens eingebunden bliebe. Die ordnende These des Kapitels ist, dass sich diese Konstellation in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen aus dem Sommersemester 1937 maßgeblich ändert. Im Rekurs auf diese Vorlesung soll transparent gemacht werden, dass die Konfrontation mit der Möglichkeit der ewigen Wiederkehr grundsätzlich von der Ergründung der Wirklichkeit des Willens geschieden ist. Im ersten Fall scheint das Individuum seine Freiheit und Schuldfähigkeit bereitwillig an ein sich seit Urzeiten wiederholendes Geschehen zu verschenken, wohingegen es sich im zweiten Fall seiner Freiheit zu versichern glaubt. Es gilt zu veranschaulichen, dass die Dinge in Wirklichkeit genau umgekehrt liegen: Auch wenn Heidegger die metaphysische Einheit beider Lehren bedenkt, so eröffnet die ewige Wiederkehr auf der individuellen Ebene einen vorgelagerten Zugang, in dem über die Disposition des eigenen Willens entschieden werden kann. Dieser diesseits von Determinismus und Willensfreiheit situierte Ort bildet das Pendant zu der Priorisierung der ewigen Wiederkehr als Wesen des Willens zur Macht, die in Heideggers erster Untersuchung ihres Verhältnisses (in der Vorlesung aus dem Wintersemester 1936/1937) anklingt. In der Erfahrung der Wahlmöglichkeit, den Gedanken der ewigen Wiederkehr anzunehmen und das eigene Leben so zu gestalten, als ob es noch unzählige Male gelebt werden könnte und müsste; oder diese Denkwahrscheinlichkeit auszuschlagen, wird transparent, dass das Individuum nicht ausschließlich von einem unanfechtbaren Willen dirigiert wird, der ihm das Gewollte, d. h. seine eigene Macht, vorlegt. In kritischer Abgrenzung zu Arendts These, wonach sich der Bruch in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche zu Beginn von Nietzsche II und demnach erst in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht vollziehe, wird in dieser Arbeit die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis als Peripetie und als Dokument des Heideggerschen Einstellungswandels markiert. Als Begründung für diese Auffassung wird zum einen die zu Beginn der Vorlesung exponierte Gradierung des Willens zum eschatologisch-ge-

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schichtlichen Prinzip herangeführt. Zum anderen soll die am selben Ort artikulierte, sinnfällige Klassifikation Nietzsches als letzter Metaphysiker beziehungsweise als Vollender der Metaphysik als stichhaltiger Beleg figurieren. Im inhaltlichen Hauptteil der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis konkretisiert Heidegger die aus dem Willen zur Macht erfolgende, kategoriale Bereitstellung der Identität und ordnender, konturierte Abgrenzungen hervorbringender Denkgesetze. Diese reichen bis zur basalen Voraussetzung des Seienden hinab und spiegeln sich in der Perspektivität jedes Lebewesens. Es soll im siebten Kapitel genauer untersucht werden, wie Heidegger die Perspektive und den Horizont als Eingrenzungsinstanzen des Lebensvollzuges voneinander unterscheidet und sie in einen Bezug zum Chaos setzt: Indem jedes Seiende die eigene Horizontziehung perspektivisch durchragt und auf das Werden hin öffnet, befindet es sich immer schon im Chaos, das zur Bedingung der assimilierenden Erkenntnis wird. Um den inneren Bewegungsgang der Vorlesung erschließen zu können, ist des Weiteren zu profilieren, dass Heidegger diese ebenbürtige Verbindung von Innen und Außen tilgt, indem er die Kategorien – durchaus im Einklang mit Nietzsche – als apriorische Selektionsinstrumente deutet, die bestimmen, was als formungsaffines Chaos in den Gesichtskreis treten kann. Dies wirft die Frage auf, wie die Horizontbildung gesichert und als variables und zugleich unumgängliches Wirkungsfeld der Schematisierung aufrechterhalten werden kann. Könnte die Horizontbildung ausgehebelt werden, müsste es möglich sein, aus dem Horizont in das Chaos hineinzuspringen, sich der transzendentalen Erschließungsmuster von Gegenstandserfahrung zu enthalten und die gewohnten Klassifikationen der Dinge abzulegen. Dass dies niemals geschehen kann, resultiert aus dem praktischen Bedürfnis, das in Heideggers NietzscheAuslegung eine zentrale Rolle spielt. Es ist aufzuweisen, dass sich dieses mit Hilfe des imperativischen Satzes vom Widerspruch und der Grund-Kategorie der Finalität ein widerstandsbereinigtes Weltverständnis verleiht. Damit ist der Ausgangspunkt gewonnen, um Heideggers Umgang mit der folgenschweren Transformation des Satzes vom Widerspruch zu erläutern, die Nietzsche gegenüber Aristoteles einklagt. Es soll im weiteren Verlauf deutlich gemacht werden, dass Nietzsche in epistemologischer Hinsicht noch einen Schritt hinter Kant zurückgeht, indem er sich die Frage vorlegt, welche vereinfachenden und zusammendichtenden, nicht mehr ins Bewusstsein tretenden Voraussetzungen für ein Erkennen und Urteilen erfüllt sein müssen, das mit unverrückbaren Vorstellungen von Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung, Substanz und Akzidens hantiert. Im Zuge der dadurch evozierten Ununterscheidbarkeit von Sein und Schein wird die Problematik virulent, wie der Wille zur Macht sich angesichts der fehlbar und unsicher scheinenden Erkenntnisakte seiner selbst zu vergewissern vermag. Es ist im letzten Unterkapitel zur Vorlesung Der Wille zur

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Macht als Erkenntnis sichtbar zu machen, dass Heidegger auf diese Problemlage reagiert, indem er die bauend-ausscheidend-vernichtende Denkweise der Gerechtigkeit als Instanz der sich selbst rechtfertigenden und in diesem Sinne selbstgerechten Wahrheitssetzung proponiert. Diese bietet dem Willen zur Macht den scheinhaft-wahren Bestand und die wahreren, d. h. dem Werden angemesseneren Erhöhungsmöglichkeiten dar, ohne deswegen selbst von ihm unabhängig zu sein. Sie gleicht sich unentwegt in das Chaos ein, um aus diesem den Willen befeuernde Formationen herauszuschälen. In diesem Kontext ist nachzuvollziehen, weswegen Heidegger die Gerechtigkeit als höchste und letzte Form der Adäquationstheorie betrachtet. In unmittelbarer Rückbindung an die Besprechung der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis soll im achten Kapitel des 1. Teils gezeigt werden, in welcher Form sich Heideggers Nietzsche-Kritik ab 1939 radikalisiert und weswegen dessen Philosophie als Signum eines Zeitalters der vollendeten Sinnlosigkeit begriffen wird. Zu diesem Zweck wird der Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) herangezogen. Heidegger hatte die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis im Sommersemester 1939 vorzeitig abgebrochen, kündigte aber eine Synopsis aller drei Vorlesungen an, die in Nietzsche II ebenjenen Titel Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht erhalten hat. In dem Text wird eine unverhohlene Abwendung spürbar; die Grundlehren Nietzsches erscheinen nun als Verdüsterung inmitten der unerschütterlichen Selbstsicherung des Seienden. Der Wille zur Macht verhilft sich mit Hilfe der ewigen Wiederkehr zu einer Verstetigung des Bestandlosen, das er selbst permanent hervorbringt. Wie eklatant der Einstellungswandel Heideggers ist, soll anhand einer Gegenüberstellung früherer Äußerungen nachgewiesen werden. Die These dieser Arbeit lautet, dass sich diese veränderte Beurteilung neben der Rückführbarkeit auf zeithistorisch-politische Ursachen maßgeblich aus Heideggers eingehender Beschäftigung mit dem Phänomen des Nihilismus verstehen lässt. Dass Heidegger die ewige Wiederkehr 1937 als Überwindung des Nihilismus privilegierte, obwohl sich auch Lesarten angeboten hätten, die diesen Begriff nicht in einer solchen Zentralität in den Vordergrund gerückt hätten, indiziert darauf, dass er Nietzsches Kennzeichnung und Analyse des Nihilismus zu diesem Zeitpunkt weitgehend teilte. Die flankierende Hintergrundannahme des neunten Kapitels zur Vorlesung Der europäische Nihilismus verdichtet sich in der Ansicht, dass Heidegger den Nihilismus 1937 weniger unter dem Gesichtspunkt seiner geschichtlichen Anfangsgründe – aber auch nicht als ontisches Geschehen des Verfalls und der Auflösung – sondern eher im Mikrokosmos der negativistischen Positionierung des Einzelnen zur eigenen Zeitlichkeit beleuchtet. Demgegenüber sollen die von Heidegger 1940 vorgebrachten, generellen Kritikpunkte an Nietzsches Nihilismus-Konzeption benannt werden. Es ist zu zeigen, dass Heidegger

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seine Einwände erstens auf einer ontologisch-semantischen Ebene gründet, indem er in Nietzsches Verwendung des Wortes „Nichts“ eine Verwechslung von Wert- und Seinsbegriff moniert.⁷³ Zweitens insistiert er darauf, dass die Beschreibung des Nihilismus als Entwertung der obersten Werte selbst mit einem nihilistischen Kriterium operiere, weil Nietzsche alles Seiende unter der Signatur quantifizierender Wertbestimmtheit betrachte. Das zehnte Kapitel der entwicklungsgeschichtlichen Studie vollendet die chronologische Anordnung des 1. Teils, indem es den späten Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? aus dem Jahre 1953 thematisiert. Das Erkenntnisziel konkretisiert sich in der Nachweiserbringung, dass Heidegger die ewige Wiederkehr des Gleichen 1953 gänzlich in den Herrschaftsbereich des Willens zur Macht eingliedert. In dem Zarathustra-Stück Von der Erlösung ist es der Wille selbst, der die Volatilität der Zeit nicht erträgt, weil er sich in ihr nicht halten kann und keine Verfügungsgewalt über das Vergangene auszuüben imstande ist. Wenn der Wille weder resigniert noch sich selbst verneint, wird in ihm notwendigerweise ein Widerwille gegen die Zeit geschürt, der nach Nietzsche die Aufrichtung immerwährender Ideale beförderte. Der Gestaltenreichtum des Werdens wird in der Konfrontation mit einer Ewigkeit, welche die irdische Zeit als verfliegende Sukzession desavouiert, nicht mehr zugelassen. Diesen Vorgang beurteilt Nietzsche als Rache an der Zeit. Die Rache möchte Nietzsche mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr überwinden, weil diese das Vergehende in ein Kommendes transformiert und dadurch dem Willen die Akzeptanz des „Es war“ ermöglicht, auf das er im „So werde ich’s wollen“⁷⁴ zugehen kann. In diesem Zusammenhang soll erörtert werden, in welcher Weise Heidegger sich selbst als „Meister des Verdachts“ erweist und Nietzsche auf dessen angestammtem Terrain begegnet. Heideggers Kernvorwurf lautet, dass Nietzsches Wunsch, das Werden zu exkulpieren, schließlich in der Absprache all dessen endet, was das Werden im Sinne des vorübergehenden, einmaligen, irreversiblen Augenblickes auszeichnete. Es wird aufgenommen in die Ewigkeit der Gleichheit, die zwar nicht als Statik zu verstehen ist, die Endlichkeit aber nur noch vor dem Hintergrund der in sie hineinfallenden Unendlichkeit gewährt. 2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs in den Schelling-Vorlesungen von 1936 und 1941  Vgl. hierzu besonders: Markus Wirtz, Geschichten des Nichts. Hegel, Nietzsche, Heidegger und das Problem der philosophischen Pluralität, Freiburg / München 2006.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Von alten und neuen Tafeln, KSA 4, S. 249: „Das Vergangne am Menschen zu erlösen und alles ‚Es war‘ umzuschaffen, bis der Wille spricht: ‚Aber so wollte ich es! So werde ich’s wollen‘ –.“

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Der zweite Teil wendet sich der Schelling-Rezeption zu und untersucht die Bedeutung des zweiten entscheidenden Denkers in Heideggers Anamnese des Willensparadigmas. Die im Sommersemester 1936 und 1941 vorgetragenen SchellingVorlesungen – so die flankierende These – kündigen in einsemestriger Vorgängigkeit gegenüber der ersten (1936/37) und der letzten, nicht gehaltenen NietzscheVorlesung Nietzsches Metaphysik (1941/1942) entscheidende Konzentrationszusammenballungen, unausgereifte Vorstufen und nicht mehr angetastete Fixierungen in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche und damit der abendländischen Metaphysik im Ganzen an. In diesem Zuge soll zum einen der immense Einfluss illustriert werden, den Schellings Willensauslegung auf Heideggers Markierung des Willens als letztmöglicher Instanz innerhalb der Geschichte der Seiendheit ausgeübt hat. Zum anderen soll – im brückenschlagenden Rekurs auf die Ergebnisse der entwicklungsgeschichtlichen Studie – der Versuch unternommen werden, die beiden Auslegungen der Freiheitsschrift (1936 und 1941) als vorauslaufende Erklärungszentren und übergreifende Kontextualisierungsfelder zu verstehen, die ein Licht auf verborgene Tendenzen, Motive und leitende Präsuppositionen der Nietzsche-Vorlesungen werfen können. Des Weiteren ist signifikant, dass sich die tragenden Differenzfugen wie auch die thematischen Präferenzen der NietzscheVorlesungen in ihren Urgestalten bereits in der Schelling-Deutung aufspüren lassen. So gilt es beispielsweise zu untermauern, dass Heidegger 1936 das operationelle willensmetaphysische Narrativ noch nicht entwickelt hat und die Klärung der Vorrangsbestimmung von Wille und Vorstellung mitsamt der Gewichtung ihrer internen Verflechtung keineswegs abgeschlossen ist. Zudem soll im ersten Abschnitt demonstriert werden, dass Heidegger 1936 Schellings Diktum „Wollen ist Urseyn“⁷⁵ noch in erster Linie freiheitstheoretisch ausdeutet und die metaphysische Dimension nivelliert, indem er Schellings Bestimmung als naturphilosophische Universalisierung der Kantischen Autonomiekonzeption begreift und als „Eigenständigkeit im eigenen Wesensgesetz“⁷⁶ definiert.

 Schellings Werke werden unter der Sigle SW zitiert nach: F.W.J. v. Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. v. K.F.A. Schelling, Stuttgart / Augsburg 1856 – 1861. Hier: Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. Unter der Sigle AA (Akademie-Ausgabe) werden Schellings Werke nach der folgenden Ausgabe angegeben: F.W.J. Schelling, Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hrsg. von Thomas Buchheim, Jochem Hennigfeld, Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen u. Siegbert Peetz, Stuttgart 1976 ff.  Vgl. Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, hrsg. v. Ingeborg Schüßler, Frankfurt a. M. 1988 [im Folgenden = GA 42], S. 145: „Der formelle Begriff der Freiheit ist: Selbstständigkeit als Eigenständigkeit im eigenen Wesensgesetz.“

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Darauf aufbauend, soll im zweiten Abschnitt des 2. Teils Heideggers 1941 vorgetragene Besprechung der von Schelling explizierten wesentlichen Seinsprädikate (Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit und Selbstbejahung) nachvollzogen und eingeordnet werden.⁷⁷ Das Erkenntnisziel richtet sich auf die Beantwortung der Fragestellung, weswegen das Wollen diese Seinsprädikate in der höchsten Instanz zu vereinigen und auszudrücken vermag. Anhand des Textes von 1941 ist zu untermalen, dass sich die Selbstbejahung des Willens maßgeblich auf die Verankerung in einer nach dem Modell der beständigen Anwesenheit konzipierten Ewigkeit und auf die Ausübung einer diese sichernden Verlaufsform stützt. Dergestalt bewahrheitet sich der Wille als Grund hinter allem und zeigt sich als Hypokeimenon. In Anbetracht dieser Herauskristallisation einer Hegemonie des Willens ist es von elementarem Interesse, in welcher Weise Heidegger 1941 Nietzsches Philosophem des Willens zur Macht als letztmöglichen Gegenentwurf und als Umkehrung des Willens der Liebe akzentuiert.⁷⁸ Die Bestimmung und Klärung dieser Inversion ist die unabdingbare Voraussetzung dafür, zu Heideggers eigenem Entwurf des Willens zum Willen vorzudringen. 3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins: Versuch einer Systematisierung, Charakterisierung und Beurteilung der Willenstheorie Heideggers unter besonderer Berücksichtigung des Aufsatzes „Überwindung der Metaphysik“ In Heideggers Abhandlung Die Seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus findet sich ein erläuterungsbedürftiges Zitat, das als Ausgangspunkt für die Fragestellung des 3. Teils markiert werden kann: Das Seiende als solches erscheint als der Wille zur Macht, worin das Sein als Wille seine Subiectität vollendet.⁷⁹

Im Hinblick auf die Zentralthese, die Subjektivität vollende sich im Willen zum Willen, nimmt Heideggers Aufsatz Überwindung der Metaphysik (1936 – 1946) eine elementare Position ein, insofern der Wille zum Willen dort den Rang eines Auslegungsinstrumentes und Seismographen der Moderne erhält. Dass der Aufsatz mit gutem Recht als das ergiebigste Dokument zu Heideggers Charakterisierung des Willens zum Willen betrachtet werden kann, wird in einem dreifach gestuften Auslegungsgang zu demonstrieren sein:

 Vgl. Heidegger, GA 49, S. 83 – 90.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 88; S. 101– 102; S. 196 – 197.  Heidegger, Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus, in: Heidegger, N II, S. 301– 363, hier: S. 347.

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Im Ausgang von dem Text Die Überwindung der Metaphysik ist erstens zu eruieren, dass Heidegger die Zusammengehörigkeit von ewiger Wiederkehr und Wille zur Macht, von existentia und essentia, im Willen zum Willen rückgründet, um diesen endgültig als innere Wahrheit und als Agens des Machtwillens zu zementieren. Nach Heidegger bildet der Wille zur Macht nur „die vorletzte Stufe in der Willensentfaltung der Seiendheit“⁸⁰, weil Nietzsche aufgrund seines „LebensEnthusiasmus“⁸¹ und der „Vorherrschaft der ‚Psychologie‘“⁸² die konstitutive Rolle der vorstellenden Rationalität als Antriebsgrund innerhalb des Willens weitgehend außer Acht gelassen habe. Deshalb sei er nicht zu der Wesenseinsicht vorgedrungen, dass die verfolgte Absicht willenhafter Lebenssteigerung die prolongierte, technische Bestandsicherung nicht nur rechtfertigt, sondern sich allein auf deren Basis herausschälen kann. Zweitens sollen die Struktur und das Wirkungsgebiet des Willens zum Willen einer detaillierten Analyse unterzogen werden. Dabei sind primär die Totalität der ihm eignenden Ausgriffstendenz, seine technische Gestaltwerdung und die durch ihn vollzogene Setzung von Bestandsicherung und Steigerung zu nennen. Die gewonnenen Wesenszüge sollen sodann mit der Duplizität der in sich pendelnden Wesenssuche zusammengedacht werden. Diese artikuliert sich als beständige Selbstaufforderung, die in die fatale Bewegung einer sich bedingungslos aktualisierenden Suspension eines schöpferischen Neuanfanges einmündet. In diesem Zusammenhang ist zu verifizieren, dass Heidegger die in den vorgängigen Auslegungsstufen des Willens stets exkludierte Schopenhauersche Motivik einer Nichtigkeit des Willensdranges auf den Willen zum Willen nicht nur überträgt, sondern zur Entschlüsselungsgrundlage für dessen Bewegtheit qualifiziert. Das Erkenntnisziel äußert sich hier in der Ausgestaltung des Erklärungsansatzes, dass der Wille zum Willen in der Vollendung der Metaphysik die willensarchetypische Bewegung eines permanenten Entgleitens und Zunichtemachens des Erlangten in aller wünschenswerten Deutlichkeit enthüllt, die sich im Willen zur Macht noch als Gesetzmäßigkeit einer Aneignungslogik zu kaschieren vermochte. Es gilt zu plausibilisieren, dass der Begriff des Willens zum Willen von Heidegger aus folgendem Grund entwickelt und privilegiert wird: In seiner auf das Nichts angewiesenen Performativität bezeugt sich die seit Descartes mit dem Willen assoziierte Vorrangssicherung des Seienden in ihrem höchsten Annihilationsgrad. Dennoch fungiert der Wille zum Willen nicht allein als Chiffre für eine  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, S. 67– 99, hier S. 79 [im Folgenden = Überwindung der Metaphysik].  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.

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Havarie in einer sich alternativlos entfaltenden Ausweglosigkeit des Immergleichen. In der gleichförmigen Koordination der Priorisierung des Seienden soll der Wille zum Willen zum Ausdruck bringen, dass das Sein in seinen äußersten Entzug fortgeschritten ist, aus dem es sich in der Einsicht in das Nichthafte im Willen lichten könnte. Drittens soll die mögliche Synthese der Einflüsse Schopenhauers und Nietzsches im Hinblick auf die Konzeption des Willens zum Willen evaluiert werden. Auch wenn sich die Behauptung, Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche sei wesentlich und von Anfang an von einem Überbietungsgestus geprägt, sicherlich nicht aufrechterhalten lässt – was diese Arbeit zu erhärten sucht – so ist doch festzuhalten, dass der Wille zum Willen auf eine Überschreitung Nietzsches abhebt. Die Erforschung der komplexen Dialektik des Willens zum Willen, mit der – so die These – Heidegger alle Grundzüge neuzeitlicher Willensmetaphysik (die Verneinung, die Übersteigerung und die Selbstunterscheidung) versammelt, bildet das Orientierungszentrum des ersten Abschnittes des 3. Teils. Der zweite Abschnitt des 3. Teils beschließt die vorliegende Untersuchung. Der Abschnitt konzentriert sich auf Heideggers Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus, die in den Jahren 1944– 1946 entstand und somit in zeitlicher Parallelität zu dem Schlüsselaufsatz Die Überwindung der Metaphysik verfasst wurde. Es ist die Intention des letzten Abschnitts, den Text Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus als inhaltlich-strukturelle Hintergrundfolie und als Begründungsdokument für die Diagnose der modernen Willenszentriertheit sichtbar zu machen. Die Motive des wesenskonstitutiven Entzuges und der Verbergung des Seins sollen in diesem Zusammenhang in ihrem geschichtlichen Wechselverhältnis mit der willensförmigen Ausformung der Seiendheit beleuchtet werden, die sich nach Heidegger innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik ereignet und in der sich das Sein selbst im Modus seiner Abwesenheit ankündigt. In einer eingehenden Analyse ist nachzuvollziehen, in welcher Weise Heidegger eine Korrespondenz zwischen dem Eintritt des Seienden im Ganzen in die äußerste Seinsverlassenheit auf der einen Seite und der aufkeimenden Metaphysik der Willenssubjektivität auf der anderen Seite entfaltet. Ein signifikantes Gewicht wird der Heideggerschen Ausfächerung der ersten Fundamentalthese beigemessen, das ausbleibende Sein lasse sich am Ende seiner Geschichte in den Willen zum Willen los, der im Willen zur Macht seine letzte Formgebung innerhalb der Metaphysik generiere.⁸³ Als das höchste Seiende überdeckt der Wille zur Macht nach Heidegger den Entzug des Seins und verhindert eine Einsicht in das Wesen des Nihilismus, wonach es mit dem ungedacht bleibenden Sein selbst in

 Vgl. Heidegger, N II, S. 340.

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der Geschichte der Metaphysik nichts ist.⁸⁴ Der Wille zur Macht – so Heideggers zweite Fundamentalthese – bewirkt ein potenziertes Vergessen des Seins, indem er dieses als Wert in die Bestandsicherung der Wirklichkeit einpasst. Heideggers Bestimmung des Nihilismus ist unter einem weiteren, rezeptionsbezogenen Gesichtspunkt aufschlussreich: Obwohl Heidegger bereits in den Jahren 1936 – 1938 in den Beiträgen zur Philosophie eine weitgehend geschlossene Sicht auf die Geschichte des Seins ausgearbeitet hat, belässt er es in den Nietzsche-Vorlesungen bei dem Hinweis, dass das Sein selbst auch bei Nietzsche ungedacht bleibe. Bis ins Jahr 1940 ist es Heideggers Auslegungsparadigma, einen Einheitsgrund für die von Nietzsche konservierte und zugleich verwischte Unterscheidung zwischen dem Seienden als solchem und dem Seienden im Ganzen, Verfassung und Seinsweise, einzufordern. Der hochkomplexe Text Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus stellt sich Nietzsche nicht mehr entgegen, sondern wendet den Nihilismus-Vorwurf in einer Weise gegen ihn, die jede Verteidigung unmöglich macht. Während der eigentliche, wahre Nihilismus sich als Grundzug des sich verbergenden Seins selbst enthüllt, begreift Nietzsche laut Heidegger allein die Derivationsgestalt dieses Nihilismus, demgemäß es in der abendländischen Denkgeschichte mit der Seiendheit, dem Seienden als solchen nichts ist. Auf der Basis der Rekonstruktion der Metaphysikgeschichte aus dem Geiste des Willens zur Macht und der Ansetzung des (mit der ewigen Wiederkehr zusammengeschlossenen) voluntaristischen Paradigmas als Seiendheit gelangt Nietzsche nach Heidegger zu der Überzeugung, den Nihilismus endgültig überwunden zu haben. Insofern Nietzsche das Werden in der lückenlosen Affirmation des Lebens und im Durchgang durch den extremen Nihilismus fixiere, werde die geschichtliche Ergründung der Anwesenheit als dominierendem Grundzug des Seins verwehrt. Diesen Argumentationsgang kritisch begleitend, wird im Kapitel 3.2.1 (Das Wesen des Nihilismus) dekuvriert, weswegen Heidegger Nietzsches Metaphysik zunächst als eigentliche Vollendung des mit der Willensmetaphysik in sein Wesen eintretenden Nihilismus benennt. In einem weiteren Zwischenschritt soll innerhalb des Kapitels 3.2.2 (Die Willensmetaphysik als eigentlicher Nihilismus) nahe gebracht werden, mit welcher Begründung Heidegger diese Beschränkung des eigentlichen Nihilismus auf die Metaphysik Nietzsches kurz darauf wieder fallen lässt. Indem Heidegger die ermöglichende Herkunftsgeschichte des metaphysischen Voluntarismus inkludiert, weitet er die Generalkennzeichnung des eigentlichen Nihilismus auf die ganze Metaphysik seit Platon aus. Es soll transparent gemacht wer-

 Vgl. Heidegger, N II, S. 326.

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Einleitung und Erkenntnisinteresse

den, dass die Metaphysik im Ganzen für Heidegger nihilistisch ist, weil sich in ihr das Nichthafte des Seins, d. h. dessen Ausbleiben ereignet. Dieses im Sein selbst waltende Ausbleiben definiert Heidegger schließlich als eigentlichen Nihilismus, wohingegen der uneigentliche Nihilismus im Nichtbedenken, im Auslassen dieses Ausbleibens wurzelt. Im Kapitel 3.2.3 (Das Ausbleiben des Seins als ungedachte Ankunft) wird diskutiert, wie Heidegger zwei verschiedene Akteure anführt, die in drei verschiedenen Relationen dieses Auslassen des Ausbleibens generieren. Die erste Option beruht auf einem menschlichen Versäumnis; die zweite ist durch eine Kooperation von Sein und Mensch gekennzeichnet; in der dritten ist es allein das Sein, das noch sein eigenes Auslassen veranlasst. Diese drei Varianten stehen nicht gleichberechtigt auf einer Stufe, vielmehr löst eine die andere im Text ab, sodass Heidegger das Geschehen des Auslassens schließlich anonymisiert. Darauf aufbauend, soll freigelegt werden, wie Heidegger das von dem Sein selbst verfügte Auslassen des Ausbleibens als in der Metaphysik anwachsenden, uneigentlichen Nihilismus begreift und somit auch diesen von der menschlichen Verschuldung dissoziiert. Obzwar Heidegger Nietzsches Entdeckung der Wahrheitslosigkeit und Unbegründetheit sämtlicher metaphysischer Grundstellungen honoriert, möchte er diese Destruktion und Abtragung menschheitsbewegender Tiefenschichten nicht als Ansatzstelle für sein eigenes seinsgeschichtliches Denken begreifen. Heidegger gesteht Nietzsche nur noch zu, die Frage nach den geschichtlichen Entstehungsbedingungen des Nihilismus aufgeworfen zu haben. Nach Heidegger bekämpft Nietzsche allein die Folgen des Auslassens, die in der Zerstörung des Seienden offenbar werden. In dem Kapitel 3.2.4 (Das Sein als das Un-ab-lässige und die Not der Notlosigkeit) soll die Verweigerungskomponente des Seins spezifiziert und auf die spannungsvolle Verbindung zwischen der Unablässigkeit des Seins und der Not der Notlosigkeit bezogen werden. Indem das Sein in seinem Entzug den Menschen in die Lichtungsstätte des Da-seins nötigt, der Mensch sich aber immer mehr dem vom Sein gelichteten Seienden zukehrt, scheint das Sein ohne Not zu sein. Das Sein gibt sich Heidegger zufolge in diesem Anschein der Notlosigkeit einer Seiendheit hin, die sich von seiner Ankunft am weitesten entfernt hat, indem sie sich am meisten auf sich selbst stellt, d. h. die höchste Subiectität aufweist. Diese lässt sich mit dem Willen zum Willen parallelisieren. Das Schlusswort rundet die Arbeit ab, indem es die kontextgebundenen Veränderungen, entwicklungsgeschichtlichen Verschärfungen und thematischen Schwerpunktverlagerungen anhand der fünf Grundworte von Nietzsches Denken exemplifiziert.

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption (1936 – 1953) 1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) 1.1.1 Problemaufriss und Exposition der vier Relationsmodelle In diesem Auftaktkapitel der Arbeit soll der Nachweis erbracht werden, dass Heidegger in seiner ersten Bestimmung des Verhältnisses zwischen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen zur Macht, die einen Meilenstein auf seinem Denkweg mit Nietzsche bildet, vier Beschreibungsmodelle beziehungsweise Hinsichten aufruft. In diesen Modellen wird die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen jeweils verschiedenartig gegenüber dem Willen zur Macht positioniert. Da Heideggers erste Auseinandersetzung mit der Einheit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr in dem nahezu gleichnamigen Abschnitt¹ trotz ihres unvergleichlichen Stellenwerts für dessen gesamte Nietzsche-Deutung wenig umfangreich ausfällt, ist es möglich, sich gründlich und in textchronologischer Verfahrungsweise mit Heideggers Überlegungen zur Zusammengehörigkeit der beiden Lehren zu befassen. Der Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung wirft aufgrund seines wenig ausgestalteten, kaum erläuternden und doch definitorischen Gestus zahlreiche Deutungsschwierigkeiten und Widersprüche auf. Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung kann als einer der kompliziertesten Texte Heideggers im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche beurteilt werden. Es soll erstens transparent gemacht werden, dass Heidegger die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen gegenüber dem Willen zur Macht privilegiert und von diesem abhebt, indem er sie als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Seins markiert, wohingegen der Wille zur Macht als Grundcharakter des Seienden (d. h. des Seienden als Seiendes) innerhalb der metaphysischen Leitfragenbehandlung verortet wird. Diese Form der Differenzierung beider Lehren in eine metaphysische, dem Willen zur Macht zugesprochene und eine fundamentalon-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 15 – 22. https://doi.org/10.1515/9783110694253-003

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

tologische, mit der ewigen Wiederkehr verknüpften Geltungsebene findet sich allein in der ersten Nietzsche-Vorlesung. Die Bevorzugung der ewigen Wiederkehr soll anhand der von Heidegger gegebenen Definition „als höchster Bestimmung des Seins“² veranschaulicht werden, welcher der Wille zur Macht als „Grundcharakter alles Seienden“³ gegenübersteht. Nichtsdestotrotz lassen sich die Spuren dieser Priorisierung der ewigen Wiederkehr in der zweiten NietzscheVorlesung aus dem Sommersemester 1937 wiedererkennen, in der die ewige Wiederkehr als Grund des Willens zur Macht und als „Gedanke der Gedanken“⁴ klassifiziert wird.⁵ Zum zweiten – so die These – erbringt die ewige Wiederkehr gemeinsam mit dem Willen zur Macht einen Zusammenschluss von Werden und Sein, indem das Werden als Sein stabilisiert wird. In diesem Kontext soll entwickelt werden, dass Heideggers Darlegungen zwischenzeitlich den Eindruck erwecken, die ewige Wiederkehr könnte jene Verbindung von Werden und Sein auch ohne die Kooperation mit dem Willen zur Macht evozieren. Da der Wille zur Macht jedoch das Element des Werdens für sich vindizieren kann und es 1936/37 offenkundig Heideggers Intention entspricht, beide Lehren in eine wechselseitige Bedingtheit zu setzen, soll das zweite Modell unter der Signatur des von der ewigen Wiederkehr zusammen mit dem Willen zur Macht konstituierten, metaphysischen Gefüges begriffen werden. Diese Konstellationsergründung behält Heidegger auch später bei, wenn er beispielsweise in der Vorlesung von 1937 konzediert, dass Nietzsches Metaphysik mit dem Zusammenschluss der Bestimmung des Seienden als Werden (Heraklit) und des Seienden als Anwesenheit (Parmenides) in den Anfang der Philosophie zurückkehre.⁶ Allerdings sieht Nietzsche diesen Anfang nach Heidegger bereits im Lichte des platonischen, sowohl verkürzenden wie tendenziösen Verständnisses

 Heidegger, N I, S. 18.  Heidegger, N I, S. 18.  Vgl. Heidegger, N I, S. 290: „Wenn aber der Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen als der Gedanke der Gedanken notwendig alles Denken Nietzsches von Grund auf bestimmt, dann werden seine Besinnungen auf diesen Gedanken und deren Aufzeichnungen einen verschiedenen Charakter haben je nach dem Bereich und der Richtung und der Stufe, in der sich Nietzsches philosophische Arbeit jeweils bewegt.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 371: „Sofern aber mit dem Wort ‚Wille zur Macht‘ innerhalb des Nietzscheschen Denkens etwas ‚Neues und Wesentliches‘ auftaucht, und zwar, zeitlich gesehen, nach der Erfahrung des Gedankens von der ewigen Wiederkunft, muß gefragt werden, wie beide, ‚Wille zur Macht‘ und ‚ewige Wiederkunft‘ sich zueinander verhalten. Wird durch den neuen Gedanken die Lehre von der ewigen Wiederkehr überflüssig, oder ist diese mit jenem vereinbar? Ist gar die Wiederkunftslehre nicht nur vereinbar mit dem Gedanken des ‚Willens zur Macht‘, sondern sein eigentlicher und einziger Grund?“ [Kursivsetzungen von Heidegger, J.K.].  Vgl. Heidegger, N I, S. 417.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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der Lehren Heraklits und Parmenides’. Unter diesem Einfluss stehend, lege er seinem Wiedergewinnungsversuch der vorsokratischen Philosophie eine Betrachtungsweise des Anfanges zugrunde, die inmitten des ersten fundamentalen Stadiums der Selbstverfehlung desselben getroffen wurde und deswegen selbst schon in dessen Verfallsgeschichte eingeschrieben ist; zwar aus dem Anfang herkommt, aber nicht mehr in ihn hineinführen kann. Deswegen kann Nietzsche keine „Wiedererweckung“⁷ jenes unverstellten Anfanges gelingen, der mit dem Aufgang des Seins als Physis verbunden ist. In Nietzsches Metaphysik vollzieht sich nach Heidegger eine Form der Rückkehr in den Anfang, die keine schöpferische Freilegung des in diesem verschütteten Potenzials bedeutet. Stattdessen erbringt sie eine endgültige Zementierung, Bestätigung und Maßstabssicherung jener verblassten Gestalt des Anfangs, in die dieser durch den Wandel der Physis zur Idea eingegangen ist. Indem die Metaphysik an ihrem Ende diese unter der Ägide Platons erwachsene Beurteilung des Anfanges wiederholt, hebt sie den Anfang der Metaphysik, d. h. des Vorranges der Frage nach dem Seienden überhaupt erst in die Sichtbarkeit und erweist sich selbst als deren Vollendung. In dieser Wiederanknüpfung an den Anfang wird erkennbar, dass dieser keine weiteren Möglichkeiten einer neuartigen inhaltlichen Klassifikation der Leitfrage mehr gewähren kann.⁸ Dadurch erhält die Relation zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine gewichtige Tragweite, weil sich in ihr – ausgehend von der ersten Inversion des Anfangs bis hin zum Ende der Metaphysik, das im Rückgang auf diesen Anfang den Kreis schließt und ihn erstarren lässt – alle wesentlichen Grundstellungen der Metaphysik versammeln.⁹ Erst durch diese vollendende Versammlung wird ein Übergang in den anderen Anfang möglich.

 Heidegger, N I, S. 420.  Vgl. Heidegger, N I, S. 421: „Das Wesentliche aber bleibt: Indem Nietzsches metaphysisches Denken in den Anfang zurückgeht, schließt sich der Kreis; sofern hierbei jedoch nicht der anfängliche Anfang, sondern der bereits stillgelegte Anfang zur Geltung kommt, verfängt sich der Kreis in seiner anfänglichen Erstarrung. Der so sich schließende Kreis gibt jetzt keine Möglichkeit des wesentlichen Fragens der Leitfrage mehr frei. Die Metaphysik, die Leitfragenbehandlung, ist am Ende.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 421– 422: „Weil Nietzsches metaphysische Grundstellung in dem gekennzeichneten Sinne das Ende der Metaphysik ist, deshalb vollzieht sich in ihr die größte und tiefste Sammlung, d. h. Vollendung aller wesentlichen Grundstellungen der abendländischen Philosophie seit Platon und im Lichte des Platonismus, in einer von daher bestimmten, aber selbst schöpferischen Grundstellung. Sie bleibt jedoch nur dann eine wirklich wirkende metaphysische Grundstellung, wenn sie ihrerseits in allen ihren wesentlichen Kräften und Herrschaftsbereichen zur Gegenstellung entfaltet wird.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Drittens bezieht Heidegger den zeithaften Aspekt der ewigen Wiederkehr mitsamt der Verflechtung von Augenblick und Ewigkeit auf die mit dem Werktitel gleichlautende Frage nach Sein und Zeit, wobei der Wille zur Macht das Sein repräsentiert. Auch diese Kontextualisierung wird Heidegger nach der ersten Nietzsche-Vorlesung aufgeben. Die vierte Auslotung des Zusammenhanges beider Lehren antizipiert jene definitorische Unterscheidung der Seiendheit in Verfassung und Seinsweise, die Heidegger nicht einmal ein Jahr später, in dem Abschnitt Nietzsches metaphysische Grundstellung (und demnach in der zweiten Nietzsche-Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen von 1937), erneut aufnehmen wird.¹⁰ In der Gestalt der metaphysischen Titel essentia (Was-Sein) und der existentia (Dass-Sein), die Heidegger ab 1937¹¹ in die Auseinandersetzung einbringt, kommt sie als vorherrschende Interpretationslinie des Verhältnisses zur Geltung.¹² In dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung aus der ersten Nietzsche-Vorlesung wird die ewige Wiederkehr zwar als Sein und somit durchaus im Sinne des schulmetaphysischen Terminus der existentia benannt, allerdings wird sie 1936/37 an keiner Stelle wörtlich als Seinsweise des Seienden begriffen. Insgesamt illustriert bereits diese komprimierte Übersicht über die vier möglichen Deutungsmuster der Konstellation, dass weder die spezifische Fügung und Art des Verhältnisses beider Lehren noch die Beurteilung ihrer jeweiligen Bedeutung und ihrer Rangfolge in der ersten Nietzsche-Vorlesung endgültig geklärt werden. Im Ganzen betrachtet, veranschaulicht der Sachgehalt der vierfachen Verzweigung, dass Heidegger die ewige Wiederkehr im Zuge ihrer philosophisch-rezeptionsgeschichtlichen Rehabilitierung zu Beginn der ersten Nietzsche-Vorlesung gegenüber dem Willen zur Macht überordnet. Folglich ist Heideggers Auslegung des Bezuges zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht im Jahre 1936 meilenweit entfernt von der 1939 in der Zusammenfassung Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht ¹³ an-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 416.  Vgl. Heidegger, N I, S. 381.  Vgl. Heidegger, N II, S. 8: „Im voraus sind die ewige Wiederkehr und der Wille zur Macht als Grundbestimmungen des Seienden im Ganzen und als solchen begriffen, und zwar der Wille zur Macht als die endgeschichtliche Prägung des Was-seins, die ewige Wiederkehr des Gleichen als die des Daß-seins.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 10: „Der Wille zur Macht ist das Sichüberhöhen in die Werdemöglichkeiten eines sich einrichtenden Befehlens, welches Sichüberhöhen im innersten Kern Beständigung des Werdens als solchen bleibt und, weil allem bloßen Fortlaufen ins Endlose fremd und feind, sich diesem entgegenstellt.“

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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klingenden, in der nicht gehaltenen Vorlesung Nietzsches Metaphysik ¹⁴ (1941/ 1942) entfalteten und 1953 in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? ¹⁵ bis in die letzten Konsequenzen vertieften Instrumentalisierung, Einhegung und Ableitung der ewigen Wiederkehr aus dem Willen zur Macht. Demgemäß schafft sich das Leben als Wille zur Macht mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen das „größte Hindernis“.¹⁶ Einerseits kann sich das Leben auf diese Weise immer wieder überwinden und den eigenen Bestand sichern (Nietzsches Metaphysik).¹⁷ Andererseits vermag es mit dieser Schöpfungstat den eigenen Ingrimm gegenüber der entgleitenden Zeit zu tilgen. Diese nimmt der Wille gefangen, indem er sie mit Hilfe der ewigen Wiederkehr zurückkehren lässt (Wer ist Nietzsches Zarathustra?).¹⁸ Bemerkenswert ist die Vielschichtigkeit der Schilderungswege und Zusammenhangsstiftungen in dem kurzen Text Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung. Die sowohl anziehende wie auch vereinfachende, die interpretatorische Herausforderung umgehende These einer „grundlegenden Kontinuität“¹⁹ in Heideggers Nietzsche-Deutung suggeriert eine unwiderrufliche Eindeutigkeit und Unveränderlichkeit der Heideggerschen Einschätzungen be-

 Vgl. Heidegger, Nietzsches Metaphysik, hrsg. von Petra Jaeger, GA 50, Frankfurt a. M. 1990, S. 11– 87. Vgl. Heidegger, N II, S. 231– 301.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, hrsg.von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, GA 7, Frankfurt a. M. 2000, S. 101– 124.  Vgl. Heidegger, N II, S. 261.  Vgl. Heidegger, N II, S. 261: „Der Wille zur Macht muß sich selbst als den Willen zur Macht vor sich bringen, und zwar so, daß die höchste Bedingung der reinen Ermächtigung zur äußersten Übermächtigung vor ihm steht: das größte Hindernis. Dies geschieht ihm dort, wo die höchste Beständigung nicht nur einmal, sondern ständig, und zwar als die stets gleiche, vor ihm steht. […] Der Wille zur Macht selbst, der Grundcharakter des Seienden als solchen, und nicht ein ‚Herr Nietzsche‚ setzt diesen Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Die höchste Beständigung des Bestandlosen ist das größte Hindernis für das Werden. Durch dieses Hindernis bejaht der Wille zur Macht die innerste Notwendigkeit seines Wesens.“ Heidegger bezieht sich hier auf ein Fragment Nietzsches aus dem Jahre 1888. Es lautet: „…dieses höchste Hinderniß, diesen Gedanken der Gedanken, wer schuf ihn sich! Das Leben selber schuf sich sein höchstes Hinderniß: über seinen Gedanken selber springt es nunmehr hinweg.“ Vgl. Nietzsche, NF1888,20[133]). Vgl. die Parallelstelle zum Text aus Nietzsche II: Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 38.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119: „Der höchste Wille zur Macht, d. h. das Lebendigste alles Lebens ist es, das Vergehen als ständiges Werden in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorzustellen und es so ständig und beständig zu machen. Dieses Vorstellen ist ein Denken, das, wie Nietzsche in betonter Weise vermerkt, dem Seienden den Charakter seines Seins ‚aufprägt‚. Dieses Denken nimmt das Werden, zu dem ein ständiges Sichstoßen, das Leiden, gehört, in seine Obhut, unter seine Protektion.“  Wolfgang Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, S. 30.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

stimmter Gedanken. Ebendiese Forschungsthese lässt sich bereits durch eine textnahe Lektüre des Abschnittes Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung entkräften. Wenn nichtsdestotrotz – wie zum Beispiel durch einen hochkarätigen Denker wie Karl Löwith ²⁰, der jedoch zum Zeitpunkt dieses Urteils nicht auf die erste Nietzsche-Vorlesung zurückgreifen konnte – behauptet wird, in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche bestehe eine Kontinuität oder gar Singularität in der Verknüpfung beider Lehren hinsichtlich der genuin metaphysischen Unterscheidung von essentia und existentia, so ist diese These so richtig wie fragwürdig. Um die Kohärenz dieser Auffassung zu sichern, muss unterschlagen werden, dass die Aufspaltung in essentia und existentia 1936/37 noch nicht wörtlich exponiert wird und auch der Sache nach hauptsächlich auf der Seite des Willens zur Macht als Grundcharakter des Seienden präsent ist, während die ewige Wiederkehr in einer ambivalenten Bestimmungsvielfalt beschrieben wird. Zudem stellt die Unterscheidung 1936/37 auch in ihrer Vorform, in der Distinktion zwischen dem Grundcharakter des Seienden auf der einen Seite und dem Sein auf der anderen Seite, keineswegs die dominierende Taxierung dar, wenngleich Heidegger sie mit definitorischen Weihen ausstattet. Zwar ließe sich diesbezüglich tatsächlich eine Kontinuitätslinie ziehen. Diese müsste jedoch die Verschiebungs- und Verdeckungsprozesse und das Zurücktreten vormals vorrangiger Deutungsentscheidungen ihrerseits unberücksichtigt lassen. Dadurch würde der Interpret einer möglichen, auf Stringenz abzielenden Prätention Heideggers unfreiwillig sekundieren. Heidegger selbst nimmt in seiner ersten Entfaltung der wechselseitigen Zugehörigkeit beider Lehren keine Hinsichtenunterscheidung oder eine systematische Untergliederung divergierender Verbindungsversionen vor. Dennoch lässt sich im Durchgang durch den Primärtext eine implizite Einteilung in Sinnabschnitte erkennen, die mit den ersten drei der hier vorgeschlagenen Synthesebildungen konvergieren. Bevor diese konkretisiert werden können, ist zuvorderst einzuholen, wie Heidegger zu der Trias aus Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr, Umwertung aller Werte und der Unumgänglichkeit ihrer Vereinheitlichung gelangt. In der entwicklungsgeschichtlichen Perspektive ist die Erhebung dieser drei Topoi zu den „Leitworten“²¹ Nietzsches aufschlussreich, weil Heidegger ab 1940 – besonders ausgeprägt in dem Text Nietzsches Metaphysik (1940) und in der nicht gehaltenen, gleichnamigen Vorlesung von 1941/42 – ein Quintett von Haupttiteln bezie-

 Vgl. Karl Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 4. Aufl., Hamburg 1986, S. 224.  Heidegger, N I, S. 14.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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hungsweise Grundworten des Nietzscheschen Denkens entwirft.²² Während die 1936 herausgestellte Umwertung aller Werte in der Vorlesung Der europäische Nihilismus von 1940 noch Eingang in das Gefüge der fünf Haupttitel ²³ findet (gemeinsam mit dem Willen zur Macht, der ewigen Wiederkehr des Gleichen, dem Übermenschen und dem Nihilismus), ersetzt die Gerechtigkeit in der späteren Konzeption der Grundworte die Umwertung aller bisherigen Werte. ²⁴ Heideggers herleitende Erörterungen zur Einheit der drei Gedanken fallen noch in den Abschnitt Pläne und Vorarbeiten zum „Hauptbau“. ²⁵ Wie Löwith²⁶, so periodisiert auch Heidegger Nietzsches philosophisches Schaffen in drei wesentliche Phasen, in denen jeweils ein Werkplan die Leitungsfunktion innehat. Den ersten Entwurf parallelisiert Heidegger mit der Zarathustra-Zeit von 1882– 1883. Der zweite Entwurf übergreift die Jahre von 1885 – 1887 mit den Werken Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. Der dritte Entwurf fällt in das Jahr 1888, in dem Nietzsche die Schriften Götzen-Dämmerung, Ecce homo und Der Antichrist verfasste. Die jeweiligen Hauptentwürfe jeder Phase markieren nach Heidegger die Grundstellung, aus der Nietzsche denkt. Wichtig ist, dass diese drei Grundstellungen nach Heidegger nicht als „Stufen einer Entwicklung“²⁷ und demnach nicht als sukzessive Vervollkommnungsbewegung verstanden werden dürfen. In jeder Grundstellung dringe Nietzsche unbewusst in den Bereich der „Selbstbegründung der Philosophie“²⁸ vor, wobei das gewählte Ausgangsprinzip changiere: Die drei Grundstellungen unterscheiden sich auch nicht nach ihrem Umfang; jede meint das Ganze der Philosophie, und in jeder sind jeweils die beiden anderen mitinbegriffen, doch in je verschiedener Weise der inneren Gestaltung und in verschiedener Lagerung der gestaltgebenden Mitte. Und allein die Frage nach dieser Mitte war es, was Nietzsche eigentlich ‚malträtierte‘. Diese Frage war freilich nicht die äußere nach der gemäßen Zusammenfassung eines vorliegenden handschriftlichen Materials, es war, ohne daß Nietzsche es eigentlich zu wissen bekam und dahin vorstieß, die Frage der Selbstbegründung der Philosophie. Sie betrifft jenen Sachverhalt, daß, was die Philosophie ist und wie sie jeweils ist,

 Vgl. Heidegger, N II, S. 236 ff. Vgl. Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 3 – 82.  Vgl. Heidegger, N II, S. 32: „Aus der Notwendigkeit, das Wesen des ‚Nihilismus‘ im Zusammenhang mit der ‚Umwertung aller Werte‘, mit dem ‚Willen zur Macht‘, mit der ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘, mit dem ‚Übermenschen‘ denken zu müssen, läßt sich bereits vermuten, daß das Wesen des Nihilismus in sich vieldeutig, vielstufig und vielgestaltig ist.“ [Kursivsetzungen von mir, J.K.]  Vgl. Heidegger, N II, S. 231– 301; Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 3 – 82.  Heidegger, N I, S. 9 – 15.  Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 26.  Heidegger, N I, S. 13.  Heidegger, N I, S. 14.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sich nur aus ihr selbst bestimmt, daß aber diese Selbstbestimmung nur möglich ist, indem sie sich schon selbst begründet hat. Ihr eigenes Wesen kehrt sich immer gegen sie selbst, und je ursprünglicher eine Philosophie ist, um so reiner schwingt sie in dieser Kehre um sich selbst; um so weiter hinausgedrängt, bis an den Rand des Nichts, ist dann auch der Umkreis dieses Kreises. Jede der drei Grundstellungen ist nun, wenn man scharf hinsieht, durch einen vorherrschenden Titel gekennzeichnet. Es ist kein Zufall, daß dabei die beiden jeweils als Haupttitel ausgeschlossenen Titel unter dem jeweiligen Haupttitel wieder vorkommen.²⁹

Die erste Grundstellung der Jahre 1882– 1883 steht unter der Signatur der „Philosophie der ewigen Wiederkunft“³⁰, wobei dem zugehörigen Plan der Untertitel „Ein Versuch der Umwertung aller Werte“ beigegeben ist.³¹ Obwohl der Wille zur Macht in dieser Grundstellung nicht explizit genannt wird, begründet Heidegger dessen latente Präsenz über den Titel des „krönenden Schlußkapitels“³² eines innerhalb der ersten Grundstellung gefassten Bauplanes. Dieses Schlusskapitel ist überschrieben mit dem Satz: „Die Lehre der ewigen Wiederkunft als Hammer in der Hand des mächtigsten Menschen“.³³ Heidegger leitet daraus die Bezogenheit der ewigen Wiederkehr auf das Wesen der Macht ab: „Daraus ist zugleich ersichtlich, daß der Gedanke der Macht, d. h. immer des Willens zur Macht, das Ganze von Grund bis zur Spitze durchragt“.³⁴ In der zweiten Grundstellung rückt der Wille zur Macht in das Zentrum. Das von Nietzsche unter dem Obertitel „Der Wille zur Macht“³⁵ geplante und nicht abgeschlossene Hauptwerk nimmt den Untertitel der ersten Grundstellung gemäß dem Nizzaer Plan vom 17. März 1887 in nahezu identischer Weise auf, der entsprechend lautet: „Versuch einer Umwertung aller Werte“.³⁶ Die ewige Wiederkehr wird in dieser Grundstellung nicht verabschiedet, sondern taucht in einem weiteren, von Heidegger herangezogenen Plan als Titel für den vierten Teil des Werkes („Die ewige Wiederkunft“)³⁷ auf.

 Heidegger, N I, S. 13 – 14.  Heidegger, N I, S. 14. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[259].  Heidegger, N I, S. 14. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[259].  Heidegger, N I, S. 14.  Heidegger, N I, S. 14. Im Originalplan setzt Nietzsche die mächtigsten Menschen in den Plural. Das fünfte Kapitel heißt: „Die Lehre der ewigen Wiederkunft als Hammer in der Hand der mächtigsten Menschen“ [von mir kursiv, J.K.]. Vgl. Nietzsche, NF-1884,27[80].  Heidegger, N I, S. 14.  Heidegger, N I, S. 14. Vgl. Nietzsche, NF-1887,9[164].  Heidegger, N I, S. 14.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, 13. Aufl., Stuttgart 1996.  Heidegger, N I, S. 14. Nietzsche, Vgl. NF-1886,5[75].

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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Im Rahmen der dritten Grundstellung steigt das Motiv der „Umwertung aller Werte“³⁸, dem in den beiden ersten Stadien als direktem Untertitel eine wesentliche Funktion zukam, indem es die Zielrichtung der Werkpläne vorgab, zum Haupttitel auf. Auch in der letzten Grundstellung sucht Heidegger den Einfluss der beiden anderen Leitgedanken nachzuweisen. So erscheint die Lehre der ewigen Wiederkunft in einem dieser Phase zuzuordnenden Werkaufriss erneut als Titel für den vierten Teil („Philosophie der ewigen Wiederkunft“³⁹). Die Anwesenheit des Theorems des Willens zur Macht innerhalb der dritten Grundstellung legt Heidegger in der Semantik des „in seiner Stellung wechselnden Teils“⁴⁰ über die „Jasagenden“⁴¹ frei. Die Einheit und Gleichrangigkeit der drei Leitworte ist somit darin fundiert, dass keine Grundstellung, die jeweils einem der Gedanken den Zentralrang einräumt, einen Vorrang gegenüber den beiden anderen Grundstellungen beanspruchen kann und die ewige Wiederkehr, der Wille zur Macht und die Umwertung der Werte in jeder von ihnen auftreten. Die Herausschälung von drei Kerngedanken dient jedoch nicht dazu, Nietzsches Philosophie in einem äußeren Zugriff zu systematisieren und zu fixieren. Vielmehr wird es nach Heidegger erst durch ein sachhaltiges Verständnis der Trias möglich, einen Bezug zwischen der inaugurierten, geschichtlichen Umwertung (die durch die Zusammengehörigkeit der ewigen Wiederkehr mit dem Willen zur Macht evoziert wird) und dem Gepräge des 20. Jahrhunderts herzustellen und Nietzsches Philosophie in ihrer Zugehörigkeit zur Geschichte der Metaphysik würdigen zu können. In der Vorlesung von 1936/37 ordnet Heidegger Nietzsches Philosophie, die zum Seismographen der Verfasstheit des an dieser Stelle nicht unter dem Index der Technik begriffenen 20. Jahrhunderts avanciert, noch durchaus wertneutral in sein paradigmatisches Narrativ ein, demzufolge die Metaphysik in ihrer Geschichte auf die epochal divergierenden Lebenswelten ausstrahlt und deren Zukunft vorprägt: Ewige Wiederkehr,Wille zur Macht und Umwertung, das sind die drei Leitworte, unter denen das Ganze des geplanten Hauptwerkes mit je verschiedener Lagerung steht. Wenn wir nun nicht denkerisch eine Fragestellung entwickeln, die imstande ist, die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen, die Lehre vom Willen zur Macht und diese beiden Lehren in ihrem innersten Zusammenhang einheitlich als Umwertung zu begreifen, und wenn wir nicht dazu übergehen, diese Grundfragestellung zugleich als eine im Gang der abendländischen Metaphysik notwendige zu fassen, dann werden wir die Philosophie Nietzsches niemals fassen,

 Heidegger, N I, S. 14. Vgl. z. B. Nietzsche, NF-1888,19[2]; NF-1888,19[8].  Heidegger, N I, S. 14. Vgl. Nietzsche, NF-1888,19[8]: „Viertes Buch. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft.“  Heidegger, N I, S. 14.  Heidegger, N I, S. 14.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

und wir begreifen nichts vom 20. Jahrhundert und den künftigen Jahrhunderten, wir begreifen nichts von dem, was unsere metaphysische Aufgabe ist.⁴²

Wenn das Begreifen des Vorganges der Umwertung den Schlüssel bildet, um der von Hegel zum Kerngeschäft der Philosophie erhobenen Versammlung der eigenen Zeit im Medium des Gedankens nachkommen zu können, muss die bislang nur philologisch untermauerte Einheitsthese durch eine philosophisch fragende Konzentration auf den Zusammenhang zwischen jenen beiden Elementen ergänzt werden, die die Umwertung der bisherigen Werte initiieren: Die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen gehört mit der Lehre vom Willen zur Macht aufs innigste zusammen. Das Einheitliche dieser Lehre sieht sich selbst geschichtlich als Umwertung aller bisherigen Werte. Aber inwiefern gehören die Lehren von der ewigen Wiederkunft des Gleichen und die vom Willen zur Macht wesentlich zusammen? Diese Frage wird uns eingehender, und zwar als die entscheidende Frage, bewegen müssen; deshalb jetzt nur eine vordeutende Antwort.⁴³

1.1.2 Das erste Modell: Die ewige Wiederkehr als Sinn des Seins und der Wille zur Macht als Sein des Seienden Die „vordeutende Antwort“, die Heidegger gibt, bezeichnet in dem oben vorgeschlagenen Schema das erste Beschreibungsmodell, das die ewige Wiederkehr als Sinn des Seins von dem Willen zur Macht als Sein des Seienden unterscheidet. Diese These ist anhand der folgenden Passage zu erhärten, die Heideggers „Antwort“ beinhaltet: Der Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ nennt den Grundcharakter des Seienden; jegliches Seiende, das ist, ist, sofern es ist: Wille zur Macht. Damit wird ausgesagt, welchen Charakter das Seiende als Seiendes hat. Aber damit ist noch gar nicht die erste und eigentliche Frage der Philosophie beantwortet, sondern nur die letzte Vorfrage. Die entscheidende Frage ist für den, der überhaupt am Ende der abendländischen Philosophie noch philosophisch fragen kann und fragen muß, nicht mehr nur die, welchen Grundcharakter das Seiende zeige, wie das Sein des Seienden charakterisiert sei, sondern es ist die Frage: Was ist dieses Sein selbst? Es ist die Frage nach dem ‚Sinn des Seins‘, nicht nur nach dem Sein des Seienden; und ‚Sinn‘ ist dabei genau in seinem Begriff umgrenzt als dasjenige, von woher und auf Grund wovon das Sein überhaupt als solches offenbar werden und in die Wahrheit kommen kann. Was heute als Ontologie angeboten wird, hat mit der eigentlichen Seinsfrage nichts zu tun. Es ist

 Heidegger, N I, S. 14– 15.  Heidegger, N I, S. 15.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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ein sehr gelehrtes und sehr scharfsinniges Zergliedern und Gegeneinander-ausspielen der überkommenen Begriffe. Was und wie ist der Wille zur Macht selbst? Antwort: Die ewige Wiederkehr des Gleichen.⁴⁴

Die durch den Titel des Willens zur Macht beantwortete Hauptfrage der Metaphysik – diejenige nach dem Sein des Seienden – enthüllt sich bei einem Perspektivwechsel in die fundamentalontologische Blickbahn als die „letzte Vorfrage“ der Philosophie (im Sinne des Seinsdenkens). Diese sieht sich in der Lage, die erste, nach Heidegger in der gesamten Geschichte der Metaphysik vergessene Frage nach dem Sinn des Seins zu stellen. Die Bedeutung der oben genannten „letzten Vorfrage“ ist folglich deckungsgleich mit der in anderen Kontexten sowie auch in der vorliegenden Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst exponierten Leitfrage der Metaphysik, die nach der Wahrheit und dem Wesen des Seienden fragt.⁴⁵ Es bedarf keiner tiefen Deutungskunst, dass es sich bei der Erwähnung desjenigen, „der überhaupt am Ende der abendländischen Philosophie noch philosophisch fragen kann und fragen muß“⁴⁶, um eine Selbstcharakterisierung Heideggers handelt. Dennoch ist das gesamte Zitat wesentlich konfliktreicher und ergiebiger, als es die Abgrenzung gegenüber dem in der metaphysischen Fragerichtung verbleibenden Gedanken des Willens zur Macht und die abschließende, disparat wirkende Polemik gegen die zeitgenössische Erscheinungsform der Ontologie ahnen lassen. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als würde Heidegger in dem angeführten Zitat allein behaupten, die von ihm akzentuierte Relevanz der Frage nach dem Wesen und Sinn des Seins werde einzig und allererst in seinem eigenen Denken erkannt und berücksichtigt. Wenn Heideggers Definition des Sinns des Seins jedoch auf die abrupt eingeführte Konstellationsbestimmung der ewigen Wiederkehr als Was-Sein und Wie-Sein des Willens zur Macht bezogen wird, zeigt sich die andere Bedeutungsschicht des Zitats. Zugleich wird erstmals deutlich, wie stark Heideggers seinsgeschichtliche Argumentation in dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur

 Heidegger, N I, S. 15 – 16.  Vgl. Heidegger, N I, S. 64: „Die Frage steht darnach, was das Seiende sei. Diese überlieferte ‚Hauptfrage‚ der abendländischen Philosophie nennen wir die Leitfrage. Aber sie ist nur die vorletzte Frage. Die letzte und d. h. erste lautet: Was ist das Sein selbst?“ Vgl. außerdem zur Ausgestaltung der Leitfrage: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 34, S. 77: „Die Leitfrage, entfaltet in ihrem Gefüge, läßt jeweils eine Grundstellung zum Seienden als solchen erkennen, d. h. eine Stellung des fragenden (Menschen) auf einem Grunde, der nicht als solcher aus der Leitfrage er-gründbar und überhaupt nicht wißbar ist, der aber durch die Grundfrage ins Offene gebracht wird.“  Heidegger, N I, S. 15.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung mit den Kernthesen von Sein und Zeit verflochten ist. Bekanntlich ist es in Sein und Zeit die Zeitlichkeit, die als „Sinn des Seins“ den Horizont für die Ausprägung eines jeglichen Seinsverständnisses (nicht jedoch des „Seins überhaupt als solches“) bezeichnet.⁴⁷ Dergestalt kann die Zeitlichkeit – appliziert auf den Textbefund aus dem Zitat – als der „Grund“ verstanden werden, der das Offenbarwerden des Seins für den Menschen ermöglicht. In der späteren, dezidiert seinsgeschichtlichen Konzeption, die in den Beiträgen zur Philosophie ihre profunde Bezeugung findet, geht diese Funktion der Eröffnung und der Freigabe der Weltbedeutsamkeit von der Zeitlichkeit auf die lichtende Verbergung⁴⁸ über. Demgegenüber lässt das Geschick des Seins innerhalb der abendländischen Metaphysik nicht das Sein selbst in seine Wahrheit kommen. Das Geschick äußert sich in dem Hervortretenlassen der Seiendheit, des Seins des Seienden, hinter das Heidegger zurückfragt. Gerade aufgrund dieser suffizienten Erklärungskraft der Temporalität in Sein und Zeit beziehungsweise der lichtenden Verbergung und des Seinsgeschickes (nach der Kehre) scheint es keinen Beleg für die These zu geben, dass die ewige Wiederkehr als Sinn des Seins begriffen werden könnte. Obwohl sie selbstverständlich nicht als geschichtlich wirksame, entbergende Instanz des Seins selbst fungieren kann, lässt sich dafür plädieren, dass Heidegger sie zumindest in diesem ersten Modell einerseits als Sinn, als Grund des Seins des Seienden fasst (insofern dieses am Ende der Metaphysik durch den Willen zur Macht zum Ausdruck gebracht wird). Andererseits wird sie als „schwerster Gedanke“⁴⁹ privilegiert, der mit der Frage nach dem Sein, d. h. nach dessen Sinn identisch ist. Diese beiden Seiten sollen in zwei aufeinander aufbauenden Schritten verdeutlicht werden. (1) In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 wird die ewige Wiederkehr eindeutig als Grund des Willens zur Macht verstanden, mit dem sie (in der 1937 gegebenen Interpretation) innerhalb des Seins des Seienden zugleich in einer Einheit steht:

 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §69, S. 364– 365: „Das Sein des Daseins bestimmten wir als Sorge. Deren ontologischer Sinn ist die Zeitlichkeit. Daß und wie diese die Erschlossenheit des Da konstituiert, wurde gezeigt. In der Erschlossenheit des Da ist Welt miterschlossen. Die Einheit der Bedeutsamkeit, das heißt die ontologische Verfassung der Welt, muß dann gleichfalls in der Zeitlichkeit gründen. Die existenzial-zeitliche Bedingung der Möglichkeit der Welt liegt darin, daß die Zeitlichkeit als ekstatische Einheit so etwas wie einen Horizont hat.“  Vgl. allerdings: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 226, S. 352: „Die Lichtung der Verbergung meint nicht die Aufhebung des Verborgenen und seine Freistellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern gerade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verbergung (die zögernde Versagung).“  Heidegger, N I, S. 16.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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Die Umprägung des Werdenden zum Seienden – der Wille zur Macht in seiner höchsten Gestalt – ist in seinem tiefsten Wesen Augenblicklichkeit, d. h. ewige Wiederkehr des Gleichen. Der Wille zur Macht als Verfassung des Seienden ist nur, wie er ist, auf dem Grunde der Weise zu sein, auf die Nietzsche das Seiende im Ganzen entwirft: Wille zur Macht ist im Wesen und seiner inneren Möglichkeit nach ewige Wiederkehr des Gleichen. ⁵⁰

Dass diese Verhältnissetzung bereits in der Vorlesung von 1936 präfiguriert ist, lässt sich anhand der definitorischen Formulierung: „Was und wie ist der Wille zur Macht selbst? Antwort: Die ewige Wiederkehr des Gleichen“⁵¹ erhärten. Wird der Wille zur Macht unter dem Gesichtspunkt seines Was-Seins, im Blick auf das, was er im Kern ist, betrachtet, enthüllt er sich als ewige Wiederkehr: Die ewige Wiederkehr ist die umgreifende Verfassung, aus der heraus und in der er als Wille zur Macht sein und d. h. als solcher in seiner hauptsächlichen Wirkung offenbar werden kann. Dergestalt bezeichnet die ewige Wiederkehr das Wesen (auch im verbalen Sinne) des Willens zur Macht, jene Entität, die diesem notwendigerweise zugrunde liegen muss. In der Hinsicht des Wie-Seins dirigiert sie dessen Weise zu sein: Es ist die spiralförmige Verfasstheit des sich im Werden in der iterativen Rückkehr zu sich selbst erhaltenden, inneren Steigerungsgeschehens, das den Willen zur Macht in die Lage versetzt, sich in allem Seienden niederzuschlagen. Die ewige Wiederkehr erweist sich demnach als die Verlaufsform des Willens zur Macht. Unter dem Aspekt des Wie-Seins betrachtet, wiese der in jedem Seienden vorzufindende Wille zur Macht eine horizontale Ebenbürtigkeit zur ewigen Wiederkehr auf, die seine Vitalität aufrechterhielte. Im ersten Fall, im Hinblick auf das Was-Sein, wäre er in eine vertikale Bedingtheit gegenüber der ewigen Wiederkehr versetzt, weil es diese als Sinn des Willens zur Macht ist, die seinen ontologischen Status als vermeintlich letztbegründendes Sein des Seienden und als „principium der Wertsetzung“⁵² allererst gewährt. (2) Bezüglich der Parallelisierung der ewigen Wiederkehr mit der Seinsfrage kann auf jene Ausführungen Heideggers hingewiesen werden, die im direkten Anschluss an die soeben zitierte Textstelle folgen. Heidegger distanziert die Lehre der ewigen Wiederkehr vom Willen zur Macht, indem er sie nicht mehr als immanenten Was-Gehalt auf die Seiendheit des Willens zur Macht bezieht, sondern als Nietzsches Version der Frage nach dem Sein begreift, die gemäß der grundsätzlichen Denkweise Heideggers der Metaphysik vorauslaufen oder über sie hinausgehen müsste:

 Heidegger, N I, S. 419.  Heidegger, N I, S. 16.  Heidegger, N I, S. 29.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Ist es ein Zufall, daß diese Lehre durch alle Pläne des philosophischen Hauptwerkes hindurch ständig und an entscheidender Stelle wiederkehrt? Was mag es bedeuten, wenn Nietzsche in einem Plan, der einfach den Titel trägt: ‚Die ewige Wiederkunft‘ (XVI, 414), den ersten Teil ansetzt unter dem Titel: ‚Der schwerste Gedanke‘? Allerdings, die Frage nach dem Sein ist der schwerste Gedanke der Philosophie, weil es ihr innerster und äußerster zugleich ist, der Gedanke, mit dem sie steht und fällt.⁵³

1.1.3 Das zweite Modell: Der Wille zur Macht als Werden und die ewige Wiederkehr als Garant des Seins (im Sinne der Beständigkeit) Ohne dies kenntlich zu machen, widmet sich Heidegger unmittelbar darauf einem anderen Zugang, wodurch sich die zweite, dezidiert metaphysische Verhältnisbeschreibung ergibt. Weil der zum Sein des Seienden avancierende Wille zur Macht keine ewig gleichbleibende, statische Substanz, sondern in sich selbst bewegt ist, stellt sich die Frage, wie dieses Werden des Wollens als das Sein und als Wesen der Wirklichkeit perpetuiert werden kann: Wir hörten: Der Grundcharakter des Seienden ist Wille zur Macht, Wollen, also Werden. Und dennoch, gerade dabei bleibt Nietzsche nicht stehen, wie man gewöhnlich meint, wenn man ihn mit Heraklit zusammenstellt. Vielmehr sagt Nietzsche an einer Stelle, die ausdrücklich als zusammengreifende Überschau kenntlich gemacht ist, folgendes (‚Der Wille zur Macht‘, n. 617): ‚Rekapitulation: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.‘ Dies sagt: Das Werden ist nur, wenn es im Sein als Sein gegründet ist.⁵⁴

In diesem Passus zitiert Heidegger zum ersten Mal die Aufzeichnung Nr. 617⁵⁵ aus Der Wille zur Macht, welcher im Hinblick auf die Begründung und die verschiedenartige Gewichtung der Einigkeit zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht in Heideggers gesamter Auseinandersetzung mit Nietzsche eine inkommensurable Bedeutung beizumessen ist. Aufgrund der einleitenden Benennung als „Rekapitulation“ liegt es tatsächlich nahe, den Aphorismus für eine „zusammengreifende Überschau“⁵⁶ oder gar für die Quintessenz der Philosophie Nietzsches zu halten. Das Wort „Rekapitulation“ stammt allerdings nicht von

 Heidegger, N I, S. 16. Vgl. den Werkplan: Nietzsche, NF-1884,27[58].  Heidegger, N I, S. 16.  Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 617, S. 418. Vgl. Nietzsche, Ende 1886–Frühjahr 1887, KGW VIII, 1, S. 320.  Heidegger, N I, S. 16.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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Nietzsche, sondern wurde von Peter Gast nachträglich eingefügt.⁵⁷ Auf Nr. 617 rekurrierend, unterstreicht Heidegger, dass der Werdecharakter des Willens zur Macht nicht mit Hilfe einer dialektischen Operation mit dem etwa als Allheit und Bündelungsinstanz des Seienden begriffenen Sein identifiziert werden darf. Wird der Wille zur Macht dem Werden zugeordnet, könnte sich in der Übertragung dieser Zuordnung auf den Aphorismus Nr. 617 eine sich verdoppelnde Selbstbestätigung und Performativität des Willens zur Macht ergeben: Dieser würde sich demnach in seiner stärksten Form („höchster Wille zur Macht“) bezeugen, wenn es ihm gelänge, sich als Werden selbst den „Charakter des Seins aufzuprägen.“ Diese Hineinhebung des Seins in das Werden indiziert auf den ersten Blick entweder einen souveränen Akt des Willens oder darauf, dass sich der Wille zur Macht die ewige Wiederkehr unterwirft, um die vorgefundene undulatorische Wirklichkeit zu formen, die er im Kern selbst ist. Ebenjene Autarkie einer sich selbst begründenden Struktur, die nicht die geschichtliche Genese und den erkannten Aufstieg des Willens zur Macht betrifft, sondern die überzeitliche Konstitution eines ersten metaphysischen Prinzips thematisiert, spricht Heidegger dem Willen zur Macht in dem Fortgang des Abschnitts Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung ab. Auf der Basis der Formulierung „Das Werden ist nur, wenn es im Sein als Sein gegründet ist“⁵⁸ und in Anbetracht der Auffassung, dass Nietzsche bei einem falsch verstandenen Heraklitismus des bloßen Werdens nicht stehenbleibe, trägt Heidegger mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen einen externen Begründungsträger in die Konstellation ein. Über Heidegger hinausgehend und seinen Ansatz fortführend, lässt sich in einer generellen metaphysischen Überlegung sagen, dass das Werden in dreifacher Hinsicht – in existenztheoretischer, ontologischer und epistemologischer Perspektive – auf das Sein angewiesen ist: Erstens kann das Werden nur dann zum Fundamentalfaktor der Wirklichkeit gradiert werden, wenn es nicht Nichts ist und ihm die Seinssetzung, die Position, als Existenzausweis inhäriert. Wenn zweitens behauptet wird, das Werden sei der

 Vgl.Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpretationen I, 1. Aufl., Berlin / New York 1999, S. 353: „Doch die Überschrift, durch welche Heidegger dem Text herausragende Bedeutung verliehen sieht, stammt – nicht von Nietzsche, sondern von Peter Gast. Dieser hat sie – zweifellos in eigener systematisierender Absicht – über den letzten ‚Aphorismus‘ gesetzt, mit dem er den letzten Abschnitt des von ihm zusammengestellten Dritten Buches von Der Wille zur Macht beschließt. Hinzuzufügen ist, daß es in diesem Falle nicht erst der Edition von Colli / Montinari bedurft hätte, um diese Zutat (als nicht von Nietzsches Hand stammend) zu erkennen. Heidegger hätte in seinem Handexemplar der GA von 1911 in den Anmerkungen des Herausgebers Otto Weiß den Sachverhalt dargestellt finden können.“  Heidegger, N I, S. 16.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Grundcharakter des Seienden, gibt der Titel des Werdens an, dass das Seiende nur ist, indem es wird; das Werden manifestiert sich als das Sein in jedem Seienden und bezeichnet in seiner Universalität auch das Sein im Sinne des Allumfassenden und der wahren Wirklichkeit. Drittens fordert ein hinreichendes Verständnis aller Veränderungsprozesse die Wahrnehmbarkeit einer Seinszunahme- oder Reduktion. Im Falle des Ortswechsels benötigt es ein ruhendes Substrat, an dem ein solcher abgelesen werden kann. In inverser Blickrichtung ließe sich unter Beibehaltung der Zusammengehörigkeit beider Lehren ergänzen, dass allein das zeitlich verstandene Werden die Intervalle und Entfernungen auf der Kreisbahn schaffen kann, die vonnöten sind, damit sich eine ewige Wiederkehr des Gleichen ereignen kann. Hatte Heidegger zuvor die Unabhängigkeit beziehungsweise die Priorität der ewigen Wiederkehr gegenüber dem Willen zur Macht betont, insofern sie in der Gestalt des „schwersten Gedankens“ die Frage nach dem Sein durchscheinen lässt und zudem als Sinn des Willens zur Macht markiert wird; so gilt umgekehrt, dass der Wille zur Macht sich 1936/37 nicht ohne sie zu konturieren vermag. Gemäß der obigen Darlegung kann er sich nur dann bewahrheiten, wenn er als Werden im Sein befestigt wird. Dies wirft notwendigerweise die Frage auf, wie und wodurch der dazu erforderliche Zusammenschluss der beiden Komplementärbegriffe zu vollziehen ist, sodass das Werden, das Wollen, die Bewegung, die Steigerung und die Veränderung als solche verewigt und auf Dauer gestellt werden können. Die Schwierigkeit liegt folglich darin, dass die inhaltliche Dimension der Seiendheit, das wollende Werden, mit jenen an sich gegenläufigen Attributen konvergieren muss, die traditionell-metaphysisch dem Sein des Seienden prädiziert werden. Darunter fallen die persistente Anwesenheit, die Unverrückbarkeit, die Außerzeitlichkeit und die Fundierungsfunktion. Die durch Schopenhauer inaugurierte Wendung in der Metaphysik – das beständige, zeitenthobene Sein ist keine ruhende Substanz und auch kein geistiges Subjekt, sondern der sich selbst verzehrende, sinnlos bewegte Wille – wird durch Nietzsches Einebnung des Wesens-Erscheinungs-Gegensatzes verschärft, den Schopenhauer noch rückhaltlos affirmierte. Der Wille zur Macht stellt die einheitliche ἀρχή dar. Als solche muss er von jedem einzelnen Seienden, das er durchdringt, abgehoben werden. Der Zwiespältigkeit von Identifikation und Distanzierung lässt sich mit dem Hinweis auf das Paradigma eines monistischen Voluntarismus begegnen. Dieser steigt nicht zu einem transzendenten Absoluten auf, sondern weist die ubiquitäre Strahlkraft des Willens sowohl im Inneren anorganischer und organischer Prozesse als auch im Gesamtzusammenhang des menschlichen Weltbezuges nach. Weil der Wille zur Macht – anders als der Weltwille Schopenhauers – keine raumund zeitlose Ursprungsdimension besitzt und sich somit nicht in einer nach dem

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Satz vom Grunde organisierten Wirklichkeit verschiedenartig objektiviert, muss das Verhältnis zwischen dem Sein des Seienden und der Welt des Werdens neu ausgelotet werden.⁵⁹ Der Wille zur Macht bezeugt sich in der Freilassung des Seienden als und im Werden; als Agens dieser Bewegung ruht er nicht.Weil er auf diese Weise die Gesamtheit des Lebens nicht mehr nur grundiert, sondern selbst in ihr pulsiert, ist er zwangsläufig in sie eingebunden und mit ihr identisch. Deswegen transformiert die unaufhebbare Bewegtheit des voluntaristischen Prinzips den herkömmlichen Begriffsbestand des metaphysischen Prius, dessen Bestimmung als in sich vollkommen statisch-differenzlose Ewigkeit ins Wanken gerät. Indem Heidegger den dritten Satz der Aufzeichnung Nr. 617 zitiert, wird ex negativo deutlich, dass die erforderliche Synthese verhindert wird, wenn das Werden als Grundverfassung des Seienden im Ganzen über eine Fixierung des Willens zur Macht als Substanz befreit und aufrechterhalten werden soll. Die metaphysisch gegründete Erstarrung müsste für jedes einzelne, in seinem Kern betrachtete Seiende gelten und auf das Seiende im Ganzen ausgeweitet werden, sodass dieses sich gerade nicht mehr als Werdendes zeigen könnte. Auf der Gegenseite würde die von Seiten Platons an den Lehren der Herakliteer kritisierte und auch in Jaspers’ Nietzsche-Deutung hervorgehobene Souveränität des verfließenden Werdens⁶⁰ dazu führen, dass der Wille zur Macht und mit diesem das auf seine Steigerung und auf die duellhafte Einverleibung des Anderen drängende

 Nietzsches Ablehnung der Schopenhauerschen Konzeption des überzeitlichen, ungeteilten und ziellosen Willens zum Leben als Ding an sich ist von ebenjenem wachen Problembewusstsein geprägt, das sich auch in den von Georg Simmel aufgeführten Kritikpunkten widerspiegelt. Vgl. Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus (1907), in: Georg Simmel, Gesamtausgabe Bd. 10, hrsg. von Otthein Rammstadt, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2017, S. 237: „Die ganze pessimistische Willensmetaphysik hängt daran, ob die Realität damit erschöpft und der allgemeine, einheitliche Wille eine bloß abstrakte Begriffsbildung ist oder ob umgekehrt dieser die eigentliche Realität und jene nur seine Vereinzelungen und gebrochenen Strahlen sind. An diesem Punkte allein ist wirklich zu verstehen, woher der erkenntnistheoretische Idealismus, die Scheidung zwischen Erscheinung und Ding-an-sich die unumgängliche Voraussetzung des Schopenhauerschen Pessimismus ist. Der Gedanke, der ihn allein im tiefsten Weltgrund verankert: der seinem Wesen nach zweckleere Wille – hängt ausschließlich an der Denkmöglichkeit, in die einzelnen und also immer zweckbestimmten Wollungen einen absolut allgemeinen Willen, dessen Einheit nicht durch Zwecke zerspalten ist, als ihre eigentliche Realität hineinzulegen.“  Vgl. Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin / Leipzig 1936, S. 308: „Nietzsches Anschauung vom Werden ist philosophisch zu erfassen als das über alle Bestimmtheit transzendierende Denken, in dem er jede Weise des Dingseins und den Raum versinken läßt in der Zeit, die Zeit aber als das Werden selbst nimmt, an ihr gleichsam strandet. Es ist, als ob sein Transzendieren aufhöre: die Wirklichkeit der Zeitlichkeit wird absolut.“

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Werden unweigerlich entgleiten müsste. In dieser Verflüchtigung und Unerkennbarkeit könnte er niemals als nachvollziehbare und spürbare Wahrheit der Welt statuiert werden. Zudem gewänne das Seiende in seinem Überwindungsgang – und dieser ist es, der die metaphysische These des Primats des werdehaften Willens zur Macht auf der ontischen Ebene legitimiert – in sich keinen Halt, weil eine durative Rückkopplung an das in seinem Bleiben zu Übersteigende nicht möglich wäre. Beide Wege erweisen sich als ungenügend: Entweder würde das Werden in einem substantiellen Sein aufgelöst oder das Werden entzöge sich stets dem Sein und damit auch einer klaren Prädizierbarkeit, welche die für den Willen zur Macht prägende Koinzidenz, die Verfassung und die Erscheinungsform der Wirklichkeit zu sein, auffangen und herausstellen könnte. Folglich muss ein Kompromiss gefunden werden, der nicht einer der beiden Seiten den Vorrang erteilt, sondern sie einander maximal annähert. Die Welt des Werdens kann sich als Sein nur gründen, wenn sie sich innerhalb des Seienden in ihrem Verändern, Entstehen und Vergehen immer wieder in identischer Weise hervorbringt und dadurch niemals etwas in ihr Geschehendes unwiederbringlich verliert. Diese Vollkommenheit und Fülle ist ein Merkmal der Beständigkeit, der nun auch die abwesende Präsenz des in seiner Wiederkehr noch Ausstehenden inhäriert. Um den Willen zur Macht in seiner ontologischen Stellung zu konsolidieren, ist es unausweichlich, dass seinem unabschließbaren Übersichhinausgehen der weiteste Raum gegeben wird, ohne dass er sich darin verliert oder in eine diffuse Unendlichkeit ausufert. Dies wird möglich, wenn er in seiner Steigerung zu sich zurückkehrt; nicht in dem Sinne einer Rekurrenz auf ein zugrundeliegendes Substrat, sondern in einem nicht durch ein vorgezeichnetes Ziel oder einen klaren Anfangspunkt eingerahmten Bei-sich-selbst-bleiben. Dieses äußert sich als Mitsich-Zusammenschließen in der Selbstüberhöhung, die das Proprium des Willens zur Macht bildet. Diese Gedanken wurden vorangeschickt, um die Problemlage zu konkretisieren. Es sollte illustriert werden, weswegen der ewigen Wiederkehr im Hinblick auf die widerwendigen Titel ‚Sein‘ und ‚Werden‘ die Funktion der Vereinigungsinstanz zukommt. Im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeit und Konfiguration der wahrnehmbaren Welt rechtfertigt die ewige Wiederkehr die metaphysische Ansetzung des Willens zur Macht. Es zeigt sich, dass die ewige Wiederkehr als Vehikel der Seinsgewinnung sowie als Beständigungstendenz innerhalb des Werdens unauflöslich mit dem Willen zur Macht verbunden ist. Demgegenüber repräsentiert sie als Sinn dieses Seins des Seienden die vorgängige Verfestigungsdisposition des Seienden, die das Gewesene und das Künftige zusammenhält. Erst innerhalb dieses Modus kann sich der Wille zur Macht als Grundverfassung der Wirklichkeit entfalten.

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Im Hinblick auf die Zusammengehörigkeit mit dem Willen zur Macht kann resümiert werden, dass die ewige Wiederkehr in Heideggers früher NietzscheInterpretation die Eindrehung des Werdens, das ansonsten einem rastlosen Fluss anheimfiele, in das als Anwesenheit und Persistenz begriffene Sein garantiert. Dergestalt fungiert sie als stillschweigende Stütze der gesamten Rückverlagerung des sich als antimetaphysische Zäsur verstehenden Denkens Nietzsches in die abendländische Tradition. Unmittelbar nach seiner Erläuterung des ersten Satzes der Aufzeichnung Nr. 617, wonach Nietzsches Satz: „Dem Werden den Charakter des Werdens aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht“ bedeute, dass das Werden als Sein der Wirklichkeit im Sein des Seienden gegründet werden müsse, zitiert Heidegger den dritten Satz dieses wesentlichen Aphorismus. Diese Passage wurde bislang zugunsten der Erhellung der Rekapitulation zurückgehalten, weil Heidegger direkt nach der Anführung des dritten Satzes – gemäß der Interpretationshypothese, dass sich in dem Text Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung eine implizite Einteilung in mehrere Sinnabschnitte und Bedeutungsschichten erkennen lässt – eine neue Verständnisdimension in das zweite, metaphysische Beschreibungsmodell des Verhältnisses beider Lehren einzeichnet. Die Textstelle lautet: ‚Daß Alles wiederkehrt, ist die extremste Annäherung einer Welt des Werdens an die des Seins: – Gipfel der Betrachtung.‘ Nietzsche denkt mit seiner Lehre von der ewigen Wiederkunft in seiner Weise nur den Gedanken, der verhüllt, aber als der eigentlich treibende, die ganze abendländische Philosophie durchherrscht. Nietzsche denkt den Gedanken so, daß er mit seiner Metaphysik an den Anfang der abendländischen Philosophie zurückkommt – deutlicher gesprochen: an den Anfang, wie ihn die abendländische Philosophie im Verlaufe ihrer Geschichte zu sehen sich gewöhnte, welche Gewöhnung auch Nietzsche mitmacht, trotz seiner sonst ursprünglichen Erfassung der vorsokratischen Philosophie.⁶¹

Die Wiederkehr alles Geschehenden hebt den Chorismos zwischen (der im platonischen Sinne) wahren Welt des Seins und der scheinhaften Welt des Werdens auf, indem der Wandel zum Immerwährenden der Wirklichkeit avanciert. In dem Argumentationsgang des Abschnittes Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung zeigt der dritte Satz von Nr. 617 in bestätigender Absicht zurück, weil er Heideggers Auffassung untermauert, dass für die Erhebung des Werdens zum Sein die Hineinverlagerung des Seins in das Werden unausweichlich sei. Hingegen besitzen die Überlegungen, die Heidegger an die Zitierung der von Nietzsche als „Gipfel der Betrachtung“ klassifizierten Approximation  Heidegger, N I, S. 16 – 17.

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beider Welten anschließt, einen anderen Schwerpunkt. Wie im ersten Modell wird die ewige Wiederkehr erneut von dem Willen zur Macht emanzipiert, allerdings wird sie in dem obigen Passus nicht als dessen Grund oder Sinn aufgerufen. Vielmehr nimmt Heidegger an dieser Stelle den Gehalt der Nietzscheschen Definition der ewigen Wiederkehr als „schwerster Gedanke“ auf und verankert diesen innerhalb einer geschichtlichen Gesamtsicht. Die mit der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen (unbewusst) aufgeworfene und bedachte Frage nach dem Sein äußert sich als Ergründung des „verhüllten, aber eigentlich treibenden, die ganze Philosophie durchherrschenden Gedanken“.⁶² Die entscheidende Frage lautet, was der Topos des „die ganze Philosophie des durchherrschenden Gedankens“ bedeutet und wie dieser inhaltlich zu fassen ist. Hinsichtlich der Bestimmung des „verhüllten Gedankens“ lassen sich zwei verschiedene Richtungen mitsamt den entsprechenden Interpretationsoptionen ausdifferenzieren: Die hier vorgeschlagene, erste Deutung des „verhüllten Gedankens“ stützt sich maßgeblich auf das von Heidegger konzedierte Motiv der Rückkehr zum „Anfang der abendländischen Philosophie“. Sie legt die zweite Verhältnisbestimmung beider Lehren als metaphysisches Gefüge zugrunde und erörtert den untergründig waltenden Gedanken als ein die gesamte Geschichte der Metaphysik leitendes Wiederherstellungsstreben der bereits im Anfang geschehenden Zertrennung von Sein und Werden. Die ursprüngliche Verschmelzung von Werden und Sein müsste demnach als animierende Sehnsucht und als hauptsächliches Erkenntnisziel der Philosophie markiert werden. Diesbezüglich kann sich die Deutung auf die Aufzeichnung Nr. 617 stützen, in der Nietzsche bekanntlich beide Welten zu vereinigen sucht. Demnach honoriert die erste (auch von Heidegger durchaus nahegelegte) Interpretation Nietzsches Intention, die platonisch geprägte Metaphysik durch eine Wiedergewinnung des vorsokratischen Gedankengutes zu überwinden und verknüpft diesen Sachverhalt mit der ewigen Wiederkehr. In Heideggers eigenständiger Deutung, die der Verbindung zwischen der Frage nach dem Sinn des Seins, der Zeit und der ewigen Wiederkehr nachgeht, vollzieht sich hingegen der Übergang zum dritten, an Sein und Zeit angelehnten Beschreibungsmodell. Hier erscheint der „verhüllte Gedanke“ in der Gestalt des Entwurfes jeder Seiendheit auf die Zeit und artikuliert sich damit als Notwendigkeit der Verflechtung von Sein und Zeit. Die zweite Interpretation, die von Heidegger favorisiert wird, enthüllt die Erschließung des Seins aus der Zeit als den unbedachten Grund, der in allen metaphysischen Grundstellungen und folglich auch bei Nietzsche fortwirkt und die mit der Lehre der ewigen Wiederkehr prätendierte Rückkehr an den Anfang überhaupt erst ermöglicht. Aus Heideggers

 Vgl. Heidegger, N I, S. 16.

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Sicht müsste die erste Deutung des „verhüllten Gedankens“ innerhalb der Leitfragenbehandlung eingeordnet werden, während die zweite bereits aus der entfalteten Leitfrage in deren Grund zurückweist. Um diese beiden Interpretationen zu plausibilisieren, ist es zunächst wichtig, auf die Nuancen des Textes zu achten. Mit der Lehre der ewigen Wiederkunft wird nach Heidegger zwar der geschichtsübergreifende, verborgene und die Philosophie nichtsdestotrotz stets beschäftigende Hauptgedanke revitalisiert, doch denkt Nietzsche diesen „in seiner Weise“⁶³, d. h. er stößt nicht zu dessen grundsätzlicher, sich durch die gesamte Geschichte der Philosophie hindurchziehender Gestalt vor. Nietzsche bleibt die Einsicht in die Herausforderung verschlossen, die von der Frage nach der zeithaften Dimension des Seins evoziert wird. Dazu passt, dass er nach Heidegger eine ihrerseits geschichtlich gewachsene, in der Entfernung von dem Anfang und seiner Weisheit reüssierende und dementsprechend verfälschende Sicht zur Entschlüsselung der vorsokratischen Philosophie verwendet. Nietzsches problematische Betrachtungsweise des Anfangs der Philosophie hat Heidegger besonders in der Vorlesung von 1937 ausbuchstabiert. Wie in der Einleitung dieses Kapitels exponiert, erschließt sich Nietzsche das Gepräge des Anfangs nach Heidegger vornehmlich über eine diametrale Gegenüberstellung von Heraklit und Parmenides. In Nietzsches Narrativ zerfällt die Philosophie in ihrem Anfang in zwei unversöhnliche Strömungen: Parmenides begreift das Seiende als das Unveränderliche, niemals Gewordene und nicht Entstehende, wohingegen Heraklit das Seiende als niemals Stillstehendes und immerzu Werdendes profiliert.⁶⁴ Aus Nietzsches Perspektive hat das Denken Parmenides’ in der Gestalt der platonischen Ideenlehre die gesamte abendländische Metaphysik

 Heidegger, N I, S. 16.  Vgl. Heidegger, N I, S. 417. Die Auffassung, Nietzsche habe in Heraklit den Philosophen des Werdens und in Parmenides den Philosophen des Seins gesehen, wodurch er der platonischen Rezeption der beiden anfänglichen Denker folge, gewinnt Heidegger wahrscheinlich aus Nietzsches Frühwerk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1872/73). Zwei Stellen sollen dies verdeutlichen. So schreibt Nietzsche über Heraklit: „….er [Heraklit, J.K.] leugnete überhaupt das Sein. Denn diese Welt, die er übrig behielt – umschirmt von ewigen ungeschriebenen Gesetzen, auf- und niederfluthend im ehernen Schlag des Rhythmus – zeigt nirgends ein Verharren, eine Unzerstörbarkeit, ein Bollwerk im Strom.“ Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 822– 823. Parmenides‚ Philosophie charakterisiert er hingegen wie folgt: „Das Seiende kann nicht geworden sein: denn woraus hätte es werden können? Aus dem Nichtseienden? Aber das ist nicht und kann nichts hervorbringen. Aus dem Seienden? Dies würde nichts anderes als sich selbst erzeugen. Ebenso steht es mit dem Vergehn; es ist ebenso unmöglich, wie das Werden, wie jede Veränderung, wie jeder Zuwachs, jede Abnahme.“ Vgl. Nietzsche, KSA 1, S. 842– 843.

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beherrscht, während er selbst Heraklits Philosophie im Rahmen seiner Umwertung aller Werte wiederentdeckte. Weil mit der Lehre der ewigen Wiederkunft ein Weg gefunden ist, durch den das Werden in jedem Augenblick und an jedem Ort zum Sein gerundet wird, kann Heidegger konstatieren, dass Nietzsche mit diesem Gedanken an den Anfang zurückkommt. Die Dichotomie der Grundstellungen Heraklits und Parmenides, die einseitig entweder das Werden oder das Sein betonen, wird durch die Lehre der ewigen Wiederkehr aufgehoben. Die schwere Hypothek der anfänglichen Spaltung der Philosophie in zwei rivalisierende Gedankenzüge wird revidiert. Durch diese ausgleichende Zusammenfügung ist die Philosophie als Metaphysik an ihr Ende gelangt. Ihre Möglichkeiten sind erschöpft, weil alle bisherigen Bestimmungen dessen, was das Seiende sei, entweder dem Werden oder dem Sein den eindeutigen Vorrang beimaßen. Die Metaphysik beginnt demnach mit der Zertrennung von Werden und Sein und endet mit der mustergültig in der Aufzeichnung Nr. 617 geäußerten Überzeugung Nietzsches, die Welt des Werdens und die des Seins in der Lehre der ewigen Wiederkehr versöhnt zu haben. Generell ist beizufügen, dass Heidegger mit seiner Einschätzung, Nietzsche denke mit der „Lehre von der ewigen Wiederkunft in seiner Weise nur den Gedanken, der verhüllt, aber als der eigentlich treibende, die ganze abendländische Philosophie durchherrscht“⁶⁵ die ewige Wiederkehr massiv stärkt. Wenn die Lehre der ewigen Wiederkunft in suffizienter und eigenständiger Weise den Rückschluss an den Anfang generieren kann, den heraklitischen Fluss mit dem parmenideischen Sein zusammenführt und den „treibenden“ Kerngedanken der Philosophie freilegt und aktualisiert, wird es fraglich, welche Stellung der Willen zur Macht jenseits einer Subordination unter die ewige Wiederkehr und jenseits des Sachverhalts, bei Nietzsche den Titel des Werdens für sich beanspruchen zu können, innehat. Die zweite Interpretation geht im Vorgriff auf den dritten Sinnabschnitt in Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung (beziehungsweise im vorausschauenden Hinblick auf die dritte Modellierung des Verhältnisses) zu Heideggers These über, Nietzsche wiederhole mit der Lehre der ewigen Wiederkehr unbewusst die Frage nach dem Bezug zwischen dem Sein und der Zeit. Der verhüllte und die gesamte abendländische Metaphysik vorantreibende Gedanke würde demnach durch die Einsicht aufgedeckt, dass die Metaphysik das Sein stets aus der ekstatisch-endlichen Zeit erschließen und mit zeithaften Bestimmungen belegen musste, selbst wenn sie es als Ewigkeit oder Außerzeitlichkeit definierte.

 Heidegger, N I, S. 16.

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1.1.4 Das dritte Modell: Der Wille zur Macht als Sein und die ewige Wiederkehr als Zeit In dem dritten Modell wird die ewige Wiederkehr zwar immer noch als Sinn des Willens zur Macht begriffen, doch wird sie nicht – wie im ersten Modell – mit Hilfe ihrer Verortung in der seinsgeschichtlichen Fragestellung nach der Wahrheit des Seins selbst von dem Willen zur Macht abgekoppelt, der auf die metaphysische Frage „Was ist das Seiende?“ respondiert. Gemäß dem dritten Modell setzt Heidegger die fundamentale, sogar noch auf der letzten Seite des Werkes⁶⁶ aufgerufene und hinterfragte Erkenntnis aus Sein und Zeit, wonach das Verstehen von Sein allein auf der Folie der sich im Dasein ekstatisch zeitigenden Zeitlichkeit und als Zeit offenbar werden könnte, in einen Zusammenhang mit den Hauptlehren der Metaphysik Nietzsches. In dieser Übertragung streicht Heidegger allerdings die fundierende Rolle des Menschen, da sich die Zeit in Sein und Zeit nur aufgrund der Sorgestruktur des Daseins zeitigen konnte. Es wird nicht mehr die Konstitutionsweise des Seinsverständnisses oder der Zeitlichkeit in den Vordergrund gestellt. Das Begriffspaar „Sein“ und „Zeit“ wird auf seine Formalität reduziert, sodass der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr auf es angewandt und in es eingepasst werden können. Der Wille zur Macht nimmt den Status des Seins ein, während die ewige Wiederkehr die Zeit repräsentiert. Die ewige Wiederkehr ist als Zeit der Sinn des Willens zur Macht als Sein (d. h. hier: als Seiendheit). Dies lässt sich anhand der folgenden Textstelle belegen: Nietzsche denkt und betrachtet, wenn er auf dem ‚Gipfel der Betrachtung‘ den ‚schwersten Gedanken‘ denkt, das Sein, d. h. den Willen zur Macht, als ewige Wiederkehr. Was heißt dies – ganz weit und wesentlich genommen? Ewigkeit nicht als ein stehenbleibendes Jetzt, auch nicht als eine ins Endlose abrollende Abfolge des Jetzt, sondern als das in sich selbst zurückschlagende Jetzt: was ist dies anderes als das verborgene Wesen der Zeit? Das Sein, den Willen zur Macht, als ewige Wiederkunft denken, den schwersten Gedanken der Philosophie denken, heißt, das Sein als Zeit denken. Nietzsche dachte diesen Gedanken, aber er dachte ihn noch nicht als Frage von Sein und Zeit. Auch Platon und Aristoteles dachten diesen Gedanken, wenn sie das Sein als οὐσία (Anwesenheit) begriffen, aber sie dachten ihn ebensowenig wie Nietzsche als Frage.⁶⁷

 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §83, S. 437: „Wie ist erschließendes Verstehen von Sein daseinsmäßig überhaupt möglich? Kann die Frage ihre Antwort im Rückgang auf die ursprüngliche Seinsverfassung des Sein-verstehenden Daseins gewinnen? Die existenzial-ontologische Verfassung der Daseinsganzheit gründet in der Zeitlichkeit. Demnach muß eine ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit selbst den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt ermöglichen. Wie ist dieser Zeitigungsmodus der Zeitlichkeit zu interpretieren? Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont des Seins?“  Heidegger, N I, S. 17.

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Dass Heideggers Text Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung nicht nur durch verschiedene Sinnabschnitte, sondern durch oszillierende Konstellationen und durch Bedeutungsmodifikationen der Leitworte gekennzeichnet ist, manifestiert sich beispielsweise in dem Facettenreichtum des Titels „der schwerste Gedanke“, in dessen Verwendung sich nunmehr drei verschiedene Weisen unterscheiden lassen. Erstens ist gemäß der von Heidegger herangezogenen Selbstdeutung Nietzsches die ewige Wiederkehr des Gleichen der schwerste Gedanke. Wie zweitens veranschaulicht wurde, bildet jedoch auch die „Frage nach dem Sein“ laut Heidegger den „schwersten Gedanke der Philosophie, weil er ihr innerster und äußerster zugleich ist“.⁶⁸ Dass sowohl die ewige Wiederkehr des Gleichen als auch die Frage nach dem Sein den Anspruch auf den Titel als schwerster Gedanken erheben können, stellt für Heidegger kein Problem dar. Indem er die Frage nach dem Sinn des Seins mit der ewigen Wiederkehr unter dem Index des schwersten Gedankens zusammenfügt, wird die hier vertretene Auffassung validiert, dass die ewige Wiederkehr von Heidegger gegenüber der Metaphysik des Willens zur Macht als Sinn dieses Seins verstanden wird. Weil Heidegger im Text Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung die fundamentalontologischen, aus Sein und Zeit stammenden Überlegungen zum Wesen der Zeit als Horizont des Seins mit der Einordnung der Lehren der ewigen Wiederkehr und des Willens zur Macht vermischt, lässt sich die ewige Wiederkehr als eine mögliche Ausgestaltung des zeithaften Sinns exemplifizieren. Der schwerste Gedanke der Philosophie ist demnach, das Sein aus und als Zeit zu denken. Indem die ewige Wiederkehr von Seiten Nietzsches als Antwort auf die zeithafte Verfasstheit des Seins nobilitiert und bedacht wird, verbirgt sich allerdings die Frage nach der Quelle, der Geschichte und nach den Beweggründen für die Ansetzung des Seins als Zeit. Zudem kann der Lehre der ewigen Wiederkehr nach Heideggers Wendung zur Geschichtlichkeit des Seins die Bedeutung der Zeit freilich nur noch innerhalb der Metaphysik des Willens zur Macht zugesprochen werden, da die in ihr gelehrte Zirkularität mit der eschatologischen Ausrichtung der Heideggerschen Seinsgeschichte kollidiert. Die dritte Gebrauchsweise des Terminus „der schwerste Gedanke“ lässt sich im oben zitierten Passus konstatieren.Während zuvor allein die ewige Wiederkehr des Gleichen den schwersten Gedanken ausmachte, so lässt Heidegger den schwersten Gedanken nun aus dem Verbund der beiden Lehren entspringen, wenn er schreibt: „Nietzsche denkt und betrachtet, wenn er auf dem ‚Gipfel der Betrachtung‘ den ‚schwersten Gedanken‘ denkt, das Sein, d. h. den Willen zur

 Heidegger, N I, S. 16.

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Macht, als ewige Wiederkehr“.⁶⁹ Dass Heidegger den schwersten Gedanken tatsächlich auch in der beschwerlichen Durchdringung des Zusammenhanges beider Lehren sieht, zeigt sich wenige Seiten später in der Kritik an Alfred Baeumler. Im Rahmen dieser Kritik identifiziert Heidegger den „Zusammenhang zwischen der ewigen Wiederkehr als der höchsten Bestimmung des Seins und dem Willen zur Macht als dem Grundcharakter des Seienden“⁷⁰ mit dem „Gipfel der Betrachtung“ und dem „schwersten Gedanken“. Scheinbar wird dadurch der Eindruck konterkariert, dass die ewige Wiederkehr die metaphysische, in den Anfang zurückkehrende Verbindung von Sein und Werden sowie die Erschließung des Seins als und aus der Zeit ohne die Einwirkung des Willens zur Macht vollbringen könnte. Zum einen resultiert der schwerste Gedanke aus dem Ertragen des vermeintlichen Widerspruches von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr und zum anderen bezeichnet er allein die ewige Wiederkehr des Gleichen, insofern in dieser die Repugnanz von Beständigkeit und Veränderung zusammengedacht werden soll. Dass für Heidegger letztlich beide Identifikationsweisen gleichberechtigt nebeneinander stehen können, ergibt sich kurz darauf, ebenfalls noch in der Auseinandersetzung mit Baeumler. In dem folgenden Zitat wird die ewige Wiederkehr erneut isoliert als schwerster Gedanke Nietzsches begriffen: Wenn ewige Wiederkehr und Wille zur Macht sich also widersprechen, dann ist vielleicht dieser Widerspruch gerade die Aufforderung, diesen schwersten Gedanken zu denken, statt ins ‚Religiöse‘ zu flüchten. Aber selbst zugegeben, es liege ein unaufhebbarer Widerspruch vor und der Widerspruch zwinge zu einer Entscheidung: entweder Wille zur Macht oder ewige Wiederkehr, warum entscheidet sich Baeumler dann gegen Nietzsches schwersten Gedanken und Gipfel der Betrachtung und für den Willen zur Macht?⁷¹

 Heidegger, N I, S. 17.  Heidegger, N I, S. 18.  Heidegger, N I, S. 19 – 20. Vgl. hierzu Baeumlers Klassifikationen des Wiederkunftsgedankens als religiöse Vision, als „erratischer Block“ sowie als „Äternisierung des Werdenden“, die der heraklitisch-agonalen Weltverfassung diametral entgegengesetzt sei. Vgl. Alfred Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, S. 82: „Es gibt nichts in seinem philosophischen System, womit diese Äternisierung des Werdenden in Zusammenhang gebracht werden könnte – einsam steht der Gedanke der ewigen Wiederkunft im ‚Willen zur Macht‘ da, ein erratischer Block. Es gibt im Grunde keine Philosophie der ewigen Wiederkunft, es gibt nur eine Religion der ewigen Wiederkunft.“ Zu Baeumlers Auffassung eines unversöhnlichen Antagonismus zwischen dem „System“ des Willens zur Macht und der Lehre der ewigen Wiederkunft vgl. Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, S. 80: „Oder richtiger: der Gedanke der ewigen Wiederkunft scheint dazu da, um das System [gemeint ist der Gedanke des Willens zur Macht beziehungsweise der höchsten Gerechtigkeit, J.K.] aufzuheben. Indem der Begriff der ewigen Wiederkunft erscheint, verschwindet der heraklitische Charakter der Welt.“ Baeumler folgert daraus einen systemrelevanten Widerspruch im Sinne einer Fundamentaldisjunktion: „Es kann

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die Position der ewigen Wiederkehr ist ambivalent: Sie ist der schwerste Gedanke und steht zugleich als ein Relat in einer Relation, in der sich der schwerste Gedanke allererst konturiert. Genau genommen, gibt es demnach „zwei schwerste Gedanken“, die sich jedoch nicht ausschließen, sondern aufeinander aufbauen. Der erste „schwerste Gedanke“ ist die Lehre der ewigen Wiederkunft selbst, die aufgrund der Versöhnung des philosophischen Grabens zwischen Ewigkeit und Zeit und aufgrund der ethisch-existenziellen Tragweite die höchste Gedankenanstrengung und Tiefe erfordert. Diese erste Form wird weitergetragen und ersteht daraufhin in der vermeintlich widersprüchlichen Beziehung der ewigen Wiederkehr zum Willen zur Macht, in der sie sich erst recht als schwerster, tradierte Ansetzungen überwindender Gedanke entpuppt, insofern sie dazu auffordert, das Werden (den Willen zur Macht) als Sein zu verstehen. Gemäß dem dritten Sinnabschnitt wird der Entwurf des Willens zur Macht auf die ewige Wiederkehr als materiale Erfüllung der Verbindung von Sein und Zeit begriffen, welche die gesamte abendländische Philosophie und alle Grundstellungen der Metaphysik in verschiedenen Ausprägungen durchzieht. Als schwerster Gedanken wird diese Verbindung allerdings erst ersichtlich, wenn sie auf ihre Grundlagen befragt wird – wodurch sich die Unausweichlichkeit einer zeitlichen Bestimmung des Seins herauskristallisieren würde. Nietzsche wird zum Vorläufer von Sein und Zeit stilisiert, weil er einerseits der letzte Philosoph innerhalb der Geschichte der Metaphysik ist, der diesen Zusammenhang in seinen Leitworten abbildet. Andererseits ist Nietzsche nach Heidegger der erste Denker, der das „verborgene Wesen der Zeit“⁷² wiederentdeckt. Gegenüber dem zweiten Modell hat sich ein bedeutender Wandel ereignet. In der metaphysischen Verhältnisbestimmung sollte die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen das Werden, den Willen zur Macht, im Sein gründen und ihn als Sein des Seienden befestigen. Im Kontrast dazu, garantiert sie in der vorletzten, zitierten Langpassage die Verzeitlichung des Seins. Dieses kann den Status einer statischen Substanz abstreifen, indem es die von der ewigen Wiederkehr verbürgte Bewegtheit des Willens zur Macht annimmt. In dem Text Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung kommt der ewigen Wiederkehr zunächst die Stellung des Seins zu, wohingegen sie in der oben zitierten Passage als Zeit gefasst wird. Während der ewigen Wiederkehr dergestalt zwei verschiedene und widerwendige Bedeutungen zugesprochen werden, ist der Wille zur Macht von Vornherein in sich doppeldeutig, aber nicht widersprüchlich verfasst,

nur eins gelten: entweder die Lehre von der ewigen Wiederkunft oder die Lehre des Willens zur Macht“ (Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, S. 80).  Heidegger, N I, S. 17.

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eben weil er als Werden zugleich das Sein des Seienden repräsentieren soll. Die Assoziation der ewigen Wiederkehr mit der Zeit beziehungsweise ihre Einordnung als Aussage über das Wesen der Zeit dürfte allgemein näher liegen als ihre anhand der Aufzeichnung Nr. 617 profilierte Exposition als Sein, das der Welt des Werdens aufgeprägt wird. Die Pointe eines möglichen Einwands Heideggers gegen diese Rangabstufung und Unterscheidung könnte allerdings gerade darin bestehen, dass das bestandverleihende Sein und die verflüchtigende Zeit dasselbe sind, weil sie auf dem Gipfel der Betrachtung, in der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen, in einer unzertrennlichen, wechselseitigen Bedingtheit zusammengefügt werden. Könnte die ewige Wiederkehr jedoch nicht nur entweder die Seinsgründung oder die Verzeitlichung in wechselnden Zugangsweisen repräsentieren, sondern beide in sich koordinieren, erhielte sie eine Souveränität, die ihre Ebenbürtigkeit mit dem Willen zur Macht als Seiendheit unmöglich machen würde. Damit würde auch die Lokalisierung Nietzsches innerhalb der metaphysischen Leitfragenbeantwortung hinfällig. Anhand dieser Zweideutigkeit, wonach die ewige Wiederkehr zum einen die seinshafte Beständigkeit des Werdens und zum anderen die zeitliche, sich innerhalb der hiesigen Welt ausfaltende Bewegtheit der Seiendheit arrangiert, bekundet sich die Notwendigkeit einer Unterscheidung verschiedener Interpretationsschichten und Sinnabschnitte im Text Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung. ⁷³ Zudem spiegelt sich in dieser Ambiguität die generelle, paradoxale Verfasstheit der ewigen Wiederkehr als spannungsreicher Zusammenschluss der entgegengesetzten Begriffe der Ewigkeit und der Zeit, des Seins und des Werdens wider, die besonders Werner Stegmaier prägnant herausgearbeitet hat: Den Gegen-Begriff oder die Anti-Lehre der ewigen Wiederkunft richtet Zarathustra nicht nur gegen einen festen, zeitlosen Begriff des Menschen, sondern gegen feste, zeitlose und damit metaphysische Begriffe überhaupt. Und wie mit ‚dem Übermenschen‘ nur den Begriff eines überlegenen Menschen, so scheint Zarathustra mit dem Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen nur eine neue Metaphysik zu schaffen. ‚Ewig‘ und ‚Gleiches‘ sind fraglos Leitbegriffe der Metaphysik, ebenso ‚Alles‘, das ewig und gleich wiederkehren soll; ‚Alles‘ ist, schon nach Kant, in keiner Erfahrung jemals zu erfassen und damit transzendent. Aber wie in den Begriff des Menschen lässt Nietzsche seinen Zarathustra nun in die Begriffe der Metaphysik die Zeit eintragen – mit der ewigen Wiederkehr ist das Ewige nicht mehr ein Sein,

 Im Anhang zur ersten Nietzsche-Vorlesung intendiert Heidegger, beide Wesenszüge der ewigen Wiederkehr zu vereinigen. Vgl. Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, hrsg. von Bernd Heimbüchel, Frankfurt a. M. 1985, S. 287: „Ewige Wiederkehr aber ist – obzwar scheinbar als Fließen und Fortfließen – gerade die echte Stilllegung des Fließens in den ursprünglichen Bestand, in jene Beständigkeit, die dem Wassein (als Wille zur Macht) entspricht.“

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sondern die Zeit, in der, auch wenn immer alles gleich bleibt, immer alles anders wird. Die Zeit als solche, das hat schon Parmenides, der Begründer der Metaphysik, gesehen und Aristoteles ausführlich dargelegt, ist etwas Paradoxes; sie paradoxiert alles, was ihr unterworfen wird. Nietzsche paradoxiert die Metaphysik, die die Zeit so entschlossen auszuschließen versuchte, indem er die Zeit wieder in sie einträgt.⁷⁴

Auch nach Heidegger lassen sich die gängigen Ewigkeitsbegriffe nicht auf die Kombination aus der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht applizieren. Dadurch bestätigt sich der bereits im Rahmen der Annäherung der Welt des Werdens an die des Seins gewonnene Eindruck, dass dem Wille zur Macht als Werden eine von der bisherigen Metaphysik abweichende Form der Beständigkeit eignen muss. Diese neue Weise der Ewigkeit, die das Werden und die Zeit nicht suspendiert, zur Täuschung deklassiert oder in sich verschlingt, sondern es freigibt und immer wieder auffängt, kann allein durch die ewige Wiederkehr gestiftet werden. Die von Heidegger erwähnten und abgelehnten Konzeptionen der Ewigkeit werden auch in Sein und Zeit – in der Gestalt der endlosen Linie und der unaufhebbaren und scheinbar zeitentrückten Gegenwart – als Paradigmen der metaphysischen Legitimation verdrängter Endlichkeit eingebracht.⁷⁵ Erwähnenswert ist, dass Heidegger seinen Ausgang in der Bestimmung der Zeitstruktur der ewigen Wiederkehr jeweils vom Jetzt, vom Augenblick nimmt. Die ewige Wiederkehr sichert die Anwesenheit des Seins, d. h. des Willens zur Macht, weder nach Maßgabe der Hegelschen „schlechten Unendlichkeit“, der sempiternitas, („ins Endlose abrollende Abfolge des Jetzt“⁷⁶). Noch schließt sie die Zeitdimensionen der Vergangenheit und der Zukunft aus, indem sie diese in eine unveränderliche Gegenwart, in einem nunc stans („stehenbleibendes Jetzt“⁷⁷) zusammenzöge, in welchem sich der Wille zur Macht einrichten müsste. Hingegen wird Heidegger in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? von 1953 statuieren, dass die ewige Wiederkehr – darin den anderen Ewigkeitsvorstellungen verwandt – die Vergänglichkeit der Zeit nicht vergehen lässt, sondern sie immer

 Werner Stegmaier, Friedrich Nietzsche zur Einführung, 2. Aufl., Hamburg 2013, S. 164– 165.  Vgl. zur Kritik an der Vorstellung einer endlosen Zeit: Heidegger, Sein und Zeit, §65, S. 330: „Die Versuchung dazu, die Endlichkeit der ursprünglichen und eigentlichen Zukunft und damit der Zeitlichkeit zu übersehen, bzw. sie ‚a priori‘ für unmöglich zu halten, entspringt aus dem ständigen Verdrängen des vulgären Zeitverständnisses. Wenn dieses mit Recht eine endlose Zeit und nur diese kennt, dann ist damit noch nicht erwiesen, daß es diese Zeit und ihre ‚Unendlichkeit‘ auch schon versteht.“  Heidegger, N I, S. 17.  Heidegger, N I, S. 17.

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wieder zurückholt.⁷⁸ Weil sie sich in dieser Vergewisserung der verrinnenden Zeit bemächtigt, prolongiert auch Nietzsche gemäß dem späten Aufsatz die in der metaphysischen Tradition verankerte Diskreditierung der endlichen Zeit gegenüber der Ewigkeit und damit der Beständigkeit. Im Gegensatz dazu, wird die Wiederkunftslehre im Jahre 1936 in ihrer Synthese mit dem Willen zur Macht nicht primär auf der Seite der Ewigkeit verhandelt. Heidegger begreift die Konstellation aus Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr als Wiedergewinnung des „verborgenen Wesen[s] der Zeit“⁷⁹, das sich in dem „in sich selbst zurückschlagenden Jetzt“⁸⁰ äußert. Folglich gesteht er Nietzsche zu, neben der Überwindung der tradierten Ewigkeitsvorstellungen auch die klassischen Auslegungen der Zeit als Maßeinheit der Bewegung oder als lineare Aneinanderreihung von Jetztpunkten hinter sich gelassen zu haben. Heideggers Einschätzung, dass Nietzsche mit der ewigen Wiederkehr das „verborgene Wesen der Zeit“⁸¹ dekuvriert, ist im denkbiographischen Rückblick auf das Werk Sein und Zeit aus zwei Gründen bemerkenswert: Zum ersten kritisiert Heidegger in Sein und Zeit die Erhöhung des Jetzt zum Ursprungsphänomen der Zeit, wobei er die Unvereinbarkeit von Jetzt und Augenblick betont und sich deswegen in einer bekannten Fußnote gegen Kierkegaards Augenblickstheorie wendet, weil sich dieser an ebenjenem vulgärzeitlichen Begriff des Jetzt orientiere.⁸² Umso mehr sticht hervor, dass Heidegger sich 1936 in affirmativer Weise auf das Wort „Jetzt“ einzulassen scheint. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Heidegger sich mit dieser positiven Wendung des Jetzt von jenen Ewigkeitsmodellen abgrenzen möchte, in denen das Jetzt in einen immerwährenden Stillstand oder in eine unendliche Abfolge eingespannt wird.

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119: „Ist durch dieses Denken das bisherige Nachdenken, ist der Geist der Rache überwunden? Oder verbirgt sich in diesem Aufprägen, das alles Werden in die Obhut der ewigen Wiederkehr des Gleichen nimmt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das bloße Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache?“ Vgl. hierzu das Kapitel 1.10 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 17.  Heidegger, N I, S. 17.  Heidegger, N I, S. 17.  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §68, S. 338 (Anm.).Vgl. zum Verhältnis von Jetzt und Augenblick: Heidegger, Sein und Zeit, §81, S. 426: „Die ekstatisch-horizontale Zeitlichkeit zeitigt sich primär aus der Zukunft. Das vulgäre Zeitverständnis hingegen sieht das Grundphänomen der Zeit im Jetzt und zwar dem in seiner vollen Struktur beschnittenen, puren Jetzt, das man ‚Gegenwart‘ nennt. Hieraus läßt sich abnehmen, daß es grundsätzlich aussichtslos bleiben muß, aus diesem Jetzt das zur eigentlichen Zeitlichkeit gehörige ekstatisch-horizontale Phänomen des Augenblicks aufzuklären oder gar abzuleiten.“ Vgl. zur Abgrenzung von Jetzt und Augenblick auch: Heidegger, Sein und Zeit, §68, S. 338.

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Heidegger spricht in Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung zwar vom Jetzt – wiewohl jede Versprachlichung und deiktische Anzeige des Jetzt nach Hegel eine sich selbst aufhebende Operation ist⁸³ – meint aber den Augenblick, der in sich zurückschlagen kann, während das bestimmte Jetzt bereits jetzt unwiederbringlich verloren ist und nur die Hülle des Abstraktums übrig lässt. Wie in dem entsprechenden Kapitel erörtert werden soll, erlangt der Augenblick in der Vorlesung zur Ewigen Wiederkehr des Gleichen aus dem Sommersemester 1937 eine Schlüsselrolle als Zusammenballung von Vergangenheit und Zukunft.⁸⁴ Zum zweiten ist anzumerken, dass Heidegger mit seinem Diktum, das in sich „zurückschlagende Jetzt“ sei das „verborgene Wesen der Zeit“, von seiner grundsätzlichen Position in Sein und Zeit abweicht. Er öffnet seine Kernthese aus Sein und Zeit, wonach sich die Zeitlichkeit als Sinn der Sorge im Woraufhin des jeweiligen Entwurfs zeitige und das unaufhebbare Möglichsein des Daseins in die vorrangige Zeitekstase der Zukunft hinausstehe, zugunsten einer Autarkie der Zeit, die 1936 von der Lehre der ewigen Wiederkehr ausgeübt wird. Allerdings ist zu ergänzen, dass die befreiende Exposition der ursprünglichen Zeit im §69 von Sein und Zeit bereits angelegt ist, insofern die ekstatisch-horizontale Einheit der Zeit das In-der-Welt-sein mit allen darin versammelten Bedeutsamkeitsbezügen begründet und die daseinskonstitutive Transzendierbarkeit der Welt allererst ermöglicht.⁸⁵ Wie die ursprüngliche Zeitlichkeit vereinigt das aus der ewigen Wie-

 Vgl. G.W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt. a. M. 1986, S. 84: „Auf die Frage: was ist das Jetzt? antworten wir also zum Beispiel: das Jetzt ist die Nacht. Um die Wahrheit dieser sinnlichen Gewißheit zu prüfen, ist ein einfacher Versuch hinreichend. Wir schreiben diese Wahrheit auf; eine Wahrheit kann durch Aufschreiben nicht verlieren; ebensowenig dadurch, daß wir sie aufbewahren. Sehen wir jetzt, diesen Mittag, die aufgeschriebene Wahrheit wieder an, so werden wir sagen müssen, daß sie schal geworden ist. Das Jetzt, welches Nacht ist, wird aufbewahrt, d. h. es wird behandelt als das, für was es ausgegeben wird, als ein Seiendes; es erweist sich aber als vielmehr als ein Nichtseiendes. Das Jetzt selbst erhält sich wohl, aber als ein solches, das nicht Nacht ist; ebenso erhält es sich gegen den Tag, der es jetzt ist, als ein solches, das auch nicht Tag ist, oder als ein Negatives überhaupt.“ „  Vgl. hierzu das Kapitel 1.6 dieser Arbeit.  Vgl. zu der sich 1927 andeutenden Autonomie der Zeitlichkeit und zu der von ihr geleisteten Fundierung des jeweiligen daseinsmäßigen Entwurfssinnes: Heidegger, Sein und Zeit, §69, S. 365: „Der Horizont der ganzen Zeitlichkeit bestimmt das, woraufhin das faktisch existierende Seiende wesenhaft erschlossen ist. Mit dem faktischen Da-sein ist je im Horizont der Zukunft je ein Seinkönnen entworfen, im Horizont der Gewesenheit das ‚Schon sein‘ erschlossen und im Horizont der Gegenwart Besorgtes entdeckt. Die horizontale Einheit der Schemata der Ekstasen ermöglicht den ursprünglichen Zusammenhang der Um-zu-Bezüge mit dem Um-willen. Darin liegt:

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derkehr des Gleichen entlassene, in sich zurückschlagende Jetzt in sich alle drei Zeitekstasen.⁸⁶ Wie die vorlaufende Entschlossenheit, die sich „zukünftig auf sich zurückkommend… gegenwärtigend in die Situation“⁸⁷ bringt und sich in der „Wiederholung einer überkommenen Existenzmöglichkeit“⁸⁸ äußern kann, hat sich das Jetzt in Heideggers Auslegung von 1936/37 in seinem Verstreichen immer wieder gewonnen. Dabei kehrt es als ein immer schon Zukünftiges zu sich selbst als vermeintlich Verflossenem zurück. Das Jetzt verweist auf den iterierenden Modus der im scheinbaren Progress unausgesetzt eingeholten Kombinationen, die einstmals den vergangenen Geschehnissen als Ermöglichungsgründe vorangingen. Diese Parallele in der Versammlung der ursprünglich geeinten, weder auf der Seite der Ewigkeit noch auf der Seite der Sukzessionszeit zu situierenden Zeit könnte sowohl Heideggers erkennbare Sympathie für die Konzeption der ewigen Wiederkehr in der Vorlesung von 1937 erklären als auch seine Affirmation des ewigen, zirkulär verfassten, göttlichen Werdens in der Schelling-Vorlesung von 1936 plausibilisieren: Das Werden Gottes läßt sich nicht nach einzelnen Abschnitten am Nacheinander der gewöhnlichen ‚Zeit‘ aufreihen, sondern in diesem Werden ‚ist‘ alles ‚gleichzeitig‘; gleichzeitig aber bedeutet hier nicht, daß die Vergangenheit und die Zukunft ihr Wesen aufgeben und zur Gegenwart ‚über‘-gehen, im Gegenteil: Die ursprüngliche Gleich-Zeitigkeit besteht darin, daß Gewesensein und Künftigsein sich behaupten und gleichursprünglich mit dem Gegenwärtigsein als die Wesensfülle der Zeit selbst ineinander schlagen. Und dieser Schlag der eigentlichen Zeitlichkeit, dieser Augenblick, ‚ist‘ das Wesen der Ewigkeit, nicht aber die bloß stehengebliebene und stehenbleibende Gegenwart, das nunc stans. ⁸⁹

Indem das Wesen der Zeit in ihr eine ostensible Berücksichtigung findet, nimmt die Synthese aus der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht eine Son-

auf dem Grunde der horizontalen Verfassung der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit gehört zum Seienden, das je sein Da ist, so etwas wie erschlossene Welt.“  Vgl. zu dieser Einheit der drei Ekstasen der Zeit: Heidegger, Sein und Zeit, §68, S. 350: „Gleichwohl ‚entspringt‘ die Gegenwart aus, bzw. ist gehalten von einer gewesenden Zukunft. Daran wird sichtbar: Die Zeitlichkeit zeitigt sich in jeder Ektase ganz, das heißt in der ekstatischen Einheit der jeweiligen vollen Zeitigung der Zeitlichkeit gründet die Ganzheit des Strukturganzen von Existenz, Faktizität und Verfallen, das ist die Einheit der Sorgestruktur. Die Zeitigung bedeutet kein ‚Nacheinander‘ der Ekstasen. Die Zukunft ist nicht später als die Gewesenheit und diese nicht früher als die Gegenwart. Zeitlichkeit zeitigt sich als gewesende-gegenwärtigende Zukunft.“ [von Heidegger kursiv, J.K.]  Heidegger, Sein und Zeit, §65, S. 326.  Heidegger, Sein und Zeit, §74, S. 385.  Heidegger, GA 42, S. 196 – 197.

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derstellung in der Geschichte der Metaphysik ein. Aus diesem Grund Heidegger stuiert Heidegger die Verflechtung beider Lehren im Hinblick auf die Frage von ‚Sein und Zeit’ und lässt ihren Nexus partiell über die Metaphysik hinausweisen. Dieses Gefüge kann nicht einfach als einer der zahlreichen Entwürfe des Seins des Seienden auf die Zeit verhandelt werden. Dies lässt sich in einem die Unterschiede ausweisenden Vergleich der Nietzscheschen Grundstellung mit Platon und Aristoteles veranschaulichen, obgleich diese von Heidegger im Hinblick auf das Begreifen des Seins als Zeit in eine Kontinuitätslinie mit Nietzsche gesetzt werden. Dies schlägt sich in dem Satz nieder: Auch Platon und Aristoteles dachten diesen Gedanken, wenn sie das Sein als οὐσία (Anwesenheit) begriffen, aber sie dachten ihn sowenig wie Nietzsche als Frage.⁹⁰

Bereits zu Beginn der Metaphysik, bei Platon und Aristoteles, wurde das in der Idee oder in der Substanz freigelegte Sein nach Heidegger als οὐσία markiert. Entscheidend ist, dass zumindest Platon der Ansicht war, durch die Profilierung der Idee als οὐσία die mit der Zeit konnotierte Täuschungsanfälligkeit mitsamt der ihr innewohnenden nichthaften Auflösungstendenz ein für alle Mal getilgt zu haben, obgleich er die οὐσία dazu mit dem Charakteristikum der beständigen Anwesenheit versehen musste. Weil er dieses Kernattribut des Seins, die Unabhängigkeit von der Zeit, aus der Zeitdimension der Gegenwart gewann, lag seinem Ausschluss der wandlungshaften Zeit selbst eine Bestimmung der Zeitlichkeit zugrunde. Die Nichtakzeptanz der Unhintergehbarkeit der Zeit, die nach Heidegger stets in Anspruch genommen und zugleich restringiert werden muss, um die Ewigkeit aufzurichten, betrifft nicht nur Parmenides und Platon, sondern zieht sich – wie neben Heidegger besonders Jacques Derrida ⁹¹ und Michael Theunissen ⁹² verdeutlicht haben – durch die gesamte Geschichte der Metaphysik. Nietzsche hingegen integriert die Seiendheit in die kreisförmig konzipierte Zeit, die das voranschreitende Werden mit der sich darin wandlungslos ereignenden Gleichheit versöhnt. Platon sucht die Zeit zum Verschwinden zu bringen, Nietzsche legt sie seiner Kennzeichnung der Seiendheit zugrunde. Heideggers Auffassung, dass die Zeit in jeder metaphysischen Grundstellung stillschweigend mitbedacht werden muss, obwohl der Impetus der Metaphysik sich auf die Suche nach dem Überzeitlichen, Geschichtslosen kapriziert, scheint

 Heidegger, N I, S. 17.  Vgl. Jacques Derrida, Grammatologie. 12. Aufl., Frankfurt a. M. 2013.  Vgl. besonders das Kapitel Die Zeitvergessenheit der Metaphysik. Zum Streit um Parmenides, Fr. 8.5 – 6a, in: Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2015, S. 89 – 130.

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als Überschneidungsfläche dienen zu können, um die hier vorgeschlagene, strenge Unterscheidung zwischen dem zweiten, metaphysischen und dem dritten, fundamentalontologisch ausgerichteten Beschreibungsmodell zu relativieren. Der nach Heidegger unausweichliche Zusammenhang von Sein und Zeit, wonach das Sein selbst allein durch die Zeit in seiner Wahrheit offenbar werden kann und jeder Entwurf der Seiendheit eine bestimmte Auslegung der Zeit voraussetzt⁹³, könnte auf die im Rahmen der zweiten Verhältnisbestimmung diskutierte Gründung des Werdens im Sein bezogen werden. Die Einführung und Stabilisierung des ubiquitären Werdens als Wesen der Wirklichkeit erwiese sich dann als ein metaphysisches Unternehmen, das eine in sich zeitlich, nämlich als Werden konturierte Seiendheit – den Willen zur Macht – mit dem Charakteristikum der Zeitlosigkeit beziehungsweise der Allzeitlichkeit und damit mit dem Garanten des beständigen Seins, der ewigen Wiederkehr, zu vereinigen intendiert. Die Suche nach einer reibungslosen Fundierung des Werdens als Sein (des Seienden) und des Seins (der Wirklichkeit) als Werden würde notwendigerweise auf dem Bedenken des Seins als Zeit aufruhen und folglich von dem dritten Modell abgedeckt. In diesem Versuch einer Bezugnahme der beiden Sinnabschnitte aufeinander manifestiert sich Heideggers uneinheitlich-intrikate, changierende begriffliche Fassung beider Lehren besonders deutlich: Bei genauerer Betrachtung sind beide Varianten nicht lückenlos zu vereinbaren oder einwandfrei aufeinander abzubilden. Die eben benannte Widerwendigkeit der ewigen Wiederkehr fächert sich in dem Versuch der Angleichung beider Modelle zum Chiasmus aus, weil der Wille zur Macht laut des zweiten Modells das Werden und Wollen vertreten soll. Damit muss er notwendigerweise die Dimension der Zeit einschließen. Die ewige Wiederkehr bildet das dieses zeithafte Werden einhegende und formende Sein. Sodann wird der Wille zur Macht im dritten Modell als das zumindest in seinem Status beharrende Sein des Seienden begriffen, das aus der von der ewigen Wiederkehr des Gleichen repräsentierten Zeit erschlossen und gedacht werden soll. In Anbetracht dieser Widersprüchlichkeit und Verwicklung ist noch einmal mit Nachdruck zu betonen, dass die Richtigkeit jeder Deutung, die Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche ihrerseits systematisiert, gerade indem sie diesem eine Systematisierung Nietzsches vorwirft sowie eine bruchlose Konti Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, Nr. 100, GA 65, S. 195: „Aber woher und warum ist das Eröffnen der Seiendheit immer Entwurf? Aber woher und warum ist der Entwurf solcher auf die selbst nicht begriffene Zeit? Hängt beides zusammen? (Zeit ekstatisch und Entwurf gegründet als Dasein). Daß die Wahrheit des Seyns verborgen bleibt, obzwar die Seiendheit in sie (die ‚Zeit‘) gestellt ist, muß im Wesen des ersten Anfangs begründet liegen.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

nuität der Nietzsche-Vorlesungen unterstellt, nur schwer aufrechtzuerhalten ist. Dazu müssen derart eklatante, nicht entwicklungsgenetisch erklärbare, sondern in einer einzigen Vorlesung zu konstatierende Verschiebungen wie in den Verhältnisbestimmungen zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht ignoriert werden oder die von Heidegger selbst nicht aufgehellten und nicht aufgelösten Widersprüche schlichtweg übersehen oder für irrelevant befunden werden. Die oben zitierte und kommentierte Textstelle, in der Heidegger den Zusammenklang aus ewiger Wiederkehr und Willen zur Macht mit verschiedenen Ewigkeitsvorstellungen kontextualisiert und sie in einen Bezug zu Platons und Aristoteles’ Verständnis des Seins als Anwesenheit setzt, kann aufgrund der Art der Würdigung Nietzsches als die hervorstechende Auslegung der ewigen Wiederkehr im Rahmen der Nietzsche-Vorlesungen Heideggers beurteilt werden. Dies betrifft sowohl den philosophischen Gehalt als auch den affirmativen Duktus. Nietzsche wird nicht zum Vollender der Metaphysik stilisiert, sondern zum Vorgänger von Sein und Zeit geadelt. Die Nobilitierung der ewigen Wiederkehr, die den Augenblick zu sich selbst zurückkehren lässt und damit das „verborgene Wesen der Zeit“ zum Ausdruck bringt, scheint durch einen unüberbrückbaren Graben von der 1953 in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? vorgebrachten Analogisierung der ewigen Wiederkehr mit dem sich permanent wiederholenden Reproduktionsgang der Maschine getrennt zu sein.⁹⁴ Im Vorgriff auf eine weitere, 1939 aufscheinende Verhältnisbestimmung kann untermauert werden, dass spätere Deutungsgestalten der Konstellation in Heideggers erster Auseinandersetzung mit der Einheit des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr präfiguriert sind. Es handelt sich um Heideggers Zusammenfügung beider Lehren in einer „reinen Selbigkeit“.⁹⁵ Diese Identitätsthese wird von Heidegger in der Zusammenfassung Die ewige Wiederkehr und der Wille zur Macht aus dem Jahre 1939 lanciert, die den Auftakt von Nietzsche II bildet. Bereits in dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung wird immer wieder transparent, dass Heideggers Anliegen, die beiden Hauptgedanken im Gegensatz zu konkurrierenden Nietzsche-Interpretationen in ein Wechselverhältnis zu bringen, in sich die Gefahr birgt, sie einander bis zur Ununterscheidbarkeit, ja Austauschbarkeit anzunähern. Dies lässt sich besonders

 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 124: „Was jedoch die erste Ausflucht angeht, nach der Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen eine phantastische Mystik sei, so dürfte wohl das jetzige Zeitalter uns eines anderen belehren; gesetzt freilich, daß es dem Denken bestimmt ist, das Wesen der modernen Technik ans Licht zu bringen. Was ist das Wesen der modernen Kraftmaschine anderes als eine Ausformung der ewigen Wiederkehr des Gleichen?“  Vgl. Heidegger, N II, S. 10.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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anhand von zwei bereits herangezogenen Textstellen belegen. Wie oben erwähnt, lautet Heideggers knappe Wesensdefinition: Was und wie ist der Wille zur Macht selbst? Antwort: Die ewige Wiederkehr des Gleichen.⁹⁶

Diese Klassifikation muss nicht zwangsläufig auf die oben favorisierte Interpretation hinauslaufen. So ließe sich die ewige Wiederkehr in der obigen Textstelle auch anders denn als Sinn oder als Sein des durch den Willen zur Macht bestimmten Seienden als solchen begreifen. Ebenso stellt es keine Alternativlosigkeit dar, die ewige Wiederkehr im Ausgang von diesem Zitat als Wesen und Verfassung des Willens zur Macht, als Was-Sein oder als Weise dieses Seienden zu sein (Wie-Sein) auszulegen. Während diese Deutungen die ewige Wiederkehr und den Willen zur Macht auseinanderhalten, kann in zwei Abstufungen für deren Identität votiert werden, die in ihrer starken Variante zur reinen Selbigkeit wird. In einer ersten, abgeschwächten Identität könnte Heideggers Antwort dahingehend verstanden werden, dass der Wille zur Macht als ewige Wiederkehr ist, das heißt, dass er nur ist (und sich in seiner Steigerung erhalten kann), wenn er als ewige Wiederkehr (konstituiert) ist.⁹⁷ Diese als-Struktur weist auf Heideggers spätere Erfassung der ewigen Wiederkehr als Seinsweise des Seienden im Ganzen voraus; zugleich untermauert sie die untrennbare Zusammengehörigkeit beider Lehren. Auch 1936 ist die abgemilderte Variante der Identität bereits präsent, wenn Heidegger schreibt: „Das Sein, den Willen zur Macht, als ewige Wiederkunft denken, den schwersten Gedanken der Philosophie denken, heißt, das Sein als Zeit denken“.⁹⁸ Das Sein muss zwar immer als Zeit (und sei es als beharrende Anwesenheit) gedacht werden, doch löst sich das Sein niemals schlechthin in der Zeit auf, da es ansonsten keine inhaltliche Bestimmtheit mehr haben könnte. Wird dieser Sachverhalt auf das Verhältnis zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr übertragen, bedeutet dies, dass der Wille zur Macht nicht unterschiedslos in der ewigen Wiederkehr versinken darf, weil es dann gerade nicht mehr möglich ist, das Sein des Seienden als Zeit zu denken und es aus der Zeit zu verstehen. In der starken, zugegebenermaßen problematischen Lesart der Identität ist der Wille zur Macht nicht als ewige Wiederkehr, sondern er ist die ewige Wie Heidegger, N I, S. 16.  Vgl. Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, GA 67, hrsg. von Hans-Joachim Friedrich, Frankfurt a. M. 1999, S. 47: „Wille zur Macht muß sich selbst als ewige Wiederkehr des Gleichen wesen lassen.“  Heidegger, N I, S. 17.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

derkehr und demgemäß nichts anderes als die ewige Wiederkehr. Der Wille zur Macht wäre demnach nicht behufs der Perpetuierung seiner Verfassung von der ihn – je nach Deutung – entweder als Seiendheit fixierenden oder als Werden freigebenden ewigen Wiederkehr abhängig, die in diesem Modell als zeitliche Weise seines Seins fungiert. Der Wille zur Macht wäre in sich ursprünglich, unausweichlich und immer die ewige Wiederkehr des Gleichen. Nur in dem niemals aufhörenden Wiederanschluss des Werdens an sich selbst als Sein könnte er in seinem Vorauswollen stets auch zu sich selbst zurückwollen. Dass sich das Leben gemäß der nicht gehaltenen Vorlesung Nietzsches Metaphysik von 1941/1942 die ewige Wiederkehr des Gleichen als schwersten Gedanken und als größtes Hindernis schafft, um sich immer wieder überwinden und dabei immer wieder auf den eigenen Bestand zurückzukommen zu können, evozierte dann keine Unterwerfung der hinzugezogenen und instrumentalisierten ewigen Wiederkehr unter den sich aufschwingenden Willen zur Macht. Vielmehr müsste dieser Vorgang als notwendiger Akt seiner Selbsterzeugung beurteilt werden. Die Auffassung einer schlechthinnigen, über die Einheit hinausgehenden, fugenlosen Indifferenz beider Lehren wirkt zunächst kontraintuitiv. Doch ist darauf hinzuweisen, dass in der Angleichung der ewigen Wiederkehr an den Willen zur Macht die generelle Ähnlichkeit ihrer Grundzüge zutage tritt: Beiden eignet die Ziellosigkeit, die temporär zugelassene Veränderung – die auch eine Steigerung implizieren und diese übergreifen kann – und die Rückkehr in die Wesensstellung. Die Parallelität beider Lehren fördert Heidegger beispielsweise in der Aufzeichnung Nr. 36 (Die Metaphysik Nietzsches als Vollendung der Metaphysik) zutage, die der Abhandlung Überwindung der Metaphysik (1938/39) entstammt. Dass der Gehalt der Aufzeichnung ansonsten einer späteren Deutungsstufe zuzuordnen ist, zeigt sich an der Zentralität des Wertbegriffes und an der Engführung der Wahrheit mit der Festmachung: Ewige Wiederkunftslehre – erst recht die Beständigkeit des Werdens und seiner Ziel-losigkeit. Ziel-losigkeit nicht als Mangel, sondern als Vorzug der Befreiung; diese Ziellosigkeit fordert aber gerade die Fest-machung von ‚Zwecken‚ und Beständigem, d. h. die ‚Wahrheit‘. Das Wesen der ‚Wahrheit‘ im Sinne Nietzsches ist erst durch die ewige Wiederkehr des Gleichen gerechtfertigt und d. h. zugleich als ‚Wert‘ gesetzt. Wille zur Macht muß sich selbst als ewige Wiederkehr wesen lassen.⁹⁹

In Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung zielt Heidegger darauf ab, den Aufstieg des Werdens zum Sein aus dem kooperativen Zusammenwirken der Leitworte zu erschließen. Hingegen wird er 1939 in dem

 Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, GA 67, S. 47.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht die Auffassung vertreten, dass auch in den voneinander isolierten Lehren jeweils das Werden zum Sein geprägt, beständigt oder gerundet wird.¹⁰⁰ Weil dieser Grundvorgang mitsamt seinem Resultat allerdings innerhalb des Seienden in gleicher Form vollzogen wird, kann er nicht einwandfrei auf eine der beiden Lehren allein zurückgeführt werden. Diese kurz skizzierten Parallelen und die Ununterscheidbarkeit der Wirkungsweise münden 1939 in Heideggers These einer reinen Selbigkeit beider Leitworte. Bevor Heidegger zur Definition von Nietzsches metaphysischer Grundstellung übergeht, die hier als viertes Modell gezählt wird, widmet er sich der sowohl editionsphilologischen wie philosophischen Frage, weswegen die Herausgeber – Elisabeth Förster-Nietzsche und Peter Gast – den Titel Wille zur Macht für das vermeintliche Hauptwerk verwendeten und damit dem Planentwurf aus der zweiten, mittleren Werkphase den Vorrang gegenüber der ersten Grundstellung gaben. Heideggers Antwort lautet: Aber wenn nun die Lehre von der ewigen Wiederkehr bei Nietzsche die innerste Mitte des metaphysischen Denkens ausmacht, ist es dann nicht irrig oder doch einseitig, die Zusammenstellung der Vorarbeiten zum philosophischen Hauptwerk unter den Plan zu bringen, der den ‚Willen zur Macht‘ als maßgebenden Titel führt? Es zeugt von einem großen Verständnis der Herausgeber, daß aus den drei Grundstellungen innerhalb der Planung die mittlere herausgegriffen wurde. Denn auch für Nietzsche selbst mußte die entscheidende Anstrengung zunächst dahin gehen, erst einmal durch das Ganze des Seienden hindurch dessen Grundcharakter als Willen zur Macht sichtbar zu machen. Dieser war ihm aber nie das Letzte, sondern ständig mußte, wenn Nietzsche der Denker war, der er ist, der Aufweis des Willens zur Macht im Denken des Seins des Seienden, d. h. für ihn: der ewigen Wiederkehr des Gleichen kreisen.¹⁰¹

In diesem Passus ragt die Bewertung der ewigen Wiederkehr des Gleichen als „innerster Mitte des metaphysischen Denkens“¹⁰² Nietzsches heraus. Auffällig ist zudem, dass die Zirkularität, welche die Lehre der ewigen Wiederkehr verkündigt, auf die Denkbewegung Nietzsches übertragen wird, insofern diese im „Denken des Seins des Seienden“¹⁰³ kreist. Von besonderer Relevanz ist allerdings die Positionsbestimmung im Hinblick auf das Seiende im Ganzen, in deren Rahmen Heidegger begründet, weswegen die ewige Wiederkehr trotz ihrer Stellung als

   

Vgl. hierzu das Kapitel 1.9 dieser Arbeit. Heidegger, N I, S. 20 – 21. Heidegger, N I, S. 20. Heidegger, N I, S. 21.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

grundgebendes Zentrum nicht zum titelgebenden Leitwort des philosophischen Hauptwerkes Nietzsches aufsteigen konnte. Demnach ist es für Nietzsche „zunächst“¹⁰⁴ entscheidend, das Seiende auf seine Verfassung zu befragen. Die basale Aufspürung und Eintragung des Willens zur Macht innerhalb des Seienden bildet zwar nicht den ermöglichenden Seinsgrund, aber doch den wesentlichen Verständnishorizont für den Nachvollzog der Wahrheit der „höchsten Bestimmung des Seins“ und „innersten Mitte“, der Lehre der ewigen Wiederkunft. Nietzsche bleibt nach Heidegger bei der Entfaltung des Willens zur Macht als Grundcharakter des Seienden nicht stehen („dieser aber war ihm nie das Letzte“¹⁰⁵). Nietzsche stärkt und validiert das Theorem des Willens zur Macht durch einen „Aufweis“¹⁰⁶, der seinen Anhalt aus dem Bedenken der Lehre der ewigen Wiederkehr gewinnt. Es lassen sich also zwei aufeinander aufbauende und sich wechselseitig stützende Ebenen unterscheiden, die parallel zu der Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein des Seienden verlaufen. Das Seiende wird in einem umfangreichen Durchgang als Wille zur Macht erschlossen und profiliert. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Wille zur Macht in der Hineinverlagerung in das Seiende „ständig“¹⁰⁷ von oben gehalten und getragen wird, indem er aus der ewigen Wiederkehr, aus dem Denken des Seins des Seienden seine Bestimmung erhält. Heideggers Formulierung: „im Denken des Seins des Seienden, d. h. für ihn: der ewigen Wiederkehr des Gleichen kreisen“, ist vielschichtig. Signifikant ist, dass das Sein des Seienden nun offenkundig mit der ewigen Wiederkehr gleichgesetzt wird, obwohl diese zuvor als Sinn und Grund des Willens zur Macht, als Seinsgarant des Werdens und als Zeit des Seins apostrophiert wurde. Dies ist überraschend und wirkt widersprüchlich, weil Heidegger an mehreren Textstellen im Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung das Sein des Seienden explizit mit dem als „Grundcharakter des Seienden“ markierten Willen zur Macht identifiziert. Paradigmatisch kann dies durch zwei voneinander unabhängige Zitate belegt werden, wobei der zweite Textausschnitt schon einmal zitiert wurde. In diesem Kontext ist die Stelle erneut aufschlussreich, weil Heidegger die Selbigkeit des Titels des Grundcharakters des Seienden mit dem Sein des Seienden betont. Da die einzige wirklich unstrittige und mehrmals unverändert wiederholte Klassifikation innerhalb des Textes Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung die des Willens zur Macht als Grundcharakter des Seienden ist, indiziert die Bedeutungsgleichheit    

Heidegger, N I, S. 21. Heidegger, N I, S. 21. Heidegger, N I, S. 21. Heidegger, N I, S. 21.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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des Titels „Grundcharakter“ mit dem Sein des Seienden logischerweise darauf, dass der Wille zur Macht als Sein des Seienden anzusetzen ist. Die entscheidenden Satzteile sind von mir jeweils kursiv intoniert: Wenn wir Nietzsches Willen zur Macht, d. h. seine Frage nach dem Sein des Seienden in die Blickbahn der Frage nach ‚Sein und Zeit‘ bringen, dann heißt dies allerdings auch nicht, Nietzsches Werk werde auf ein Buch mit dem Titel ‚Sein und Zeit‘ bezogen und nach dem, was in diesem Buch steht, gedeutet. Dieses Buch selbst kann nur danach abgeschätzt werden, wie weit es der von ihm aufgeworfenen Frage gewachsen ist und wie weit nicht. Einen anderen Maßstab gibt es nicht als die Frage selbst; nur diese Frage, nicht das Buch, ist wesentlich, das überdies nur bis an die Schwelle der Frage führt, noch nicht in sie selbst.¹⁰⁸ Die entscheidende Frage ist für den, der überhaupt am Ende der abendländischen Philosophie noch philosophisch fragen kann und fragen muß, nicht mehr nur die, welchen Grundcharakter das Seiende zeige, wie das Sein des Seienden charakterisiert sei, sondern es ist die Frage: Was ist dieses Sein selbst? Es ist die Frage nach dem ‚Sinn des Seins‘, nicht nur nach dem Sein des Seienden…¹⁰⁹

Wie bereits dargelegt, wird der Wille zur Macht von Heidegger zum Teil auch einfach das „Sein“ im Gegensatz zu der als „Zeit“ exponierten ewigen Wiederkehr genannt. Wie kann dieser Widerspruch, wonach einerseits der Wille zur Macht prätendieren kann, das Sein des Seienden zu sein und andererseits die ewige Wiederkehr des Gleichen diesen Titel für sich zu vereinnahmen vermag, gelöst oder zumindest erklärt werden? Dass bezüglich der Disposition des Sein des Seienden ein Problem und eine Unentschiedenheit Heideggers vorliegt, manifestiert sich auch in der entwicklungsgeschichtlichen Blickbahn: Wie von Marion Heinz im Nachwort zu Heideggers Nietzsche-Vorlesung von 1937 geistreich expliziert¹¹⁰, spaltet Heidegger das 1936 noch mit jeweils einem einzigen der Leit Heidegger, N I, S. 17– 18.  Heidegger, N I, S. 15.  Im Hinblick auf die erste Nietzsche-Vorlesung, die den Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung einschließt, optiert Marion Heinz für eine Verhältnisbestimmung zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht, die sich mit dem hier vorgeschlagenen, ersten Beschreibungsmodell überschneidet. Sie stellt Heideggers Erfassung der ewigen Wiederkehr als „Sinn des Seins“ heraus und begreift den Willen zur Macht mit Heidegger als Sein des Seienden. Darüber hinaus sieht Heinz den fundamentalen Wandel innerhalb der beiden ersten Nietzsche-Vorlesungen in dem 1937 von Heidegger anvisierten Zusammenschluss beider Lehren im Sein des Seienden. In beiden Punkten ist ihr unter gewissen Einschränkungen beizupflichten. So ist bezüglich der ersten Nietzsche-Vorlesung zu ergänzen, dass es sich bei der von Heinz geschilderten Variante der Einteilung beider Lehren nach Maßgabe der Unterscheidung zwischen dem Sinn des Seins und dem Sein des Seienden nicht um die singuläre, sondern um eine von mehreren Verhältnisbestimmungen handelt, die Heidegger 1936 vorträgt. Heinz hat recht, wenn sie die Bestimmung des Willens zur Macht als Was-Sein und der ewigen Wiederkehr als

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

worte identifizierte Sein des Seienden in eine innere Zweiheit auf. Wie in der Einleitung dieses Kapitels bereits kurz erwähnt, wird diese Zweiheit 1937 als Verbund aus Verfassung und Seinsweise des Seienden gefasst.¹¹¹ Im Jahre 1939 erhält sie ihre endgültige terminologische Gestalt in den Begriffen der Essenz und Existenz, die gemeinsam das Sein des Seienden konstituieren.¹¹² Dadurch ergibt sich eine einwandfreie Zuordnung des Willens zur Essenz, zum Wesen auf der einen Seite sowie der ewigen Wiederkehr zur Existenz, zum Sein auf der anderen Seite. Die 1937 initiierte, paritätische Integration beider Lehren in die Seiendheit wird 1953 noch einmal aufgebrochen, wenn Heidegger in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra stipuliert, die ewige Wiederkehr sei der „Name für das Sein des Seienden“.¹¹³ Um den Widerspruch klären zu können und um die verblüffende Benennung der ewigen Wiederkehr als Sein des Seienden aufzuhellen, soll die folgende ReDass-Sein als entscheidendes Abweichungskriterium der zweiten Vorlesung hervorhebt; doch ist erstens zu betonen, dass diese Aufgliederung schon 1936 in der Identifikation des Willens zur Macht als Grundcharakter des Seienden und der ewigen Wiederkehr als Sein angelegt ist. Zweitens beruht der Wandel weniger auf Heideggers Einsicht in die von der menschlichen Zeitigungsweise unabhängige Geschichtlichkeit des Seins. Entscheidend ist das stillschweigende Eingeständnis, dass die ewige Wiederkehr des Gleichen als „Sein“ des willensbestimmten Wirklichen mit dem Willen zur Macht um den Titel des „Seins des Seienden“ konkurriert, sobald sie nicht innerhalb der Grundstellung von Sein und Zeit als Zeit behandelt wird und inmitten dieser Grundstellung von dem als Sein gefassten Willen zur Macht abgegrenzt werden kann. Vgl. die Darlegungen von Marion Heinz in: Heidegger, Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, GA 44, hrsg. von Marion Heinz, Frankfurt 1986, S. 247– 248: „Nach Heidegger ist die Philosophie Nietzsches das Ende der ‚Epoche‘ der abendländischen Philosophie, die mit dem Terminus Metaphysik zusammenfassend gekennzeichnet wird. Nur von diesem Ende her ist für Heidegger die geschichtliche Situation der Gegenwart begreiflich zu machen. Die begriffliche Ausarbeitung dieser Nietzsche-Vorlesung wird in der zweiten Vorlesung gegenüber der ersten an entscheidender Stelle verändert: Während das Verhältnis von Wille zur Macht und ewiger Wiederkunft zunächst so angesetzt ist, daß der Wille zur Macht als Sein des Seienden und die ewige Wiederkehr als der zeithafte Sinn des Seins gedeutet ist, wird in der zweiten Vorlesung das Sein des Seienden hinsichtlich seines Wasseins als Wille zur Macht, hinsichtlich seines Daßseins als ewige Wiederkehr bestimmt. Wenn diese Seinsbestimmungen ihrerseits hinsichtlich ihrer Verstehbarkeit in der geschichtlichen Situation des Nihilismus gründen, so heißt das: Der Sinn von Sein ist immer schon geschichtlich, und Zeit als Seinssinn wird nicht erst geschichtlich vermittels der zeitlich-endlichen Verfassung des Daseins. Erst damit ist die Idee der Seinsgeschichte im Ansatz herausgearbeitet, die in den späteren Nietzsche-Vorlesungen weiter ausgeführt wird.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 416.  Vgl. Heidegger, N II, S. 9.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 122: „‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‘ ist der Name für das Sein des Seienden. ‚Übermensch‘ ist der Name für das Menschenwesen, das diesem Sein entspricht.“

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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konstruktion gewählt werden, die auch eine resümierend-wiederholende Absicht besitzt: Der Wille zur Macht ist der Grundcharakter des Seienden. Damit bezeichnet er das Seiende, sofern es nicht in der Vielfalt seiner einzelnen Erscheinungsformen, Gestalten und Bereiche betrachtet wird, sondern im Hinblick auf das erkannt wird, was alle diese Ausprägungen ungeachtet ihrer Individuationsart als solche sind. In diesem Zuge offenbart sich der Wille zur Macht als das treibende, leitende und gestaltende Sein in jedem Seienden. Der Wille zur Macht ist das Seiende als solches und kann deswegen als Seiendheit akzentuiert werden. Nun kann noch tiefer angesetzt und gefragt werden, was das Sein nicht nur jedes einzelnen Seienden, sondern das Sein dieses Seienden als solchen (das sich als Wille zur Macht enthüllte) ist. Dadurch wird die Frage nach dem Sein dieses Seins virulent. Es konnte bereits demonstriert werden, dass es ebendiese Frage ist, die Heidegger in dem Satz artikuliert: „Was und wie ist der Wille zur Macht selbst?“, den er bekanntlich mit der Antwort „Die ewige Wiederkehr des Gleichen“¹¹⁴ fortsetzt und beendet. So wie Heidegger hinsichtlich des Seienden ergründet hatte, was dieses selbst und als solches ist, soll auch der Wille zur Macht selbst, unabhängig von seinen Ausstrahlungen und Manifestationsweisen im Seienden, befragt werden und sich in seinem Sein herausschälen. Wird diese vertiefende Untersuchung des Willens zur Macht, die zu dessen Sein und Grund vorstößt und dort die ewige Wiederkehr vorfindet, auf Heideggers Urteil zurückbezogen, Nietzsches Aufweis des Willens zur Macht kreise „im Denken des Seins des Seienden, d. h. der ewigen Wiederkehr“ wird endgültig deutlich, dass sich der Widerspruch durch die Unterscheidung der Betrachtungsebenen auflösen lässt. Im Ausgang vom Seienden enthüllt sich dessen korrespondierendes Sein als der Wille zur Macht. Im Ausgang vom Willen zur Macht betrachtet, erweist sich das ihm zukommende und ihn bestimmende Sein als ewige Wiederkehr. Soll der Wille zur Macht als Grundcharakter des Seienden transparent gemacht und auf dieses angewandt werden, ist unumgänglich, dass permanent, „ständig“ eine Klarheit darüber besteht (oder immer wieder in zahlreichen „kreisenden“ Denkanläufen versucht wird, diese herzustellen) was und wie der Wille zur Macht selbst ist, der in allem Seienden walten soll. Erst aus der ewigen Wiederkehr als seinem Sein – so ließe sich die Argumentation fortsetzen – empfängt der Wille zur Macht jene zeitübergreifenden und die Kontingenz ausschließenden Eigenschaften, die es ihm erlauben, dem Seienden unaufhörlich inhärieren zu können. Um sich dieses Verhältnis beider Lehren in einem philosophiegeschichtlichen Vergleich näher zu bringen, lässt sich sagen, dass die ewige Wiederkehr in Nietzsches Metaphysik der Funktion nach Platons

 Heidegger, N I, S. 16.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Idee des Guten entspricht. So wie die letztgenannte dem Wesen des Seienden, dem bleibenden, wahren und ungetrübten Grundcharakter – den Ideen – ihren Bestand gibt, so befestigt die ewige Wiederkehr den Willen zur Macht, der analog dazu ebenfalls das Wesen des Seienden bildet. Obgleich diese Vermutung zunächst nahe liegen mag, handelt es sich nicht um eine willkürlich-assoziative Interpolation. Heidegger selbst setzt die ewige Wiederkehr mit der platonischen Idee in einen Zusammenhang, wenn er in dem Abschnitt Die Lehre von der ewigen Wiederkunft als Grundgedanke von Nietzsches Metaphysik aus der Vorlesung von 1937 schreibt: Die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen enthält eine Aussage über das Seiende im Ganzen. Sie rückt dadurch mit entsprechenden Lehren zusammen, die dem abendländischen Denken seit langem geläufig sind und die an der Gestaltung der abendländischen Geschichte – nicht nur derjenigen der Philosophie – wesentlich mitgewirkt haben. So die Lehre Platons, daß das Seiende sein Wesen in den ‚Ideen‘ hat, nach denen es abgeschätzt werden muß; was ist, mißt sich an dem, was sein soll.¹¹⁵

Sobald Nietzsche von dem Titel des Willens zur Macht Gebrauch macht, muss er dessen Sein (d. h. das Sein des Seienden, das er selbst ist) und damit die ewige Wiederkehr zumindest implizit mitbedenken. Nietzsche muss in ihr kreisen und sich in ihrem Umkreis als „innerster Mitte“ halten, die allen anderen Hauptworten seiner Philosophie ihren jeweiligen Ort zuweist. Diese Kennzeichnung der ewigen Wiederkehr wird von Heidegger untermauert, wenn er sie im Anhang zur Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst explizit als „Wesen des Seins“¹¹⁶ definiert, während der Wille zur Macht „als das Seiende“¹¹⁷ entworfen wird. Neben der Einholung der Heideggerschen Prädikation der ewigen Wiederkehr als „innerster Mitte“ lässt sich nun begreifen, weswegen er sie auch als „höchste Bestimmung des Seins“¹¹⁸ tituliert. Diese Privilegierung lässt sich – wenn die folgende, etwas geschraubte Wortverbindung erlaubt ist – dahingehend plausibilisieren, dass sich über das Sein des Seins des Seienden nicht mehr hinausfragen lässt. Nach der Erhellung des Grundcharakters des Seienden und dessen (des Grundcharakters) Sein kann zu keiner weiteren, wesentlichen oder ergänzenden Bestimmung mehr fortgeschritten werden, – zumindest dann nicht, wenn die aus Sein und Zeit bekannte und von Heidegger noch 1936 verwendete Unterscheidung zwischen dem Sinn des Seins und dem Sein des Seienden präsupponiert wird. Nicht die Sichtbarmachung des Seienden als Willen zur Macht, sondern die Rückgründung des    

Heidegger, N I, S. 227. Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 279. Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 279. Heidegger, N I, S. 18.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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letztgenannten in der ewigen Wiederkehr ist der letzte und höchste Gipfelpunkt der Betrachtung. Als Gipfelpunkt stellt die ewige Wiederkehr die „höchste Bestimmung des Seins“ dar und zeigt sich als der „schwerste“, sich erst in der anstrengenden und doch unausweichlichen Transzendierung des metaphysischen Grundcharakters des Seienden eröffnende Gedanke.

1.1.5 Das vierte Modell: Der Wille zur Macht als Verfassung (essentia) und die ewige Wiederkehr als Seinsweise (existentia) des Seienden Durch die hier gegebene Erklärung wird zum einen die zugunsten der ewigen Wiederkehr des Gleichen ausfallende Hierarchiestruktur des ersten Modells restituiert. Zum anderen kann die vorgeschlagene Interpretation des Topos der zum Sein des Seienden avancierenden ewigen Wiederkehr im Hinblick auf das vierte, nun einzuführende Modell hilfreich sein. Nach dem dritten Sinnabschnitt zu der Konstellation von Sein und Zeit, Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr, wendet sich Heidegger der Kritik an Baeumler und Jaspers zu.¹¹⁹ Im Anschluss daran kommt er auf die editionsphilologische Frage nach der legitimen Benennung des „Hauptwerkes“ zu sprechen. Die vierte Verhältnisbestimmung ist daher erst in dem Abschnitt Der Aufbau des „Hauptwerks“. Nietzsches Denkweise als Umkehren situiert. Heidegger wählt die folgende Differenzierung, um Nietzsches metaphysische Grundstellung zu charakterisieren: Nietzsches metaphysische Grundstellung sei durch zwei Sätze bestimmt: Der Grundcharakter des Seienden als solchen ist ‚der Wille zur Macht‘. Das Sein ist die ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘. Wenn wir Nietzsches Philosophie am Leitfaden der beiden Sätze fragend durchdenken, gehen wir über die Grundstellung Nietzsches und der Philosophie vor ihm hinaus. Aber dieses Hinausgehen erlaubt erst, auf Nietzsche zurückzukommen.¹²⁰

Die bereits mehrfach erwähnte Bestimmung des Willens zur Macht als Grundcharakter des Seienden wird endgültig zementiert. Auffällig ist, dass nun die ewige Wiederkehr als „Sein“ begriffen wird, während gemäß der dritten Verhältnisbestimmung der Wille zur Macht das „Sein“ (allerdings im Sinne der Seiendheit) bedeutet, das Nietzsche laut Heidegger als Zeit, als ewige Wiederkehr denkt. Daher ist zu ergründen, wie Heideggers Beurteilung der ewigen Wiederkehr als Sein hier gemeint ist.

 Vgl. Heidegger, N I, S. 18 – 20.  Heidegger, N I, S. 22.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

In dem obigen Zitat legt Heidegger seiner Deskription der metaphysischen Grundstellung das tradierte Schema einer Unterscheidung von Wesen und Sein zugrunde. Zwar werden der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr nun als ebenbürtige Leitworte modelliert, doch wohnt der Titulierung der ewigen Wiederkehr als Sein weiterhin eine Zwiespältigkeit inne. Die soeben diskutierte Interpretationshürde, die sich aus Heideggers Formulierung ergab, dass der (bislang eindeutig mit dem Titel des Seins des Seienden ausgezeichnete) Wille zur Macht im Denken (der nunmehr ebenfalls) als Sein des Seienden klassifizierten ewigen Wiederkehr aufgewiesen werden müsse, ließ sich durch eine Unterscheidung der jeweiligen Geltungsgebiete und Ausgangsbereiche auflösen. Es wird sich zeigen, dass die Etikettierung der ewigen Wiederkehr als Sein einen Dissens mit dem Willen zur Macht heraufbeschwört, der sich nicht mehr durch die Überhöhung der ewigen Wiederkehr zum Sein des Seienden als solchen, d. h. des Willens zur Macht, glätten lässt.Vielmehr gilt nun: Wird das Seiende unter dem Gesichtspunkt der ihm eignenden Daseinsform, der in jedem Augenblick zu gewährleistenden Bewahrung als Werdendes betrachtet, kristallisiert sich die in Heidegger Ausfaltung der metaphysischen Grundstellung als Sein begriffene ewige Wiederkehr tatsächlich als Sein des Seienden im Ganzen heraus, wodurch sie die Position des Willens zur Macht herausfordert. Dies ist anhand einer Auslegung des soeben exponierten Passus zu demonstrieren. Offenkundig geht Heidegger, darin die klassische metaphysische Begründungsart nachvollziehend, im obigen Zitat vom Seienden aus, das auf sein Wesen und sein Sein hin befragt werden kann. Das Wesen, quidditas, ist jene basale und allgemeine Verfassung des Seienden, die es erfüllen muss, um überhaupt seiend sein zu können. Deswegen haftet dem Seienden das Wesen als bleibende, sich durch die Zeit hindurchziehende Grundbestimmung an. Damit ist jedoch nur gesagt, was das Seiende inhaltlich notwendigerweise sein muss, wenn es ist – die Exposition des Wesens bewegt sich im Rahmen der Möglichkeit, nicht der Wirklichkeit.¹²¹ Gemäß dem ontologischen Gottesbeweis – der für Nietzsche wie für Heidegger obsolet geworden ist – schließt allein das Wesen Gottes seine Existenz ein; bei jedem anderen Seienden ist zu klären, wie und auf welche Weise es sein Dasein hat, wie sich das angelegte und vorauszusetzende Wesen verwirklicht. Der

 Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977, S. 99: „Aber hierbei ist nur vom Inhalte die Rede, und es ist nichts weiter damit gesagt, als: Wenn Dinge existieren, so werden sie in dieser Reihenfolge existieren; aber daß sie existieren, kann ich nur aus der Erfahrung wissen. Was im rein logischen Begriff durch immanente Begriffsbewegung zu Stande kommt, ist nicht die wirkliche Welt, sondern nur dem quid nach! Ist denn aber die Philosophie bloß mit dem Wesen der Dinge beschäftigt? Und hat sie mit der Existenz derselben nichts zu tun? und wenn, von wem sollte sie zeigen, daß es existiere?“

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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Modus seines Dass-Seins ist zu spezifizieren. Das Seiende wird demnach auch hier dahingehend thematisch, dass es in seinem Sein beleuchtet werden soll. Die Doppeldeutigkeit des Titels „Seins des Seienden“ wird sichtbar: Das Sein des Seienden kann einerseits das beharrende, zugrundeliegende, wesentliche Charakteristikum ausdrücken, welches das Seiende durchdringt; andererseits ist das Sein des Seienden durch die Wirklichkeit, das Dasein, die Existenz des jeweiligen Seienden gekennzeichnet, in der sich zudem das Wesen manifestiert. Wird dies berücksichtigt und die Bedeutung des Seins als Wirklichkeit des Seienden mit der ewigen Wiederkehr in einen Bezug gesetzt, tritt hervor, dass die ewige Wiederkehr nicht nur als Sein des Willens zur Macht, als zeitlicher Sinn der Seiendheit betrachtet werden kann. Sie fungiert als Art der Verwirklichung des Willens zur Macht innerhalb des Seienden und ist dergestalt als das Wirklichsein, das Sein des Seienden, zu markieren. Sofern ein durch die Verfassung des Willens zur Macht geprägtes Seiendes ist, ist es in der Weise der ewigen Wiederkehr. Jedes einzelne Seiende ist seiend in seinem unentwegten Herr-sein-wollen und Übersichhinausdrägen, weil es aus dem Willen zur Macht deriviert ist, darin kann es sich aber nur halten, wenn es in der ewigen Wiederkehr des Gleichen steht. Obgleich Heidegger den Willen zur Macht als Grundcharakter des Seienden mit dem Sein des Seienden identifiziert und die ewige Wiederkehr je nach Kontext als Sein dieses Seins, als Zeit oder als Verfestigung des Werdens begreift, konnte der Nachweis erbracht werden, dass sie nicht nur als übergeordnete Ebene des Willens zur Macht den Titel des Seins für sich beanspruchen kann. Auch im Ausgang vom Seienden ist sie als dessen Sein, nämlich im Sinne der Wirklichkeit, zu explizieren. Entscheidend ist nun Folgendes: Während in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst die Nachwirkungen von Sein und Zeit sowohl in dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung als auch in der Phänomenbeschreibung des Willens als Entschlossenheit spürbar sind, tritt die Hinwendung zum seinsgeschichtlichen Narrativ in der Auseinandersetzung mit Nietzsche spätestens ab 1939 deutlich hervor. Dies besiegelt die vollkommene Rückverankerung Nietzsches in der abendländischen Metaphysik. Da er den Sinn des Seins nach 1936 nicht mehr in der Zeitigung der Zeit sieht, muss Heidegger zwecks Abgrenzung des seinsgeschichtlichen Zugangs gegenüber der in Sein und Zeit vertretenen Philosophie die Option aufgeben, die ewige Wiederkehr als zeithaften Sinn der Seiendheit oder als Nietzsches Frage nach dem Sein (auch im Sinne der Frage nach der Wirklichkeit des Seienden) herauszustellen. Die ewige Wiederkehr wird damit auf die Ebene des Willens zur Macht zurückgeholt. Andernfalls müsste Nietzsche wie 1936 konzediert werden, die erschließende Horizontfunktion der (anders als in der klassischen Metaphysik nicht mehr auf die stillgestellte Gegenwart restringierten) Zeit für ein Verstehen des Seins zwar nicht eigens erfragt, aber doch bedacht zu haben. Da die ewige Wie-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

derkehr dem Willen zur Macht nicht mehr vorgelagert werden kann, jedoch als Seinsweise der Wirklichkeit festgehalten werden soll, wird sie zur Anfechtung des 1936 mit Nachdruck als Sein des Seienden bekräftigen Willens zur Macht. Folglich spiegelt sich in der Neujustierung der ewigen Wiederkehr des Gleichen Heideggers eigene Kritik und Abwendung von Sein und Zeit im Rahmen der Auseinandersetzung mit Nietzsche wider. Dass Heidegger den Willen zur Macht ab 1939 als Was-Sein und die ewige Wiederkehr als Dass-Sein des Seienden bestimmt, ist kein die Philosophie Nietzsches vereinnahmender Willkürakt, sondern das Produkt eines inneren Konfliktes, in den Heideggers Verhältnisbestimmung beider Lehren getrieben wird. Dieser Dissens tritt unweigerlich auf, sobald der 1936 affirmierte, über die Topoi der Gründung des Werdens und der Zeitlichkeit legitimierte Supremat der ewigen Wiederkehr fallen gelassen wird. Das hier unter viertens gezählte Modell avanciert zur Leitbeschreibung, weil die erste und die dritte Konstellierung der beiden Lehren Sein und Zeit eindeutig verbunden sind und deswegen von Heidegger später nicht mehr berücksichtigt werden. Es lässt sich zeigen, dass die kollidierenden Prätentionen der ewigen Wiederkehr und des Willens zur Macht – beide sind in der Lage, das Sein des Seienden zu repräsentieren – in Heideggers erster, dem vierten Modell entsprechender Gesamtdefinition der Metaphysik Nietzsches („Der Grundcharakter des Seienden als solchen ist ‚der Wille zur Macht‘. Das Sein ist ‚die ewige Wiederkehr des Gleichen‘“¹²²) auf der einen Seite kaschiert werden und die spätere Lösung des Konfliktes auf der anderen Seite bereits in nahezu ausgeprägter Gestalt präsent ist: Heidegger klassifiziert den Willen zur Macht als Grundcharakter des Seienden und die ewige Wiederkehr als Sein. Diese vermeintlich trennscharfe Zuordnung des Willens zum Seienden und der ewigen Wiederkehr zum Sein kaschiert, dass die Verfassung, der wesenhafte Kern des Seienden zwar als das Sein des Seienden tituliert werden kann, doch mit gleichem Recht auch die mit dem Wort „Sein“ bezeichnete Wirklichkeit des Seienden als Sein des Seienden auftreten darf. Die Entscheidungsoptionen scheinen sich zu einem Entweder-Oder zu verdichten, da es so aussieht, als ließe sich der von Heidegger bekämpfte Widerspruch zwischen den beiden Lehren im Hinblick auf die Stellung als Sein des Seienden nicht mehr vermeiden: Entweder die ewige Wiederkehr ist das Sein des Seienden oder der Wille zur Macht. Wenn die ewige Wiederkehr nach ihrer Entbindung von dem Status als Sinn nicht in das Sein des Seienden hinübergerettet werden kann, verliert sie ihre Relevanz. Wie bei Baeumler würde die ewige Wiederkehr marginalisiert. In umgekehrter Richtung gilt, dass das Herausdrängen des Willens zur Macht aus dem Rang des Seins des Seienden zu einer Depotenzierung führen

 Heidegger, N I, S. 22.

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würde. Wie bei Löwith müsste dieser, seiner metaphysischen Dignität beraubt, zum menschlichen Zukunftsausgriff herabsinken, dem die übermächtige Lehre der ewig gleichen Bewegtheit des Weltgeschehens gegenübersteht.¹²³ Heidegger glitte in die Position eines seiner Antipoden zurück, wenn es ihm nicht gelingt, beide Lehren jeweils in ihrer Position als Sein des Seienden zu belassen und sie dennoch zu versöhnen. Um dies zu bewerkstelligen, verbleibt einzig die Option, dass sie beide gemeinsam im Sein des Seienden Aufnahme finden. Das Sein des Seienden darf nicht einseitig mit dem Willen zur Macht oder der ewigen Wiederkehr gleichgesetzt werden. Im Sein des Seienden müssen beide Entitäten als die zwei wesentlichen Gesichtspunkte, unter denen es beleuchtet werden kann, enthalten sein. Der Duplizierung des Seins des Seienden, die mit dem Zerfall in antagonistische Pole einherginge, beugt Heidegger vor, indem er eine Zweiheit in die Einheit des Seins des Seienden einträgt. Der Wille zur Macht muss darauf verzichten, alleine das Sein des Seienden zu bilden. An dieser Stelle wird deutlich, weswegen die Lösung des von Heidegger 1936 in der Definition von Nietzsches Metaphysik kaschierten Konfliktes in ebenjener Definition selbst angelegt ist. Wird der Wille zur Macht als „Grundcharakter des Seienden“ auf seine Bedeutung als Wesen des Seienden reduziert, ergibt sich seine spätere Umgrenzung als Was-Sein, als essentia. Wenn zudem die Charakterisierung der ewigen Wiederkehr als „Sein“ nicht mehr mit dem Sein des Seienden als solchen (des Willens zur Macht) oder ihrem Status als Verfassung des Willens zur Macht enggeführt wird, sondern auf die Bestimmung der Wirklichkeit des Seienden beschränkt wird, wird sie als Dass-Sein des Seienden und somit als existentia offenbar. Mit der Zusammenfügung des Was-Seins und des Dass-Seins in der Einigkeit des Seins des Seienden kann Heidegger seiner Intention treu bleiben, einen Zusammenhang, ja eine Einheit der beiden Lehren zu proponieren und sie dennoch nicht in der Ununterscheidbarkeit verschwimmen zu lassen. Demnach sind in Heideggers Rekonstruktion von Nietzsches Metaphysik zwei Hinsichten zu differenzieren, unter denen jedes Seiende betrachtet werden kann – als Wille zur Macht oder in der ewigen Wiederkehr. Gleichzeitig kann sich jedes Seiende überhaupt erst als ein so seiendes Dieses konstituieren, wenn sich beide Hinsichten, die Seins- und die Wesensdimension, in ihm je schon zusammengeschlossen haben. Bilanzierend lässt sich anmerken, dass Heidegger eine gravierende konzeptionelle Verschiebung offeriert. 1936/37 werden die beiden Lehren mit Hilfe der oben dargelegten Schemata Sein und Zeit, Sein des Seienden und Sinn des Seins, Werden und Sein, Grundcharakter des Seienden und Was-Sein dieses Grundcha-

 Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 104 ff.

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rakters (die Inkarnationen des Willens zur Macht sind in diesen Begriffspaaren jeweils an erster Stelle angeführt, die der ewigen Wiederkehr an der zweiten) unterschieden. Ab 1937 wird dieser Differenzierungskomplex durch das in der Folge reüssierende, inklusive Modell einer Verbindung von Verfassung und Seinsweise inmitten des Seins des Seienden abgelöst. Das Argument, es handle sich bei dieser Einteilung der beiden Lehren nicht um eine von Nietzsche selbst getroffene Unterscheidung, die Heidegger daher in unzulässiger Manier von außen an Nietzsches Philosophie herantrage, bleibt bei aller Berechtigung an der Oberfläche, zumal Heidegger diese Kritik selbst antizipiert und auskontert, indem er bereitwillig einräumt: Wenn wir Nietzsches Philosophie am Leitfaden der beiden Sätze fragend durchdenken, gehen wir über die Grundstellung Nietzsches und der Philosophie vor ihm hinaus. Aber dieses Hinausgehen erlaubt erst, auf Nietzsche zurückzukommen.¹²⁴

Substantieller erscheint hingegen eine Kritik, die sich auf eine interne Rekonstruktion der Schritte beruft, die Heidegger zu der Applikation dieser Unterscheidung auf die Grundlehren Nietzsches führten und all die später verdeckten Modelle in Erinnerung ruft, die Heidegger anfangs ausbuchstabierte. Eine solche, dekonstruktiv ausgerichtete Kritik könnte auf der fragwürdigen Genese des Primats der Unterscheidung beider Lehren mit Hilfe von Was-Sein und Dass-Sein in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche insistieren und die Dominanz dieser Variante der Differenz relativieren. So ließe sich beispielsweise anmerken, dass Heidegger die Unterscheidung in seinem seinsgeschichtlichen Zugang zur metaphysischen Notwendigkeit erhebt, obwohl er diese Distinktion bei Nietzsche nicht allein aus genuin philosophischen Gründen, sondern zwecks  Heidegger, N I, S. 22. Zu dem Vorwurf der willkürlichen Systematisierung beider Lehren äußert Heidegger sich auch im Anhang der ersten Nietzsche-Vorlesung. Dort rechtfertigt er die Klassifizierung des Willens zur Macht als „essentia“, indem er auf die Kombination von Kraft und Subjektivität verweist, die Leibniz zur Bestimmung der Seinsverfassung verwendete. Vgl. Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 287: „Auf den ersten Blick erscheint es nicht nur schulmäßig lehrhaft, sondern vor allem willkürlich, den ‚Willen zur Macht‘ als essentia des Seienden und die ‚Ewige Wiederkehr des Gleichen‘ als existentia anzusetzen und damit schon ihre notwendige Zusammengehörigkeit als Frage anzudeuten. Um aber zu begreifen, inwiefern der Wille zur Macht, d. h. in seiner Vorform die ‚Kraft‘, als essentia genommen werden kann und muß, inwiefern nicht ebenso gut die Ewige Wiederkehr als essentia (‚Verfassung‘) und der Wille zur Macht als existentia (‚Weise‘) sich auslegen lassen, ist der Wandel zu bedenken, den die Auslegung des Wasseins, der οὐσία als substantia, seit Descartes vor allem durchgemacht hat; es sei einfach an Leibnizens Satz erinnert, wonach wir, was das ‚Sein‘ sei, nur erfahren im ‚ego‘, in uns selbst – wir selbst aber als monas sind vis (perceptio – appetitus), d. h. in der Folge dann Wille zur Macht.“

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Bewältigung einer Deutungshürde eingeführt hatte. Namentlich äußert sich diese hermeneutische Schwierigkeit in der doppelten Beanspruchung des Titels des Seins des Seienden durch die ewige Wiederkehr und durch den Willen zur Macht. Diese Dissonanz musste nach der Verabschiedung des Sinn-Motivs sowie nach der Hintansetzung der in Sein und Zeit vertretenen Philosophie notwendigerweise aufklaffen. Heidegger wird somit vornehmlich aufgrund eigener Denkentscheidungen zu einer Neuauslotung des Verhältnisses beider Lehren nach Maßgabe von Wesen und Sein gedrängt. Eine vielversprechende Textstelle aus der zweiten Nietzsche-Vorlesung kann diese These validieren. In dem folgenden Passus legt Heidegger selbst die Ambiguität offen, die entsteht, weil sowohl die ewige Wiederkehr als auch der Wille zur Macht das Seiende im Ganzen jeweils für sich sind. In dem Textausschnitt aus der Vorlesung von 1937 lässt sich trotz des apodiktischen Gestus gut nachvollziehen, dass Heidegger aufgrund des in seiner eigenen Deutung auftauchenden und 1936 nicht beabsichtigten Totalitätsanspruches der jeweiligen Lehren dazu animiert wird, sie innerhalb des Seienden im Ganzen und als dieses durch die Anwendung der Begriffe von Verfassung und Seinsweise zu unterscheiden. Im Titel des Seins des Seienden werden die beiden Gedanken als intern aufeinander bezogene Aspekte zusammengefügt. 1937 gesteht Heidegger jenen Agon offen ein, der ein Jahr zuvor, in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst, inmitten der anderen, in sich konsistenten Unterscheidungsvarianten noch latent blieb. Gleichzeitig wird der Entwicklungsgang gekappt und der Facettenreichtum der 1936 vorgetragenen Verhältnisgewichtungen beschnitten, indem Heidegger suggeriert, die nun präsentierte Doppelbestimmung des Seienden im Ganzen und der zwiefältige Sinn des „ist“ ergebe sich notwendigerweise aus der Erkenntnishöhe der in ihrem Wesen begriffenen Leitfrage. Neben der Aufdeckung der Zusammengehörigkeit der beiden Lehren ist es ebendiese Einsicht in die Provenienz und Geltung der metaphysischen Unterscheidung, durch die Heidegger sich von anderen Nietzsche-Interpreten abzugrenzen und seine Deutungshoheit über dessen Philosophie zu unterstreichen sucht. Während Heidegger die vorausgesetzte Einheit von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr zu Beginn der ersten Nietzsche-Vorlesung mit Hilfe der Applikation auf verschiedene abstrakte Konstellationen und Verhältnispaare wie „Sein und Zeit“ oder „Sein und Werden“ zu untermauern sucht, verfährt er (in der nicht einmal ein Jahr später gehaltenen) zweiten Nietzsche-Vorlesung umgekehrt. 1937 erhebt er die vorgängige Zusammengehörigkeit von Verfassung und Seinsweise zur Bedingung, aus der die Zusammengehörigkeit des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr überhaupt erst sichtbar gemacht und verstanden werden kann. Gegenüber der Vorlesung von 1936/37 büßt Nietzsches Denken durch die geänderte Erschließungsweise des Zusammenhanges zwischen dem Willen zur Macht

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und der ewigen Wiederkehr an Eigenständigkeit ein, da es wesentlich stärker in den Wirkradius der Geschichte der Metaphysik eingelassen wird. Die 1936 entwickelte Privilegierung der ewigen Wiederkehr als Grund des Willens zur Macht bleibt indes erhalten, insofern Heidegger in einer Parallelkonstruktion die Seinsweise als Grund der Verfassung des Seienden begreift. Die Textstelle aus der Vorlesung von 1937 lautet: Wir werden Nietzsches metaphysische Grundstellung in ihrem Hauptzuge bestimmen können, wenn wir die Antwort bedenken, die er auf die Frage nach der Verfassung des Seienden und nach seiner Weise zu sein gibt. Nun wissen wir: Nietzsche gibt im Blick auf das Seiende im Ganzen zwei Antworten: das Seiende im Ganzen ist Wille zur Macht; und: das Seiende im Ganzen ist ewige Wiederkehr des Gleichen. Doch bisher war die philosophische Auslegung von Nietzsches Philosophie nicht imstande, diese zwei gleichzeitigen Antworten als Antworten, und zwar als notwendig zusammengehörige, zu begreifen, weil sie die zugehörigen Fragen nicht kannte, d. h. sie nicht eigens aus dem vollständigen Gefüge der Leitfrage entfaltete. Kommen wir dagegen von der entfalteten Leitfrage her, dann zeigt sich: In diesen beiden Hauptsätzen – das Seiende im Ganzen ist Wille zur Macht; und: das Seiende im Ganzen ist ewige Wiederkehr des Gleichen – besagt das ‚ist‘ jedesmal etwas Anderes. Das Seiende im Ganzen ‚ist‘ Wille zur Macht, heißt: das Seiende als solches hat die Verfassung dessen, was Nietzsche als Wille zur Macht bestimmt. Und: das Seiende im Ganzen ‚ist‘ ewige Wiederkehr des Gleichen, heißt: das Seiende im Ganzen ist als Seiendes in der Weise der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Bestimmung ‚Wille zur Macht‘ gibt Antwort auf die Frage nach dem Seienden in Hinsicht auf seine Verfassung; die Bestimmung ‚ewige Wiederkehr des Gleichen‘ gibt Antwort auf die Frage nach dem Seienden in Hinsicht auf seine Weise zu sein. Verfassung und Weise zu sein gehören aber zusammen als Bestimmungen der Seiendheit des Seienden. Demnach gehören in Nietzsches Philosophie auch Wille zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen zusammen. Es ist daher im vorhinein ein metaphysisches Miß- oder besser Unverständnis, wenn versucht wird, den Willen zur Macht gegen die ewige Wiederkehr des Gleichen auszuspielen und diese gar als metaphysische Bestimmung des Seienden auszuscheiden. In Wahrheit muß gerade die Zusammengehörigkeit beider begriffen werden, aber diese Zusammengehörigkeit bestimmt sich selbst wesentlich aus der Zusammengehörigkeit von Verfassung und Weise zu sein als aufeinander bezüglicher Momente der Seiendheit des Seienden. Die Verfassung des Seienden fordert jeweils mit die Weise zu sein, und zwar als ihren eigenen Grund.¹²⁵

Wie folgenschwer die Priorisierung der Unterscheidung von Verfassung und Seinsweise ist, soll anhand eines vorgreifenden Exkurses kurz angedeutet werden: Heideggers Urteil, Nietzsche sei derjenige, der die Metaphysik vollende, beruht maßgeblich auf der Anwendung des Wesens-Seins-Schemas. So legt Hei-

 Heidegger, N I, S. 415 – 417. Vgl. Heidegger, Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken. Die ewige Wiederkehr des Gleichen, GA 44, S. 226.

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degger sowohl in den Entwürfen zur Geschichte des Seins als Metaphysik ¹²⁶ als auch in der zweiten Schelling-Vorlesung von 1941 ¹²⁷ dar, dass Nietzsche von dem Unterschied von essentia und existentia Gebrauch mache und diesen zugleich verschwinden lasse. Damit besiegle Nietzsche die Seinsvergessenheit, insofern diese ursprünglich aus der Verbergung der Genese des Unterschiedes herrührt, wie Heidegger in der Abhandlung Die Metaphysik als Geschichte des Seins (1941) schildert: Gesetzt aber, die Metaphysik begründe mit diesem in seiner Herkunft dunklen Unterschied von Was-sein und Daß-sein ihr Wesen und gründe es darauf, dann kann sie selbst von ihr selbst aus nie ein Wissen dieser Unterscheidung aufbringen. Sie müßte von dem in diesen Unterschied eingegangenen Sein selbst zuvor angegangen werden. Diesen Angang versagt jedoch das Sein und ermöglicht so allein der Metaphysik ihren Wesensbeginn – in der Weise der Vorbereitung und Entfaltung dieser Unterscheidung. Die Herkunft der Unterscheidung von essentia und existentia, vollends die Herkunft des dergestalt unterschiedenen Seins, bleiben verborgen, griechisch gesagt: vergessen. Seinsvergessenheit besagt dann: das Sichverbergen der Herkunft des in Was-und Daß-sein unterschiedenen Seins zugunsten des Seins, welches das Seiende als Seiendes lichtet und als Sein unbefragt bleibt. Die Unterscheidung in Was-sein und Daß-sein enthält nicht nur ein Lehrstück des metaphysischen Denkens. Sie zeigt auf ein Ereignis in der Geschichte des Seins. ¹²⁸

Im Beginn der Metaphysik, bei Platon, kommt der Unterschied zum ersten Mal zur Geltung, wobei Was-Sein und Dass-Sein in der für Platon entscheidenden Hinsicht noch nicht auseinandergegangen sind, sofern sie nämlich in der übersinnlichen Idee vereinigt sind. Die Idee hat ihr Dass-Sein in ihrem ewig gegenwärtigen Anblick als Gestalt; das, was angeblickt wird, ist das εἶδος, das Wesen selbst: Das ὄντως ὄν, das seiendhaft, d. h. im Sinne der ἀλήθεια ‚wahrhaft‘ Seiende, ist das ‚Gesicht‘, das anwesende Aussehen. In solcher Anwesenheit wesen einig zumal das, was ein Seiendes ist, und daß es – nämlich in der Gegenwart des Aussehens – ist.¹²⁹

Auf der einen Seite wird das Dass-Sein von Platon in der Sphäre der wahren Welt gehalten, weil die Existenz den Ideen aufgrund ihrer wesenhaften Beständigkeit permanent inhäriert. Daher ist ihr Dasein immer schon vorauszusetzen. Auf der anderen Seite keimt die Differenz zwischen dem Dass-Sein und dem Was-Sein in der herabgesetzten Welt des Werdens auf. Der bleibende Grundcharakter, der das Signum der Idee ist, lässt sich nicht mit der temporär gültigen Seinsanzeige und

   

Vgl. Heidegger, N II, S. 418. Vgl. Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, GA 49, S. 196 f. Heidegger, N II, S. 366. Heidegger, N II, S. 8.

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Verschiedenheit vereinbaren, in der sich das Dass-Sein im μὴ ὄν äußert.Wenn das μὴ ὄν jedoch nicht ein bloßes Nichts sein soll – und dies kann und darf es in der platonischen Ontologie aufgrund der Teilhabe des Bereiches des Werdens an den Ideen niemals sein – muss ihm der Status des Seiendseins und somit das DassSein notwendigerweise zugesprochen werden. Dieses lässt sich nicht wegleugnen und tritt in seiner ganzen „Aufdringlichkeit“¹³⁰ hervor. Dem steht das Was-Sein der Idee gegenüber, das sich innerhalb der scheinhaften Welt des Werdens nicht im Vollsinn zeigt. Es wird nur eingeschränkt und „getrübt“¹³¹ sichtbar. Das WasSein offenbart sich nicht in seiner wahren Verfassung. In diesem Zuge kommt es zu einer Zerklüftung des Dass-Seins: Wenn die Idee allein in der nichtsinnlichen Helle des „anwesenden Aussehens“¹³² wahrhaft ist, verliert sie in ihrer Widerspiegelung in der Sinneswelt das für sie konstitutive Dass-Sein. In diesem Bereich muss sie eine verfälschende Daseinsweise und einen niedrigeren Seinsgrad annehmen. Das Dass-Sein, welches der keineswegs nichthaften Sinnlichkeit vollkommen zukommt, gerät in einen Gegensatz zu dem Dass-Sein, das der Wesensdimension der Ideen zugehört. Mit der Besinnung auf die Kontinuität der Unterscheidung, die sich noch in ihrer Verkehrung und ihrem Verschwinden bei Nietzsche erhält und in ihrer Verfügungskraft sogar steigert, sucht Heidegger in den vormetaphysischen Ursprung, in den Einheits- und Entstehungsgrund der Ausfächerung von Was-Sein und Dass-Sein zurückzufragen, um das ungedachte Versprechen des Anfangs zu profilieren. Auf diese Weise kann der Bogen vom Anfang bis zum Ende der Metaphysik geschlagen, die Metaphysik abgerundet und auf den anderen Anfang hin geöffnet werden. Um das durch Nietzsche inaugurierte Vergessen des Verschwindens rückgängig zu machen, ist es für Heidegger entscheidend, zunächst die Träger von essentia und existentia in der letzten metaphysischen Grundstellung zu identifizieren, wie er in den Entwürfen zur Geschichte des Seins als Metaphysik schreibt: 11. Wie in Nietzsches Metaphysik der Unterschied von essentia und existentia verschwindet, warum er verschwinden muß im Ende der Metaphysik, wie gleichwohl gerade so die weiteste Entfernung vom Anfang erreicht ist. Das Verschwinden läßt sich aber nur zeigen, indem versucht wird, den Unterschied sichtbar zu machen: Wille zur Macht als essentia; ewige Wiederkehr des Gleichen als existentia.¹³³

   

Heidegger, N II, S. 8. Heidegger, N II, S. 8. Heidegger, N II, S. 8. Heidegger, N II, S. 434.

1.1 Heideggers erste Bestimmung des Verhältnisses

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Den Nexus zwischen dem Unterschied von essentia und existentia, dem Ende der Metaphysik und dem innerhalb der Binnensphäre der Metaphysik notwendigerweise unbedacht bleibenden Verhältnis von ewiger Wiederkehr und Willen zur Macht erläutert Heidegger in einer Passage aus der Abhandlung Metaphysik und Nihilismus in luzider Weise. Hier lässt sich die bereits 1937 festzustellende Deutungstendenz Heideggers wiedererkennen, die vorgängige Einsicht in die Wesenseinheit von essentia und existentia, die sich zum Sein des Seienden zusammenfügen, zur Bedingung der Möglichkeit einer denkerischen Synopsis und Vereinigung der beiden Kernlehren Nietzsches zu qualifizieren: Daß Nietzsche das seinsmäßige Verhältnis des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr ungedacht läßt, ist kein Versäumnis der Metaphysik, die er zu denken hat, sondern es ist das wesensmäßige Versäumnis aller Metaphysik, daß das Verhältnis der metaphysischen Grundzüge des Seienden, der essentia und der existentia, in ihrem Ursprung und somit in ihrer Wahrheit dunkel bleibt. Dies ist der Grund, weshalb in Nietzsches Metaphysik nicht nur durch ihn selbst, sondern überhaupt durch das bisherige philosophische Denken das Verhältnis zwischen Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr nie zureichend gedacht werden kann. Aber daraus folgt nicht, daß der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen als die Grundlage des Seienden als solchen nicht zusammengehören.¹³⁴

In der resümierenden Ergebnissichtung ist zu fixieren: Heidegger deklariert die Aufspaltung des Zusammenhanges von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr in die Unterscheidung von essentia und existentia zum Proprium der Metaphysik Nietzsches. Indem er die Differenz von Verfassung und Seinsweise aus dem Geschick des Seins erschließt, überdeckt Heidegger die Spuren der immanenten Genese des Topos der Unterscheidung. Diese erwächst aus der konzeptionellen Problemlage des polar auseinanderdriftenden Titels des Seins des Seienden. Durch die Einbettung der ewigen Wiederkehr (des Seins) und des Willens zur Macht (des Wesens) in die Geschichte der metaphysischen Unterscheidung lenkt Heidegger von der Motivation ab, die ihn selbst dazu bewegte, die anderen, vielversprechenden Verhältnisbestimmungen von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr zugunsten derjenigen von Essenz und Existenz zurückzubeordern. Die Anbringung der Unterscheidung auf Nietzsche ist nicht primär aus der Sache selbst gewonnen. Die Differenzierung verdankt sich in erster Linie der Zurückstufung der zeitlichen (in Nietzsches Philosophie von der ewigen Wiederkehr repräsentierten) Sinndimension des Seins zugunsten der Fundamentaldisjunktion zwischen dem seinsgeschichtlichen Denken und der Metaphysik. Ab 1939 wird Nietzsches Philosophie gänzlich in die Metaphysik eingegliedert. Diese Einordnung schlägt sich besonders in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und  Heidegger, Metaphysik und Nihilismus, GA 67, S. 178.

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der Wille zur Macht (1939) nieder. Im Rahmen der bereits 1937 auf die Verhältnisauslotung beider Lehren ausstrahlenden Abkehr Heideggers von Sein und Zeit tritt das strukturelle Problem einer sich wechselseitig ausschließenden Doppelbeanspruchung des Titels des Seins des Seienden durch den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr in aller Deutlichkeit zutage. Diese Schwierigkeit wurde zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst von 1936/37 noch durch die Pluralität der Verhältnisbestimmungen gebändigt. Ab 1937 wird eine neue Positionierung der ewigen Wiederkehr innerhalb des Gefüges mit dem Willen zur Macht erforderlich. Deswegen gelangt Heidegger zu der Figur einer Zweiheit, die in dem einen Sein des Seienden ausgetragen wird.

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst 1.2.1 Die Abgrenzung des Willens von den tradierten Kennzeichnungen als Seelenvermögen und Streben In der 1936/37 gehaltenen Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst findet sich eine ausgesprochen differenzierte und ausführliche Auseinandersetzung Heideggers mit Nietzsches Begriff des Willens.¹³⁵ Obwohl das Diktum Nietzsches: „Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen“¹³⁶ für Heidegger von zentraler Bedeutung ist, muss kritisch hinterfragt werden, ob Heidegger den Willen zur Macht bereits 1936/1937 als einheitliches, metaphysisches Prinzip etablieren kann. Am Anfang seines Zwiegesprächs mit Nietzsche begreift Heidegger den Willen zur Macht als ein Werden, das sich weder in oszillierende Wandlungen verflüssigt noch eine unabschließbare Evolution fordert und freisetzt. In diesem Kapitel ist zu erhellen, dass der grundlegende Wesenszug dieses Werdens als unaufhörliche Rückkehr zu einem Ausgangspunkt zu explizieren ist, der nur in der Überschreitung seiner selbst diese Basis bleiben kann. Diese wird von einem weitreichenden Ausgreifen flankiert, das in der Immanenz des Sichselbst-wollens fundiert ist. Heidegger macht bereits zu Beginn darauf aufmerksam, dass sich in Nietzsches Rückgründung allen Geschehens im Willen zur Macht kein Akt voraussetzungsloser Willkür manifestiert. Nietzsche stehe vielmehr in einer Kontinuitäts-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 31– 63.  Vgl. Nietzsche, NF August–September 1885, KGW VII, 3, 40 [55], S. 393.

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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linie, die auf Schopenhauer und den Deutschen Idealismus zurückverweise.¹³⁷ Maßgebend für die neuzeitliche Willensprägung ist für Heidegger Schellings Bestimmung des Wollens als „Ursein“¹³⁸, das mit den (von Heidegger in der ersten Nietzsche-Vorlesung nicht zitierten) Prädikaten der Grundlosigkeit, der Ewigkeit, der Unabhängigkeit von der Zeit und der Selbstbejahung versehen ist.¹³⁹ Wie in der Schelling-Vorlesung von 1936¹⁴⁰, so exponiert Heidegger auch in Der Wille zur Macht als Kunst die unabweisliche Bedeutung der in Leibnizens Monadologie dargelegten Zusammenfügung von perceptio und appetitus. ¹⁴¹ Leibniz bedenkt die „ursprüngliche Einheit“¹⁴² zwischen der Vorstellung, die als vorübergehender Zustand die Vielheit der Affektionen kenntlich macht, und dem Streben, das den Übergang von einer Perzeption zu einer anderen erwirkt. Die von Leibniz vorgetragene Gleichrangigkeit mündet im 19. Jahrhundert schließlich in die Herausbildung des Willens zum metaphysischen Prius ein. Diese Aufgipfelungstendenz wird in Hegels Phänomenologie des Geistes noch abgemildert. Obwohl Hegel das Wollen nach Heidegger als gleichbedeutend mit dem Wissen versteht, kann das Wissen als sich selbst denkendes Denken innerhalb des Entwicklungsganges des absoluten Geistes beanspruchen, das „Wesen des Seins“¹⁴³ zu entfalten. In seiner Ausarbeitung eines adäquaten Verständnisses des Willens zur Macht zielt Heidegger darauf ab, die Macht nicht als Ableger, Derivat oder Telos des Willens zu verstehen. Die Macht soll als Charakteristikum und Horizont der willenseigenen Bewegtheit markiert werden. Da die unauslöschliche Überschreitung die wesentliche Eigenschaft des Willens darstellt, wandert die Macht

 Vgl. Heidegger, N I, S. 31. Vgl. zu den grundlegenden Parallelen im Voluntarismus Schopenhauers und Nietzsches: Friedhelm Decher, Wille zum Leben – Wille zur Macht. Eine Untersuchung zu Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg / Amsterdam 1984. Zu Nietzsches Kritik an Schopenhauers Willensverständnis vgl. Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin / New York 1984, S. 59 – 72.  Heidegger, N I, S. 32. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350.  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. Zur ausführlichen Diskussion dieser berühmten Stelle aus der Freiheitsschrift vgl. den 2. Teil dieser Arbeit.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 164: „Seyn als Wollen begreifen heißt, es von der ἰδέα her, aber nicht nur als ἰδέα und so idealistisch zu begreifen. Der Ansatz zu diesem idealistischen Begriff des Seyns ist bei Leibniz gemacht. Die Substanz, das für sich bestehende Seiende, ist, was es ist, als perceptio und appetitus, Vorstellen und Streben.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 32; S. 53. Vgl. Leibniz, Monadologie, in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg 2002, §11, S. 115: „Aus dem Gesagten folgt, daß die natürlichen Veränderungen der Monaden aus einem inneren Prinzip herrühren, weil auf ihr Inneres keine äußere Ursache Einfluss nehmen kann.“ Vgl. Leibniz, Monadologie, §14, S. 115.  Heidegger, N I, S. 32.  Heidegger, N I, S. 32.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

als Modus der Selbstvergegenwärtigung in das Innere des Willens selbst ein. Daher fasst Heidegger den Willen zur Macht eher beiläufig als „Willen zum Willen“.¹⁴⁴ Wie im 3. Teil dieser Arbeit zu entwickeln sein wird, ist die Duplikation des Willens in ihrer Tragweite kaum zu überschätzen. In den Abhandlungen der 1940er-Jahre wird Heidegger den Willen zum Willen als Wesen des neuzeitlichen Voluntarismus überhaupt sowie als Instanz der modernen Weltbemächtigung bestimmen, die sich in Nietzsches Metaphysik des Willens zur Macht noch verberge.¹⁴⁵ Die Aufrichtung des Willens zur Macht zum Sein des Seienden verhindert eine Wesenserklärung nach Maßgabe ontischer Bestimmungen. Demgegenüber fixieren die überlieferten philosophischen Auffassungen den Willen als Seelenvermögen, das eine Mannigfaltigkeit divergierender Assoziationen bündelt. Unter dem Begriff des Willens werden im Gegenhalt zur rationalen Überlegung sowohl die triebhaft-diffuse Begierde als auch das intentionale Streben subsummiert.¹⁴⁶ Innerhalb des Motivkomplexes einer hervorbringenden Ursächlichkeit lässt sich der freie Wille als Fähigkeit verorten, ungeachtet äußerer Einflüsse und der Naturnotwendigkeit eine vertretbare Entscheidung zu fällen und eine Handlung autonom zu beginnen.¹⁴⁷ Unter Verwendung einer argumentativen Umkehrungs Heidegger, N I, S. 33.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 2000, S. 88 ff. Vgl. Heidegger, Wozu Dichter?, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 295: „Nicht erst die Totalität des Wollens ist die Gefahr, sondern das Wollen selbst in der Gestalt des Sichdurchsetzens innerhalb der nur als Wille zugelassenen Welt. Das aus diesem Willen gewillte Wollen hat sich schon zum unbedingten Befehl entschieden.“ Vgl. zum Topos des Willens zum Willen den 3. Teil dieser Arbeit.  Vgl. Heidegger, N I, S. 34– 35. Vgl. hierzu Robert Jan Bergs ausgezeichnete Darstellung der Genese des abendländischen Willensbegriffes, die auch Augustinus und die Philosophie des Mittelalters einer Würdigung unterzieht: Robert Jan Berg, Objektiver Idealismus und Voluntarismus in der Metaphysik Schellings und Schopenhauers, 1. Aufl., Würzburg 2003, S. 38 – 52.  Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Stuttgart 2008, S. 88: „Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, sofern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann…“ Vgl. auch: Augustinus, Bekenntnisse, 7. Buch, 3. Kapitel, 1. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 161: „Denn es erhob mich zu deinem Lichte, dass ich ebenso überzeugt war von dem Vorhandensein meines freien Willens wie von meinem Leben. Wenn ich daher etwas wollte oder nicht wollte, so war ich ganz sicher, dass niemand anders als ich es wollte oder nicht wollte, und allmählich kam ich zu dem Bewusstsein, dass hierin wohl der Urgrund des Bösen liege.“ Vgl. Nietzsches Kritik am freien Willen als theologisches Konstruktionsmittel einer Schuldfähigkeit: Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Die vier grossen Irrthümer, Nr. 7, KSA 6, S. 95: „Irrthum vom freien Willen. – Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff ‚freier Wille‘: wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck,

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figur konstatiert Heidegger, dass die Formgebung dieser bislang den Verständnishorizont dominierenden Aspekte nunmehr auf der Grundlage des einheitlichen Willens zur Macht geschehen müsse.¹⁴⁸ Daher führt er in bestätigender Absicht zwei Äußerungen Nietzsches an, die sich gegen die unhinterfragten Vorannahmen im Willensbegriff richten. Die erste lautet: Heute wissen wir, daß er [der Wille] bloß ein Wort ist.¹⁴⁹

Die Kohärenz des Willensphänomens wird nach Nietzsche einzig durch eine begriffliche Abstraktionsleistung garantiert. Aus dieser Einsicht zieht Nietzsche zweitens eine schwerwiegende Konsequenz: Ich lache eures freien Willens und auch eures unfreien: Wahn ist mir das, was ihr Willen heißt, es gibt keinen Willen.¹⁵⁰

die Menschheit in ihrem Sinne ‚verantwortlich‘ zu machen, das heisst, sie von sich abhängig zu machen. […] Die Menschen wurden ‚frei‘ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können, – um schuldig werden zu können: folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 35. Vgl. zur Vereinheitlichung des Willens: Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 230: „Wille zur Macht, Werden, Leben und Sein im weitesten Sinne bedeuten in Nietzsches Sprache das Selbe.“  Heidegger, N I, S. 35. Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie, Nr. 5, KSA 6, S. 77: „Das sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an‘s ‚Ich‘ als Sein, an‘s Ich als Substanz und projicirt den Glauben an die IchSubstanz auf alle Dinge –, es schafft damit erst den Begriff ‚Ding‘…. Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, untergeschoben; aus der Conception ‚Ich‚ folgt erst, als abgeleitet, der Begriff ‚Sein‘… Am Anfang steht das grosse Verhängnis von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das wirkt –, dass Wille ein Vermögen ist … Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist.“  Heidegger, N I, S. 35. Vgl. Nietzsche, NF-1883,13[1]: „Ich lache eures freien Willens und auch eures unfreien: Wahn ist mir das, was ihr Willen heißt, es giebt keinen Willen. Aus Schmerzen und Gedanken gebar sich dieser Wahn, den ihr Wille heißt.“ Indem er der Frage nachgeht, wodurch die Annahme der menschlichen Willensfreiheit (die aufgrund der Freiheit jedes Individuums einen universalen Determinismus konterkariert) motiviert sein könnte, stößt Nietzsche auf das Motiv eines auf diese Weise gesicherten Facettenreichtums an Handlungen und Konflikten, welches das Interesse und die Gunst der Götter bewahrt. Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 305: „Sollte nicht jene so verwegene, so verhängnisvolle Philosophen-Erfindung, welche damals zuerst für Europa gemacht wurde, die vom ‚freien Willen‘, von der absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen, nicht vor Allem gemacht sein, um sich ein Recht zu der Vorstellung zu schaffen, dass das Interesse der Götter am Menschen, an der menschlichen Tugend sich nie erschöpfen könne? Auf dieser Erden-Bühne sollte es niemals an wirklich Neuem, an wirklich unerhörten Spannungen, Verwicklungen, Katastrophen gebrechen: eine vollkommen deterministisch gedachte Welt würde für Götter errathbar und folglich in Kürze auch ermüdend

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Entscheidend ist, dass Heidegger Nietzsches (scheinbare) Leugnung der Existenz des Willens nicht als irreversible Auflösung der metaphysischen Gleichsetzung des Willens mit dem Sein des Seienden (beziehungsweise dem Ding an sich) interpretiert.¹⁵¹ Vielmehr beurteilt er Nietzsches vehemente Kritik als eröffnenden Akt einer illusionslosen Neukonzeption des Willens: Merkwürdig, wenn der Denker, für den der Grundcharakter alles Seienden der Wille ist, ein solches Wort spricht: ‚es gibt keinen Willen‘. Aber Nietzsche meint, es gibt nicht den Willen, den man bisher als Seelenvermögen und allgemeines Streben kennt und nennt.¹⁵²

Nach Heidegger wendet sich Nietzsche zuvorderst gegen das von Schopenhauer genährte „Volks-Vorurteil“¹⁵³ einer unmittelbaren Vertrautheit des Individuums mit dem Willensphänomen. Dessen Objektität wird nach Schopenhauer in der prinzipiellen Identität von Willensakt und Leibbewegung erschlossen.¹⁵⁴ Hei-

gewesen sein, – Grund genug für die Freunde der Götter, die Philosophen, ihren Göttern eine solche deterministische Welt nicht zuzumuthen!“  Vgl. hierzu allerdings Schopenhauers erkenntniskritischen Vorbehalt hinsichtlich der Begreifbarkeit des Willens als Ding an sich im Brief an Julius Frauenstädt vom 21. August 1852, in dem dieser für die Auslegung des Willens als Absolutes kritisiert wird, in: Arthur Schopenhauer, Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, Nr. 280, S. 291: „Meine Philosophie redet nie von Wolkenkukuksheim, sondern von dieser Welt, d. h. sie ist immanent, nicht transzendent. Sie liest die vorliegende Welt ab, wie eine Hieroglyphentafel (deren Schlüssel ich gefunden habe, im Willen) und zeigt ihren Zusammenhang durchweg. Sie lehrt, was die Erscheinung sei, und was das Ding an sich. Dieses ist aber Ding an sich blos relativ, d. h. in seinem Verhältnis zur Erscheinung – und diese ist Erscheinung bloß in Relation zum Ding an sich. Außerdem ist sie ein Gehirnphänomen.Was aber das Ding an sich außerhalb jener Relation sei, habe ich nie gesagt, weil ichs nicht weiß: in derselben aber ists Wille zum Leben. […] – Was nun Das, was wir allein als Wille zum Leben und Kern dieser Erscheinung kennen, außerdem sein möge, wenn es nämlich Dieses nicht mehr, oder noch nicht ist, ist ein transscendentes Problem, d. h. ein solches, dessen Lösung die Formen unseres Intellekts, welche bloße Funktionen eines, zum Dienste der individuellen Willenserscheinung bestimmten Gehirns sind, gar nie zu fassen oder zu denken fähig sind; so daß, wenn es uns wirklich offenbart würde, wir durchaus nichts davon verstehen würden.“  Heidegger, N I, S. 35.  Heidegger, N I, S. 36. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 19, KSA 5, S. 31– 32: „Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen: dass er ein VolksVorurtheil übernommen und übertrieben hat.“  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 18, S. 144: „In der Reflexion allein ist Wollen und Thun verschieden: in der Wirklichkeit sind sie Eins. Jeder wahre, ächte, unmittelbare Akt des Willens ist sofort und unmittelbar auch erscheinender Akt des Leibes: und diesem

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degger schließt daher aus, dass es das Ziel Nietzsches gewesen sein könnte, die überkommenen Täuschungsgaranten einer voluntativen Einheit in allen Bereichen des Lebens aufzuspüren und durch das Interpretament sich mehrend zusammenfügender und verringernd zerspaltender „Willens-Punktationen“ zu ersetzen.¹⁵⁵ Im Gegensatz dazu, sieht Heidegger das hauptsächliche Anliegen Nietzsches darin, die elementare, sich in allem Seienden selbst treffende und besitzende Natur des Willens zur Macht in der Pluralität von Geschehenszusammenhängen zu ermitteln. Um die Vorstellung eines auf wechselnde Objekte gerichteten Wünschens aus dem Eigenschaftsfeld des Willens auszugrenzen, rekurriert Heidegger stillschweigend auf das Kapitel Von der Selbstüberwindung aus dem 2. Teil von Also sprach Zarathustra. ¹⁵⁶ Die darin zur Sprache kommende Verhältnisbestimmung dient Heidegger auch dazu, die sich aufdrängenden Konnotationen einer beständig über sich hinausgehenden Pleonexie des Willens zur Macht oder eines wünschenden Strebens in eine autarke Immanenz der Selbstaufforderung zurückzubinden. In diesem Zusammenhang untermauert Heidegger seinen metaphysischen Deutungsansatz, indem er darauf hinweist, dass der Wille zur Macht als „Wesenswille“¹⁵⁷ sich nicht primär in Entscheidungen und Haltungen von Individuen zeige. Deswegen müsse die inverse Ableitungsrichtung verfolgt werden: Wille zur Macht ist nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen. Er betrifft das Sein und Wesen des Seienden, ist dieses selbst. Daher können wir sagen: Wille zur Macht ist immer Wesenswille.¹⁵⁸

entsprechend ist andererseits jede Einwirkung auf den Leib sofort und unmittelbar auch Einwirkung auf den Willen…“  Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [73], S. 278: „– Es gibt keinen Willen: es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.“  Vgl. Heideggers Kritik an der Gleichsetzung des Wollens mit dem strebenden „Habenmögen“: Heidegger, N I, S. 37.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, S. 147– 148: „Was überredet das Lebendige, dass es gehorcht und befiehlt und befehlend noch Gehorsam übt? Hört ihr nun mein Wort, ihr Weisesten! Prüft es ernstlich, ob ich dem Leben selber in‘s Herz kroch und bis in die Wurzeln seines Herzens! Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: dieser Lust allein mag es nicht entrathen.“  Heidegger, N I, S. 57– 58.  Heidegger, N I, S. 57– 58. Vgl. dagegen: Nietzsche, NF Herbst 1885–Frühjahr 1886, 1 [58], hier zit. nach: Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, hrsg. von Günter Wohlfart, Stuttgart 1996, S. 172– 173: „Der Mensch als eine Vielheit von ‚Willen zur Macht‘: jeder mit einer Vielheit von Ausdrucksmitteln und Formen. Die einzelnen angeblichen ‚Leidenschaften‘ (z. B. der Mensch ist grausam) sind nur fiktive Einheiten, insofern das, was von den verschiedenen

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Heidegger opponiert demgemäß gegen die Ansicht, dass der Wille sich in der beständigen Relationsstiftung zu äußeren Anhaltspunkten konturiere. Er ist aber ebenso wenig bereit, sich dem „Grundirrtum Schopenhauers“¹⁵⁹ anzuschließen, wonach erst die reine oder sogar gelassene Bezugslosigkeit, die Ausblendung des Gewollten und die Marginalisierung des Wollenden, die genuine Verfasstheit des Willens als eines sich Verneinenden plastisch herausschäle.¹⁶⁰ Im Zuge der Abweisung dieser Extrema profiliert Heidegger eine sich nur mit sich selbst konfrontierende Bezüglichkeit des Wollens, die sich von vornherein gegen den potenziellen Verlust eines Willenszieles immunisiert: Vielmehr liegt im Wesen des Wollens, daß hier das Gewollte und der Wollende mit in das Wollen hereingenommen werden, wenn auch nicht in dem äußerlichen Sinne, gemäß dem wir vom Streben sagen können, zum Streben gehöre etwas Strebendes und etwas Angestrebtes. Die entscheidende Frage ist gerade: Wie und auf Grund wovon gehören im Wollen zum Wollen das Gewollte und der Wollende? Antwort: Auf Grund des Wollens und durch das

Grundtrieben her als gleichartig ins Bewußtsein tritt, synthetisch zu einem ‚Wesen‘ oder ‚Vermögen‘, zu einer Leidenschaft zusammengedichtet wird.“  Heidegger, N I, S. 37. Darüber hinaus schließt Heidegger sich dem Einwand Nietzsches an, dass Schopenhauer den im Selbstbewusstsein zugänglichen menschlichen Willen in einer unzulässigen Weise auf das Universum ausweite. Demgegenüber müssen allerdings die reflektierten und differenzierten methodischen Erwägungen Schopenhauers hinsichtlich der Erkennbarkeit des Willens berücksichtigt werden. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §22, S. 155 – 156: „Man hat jedoch wohl zu bemerken, daß wir hier nur eine denominatio a potiori gebrauchen, durch welche eben deshalb der Begriff Wille eine größere Ausdehnung erhält, als er bisher hatte. […] Daher aber würde in einem immerwährenden Mißverständniß befangen bleiben, wer nicht fähig wäre, die hier geforderte Erweiterung des Begriffs zu vollziehn, sondern bei dem Wort Wille immer nur noch die bisher allein damit bezeichnete eine Species, den vom Erkennen geleiteten und ausschließlich nach Motiven, ja wohl gar nur nach abstrakten Motiven, also unter Leitung der Vernunft sich äußernden Willen verstehn wollte, welcher, wie gesagt, nur die deutlichste Erscheinung des Willens ist.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 37.Vgl. zur Beurteilung der Qualität dieser Verneinung besonders: Lore Hühn, Der Wille, der Nichts will. Zum Paradox negativer Freiheit bei Schelling und Schopenhauer, in: Lore Hühn (Hrsg.), Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte/Schelling), 1. Aufl., Würzburg 2006, S. 157: „Die von Schopenhauer derart auf das Nichts gemünzte Erfahrung völliger Indifferenz ist eine Erfahrung von Unbestimmtheit, jedoch keine der absoluten Leere und strukturalen Einfachheit, gegen deren vorhandenheitslogische Positivität Hegel zeitlebens polemisierte. Es handelt sich genauso wenig etwa um die Unbestimmtheit des Nichtidentischen, welches in allen dialektischen Vermittlungen dergestalt präsent ist, dass es diesen Vermittlungen stets zuvorkommt und damit sich in seiner unvordenklichen Präsenz gegenüber jedweder Positivierung un(an)greifbar macht. […] In diesem Sinne ist hier vielmehr eine Unbestimmtheit gemeint, welche eine solche völliger Leere ist und welche darin zugleich in nicht zu überbietender Weise den Möglichkeitshorizont unseres faktischen Daseins in sich birgt, ja als Möglichkeitsbedingung von allem diesem erst zu einer konkreten Wirklichkeit verhelfen kann.“

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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Wollen. Das Wollen will den Wollenden als einen solchen, und das Wollen setzt das Gewollte als ein solches. Wollen ist Entschlossenheit zu sich, aber zu sich als dem, was das im Wollen als Gewolltes Gesetzte will. Der Wille bringt jeweils von sich her eine durchgängige Bestimmtheit in sein Wollen. Jemand, der nicht weiß, was er will, will gar nicht und kann überhaupt nicht wollen… ¹⁶¹

Im Gegensatz zu Nietzsche, der das im Selbstbefehl generierte Vermögen einer positiven Freiheit wozu…¹⁶² als auszeichnendes Merkmal der Entschlossenheit expliziert, verknüpft Heidegger die Entschlossenheit mit einer Anonymisierung des Wollens. Es ist nicht der Wollende, der sich ein zu erreichendes Ziel wählt und aus der Verfolgung dieses Entwurfes eine entschiedene Spannkraft erwirbt. Er wird vielmehr vom übergeordneten Wollen selbst in den Willen hineingehoben, wobei ihm der Wille zuvor das Gewollte (das er selbst ist) vorsetzt. Heidegger greift auf die Formalität der Entschlossenheitskonzeption aus Sein und Zeit ¹⁶³ zurück, streicht aber die Möglichkeit eines darin zugelassenen Mitseins mit den Anderen und der Handlungsabstinenz.¹⁶⁴ In das Wollen hineingenommen, soll der Ein Heidegger, N I, S. 37– 38. Vgl. hingegen Heideggers Betonung der unumgänglichen Intentionalität im Jahre 1927: Heidegger, Sein und Zeit, §41, S. 194: „Im Wollen wird ein verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen. Deshalb gehört zum Wollen je ein Gewolltes, das sich schon bestimmt hat aus einem Worum-Willen.“  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Vom Wege des Schaffenden, KSA 4, S. 81: „Frei wovon? Was schiert das Zarathustra? Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu? Kannst du dir selber dein Böses und dein Gutes geben und deinen Willen über dich aufhängen wie ein Gesetz? Kannst du dir selber Richter sein und Rächer deines Gesetzes? Furchtbar ist das Alleinsein mit dem Richter und Rächer des eigenen Gesetzes.“  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §60, S. 297.  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §60, S. 298: „Die Entschlossenheit löst als eigentliches Selbstsein das Dasein nicht von seiner Welt ab, isoliert es nicht auf ein freischwebendes Ich. Wie sollte sie das auch – wo sie doch als eigentliche Erschlossenheit nichts anderes als das In-derWelt-sein eigentlich ist. Die Entschlossenheit bringt das Selbst gerade in das jeweilige besorgende Sein bei Zuhandenem und stößt es in das fürsorgende Mitsein mit den Anderen.“ Vergleichend heranzuführen ist Heideggers Verknüpfung des Wollens mit der Entschlossenheit in der im Sommersemester 1935 gehaltenen Vorlesung Einführung in die Metaphysik, GA 40, hrsg. von Petra Jaeger, Frankfurt a. M. 1983, S. 23: „Wollen – das ist kein bloßes Wünschen oder Streben. Wer zu wissen wünscht, fragt scheinbar auch; aber er kommt über das Sagen der Frage nicht hinaus, er hört gerade dort auf, wo die Frage beginnt. Fragen ist Wissen-Wollen. Wer will, wer sein ganzes Dasein in einen Willen legt, der ist entschlossen. Die Entschlossenheit verschiebt nichts, drückt sich nicht, sondern handelt aus dem Augenblick und unausgesetzt. Entschlossenheit ist kein bloßer Beschluss zu handeln, sondern der entscheidende, durch alles Handeln vor- und hindurchgreifende Anfang des Handelns. Wollen ist Entschlossensein. [Das Wesen des Wollens wird hier in die Ent-schlossenheit zurückgenommen. Aber das Wesen der Ent-schlossenheit liegt in der Ent-borgenheit des menschlichen Da-seins für die Lichtung des Seins und keineswegs in einer

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zelne dennoch als verantwortlicher Entscheidungsträger agieren. Dies manifestiert sich in der nachdrücklichen Exklusion welthaltiger Motive. Diese würden als unangebrachte Störfaktoren in die Entschlossenheit eingreifen, die sich aufgrund der Gehorsamkeit gegenüber sich selbst okkasionellen, äußeren Veranlassungen entzieht: Wille dagegen ist Entschlossenheit zu sich – ist immer: über sich hinaus wollen. Wenn Nietzsche mehrfach den Befehlscharakter des Willens betont, so meint er nicht eine Vorschrift und Weisung zur Durchführung einer Handlung; er meint auch nicht den Willensakt im Sinne eines Entschlusses, sondern die Entschlossenheit, – jenes, wodurch das Wollen den setzenden Ausgriff hat auf den Wollenden und das Gewollte, und diesen Ausgriff als gestiftete, bleibende Entschiedenheit. Wahrhaft befehlen – was nicht gleichzusetzen ist mit dem bloßen Herumkommandieren – kann nur der, der nicht nur imstande, sondern ständig bereit ist, sich selbst unter den Befehl zu stellen. Durch diese Bereitschaft hat er sich selbst in den Befehlskreis gestellt als der erste, der maßgebend gehorcht. In dieser über sich hinausgreifenden Entschiedenheit des Wollens liegt das Herrsein über…, das Mächtigsein über das, was im Wollen aufgeschlossen und in ihm, in der Entschlossenheit als Ergriffenes festgehalten wird.¹⁶⁵

Dieser Vorgang des Auseinandertretens in den Befehlenden einerseits und den sich selbst Gehorchenden andererseits darf nicht als unwiderrufliche Entzweiung verstanden werden. Diametral dazu, veranschaulicht er die Vollzugsweise eines Selbstverhältnisses, das sich zur Macht nicht als Entbehrtes und im bisherigen Ausstand Angestrebtes verhält. Es bekennt sich zur Macht als Triebfeder, die zur unaufhörlichen Überhöhung in der Synergie einer schaffenden Verwandlung und zerstörenden Überwältigung animiert.¹⁶⁶ In der Gestalt der Selbstunterwerfung unter den Befehl der und zur Entschlossenheit nimmt Heidegger die Kantische Autonomiekonzeption auf und legt dar, in welcher Weise die Macht die Stelle der

Kraftspeicherung des ‚Agierens.‘ Der Bezug zum Sein aber ist das Lassen. Daß alles Wollen im Lassen gründen soll, befremdet den Verstand].“ Der in den eckigen Klammern stehende Zusatz wurde von Heidegger wahrscheinlich bei der Veröffentlichung im Jahre 1953 ergänzt. Dieser Passus zeigt in komprimierter Form Heideggers spätere Zurücknahme des dezisionistischen, von Nietzsche angeregten Willensverständnisses zugunsten einer dem Wollen vorgelagerten Offenheit für die Lichtung des Seins, aus der dieses (das Wollen) seine Wesensbestimmung empfängt.  Heidegger, N I, S. 38. Vgl. Nietzsche, NF Juni–Juli 1885, KGW VII, 3, 38 [8], S. 334– 335: „Das was Freiheit des Willens genannt wird, ist wesentlich das Überlegenheits-Gefühl in Hinsicht auf den der gehorchen muß: ‚ich bin frei, er muß gehorchen‘… Freiheit des Willens: das ist das Wort für jenen sehr gemischten Zustand des Wollenden, der befiehlt und zugleich als Ausführender den Triumph der Überlegenheit über Widerstände genießt, der aber urteilt, der Wille selber überwinde die Widerstände…“  Vgl. Heidegger, N I, S. 58: „In der Zerstörung wird das Widrige und Häßliche und Böse gesetzt; es gehört notwendig zum Schaffen, d. h. zum Willen zur Macht, also zum Sein selbst.“

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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praktischen Vernunft besetzt.¹⁶⁷ Da der Wille sich bereits in der kontinuierlichen Selbsterhaltung unterschritte und seine Wesensbestimmung verlöre, ist er mit dem aufstufenden Walten der Macht identisch. Nach Heidegger ergänzt Nietzsche den Topos der Macht, um eine klärende Erläuterung der essentiellen Willensdynamik anzubringen: Der Ausdruck ‚Wille zur Macht‘ meint nicht, Wille sei zwar in Einstimmung mit der gewöhnlichen Meinung eine Art des Begehrens, er habe jedoch statt des Glückes und der Lust als Ziel die Macht. Zwar spricht Nietzsche an mehreren Stellen in dieser Weise, um sich vorläufig verständlich zu machen; aber indem er statt Glück oder Lust oder Aushängung des Willens dem Willen als Ziel die Macht gibt, ändert er nicht nur das Ziel des Willens, sondern die Wesensbestimmung des Willens selbst. Streng im Sinne des Nietzscheschen Willensbegriffes genommen, kann Macht nie zuvor als Ziel dem Willen vorgesetzt werden, als sei die Macht solches, was zunächst außerhalb des Willens gesetzt sein könnte. Weil der Wille Entschlossenheit zu sich selbst ist als über sich hinaus Herrsein, weil der Wille ist: über sich hinaus Wollen, ist der Wille Mächtigkeit, die sich zur Macht ermächtigt.¹⁶⁸

Die Integration des Machtaspekts müsse daher vor dem Hintergrund der von Nietzsche geübten Kritik an der disparaten Assoziationsvielfalt und Unklarheit des tradierten Willensbegriffes betrachtet werden. Es wäre jedoch verfehlt, Heidegger den Vorwurf zu unterbreiten, er lege die Macht bereits in der anfänglichen Phase als Grundgeschehnis einer indolenten, schrankenlosen Überwindungslogik¹⁶⁹ aus:

 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. von Karl Vorländer, 9. Aufl., Hamburg 1929, 1. Buch, 3. Hauptstück, S. 94: „Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, doch als mit einem unvermeidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft angetan wird, verbunden, ist nun die Achtung für das Gesetz. Das Gesetz, was diese Achtung fordert und auch einflößt, ist, wie man sieht, kein anderes als das moralische (denn kein anderes schließt alle Neigungen von der Unmittelbarkeit ihres Einflusses auf den Willen aus). Die Handlung, die nach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Bestimmungsgründe aus Neigung, objektiv praktisch ist, heißt Pflicht, welche um dieser Ausschließung willen in ihrem Begriffe praktische Nötigung, d.i. Bestimmung zu Handlungen, so ungerne wie sie auch geschehen mögen, enthält.“  Heidegger, N I, S. 39.  Diesem interpretatorischen Missverständnis unterliegt in paradigmatischer Weise Werner Stegmaier, da er Heideggers spätere Semantik der Machenschaft und der sich selbst wollenden Subjektivität ohne Beachtung des Kontextes der ersten Nietzsche-Vorlesung und unter Ausblendung der komplexen Entwicklungsstadien in Heideggers Nietzsche-Deutung auf die 1936/1937 vorgetragene Analogiebildung des Nietzscheschen Machtbegriffes mit der Dynamis und der Energeia überträgt. Damit fällt aus dem Blickrahmen, dass Heidegger den Gedanken des Willens zur Macht 1936/37 in einem positiven Licht sieht und ihn eminent aufwertet, indem er diesen an die Ontologie des Aristoteles rückkoppelt.Vgl. Werner Stegmaier, Auseinandersetzung mit Nietzsche I.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Zum einen parallelisiert er den Topos der Macht mit dem im IX. Buch der aristotelischen Metaphysik entworfenen Begriffsgefüge von Dynamis, Energeia und Entelechie und konzediert Nietzsche auf diese Weise, an eine Grunderfahrung der Endgestalt griechischer Philosophie anzuknüpfen, die durch die Über-Setzung in lateinische Termini und durch die Modalitätenlehre verschüttet worden sei.¹⁷⁰ Das „sich-in-der-Endung-halten“¹⁷¹, die Wesensfindung in der abschließenden Versammlung (Entelechie), wird durch eine Transzendierungsbewegung gewonnen und aktualisiert, die im willentlichen Überstieg je schon bei sich angekommen ist und in dem flankierenden „Am-Werk-Sein der Kraft“¹⁷² (Energeia) das Urvermögen potentieller Formentfaltung, das „Imstandesein zu…“¹⁷³ (Dynamis) nicht einbüßt. Zum anderen nähert Heidegger die Grundbewegtheit des Willens zur Macht, der eine perfektische Vorgegebenheit in der Entrückung einholt, an das bekannte Motiv des „Werde, der du bist“ aus Pindars Zweiter Pythischer Ode an.¹⁷⁴ Dieses Ethos konfrontiert sich in orientierender Absicht mit einem überlegenen Standpunkt und überwindet in der Verfolgung des Vorausentworfenen markante Fährnisse. Aus der erreichten Höhenlage vermag es den gewonnenen Erfahrungsschatz zu überschauen und lernt darin das eigene Wesen in unverstellter Authentizität kennen. Dies mündet weder in eine Stagnation vollendeter Charaktererkenntnis ein noch motiviert es zu einer ungehinderten Ausweitung sukzessive anzueignender Willensziele. Auf diese Weise versöhnt Heidegger unter dem Primat der Faktizität den Widerstreit von Werden und Sein. Paradigmatisch für Heideggers Analyse des Willens zur Macht ist, dass er die Ektase der Zukunft und damit die im Möglichkeitsentwurf erschlossene EndMetaphysische Interpretation eines Anti-Metaphysikers, in: Dieter Thöma (Hrsg.), HeideggerHandbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 177 f.  Vgl. Heidegger, N I, S. 61– 62. Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX. Buch, 1047b-1051a, Stuttgart 2000, S. 226 – 238.  Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B, 1, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2003, S. 282.  Heidegger, N I, S. 61.  Heidegger, N I, S. 61.  In seiner Zweiten Pythischen Ode hat Pindar diesen Satz an den Sieger im Wagenrennen, Hiero, gerichtet, dem die Ode gewidmet ist. Zu beachten ist Hölderlins Übersetzung mit „Werde welcher du bist erfahren“ (vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke Bd. 2, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 2008, S. 723). Vgl. zu Pindar und Heidegger besonders das Kapitel Heidegger, Hölderlin und die Griechen, in: Michael Theunissen, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, 2. Aufl., München 2002, S. 925 – 943.Vgl. außerdem zu Heideggers Rezeption des „Werde, der du bist“-Motivs: Heidegger, Sein und Zeit, §41, S. 199: „Die perfectio des Menschen, das Werden zu dem, was er in seinem Freisein für seine eigensten Möglichkeiten (dem Entwurf) sein kann, ist eine ‚Leistung‘ der ‚Sorge‘.“

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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lichkeit¹⁷⁵ gegenüber der in der Zeitdimension der Gewesenheit wurzelnden Befindlichkeit zurückbeordert. Letztere verdeutlicht im charakteristischen Zurückbringen auf… die Unausweichlichkeit welteröffnender Gestimmtheit.¹⁷⁶

1.2.2 Zur Etablierung des Willens zur Macht als Grund des gestimmt-affektiven Weltbezuges Die Anbindung an Sein und Zeit lässt sich besonders gut anhand der Differenzierung zwischen der ursprünglichen Basis jeglichen emotionalen Impulses und der Affekt, Leidenschaft und Gefühl einbehaltenden Trias veranschaulichen. Als Einstieg in Nietzsches vielfältige Fassungsversuche des Willens wählt Heidegger den Aphorismus Nr. 688 aus der Kompilation Der Wille zur Macht: Meine Theorie wäre: – daß der Wille zur Macht die primitive Affekt-Form ist, daß alle andern Affekte nur seine Ausgestaltungen sind.¹⁷⁷

Neben der Privilegierung als Ur-Affekt bespricht Heidegger die als gleichberechtigt eingeschätzten Bestimmungen als Leidenschaft und als Gefühl. ¹⁷⁸ Indem Heidegger den Willen zur Macht als ursprüngliches Agens ihrer facettenreichen Verzweigungen benennt, gewinnt er einen meta-physischen Zugang zur Natur der Empfindungen. Dieser erlaubt ihm eine Diskussion jenseits physiologisch ableitbarer Leibzustände und psychologisch zu dechiffrierender, irrationaler Gefühlsdispositionen. Dennoch kann nicht bestritten werden, dass Heideggers Reflexionen über diesen Themenkomplex eine personale und lebendige Möglichkeit des Nachvollzuges eröffnen. In den folgenden Jahren wird Heidegger die im menschlichen Weltbezug zu registrierenden Stimmungen aus der Strukturbeschreibung des Willens zur Macht ausschließen und seine eigene, positiv bestimmte Variante des Willens in die Grundstimmung der Verhaltenheit integrieren. In den Beiträgen zur Philosophie etabliert Heidegger die Verhaltenheit als Denkhaltung der „Offenheit für die verschwiegene Nähe der Wesung des Seyns“¹⁷⁹, die sich als ausdauernder Wille im Erschrecken herauskristallisiert und

 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §65, S. 330.  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §68, S. 340.  Heidegger, N I, S. 39. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 688, S. 465. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[121].  Vgl. Heidegger, N I, S. 40 ff.  Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2003, S. 35.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sich als „stimmende Mitte“¹⁸⁰ zwischen Erschrecken und Scheu positioniert. Das Erschrecken, weit davon entfernt, sich einem nicht-wollenden, ruhenden Willen anzugleichen, setzt sich der Bedrängnis durch das abwesende, sich entziehende Seyn aus. Sich dem bislang Unbedacht-Übergangenen zukehrend, wird es eines Bezuges gewahr, der umso nötigender und nötiger wird, je mehr das Seyn an sich hält und sich seiner Ankunft im Seienden versagt. Zu beachten ist, dass Heidegger eine ostentative Identifikation des Erschreckens und der Verhaltenheit mit dem Willen wählt und sich zugleich von einer solchen Angleichung distanziert, indem er den Begriff „Wille“ in Anführungszeichen setzt: Doch dieses Erschrecken ist kein bloßes Zurückweichen und nicht das ratlose Aufgeben des ‚Willens‘, sondern, weil in ihm gerade das Sichverbergen des Seyns sich auftut und das Seiende selbst und der Bezug zu ihm bewahrt sein will, gesellt sich zu diesem Erschrecken aus ihm selbst sein ihm eigenster ‚Wille‘, und das ist jenes, was hier die Verhaltenheit genannt wird.¹⁸¹

Darüber hinaus nimmt in der Umwertung der Stimmungen die Scheu eine eminente Rolle ein.¹⁸² Berücksichtigt man den semantischen Kontrast zwischen der Scheu und der Verhaltenheit auf der einen Seite und der Entschlossenheit, der Leidenschaft und dem Affekt auf der anderen Seite, erscheint die These vertretbar, dass Heidegger die offensive und ausgreifende Stoßrichtung der Stimmungen bereits viel früher kritisch betrachtete, als es die Aufeinanderfolge der NietzscheVorlesungen nahelegt. Heidegger erhebt die Scheu in den nahezu zeitgleich mit der ersten Nietzsche-Vorlesung verfassten Beiträgen zur Philosophie dahingehend, dass sie durch das Seyn selbst gestimmt werde und unterstreicht auf diese Weise die Dependenz der Stimmungsevokation.¹⁸³ Die Scheu wird vom Seyn animiert, es erschweigend (als Gewinnung eines Standes, der das Sich-Nahe-bringen zulässt) wesen zu lassen. Als „Gründer und Wahrer der Wahrheit des Seyns“¹⁸⁴ soll das Dasein das zum Stillstand gekommene Verhältnis zum Seienden, das vornehmlich durch die Subjekt-Objekt-Struktur bestimmt wird, in einen schöpferischen Umgang verwandeln. Diese ostensible Differenz in der Beurteilung und Herleitung der Stimmungen kann als wichtiger Erklärungsgrund für Heideggers spätere Kritik an Nietzsche betrachtet werden.

    

Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 17. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 15. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 17. Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 21. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 16.

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Heidegger bringt in der Folge den anhand des Zorns exemplifizierten Affekt in eine Gegenstellung zur musterhaften Leitkennzeichnung des Willens als ungebrochene Identität von Befehlendem und Gehorchendem.¹⁸⁵ Der Affekt überfällt den Wollenden plötzlich mit unberechenbarer Gewalt und entreißt ihn seiner Selbstbeherrschung. Heidegger fasst diesen desorientierenden Einbruch terminologisch als „Un-willen“.¹⁸⁶ In der über sich hinweggehenden Dynamik besitzt er zwar eine Gemeinsamkeit mit dem übergeordneten Willen; aufgrund seiner Ziellosigkeit schneidet er sich jedoch selbst von einem identitätsstiftenden Rückbezug und einer sphärendurchschreitenden Ankunft ab. In den Jahren 1936/1937 sucht Heidegger diejenigen den Willen zur Macht betreffenden Nachlassaufzeichnungen, die er aufgrund des apodiktischen Gestus als lichtvolle Schlüsselstellen beurteilt, noch mit eigenen, anderslautenden Deutungstendenzen zu versöhnen. Dies manifestiert sich besonders in der Behandlung der Affektproblematik, für die das Moment des besinnungslosen „Anfalls“¹⁸⁷ konstitutiv bleibt. Heidegger geht in diesem Kontext sogar so weit, den Willen zur unabweislichen Ermöglichungsbedingung einer Eingelassenheit in das Seiende zu erheben, die den Gesamtzusammenhang zugleich transzendiert. Obwohl er die ekstatische Freiheit des Da-Seins seit der Kehre, d. h. seit dem zum ersten Mal im Jahre 1930 gehaltenen Vortrag Vom Wesen der Wahrheit ¹⁸⁸ aus einer entborgenen Offenheit herleitete, spricht Heidegger dem Willen das Vermögen zu, in den offenen Raum des Hinausgangs zu weisen: Der Wille zur Macht ist die ursprüngliche Affekt-Form. Doch Nietzsche will nun offenbar auch das andere Moment des Affekts mit für die Wesenszeichnung des Willens beiziehen, jenes Anfallende und uns Befallende im Affekt. Auch dieses und gerade dieses gehört in einem freilich vielfach sich wandelnden Sinne zum Willen. Das ist nur möglich, weil der Wille selbst – mit Bezug auf das Wesen des Menschen gesehen – der Anfall schlechthin ist, der es überhaupt macht, daß wir, ob so oder so, über uns hinaus sein können und es ständig auch sind.¹⁸⁹

 Vgl. Heidegger, N I, S. 42– 43.  Heidegger, N I, S. 43.  Heidegger, N I, S. 43.  Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 185 – 186: „Wie allein kann dergleichen wie die Leistung der Vorgabe einer Richte und die Einweisung in ein Stimmen geschehen? Nur so, daß sich dieses Vorgehen schon freigegeben hat in ein Offenes für ein aus diesem waltendes Offenbares, das jegliches Vorstellen bindet. Das Sich-freigeben für eine bindende Richte ist nur möglich als Freisein zum Offenbaren eines Offenen.“  Heidegger, N I, S. 43.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die zweite stimmungsartige Bestimmung des Willens, die Leidenschaft, teilt mit dem Affekt die Unbeeinflussbarkeit und Plötzlichkeit des Eintretens.¹⁹⁰ Allerdings gibt es einen gewichtigen Unterschied: Um die charakteristische Dauerhaftigkeit und konzentrierte Ausrichtung auf ein Objekt oder eine bestimmte Person zu entfalten, müssen die stärksten Leidenschaften, Liebe und Hass, schon langhin subkutan angelegt und schrittweise genährt worden sein.¹⁹¹ Diese Ausfaltung einer Zielrichtung entkleidet Heidegger ihrer singulären Perspektivierung. Er wendet den Verständnisschwerpunkt auf das in der Leidenschaft thematische Weltverhältnis, das er als „hellsichtig sammelnde[n] Ausgriff in das Seiende“¹⁹² begreift. Weil in der freistellenden Umkreiserweiterung auch das haltgebende Fußfassen im „eigentlichen Grund“¹⁹³ des eigenen Wesens mitgedacht werden soll, scheint sich in der Präzisierung der Leidenschaft die Hauptlinie der Willensauslegung zu reproduzieren. In diesem Kontext zeichnet Heidegger allerdings zwei zusätzliche Merkmale in die Figur der mit dem „großen Willen“¹⁹⁴ konvergierenden „großen Leidenschaft“¹⁹⁵ ein, die einem abgeschiedenen Entschlossenheitspathos oder gar einer weltaneignenden Einschlussbewegung diametral entgegengesetzt sind. Er charakterisiert die genuine Leidenschaft erstens als überlegene Haltung gönnerhafter Souveränität, die aufgrund ihres überquellenden Naturells nicht dazu genötigt ist, ihre Wesenszüge in das Entdeckte einzuprägen oder es zu okkupieren. Deswegen kann sie sich zweitens verschenken und verschwenden.¹⁹⁶ Dass das Mehr-Wollen als Ausdruck einer großmütigen Machtbezeugung verstanden werden kann, ohne es mit einem permanenten Überhöhungszwang zu assoziieren, wird von Heidegger eindrucksvoll unterstrichen: Wille ist nur Wille als Über-sich-hinaus-wollen, als Mehr-Wollen. Der große Wille hat mit der großen Leidenschaft jene Ruhe des langsamen Sichbewegens gemeinsam, die schwer antwortet, schwer reagiert, nicht aus Unsicherheit und Schwerfälligkeit, sondern aus der weit ausgreifenden Sicherheit und der inneren Leichtigkeit des Überlegenen.¹⁹⁷

 Vgl. Heidegger, N I, S. 44– 46.  Vgl. Heidegger, N I, S. 44.  Heidegger, N I, S. 45.  Heidegger, N I, S. 45.  Heidegger, N I, S. 46.  Heidegger, N I, S. 46.  Vgl. Heidegger, N I, S. 45 – 46. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von der schenkenden Tugend, KSA 4, S. 99: „Wenn euer Herz breit und voll wallt, dem Strome gleich, ein Segen und eine Gefahr den Anwohnenden: da ist der Ursprung eurer Tugend.Wenn ihr erhaben seid über Lob und Tadel, und euer Wille allen Dingen befehlen will, als eines Liebenden Wille: da ist der Ursprung eurer Tugend.“  Heidegger, N I, S. 46.

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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Der Gehalt dieses Textabschnittes ist zweischneidig. Er kann durchaus als Präludium der Heideggerschen Besinnung auf die Gelassenheit gelesen werden. Gleichwohl klingt hier ein Grundmotiv der späteren Willenscharakterisierung an: Der Wille wird trotz des vermeintlichen Warten-Könnens und trotz aller Generosität den ihm geeignet erscheinenden Reaktionsmodus definitiv bekunden. Die Zeitphasen seines Zugriffes können sich verzögern, da die Unentrinnbarkeit des Zieles sowie die zu bevorzugende Handlungsabsicht präfixiert sind. Weil Heidegger darauf abzielt, das Gefühl als dritte, eigenständige Stimmungsart des Willens zu etablieren, erteilt er der relationalen Bündelung von Affekt und Leidenschaft unter dem Gattungsbegriff des Gefühls eine Absage.¹⁹⁸ Die kritische Bewährungsprobe für diese Interpretation wird durch zwei Aussagen Nietzsches bezeichnet, die Heidegger in unmittelbarer Aufeinanderfolge zitiert: Wollen: ein drängendes Gefühl sehr angenehm! Es ist die Begleit-Erscheinung alles Ausströmens von Kraft. ¹⁹⁹ Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit – (– es [das Lebende] strebt nicht nach Lust: sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht –).²⁰⁰

Während Nietzsche in einigen Nachlassfragmenten und besonders im Aphorismus Nr. 36 von Jenseits von Gut und Böse eine hypothetische Beschreibung des Willens als innerer Verzweigungsgrundlage der Kraft offeriert, deren Spezifität

 Vgl. Heidegger, N I, S. 46.  Heidegger, N I, S. 46 – 47. Nietzsche ergänzt im unmittelbaren Anschluss: „ …ebenso schon alles Wünschen an sich (ganz abgesehen vom Erreichen)…“ Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1883– Sommer 1883, KGW VII, 1, 7 [226], S. 320.  Heidegger, N I, S. 47. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 688, S. 465. Vgl. den Kontext der Originalstelle, in deren Rahmen Nietzsche sehr wohl den Vorrang der „treibenden Kraft“ des Willens zur Macht gegenüber der Lust betont, sodass sich Heideggers Einrede, Nietzsche setze das Wollen und die Lust schlichtweg gleich, als verkürzend und unrichtig enthüllt: Nietzsche, NF1888,14[121]: „Daß es eine bedeutende Aufklärung giebt, an Stelle des individuellen ‚Glücks‘ nach dem jedes Lebende streben soll, zu setzen Macht: ‚es strebt nach Macht, nach Mehr in der Macht‘ – Lust ist nur ein Symptom vom Gefühl der erreichten Macht, eine Differenz-Bewußtheit – es strebt nicht nach Lust, sondern Lust tritt ein, wenn es erreicht, wonach es strebt: Lust begleitet, Lust bewegt nicht… Daß alle treibende Kraft Wille zur Macht ist, das es keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem giebt…“ Vgl. zur Verknüpfung von Wollen, Befehl und Lust auch: Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1886, KGW VIII,1, 1 [44], S. 16: „Den Gehorsam gegen den eigenen Willen nennt man nicht Zwang: denn es ist Lust dabei. Daß du dir selber befiehlst, das heißt ‚Freiheit des Willens‘.“ Vgl. den von Knut Ebeling verfassten Beitrag zum Stichwort ‚Lust‘, in: Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Sonderausgabe, Stuttgart / Weimar 2011, S. 278 – 279.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

und Bestimmtheit sich in der Abstoßung anderer Kräfte konstituiert,²⁰¹ wird das Wollen nach Heidegger in der ersten Aufzeichnung als akzessorischer Seismograph einer gelingenden Kraftentäußerung benannt. Der Drang fungiert in diesem Zusammenhang nicht als Triebfeder, auf die eine entsprechende Tat folgte. Er ist vielmehr eingebunden in eine Machtdynamik, die durch eine zentripetale Bewegung gekennzeichnet ist. Sie kehrt von dem Signum gesteigerter Präsenz in sich selbst zurück, wobei erst das „drängende Gefühl“²⁰² die Tragweite der Kraftemanation erschließt. Heidegger folgert aus der symmetrischen Struktur des ersten und des zweiten Zitats – dem primären Vorgang des Machterwerbs werden innere Modi der Veranschaulichung desselben untergeordnet – eine Gleichsetzung des als angenehme Gefühlsverdichtung gefassten Wollens mit dem Lustgefühl: Darnach ist der Wille nur eine ‚Begleit-Erscheinung‘ des Ausströmens von Kraft, ein begleitendes Lustgefühl? Wie reimt sich dies mit dem zusammen, was im ganzen über das Wesen des Willens und im einzelnen aus dem Vergleich mit Affekt und Leidenschaft gesagt wurde? Dort erschien der Wille als das eigentlich Tragende und Herrschende, gleichbedeutend mit dem Herrsein selbst; jetzt soll er zu einem anderes nur begleitenden Lustgefühl herabgesetzt werden? An solchen Stellen sehen wir deutlich, wie unbekümmert Nietzsche noch hinsichtlich einer einheitlich begründeten Darstellung seiner Lehre ist.²⁰³

Die konstatierte Angleichung von Lust und Willen führt Heidegger auf Nietzsches leichtfertige Darstellungsweise und den Einfluss der zeitgenössischen Naturwissenschaften zurück.²⁰⁴ Da er Nietzsche die befremdliche Ontologisierung des lustanzeigenden Willensaspektes nicht zutraut und dennoch an einer metaphysischen Auslegung des Willens zur Macht festhalten möchte, die sich mit einer differenzierten Ursprungstheorie der Affekte vereinigen lässt, droht die einheit-

 Vgl. z. B. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, 14 [121], S. 92. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 36, KSA 5, S. 55: „Gesetzt endlich, daß es gelänge, unser gesammtes Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es mein Satz ist –; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschafft, alle wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als: Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intelligiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben ‚Wille zur Macht‘ und nichts ausserdem.“ Vgl. zu diesem Passus: Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, S. 59 – 68.  Heidegger, N I, S. 48.  Heidegger, N I, S. 47.  Vgl. Heidegger, N I, S. 47.

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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lich-einzige Exposition des Wesenswillens zu scheitern.²⁰⁵ Um sein Auslegungsparadigma zu retten, erhebt Heidegger das die Lust einschließende Gefühl – und somit den Willen – zu derjenigen Instanz, die das Selbstverhältnis des Menschen stiftet, indem sie ihn in der Bezugnahme auf das Seiende verschiedenartig durchzieht. Dabei verlagert er die in der philosophischen Tradition dominierenden Weisen der Welterschließung, das Denken und das Wollen, in eine übergreifende Einheit, deren Zusammenhalt von Seiten des Gefühls arrangiert wird: ‚Wollen, ein drängendes Gefühl, sehr angenehm!‘ Ein Gefühl ist die Weise, in der wir uns in unserem Bezug zum Seienden und damit auch zugleich in unserem Bezug zu uns selbst finden; die Weise, wie wir uns zumal zum Seienden, das wir nicht sind, und zum Seienden, das wir selbst sind, gestimmt finden. Im Gefühl eröffnet sich und hält sich der Zustand offen, in dem wir jeweils zugleich zu den Dingen, zu uns selbst und zu den Menschen mit uns stehen. Das Gefühl ist selbst dieser ihm selbst offene Zustand, in dem unser Dasein schwingt. Der Mensch ist nicht ein denkendes Wesen, das auch noch will, wobei dann außerdem zu Denken und Wollen Gefühle hinzukommen, sei es zur Verschönerung oder Verhäßlichung, sondern die Zuständlichkeit der Gefühle ist das Ursprüngliche, aber so, daß zu ihm Denken und Wollen mitgehören. Wichtig ist jetzt nur, zu sehen, daß das Gefühl den Charakter des Eröffnens und des Offenhaltens und deshalb auch je nach seiner Art den des Verschließens hat.²⁰⁶

Diese Charakterisierung des Gefühls wirft die Frage auf, ob das hier offenkundig in seiner personalen Einbettung verstandene Wollen, das gemeinsam mit dem Denken auf die gewährende Offenheit der grundierenden Gestimmtheit angewiesen ist, zum Derivat der gefühlsartigen Vollkommenheitsform des Willens herabgesetzt wird. Heidegger reagiert darauf mit einer Neudefinition des Verhält-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 47– 49. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 9 [51], S. 82: „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, –… Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An-und-Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander.“ Vgl. im Gegensatz zu dieser aus einer gescheiterten Überwältigung geborenen Entzweiung des Willens zur Macht Nietzsches Bewertung der Ausdifferenzierung als Ausdruck zunehmender Stärke: Nietzsche, NF Juni–Juli 1885, KGW VII, 3, 36 [21]: „Das Schwächere drängt sich zum Stärkeren, aus Nahrungsnoth; es will unterschlüpfen, mit ihm womöglich Eins werden. Der Stärkere wehrt umgekehrt ab von sich, er will nicht in dieser Weise zu Grunde gehen; vielmehr, im Wachsen, spaltet er sich zu Zweien und Mehreren. Je größer der Drang ist zur Einheit, um so mehr darf man auf Schwäche schließen; je mehr der Drang nach Varietät, Differenz, innerlichem Zerfall, um so mehr Kraft ist da. Im Wachsen spaltet sich der Stärkere zu Zweien und Mehreren.“  Heidegger, N I, S. 48.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

nisses von Willen und Wollen. Diese trägt Heidegger im Rekurs auf den wesensbezeichnenden, beständigen Selbstüberstieg vor, wobei der sich selbst offenhaltende Wille das Gefühl wieder substituiert: Wenn der Wille aber ist: Über-sich-hinaus-Wollen, so liegt in diesem Über-sich-hinaus, daß der Wille nicht einfach über sich hinweggeht, sondern sich mit in das Wollen hineinnimmt. Daß der Wollende sich in seinen Willen hinein will, das besagt: im Wollen wird das Wollen selbst und in eins damit der Wollende und das Gewollte sich offenbar. Im Wesen des Willens, in der Ent-schlossenheit, liegt, daß er selbst sich erschließt, also nicht erst durch ein dazukommendes Verhalten, durch ein Beobachten des Willensvorganges oder ein Nachdenken darüber, sondern der Wille selbst hat den Charakter des eröffnenden Offenhaltens.²⁰⁷

Diese Exposition weicht in einigen Nuancen von der anfänglichen Konstellationsbestimmung des Wollens ab, in der dieses das Wollende und das Gewollte je schon zusammengenommen hatte. Die Autarkie eines Wollens fungiert hier nicht als Ausgangsgrund, der die Bezugsbahn für die in sich unterschiedene Einheit von Wollendem und Gewolltem eröffnet, um sich in dieser zu konstituieren. Vielmehr fußt das Wollen nun seinerseits auf einer vorgängigen Hineinverlagerung des Willens, der wiederum sein Wesen als Reservoir aktualisierbarer Befehlsvorgänge nur wahren kann, wenn ihm das perennierende Wollen der Überhöhung zugänglich bleibt. Während in der vormaligen Bestimmung des Wollens dessen unanfechtbare Inhärenz betont wurde, schaltet Heidegger nun eine Zwischenstufe ein, die sich in zwei Hinsichten auffächert: Zum einen muss der Wollende die Selbsthineinnahme des Willens in das Wollen in spiegelverkehrter Reihenfolge vollziehen und seinerseits auf den Willen als Quelle des Wollens zurückgehen, damit die dreifältige Struktur des Wollens beleuchtet werden kann. Heidegger plädiert dafür, dass die Ent-schlossenheit sich erst im Willen eröffne, d. h. zugleich: in ihm sich berge. Zum anderen trägt Heidegger eine Reflexivität in das Wollen ein, die nicht in einem beobachtenden, sich selbst objektivierenden Denkmodus gründet, sondern in jeder voluntativen Regsamkeit vorthematisch anwesend ist. Der Wille hat sich nicht im Verstand ein „Licht angezündet“²⁰⁸, vielmehr haben sich Wollen und

 Heidegger, N I, S. 49. Vgl. zum Verhältnis von Wille, Wollen und Nicht-Wollen in einer späteren Werkphase: Heidegger, Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen, in: Heidegger, Feldweg-Gespräche 1944/45, GA 77, hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt a. M. 1995, S. 51– 66.  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §27, S. 202: „Der Wille, der bis hieher im Dunkeln, höchst sicher und unfehlbar, seinen Trieb verfolgte, hat sich auf dieser Stufe ein Licht angezündet, als ein Mittel, welches nothwendig wurde, zur Aufhebung des Nachtheils, der aus dem Gedränge und der komplicirten Beschaffenheit eben den vollendetesten erwachsen würde.“

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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Nichtwollen selbst „ein Licht angesteckt“²⁰⁹, das die Voraussetzung bildet, den Menschen in die Helle der Umsicht hervorkommen zu lassen. Diese Hineingehaltenheit in das Seiende expliziert Heidegger nicht als auktoriale Blickposition. Indem er die Übergriffstendenz als „Sich-befinden in dem Über-sich-hinweg“²¹⁰ umschreibt, kann er sie zugleich als Wandlungsform des Drängens beschreiben, das in einer vertikalen Bezugsrichtung von dem Geronnenen wegstrebt. Heidegger legt im Anschluss daran dar, dass das durch beständige Selbsterschließung konturierte Wollen mit einer positiven Gefühlsbewertung – mit der Lust – konvergiert. Diese ist als machtausweisende „Differenz-Bewußtheit“²¹¹ auf eine Vergleichbarkeit mit einem früheren Zustand angewiesen, die sie selbst im Erwirken von Ungleichheiten hervorbringt: Was im Willen sich eröffnet, – das Wollen selbst als Ent-schlossenheit –, ist demjenigen, dem es sich eröffnet, dem Wollenden selbst, genehm. Im Wollen kommen wir uns selbst entgegen als die, die wir eigentlich sind. Wir fangen uns im Willen selbst erst auf im eigensten Wesen. Der Wollende ist als ein solcher der über-sich-hinaus-Wollende; im Wollen wissen wir uns als über uns hinaus; ein irgendwie erreichtes Herrsein über…wird fühlbar; eine Lust gibt die erreichte und sich steigernde Macht zu wissen. Deshalb spricht Nietzsche von einer ‚Differenz-Bewußtheit.‘²¹²

In seinem Anliegen, den Dualismus zwischen Vernunft und Willen aufzulösen, sucht Heidegger zugleich ein vitalistisches Verständnis des Willens zur Macht zu unterminieren, das ein einseitiges Gesamtbild der Philosophie Nietzsches evozieren könnte. Diese Prämisse der Auslegung zeigt sich auch darin, dass der Wille für Heidegger keinen undurchsichtigen Versammlungsort der „Disgregation“ und „Coordination von Antrieben“²¹³ bildet, aber sich auch nicht erst einen Verstand schaffen muss, um sich in diesem als seinem Spiegel selbst zu betrachten. Da er sich in seinem selbständigen Aufwärtsgang in seiner vielgliedrigen Ganzheit gewinnt und sich sein Wesen entgegenhält, birgt jedes einzelne Wollen eine orchestrierende „Mehrheit von Gefühlen“.²¹⁴ Durch die Gründung der Gefühlsent[Von mir kursiv, J.K.] Vgl. hierzu auch Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 19, S. 234.  Vgl. Heidegger, N I, S. 49.  Heidegger, N I, S. 49.  Heidegger, N I, S. 49.Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, 14 [81], S. 52: „Wir wissen eine Veränderung nicht abzuleiten, wenn nicht ein Übergreifen von Macht über andere Macht statt hat.“  Heidegger, N I, S. 49.  Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, 14 [219], S. 186.  Heidegger, N I, S. 50. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 19, S. 32: „[…] in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes von dem

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faltung im Willen, die prismenartig in jedem wollenden Effekt zum Vorschein kommt, kann Heidegger eine Konzeption des Willens präferieren, der die Eigenschaften des sei es primären, sei es hinzutretenden Verstandes im Medium der anhaltenden Selbstthematisierung zu ersetzen vermag. Die seine holistische Auslegungsabsicht fundierende These einer Verflechtung von Denken und Wollen in jedem dem Grundwillen entsprossenen Gefühl wirft allerdings eine Reihe von Frage auf. So bleibt in der bisherigen Verhältnisbestimmung unklar, ob der Verstand im Sinne Schellings als überlegene, aber unabtrennbare Willensinstanz in den ersten Willen eingesenkt ist.²¹⁵ Zudem ist zu bezweifeln, ob das in der Konfrontation mit sich selbst das All lichtende Wesen des Willens und die Bestimmung des Wollens als Ent-schlossenheit allein suffizient sind, um die Bandbreite kognitiver Welterfahrung abzubilden. Der neuralgische Punkt wird daher nicht unbedingt durch die Eingliederung der emotionalen Grundhaltungen in ein metaphysisches Prinzip repräsentiert. Problematisch ist vielmehr der mit dem neuzeitlichen Voluntarismus geteilte Supremat des Willens, sofern in ihn bislang dem Denkvermögen vorbehaltene Merkmale eingezeichnet werden sollen. Weil Heidegger die Affektivität ihrer emotionalen Oberfläche entkleidet und als Erscheinungsform des Machtwillens deutet, kann er die mit Nietzsche akzentuierte Vorrangstellung des Begehrens gegenüber der Vorstellung – die geeint zum Grundcharakter des Seienden werden – in einer philosophiegeschichtlichen Besinnung bis auf Aristoteles zurückverfolgen.²¹⁶ Dies geschieht in dem kurzen Abschnitt Die idealistische Deutung der Willenslehre Nietzsches. ²¹⁷

weg, das Gefühl des Zustandes zu dem hin, das Gefühl von diesem ‚weg‘ und ‚hin‘ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir ‚Arme und Beine‘ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir ‚wollen‘, sein Spiel beginnt.“  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 363: „Das Prinzip, sofern es aus dem Grunde stammt und dunkel ist, ist der Eigenwille der Kreatur, der aber, sofern er noch nicht zur vollkommenen Einheit mit dem Licht (als Prinzip des Verstandes) erhoben ist (es nicht faßt), bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille ist. Diesem Eigenwillen der Kreatur steht der Verstand als Universalwille entgegen, der jenen gebraucht und als bloßes Werkzeug sich unterordnet.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 52– 54.  Vgl. Heidegger, N I, S. 51– 55.

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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1.2.3 Die Profilierung des Willensidealismus und die Eingliederung der Vorstellung in den Willen Nietzsches Philosophie erscheint auch in diesem Abschnitt nicht als sich verstrickende Umkehrung des Platonismus, sondern als sachgerechte Anknüpfung an das aristotelische Ordnungsgefüge von Orexis, Psyche und Noesis. In einem ersten Schritt grenzt Heidegger den Willen und den bloßen Drang voneinander ab. Das Drängen versteht Heidegger an dieser Stelle nicht mehr als Anzeige einer Kraftemanation, sondern als das tierische Streben (z. B. nach Nahrung), das nicht um die Als-Struktur des Erstrebten weiß. Das auszeichnende Kriterium des Wollens muss folglich darin liegen, das Gewollte zum Gesichtspunkt einer Abwägung machen zu können und es dergestalt mit vor-zustellen. Dabei gibt ein ungebundenes Vor-Stellen dem Begehren nicht erst die Objekte einer möglichen Affinität oder Ablehnung vor. Heidegger versucht umgekehrt den Nachweis zu erbringen, dass bereits bei Aristoteles das Begehren als vorgängiges Auswahlorgan markiert wird: Aber dies heißt niemals, das Wollen sei eigentlich ein Vorstellen, so zwar, daß zum Vorgestellten noch ein Streben darnach hinzukomme, sondern es ist umgekehrt.²¹⁸

Diese Umkehrung darf freilich auch nicht so aufgefasst werden, als träte nachträglich ein Vorstellen hinzu, welches das Begehrte in die Klarheit des Bewusstseins überführte. Heidegger definiert eine Willenslehre als idealistisch, sofern sie lehrt, dass der Wille „im Wesen ein Vorstellen“²¹⁹ und darin durch „Ideen bestimmt“²²⁰ sei. Der adäquate Begriff des Willens schließt demnach denjenigen der Vorstellung ein. Um zu zeigen, in welchem Ausmaße sich der so verstandene Idealismus in nahezu allen abendländischen Willensentwürfen wiederfindet, zitiert Heidegger die seines Erachtens maßgebende Bestimmung des Willens aus Aristoteles’ De anima: Auch das Begehren, jedes, hat sein Weswegen; wessen nämlich das Begehren ist [worauf es geht], das ist dasjenige, von woher der überlegende Verstand als solcher sich bestimmt; das Äußerste ist dasjenige, von woher sich das Handeln bestimmt. Daher zeigen sich diese beiden mit gutem Grund als die Bewegenden, Begehren und überlegender Verstand; denn das im Begehren Begehrte bewegt, und der Verstand, das Vorstellen, bewegt nur deshalb, weil er sich das im Begehren Begehrte vorstellt.²²¹

   

Heidegger, N I, S. 52. Heidegger, N I, S. 52-S. 53. Heidegger, N I, S. 53. Heidegger, N I, S. 53. Vgl. Aristoteles, De anima 433a, III. Buch, 10. Kapitel.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Dieser Textausschnitt lässt zweifelsohne eine Lesart zu, die eine deutliche Unterscheidbarkeit von Begehrungsvermögen und Vorstellen im Hinblick auf ihre Rangfolge als menschliche Bewegungsursachen prononciert. Allerdings ließe sich daraus auch die Unmöglichkeit einer wechselseitigen Überführbarkeit, einer Aufhebung im Wesen des je anderen Elements, folgern. Darüber hinaus scheint sich das Begehren in einem Einwirkungskreis zu situieren, in dessen nachvollziehender Vorstellung sich der überlegende Verstand allererst konstituiert. Heidegger gewinnt hingegen aus der Passage den abzulehnenden Begriff eines Idealismus, gegen den er seine (und Aristoteles’) Konzeption einer idealistischen Willenslehre abgrenzt. Der verfehlte Idealismus kehrt die Rangfolge um und erhebt die Vorstellung zum Movens des Begehrens, während sie für Heidegger als nachrangige und doch begleitende Sublimierungsinstanz fungiert. Als Wissendes im Willen erwirkt die Vorstellung die konturierende Aufnahme des willentlich Erschlossenen: Wenngleich das Vorstellen den Willen als Begehrungsvermögen gegenüber der bloßen blinden Strebung abhebt, gilt das Vorstellen nicht als das eigentlich Bewegende und Wollende im Willen. Nur eine Auffassung des Willens, die in diesem Sinne dem Vorstellen, der ἰδέα, einen unberechtigten Vorrang zuwiese, könnte als idealistisch bezeichnet werden. In der Tat finden sich solche Auffassungen. Im Mittelalter neigt Thomas v. Aquin zu einer so gerichteten Auslegung des Willens, obwohl auch bei ihm die Frage nicht so eindeutig entschieden ist.²²²

Demgegenüber stützt Heidegger die favorisierte Einzeichnungsrichtung des Vorstellens in den grundlegenden Willen, indem er auf die von Leibniz gedachte Identität, d. h. die ungeschiedene, gemeinsame Wirkungsweise von perceptio und appetitus im Handeln (agere) und auf Kants Exposition des Willens als Befolgungsgrund für das im Sittengesetz Geforderte hinweist: Für Leibniz ist das agere, Tun, die perceptio und der appetitus in einem; perceptio ist ἰδέα, Vorstellen. Für Kant ist der Wille dasjenige Begehrungsvermögen, das nach Begriffen wirkt, d. h. so, daß dabei das Gewollte selbst als ein im allgemeinen Vorgestelltes für die Handlung bestimmend ist.²²³

 Heidegger, N I, S. 53 – 54.  Heidegger, N I, S. 53. Vgl. Leibniz, Monadologie, §15, S. 117: „Die Handlung des inneren Prinzips, das die Veränderung oder den Übergang einer Perzeption zu einer anderen vollzieht, kann Appetition genannt werden. Zwar kann die Appetition nicht immer gänzlich zu der angestrebten ganzen Perzeption gelangen, aber sie erreicht immer etwas und gelangt zu neuen Perzeptionen.“ Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Von der Deduktion der Grundsätze, S. 53: „Gleichwohl sind wir uns durch die Vernunft eines Gesetzes bewußt, welchem, als ob durch unseren Willen zugleich eine Naturordnung entspringen müßte, alle unsere Maximen unter-

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In der Demarkation der Vorstellungsunterlegenheit gegenüber dem Begehren sieht sich Heidegger in bester Gesellschaft. Dies unterstreicht die folgende Generalthese unmissverständlich: Im ganzen gesehen, haben die großen Denker niemals in der Auffassung des Willens der Vorstellung den ersten Rang zugewiesen.Versteht man unter einer idealistischen Auffassung des Willens jede Auffassung, die überhaupt das Vorstellen, das Denken, das Wissen, den Begriff als wesentlich zugehörig zum Willen betont, dann ist allerdings die Willensauslegung des Aristoteles idealistisch; insgleichen auch diejenige von Leibniz, von Kant, aber dann auch diejenige von Nietzsche.²²⁴

Indem Heidegger auch Nietzsche in diese Linie einreiht, erreicht er sein eigentliches Ziel: Die Freilegung einer idealistischen, d. h. weder biologistischen noch rein emotionsbasierten Theorie des Willens. Geschickt inszeniert Heidegger die Vereinbarkeit der Nietzscheschen Willensklassifikationen als sich übersteigendes Mehr-Wollen, als Befehl, als Mehrheit von Gefühlen und als begehrensimmanente Vorstellung, indem er die vormals zurückgehaltene Fortsetzung des Zitats aus Jenseits von Gut und Böse anfügt: Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken: in jedem Willensakte gibt es einen kommandierenden Gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ‚Wollen‘ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe!²²⁵

Es ist darauf zu achten, dass Nietzsche keine Indifferenz zwischen dem Willensakt und dem Gedanken als solchem behauptet. Nietzsche konzipiert eine agonale Konkurrenz verschiedener Antriebe, die schließlich von einem sich durchsetzenden Gedanken domestiziert und zu einem kohärenten Wollen geformt werden.²²⁶ Dieser Kommando-Gedanke²²⁷ leitet nicht nur den Fokus des Wollens, er

worfen sind. Also muß dieses die Idee einer nicht empirischen-gegebenen und dennoch durch Freiheit möglichen, mithin übersinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in praktischer Beziehung, objektive Realität geben, weil wir sie als Objekt unseres Willens als reiner vernünftiger Wesen ansehen.“  Heidegger, N I, S. 54. Schopenhauer betrachtet es hingegen als „Grundirrthum“ aller Philosophen vor ihm, den Willen aus dem Erkennen hervorgehen zu lassen und auf diese Weise „das Accidenz zur Substanz“ zu machen. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 19, S. 239 – 240.  Heidegger, N I, S. 54. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 19, S. 32.  Vgl. dazu auch: Nietzsche, NF Herbst 1885–Frühjahr 1886, KGW VIII, 1, 1 [28], S. 13: „– alle Bewegungen sind Zeichen eines inneren Geschehens; und jedes innere Geschehen drückt sich aus

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

offenbart sich in der Selbstanschauung vielmehr als dieses selbst. Aufgrund dieser Einbindung des Denkens als gliedernde Krisis innerhalb der ansonsten undurchdringlichen, „complicirten“²²⁸ Tiefendimension des Willens kann das Vorstellen weder als Substrat noch als Hervorbringungsinstanz von Motiven fungieren, auf die der Wille in seinem Akt reagierte. Gleichwohl betont Heidegger zu Recht, dass Nietzsche den Willen nicht als per se irrational begreift. Von einer Indienstnahme des Verstandes kann in dem obigen Abschnitt tatsächlich keine Rede sein. Heidegger nutzt diesen Sachverhalt, um Nietzsche an den Deutschen Idealismus anzuschließen und diesen zugleich auf Nietzsche zulaufen zu lassen.²²⁹ Die zu bewältigende Hürde für eine solche Auslegung bildet dabei die Schellingsche Verdopplungsfigur eines sich aus dem Willen als eigensüchtigem, dunklem Grund herausschälenden Licht-Willens, der als Wille im Willen gleichbedeutend ist mit dem Verstand.²³⁰ Heidegger setzt den Verstandesbegriff des Deutschen Idealismus mit dem Topos des Wissens gleich und versteht dieses als aus einem Befehl resultierende „Eröffnung zum Sein, das ein Wollen ist“.²³¹ Weil er die Schlüssel-

in solchen Veränderungen der Formen. Das Denken ist noch nicht das innere Geschehen selber, sondern ebenfalls nur eine Zeichensprache für den Machtausgleich von Affekten.“  Vgl. zum Topos des Kommandos: Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 370, S. 621: „ – und mein Blick schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Täter, vom Ideal auf Den, der es nöthig hat, von jeder Denk- und Werthungsweise auf das dahinter kommandirende Bedürfnis.“  Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 19, KSA 5, S. 32: „Wollen scheint mir vor allem etwas Complicirtes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, – und eben in Einem Worte steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophien Herr geworden ist.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 54– 55.  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 359 – 360: „Wollen wir uns dieses Wesen menschlich näher bringen, so können wir sagen: es sei die Sehnsucht, die das ewige Eine empfindet, sich selbst zu gebären. Sie ist nicht das Eine selbst, aber doch mit ihm gleich ewig. Sie will Gott, d. h. die unergründliche Einheit gebären, aber insofern ist in ihr selbst noch nicht die Einheit. Sie ist daher für sich betrachtet auch Wille; aber Wille in dem kein Verstand ist und darum auch nicht selbstständiger und vollkommener Wille, indem der Verstand eigentlich der Wille in dem Willen ist.“ [von mir kursiv, J.K.]  Heidegger, N I, S. 55. Dass Heideggers These, im Deutschen Idealismus ereigne sich ein Zusammenschluss von Sein und Willen, durchaus berechtigt ist, kann besonders im Hinblick auf Schellings Spätphilosophie untermauert werden, in der die Potenzen mit verschiedenen Modi des Willens enggeführt werden. Vgl. Schelling, Philosophie der Mythologie, in: Schelling, Ausgewählte Schriften Bd. 6.2, hrsg. von Manfred Frank, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, S. 63: „Die potentia pura ist der selbstisch seyn könnende, aber, eben weil bloß selbstisch seyn könnende, nicht selbstisch seyende, also doch unselbstische Wille. Aber das Zweite ist das sich gar nicht versagen Könnende, das an sich Selbstlose, das sich dem Ersten nur geben Könnende. […] Das Erste muß Nichts seyn

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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stellung des Affekts und des Befehls in ebenjenem eröffnenden Gewähren eines Seinszuganges bei Nietzsche²³² herausgearbeitet hatte, kann er beide Positionen annähern.²³³ Der Kreis schließt sich: Heidegger kann sich auf eine versöhnende Äußerung Nietzsches berufen, in welcher der Befehl einerseits als Affekt hervorgehoben, andererseits als abrupter Anfall, als Ausstoß der Kraft klassifiziert wird, und – mit einem verstandesförmigen, vor-stellenden Ausharren verknüpft – in Analogie zur emporwachsenden Dominanz eines dirigierenden Gedankens beschrieben wird: Wollen das ist Befehlen: Befehlen aber ist ein bestimmter Affekt (dieser Affekt ist eine plötzliche Kraftexplosion) – gespannt, klar, ausschließlich Eins im Auge, innerste Überzeugung von der Überlegenheit, Sicherheit, daß gehorcht wird – …²³⁴

1.2.4 Resümee der ersten Auslegung des Willens zur Macht In einer zusammenfassenden Rückschau auf Heideggers erste, durchaus wohlwollende Profilierung des Nietzscheschen Willensbegriffes, die sich auf eine reichhaltige und differenziert eingebrachte Textbasis stützt, sind unter Berücksichtigung der späteren Veränderungen folgende Aspekte besonders herauszustellen: 1. Obgleich Heidegger die Lehre vom Willen zur Macht metaphysisch verortet und daher betont, dessen tiefschürfendes Walten müsse in allen Bezirken des Seienden aufgespürt werden – von der anorganischen Natur über vegetative Prozesse bis hin zu sozialpolitischen Formationen – fußt seine anfängliche Er-

(nämlich nichts selbst sein), damit das überschwenglich Seyende ihm Etwas werde, das Zweite muß das unendlich Seyende seyn, damit es das Erste in seinem nicht-selbst-Seyn erhalte.“ Vgl. zu dieser Thematik im Allgemeinen und zur Diskussion dieser Aufzeichnung im Besonderen den zweiten Abschnitt des 2. Teils dieser Arbeit (bes. die Kapitel 2.2.2 sowie 2.2.3).  Vgl. zur Untermauerung der Heideggerschen Exposition des Zusammenhanges von Affekt und Befehl: Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 19, KSA 5, S. 32: „Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein Affekt: und zwar jener Affekt des Commando‘s. Das, was ‚Freiheit des Willens‘ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: ‚ich bin frei,‘‚er muss gehorchen‘ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschließlich Eins fixirt, jene unbedingte Werthschätzung ‚jetzt thut dies und nichts Anderes Noth‘, jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was noch zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 55.  Heidegger, N I, S. 55. Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr–Herbst 1884, KGW VII, 2, 25 [436], S. 123.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

hellung des Willens nahezu ausschließlich auf einer minutiös-anthropologischen Analyse. Die Beschreibung des Willens zur Macht als Makroanthropos lässt er sich allerdings von einzelnen Äußerungen Nietzsches vorgeben. Dennoch wäre mit Nietzsche die Frage zu stellen, ob Heidegger behufs einer Entbiologisierung des Willensverständnisses die stets nur in ihrer bedingten Erscheinung zugänglichen Affekte auf ein unbekanntes Unbedingtes überträgt, das er rückwendend zum Deutungsschlüssel derselben erhebt. Nietzsches Auslegung des Willens zur Macht als untergründiges Bestimmungsgeschehen der kosmischen Kraftentäußerungen spielt für Heidegger kaum eine Rolle. Die Fokussierung auf den zur Spitze der scala naturae gewordenen Menschen zeigt sich nicht nur in der Auseinanderlegung der dreifach gespaltenen Affektlehre und anhand der Integration der Lust als ausfließendes Produkt der Machtentfaltung. Sie bekundet sich vor allem in der idealistischen Konzeption eines zum Wollen gehörenden Vorstellens, das die menschliche Willensbeleuchtung vom animalischen Drang unterscheidet. Da Heidegger somit nicht die Unauflöslichkeit beider Pole in jedem Lebewesen denken möchte, sondern ihr Zusammentreten erst der menschlichen Natur vorbehält, weicht er deutlich von Leibnizens Monadologie ab. Viel eher scheint er auf das Unterscheidungsschema des von ihm vehement abgelehnten Schopenhauers zurückzugreifen. Dessen Einfluss auf Nietzsche bewertet Heidegger als im Wesentlichen gering, hebt ihn aber als schwere Hypothek hervor.²³⁵ Darüber hinaus erwächst der Eindruck, dass die auf den Menschen beschränkte Ausweisbarkeit des Willens zur Macht intern mit einer Vielzahl gegenläufiger Merkmale überfrachtet wird. Andererseits unterstreicht die Zusammenführung des Denkens, des Gefühls und des Befehls im Willen zur Macht dessen Ubiquität in jedem Individuum. Indem Heidegger den Willensbegriff im Sinne einer Philosophia perennis bis zu Aristoteles zurückverfolgt und die übergreifende Primärbeurteilung des Willens gegenüber der Vorstellung betont, unterläuft er die eigene Einsicht in die Historizität und kontextuelle Bedingtheit philosophischer Begriffe und Denkweisen. Konsequenterweise müsste Heidegger die von ihm in der Neuzeit verortete Heraufkunft der Suprematie des Willens viel weiter zurückdatieren. In diesem Fall drohte Heidegger sich allerdings in der von Nietzsche dargebotenen Ursprungserzählung aus dem Geiste des Willens zu verfangen.

 Vgl. Heidegger, N I, S. 32; S. 59 – 61. Zu Heideggers Beurteilung des Einflusses Schopenhauers auf Nietzsche sind die im Dokumentationsteil des Heidegger-Jahrbuchs 2 unter dem Titel: Aus dem Nachlass: Zu Martin Heideggers Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche versammelten Aufzeichnungen recht aufschlussreich. Vgl. Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 22– 25.

1.2 Die differenzierte Einheit des Willens zur Macht in Der Wille zur Macht als Kunst

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2. In der ersten Nietzsche-Vorlesung zeichnen sich die Gründe für die Abkehr bereits ab, werden aber noch von zwei positiven Vergleichsanbindungen überdeckt: Erstens liegt der Schatten von Sein und Zeit auf der zehn Jahre später gehaltenen Vorlesung. Dies erwächst zum Beispiel aus der formalen wie semantischen Engführung der Sorgestruktur²³⁶ mit der Vollzugsform des Willens. Augenfällig wird die Referenz auf Sein und Zeit auch anhand der Strukturkontinuität der Gestimmtheit, die das Dasein auf die abgedrängte Faktizität zurückwirft.²³⁷ Außerdem integriert Heidegger zweitens die Entschlossenheit in den Willen, die sich dieser im Wollen je aufs Neue entbirgt. Die Entschlossenheit wird zwar wie in Sein und Zeit als die ausgezeichnete Erfassungsweise des intensivierten, sich nicht mehr auf eine delegierende Vertretbarkeit berufenden Selbstbezuges verstanden.²³⁸ In der ersten Nietzsche-Vorlesung erfährt die Entschlossenheit allerdings eine gewichtige, vielversprechende Modifikation: Sie wird nicht als vereinzelnde Zurücknahme aus der Entfremdung des Man begriffen, sondern als über sich hinaussehende Antwort auf die ekstatische Grundlegung des Daseins aus dem Willen zur Macht. Weil dieses Über-sich-hinaus-gehen aber schon 1936/1937 als Hineingehen in das Wesen des Willens – die Macht – entfaltet wird, handelt es sich nichtsdestotrotz unübersehbar um die Urgestalt der Diagnose, dass sich der planetarisch ausgedehnte Wille zum Willen permanent mit sich selbst zusammenschließt. Dieser in der ersten Nietzsche-Vorlesung phänomenologisch im Kleinen exemplifizierte Vorgang wird von Heidegger anfangs positiv beurteilt, weil er die Sphärenverknüpfung zwischen Mensch, Welt und dem Urgrund beider garantiert und die Klassifikation Nietzsches als Metaphysiker rechtfertigt. Es deutet sich jedoch an, dass diese Zusammenhangsstiftung als eine sich am Seienden auslassende²³⁹ und es dergestalt in sich einschließende Einseitigkeit ausgelegt werden könnte, weswegen sich in ihr bereits 1936/37 die auf den Willen übertragenen Spuren eines „existenzialen Solipsismus“²⁴⁰ entdecken lassen.

 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §41, S. 192: „Das Sein des Daseins besagt: Sich-vorweg-schonsein-in-(der- Welt) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden).“  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §29, S. 135.  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §53, S. 264.  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 131: „Und das Ewige – dieses Ewige – wie sollte es nicht auch das Wesentliche sein? Wenn es aber dieses ist, was vermag noch dagegen genannt zu werden? Kann die Nichtigkeit des Seienden und die Seinsverlassenheit besser und größer verwahrt werden in der Maske der ‚wahren Wirklichkeit‘ als durch die Machenschaft und das Erlebnis?“  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §40, S. 188.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus: Heideggers Auslegung des Rausches und des großen Stils in der ersten Nietzsche-Vorlesung (1936/37) Je weniger wir Nietzsches ‚Ästhetik‘ gewaltsam zu einem scheinbar durchsichtigen Lehrgebäude aufsteigern, je mehr wir dieses Suchen und Fragen selbst in seinem Gang belassen, um so sicherer stoßen wir auf jene Ausblicke und Grundvorstellungen, in denen das Ganze für Nietzsche eine gewachsene, wenngleich dunkle und ungestaltete Einheit hat. Diese Vorstellungen gilt es zu klären, wenn wir die metaphysische Grundstellung von Nietzsches Denken begreifen wollen.²⁴¹

1.3.1 Die fünf Sätze über die Kunst Mit der Beleuchtung des Affekts, der Leidenschaft und des Gefühls aus dem Wesen des Willens, der sich in ihnen in Einzelaspekte seiner Verfassung aufgliedert und dabei durch die in einem kommandierenden Gedanken generierte Entschlossenheit des Sichbefehlenkönnens bestimmt ist, deklariert Heidegger die „allgemeine Kennzeichnung des Willens als des Willens zur Macht“²⁴² als abgeschlossen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit der dezidierten Hinblicknahme auf die Kunst, die Heidegger an dem 4. Kapitel des III. Buches („Prinzip einer neuen Wertsetzung“) ausrichtet.²⁴³ Dieses 4. Kapitel der Kompilation Der Wille zur Macht trägt wie Heideggers 1961 im Band Nietzsche I publizierter Vorlesungstext den Titel: „Der Wille zur Macht als Kunst“.²⁴⁴ Die für die Gesamtdurchdringung der Vorlesung unverzichtbaren, weichenstellenden fünf Sätze über die Kunst, die Heidegger in der Hinzuziehung und Besprechung zentraler Aussagen Nietzsches entfaltet, vermögen einen ersten Hinweis auf die von Heidegger zugrunde gelegten Verständnisweisen des Schaffens auf der einen Seite und des Nihilismus auf der anderen Seite zu geben. Die Gegenüberstellung dieser beiden Motive bildet den formgebenden Gegensatz und Hintergrund der gesamten Vorlesung.²⁴⁵ Die Auseinandersetzung mit der Bezie-

 Heidegger, N I, S. 123.  Heidegger, N I, S. 64.  Vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 87: „Die erste große Nietzsche-Vorlesung findet den Fußpunkt ihrer Betrachtung in der Frage nach der Kunst. Und von ihr her stellt Heidegger Nietzsches Denken in den Horizont des Platonismus hinein.“  Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 533 – 581.  Vgl. Rita Casale, Heideggers Nietzsche, S. 259: „Die Frage nach der Kunst bezieht sich bei Nietzsche nicht auf eine kulturelle Tatsache. In der Identifikation des Willens zur Macht mit der

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

121

hung zwischen dem Willen zur Macht und der in ihrem Bedeutungsgehalt noch zu spezifizierenden Kunst – der die „Aufgabe der Gründung des Prinzips der neuen Wertsetzung“²⁴⁶ zukommen soll – wird von Heidegger anhand eines Satzes aus Nr. 797 von Der Wille zur Macht eingeleitet. Der Satz lautet: Das Phänomen ‚Künstler‘ ist noch am leichtesten durchsichtig. ²⁴⁷

Der Künstler macht in seiner schöpferischen Tätigkeit das „Hervorbringenkönnen“²⁴⁸ des nach Nietzsche in der Trias „wollen, wirken, werden“²⁴⁹ waltenden und sich organisierenden Lebens in einer mustergültigen und das „Werden des Seienden“²⁵⁰ austragenden Weise sichtbar. Insofern das Sein gemäß Nr. 581 der Kompilation Der Wille zur Macht nur eine „Verallgemeinerung des Begriffs ‚Leben‘“²⁵¹ darstellt, das „innerste Wesen des Seins“²⁵² jedoch laut Nr. 693 „Wille zur Macht“ ist, wird der Künstler zur vertrauten und „durchsichtigsten“²⁵³ Zugangsperson, an der sich die Gesetzmäßigkeit des Lebens und somit diejenige des Willens zur Macht offenbart. Mit Nietzsches Fokussierung auf den Künstler als Akteur wird innerhalb des Problemhorizontes der Ästhetik die rezeptionsästhetische Maßstabsverantwortung für die Beurteilung der Schönheit verabschiedet. Diesen Sachgehalt fassen Heideggers erste zwei Sätze über die Kunst zusammen:

Kunst zeigt sich vielmehr die antinihilistische Tragweite der physiologischen Betrachtung des Kunstphänomens.“  Heidegger, N I, S. 66.  Heidegger, N I, S. 66. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 797, S. 533. Vgl. Nietzsche, NF1885,2[130].  Heidegger, N I, S. 68.  Heidegger, N I, S. 66. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 581, S. 396.  Heidegger, N I, S. 66.  Heidegger, N I, S. 66. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 581, S. 396: „‚Vernunft‘ entwickelt auf sensualistischer Grundlage, auf den Vorurteilen der Sinne, d. h. im Glauben an die Wahrheit der Sinnes-Urteile. ‚Sein‘ als Verallgemeinerung des Begriffs ‚Leben‘ (atmen), ‚beseelt sein‘, ‚wollen, wirken‘, ‚werden‘.“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,9[63].  Heidegger, N I, S. 66. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 693, S. 468. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[80]: „Wenn das innerste Wesen des Seins Wille zur Macht ist, wenn Lust alles Wachsthum der Macht, Unlust alles Gefühl, nicht widerstehen und Herr werden zu können, ist: dürfen wir dann nicht Lust und Unlust als Cardinal-Thatsachen ansetzen? Ist Wille möglich ohne diese beiden Oscillationen des Ja und des Nein? Aber wer fühlt Lust?… Aber wer will Macht?… Absurde Frage: wenn das Wesen selbst Machtwille und folglich Lust- und Unlust-fühlen ist. Trotzdem: es bedarf der Gegensätze, der Widerstände, also, relativ, der übergreifenden Einheiten.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 67: „Künstlersein ist die durchsichtigste Weise des Lebens.“

122

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1. Die Kunst ist die durchsichtigste und bekannteste Gestalt des Willens zur Macht. 2. Die Kunst muß vom Künstler her begriffen werden.²⁵⁴

In der unmittelbaren Fortsetzung von Nr. 797 wird das als Auslegungsschlüssel privilegierte Phänomen des Künstlerseins auf alle wesentlichen Bezirke des Lebens ausgedehnt: von da aus [d. h. von der Durchsichtigkeit des Künstlers aus, J.K.] hinzublicken auf die Grundinstinkte der Macht, der Natur usw.! Auch der Religion und Moral!²⁵⁵

Die metaphysisch qualifizierte Anwendung des Künstlerseins auf die Bereiche der Natur, der Religion und der Moral – die Heidegger mit der Beifügung von „Gesellschaft und Individuum, Erkenntnis, Wissenschaft, Philosophie“²⁵⁶ anreichert – erschöpft sich nicht darin, die am Künstler zu gewinnende, hervorstechende und plastische Vollzugsmanifestation des Willens zur Macht in die anderen Wirkungsorte und Gestaltwerdungen hineinzulesen. Das Wesen des Künstlers zeigt sich in diesen Bereichen keineswegs in einer nur verdunkelten oder analogischen Weise. Weil das exemplarisch in der schaffenden Formgebung verdichtete Kunstwerk eine vorgängige ontologische Universalisierung erfährt, kann die Aufspürung der Kunst in gesellschaftlichen, kulturellen und naturhaft-organischen Formationen eine übergreifende Ausweisbarkeit beanspruchen. Die Kunst im engen Sinne des Kunstwerk-Begriffes, die als das freie Gestalten des Schönen verstanden werden kann, sich in diverse Kunstgattungen ausfächert und der Ästhetik als potentieller Untersuchungsgegenstand zugewandt ist, wird jenen anderen Disziplinen und Bereichen wie der Religion und der Moral beigeordnet. Deswegen kann die Kunst im weiten Sinne – des Schaffens, Werdens und Hervorbringens überhaupt – einen Deutungsprimat übernehmen, der auf den Weltbegriff und das All des Seienden ausstrahlt. Diese Heraufstufung des weiten Kunstverständnisses mitsamt der Auslegbarkeit jedes geordneten Gefüges aus dieser vorgezeichneten Sichtbahn bekundet sich besonders im Aphorismus Nr. 796:

 Heidegger, N I, S. 68.  Heidegger, N I, S. 68. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 797, S. 533. Vgl. Nietzsche, NF1885,2[130].  Heidegger, N I, S. 68.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

123

Das Kunstwerk, wo es ohne Künstler erscheint, z. B. als Leib, als Organisation (preußisches Offizierkorps, Jesuitenorden). Inwiefern der Künstler nur eine Vorstufe ist. Die Welt als ein sich selbst gebärendes Kunstwerk.²⁵⁷

Weil damit alles Seiende seine Wesensbestimmung unter der ursprünglich aus der Anfertigung von Kunstwerken entlehnten Signatur des Schaffens gewinnt, kann Heidegger zu einem dritten Satz voranschreiten, in dem die Kunst mit dem Willen zur Macht zusammengeschlossen wird: 3. Die Kunst ist nach dem erweiterten Begriff des Künstlers das Grundgeschehen alles Seienden; das Seiende ist, sofern es ist, ein Sichschaffendes, Geschaffenes. Nun wissen wir aber: Wille zur Macht ist wesentlich ein Schaffen und Zerstören. Das Grundgeschehnis des Seienden ist ‚Kunst‘, besagt nichts anderes als: es ist Wille zur Macht.²⁵⁸

Wenn Nietzsche in dem 1871 verfassten Vorwort zu seiner Schrift Die Geburt der Tragödie die Kunst als „die eigentliche Aufgabe des Lebens“²⁵⁹ und als „dessen metaphysische Tätigkeit“²⁶⁰ tituliert, verschiebt er die Rangstellung zwischen philosophischer Erkenntnis und Kunst. Die Kunst ist nicht eine Nachahmerin der Natur oder eine nachbildende Illustration des Lebens. Unzertrennbar in das Leben eingesenkt, wirkt die Kunst als Antrieb und Vollzugsweise in allen Stadien und Nuancen des Lebens. Insofern die Kunst das Seiende im Ganzen durchsichtig macht, das in der Kunstausübung im engeren Sinne „zu sich heraustritt“²⁶¹, sich sammelt und sublimiert, ist die Philosophie in ihrer bisherigen – und das heißt für Nietzsche, in ihrer platonischen – Form nicht nur nicht mehr an dem Geschehen unmittelbar beteiligt, das die Bewegtheit des Seienden verdeutlicht. Sie besitzt

 Heidegger, N I, S. 68. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 796, S. 533. Vgl. Nietzsche, NF1885,2[114].  Heidegger, N I, S. 69.  Heidegger, N I, S. 69. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 24. Heidegger zitiert hier aus Nietzsches späterer Selbstauslegung des Vorworts an Richard Wagner, die sich im Aphorismus Nr. 853 von Der Wille zur Macht findet (vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 853, S. 578). Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[21]: „Dieses Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinn, daß es etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das göttlicher ist als ‚Wahrheit‘: die Kunst. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Neinthun noch mehr als Neinsagen zum Leben so sehr das Wort reden, wie der Verfasser dieses Buchs: nur weiß er, – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts andres erlebt – daß die Kunst mehr werth ist als die ‚Wahrheit‘. In der Vorrede bereits, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräch eingeladen wird, erscheint das Glaubensbekenntniß, das Artisten-Evangelium: ‚die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als metaphysische Thätigkeit‘…“  Heidegger, N I, S. 69. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 24.  Heidegger, N I, S. 70.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

darüber hinaus aufgrund ihrer tradierten Ausrichtung auf das Sein als Übersinnliches nicht die Mittel, dem Willen zur Macht in seiner Beschaffenheit, Anforderungshöhe und Dignität zu entsprechen. Weil die Philosophie diese Dignität verleugnen muss, um ihr eigenes Proprium zu wahren, büßt sie, die zusammen mit der Moral und der Religion die bisherige Weltauslegung leitete, ihren Vorrang als allumgreifende, das Seiende erkennende, ordnende und in seiner Wahrheit begründende Kraft ein. Die Betrachtung der Kunst setzt einen „Umsturz“²⁶² frei, der die Philosophie als Statthalterin einer Überdeckung des schaffenden Prinzips des Lebens und damit als Hemmnisfaktor des Willens zur Macht entlarvt. Heidegger führt diesbezüglich den kapiteleinleitenden Aphorismus Nr. 794 an, der seinen vierten Satz über die Kunst anbahnt: Unsre Religion, Moral und Philosophie sind décadence-Formen des Menschen. – Die Gegenbewegung: die Kunst. ²⁶³

In Heideggers Deutung dieses Passus wird der Bereich des Künstlerischen mit dem Sinnlichen identifiziert. Die Triftigkeit dieser im Hinblick auf den Topos einer Umkehrung des Platonismus wegweisenden Synthese fußt darauf, dass Heidegger die Nietzschesche Verständnisweise der bisherigen, platonisch dominierten Philosophie gänzlich auf die Entlarvung als Welt- und Lebensverneinungsdisziplin bezogen sieht. Diese ist in ihrer Suche nach dem Ewigen dadurch charakterisiert, das Übersinnliche als „bessere“ und wahre Welt von der als Irrtum diskreditierten, sinnlichen Welt zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund entfaltet und fixiert sich der Antagonismus von Kunst und Sinnlichkeit einerseits und Philosophie und Übersinnlichem andererseits: „Mithin bejaht die Kunst das, was die Ansetzung der vermeintlich wahren Welt verneint“.²⁶⁴ Daran schließt sich der entscheidende Gedankenschritt an, der die Gleichsetzung der Priorisierung des Übersinnlichen mit dem Nihilismus erbringt. Es ist diese Engführung des Nihilismus mit dem Gefüge des platonischen Chorismos, die in der Vorlesung von 1936/37 zunächst das Ereignis des Gottestodes und die geschichtliche Rekonstruktion des Nihilismus als „Entwertung der obersten Werte“ überstrahlt. Darauf aufbauend, ist zweierlei herauszustellen: Erstens konvergiert Heideggers eigene Auffassung in seiner ersten Nietzsche-

 Heidegger, N I, S. 70.  Heidegger, N I, S. 70. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 794, S. 533. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[168].  Heidegger, N I, S. 70 – 71.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Vorlesung weitgehend mit dem dualistischen Nihilismus-Begriff ²⁶⁵ Nietzsches. Zweitens legt Heidegger zu Beginn der Ausarbeitung zur Kunst noch nicht die lebenspraktische Nutzenbeschreibung der Wahrheit als befestigende Anmessung an das Werdende zugrunde, sondern begreift sie als Wesensaussage über die Beschaffenheit des Seienden. Folglich muss die Kunst nicht zwangsläufig mit der Wahrheit überhaupt in einen Widerstreit treten, sondern nur mit demjenigen (übersinnlichen) Bereich, der die Gültigkeit als einzig wahre Bezugsnorm für sich vindiziert.Wenn die Kunst die höchste Gestalt des Willens zur Macht ist und dieser als Sein des allumfassenden Lebens firmiert, ist ihr wesenseigen, sich unerbittlich gegen jede Form der Verringerung und Verachtung des Lebens zu wenden. Da die Kunst sich aufgrund des sich überwindenden und hervorbringenden „SinnenScheins“²⁶⁶ als tiefste Affirmation des Lebens, ja als dieses selbst bewahrheitet, muss die „wahre“ Welt des Platonismus und des Christentums, die eben dieses Leben von sich ausschließt oder als Schein herabsetzt, aus dem Blickwinkel der Kunst als „erlogene Welt“ betrachtet werden. Indem die Kunst diese „erlogene Welt“²⁶⁷ bekämpft, richtet sie sich zugleich gegen den Nihilismus, insofern dieser die Kräfte des sinnlichen Lebens aus jenem in das Übersinnliche abzieht, wodurch jenes verarmt. Für seinen vierten Satz über die Kunst stützt sich Heidegger auf Nr. 853, II aus Der Wille zur Macht:

 Dualistisch ist dieser Nihilismus-Begriff deswegen, weil er die platonische Ansetzung des Übersinnlichen als Quellgrund für die Desavouierung der Sinneswelt und des Werdens begreift. Nachdem das Übersinnlich-Ewige an Glaubwürdigkeit eingebüßt hat und schließlich negiert wird, erweist sich, dass die bisherige Sinnstiftung nicht auf eine an sich seiende Wahrheit gegründet war, sondern dass sich ihre Gültigkeit einem menschlichen Bedürfnis verdankte. Nach dieser Einsicht verschärft sich der Nihilismus, weil in der Welt des Werdens weder ein Ziel oder eine übergreifende Wahrheit, noch eine fundierende Ewigkeitsebene hinterlegt ist.Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 258: „Man hat die Realität in dem Grade um ihren Werth, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog… Die ‚wahre Welt‘ und die ‚scheinbare Welt‘ – auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität… Die Lüge des Ideals war bisher der Fluch über die Realität, die Menschheit selbst ist durch sie bis in ihre untersten Instinkte hinein verlogen und falsch geworden – bis zur Anbetung der umgekehrten Werte, als die sind, mit denen ihr erst das Gedeihen, die Zukunft, das hohe Recht auf Zukunft verbürgt wäre.“ Vgl. zu der Thematik des europäischen Nihilismus das Kapitel 1.9 dieser Arbeit.  Vgl. Heidegger, N I, S. 70: „Die sinnliche Welt, platonisch gesprochen die Schein- und Irrwelt, der Irrtum ist die wahre Welt. Nun ist aber das Element der Kunst das Sinnliche: Der SinnenSchein.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 70.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.²⁶⁸

Heideggers vierter Satz über das Wesen der Kunst fasst dies pointiert zusammen: 4. Die Kunst ist die ausgezeichnete Gegenbewegung gegen den Nihilismus.²⁶⁹

Als Gegenbewegung gegen den Nihilismus des Übersinnlichen und in ihrer Bejahung des als Schein Desavouierten erwirkt die Kunst eine Veränderung des Typus des Philosophen. Dieser wandelt sich vom „nihilistischen Moralphilosophen“²⁷⁰ zum „Künstler-Philosophen“²⁷¹, der das Seiende im Ganzen als Wirkungsfeld seiner an der Gegenbewegung orientierten Gestaltung versteht.Weil die Kunst in ihrer Abkehr von der übersinnlichen, „wahren“ Welt zugleich eine Zukehr zu dem Sein des sich erzeugenden, fluiden Lebens ist, lanciert sie nicht nur ein Votum für das, was sich in ihr als das tatsächlich Seiende ausfaltet und einrichtet. Sie verändert die bisherigen Kriterien der Wahrheitsermittlung, sofern diese auf die Unveränderlichkeit abzielten: „In der Kunst fällt die Entscheidung, was die Wahrheit, dies sagt für Nietzsche immer: was das Wahre, d. h. was das eigentlich Seiende ist“.²⁷² Die Doppeldeutigkeit in Nietzsches Exposition der Kunst als Gegenbewegung gegen die tradierte Gestalt der Philosophie entsteht dadurch, dass in der Markierung der Sinnlichkeit als des eigentlich Seienden und „Wahren“ die platonische Semantik zunächst beibehalten wird. Der favorisierte Status der Sinneswelt wird in dem Herauswachsen aus dem entgegengesetzten Maßstab begleitet. Dies

 Heidegger, N I, S. 71.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 853, S. 577: „Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence. Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden. Die Kunst als die Erlösung des Handelnden, – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst als die Erlösung des Leidenden, – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,17[3].  Heidegger, N I, S. 71.  Heidegger, N I, S. 71.  Heidegger, N I, S. 71. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht als Kunst, Nr. 795, S. 533. Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[66].  Heidegger, N I, S. 71.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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wird besonders anhand der folgenden Aufzeichnung transparent, die die ersten vier Sätze Heideggers prägnant umrandet: Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln ist tiefer, ‚metaphysischer‘ als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein.²⁷³

Im Einklang mit diesem Passus behandelt Heidegger das Verhältnis von Wahrheit und Kunst noch nicht auf der singulären, im Willen zur Macht zusammengehaltenen Ebene des für die Selbstüberwindung des Lebens konstitutiven Hinaufgangs in das Festzumachende. Heidegger teilt in diesem Textstadium Nietzsches Verwendung des Begriffs des Wahren. Der Wahrheitsbegriff wird zur Bezeichnung der Ideenwelt als des an sich Seienden herangezogen.²⁷⁴ Werden die Termini der Wirklichkeit und des Seins aus ihrem platonisch-christlichen Bedeutungsrahmen befreit, zeigt sich, dass das vormals als Schein benannte Geschehen der Sinnlichkeit und des „Werdens und Wechselns“²⁷⁵ eher imstande ist, die mit der Wahrheit verknüpften Attribute der Wirklichkeit und des Seins zu verkörpern. Sobald die (platonische) Metaphysik diese Konzession macht, hebt sie sich als Disziplin, die gegenüber der Täuschungsaffinität und Wandlungshaftigkeit der Sinneswelt die das Werden an sich teilhaben lassenden, es bestimmenden, überzeitlichen Ideen betrachtet, auf. In diesem Fall kommt es zur gelungenen Versöhnung von Kunst und Wahrheit und zur Verabschiedung der Zwei-WeltenLehre. Beharrt die Metaphysik hingegen auf der exklusiven Triftigkeit der Kategorien der Wirklichkeit und des Seins für die „bessere“²⁷⁶ Welt der Ideen – es ist diese Entscheidungsoption, die Nietzsche in dem oben genannten Zitat abbildet – sieht sie sich mit dem Gedanken konfrontiert, dass das, was sie zur Aufrechterhaltung ihres Anspruches verdrängen muss, jenes Element sein könnte, welches ihre Suche nach dem Wahren vollendet. Die von Nietzsche aktiv eingeklagte Kunst gerät nicht nur mit der Wahrheit in einen Zwiespalt, sondern die Metaphysik mit sich selbst.

 Heidegger, N I, S. 72. Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[18].  Nietzsches umschreibende Überführung von Kunst und Wahrheit in die Figur einer doppelten Willensuntermauerung – auf der einen Seite der Wille zum Schein (Kunst), auf der anderen Seite der Wille zur Wahrheit (der je nach Kontext den Willen zur platonisch-übersinnlichen Ideenwahrheit, den Willen zur Festmachung einer bestimmten Perspektive oder den Willen zur Freilegung der nihilistischen Wahrheit des Silens bedeuten kann) – trägt genau wie Schellings Rede vom „Willen des Grundes“ sowie vom „Willen der Liebe“ maßgeblich dazu bei, dass Heidegger seine ab 1939 Gestalt annehmende These einer neuzeitlichen Hegemonie willensbestimmter Subjektivität schon auf terminologischer Ebene erhärten kann.  Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 70.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Es ist an dieser Stelle wichtig, behutsam vorzugehen und Nietzsches These, die Wahrheit sei im Kern ein Irrtum – die Heidegger in der Vorlesung der Wille zur Macht als Erkenntnis ausführlich besprechen und tatsächlich mit dem Gehalt des oben zitierten Diktums zusammenbringen wird²⁷⁷ – nicht voreilig mit dem hier erwähnten Willen zur Wahrheit zu vermengen. Der Wille zur Wahrheit wird von Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst nicht als Chiffre für eine aus der Selbstbehauptungsnotwendigkeit entspringende, von dem Erkenntnisapparat erbrachte Zurechtfälschung des Seienden verstanden. In Heideggers Deutung des obigen Zitats repräsentiert der Wille zur Wahrheit den Bezug auf das obsolet und lebensfeindlich gewordene Übersinnliche überhaupt: „Wille zur Wahrheit, das heißt hier und immer bei Nietzsche: der Wille zur ‚wahren Welt‘ im Sinne Platons und des Christentums, der Wille zum Übersinnlichen, an sich Seienden“.²⁷⁸ Heidegger blendet in seiner bemerkenswert knappen, ersten Diskussion des obigen Nietzsche-Zitats die Komplexität des Titels „Wille zur Wahrheit“ weitgehend aus, indem er diesen auf der Grundlage der vereinfachend-dualistischen, primär an Platons Wahrheitsbegriff gebundenen Sicht interpretiert. Demgegenüber wird der Wille zum Schein von Heidegger schlichtweg deswegen als der  Vgl. Heidegger, N I, S. 445 ff. Vgl. dazu das Kapitel 1.7 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 72. Zur Verortung von Nietzsches (und Heideggers) Bemühung um eine Revision der platonischen Zurückstufung der Kunst kann das bilanzierende und scharfsinnige Urteil von W. J. Verdenius hilfreich sein. Nach Verdenius kommen alle modernen Zurückweisungen der platonischen Kunstlehre darin überein, dass sie eine Präeminenz des wahrheitserfassenden Rationalismus in Platons Denken konstatieren. Angesichts dieses Vorranges der übersinnlichen Wahrheit werde Platons Konzeption der künstlerischen Mimesis zumeist auf den Aspekt einer detailgenauen Nachbildung des (allein mit Hilfe der Vernunft erkennbaren) Archetyps festgelegt. Insofern Verdenius im Rekurs auf Platon das moderne Paradigma anzweifelt, dass sich das wahre Wesen der Kunst in der phantasievollen und ausdrucksstarken Verklärung und Neukombination des Wirklichen äußere, vertritt er eine markante Gegenposition gegenüber der von Nietzsche geleisteten Anbindung der Kunst an die schöpferische Gestaltung des sich selbst übersteigernden Werdens. Vgl. Willem Jacob Verdenius, Mimesis. Plato’s doctrine of artistic imitation and its meaning to us, Leiden 1949, S. 2: „All modern objections against Plato’s theory of art centre in the assertion that his rationalism precluded him from recognizing the specific character of artistic creation. He is accused of fashioning art after the pattern of science, which has to copy nature as truly as possible. He is said to have forgotten that true art does not copy an existing reality, but that it creates a new reality arising from the artist‘s own phantasy, and that it is the spontaneous character of this expression which guarantees the independent value of purely aesthetic qualities. However, it may be asked whether this criticism is justifiable from a historical as well as a systematical point of view. In this case two question arise, firstly, whether Plato really intended imitation to mean a slavish copy, and secondly, whether modern aestheticians are right in disregarding the imitative elements in art and in considering phantasy and self-expression to be its fundamental principles.“

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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„metaphysische Wille“²⁷⁹ markiert, weil er als „Wille zum Sinnlichen und seinem Reichtum“²⁸⁰ in der Hochschätzung der hiesigen, der Kunst zugehörigen Welt das Ziel der Metaphysik, das in der Abgrenzung des wahrhaft Seienden von dem Irrtümlichen besteht, perpetuiert. In der Einwilligung und Hervorbringung der vermeintlichen Illusion verdeutlicht der Wille zum Schein die Gesetzmäßigkeit des Lebens eher als dies die Annahme ewiger Wesenheiten vermag. Dass diese später unter dem zentralen Titel einer „Umkehrung des Platonismus“ verhandelte Konfliktlinie für Heidegger zunächst eine geringe Relevanz besitzt und in der Stilisierung der Kunst zur antinihilistischen Vitalitätsstifterin aufgeht, manifestiert sich auch anhand seiner Besprechung des folgenden Diktums aus dem Nachlass des Jahres 1888, mit dem Nietzsche auf seine Erstlingsschrift zurückblickt: Über das Verhältnis der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt. Mein erstes Buch war ihm geweiht; die Geburt der Tragödie glaubt an die Kunst auf dem Hintergrund eines anderen Glaubens: daß es nicht möglich ist, mit der Wahrheit zu leben: daß der ‚Wille zur Wahrheit‘ bereits ein Symptom der Entartung ist….²⁸¹

Diese Passage – deren markanter Profilierung des „heiligen Entsetzens“ zwischen Wahrheit und Kunst in den folgenden Kapiteln der Vorlesung eine tragende Rolle zukommen wird – weist einen beträchtlichen Facettenreichtum auf, der auf der kontextuellen Auslegungsmannigfaltigkeit des Wahrheitsbegriffes fußt. Gerade durch den Verweis auf die Geburt der Tragödie erscheint zuerst eine tragische Lesart naheliegend, die diesseits der Opposition von Sinnlichem und Übersinnlichem angesiedelt ist. Demzufolge ist es die furchtbare, von Nietzsche als „griechische Volksweisheit“²⁸² inszenierte Wahrheit des Silens, wonach es das Beste sei, nie geboren zu sein, das Zweitbeste aber, bald zu sterben, mit der sich aufgrund der desillusioniert aufgezeigten Sinnlosigkeit und Unerfülltheit allen Strebens nicht leben lässt. Es bedarf des Antidots der Kunst, des Willens zur Illusion, der „glänzenden Traumgeburt der Olympischen“²⁸³, um diese grausame

 Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 72. Vgl. Nietzsche, KSA 13, S. 500. Vgl. Nietzsche, NF 1888, KGW VIII, 3, 16[40] §7, S. 296.  Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 35.  Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 35: „Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen Peinigungen. Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Da-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

und leidvolle Entdeckung zu kaschieren und sie immer wieder in ihrem möglichen Hervorbrechen zu bändigen. Der Wille zur Wahrheit müsste daher als derjenige benannt werden, der jene lebensnotwendige Überdeckung durch die Kunst rückgängig zu machen trachtete. Dass sich „bereits“ in dem Willen zur Wahrheit der Niedergang des Lebens niederschlägt, hängt mit der damit einhergehenden Bezweiflung der Suffizienz der Kunst zusammen. Wird der Schleier schließlich gehoben und die unerträgliche Wahrheit enthüllt, besiegelt dies den Generalverdacht gegenüber dem Leben, das der Ermüdung und Resignation des „Es lohnt sich Nichts“²⁸⁴ preisgegeben wird. Diese Deutungslinie wird von Heidegger nicht einmal erwähnt.²⁸⁵ Nach Heidegger verliert der „ungeheuerliche“²⁸⁶ Satz seine „Befremdlichkeit“²⁸⁷, wenn er in der „rechten Weise“²⁸⁸ gelesen wird. Während Heidegger der Bedeutung des Entsetzen erregenden Zwiespalts zwischen der Wahrheit und der Kunst innerhalb der Umdrehung des Platonismus und in der neuen Auslegung der Sinnlichkeit in weit ausgreifenden Gedankengängen nachgehen wird und dieser auf den Grund zu kommen sucht, wählt er hier – wie schon oben in der Erläuterung des Willens zur Wahrheit – eine einfache, ja schematische Lösung. Die Titel „Kunst“ und „Wahrheit“ werden in diesem Stadium der Vorlesung noch als pauschale Bereichsbezeichnungen dichotomer Welten gehandhabt: Die Kunst (der Wille zum Schein) ist das Sinnliche, die Wahrheit (der Wille zu Wahrheit) ist das Übersinnliche. In dem von Heidegger in Anspruch genommenen Verständnis

seins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind – wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von Neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen…“  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Der Nothschrei, KSA 4, S. 302.  Vgl. dazu Tadashi Otsuru, Gerechtigkeit und Dike, S. 42: „‚Nietzsches Gegnerschaft gegen Wagner‘ ist zugleich als Heideggers Gegnerschaft gegen Wagner zu begreifen. Vermutlich liegt darin der Grund, weshalb Heidegger bei seiner Beschäftigung mit Nietzsche von wenigen Ausnahmen abgesehen Nietzsches Frühschrift ‚Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘ zur Seite schiebt. Denn Nietzsche meinte damals mit der ‚Wiedergeburt‘ der Tragödie das wagnersche ‚Gesamtkunstwerk‘ in der Mittelstellung der Musik.“  Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 72.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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wird die Unmöglichkeit, „mit der Wahrheit zu leben“²⁸⁹ auf ein drohendes Übermaß des Übersinnlichen bezogen und mit der Gefahr der Verneinung der diesseitigen Welt parallelisiert. Der Wille zur Wahrheit beordert in seinem die Gegebenheit des Lebens überschreitenden Hang zum Übersinnlichen das „aufsteigende Leben“²⁹⁰ als ephemeres zurück. Der Kunst kommt als Akteurin der Sinnlichkeit diesbezüglich eine hemmende Funktion zu, insofern sie die über das Leben hinausgehende Bewegtheit als schöpferische Kraft in dieses zurückleitet. Obwohl Heidegger bereits an diesem Ort mit den der hiesigen Welt zugesprochenen Bezeichnungen als „eigentliche wirkliche“²⁹¹ und „allein wahre“²⁹² der konsequenten Alleinstellung der sinnlichen Welt präludiert, möchte er an einer Koexistenz von Kunst (= Sinnlichkeit) und Wahrheit (= übersinnliche Welt) festhalten. Trotz der Präeminenz der Kunst soll das Eigenrecht der übersinnlichen Welt nicht gänzlich negiert werden. Im dem vierten Abschnitt der Aufzeichnung Nr. 853 findet Heidegger die Belegstelle, die nahezu deckungsgleich in den fünften Satz über die Kunst eingeht: daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.²⁹³

Heideggers fünfter Satz über die Kunst lautet thetisch: 5. Die Kunst ist mehr wert als ‚die Wahrheit.‘²⁹⁴

Heideggers knappe Erläuterung dieses Satzes liest sich wie die Parenthese eines umgekehrten Platonismus, der es nicht geschafft hat, das vorgegebene ZweiWelten-Schema zu verwandeln: …das heißt: das Sinnliche steht höher und ist eigentlicher als das Übersinnliche.²⁹⁵

Folglich wechselt Heidegger in der Durchdringung des Inhalts von Nr. 853 wieder in eine metaphysische Rangaussage, die jedoch problemlos mit der These über die

 Heidegger, N I, S. 72. Vgl. Nietzsche, KSA 13, S. 500. Vgl. Nietzsche, NF 1888, KGW VIII, 3, 16[40] §7, S. 296.  Heidegger, N I, S. 73.  Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 72. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 853, S. 578. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[21].  Heidegger, N I, S. 73.  Heidegger, N I, S. 72.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Kunst als Gegenbewegung gegen das Übersinnliche und den Nihilismus verflochten werden kann. Dies bestätigt sich anhand der Möglichkeit eines unmittelbaren Überganges zwischen beiden Ansätzen: Das Sinnliche steht höher und ist eigentlicher als das Übersinnliche. Darum sagt Nietzsche: ‚Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.‘ (n. 822).²⁹⁶

Es ist ersichtlich, dass die Aufzeichnung Nr. 822 mit den drei zuvor eingebrachten Zitaten in einer innigen Verwandtschaftsbeziehung verbunden ist. Deren jeweiliger Gehalt kann in Paraphrase wie folgt wiedergegeben werden: 1) Der Wille zum Schein ist metaphysischer als der Wille zur Wahrheit. 2) Kunst und Wahrheit stehen in einem Zwiespalt. 3) Die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit. Im Rekurs auf Nr. 822 untermauert Heidegger zum vierten Mal seine vereinfachend definierende These einer rückhaltlosen Identität von Wahrheit und übersinnlicher Welt sowie von Kunst und Sinnlichkeit, die er im weiteren Fortgang der Vorlesung grundlegend modifizieren wird: Wahrheit meint wieder die ‚wahre Welt des Übersinnlichen…‘²⁹⁷

Der Topos des „Zugrundegehens“ an der Wahrheit lenkt den Blick auf den Antagonismus zwischen dem aufsteigenden Leben einerseits und der Wahrheit andererseits zurück. Es wird deutlich, dass das Sinnliche dann eigentlicher ist als das Übersinnliche, sobald beide Pole/Welten an dem Befähigungsgrad einer Entfaltung der von Nietzsche proponierten, lebensimmanenten Steigerungsbewegung bemessen werden. Basierend auf dieser Verhältnisbestimmung, lässt sich die Geschichte des Platonismus und des Christentums als sozialontologische Umkehrung entschlüsseln. Mit der Aufrichtung des Übersinnlichen zum Maßstab der Lebensführung konsolidiert sich die demütige Unterordnung mitsamt der Bändigung der eigenen Sinnlichkeit als verpflichtendes Paradigma und als ethische Handlungsadäquanz. Diesem Ideal entsprechen diejenigen Menschen am ehesten, die auf die Ausprägung einer ausgezeichneten Individualität innerhalb der diesseitigen Welt verzichten. Duldsam und fatalistisch richten sie sich in der konsekrierte Ordnung ein, die ihnen als sekundär erscheint. Aus der Perspektive Nietzsches – die 1936/37 auch weitgehend diejenige Heideggers ist – wird im Christentum der Gehalt der Höhe damit von jenen bestimmt, die in ihrem ‚Willen zur Wahrheit‘ die Lähmung des sich schaffenden Lebens zementieren. Deswegen

 Heidegger, N I, S. 72– 73. Vgl. Nietzsche NF Herbst 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11[108], S. 293. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 822, S. 554.  Heidegger, N I, S. 73.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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sind sie unter dem Gesichtspunkt des überwindungszugewandten Lebens als die „Niedrigen und Schlechtweggekommenen“²⁹⁸ zu beurteilen.²⁹⁹ Auf der Grundlage ihres Bewertungskanons lehnen sie die Ausschöpfung der erfahrenen Möglichkeiten und daraus entspringende, selbstbewusste Regungen und Haltungen wie den „Stolz des auf sich ruhenden Lebens“³⁰⁰ als Ausdrucksformen der Hybris ab. Gefühlslagen wie die Zufriedenheit, selbstauferlegte Anstrengungen und das disziplinierte und verpflichtungsschwere Hervorwachsen aus dem Angestammten erscheinen ihnen als eine willentliche Abwendung von dem Wesentlichen und Leitgebenden. Unter Einbezugnahme moralischer Kategorien werden derartige Verhaltensweisen als „Sünde“³⁰¹ diskreditiert. Insofern die Kunst diese Wertsetzung zugunsten des hiesigen Lebens modifiziert und das Sinnliche in das Recht setzt, ist sie „mehr wert“³⁰² als die Wahrheit, die dessen Reichtum stillstellt und sich doch von ihm nährt, weil sie auf die vom Leben freigegebenen Kräfte angewiesen ist. Die innerhalb des Sinnlichen habitualisierte und in diesem waltende Kunst verhindert die Stagnation und den Niedergang des Lebens, den die Wahrheit vollbringt. Sie kann der in das Übersinnliche übergleitenden Tendenz jedoch nur entgegenwirken, wenn sie das Leben permanent über sich hinaustreibt. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, weswegen sie – in der Umkehrung der Schopenhauerschen Einschätzung als Quietiv des Willens – in Nr. 808 zum „größten Stimulans des Lebens“³⁰³ erhoben

 Heidegger, N I, S. 73.  Zur Klassifikation des Christentums als geschichtswirksamer Organisationsform eines lebensverneinenden Antirealismus sowie zu der von Nietzsche diagnostierten Umdeutung des antidogmatischen Vorbildes der Lebenspraxis Jesu zur jenseitsorientierten Lehre einer Personalunsterblichkeit durch den archetypischen Priestertypus Paulus vgl. Hans Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik, S. 178 – 195. Zu Nietzsches Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen, die Seligkeit einer inneren Welt begründenden Liebesethos Jesu und der Verkehrung des Christentums, die sich vor dem Hintergrund der Trinitätslehre und in der kirchlichen Institutionalisierung ereignet, vgl. Karl Jaspers, Nietzsche und das Christentum, 3. Aufl., München 1985, S. 16 – 33.  Heidegger, N I, S. 73.  Heidegger, N I, S. 73.  Heidegger, N I, S. 73.  Heidegger, N I, S. 73.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 808, S. 542– 543: „Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfiguriert, stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener… Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens, – Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt… Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft zu lügen stehen zu bleiben: sie tut mehr als bloß imaginiren, sie verschiebt selbst die Werte.“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[120].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

wird. Dieses von Heidegger als „Nietzsches Hauptsatz über die Kunst“³⁰⁴ markierte Kerndiktum bindet die fünf Sätze explizit in den Horizont der Macht ein, weil das die Werdevielfalt des Lebens zum Ausdruck bringende und entfachende Stimulans als das „Über-sich-hinaushebende“³⁰⁵ in eine Anreicherung einmündet, die dem Vollzug des Willens zur Macht entspricht.

1.3.2 Der Rausch als ästhetischer Grundzustand und die Bestimmung der Leiblichkeit Es gilt zusammenfassend festzuhalten, dass die in der Kunst erwirkte Verabschiedung der Lebensbeurteilung aus der Perspektive des Übersinnlichen und die damit in Aussicht gestellte Befreiung von der platonischen Metaphysik mit der Einwilligung in die (normative) Komposition einer dem Leben eignenden Gesetzmäßigkeit verknüpft wird. Die Heraufstufung der Kunst zur Gegenbewegung gegen den Nihilismus, die aufgrund der Charakterisierung der Kunst als durchsichtigste Gestalt des Willens zur Macht zugleich zu dessen primärer Funktionsbezeichnung avanciert, ist jedoch solange unzureichend, als die darauf aufbauende Ästhetik ungeklärt bleibt.Wenn die Ästhetik als „αἰσϑητικὴ ἐπιστήμη“³⁰⁶ die Gefühlszustände des Menschen ergründet, die aus dem Verhalten zu dem Schönen entspringen, muss auch in Nietzsches Denken zu beantworten sein, wie die Gestimmtheit des „ästhetischen Gefühls“³⁰⁷ auf der einen Seite und die Beschaffenheit des Schönen auf der anderen Seite bestimmt werden. Die Notwendigkeit dieser Untersuchungsweise ergibt sich für Heidegger aus der Auffassung, dass Nietzsches Wesensvertiefung des Willens zur Macht anhand der Konstellation von Kunst und Leben trotz der Ontologisierung der Kunst in ihrer Fragerichtung maßgeblich von der „überlieferten Bahn“³⁰⁸ der Ästhetik geleitet wird, obschon sich diese bei Nietzsche „gleichsam selbst überschlägt“.³⁰⁹ Dieser Selbstüberschlag der Ästhetik wird – so die hier zu vertretene These – durch zwei Pole repräsentiert, die auf den ersten Blick in einem unversöhnlichen

 Heidegger, N I, S. 74.  Heidegger, N I, S. 74.  Heidegger, N I, S. 75.  Vgl. Heidegger, N I, S. 76: „Streng genommen, ist nicht der Gefühlszustand ‚ästhetisch‚, sondern er ist ein solcher, der Gegenstand einer ästhetischen Betrachtungsweise werden kann, die deshalb ästhetisch heißt, weil sie es im voraus auf den durch das Schöne erregten Gefühlszustand absieht und alles darauf bezieht und von daher bestimmt.“  Heidegger, N I, S. 75.  Heidegger, N I, S. 75.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Gegensatz stehen. Weil dieser Gegensatz die einheitliche Rückbeziehbarkeit der Kunst auf den Willen zur Macht zu unterminieren droht, muss es Heideggers Anspruch sein, die beiden Komponenten im Gang der Vorlesung zu vereinigen. Zum einen ist es die bereits erwähnte Exposition der Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus, durch welche die Kunst sich aus der regionalen Betrachtung als Gegenstand der Ästhetik herauswindet. Zum anderen ist es die von Nietzsche inaugurierte, naturwissenschaftliche Anwendung einer „Physiologie der Kunst“³¹⁰, die das traditionelle Methodenprofil der Ästhetik torpediert. Nietzsches Votum für eine Vereinnahmung der Kunst durch die Naturwissenschaft schält Heidegger im 6. Punkt des Kapitels Sechs Grundtatsachen aus der Geschichte der Ästhetik als letztgültige Bewahrheitungsstufe der Hegelschen Rede vom „Ende der Kunst“³¹¹ heraus, die die vierte Entwicklungsstation bezeichnet. In seinen Berliner Vorlesungen über die Ästhetik verabschiedet Hegel die geschichtsgründende Bedeutsamkeit der Kunst in die Vergangenheit, indem er die Darstellung des Absoluten der spekulativen Metaphysik des Geistes überantwortet. Zwar unternimmt Wagner in dem geschichtlichen Abschnitt der fünften Grundtatsache den Versuch der quasireligiösen Repristination der Kunst gegenüber der ihre Deutungshoheit bestreitenden Philosophie, indem er alle Kunstdisziplinen in das Gesamtkunstwerk einzugliedern intendiert. Sofern das Wagnerische Gesamtkunstwerk aufgrund des diesem inhärierenden Vorranges der Musik und des „Bühnenhaften des Vorgeführten und der großen Aufmachung“³¹² zur monumental-suggestiv ausgestalteten Delegationsfolie aller in einer „maßlosen Nacht des reinen Versinkens“³¹³ aufgelösten Gegensätze, verflüssigter Grenzen und vernachlässigter Formgebung wird, zielt Nietzsche in seiner Gegnerschaft gegenüber Wagner darauf ab, der Kunst das Maß und den ordnenden Stil zurückzugeben.³¹⁴ Dennoch setzt Nietzsche in diesem

 Vgl. Heidegger, N I, S. 90. Heidegger bezieht sich hier auf das folgende Zitat aus Nietzsche contra Wagner: „Damit ist nicht gesagt, dass ich diese Musik für gesund halte, am wenigsten gerade da, wo sie von Wagner redet. Meine Einwände gegen die Musik Wagner‘s sind physiologische Einwände: wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? Ästhetik ist ja nichts anderes als angewandte Physiologie.“ Vgl. Nietzsche, Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 418.  Vgl. Heidegger, N I, S. 83.Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I,Werke 13, hrsg.von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 25: „In all diesen Beziehungen ist und bleibt die Kunst nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes.“  Heidegger, N I, S. 85.  Heidegger, N I, S. 86.  Zu Heideggers Kritik an Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerkes vgl. Andrea Barbara Alker, Das Andere im Selben. Subjektivitätskritik und Kunstphilosophie bei Heidegger und Adorno, Würzburg 2007, S. 238 f.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Zuge einerseits – in der Wendung gegen Hegel – den von Wagner vorbestimmten und übernommenen, die Hegemonie der Kunst anvisierenden Diskurs fort. Andererseits vollendet er den von Hegel eingeleiteten Ausgliederungsprozess der Kunst aus dem Bereich der „maßgebenden Gestaltung und Bewahrung des Seienden im Ganzen“.³¹⁵ Diese von Heidegger eher beiläufig ausgemalte Ambivalenz entfaltet sich, weil Nietzsche die Kunst (wie in der oben erwähnten Nr. 794 manifest wird) genau wie Wagner – doch aus einer anderen Begründungsrichtung – gegenüber den als Sinnbildern der Dekadenz betitelten Formen der Philosophie und der Moral überordnet. Auf diese Weise sucht er Hegels Ausschluss der Kunst aus der in die Philosophie eingehenden Wesensverdeutlichungsfähigkeit des Absoluten – wodurch die Kunst „für Hegel dem Nihilismus anheimfiel“³¹⁶ – rückgängig zu machen. Zugleich fordert Nietzsche die Reduktion des ästhetischen Gefühlszustandes auf die – wie Heidegger überspitzt formuliert – Messung und Erfassung der „Erregung der Nervenbahnen“.³¹⁷ Dies besiegelt die Dezentralisierung der Kunst, die von der Gestaltung des göttlichen und menschlichen Daseins bei den Griechen über den Wandel zum Gegenstand der Ästhetik zu Beginn der Neuzeit sowie zum Erforschungsgebiet der fachlich institutionalisierten Kunstgeschichte im 19. Jahrhundert bis hin zur unverbindlichen Haltung des kultivierten Menschen fortschreitet. Die Kunst wird durch Nietzsche der quantitativ-experimentellen Zugriffsweise der positivistischen Wissenschaften übereignet. Im ersten Fall soll die Kunst ihren bei den Griechen noch zu konstatierenden, das Ganze der Kultur gestaltenden Primat wiedergewinnen. Mit der Einsicht in ihre lebenssteigernde Funktion soll eine Zäsur, ein Aufreißen der Geschichte in zwei Hälften³¹⁸ evoziert werden. Im zweiten Fall wird die Kunst in ihrem Endpunkt der Physiologie ausgeliefert – sodass sie nicht einmal mehr in ihrem naheliegenden Bezug zur „Psychologie“³¹⁹ gesehen wird. Damit wird die Kunst in eine Geschichte des Niedergangs eingeordnet, deren Verlaufsgesetze Nietzsche laut Heidegger nicht durchschaut habe.  Heidegger, N I, S. 88.  Heidegger, N I, S. 90. Hier bezeichnet der Terminus „Nihilismus“ das Nichtige im Sinne des Wirkungslosen, Abgelebten, das nicht mehr das Absolute als Ganzes betrifft.  Heidegger, N I, S. 91.  Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 365: „Aber meine Wahrheit ist furchtbar; denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit. – Umwerthung aller Werte: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Blut geworden ist. Mein Loos will, dass ich der erste anständige Mensch sein muss, dass ich mich gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss… Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – roch…“  Heidegger, N I, S. 91.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Es kann hinsichtlich dieser disjunkten Beschreibung der Kunst in der Vorlesung von 1936/37 nicht behauptet werden, Heidegger hebe die Schwierigkeiten nicht hervor, gestehe Widersprüche nicht zu oder glätte sie per se und durchweg. So ist sich Heidegger durchaus darüber im Klaren, dass die Kunst durch die Integration in die Verfahrungsweise der Physiologie in den Nihilismus verschlungen wird, als dessen Gegenbewegung sie fungieren sollte.³²⁰ Um diese in sich gegensätzliche Bestimmung der Kunst aufzuklären, führt Heidegger zunächst eine zweite Bedeutungsnuance des Nihilismus ein, die sich nicht in der Verleugnung des Sinnlichen erschöpft. Heidegger entwickelt diese zweite Variante des Nihilismus auf der Basis des Narrativs der von der Aufklärung affirmativ als Ziel vorgetragenen Entmythisierung und Enttheologisierung des Bestandes ganzheitlich ausgerichteter Erklärungsmuster. Diese Rationalisierungstendenz kehrte die Gegenaufklärung in den Vorwurf der Entzauberung der Welt um. Nietzsche beschreibt diesen geschichtlichen Vorgang als Entweichen des Menschen aus dem Zentrum: Von außen her gesehen wäre es ein leichtes, Nietzsches Stellung zur Kunst als sinnwidrig und sinnlos und damit als nihilistisch zu kennzeichnen; denn wenn die Kunst nur noch eine Sache der Physiologie ist, dann lösen sich Wesen und Wirklichkeit der Kunst in Nervenzustände und Vorgänge in den Nervenzellen auf. Wo soll in diesem blinden Geschehen noch etwas sein, was selbst einen Sinn bestimmen,Werte setzen und Maßstäbe aufstellen könnte? Im Bereich der naturwissenschaftlich gefaßten Naturvorgänge, wo nur das Gesetz des Ablaufes und des Ausgleiches und Nichtausgleiches von Ursache-Wirkungs-Beziehungen herrscht, ist jedes Vorkommnis gleich wesentlich und unwesentlich; es gibt in diesem Gebiet keine Rangordnung und Maßstabsetzung; alles ist, wie es ist, und bleibt, was es ist, und hat sein einfaches Recht darin, daß es ist. Physiologie kennt keinen Bereich, in dem etwas zur Entscheidung und Wahl gestellt sein könnte. Die Kunst der Physiologie ausliefern, das sieht so aus wie: die Kunst auf die Ebene des Funktionierens der Magensätze herabsetzen.³²¹

Die kriterielle Umgrenzung des Nihilismus erfolgt demnach über die Ziellosigkeit, Wertneutralität und Differenzierungsunmöglichkeit. Diese Prädikate steigern sich

 Tadashi Otsuru gibt eine sehr plausible Erklärung, weswegen Nietzsche die Kunst mit der Physiologie in eine Beziehung setzt. Vgl. Tadashi Otsuru, Gerechtigkeit und Dike, S. 48 – 49: „Die Notwendigkeit des Anscheins, daß Nietzsches Denken über die Kunst eine physiologische Ästhetik ist, liegt in seiner metaphysischen Einsicht in den Wesenwandel der ‚Gesetzgebung‘. Um den Charakter der ‚Selbstgesetzgebung‘ in der ‚Urwüchsigkeit des Rausches‘ der Kunst zu zeigen, muß Nietzsche der Kunst zunächst den Charakter des ‚Geistigen‘, d. h. der Gesetzgebung, die auf der Übereinstimmung mit der platonischen Idee, d. h. dem an sich seienden Wahren ruht, absprechen. Die ‚Kunst‘ bei Nietzsche ist, so gesehen, nur der Name für die gewandelte ‚Gesetzgebung‘, die metaphysisch das Seiende als solches im Ganzen angeht.“  Heidegger, N I, S. 92.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

in dem Moment zum Höchstmaß ihrer Destruktivität, wenn das allein Zielgewährende und Auswegstiftende – die Kunst als Gestaltung des Seienden im Ganzen – in der entscheidungsdispensierten und konfektionierten Sphäre der modernen Naturwissenschaft erlischt. Soll der Zwiespalt zwischen der Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus auf der einen Seite und der Kunst als Betrachtungsgegenstand der selbst als nihilistisch gekennzeichneten Physiologie auf der anderen Seite zugunsten einer einheitlich in den Willen zur Macht hineinweisenden Formierung der Kunst revoziert werden, bedarf es einer Neubestimmung dessen, was Nietzsche unter „Physiologie“ versteht.³²² In diesem Zusammenhang ist es vonnöten, die Gleichsetzung der Physiologie mit den Leibzuständen beizubehalten. Indes müssen die Leibzustände aus der Einengung auf körperliche Phänomene befreit werden. Ein adäquates Verständnis der Nietzscheschen Disziplinbezeichnung der Physiologie leitet nach Heidegger automatisch zu dieser globalen, Körper und Seele zusammenfügenden Hinsicht über, wenn die Bedeutungsimplikation von der naturwissenschaftlichen Untersuchungsmethode geschieden wird. Zwar ist unbestreitbar, dass sich die Physiologie um die Durchleuchtung der Vitalfunktionen bemüht. Allerdings kann kein Leibzustand ohne eine ihm entsprechende Gestimmtheit auftreten. Diese Befindlichkeit wird gemeinhin als seelischer Vorgang gefasst und gehört als solche der Psychologie an. Deswegen verflechten sich Physiologie und Psychologie in einer Weise, in der die eine Fachrichtung immer auch die andere miteinschließt. Die Physiologie der Kunst zielt darauf ab, „diejenigen Zustände im Wesen der leiblich-seelischen, d. h. lebendigen Natur des Menschen im besonderen zu zeigen, in denen das künstlerische Tun und Schauen sich gleichsam naturhaft und naturförmig vollzieht“.³²³ Sie kann ihre Wesensentfaltung daher auch in einer „Psychologie des Künstlers“³²⁴ erfahren, insofern diese die Bedingung der Möglichkeit des schöpferischen Hervorbringens in den vorauslaufend-begleitenden, immer auch leiblichen Seelenzuständen ergründet. Unter Hinzuziehung einer nach Heidegger „die höchste Klarheit und Einheitlichkeit“³²⁵ erreichenden Text-

 Ähnlich geht Heidegger auch im Falle der Biologie vor. Vgl. Heidegger, N I, S. 114: „‚Das Fundament aller Ästhetik‘ ‚gibt der allgemeine Satz‘ ‚daß die ästhetischen Werte auf biologischen Werten ruhen, daß die ästhetischen Wohlgefühle biologische Wohlgefühle sind.‘ Daß Nietzsche das Schöne ‚biologisch‘ begreift, ist unbestreitbar; die Frage bleibt nur, was hier ‚biologisch‘, βίος, ‚Leben‘ heißt; es meint trotz allem wörtlichen Anschein nicht das, was die Biologie darunter versteht.“  Heidegger, N I, S. 96.  Vgl. Heidegger, N I, S. 96. Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 116.  Heidegger, N I, S. 97.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

139

stelle aus der Götzen-Dämmerung wird transparent, dass der Rausch als das umgreifende, die künstlerische Produktion animierende Phänomen zu markieren ist. Aufgrund der Synthese von Physiologie und Psychologie lässt sich der Rausch nicht allein auf biologisch-vitalistischem Wege erschließen. Ebenso wenig darf er – in Wagnerscher Provenienz – voreilig als Verfließen, Taumel, Selbstentgrenzung oder Ekstase beurteilt werden: Zur Psychologie des Künstlers. – Damit es Kunst gibt, damit es irgend ein ästhetisches Tun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch. Der Rausch muß erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches. Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller großen Begierden, aller starken Affekte kommt; der Rauch des Festes, des Wettkampfes, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung; der Rausch der Grausamkeit; der Rausch in der Zerstörung; der Rausch unter gewissen metereologischen Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch; oder unter dem Einfluß der Narkotika; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens.³²⁶

Hier avanciert der Rausch eindeutig zum „ästhetischen Grundzustand“.³²⁷ Um den Rausch in geordnete, dem Willen zur Macht unterstellte Bahnen zu lenken und die Konnotationen des Ungebändigten und Entfesselten zurückzuhalten, geht Heidegger sehr geschickt vor. Im Falle der ontologischen Zentralisierung des Willens zur Macht suchte Heidegger zu Beginn der Vorlesung von 1936/37 alle Erscheinungsbereiche des Willens aus dessen Wesen zu erschließen. Im Gegensatz dazu, interpretiert er Nietzsches Auffächerung des Rausches in verschiedene, die Begierden, den Wettkampf, das Fest und den intensivierten Willen umspannende Arten als Darlegung bedingender Ursprungsorte, die ihrerseits den Rausch „auslösen und befördern“.³²⁸ Die Diversität der Formen des Rausches lässt sich wiederum auf zwei Urformen zurückführen: Auf die „Natur-Kunst-gewalten“³²⁹ des Apollinischen und des Dionysischen. Heidegger hebt an dieser Stelle eine Ambiguität deutlich hervor. Während in der Geburt der Tragödie allein das Dionysische mit dem Rausch verknüpft wird, wohingegen dem Apollinischen die

 Heidegger, N I, S. 97. Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 116.  Heidegger., N I, S. 97.  Vgl. Heidegger, N I, S. 97.  Heidegger, N I, S. 103. Heidegger verweist hinsichtlich der Zusammengehörigkeit beider Kunstgewalten auf den Aphorismus Nr. 1050 aus Der Wille zur Macht.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1050, S. 683: „An ihren Antagonismus [zwischen Dionysischem und Apollinischem, J.K.] ist die Fortentwicklung der Kunst ebenso notwendig geknüpft, als die Fortentwicklung der Menschheit an den Antagonismus der Geschlechter.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

gegenwendige Bedeutung des Traumes zugesprochen wird, wird das Phänomen des Rausches im Spätwerk in beiden Kunstprinzipien aufgespürt.³³⁰ Die signifikante Belegstelle ist der Aphorismus Nr. 799 aus Der Wille zur Macht: Im dionysischen Rausche ist die Geschlechtlichkeit und die Wollust; sie fehlt nicht im apollinischen.³³¹

Die Einschließung des Apollinischen in den Begriff des Rausches erfordert nach Heidegger erstens eine Erhellung der von Nietzsche vorgestellten Beschaffenheit des Rausches im Allgemeinen. Zweitens ist eine Klärung der beanspruchten Unumgänglichkeit des Rausches für die Entstehung der Kunst notwendig. Wie Heidegger durch die Zitation eines Passus aus der Götzen-Dämmerung darlegt, ist der Rausch wesentlich durch „das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle“³³² gekennzeichnet. Heidegger schließt die physiologische, den Leibzustand beinhaltende Seite nun endgültig mit der psychologischen Komponente des seelischen Gefühlszustandes zusammen. Dergestalt wird die Nachfolgefiguration des LeibSeele-Dualismus aufgelöst. Die Unabdingbarkeit der Gestimmtheit apostrophiert Heidegger sowohl in Sein und Zeit ³³³ als auch in der Hölderlin-Vorlesung über das Gedicht „Germanien“³³⁴ und in der ersten Analyse des Willens zur Macht. Im Zuge der ersten Nietzsche-Vorlesung denkt Heidegger die Gestimmtheit explizit mit dem Topos des Leibes zusammen. Auf diese Weise unternimmt Heidegger den Versuch, die

 Vgl. Heidegger, N I, S. 98. Um diese These nachzuweisen, bezieht sich Heidegger auf die folgende Äußerung: Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 117: „Was bedeutet der von mir in die Ästhetik eingeführte Gegensatz-Begriff apollinisch und dionysisch, beide als Arten des Rausches begriffen?“  Heidegger, N I, S. 98. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 799, S. 534. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[46].  Vgl. Heidegger, N I, S. 99.Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 116: „Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle.“  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §29, S. 134 ff.  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymen „Germanien“ und „Der Rhein“, hrsg. von Susanne Ziegler, GA 39, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 82– 83: „Zur Stimmung gehört einmal Jenes, was stimmt, das Stimmende, sodann Jenes, das in der Stimmung gestimmt ist, und schließlich das gestimmte und stimmende wechselweise Bezogensein beider aufeinander. Dabei ist zu beachten, daß nicht zuerst ein Objekt und ein Subjekt vorhanden sind und daß sich dann eine Stimmung zwischen beide zwängt und zwischen Subjekt und Objekt hin- und hergeht, sondern die Stimmung und ihr Hinauf- oder Hinabkommen ist das Ursprüngliche und nimmt erst je in ihrer Weise das Objekt in die Stimmung und macht erst das Subjekt zum Gestimmten.“

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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über sich hinausgreifende, gefühlsmäßige Empfindung der Kraftsteigerung³³⁵ mitsamt der Überwindung des Gegensatzes von Innen- und Außensphäre widerzuspiegeln: Nach dem vorhin Geklärten muß diese Kraftsteigerung als das über-sich-hinaus-Vermögen verstanden werden, als ein Verhältnis zum Seienden, in welchem Verhältnis das Seiende selbst seiender, reicher, durchsichtiger, wesentlicher erfahren wird. Die Steigerung meint nicht, daß ‚objektiv‘ ein Mehr, ein Zuwachs an Kraft sich einstellt, sondern die Steigerung ist stimmungshaft zu verstehen: im Steigen begriffen – und von einem Steigen selbst getragen sein. Ebenso meint das Gefühl der Fülle nicht eine zunehmende Aufstauung von inneren Vorkommnissen, sondern vor allem jenes Gestimmtsein, das sich so bestimmen läßt, daß ihm nichts fremd und nichts zuviel ist, das allem offen ist und für alles auf dem Sprung: die größte Tollheit und das höchste Wagnis dicht nebeneinander.³³⁶

Es ist festzuhalten, dass durch Heideggers Ansatz beim Gefühl als Seismographen der im Rausch erwirkten Kraftsteigerung eine Öffnung des Willens zur Macht proponiert wird, die sich in alle Gegensätze ohne jede Vereinnahmungsintention hineinhält. Es handelt sich bei dem Gefühl nicht um ein inneres, nicht mitzuteilendes Privaterlebnis. Das Gefühl bezeichnet das apriorische Perfekt eines Leibzustandes, in dem „wir immer schon über uns hinweggehoben sind in das so und so uns angehende und nicht angehende Seiende im Ganzen“.³³⁷ In diesem Modus sind „wir außerhalb unserer selbst“³³⁸ und kommen gerade darin bei uns selbst als In-der-Welt-sein³³⁹ an. Der Wille zur Macht lässt sich in diesem frühen Stadium der Nietzsche-Auslegung Heideggers als Veranlasser des in der jeweiligen Gestimmtheit leibenden Übersichhinweggehobenseins verstehen. Er ist die Grundlage und Ausdrucksform jener Offenheit und Beeinflussbarkeit, die in dem das Seiende im Ganzen umspannenden, bändigenden und erfahrbar machenden Rausch ihre höchste Konkretion gewinnt.³⁴⁰

 Vgl. zu diesem Punkt das Kapitel 1.2 zu Heideggers Wesensbestimmung des Willens zur Macht.  Heidegger, N I, S. 100 – 101.  Heidegger, N I, S. 100.  Vgl. Heidegger, N I, S. 100. Vgl. zu Heideggers Deutung der Leiblichkeit, welche den Dualismus von „Innen“ und „Außen“ überwindet: Rafael Capurro, „Herausdrehung aus dem Platonismus.“ Heideggers existenziale Erstreckung der Sinnlichkeit, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, Frankfurt a. M. 1994, S. 139 – 157, bes. S. 146 – 150; Diego D‘Angelo, Die Schwelle des Lebe-Wesens. Überlegungen zur Leib-Interpretation Heideggers in der Nietzsche-Abhandlung, in: Studia Phaenomenologica, XII, S. 61– 84.  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §16, S. 76.  Vgl. Günter Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999, S. 100 – 101.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Mit Nachdruck ist zu betonen, dass der Wille zur Macht als Verhältnisangabe eines Bezugs zum Seienden fungiert, in welchem das Seiende „seiender, reicher, durchsichtiger, wesentlicher erfahren wird“.³⁴¹ Die Kraftsteigerung – d. h. die sich auf die Leiblichkeit des Selbst zurückwendende Empfindungsfähigkeit für das gestimmte Sichverweisen in das Sich-bestimmen-lassen durch das Seiende im Ganzen – nutzt das Seiende nicht zum einzuverleibenden und austauschbaren Garanten des eigenen Aufstieges. Die stimmungshafte Steigerung lässt das Seiende in seiner beachtungswürdigen Vielfalt allererst für den Menschen hervortreten. Das Individuum wiederum kann sich im Medium des gefühlshaft entfalteten, seinen Zenit im Rausch erreichenden Willen zur Macht von der selbstzentrierten Beklemmung lösen.

1.3.3 Die Interesselosigkeit und die Verehrungswürdigkeit als Charakteristika des Schönen Die allgemeine Klärung des Rauschgefühls als ästhetischem Zustand ist aufgrund der Apostrophierung des Gefühls der Fülle und der Lebensintensivierung in eine immens positive Kennzeichnung des Willens zur Macht übergegangen, der die Luzidität der Unvoreingenommenheit, die Gewährung der Unabhängigkeit des entdeckten Seienden und die gestimmte Hinaufhebung in dieses vereint. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Heidegger den Rausch der gebräuchlichen Identifikation mit einer temporär-affektiven Aufwallung entkleidet. Auf der Basis der Bestimmung des Rauschs als Vorbedingung der Kunst und als unüberbietbarer Bezug zum Seienden muss die Stellung von Dionysischem und Apollinischem überdacht werden. Um eine höhere Differenzierungsschärfe zu erreichen und die alleinige Engführung des Dionysischen mit dem Rausch zu umgehen, überträgt Heidegger diesen Gegensatz nun mit dem Begriffspaar „Traum und Verzauberung“.³⁴² Weil die beiden Gewalten erst aus dem Zustand des Rausches ihr „kunstentfaltendes Wesen erlangen“³⁴³ können, verzweigt und bändigt sich der hinwegtragende Rausch in ihnen in jene Gegenwendigkeit, deren Konfrontation und Versöhnung zur Formgebung des Kunstwerkes beiträgt. Das ApollinischeDionysische wird von Heidegger zum „Stilgesetz“³⁴⁴ erhoben, das er in Hölderlins Böhlendorff-Brief vom 04. Dezember 1801 in einer „noch tieferen und edleren

   

Heidegger, N I, S. 101. Vgl. Heidegger, N I, S. 103. Heidegger, N I, S. 103. Heidegger, N I, S. 105.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

143

Weise“³⁴⁵ vorgebildet sieht. Durch diesen Vergleich mit Hölderlins Gegenüberstellung des „heiligen Pathos“³⁴⁶ auf der einen Seite und der „abendländischen Junonischen Nüchternheit der Darstellungsgabe“³⁴⁷ auf der anderen Seite wird es möglich, Leidenschaft und Nüchternheit als aufeinander bezogene Vermögen künstlerischer Gestaltung zu begreifen. In ihrer Dualität erfahren sie die im Gefühl des Rausches erschlossene Weite des Seienden in einer jeweils spezifischen Weise und vermögen das Eröffnete im Kunstwerk gemeinsam zu binden. Bislang blieb der Impetus und Entstehungsgrund des Rauschgefühls noch im Dunklen. Dessen Entschlüsselung findet sich in dem kurzen Zwischenabschnitt Kants Lehre vom Schönen. Ihre Mißdeutung durch Schopenhauer und Nietzsche. ³⁴⁸ Es kann an dieser Stelle nicht auf sämtliche Filiationen der von Heidegger gegebenen Auslegung Kants und Schopenhauers eingegangen werden. Zwar ist das Stück auch wegen des in ihm verhandelten Sachgehalts von Interesse; in erster Linie ist es jedoch aufgrund der für Heideggers Nietzsche-Verständnis konstitutiven Ausgrenzung sämtlicher Schopenhauerscher Einflussfaktoren aufschlussreich. Die Diskussion nimmt ihren Ausgang von Kants Aus dem ersten Momente gefolgerten Erklärung des Schönen: Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön. ³⁴⁹

Die Qualifikation des Rausches zum ästhetischen, d. h. kunstschaffenden und kunstempfangenden Zustand scheint dem „interesselosen Wohlgefallen“³⁵⁰ diametral entgegenzustehen, was sich auch in Nietzsches eigener Wahrnehmung widerspiegelt: Seit Kant ist alles Reden von Kunst, Schönheit, Erkenntnis, Weisheit vermanscht und beschmutzt durch den Begriff ‚ohne Interesse.‘³⁵¹

 Heidegger, N I, S. 104.  Heidegger, N I, S. 104. Vgl. Friedrich Hölderlin, Große Stuttgarter Ausgabe, 6, 1 Briefe, Bd. 6, hrsg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1943 – 1985, S. 426.  Heidegger, N I, S. 104. Vgl. Hölderlin, Stuttgarter Ausgabe, Bd. 6, S. 426.  Vgl. Heidegger, N I, S. 106 – 114.  Heidegger, N I, S. 107– 108. Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, §5, Werkausgabe Band X, hrsg. von Wilhelm Weischedel, 22. Auflage, Frankfurt a. M. 2015, S. 124.  Vgl. Heidegger, N I, S. 108.  Vgl. Heidegger, N I, S. 108. Vgl. Nietzsche, NF-1883,7[18].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Heideggers Erkenntnisziel liegt in dem Nachweis, dass Kants Begriff des Schönen in Wirklichkeit mit Nietzsches Apostrophierung des Gefallenden zu vereinigen ist. Nietzsches scharfe Kritik an Kant ergibt sich nach Heidegger aus einer ungeprüften Übernahme der Bedeutung von Interesselosigkeit, wie sie in der Schopenhauerschen Kunstphilosophie vorzufinden sei. Wenn Nietzsche sich gegen Kant wende, könne er daher nur Schopenhauers Kant-Verständnis vor Augen haben. Heidegger unterstellt Schopenhauer, den Kantischen Satz am „verhängnisvollsten mißdeutet“³⁵² zu haben. An dieser Stelle ist zu fragen, inwieweit Heidegger dabei selbst eine Missdeutung Schopenhauers unterläuft, die bezeichnenderweise auf der undifferenzierten und polemischen Ablehnung fußt, die der späte Nietzsche seinem ehemaligen Lehrer entgegenbringt.³⁵³ In dem Versuch, Nietzsche aus der Abhängigkeit gegenüber Schopenhauer zu befreien und in eine Konvergenzlinie mit Kant zu rücken, gerät Heidegger in eine Abhängigkeit zu Nietzsches Urteil gegenüber Schopenhauer.³⁵⁴ Heidegger hat zwar Recht, wenn er die Kunstbetrachtung bei Schopenhauer an das „Aushängen des Willens“³⁵⁵ knüpft. Dass das „Seinlassen des Schönen“³⁵⁶ in Schopenhauers Ästhetik in eine „Gleichgültigkeit“³⁵⁷ einmünde oder etwa jeden „wesenhaften Bezug zum Gegenstand“³⁵⁸ tilge, ist jedoch ein kontrafaktischer Einwand, der das Wesentliche der Kunstauffassung Schopenhauers verkennt. Was Heidegger in eigener Sache gegen Schopenhauer meint mobilisieren zu müssen, ist in Wahrheit

 Heidegger, N I, S. 110.  Vgl. zur Schopenhauer-Rezeption des späten Nietzsche: Lore Hühn, Von Schopenhauer zu Nietzsche, in: Barbara Neymeyr / Andreas Urs Sommer (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, bes. S. 159 ff. Vgl. ferner Martin Morgenstern, Vom Vorbild zum Antipoden. Die Bedeutung Schopenhauers für Nietzsches Denken, Würzburg 2018.  Helmut Pfotenhauer hebt hingegen die Nähe zwischen Schopenhauers und Nietzsches kunstphilosophischen Auffassungen hervor. Vgl. Helmut Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie. Nietzsches ästhetische Theorie und literarische Produktion, Stuttgart 1985, S. 103: „Es gibt kaum eine Ästhetik im 19. Jahrhundert, die, wenn nicht in ihrem Begründungszusammenhang, so doch in ihren Resultaten und Wertschätzungen, so weitgehend mit den Auffassungen Nietzsches übereinstimmt.“ Vgl. zu dieser Thematik besonders Barbara Neymeyr, Ästhetische Subjektivität als interesseloser Spiegel? Zu Heideggers und Nietzsches Auseinandersetzung mit Schopenhauer und Kant, in: Philosophisches Jahrbuch 102 (1995) S. 225 – 248. Vgl. ferner Rita Casale, Heideggers Nietzsche, S. 261– 264; Christel Fricke, Kants Theorie des reinen Geschmacksurteils, Berlin / New York 1990.  Heidegger, N I, S. 109.  Heidegger, N I, S. 109.  Heidegger, N I, S. 109.  Heidegger, N I, S. 110.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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eine sehr treffende Beschreibung dessen, was dieser in der Figur des „reinen Subjekts des Erkennens“³⁵⁹ bedenkt. So heißt es im §34 der Welt als Wille und Vorstellung: Indem man, nach einer sinnvollen Deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individuum, seinen Willen, vergißt und nur noch als reines Subjekt, als klarer Spiegel des Objekts bestehend bleibt; so, daß es ist, als ob der Gegenstand allein dawäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt, und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern Beide Eines geworden sind, indem das ganze Bewußtseyn von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist; wenn also solchermaaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subjekt aus aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum: denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern er ist reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß. ³⁶⁰

In unleugbarer Übereinstimmung mit Schopenhauer apostrophiert Heidegger die in der Interesselosigkeit der Kontemplation waltende Entbergung des Gegenstandes auf die in ihm hinterlegte Schönheit und verbindet dies wie Schopenhauer mit der Auflösung der Subjekt-Objekt-Spaltung: Der wesenhafte Bezug zum Gegenstand selbst kommt durch das ‚ohne Interesse‘ gerade ins Spiel. Es wird nicht gesehen, daß jetzt erst der Gegenstand als reiner Gegenstand zum Vorschein kommt, daß dieses in-den-Vorschein-Kommen das Schöne ist. Das Wort ‚schön‘ meint das Erscheinen im Schein solchen Vorscheins.³⁶¹

Auch Heideggers Beschreibung der „freien Gunst“³⁶² als „höchster Anstrengung unseres Wesens“³⁶³ und als „Befreiung unserer selbst zur Freigabe dessen, was in

 Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §34, Zürcher Ausgabe Bd. I/1, S. 232. Vgl. hierzu: Barbara Neymeyr, Ästhetische Autonomie als Abnormität. Kritische Analysen zu Schopenhauers Ästhetik im Horizont seiner Willensmetaphysik, Berlin / New York 1996.  Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §34, S. 232.  Heidegger, N I, S. 110.  Heidegger, N I, S. 109.Vgl. zum Motiv der reinen Gunst: Kant, Kritik der Urteilskraft, §5, S. 123: „Man kann sagen: daß, unter allen diesen drei Arten des Wohlgefallens, das des Geschmacks am Schönen einzig und allein ein uninteressiertes und freies Wohlgefallen sei; denn kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab. Daher könnte man von dem Wohlgefallen sagen: es beziehe sich in den drei genannten Fällen auf Neigung, oder Gunst, oder Achtung. Denn Gunst ist das einzige freie Wohlgefallen. Ein Gegenstand der Neigung und einer, welcher durch ein Vernunftgesetz uns zum Begehren auferlegt wird, lassen uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust zu machen. Alles Interesse setzt Bedürfnis vor-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sich eine eigene Würde hat“³⁶⁴, besitzt eine große Überschneidung mit Schopenhauers Akzentuierung des Zurückweichens der voluntativen Instrumentalisierbarkeit des Gegenstandes zugunsten der ihm innewohnenden Idee. In deren Betrachtung kann sich das Subjekt von seiner Getriebenheit und dem stets willensbezogenen Interesse befreien: Wann aber äußerer Anlaß, oder innere Stimmung, uns plötzlich aus dem endlosen Strohme des Wollens heraushebt, die Erkenntniß dem Sklavendienste des Willens entreißt, die Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf die Motive des Willens gerichtet wird, sondern die Dinge frei von ihrer Beziehung auf den Willen auffaßt, also ohne Interesse, ohne Subjektivität, rein objektiv sie betrachtet, ihnen ganz hingegeben, sofern sie bloß Vorstellungen, nicht sofern sie Motive sind: dann ist die auf jenem ersten Wege des Wollens immer gesuchte, aber immer entfliehende Ruhe mit einem Male von selbst eingetreten, und uns ist völlig wohl. Es ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries: denn wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still.³⁶⁵

Davon abgesehen, ist es Nietzsches Bestimmung des Schönen als „Ausdruck des Verehrungs-Würdigsten“³⁶⁶, die nach Heidegger mit Kants Exposition des unverdunkelten Hervorscheinens des Würdevollen zu vergleichen ist. Indem Nietzsche das Gefallende als „jenes, was dem entspricht, was wir von uns fordern“³⁶⁷ versteht und diese an den Einzelnen adressierte Forderung von einer inneren Abwägung flankiert wird, die sich in der Kunst den Bewertungsmaßstab des gerade noch zu Bewältigenden entgegenhält, tritt die Komponente der Kraft deutlich hervor. Heidegger zitiert den wesentlichen, einleitenden Satz des Aphorismus Nr. 852 aus Der Wille zur Macht: Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo das Urteil ‚schön‘ angesetzt wird.³⁶⁸

aus, oder bringt eines hervor; und, als Bestimmungsgrund des Beifalls, läßt es das Urteil über den Gegenstand nicht mehr frei sein.“  Heidegger, N I, S. 109.  Heidegger, N I, S. 109.  Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, §38, S. 252– 253.  Heidegger, N I, S. 110.Vgl. Nietzsche, NF-1883,7[18]: „Mir gilt als schön (historisch betrachtet): was an den verehrtesten Menschen einer Zeit sichtbar wird, als Ausdruck des Verehrungs-Würdigsten.“  Heidegger, N I, S. 111.  Heidegger, N I, S. 114.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 852, S. 573: „Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo das Urtheil ‚schön‘ angesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft (aus dem es erlaubt ist, vieles mutig und wohlgemut entgegenzunehmen, vor dem dem Schwächling schaudert) – das Machtgefühl spricht das Urtheil

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Die Kunst wird in zweierlei Hinsicht an die sowohl für den Rausch als auch für das Schönheitsurteil konstitutive Fülle und Kraftsteigerung angebunden. Gemessen an der eigenen Kraft und der Bejahung derselben, kann das Schöne im Sinne des Erhabenen zum einen als antizipierte Herausforderung und Bedrohung des eigenen Wesens erscheinen und zum anderen als adäquate Spiegelung der Selbsteinschätzung.³⁶⁹ Heidegger selbst unterscheidet nicht direkt zwischen den beiden Erscheinungsformen des Schönen. Die erste kann anhand der Aufzeichnung Nr. 852 von Der Wille zur Macht ausgewiesen werden: Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung, – diese Witterung bestimmt auch noch unser ästhetisches Ja. (‚Das ist schön‘ ist eine Bejahung.)³⁷⁰

‚schön‘ noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur als hassenswert, als ‚häßlich‘ abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung, – diese Witterung bestimmt auch noch unser aesthetisches Ja. (‚Das ist schön‘ ist eine Bejahung).“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,10[168].  Vgl. dazu Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 114: „Es ist offenkundig Heideggers Absicht, Nietzsches Begriff der Kunst in Zwiesprache mit dieser ‚verwindenden Lesart‘ des Kantischen Schönheitsurteils zu bedenken. Dabei ergibt sich ein neuer Akzent. Da Nietzsche alles ‚Verehrungswürdige‘ und ‚Monumentalische‘ als ‚schön‘ gilt, greift er über Kant hinaus und überträgt die freien Regeln des Geschmacksurteils vom Bereich des Kunstwerks auf die Sphären der Moral und der Geschichte. Mehr noch, das Geschmacksurteil – die ausgesprochene Prädikation schön – erstreckt sich auf das ‚uns Zusagende, Entsprechende‘ überhaupt. Deshalb ist das ‚Schöne‘ mit Nietzsche als ‚exemplum‘, als ‚Vorbild unseres Wesens‘ zu verstehen. Diese Tendenz, über den Bezirk der Ästhetik hinauszugehen und eine Gesetzgebung für das Leben in den Blick zu nehmen, erweist das Schöne als ‚Maß gebend‘ und ‚Form setzend‘.“  Heidegger, N I, S. 112. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 852, S. 573. Vgl. Nietzsche, NF1887,10[168]. Nietzsches Verknüpfung der bedrohlichen Gefahr mit der Schönheit erinnert an Rilkes erste Duineser Elegie, die Heidegger wenige Seiten nach dem Nietzsche-Zitat anführt. Vgl. Heidegger, N I, S. 116: „Denn das Schöne ist nichts / Als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen / Und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht / Uns zu zerstören.“ Im Ausgang von der ersten Duineser Elegie entwickelt Otsuru eine reizvolle und pointierte These zum Verhältnis der beiden Grundlehren: Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Dike, S. 77: „In diesem ‚gerade noch‘ Bestehen vor dem ‚Schrecklichen‘ werden die sich entgegenstehenden Hauptzüge vom Künstler als die Hauptzüge seines Willens erfahren. Sie erweisen sich als die Hauptzüge des einheitlichen ‚Machtwillens‘ des Künstlers, und somit für Nietzsche des Willens zur Macht selbst. Nietzsche versteht die ‚Bändigung‘ der sich entgegenstehenden Hauptzüge durchaus in diesem Sinne. In dieser Weise kommt der Wille zur Macht durch das ‚gerade noch‘ Bestehen vor dem Schrecklichen hindurch auf sich selbst zurück: er steht selbst vor ihm und d. h. zugleich steigt er über sich selbst zu sich selbst hinüber. So gesehen hat das Rilke-Zitat nicht nur mit dem Rauschhaften der Kunst zu tun, sondern mit dem Ganzen der Nietzsche-Interpretation Heideggers: d. h. mit demjenigen Gedanken, auf den Heideggers Interpretation zunächst hinaus will: das

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die zweite Erscheinungsform des Schönen lässt sich über den Aphorismus Nr. 819 belegen: Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt – das ‚gefällt‘: d. h. das korrespondiert mit dem, was man von sich hält.³⁷¹

In Nr. 852 wird das leibhafte Entgegentreten des Gefährlichen als Wesensgrund der ästhetischen Bejahung gefasst. Nietzsche entwickelt in Nr. 819 eine Entsprechung zwischen der ruhenden Solidität und der Selbstgewahrwerdung. Daher scheint sich im Verhältnis zwischen dem Rausch und dem Schönen der Dualismus zwischen der inneren, dem Rausch zuzuordnenden Gefühlsregion und der äußeren Sphäre des im Kunstwerk oder in den Gestalten des Lebens gebannten Schönen zu reproduzieren. Die zweite Problemstellung neben der Sphärentrennung ist durch die unklare Hierarchie zwischen dem Rausch und dem Schönen bezeichnet. Beide Fragebereiche finden ihre Erhellung durch den gleichen Gedankengang. Es ist nach Heidegger verfehlt, die Schönheit allein an die werkgewordene Objektivierung zu binden. Wenn das Schöne die verehrungswürdige Durchsichtigkeit des sich selbst Zugetrauten³⁷² darstellt, ist sie zugleich das individuumsbezogene Maßgebende, weil sich in ihr die Begrenzung und Kontur des eigenen Wesens herausschält. Wird im Rauschgefühl der Bezug zu diesem plastischen Maß des Schönen gestiftet, kann der Rausch zwar – wie Heidegger zu Recht unterstreicht – kein ungeregeltes Verfließen bedeuten. Dennoch bleibt zunächst ungeklärt, wie sich die

‚gerade noch‘ Bestehen vor jenem ‚höchsten Hindernis‘, durch das hindurch der Wille zur Macht erst zu sich selbst kommt, d. h. immer zugleich: auf sich selbst zurückkommt. Dieses höchste Hindernis ist der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen.“ Zum einen ist diesbezüglich anzumerken, dass Heidegger keineswegs „zunächst“ die ewige Wiederkehr als höchstes Hindernis des Willens zur Macht konzipiert, sondern dieses Charakteristikum erst 1939 in die Verhältnissetzung beider Lehren einfließen lässt. Zum anderen geht Otsuru angesichts der 1936/37 von Heidegger vorgetragenen Vielschichtigkeit der Verbindungsmodelle zu weit, wenn er die einschränkende These vertritt: „Nur von diesem ‚höchsten Hindernis‘ her kann Heidegger den gefragten Zusammenhang der beiden Hauptgedanken Nietzsches begreifen.“ Vgl. Otsuru, Gerechtigkeit und Dike, S. 77.  Heidegger, N I, S. 112. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 819, S. 552. Vgl. Nietzsche, NF1886,7[7]. Bezeichnenderweise ist diese Nachlassaufzeichnung aus dem Jahre 1886 mit dem Titel Physiologie der Kunst überschrieben.  Heidegger, N I, S. 111: „Auch Nietzsche bestimmt das Schöne als das, was gefällt. Aber alles hängt am Begriff des Gefallens und des Gefallenden als solchen. Was gefällt, das nehmen wir als das uns Zu-sagende, Ent-sprechende. Was einem gefällt, was einem zu-sagt, hängt davon ab, wer der ist, dem etwas zu-sagen und ent-sprechen soll.Wer ein solcher ist, bestimmt sich aus dem, was er von sich fordert.“

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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in das Seiende im Ganzen hinweghebende, übersubjektive Steigerungsbewegung mit dem hellen Umriss des Schönen versöhnen lässt. Heidegger gelingt die Vereinigung, indem er das rauschhafte Hinaufgestiegensein und das Sich-ansprechen-lassen durch die Schönheit in einer wechselseitigen Bedingtheitsrelation entfaltet: Das Schöne ist nach den angeführten Erklärungen Nietzsches dasjenige, was uns und unser Verhalten und Vermögen bestimmt, sofern wir uns in unserem Wesen im Höchsten beanspruchen, d. h. über uns wegsteigen. Dieses Über-uns-weg-Steigen in der Fülle unseres Wesensvermögens geschieht für Nietzsche im Rausch. Also erschließt sich im Rausch das Schöne. Das Schöne selbst ist jenes, was in das Rauschgefühl versetzt.³⁷³

Die Selbstherausforderung des eigenen („im Höchsten“ beanspruchten) Wesens, die vorher als Entsprechung zu dem Gefallenden und Zusagenden gedeutet und somit auf der Seite des Schönen verortet wurde, wandert hier in den Rausch über, der den Vollzug dieses Geschehens bezeichnet. Der eingangs der obigen Passage entfalteten Parallelität, wonach wir immer dann und immer schon von dem Schönen bestimmt werden, wenn und sofern sich in der Auferlegung der höchsten Anstrengung und der Zusammenziehung auf diese im Medium des Rausches der weiteste Möglichkeitshorizont eröffnet, werden zwei Prioritätsanzeigen beigeordnet. Dass im Rausch das Schöne erschlossen wird, ist plausibel, weil durch das Abstreifen einer selbstbezüglichen Perspektivenverengung hin zum Gefühl der Fülle ein Verständnis für die ansonsten verdeckte Gipfelhöhe des eigenen Wesens generiert werden kann, das die Kunst maßhaltend zum Ausdruck bringt. Zudem kann – wie unter Rekurs auf Heideggers Auseinandersetzung mit Kants Lehre vom Schönen zu ergänzen ist – das Erscheinende und zu Würdigende der Kunst erst unbeeinflusst hervortreten, wenn es in der Offenheit des Rausches und in dem Einbezug des „leibenden Gestimmtseins“³⁷⁴ entdeckt wird. In der Darlegung des Vorranges des Rausches wird ein Zirkeleinwand vermieden, weil primär die Sichtbarwerdung und Erkennbarkeit des Schönen und nicht so sehr dessen Entstehung unmittelbar thematisch wird. Die umgekehrte Ursprungserhellung – wonach das Schöne, das im Rausch erschlossen wird, seinerseits erst in den Rausch versetzt – ist schwieriger zu begreifen. Sie lässt sich allein aus Heideggers Neubestimmung der Schönheit verstehen, in der diese erstens dem Wesen

 Heidegger, N I, S. 113.  Vgl. Heidegger, N I, S. 106: „Der Rausch ist Gefühl, leibendes Gestimmtsein, das Leiben einbehalten in die Gestimmtheit, die Gestimmtheit verwoben in das Leiben. Das Gestimmtsein aber eröffnet das Dasein als ein steigendes und breitet es aus in der Fülle seiner Vermögen, die sich wechselweise erregen und ins Steigen bringen.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

des Rausches wieder angenähert und zweitens die Subjekt-Objekt-Beziehung als Erklärungsmodell argumentativ zurückgewiesen wird.³⁷⁵ Wird die Herauslösung des Schönen aus der Fixierung im Kunstwerk nicht hinreichend berücksichtigt, liest sich der Satz wie eine Beipflichtung zur konventionellen Rezeptionsästhetik, wonach das Kunstwerk seine Wirkung in der Herbeiführung bestimmter Empfindungen und Überlegungen oder in der inneren Nachbildung der Produktivität des Künstlers seitens des Betrachters besitzt. Dass dieser Erklärungsansatz in die Irre führt, wird anhand der scharfen Ablehnung deutlich, die Heidegger Nietzsche im Hinblick auf dessen Aufnahme rezeptionsästhetischer Theorien zuteilwerden lässt. Heidegger bezieht sich dabei auf den Aphorismus Nr. 821 aus Der Wille zur Macht: – die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustands, des Rausches.³⁷⁶

Als Achillesferse der Nietzscheschen Behandlung der Kunst macht Heidegger dessen unterbleibende Besinnung auf das Kunstwerk aus, das in der Konstellation

 Vgl. Katrin Meyer, Auseinandersetzung mit Nietzsche II. Das Rettende der Kunst, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 181: „Im ‚Wille zur Macht als Kunst‘ werden zwei Denkbewegungen Heideggers miteinander verknüpft: Die Hinwendung zum Schöpferischen und die Abwendung von einem ihm immanenten ‚Subjektivismus‘, die sich später zur Technikkritik verdichtet. Terminologisch lässt sich diese transitorische Ambivalenz in die beiden Begriffe Kunst und Ästhetik auseinanderfalten.“  Heidegger, N I, S. 117. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 821, S. 553. Vgl. zur kontextualisierenden Verortung dieser Auffassung Nietzsches das Gesamtfragment aus dem Frühjahr 1888: Nietzsche, NF-1888,14[47]: „Pessimismus in der Kunst? – Der Künstler liebt allmählich die Mittel um ihrer selber willen, in denen sich der Rauschzustand zu erkennen giebt: die extreme Feinheit und Pracht der Farbe, die Deutlichkeit der Linie, die Nuance des Tons: das Distinkte, wo sonst, im Normalen, alle Distinktion fehlt – : alle distinkten Sachen, alle Nuancen, insofern sie an die extremen Kraftsteigerungen erinnern, welche der Rausch erzeugt, wecken rückwärts dieses Gefühl des Rausches. – : die Wirkung der Kunstwerke ist die Erregung des kunstschaffenden Zustandes, des Rausches… – : das Wesentliche an der Kunst bleibt ihre Daseins-Vollendung, ihr Hervorbringen der Vollkommenheit und Fülle; Kunst ist wesentlich Bejahung, Segnung, Vergöttlichung des Daseins…– : Was bedeutet eine pessimistische Kunst?… Ist das nicht eine contradictio? – Ja. Schopenhauer irrt, wenn er gewisse Werke der Kunst in den Dienst des Pessimismus stellt. Die Tragödie lehrt nicht ‚Resignation‘…– Die furchtbaren und fragwürdigen Dinge darstellen ist selbst schon ein Instinkt der Macht und Herrlichkeit am Künstler: er fürchtet sie nicht… Es giebt keine pessimistische Kunst… Die Kunst bejaht. Hiob bejaht. Aber Zola? Aber de Goncourt? – die Dinge sind häßlich, die sie zeigen: aber daß sie dieselben zeigen, ist aus Lust an diesem Häßlichen… – hilft nichts! ihr betrügt euch, wenn ihr’s anders behauptet. – Wie erlösend ist Dostoiewsky!“

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Künstler – Rezipient untergehe.³⁷⁷ Nach Heidegger ist es schlicht unwahr, dass der Rezipient in seiner Betrachtung des Werkes das Schaffen nachvollziehe, weil schon der Künstler sein geschaffenes Werk nicht mehr aus dem Blickwinkel der einstmals dafür benötigten Schaffenskraft sehen könne. Dass das Schöne in den Rausch versetzt – die Ähnlichkeit dieser These Heideggers zu Platons Eros ist offenkundig – hängt vielmehr mit der Heraufstufung des Schönen zum Bestimmenden des Rausches als der ästhetischen Grundstimmung zusammen: Der Rausch als Gefühlszustand sprengt gerade die Subjektivität des Subjektes. Im Gefühlhaben für die Schönheit ist das Subjekt über sich hinaus gekommen, also nicht mehr subjektiv und Subjekt. Umgekehrt: die Schönheit ist kein vorhandener Gegenstand eines bloßen Vorstellens; als das Bestimmende durchstimmt sie den Zustand des Menschen. Die Schönheit durchbricht den Kreis des weggestellten, für sich stehenden ‚Objektes‘ und bringt dieses in die wesentliche Zugehörigkeit zum ‚Subjekt‘. Schönheit ist nicht mehr objektiv und Objekt. Der ästhetische Zustand ist weder etwas Subjektives noch etwas Objektives. Die beiden ästhetischen Grundworte Rausch und Schönheit benennen in derselben Weise den ganzen ästhetischen Zustand und das, was in ihm sich eröffnet und ihn durchherrscht.³⁷⁸

Es wird nun deutlich, dass sich die Entgegensetzung zwischen dem Rausch als menschlicher Grundstimmung und der Schönheit als dem Bestimmenden³⁷⁹ sowie die Forderung nach einer Begründung des einen aus dem Wesen des anderen nur aufrechterhalten lassen, wenn die metaphysisch-epistemologische Dichotomie von Subjekt und Objekt beibehalten wird. Indem das Individuum in seinem Gefühlszustand von der Schönheit affiziert und in der rauschhaft-ekstatischen Steigerung zur Überwindung des Subjektiven angeregt wird, wird zugleich die Divergenz zum Objekt aufgehoben, sodass dieses aus der Umklammerung durch das Subjekt³⁸⁰ befreit wird und sich das Schöne in

 In dieser Kritik an Nietzsche wird die Motivationslinie für den 1935/36 verfassten KunstwerkAufsatz erkennbar, in welchem Heidegger Welt und Erde in einer zwiespältig verfassten Zusammengehörigkeit zum Austrag kommen lässt, die im Kunstwerk in die Wahrheit ihres Streits gesetzt wird. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 1– 74, bes. S. 49 – 51. Zur Beziehung zwischen der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst und dem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 98 – 112.  Heidegger, N I, S. 124.  Vgl. Heidegger, N I, S. 123.  Auch in dieser Auffassung Heideggers wird die Parallele zu Schopenhauer sichtbar. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, §38, S. 253: „Dieser Zustand ist aber eben der, welchen ich oben beschrieb als erforderlich zur Erkenntniß der Idee, als reine Kontemplation, Aufgehn in der Anschauung, Verlieren ins Objekt, Vergessen aller Individualität, Aufhebung der dem Satz vom Grunde folgenden und nur Relationen fassenden Erkenntnißweise, wobei zugleich und unzertrennlich das angeschaute einzelne Dinge zur Idee seiner Gattung, das erkennende

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

seiner Einigkeit mit dem Rausch bewahrheiten kann. Weil der Einzelne umgekehrt nur in der Erfahrung des Schönen – das heißt des ihm Gefallenden, ihm Entsprechenden oder ihn Bedrohenden – mit seiner Wesenshöhe konfrontiert wird, zu der aufzuschwingen das Schöne von ihm fordert, versetzt das Schöne in den damit einhergehenden Rausch. Die Unzuträglichkeit der Subjekt-Objekt-Relation zeigt sich für Heidegger an der Möglichkeit des Positionstausches. Der Gefühlszustand des Rausches kann als das Objektive im Sinne der allgemeingültigen „Wirklichkeit“³⁸¹ benannt werden, wohingegen der Inhalt des Schönen, durch den die Anregung des Rausches geschieht, aus dem Subjektiven der individuellen Beurteilungspräferenz hergeleitet werden kann.

1.3.4 Die Beziehung zwischen dem Rausch und der Form Es ist Heidegger gelungen, den ästhetischen Zustand als Einheitsgefüge von leibzuständlichem Rauschgefühl und dem in diesen Zustand integrierten Schönen zu entwerfen. Während das Rauschgefühl als Vorbedingung der Kunst im Sinne des höchsten Freiseins für das Sich-bestimmen-lassen durch das Schöne fungiert, enhüllte sich das Schöne als Bejahung des für das „Vor-bild unseres Wesens“³⁸² Gehaltenen und erwies sich in diesem Zuge als das rauschevozierende Gefallende. Nichtsdestotrotz sind die Formen des ästhetischen Schaffens und der ästhetischen Betrachtung und damit die „im ästhetischen Zustand vollziehbaren Grundverhaltensweisen“³⁸³ diffus geblieben. Die einladende Kennzeichnung des künstlerischen Schaffens als „rauschhaftes Hervorbringen des Schönen im Werk“³⁸⁴, in welchem das Schaffen zu sich selbst kommt, kann – wie Heidegger einräumt – aufgrund des ungeklärten Status des Werkes selbst gegenüber Nietzsches reduktiver Zurückführung des Schaffens auf den „explosiven Zustand“³⁸⁵ des gesteigerten und in seiner Erforschbarkeit erneut in die Gefilde der

Individuum zum reinen Subjekt des willenlosen Erkennens sich erhebt, und nun Beide als solche nicht mehr im Strohme der Zeit und aller andern Relationen stehn.“  Heidegger, N I, S. 123.  Heidegger, N I, S. 112.  Heidegger, N I, S. 114.  Heidegger, N I, S. 114– 115.  Heidegger, N I, S. 115. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 811, S. 545 – 546: „Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein. Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur ‚Person‘ gezüchtet sind, die an sich in irgendwelchem Grade dem Menschen überhaupt anhaften: 1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nötigung, aus den Dingen einen Reflex der eigenen Fülle und

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Physiologie zurückverwiesenen Lebensvollzuges nicht beanspruchen, einen höheren Aussagegehalt in sich zu tragen. Um das Schaffen zu konturieren, ist es erforderlich, zum ersten Mal die genuine Absicht und Blickrichtung des Künstlers zu beleuchten. Mit den wichtigen Abschnitten Der Rausch als formschaffende Kraft und Der große Stil gelangt Heidegger in das Denkzentrum seiner Konstruktion der Grundpfeiler der Nietzscheschen Ästhetik. Insgesamt zielt er darauf ab, das Verständnis des Rausches von der Assoziation des Wilden und Ungezügelten abzurücken. So naheliegend es scheint, das Schöne als Lenkung und Eindämmung des Rausches zu deuten, so widersinnig wäre es angesichts der Intention Heideggers, den Rausch in sich als höchste Gesetzmäßigkeit zu etablieren. Zu diesem Zweck greift Heidegger auf die bereits angebahnte Angleichung des Rausches und der Schönheit zurück, deren gemeinsames Wesen er nun im „über-sich-hinaus-steigen“³⁸⁶ zusammenfasst. Um die Unabdingbarkeit der kontrollierenden Einhegung in der Genese des Rausches zu verdeutlichen, löst Heidegger das Schaffen von der Globalbedeutung des dynamischen Lebensvollzuges ab, um es als gestaltende Betrachtungsweise des Künstlers zu emanzipieren. Nietzsches Begriff des Schaffens erfährt – wie Heidegger im Rekurs auf eine Stelle aus der Götzen-Dämmerung entfaltet – seine Konkretion im künstlerischen Vorgang des Idealisierens. Das im Idealisieren thematische, „ungeheure Heraustreiben der Hauptzüge“³⁸⁷ wird von Heidegger erneut als das „gerade-noch-Bestehen vor dem höchsten Gesetz“³⁸⁸ und als dessen „Bändigung“³⁸⁹ verstanden. Der Künstler nimmt an den Dingen und der Natur dasjenige in den Blick und erachtet es des Ins-Werk-setzens für würdig, was seiner Vollkommenheit zu machen – 2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andere Zeichensprache verstehen – und schaffen… – dieselbe, die mit manchen Nervenkrankheiten verbunden erscheint – die extreme Beweglichkeit, aus der eine extreme Mitteilsamkeit wird; das Redenwollen alles dessen, was Zeichen zu geben weiß…ein Bedürfnis, sich gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit, von sich durch hundert Sprachmittel zu reden… ein explosiver Zustand – man muß sich diesen Zustand zuerst als Zwang und Drang denken, durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Koordination dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken, Begierden) – als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von innen wirkender starker Reize – Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern, der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt. Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet von Vaskular-Veränderungen und folglich von Veränderungen der Farbe, der Temperatur, der Sekretion…“ Vgl. Nietzsche, NF1888,14[170].  Heidegger, N I, S. 115.  Heidegger, N I, S. 116.  Heidegger, N I, S. 116.  Heidegger, N I, S. 116.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Empfindung vom Schönen im Höchstmaß genügt und in Anmessung an die Kraftfülle noch umsetzbar ist. Die Schönheit wird von Nietzsche in einer Beziehung zu einer souveränen und gewaltlosen, plastischen Macht situiert. Dennoch wird die Schönheit als schlichtweg inkommensurabel begriffen: ‚Schönheit‘ ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetzes; außerdem ohne Spannung: – daß keine Gewalt mehr not tut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht – das ergötzt den Machtwillen des Künstlers.³⁹⁰

Neben der damit untermauerten, die Schönheit kennzeichnenden Nonchalance der Zusammenfügung, die aufgrund der Ineinssetzung des Schönen mit dem Rausch auf diesen zurückwirkt, legitimiert sich mit diesem Zitat auch Heideggers Abgrenzungsimpetus gegenüber einer Fundierung des künstlerischen Schauens durch leibseelische Vorgänge. Weil der „Rausch in sich auf Hauptzüge, d. h. auf ein Gezüge und Gefüge bezogen“³⁹¹ ist und erst aufgrund dieses Bezogenseins evoziert werden kann, ergibt sich die Frage, wie das Bezuggebende zu bestimmen ist. Heidegger inkludiert ein weiteres Grundwort der Ästhetik in die Diskussion, wenn er dieses Gewährende als „Form“³⁹² enthüllt. Diese Relevanzerweiterung der Form erwächst vor dem Hintergrund der von Nietzsche in Nr. 817 von Der Wille zur Macht entschlüsselten „Grundhaltung“³⁹³ des Künstlers, der „keinem Dinge einen Wert zugesteht, es sei denn, daß es Form zu werden vermag“.³⁹⁴ Es korrespondiert der von Heidegger intendierten Zähmung der Konzeption des Rausches, dass diesem die Form vorgeordnet wird. Heidegger plädiert dabei für die Eigenständigkeit der Form, die als „Zuständlichkeit des ursprünglichen Verhaltens zum Seienden, des Festlichen“³⁹⁵ alle anderen Bezüge zum Seienden vermittelt. Die Form führt „das durch sie bestimmte Verhalten“³⁹⁶ – darunter fällt auch die künstlerische Tätigkeit mitsamt dem Rausch – überhaupt erst in die

 Vgl. Heidegger, N I, S. 117. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 803, S. 537– 538.  Heidegger, N I, S. 118.  Vgl. Heidegger, N I, S. 118: „So müssen wir uns erneut von der scheinbar einseitigen Betrachtung der bloßen Zuständlichkeit dem zuwenden, was im Gestimmtsein die Stimmung bestimmt. Wir nennen es im Anschluß an die übliche Begriffssprache der Ästhetik, die auch Nietzsche mitspricht, die ‚Form.‘“  Heidegger, N I, S. 118.  Vgl. Heidegger, N I, S. 118. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 817, S. 551. Vgl. Nietzsche, NF-1887,10[40].  Heidegger, N I, S. 119.  Heidegger, N I, S. 119.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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„Unmittelbarkeit eines Bezuges zum Seienden“.³⁹⁷ Nichtdestominder fungiert die Form nicht nur als Medium, welches das „Begegnende aufscheinen läßt“³⁹⁸ und das Seiende durch die festliche Feier seines Wesens in das Offene stellt.³⁹⁹ Die Form wird darüber hinaus als Bezugsstifterin der Ausübung des Rausches verstanden. Der Rausch kann sich nur in und aus dem Bestimmtwerden durch die vollendete Form – die somit auch die größte Bestimmungskraft aufweist – entfalten. Diese Wesensvielfalt der Form lässt sich anhand des folgenden Zitats belegen: Die Form bestimmt und umgrenzt erst den Bereich, in dem der Zustand der steigenden Kraft und der Fülle des Seienden sich selbst erfüllt. Die Form begründet den Bereich, in dem der Rausch als solcher möglich wird. Wo Form als höchste Einfachheit der reichsten Gesetzlichkeit waltet, da ist Rausch.⁴⁰⁰

Auf der Grundlage dieser Hierarchisierung wird transparent, dass der von Heidegger gewählte Titel des Abschnittes – Der Rausch als formschaffende Kraft – irreführend ist, wenngleich er vor dem Hintergrund der intendierten Sublimierung des Rausches zutreffend ist. Zudem ist der Titel im Hinblick auf die zitierte Aufzeichnung Nr. 817 vollkommen legitim, da sich der vorauslaufende, künstlerische Zustand des über sich hinaussteigenden Lebens in der Herausschälung der gestalthaften Hauptzüge innerhalb des Seienden bewahrheitet. In dem obigen Passus kehrt Heidegger das Verhältnis hingegen um, weil die Form als öffnende Ermöglichungsbedingung des Rausches etabliert wird. Somit ergibt sich in Heideggers Auslegungsgang (wie schon hinsichtlich der Konstellation von Rausch und Schönheit) eine zirkuläre Begründungsstruktur im Verhältnis von Form und Rausch. Zwar grenzt die Form das Gebiet ein, in dem der Rausch entstehen und ausgeübt werden kann; die Empfindungsfähigkeit, eine logisch-vereinfachende und stabilisierende Form zu antizipieren, hervorzubringen oder sie wahrzunehmen und sich in sie einzulassen, entspringt jedoch aus der Krafterhöhung, die mit dem Rauschzustand einhergeht. Dieser Prozess wird fortgesetzt, indem die aus einem Übermaß von Kraft motivierte Erkenntnis der vereinfachenden Form wiederum steigernd auf das Kraftgefühl zurückwirkt.⁴⁰¹ Heidegger entwickelt diese  Heidegger, N I, S. 119.  Heidegger, N I, S. 119.  Vgl. Heidegger, N I, S. 119.  Heidegger, N I, S. 119.  Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 800, S. 534: „…die ‚Verschönerung‘ ist eine Folge der erhöhten Kraft. Verschönerung als Ausdruck eines siegreichen Willens, einer gesteigerten Koordination, einer Harmonisierung aller starken Begehrungen, eines unfehlbar perpendikulären Schwergewichts. Die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Krafterhöhung:

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Konstellation zu einer „Verbindung der Innerlichkeit“⁴⁰² fort, in der die Form mit dem Rausch zusammenfällt, weil sie diesen in der Vorgabe der „reichsten Gesetzlichkeit“ in seiner „höchsten Einfachheit“ gestaltet, ohne als externer Faktor sichtbar zu werden.⁴⁰³ Es ist für die Deutung der Form (und deswegen auch des Rausches) von immenser Wichtigkeit, dass die Form von Heidegger nicht im (pseudo‐)aristotelischen Sinne als äußere und qualitätslose Umrandung des Inhaltes exponiert wird, sondern als erscheinen-lassende Grenze, worin das Seiende als Gestalt kenntlich wird.⁴⁰⁴ Entscheidend ist, dass sich die Form in Heideggers Interpretation nicht allein als das Ausweitende zeigt, das den Inhalt in den festen Umriss hervorkommen lässt und ihn darin hält. Die echte Form „durchherrscht“⁴⁰⁵ den Inhalt (und d. h. hier: den Rausch) nämlich in einer Weise, in der sie zum „einzige[n] und wahrhafte[n] Inhalt“⁴⁰⁶ avanciert. Dies ist freilich nicht im Sinne des „L‘art pour umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl… Spitze der Entwicklung: der große Stil.“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[117].  John Sallis, Die Verwindung der Ästhetik, in: Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 193 – 206, hier S. 202.  Vgl. dazu Sallis, Die Verwindung der Ästhetik, S. 201– 202: „Der Rausch ist ohne Zweifel eine formerzeugende Kraft – im Gegensatz zu den formlosen Wellenbewegungen des Gefühls, die Heidegger in viel eindeutigerer Weise als Nietzsche mit der Musik Wagners verbindet. Die Wechselseitigkeit der Verbindung, ihre doppelte Ausrichtung, hat aber große Konsequenzen. Der Rausch erzeugt Form, aber die Form ist der Bereich – der Abstand –, in dem der Rausch möglich wird. Daher ist der Rausch so, dass er genau den Raum erzeugt, in dem er Macht als solche ausüben kann, in dem er als Rausch sich ereignen kann. Die Verbindung zwischen dem Rausch, der die Form erzeugt, und der Form, die dem Rausch genau seinen Ort eröffnet, könnte dann als eine aktive Spirale dargestellt werden, als eine spiralförmige Bewegung, in der das eine Moment das andere noch weiter trägt. Gleichzeitig ist die Verbindung eine Verbindung der Innerlichkeit, bei der die eine die andere in ihrem wesentlichen Vorkommen fortträgt.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 120: „Nietzsche versteht unter ‚Form‘ nie nur das ‚Formale‘, d. h. jenes, was eines Inhaltes bedarf und am Inhalt nur die äußerlich entlanglaufende und ohnmächtige Grenze ist. Diese Grenze begrenzt nicht, sie ist selbst erst das Ergebnis des bloßen Aufhörens, nur Rand, aber nicht Bestand, nicht das, was erst Beständigkeit und Insichstehen verleiht, indem es den Inhalt so durchherrscht und feststellt, daß er als ‚Inhalt‘ verschwindet. Die echte Form ist der einzige und wahrhafte Inhalt.“ Heidegger unterstreicht auch hier, dass Nietzsche das Wesen der Form nichtsdestotrotz nicht adäquat erfassen könne, weil er die Form an arithmetischen und logischen Gesetzmäßigkeiten ausrichte und daher keine Besinnung auf die Wahrheit des Kunstwerkes stattfinde (vgl. Heidegger, N I, S. 120 – 121). Vgl. dagegen Sallis, Die Verwindung der Ästhetik, S. 205: „Man mag sich aber fragen, ob dies – oder etwas, das diesem viel näher gewesen wäre – nicht die Vorgehensweise in Nietzsches Geburt der Tragödie ist, wo es weniger um den Künstler geht als um die künstlerischen Kräfte der Natur, die in und durch den Künstler wirken, und wo das tragische Kunstwerk mehr als sein Geschaffenwerden Thema Nietzsches ist.“  Heidegger, N I, S. 120.  Heidegger, N I, S. 120.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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l‘art“ gemeint. In dieser Kunstauffassung wird die Form von jeglichem Inhalt gerade abgehoben und letzterer für sekundär erklärt. Heidegger legitimiert das Urteil, die Form sei der wahrhafte Inhalt, zum einen unabhängig vom Motiv des Schaffens damit, dass sie als das Bestand verleihende Substrat zu verstehen ist. Innerhalb dieses Substrats wird jedes Seiende in die Offenbarkeit des von der Form aufgestellten εἶδος, des Aussehens, gebracht.⁴⁰⁷ Zum anderen wird diese Auffassung wieder auf die Betrachtungsart des Künstlers angewandt und durch die Aufzeichnung Nr. 818 von Der Wille zur Macht begründet, in der es heißt: Man ist um den Preis Künstler, daß man Das, was alle Nichtkünstler ‚Form‘ nennen, als Inhalt, als ‚die Sache selbst‘ empfindet. Damit gehört man freilich in eine verkehrte Welt: denn nunmehr wird einem der Inhalt zu etwas bloß Formalem; – unser Leben eingerechnet.⁴⁰⁸

Heidegger hatte mit „einiger Nachhilfe“⁴⁰⁹ und „ungefähr“⁴¹⁰ zu verdeutlichen versucht, dass Nietzsche die Form nicht allein als das Äußere begreift, das von dem Ausstand des Inhaltes abhängig ist und von dessen Reichweitebeschränkung her entspringt. Heideggers Positionierung zu der von Nietzsche vorgetragenen Konfiguration von Form, Gesetz und Gefühl bleibt ambivalent. Nietzsche etabliert die Form als „Sache selbst“. Dadurch wird das in der Doppelheit des ästhetischen Schauens und des ästhetischen Tuns begegnende Schaffen einer maßgebenden Gesetzmäßigkeit unterstellt. In der Form artikuliert sich die Schönheit als das Bestimmende.⁴¹¹ Es gelingt Nietzsche nach Heidegger allerdings nicht, die Beschaffenheit und Voraussetzung des dezidiert künstlerischen Formseins zu erfassen. Indem Nietzsche es unterlässt, die Form in ihrem Bezug auf das Werk zu untersuchen, bleibt es ihm laut Heidegger versagt, sie als Aufriss der Gestalt in den Blick zu nehmen. Deswegen ist Nietzsche gezwungen, die Formgesetzlichkeit in tradierter Weise zu definieren. Zur Veranschaulichung zieht Nietzsche einen nicht unmittelbar der Kunst zugehörigen Bereich zu Rate. Die reinste, von jedem Inhalt befreite Form findet ihr Fundament in der Logik und kommt zudem in der Arithmetik und der Geometrie zum Vorschein. Es sind nach Nietzsche diese vorherrschenden Manifestationsweisen der Form und die mit ihrer Beobachtung und

 Vgl. Heidegger, N I, S. 119.  Heidegger, N I, S. 120. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 818, S. 552. Vgl. Nietzsche, NF1887,11[3].  Heidegger, N I, S. 120.  Heidegger, N I, S. 120.  Vgl. Heidegger, N I, S. 139.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Ergründung verknüpften Gefühle, die die Grundlage für die axiologisch primäre Gestimmtheit des ästhetischen Schauens liefern. Auch an dieser Stelle bleibt Heidegger seiner die Autonomie der Kunst unterstreichenden Auslegungsmaxime treu. Genauso wie der Rausch als Grundstimmung keineswegs der Leibzustände erkundenden Physiologie überlassen werden kann, so kann die Form als darstellendes Organ der Schönheit nicht der Mathematik überantwortet oder auf diese zurückgeführt werden. Die „logischen Gefühle“⁴¹² bilden zwar die Grundlage für die von Seiten des Künstlers vollzogenen Wertschätzungen, d. h. für das Heraussehen der Hauptzüge in der Idealisierung. Sie erbringen jedoch keine Prolongation der Denkgesetze der Logik in die Kunst. Beide Gefühlsarten werden auf den sowohl der Logik wie auch der Kunst zugrundeliegenden, gemeinsamen Nenner des Wohlgefallens „am Geordneten, Übersichtlichen, Begrenzten, an der Wiederholung“⁴¹³ bezogen. Somit leitet Nietzsche die logisch-ästhetische Befindlichkeit nach Heidegger aus einer noch tieferen Ebene her. Diese Hinblicknahme auf die in der Logik und Geometrie nur adaptierten und weiterentwickelten, vermeintlich ursprünglichen Wesenszüge der Kohärenz, Beherrschbarkeit und Nachbildbarkeit belässt Nietzsche nicht in ihrer Eigenständigkeit. Nietzsche gründet die ‚logischen Gefühle‘ – zumindest in Heideggers Exposition eines „Stufenbaus der Wohlgefühle“⁴¹⁴ – in dem vorrationalbiologischen Geschehen der Lebensbewältigung. Die sich als „Wohlgefallen am Geordneten, Begrenzten“⁴¹⁵ erweisenden und das Schauen des Künstlers leitenden, logischen Gefühle sind sublime Ausprägungen der

 Vgl. hierzu Heideggers Urteil: Heidegger, N I, S. 121: „Der Ausdruck ‚logische Gefühle‘ ist mißverständlich. Er meint nicht, daß die Gefühle logisch seien und nach den Gesetzen des Denkens ablaufen. Der Ausdruck ‚logische Gefühle‘ will sagen: Gefühl haben für, sich bestimmen lassen in der Stimmung durch Ordnung, Grenze, Übersicht.“  Heidegger, N I, S. 121. Vgl. Nietzsche, NF-1885,35[3]: „Manche der aesthetischen Werthschätzungen sind fundamentaler als die moralischen z. B. das Wohlgefallen am Geordneten, Übersichtlichen, Begrenzten, an der Wiederholung –, es sind die Wohlgefühle aller organischen Wesen im Verhältniß zur Gefährlichkeit ihrer Lage, oder zur Schwierigkeit ihrer Ernährung. Das Bekannte thut wohl, der Anblick von etwas, dessen man sich leicht zu bemächtigen hofft, thut wohl usw. Die logischen, arithmetischen und geometrischen Wohlgefühle bilden den Grundstock der aesthetischen Werthschätzungen: gewisse Lebens-Bedingungen werden als so wichtig gefühlt, und der Widerspruch der Wirklichkeit gegen dieselben so häufig und groß, daß Lust entsteht beim Wahrnehmen solcher Formen.“  Heidegger, N I, S. 121.  Heidegger, N I, S. 121.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Wohlgefühle aller organischen Wesen im Verhältnis zur Gefährlichkeit ihrer Lage, oder zur Schwierigkeit ihrer Ernährung. Das Bekannte tut wohl, der Anblick von Etwas, dessen man sich leicht zu bemächtigen hofft, tut wohl usw.⁴¹⁶

In diesem Zitat bestätigt sich Heideggers Auslegung des Nietzscheschen Begriffes des Schönen. Als Bändigung und affirmative Wiedererkennung des sich selbst gerade noch Zugemuteten und daher Verehrungs-Würdigen und Bekannten findet das Schöne seine Vorbedingung in der Konkurrenzsituation der Natur im Allgemeinen. Im Besonderen äußert sich die Voraussetzung des Schönen in der Antizipation einer komplikationslosen Erfüllung einer vegetativen Streberegung. Um die Rückführung der ästhetischen und der logischen Gefühle auf das bereits in den basalen Ausbildungen des Organischen aufzuspürende Wohlgefühl am Bekannten, d. h. erstens am Einzuordnenden und zweitens am Überwindbaren zu erläutern, fällt Heidegger eher beiläufig ein wegweisendes Urteil. Dessen Gehalt wird in den folgenden Vorlesungen zur primären Kennzeichnung des Willens zur Macht aufsteigen. Heidegger wird nämlich dazu fortschreiten, sowohl die Wahrheit als auch die Kunst in den Willen zur Macht zu integrieren: Nietzsches entscheidende Wertsetzungen haben die Steigerung und Sicherung des ‚Lebens‘ zum Maßstab.⁴¹⁷

Wenn der Versuch, den als Gefühl der Kraftfülle erschlossenen Rausch mit dem Schönen und der Form zusammenzudenken und in dem gemeinsamen Bezug zur Kunst zu umranden, zuletzt wieder bei der vorausgesetzten Grundkennzeichnung des Rausches als Ausdruck der Lebenssteigerung ankommt, liegt – ungeachtet aller Vertiefungen, Verhältnisbestimmungen und Begriffsklärungen, die auf diesem Weg gewonnen werden konnten – offenkundig ein Zirkelvorgang vor. Die Kunst konnte bislang nicht als Gestalt des Willens zur Macht sichtbar gemacht werden. Dies räumt Heidegger in einem unumwundenen Eingeständnis ein. Dieses lässt sich zugleich als luzides Zwischenresümee benennen. Heideggers Bilanz der bisherigen Schritte kann als Übergang dienen, der auf das wichtigste Kapitel innerhalb der Auslegung der Ästhetik – den Abschnitt Der große Stil – vorbereitet: Unser bisheriger Weg durch Nietzsches Ästhetik wird von Nietzsches Grundstellung der Kunst her bestimmt: ausgehend vom Rausch als dem ästhetischen Grundzustand sind wir zur Schönheit übergegangen; von ihr zurück in die Zustände des Schaffens und Aufnehmens; von diesen zu dem, worauf als das Bestimmende sie bezogen sind, zur Form, von der

 Vgl. Heidegger, N I, S. 121. Vgl. Nietzsche, NF-1885,35[3].  Heidegger, N I, S. 121.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Form zur Lust am Geordneten als einer Grundbedingung des leibenden Lebens, womit wir wieder beim Ausgangszustand angelangt sind, denn Leben ist Lebenssteigerung, und das steigende Leben ist der Rausch. Der Bereich selbst, in dem dieses Hin und Her, Hinüber und Herüber sich abspielt, das Ganze, innerhalb dessen und als welches Rausch und Schönheit, Schaffen und Form, Form und Leben diesen Wechselbezug haben, bleibt zunächst unbestimmt und erst recht die Art des Zusammenhanges und Bezuges, zwischen Rausch und Schönheit, Schaffen und Form. Alles gehört zur Kunst. Die Kunst wäre dann nur ein Sammelwort, nicht der klare Name einer in sich gegründeten und ausgegrenzten Wirklichkeit. Aber Kunst ist für Nietzsche mehr als ein Sammelname. Kunst ist eine Gestalt des Willens zur Macht. Die genannte Unbestimmtheit kann nur im Blick auf diesen behoben werden. Das Wesen der Kunst wird nur insoweit in sich gegründet, geklärt und in seinem Bau gefügt sein, als dieses für den Willen zur Macht selbst zutrifft. Der Wille zur Macht muß die Zusammengehörigkeit des zur Kunst Gehörigen ursprünglich begründen.⁴¹⁸

1.3.5 Der große Stil als Vereinigungsinstanz von Chaos und Gesetzgebung sowie von Werden und Sein Dem Kapitel zum großen Stil kommt aus mehreren Gründen eine tragende Rolle zu: Zum ersten liefert Heidegger dort eine Klärung des „Ganze[n] der Kunstwirklichkeit“⁴¹⁹, die zur festen Verankerung der verschiedenen Grundworte der Ästhetik Nietzsches beiträgt. Der kreisförmige Rückgang von der Lebenssteigerung über die Schönheit hin zur Form und von dort zurück zu dem biologischen Wohlgefühl wird durch diese Methodenwahl vermieden. Zum zweiten ist der Abschnitt von gewichtiger Relevanz, weil Heidegger sein Versprechen einlöst, die bisherige Erklärungsrichtung umzukehren. Die Kunst wird nun unter dem Gesichtspunkt der Verfasstheit des Willens zur Macht beleuchtet.⁴²⁰ Zum dritten lässt sich die These vertreten, dass in der Zurückweisung der Richard Wagner attribuierten Rausch- und Gefühlskonzeption die spätere Erschließung des Willens über die Wesenszüge der Bestandsicherung und Erhöhung präfiguriert wird. Zum vierten ist dieses Kapitel aufschlussreich, weil Heidegger im Rekurs auf Nietzsche das Sein und das Werden auf das Kunstgeschehen appliziert. Darauf aufbauend, gelangt Heidegger zu einer erstaunlichen und positiven Beschreibung des Willens zur Macht. Fünftens und letztens verknüpft Heidegger im Abschnitt Der große Stil

 Heidegger, N I, S. 122.  Heidegger, N I, S. 124.  Vgl. Seubert, Zwischen ersten und anderem Anfang, S. 98: „Da Kunst für Nietzsche die eigentliche Ausformung des ‚Willens zur Macht‘ ist, kann Heidegger die ‚innere Ordnung‘ von Nietzsches ‚Ästhetik‘ gleichsam topologisch als zyklische Bezogenheit des Willens- und Kunstdenkens aufeinander verstehen. Beide geben sich gegenseitig ihren Wesensort. Im Begriff des großen Stils sieht Heidegger dieses Grundverhältnis symbolisch verdichtet.“

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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die beiden bislang noch unverbunden nebeneinanderstehenden Pole der Vorlesung. Auf der einen Seite ist hier die aus den fünf Sätzen destillierte Formierung der Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus zu nennen, in der die Kunst zugleich zum Gegenstand der Physiologie wird. Auf der anderen Seite ist die Besinnung auf die ästhetischen Grundvorstellungen Nietzsches angesiedelt, deren Anwendung auf die Konstellation zwischen Übersinnlichem und Sinnlichem noch aussteht. Gegenüber dem „Heroisch-Prahlerischen“⁴²¹ der Wagnerschen Kunstwelt sind es „Vornehmheit, Logik, Schönheit“⁴²², die Nietzsche als Attribute echter Kunst erwählt. Der große Stil wird als noch „besseres Ding“⁴²³ von diesen unterschieden und erschöpft sich nicht in ihrer Synthese. Dass der große Stil als Scharnierstelle zwischen dem Willen zur Macht und der Kunst beurteilt werden kann, lässt sich besonders gut anhand des von Heidegger erneut herangezogenen Aphorismus Nr. 819 belegen: Ein Überwältigen der Fülle des Lebendigen, das Maß wird Herr, jene Ruhe der starken Seele liegt zu Grunde, welche sich langsam bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzu-Lebendigen hat. Der allgemeine Fall, das Gesetz wird verehrt und herausgehoben; die Ausnahme wird umgekehrt beiseite gestellt, die Nuance weggewischt.⁴²⁴

 Heidegger, N I, S. 125. Vgl. Nietzsche, NF-1885,41[2].  Heidegger, N I, S. 124. Heidegger zitiert hier verkürzt die folgende Aufzeichnung aus dem Jahre 1885: Nietzsche, NF-1885,41[2]: „Es ist kein Zweifel, daß die W Kunst heute auf die Massen wirkt: daß sie das kann – sollte damit nicht über diese Kunst selber etwas ausgesagt sein? Für drei gute Dinge in der Kunst haben ‚Massen‘ niemals Sinn gehabt, für Vornehmheit, für Logik und für Schönheit – pulchrum est paucorum hominum – : um nicht von einem noch besseren Dinge, vom großen Stile zu reden, zu welchem bisher auch die höchstgearteten Künstler der neueren Zeit weder Ja noch Nein sagen durften: – sie haben noch kein Recht auf ihn gehabt, sie fühlten sich vor ihm ferne und beschämt, und diese Scham war gerade noch ihre höchste Höhe! Vom großen Stile steht Wagner am Fernsten: das Ausschweifende und Heroisch-Prahlerische seiner Kunstmittel steht geradezu im Gegensatze zum großen Stile; und ebenso das Zärtlich-Verführerische, das Vielfältig-Reizende, das Unruhige, Ungewisse, Spannende, Augenblickliche, Heimlich-Überschwängliche, die ganze ‚übersinnliche‘ Maskerade kranker Sinne, und was nur Alles im typischen Sinne ‚Wagnerisch‘ heißen darf. Und dennoch, trotz dem gründlichsten Unvermögen dazu: Wagner schielt nach dem großen Stile, er, der nicht einmal die gewöhnliche, rechte, ächte Logik vermag! Er weiß dies gut genug, er erkannte es zeitig: aber sofort gieng er daran, mit der unbedenklichen Schauspieler-Gewandtheit die seine Meisterschaft ausmacht, sich seinen Mangel zum Vortheile auszulegen.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 125. Vgl. Nietzsche, NF-1885,41[2].  Heidegger, N I, S. 125. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 819, S. 552. Vgl. Nietzsche, NF1886,7[7].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

In diesem Passus werden die von Heidegger entfalteten Charakteristika des Schönen – dessen Ansetzung eine „Frage der Kraft“⁴²⁵ darstellt – und des Schaffens – das sich im „Heraustreiben der Hauptzüge“⁴²⁶ bewahrheitet, in den großen Stil eingegliedert. Die erste Eigenschaft des großen Stils, die mit Heideggers Hauptintention einer Zurückweisung der vitalistischen Zelebration des enthemmten Lebens übereinstimmt und der Priorisierung der Bändigung sekundiert, liegt in der Beherrschung der Mannigfaltigkeit des Lebens. Die selektierende, die Vielheit formende Instanz, die das Wandlungshaft-Unverwechselbare durch die Einfügung in die Allgemeingültigkeit – diese ist das Gesetz – ausschließt beziehungsweise beständig macht, muss offenkundig unter dem Index der Macht begutachtet werden. Bemerkenswert ist die Nähe zwischen dem Maß in Nr. 819 und der sich ebenfalls langsam bewegenden, zu Beginn der Vorlesung thematisierten „großen Leidenschaft“⁴²⁷ des Willens zur Macht. Die explizite Anbindung des „höchsten Gefühls der Macht“⁴²⁸, das mit dem unter der vollendeten Form koordinierten Rausch zusammengehört, ist in dem Fragment Nr. 799 aus Der Wille zur Macht dargelegt. Auf den ersten Blick scheinen der klassische Stil und der große Stil gemäß Nr. 799 wesensverwandt zu sein: Der klassische Stil stellt wesentlich diese Ruhe, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration dar, – das höchste Gefühl der Macht ist konzentriert im klassischen Typus. Schwer reagieren: ein großes Bewusstsein: kein Gefühl von Kampf.⁴²⁹

Sowohl in Nr. 819 als auch in Nr. 799 beweisen sich die ruhende Souveränität und die maßvolle Herausarbeitung des Gesetzes in einer „Überwältigung der Fülle des Lebens“.⁴³⁰ Die Ruhe des klassischen Stils ringt weder angestrengt mit der Lebensfülle noch lässt sie diese duldsam zu. Der klassische Stil scheint die Vielfalt des Werdens eher zu übergehen, indem er in und an ihr jene „Vereinfachung“⁴³¹ und Organisation vollbringt, die bereits in dem gesetzesförmig-künstlerischen

 Vgl. Heidegger, N I, S. 114.  Vgl. Heidegger, N I, S. 116.  Vgl. hierzu das Kapitel 1.2 dieser Arbeit zu Heideggers erster Profilierung des Willens zur Macht.  Heidegger, N I, S. 126.  Heidegger, N I, S. 126. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 799, S. 534. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[46].  Heidegger, N I, S. 125. Heidegger übersetzt das Motiv des Überwältigens durch die folgende Formulierung: „Die Kunst des großen Stils ist die einfache Ruhe der bewahrenden Bewältigung der höchsten Fülle des Lebens.“ Vgl. Heidegger, N I, S. 126.  Heidegger, N I, S. 126. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 799, S. 534. Vgl. Nietzsche, NF1888,14[46].

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Hineinblicken in die Lebensmannigfaltigkeit waltet. Beide Zitate vermitteln den Heideggers bisherige Deutung bestärkenden Eindruck, dass Nietzsche die Dignität der Kunst vorrangig nicht mehr darin sieht, dass sie Ausdruck der schaffenden Diversität des werdenden Lebens ist oder den Rausch befördert. Stattdessen scheint sich Nietzsche auf den Vorrang des Gesetzes und der abwiegenden Kontrolle zu kaprizieren. Bemerkenswerterweise ist es Heidegger, der die Unerschöpflichkeit und das Chaotische in dem Augenblick rehabilitiert, in dem sie in Nietzsches Konzeption des klassischen Stils und in dem „Widerwillen vor dem Allzu-Lebendigen“⁴³² unterzugehen drohen. In diesem Zusammenhang liegt die Pointe in der Wandlung des großen Stils von einer Kunstgesetzlichkeit zum dialektischen Koordinationsprinzip. Heidegger verfolgt zunächst das Ziel, die beiden Extreme – die Entfesselung des Lebens auf der einen Seite und die ausnahmeberaubte Einförmigkeit des Gesetzes, die in die „innere Gegensatzlosigkeit und Armut des Klassizismus“⁴³³ umschlägt, auf der anderen Seite – im großen Stil zu verbinden. In diesem Zuge soll Nietzsches eindeutige Identifikation des Stils mit dem Gesetz korrigiert werden. Dabei greift Heidegger auf die genuin Schellingsche, besonders aus der Freiheitsschrift bekannte Figur zurück, wonach das abgründig Ungeregelte, die Wirrnis des Drängenden, die Bedingung des Verstandes bildet. Der Verstand vermag sich in seiner einheitsbildenden Formungskraft erst in dem Sich-Einlassen auf den Grund zu offenbaren.⁴³⁴ Es lässt sich für die These votieren, dass die von Heidegger in den großen Stil eingetragene Verfahrungsweise, die von Schelling dezidiert in ein voluntatives Beschreibungsmuster eingebettet wird, die angestrebte Entgrenzung der Kunst auf das Ganze des Seienden erbringt. Dadurch wird die Kunst erstmals als Gestalt des Willens zur Macht sichtbar:

 Heidegger, N I, S. 125. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 819, S. 552. Vgl. Nietzsche, NF1886,7[7].  Heidegger, N I, S. 129.  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 362: „Indem also der Verstand, oder das in die anfängliche Natur gesetzte Licht, die in sich zurückstrebende Sehnsucht zur Scheidung der Kräfte (zum Aufgeben der Dunkelheit) erregt, eben in dieser Scheidung aber die im Geschiedenen verschlossene Einheit, den verborgenen Lichtblick, hervorhebt, so entsteht auf diese Art zuerst etwas Begreifliches und Einzelnes, und zwar nicht durch äußere Vorstellung, sondern durch wahre EinBildung, indem das Entstehende in die Natur hineingebildet wird, oder richtiger noch, durch Erweckung, indem der Verstand die in dem geschiedenen Grund verborgene Einheit oder Idea hervorhebt.“ Vgl. hierzu insgesamt den 2. Teil dieser Arbeit, der sich Heideggers Auseinandersetzung mit Schellings Freiheitsschrift widmet.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Maß und Gesetz werden nur in der Bewältigung und Bändigung des Chaos und des Rauschhaften gesetzt. Dieses wird vom großen Stil zu seiner eigenen Ermöglichung gefordert.⁴³⁵

Unter Bezugnahme auf den großen Stil überführt Heidegger die Kunst in den Willen zur Macht. Außerdem veranschaulicht Heidegger die Angewiesenheit des großen Stils auf die zugrundeliegende Fülle des Lebens. Der große Stil avanciert zum Vereinigungsprinzip der Tendenzen des Chaos und des Gesetzes, die in ihm in ihrer Ebenbürtigkeit aufbewahrt sind. In diesem Textstadium ist die Peripetie der Vorlesung erreicht. Heidegger sieht sich in der Lage, den vermeintlich unauflöslichen Gegensatz zwischen der Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus (worin die Kunst als „Gegenstand der Metaphysik“⁴³⁶ behandelt wird) und der Kunst als Gegenstand der Physiologie (d. h. nach Heidegger der „‚Physik‘ im weitesten Sinne“⁴³⁷) in einer „Einheit dieses Gegensätzlichen“⁴³⁸ zu situieren. Heidegger identifiziert das zum Ermöglichungsgrund des großen Stils aufgerichtete Leben mit dem „Physiologischen“.⁴³⁹ Den großen Stil fasst Heidegger als bedeutsamsten Modus der Kunst, die ein neues Maß der Gegenbewegung setzt. Vor diesem Hintergrund fordern sich nun beide Komponenten gegenseitig: Demnach ist das Physiologische die Grundbedingung dafür, daß die Kunst eine schaffende Gegenbewegung zu sein vermag. Entscheidung setzt die Scheidung in Gegensätzliches voraus und wächst in ihre Höhe mit der Tiefe des Widerstreites. Die Kunst des großen Stils ist die einfache Ruhe der bewahrenden Bewältigung der höchsten Fülle des Lebens, aber gebändigt; die reichste Gegensätzlichkeit, aber in der Einheit des Einfachen; die Fülle des Wachstums, aber in der Dauer des Langen und Wenigen. Wo die Kunst im Höchsten aus dem großen Stil begriffen werden will, muß sie bis in die ursprünglichsten Zustände des leibenden Lebens, in die Physiologie, zurückverlegt werden; Kunst als Gegenbewegung zum Nihilismus und Kunst als Rauschzustand, Kunst als Gegenstand der Physiologie (‚Physik‘ im weitesten Sinne) und als Gegenstand der Metaphysik genommen, schließen sich nicht aus, sondern ein.⁴⁴⁰

Das ‚Natürliche‘ deckt nach Heidegger nicht nur die sprudelnde Lebensvielfalt ab. Im Schellingschen Sinne versteht Heidegger das Natürliche als das „Furchtbare“⁴⁴¹ und Bedrohliche, das jeweils zu überwinden ist. Es wird nun transparent, dass Heidegger die immer wieder zum Sachverhalt des steigenden Lebens zu      

Heidegger, N I, S. 127. Heidegger, N I, S. 127. Heidegger, N I, S. 127. Heidegger, N I, S. 127. Heidegger, N I, S. 127. Heidegger, N I, S. 127. Heidegger, N I, S. 129.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

165

rückkehrende Zirkelstruktur aufbricht. Er lässt den Kreisgang in ein aszendierendes Gefüge einmünden. Die metaphysische Ubiquität der Kunst, die durch die Verschmelzung des Natürlichen mit der Gesetzmäßigkeit plausibilisiert wurde, wird in den ihr vormals diametral gegenüberstehenden Bereich des Physiologischen zurückverlagert. So erfüllt und beweist sich allererst das umgreifende Wesen der Kunst. Der Kunst wird eine geschichtswendende, gesetzgebende Wirkung verliehen. In der Kunst treten Natur und Geschichte zusammen. Heideggers weitere Auseinandersetzung mit der im Medium des großen Stils generierten Zusammenfügung stimmt in ihrem Tenor weitgehend mit einer Aufzeichnung Nietzsches aus dem Herbst 1887 überein. Diese Notiz führt Heidegger gegen Ende des Kapitels an: Um Klassiker zu sein, muß man alle starken, anscheinend widerspruchsvollen Gaben und Begierden haben: aber so, daß sie miteinander unter Einem Joche gehen.⁴⁴²

Unter der Signatur des Jochbegriffes⁴⁴³, das nicht der Unterjochung und der Einengung des Einflussbereiches verpflichtet ist, sondern der wesenserhaltenden Annäherung der in ihm Befassten dient, gelangt Heidegger zu einer ausgesprochen liberalen Konzeption⁴⁴⁴ des großen Stils. Der große Stil reüssiert als Indikator der Freiheit innerhalb der Gegensätze des Seienden. Er ebnet das Chaos niemals gänzlich ein. Der große Stil lässt das Chaos als seine eigene Bedingung gelten und gibt es in den Reichtum seiner Entfaltung frei. Er konfrontiert das Chaos mit dem Gesetz, um beide Antagonisten in ihrem Widerstreit zu sichern: Die Grundbedingung aber ist die gleichursprüngliche Freiheit zu den äußersten Gegensätzen, zu Chaos und Gesetz; nicht die bloße Bezwingung des Chaos in einer Form, sondern jene Herrschaft, die die Urwüchsigkeit des Chaos und die Ursprünglichkeit des Gesetzes widerwendig zueinander und gleich notwendig unter einem Joch gehen läßt: die freie Ver-

 Heidegger, N I, S. 136. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 848, S. 569. Vgl. Nietzsche, NF1887,9[166].  Vgl. hingegen Heideggers Deutung des Jochbegriffes bei Platon: Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 203 – 239.  Damit klärt sich auch das Verhältnis zwischen der Kunst und der zunächst als nihilistisch verstandenen Physiologie auf. Vgl. Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 156: „Was zunächst unvereinbar schien, erweist sich jetzt als notwendig zusammengehörig, gesetzt nämlich, daß das Wesen, und d. h. die wesentliche Kunst, im großen Stil gesehen wird. Kunst als die Gegenbewegung zum Nihilismus heißt, die Kunst ist die ursprüngliche Gesetzgebung – die Kunst will sagen: Die Kunst des großen Stils. Kunst als Gegenstand der physiologischen Ästhetik heißt, die Kunst ist urwüchsig Rausch. Die Kunst muß dieses sein, weil sie jenes, d. h. Gesetzgebung, sein soll. Und sie kann jenes nur sein, indem sie dieses sein darf. Beides in Einheit ist nur möglich unter dem Einen Joch. Die Einheit dieses Jochs ist daher das Wesentliche im großen Stil.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

fügung über dieses Joch, die gleich weit von einer Erstarrung der Form im Lehrhaften und Formalen entfernt ist wie von einem reinen Vertaumeln im Rausch. Wo die freie Verfügung über dieses Joch das sich bildende Gesetz des Geschehens ist, da ist der große Stil: wo der große Stil ist, da ist die Kunst in der Reinheit ihrer Wesensfülle wirklich. Nur nach dem, was die Kunst in ihrer Wesenswirklichkeit ist, darf sie abgeschätzt werden, soll sie als eine Gestalt des Seienden, d. h. des Willens zur Macht sich begreifen lassen.⁴⁴⁵

Die „freie Verfügung“ über die Duplizität der „äußersten Gegensätze“⁴⁴⁶, die in der höchsten Ausprägung der Kunst (d.i. der große Stil) zum Austrag kommt, wirkt auf die Verfassung des künstlerischen Zustandes zurück. Der künstlerische Zustand wird nun ebenfalls in den Willen zur Macht einbezogen. Heidegger hatte zuvor die Form als die bestimmende Washeit der Schönheit und den Rausch als Grundstimmung gefasst. Bereits in der dort erreichten Rekonstruktionsstufe ließ sich der Rausch nur in Abhängigkeit zu einem wesenszugehörigen Gestaltungsprinzip explizieren, das den Wirkungsbereich der Kraftsteigerung vorzeichnete. Die Eintragung des ästhetischen Zustandes in den Willen zur Macht erfolgt jedoch nicht auf Grund der Notwendigkeit eines externen Bestimmtwerdens. Stattdessen leitet Heidegger diese Integration im Rückgriff auf den Selbstbefehl als Indikator der positiven Freiheit ein. Er verweist auf die selbstgewählte Unterordnung „unter das aus ihm [dem ästhetischen Zustand, J.K.] selbst erwachsende Gesetz des großen Stils“.⁴⁴⁷ Im ästhetischen Zustand unterwirft sich der Einzelne dem Gesetz, das er selbst hervorgerufen hat. Heidegger rekurriert offenkundig auf die wichtige Klassifikation des Willens zur Macht als Selbstaufforderung aus dem ZarathustraAbschnitt Von der Selbstüberwindung, die erneut mit dem Kantischen Autonomiebegriff zusammengeschlossen wird: Die künstlerischen Zustände sind solche, die sich selbst unter den höchsten Befehl des Maßes und des Gesetzes stellen, sich selbst in ihren über sich hinaus weisenden Willen nehmen; jene Zustände, die sind, was sie im Wesen sind, wenn sie, über sich hinaus wollend, mehr sind, als sie sind, und in diesem Herrsein sich behaupten. Die künstlerischen Zustände, d. h. die Kunst, sind nichts anderes als: Wille zur Macht. ⁴⁴⁸

Der Wille zur Macht ist folglich nicht das Maß selbst. Er manifestiert sich in jener über die geläufige Befindlichkeit hinausgreifenden Haltung, in der sich ein kunstschaffendes Individuum oder ein Kollektivsubjekt gegenüber dem Gesetz

 Heidegger, N I, S. 129.  Heidegger, N I, S. 129.  Heidegger, N I, S. 130.  Heidegger, N I, S. 130. Hier lässt sich insofern eine Entdifferenzierung feststellen, als die künstlerischen Zustände unmittelbar mit der Kunst gleichgesetzt werden, die wiederum in den Willen zur Macht übergeht.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

167

situiert. Das Gesetz wird seinerseits in der im ästhetischen Schauen thematischen Aussicht auf die Hauptzüge generiert und in das Werk gesetzt. Wegen dieser Gleichursprünglichkeit kann Heidegger proponieren, dass das Gesetz auf der einen Seite aus dem künstlerischen Zustand erwächst und diesen auf der anderen Seite initiiert. Dies hängt auch mit der Neufassung des Natürlichen zusammen, das nun als „Unruhe der Gesetzesfindung“⁴⁴⁹ bereits in sich darauf angelegt ist, sich suchend auf das Gesetz zu beziehen. Das Gesetz kann dem Natürlichen allein im ästhetischen Zustand gegeben werden: Kunst untersteht nicht nur Regeln, sie hat nicht nur Gesetze zu befolgen, sondern sie ist selbst in sich Gesetzgebung und ist nur als solche wahrhaft Kunst. Das Unerschöpfliche und zu Schaffende ist das Gesetz. Was die stilauflösende Kunst als bloßes Brodeln der Gefühle mißdeutet, ist im Wesen die Unruhe der Gesetzesfindung, die in der Kunst nur dann wirklich wird, wenn das Gesetz in der Freiheit der Gestalt sich verhüllt, um so ins offene Spiel zu kommen.⁴⁵⁰

Damit korrespondierend, erschöpft sich die Bedeutung der Kunst als ‚Stimulans des Lebens‘ weder in der Umkehrung des von Schopenhauer exponierten Quietivcharakters. Noch soll sie eine beständige Steigerung und Entfachung des Sinnlichen gegenüber dem statisch-zeitentrückten, platonischen Ideal ausdrücken. Das Stimulans ist keine ins Unendliche ausweitbare Überwindung. Stattdessen begründet das Stimulans den begrenzenden und dennoch das eigene Wesen verändernden, in den Rausch versetzenden Aufgang in den „Befehlsbereich des großen Stils“.⁴⁵¹ In der Analyse des Schönen konnte gezeigt werden, das sich die Schönheit in der Form dar-stellt. Die Form affiziert ein bereits im Organischen auftretendes Wohlgefallen am Geordneten, welches in dem Maß des großen Stiles seine Vollendung erreicht. Entsprechend ist zu klären, aus welcher Motivation⁴⁵² und Ver-

 Heidegger, N I, S. 131– 132.  Heidegger, N I, S. 131– 132.  Heidegger, N I, S. 130.  Vgl. Heidegger, N I, S. 132: „Die Kunst ist für Nietzsche die wesentliche Weise, wie das Seiende zum Seienden geschaffen wird. Weil es auf dieses Schaffende, Gesetzgeberische und Gestaltgründende der Kunst ankommt, deshalb kann die Wesensbestimmung der Kunst erst dann ins Ziel gebracht werden, wenn gefragt wird, was jeweils in der Kunst das Schöpferische sei. Diese Frage ist nicht gemeint in der Absicht auf die psychologische Feststellung der jeweils vorkommenden Antriebe des Kunstschaffens, sondern als Entscheidungsfrage darüber, ob und wann und wie die Grundbedingungen der Kunst des großen Stils gegeben sind, ob und wann und wie nicht. Diese Frage ist für Nietzsche auch nicht eine kunstgeschichtliche im gewöhnlichen Sinne, sondern eine kunstgeschichtliche im wesentlichen Sinne, die an der künftigen Geschichte des Daseins mitgestaltet.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

fassung heraus der Bezug des ästhetischen Zustandes auf das hervorzubringende Maß geschieht; oder, in Heideggers Worten „was jeweils in einer Kunst schöpferisch wird“.⁴⁵³ In diesem Kontext rekurriert Heidegger vordergründig auf Nietzsches Unterscheidung zwischen dem Klassischen und dem Romantischen und dessen Übersetzung dieses Gegensatzes mit dem Begriffspaar „Aktiv“ und „Reaktiv“. Heidegger bezieht diese Polarität jedoch mit Hilfe der Aufzeichnung Nr. 846⁴⁵⁴ aus Der Wille zur Macht auf den Unterschied von Sein und Werden, Verewigung und Verflüssigung, dankbarer Liebe zum Bestehenden und zukunftsoffener Schöpferkraft, unduldsamer Rache und anarchischer Zerstörungswut zurück: Die Gegenmöglichkeit liegt darin, daß das Schaffende nicht der Mangel ist, sondern die Fülle, nicht das Suchen, sondern der volle Besitz, nicht das Begehren, sondern das Schenken, nicht der Hunger, sondern der Überfluß. Das Schaffen aus dem Ungenügen kommt nur zur ‚Aktion‘, indem es sich von einem Anderen abstößt und wegbringt; es ist nicht aktiv, sondern immer reaktiv im Unterschied zum rein aus sich selbst und seiner Fülle Quellenden. Im Vorblick auf diese zwei Grundmöglichkeiten dessen, was jeweils in einer Kunst schöpferisch wird und geworden ist, stellt Nietzsche die Frage: ‚Ob nicht hinter dem Gegensatz von Klassisch und Romantisch der Gegensatz des Aktiven und Reaktiven verborgen liegt?‘ (n. 847) Die Einsicht in diesen weiter und ursprünglicher gefaßten Gegensatz bringt es aber mit sich, daß das Klassische nicht dem Aktiven gleichgesetzt werden kann; denn die Unterscheidung des Aktiven und Reaktiven kreuzt sich mit einer anderen, mit der Unterscheidung, ob ‚das Verlangen nach Starr-werden, Ewig-werden, nach Sein die Ursache des Schaffens ist, oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Werden (n. 846).‘ Diese Unterscheidung denkt auf den Unterschied von Sein und Werden, eine Unterscheidung, die schon in der Frühzeit des abendländischen Denkens und seitdem durch seine ganze Geschichte hindurch bis zu Nietzsche einschließlich herrschend geblieben ist.⁴⁵⁵

In den veröffentlichten Werken findet sich der nahezu identische, von Heidegger nicht zitierte, etwas ausführlichere Paralleltext zu dem Aphorismus Nr. 846 unter der mit „Was ist Romantik?“ betitelten Nr. 370 der Fröhlichen Wissenschaft: Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. Aber es gibt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntnis suchen, oder aber den Rausch, den

 Heidegger, N I, S. 134.  Vgl. Heidegger, N I, S. 134. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 846, S. 568.  Heidegger, N I, S. 133 – 134.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. […] – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung: ich frage in jedem einzelnen Falle, ‚ist hier der Hunger oder der Überfluß schöpferisch geworden?‘ Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher – nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehen, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiß, das Wort ‚dionysisch‘), aber es kann auch der Haß des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt – man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille zum Verewigen bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen: – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen Homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer‘sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner‘sche Musik – der romantische Pessimismus, das letzte grosse Ereignis im Schicksal unsrer Kultur. (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben könne, einen klassischen – diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur daß meinen Ohren das Wort ‚klassisch‘ widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft – denn er kommt! ich sehe ihn kommen! – den dionysischen Pessimismus.).⁴⁵⁶

Heidegger tariert die Positionierung des großen Stils innerhalb des von Nietzsche gezeichneten Geflechts aus, das jeweils zwei entgegengesetzte, nach dem grundlegenden Schema aktiv-reaktiv organisierte Deutungsoptionen für die Zielrichtung des Verlangens nach Sein und Werden zulässt. Die dadurch gewonnene Wesensklärung des großen Stils fließt unmittelbar in einen von Heidegger affirmierten Begriff des Willens ein. Analog dazu, wird aus der Beschaffenheit der romantischen Kunst eine Deszendenzerscheinung des Willens zur Macht abgeleitet. Heideggers Definition der klassischen Kunst – die er dort sieht, „wo dagegen das Wilde und Überschäumende in die Ordnung des selbstgeschaffenen Gesetzes gebracht wird“⁴⁵⁷ – fügt sich weder allein in das Verlangen nach dem Sein  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 370, KSA 3, S. 620 – 622.  Heidegger, N I, S. 135.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

als Verewigung ein, weil dieses nach Heidegger auch dem romantischen, eine Erlösung vom eigenen Leiden suchenden Pessimismus zuzusprechen sei. Noch erschöpft sie sich gänzlich in der Komplementärvariante auf der Seite des Werdens, da „das Aktive“⁴⁵⁸ im Sinne des sich Bewegenden und Wandelnden auch dem „rein Dionysischen“⁴⁵⁹ und Zerstörerischen zukomme. Werden sowohl das positiv bestimmte Verlangen nach dem Sein (als „Apotheosenkunst“) als auch die Neigung zum Werden und zur Veränderung („als zukunftsschwangere Kunst“) jeweils isoliert betrachtet, sieht Heidegger sie dadurch kompromittiert, dass sie einen minimalen Konsens mit ihrer gegenüberstehenden Negativform besitzen. Deswegen sind sie der Gefahr der Verwechslung ausgesetzt. Weil eine einseitige Identifikation ausgeschlossen ist, sucht Heidegger in der Profilierung des Begriffs der klassischen Kunst das positive Moment innerhalb des Verlangens nach Sein mit der positiven, erfüllten Variante des Verlangens nach Werden zusammenzudenken. Um eine solche Synthese zu erreichen, ist es vonnöten, Nietzsches trennscharfe Doppeldifferenzierung aufzuheben. Diese Unterscheidung lässt eine Überbrückung des konträren Gegensatzes von Sein und Werden, Verewigung und Zerstörung, nicht zu. Insgesamt verfolgt Heidegger das Ziel, nicht nur das jeweilige schöpferische Kunstverlangen, sondern auch die Elemente des Werdens und des Seins selbst im großen Stil zu vereinigen. Dies bahnt sich in Heideggers Charakterisierung des Klassischen an: Das Klassische ist ein Verlangen zum Sein aus der Fülle des Schenkenden und Jasagenden.⁴⁶⁰

Das positiv bestimmte Verlangen zum Sein, das sich auf der Basis der Heideggerschen Überlegungen als Aufruf zur Beachtung des Maßes und des Gesetzes dechiffrieren lässt, schöpft hier aus der „übervollen Kraft“, die für Nietzsches affirmierte Version des Verlangens nach Werden emblematisch ist. Indem er das Verlangen nach Sein auf der „Fülle des Schenkenden“⁴⁶¹ aufruhen und es sich aus der Inständigkeit im Werden aufbauen lässt, trägt Heidegger die Quintessenz seines kunstphilosophischen Erkenntnisgewinns in die Figur des klassischen Stils ein. Das Klassiche gibt sich in das von ihm zugelassene Bedrohlich-Natürliche frei und honoriert dieses als Bedingung der Seinsformung.

   

Heidegger, N I, S. 135. Heidegger, N I, S. 135. Heidegger, N I, S. 135. Heidegger, N I, S. 135.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

171

Durch die Hervorhebung des „Besitzes der Fülle“⁴⁶² exkludiert Heidegger die Konnotationen des Mangels und der Entbehrung aus dem Topos des Verlangens nach Sein. Aussagekräftig ist Heideggers Abgrenzung des Klassischen und des großen Stils, die sich gegen die Nietzsche unterstellte „Gleichsetzung“⁴⁶³ beider Kunstprinzipien wendet. Im großen Stil, den Heidegger als das „schenkend-jasagende Wollen zum Sein“⁴⁶⁴ fasst, wird nicht allein das Verlangen durch das Wollen substituiert. Den entscheidenden Übergangsschritt zum Willen zur Macht und damit zum genuin metaphysischen Rang der Kunst nimmt Heidegger durch die Transformation und Entkontextualisierung des Kernwortes „Sein“ vor. Er befreit die Semantik des im großen Stil waltenden Willens zum Sein aus der in Nr. 370 entworfenen Dichotomie zwischen der schöpferisch werdenden, glücklichen Dankbarkeit auf der einen Seite und der missgünstigen Projektion des empfundenen Leidens auf der anderen Seite, indem er das von Nietzsche an diesem Ort offenkundig mit der Beständigkeit assoziierte Sein als „Sein des Seienden“⁴⁶⁵ übersetzt. Die Pointe dieser metaphysischen Untermauerung liegt darin, dass sich die Verfassung des großen Stils und mit dieser die Beschaffenheit des Joches, „in dessen Tragen hinein das Gegensätzliche gespannt ist“⁴⁶⁶ und über das er frei verfügt, erst aus der Entscheidung über das Wesen des Seins des Seienden erhellen lässt. Diese Entscheidung kann jedoch ihrerseits nur „durch den großen Stil selbst“⁴⁶⁷ evoziert und erfüllt werden. Der bereits in der Verhältnisbestimmung von Form und Rausch aufleuchtende Nexus reziproker Wesensbegründung- und Entfaltung zeigt sich hier erneut.⁴⁶⁸ Weil der große Stil die Gegensätze nicht in sich als einem Dritten tilgt oder mit ihnen ringt und sie zu unterwerfen sucht, sondern sie einerseits in ihr Äußerstes entfaltet und sie andererseits durch die Bändigung im Gesetz vereinigt, ist er vollkommen von seinen Gegensätzen unabhängig. Dies unterscheidet ihn von dem romantischen, reaktiven Pessimismus, der „von sich und seiner Mitwelt

 Heidegger, N I, S. 135.  Heidegger, N I, S. 135.  Heidegger, N I, S. 135 – 136.  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 136.  Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 263: „Allein im ‚großen Stil‘ gelangt die Kunst (der Wille zur Macht) zu ihrem Wesen. Als Maß, Ruhe und Strenge der Klassik, Vereinfachung, Abkürzung, Konzentration und höchstes Gefühl der Macht, erfüllt der ‚große Stil‘ die Bedingungen dafür, dass die Kunst die Gegenbewegung zum Nihilismus sein kann…“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

wegblickt“⁴⁶⁹ und dem Ungenügen an sich selbst durch die Wendung gegen das Seiende im Ganzen zu entrinnen sucht. Die „ursprüngliche Aktion“⁴⁷⁰ besteht in der umgreifenden Setzung des Joches, in der das „werdende Gesetz“⁴⁷¹ zur Wirkung kommt. Soll das Maß nicht zur erstarrten, das Natürliche gewaltsam einfangenden Form gerinnen, sondern in seiner Einfachheit zugleich die Plastizität und Offenheit gegenüber dem Wilden bewahren, muss der große Stil neben der Aktivität sowohl das Werden des Gesetzes als auch das Werden des Lebendigen im Sein erhalten: Der große Stil ist der aktive Wille zum Sein, so zwar, daß dieser das Werden in sich aufhebt.⁴⁷²

 Vgl. Heidegger, N I, S. 133. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 844, S. 567: „Ein Romantiker ist ein Künstler, den das große Mißvergnügen an sich schöpferisch macht – der von sich und seiner Mitwelt wegblickt, zurückblickt.“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[112].  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 137. Vgl. in Bezug auf den großen Stil die kritischen Stellungnahmen von Meyer und Sallis: Meyer, Das Rettende der Kunst. Auseinandersetzung mit Nietzsche II, S. 183: „In Nietzsches ‚großem Stil‘ sieht Heidegger das Rettende der Kunst insofern angelegt, als er das Schöpferische mit dem Gesetzhaften verbinden kann. Der ‚große Stil‘ ermöglicht ansatzweise, den metaphysischen Zugang zur Wahrheit zu überwinden, ohne einem nihilistischen Subjektivismus zu verfallen. Allerdings bleibt der ihm zugrundeliegende Begriff des ‚Schaffens‘, auch wenn ihn Heidegger auf die Wahrheit (des Werks) ausrichtet, tendenziell durch das Ästhetisch-Künstlerische der ‚Artisten-Metaphysik‘ bedroht. Was in der ersten Nietzsche-Vorlesung noch als Spannungsverhältnis beschrieben ist, wird in den späteren Texten einseitig negativ gedeutet. Auch der ‚große Stil‘ gehört für Heidegger nun zum Bereich subjektiver Maßlosigkeit; er kann nicht mehr einen ‚Anfang‘ stiften, sondern nur noch das ‚Gleiche, das wiederkehrt‘. Er begründet nicht Geschichte, sondern bloße Repetition.“ Vgl. John Sallis, Die Verwindung der Ästhetik, S. 203 – 204: „Nietzsche erkennt nicht den Aufstieg in ein Jenseits, das jenseits unserer selbst liegt. Für ihn gibt es nur die sich selbst antreibende Spirale dessen, war er Selbst-Aufhebung nennt, die noch immer nicht aus dem Zirkel des Selbst ausbrechen kann, aus dem äußersten Subjektivismus, der so extrem ist, dass er sogar das Subjekt selbst zerstört. Dieses Unvermögen Nietzsches, das das Jenseits betrifft, ist für Heidegger der entscheidende Mangel in Nietzsches Ästhetik. Im Hinblick hierauf und trotz der beachtenswerten Transformation, die Heidegger festhält, scheint Nietzsche in der Sprache Heideggers immer noch der letzte Metaphysiker zu sein.“ Vgl. bekräftigend zu den Ausführungen Meyers und Sallis‚ Heideggers fundamentale Umdeutung des großen Stils in der Vorlesung Nietzsches Metaphysik (1941/1942): Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 57: „Aus der ihm eigenen Einfachheit des Willens zur Macht kommt die Eindeutigkeit, Geschliffenheit und Festigkeit aller seiner Prägungen und Schläge. Ihm allein entspringt und entspricht das Schlaghafte (das ‚Typische‘). Die Weise aber, wie die nihilistische klassische Umwertung aller Werte die Bedingungen der neuzeitlichen Erdherrschaft vorausdenkt und zeichnet und erwirkt, ist ‚der große Stil‘.“ Vgl. auch Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 58: „Das Riesenhafte des großen Stils entspricht dem Wenigen, das die eigene Wesensfülle jenes Einfachen enthält, in dessen Beherrschung der Wille zur Macht seine Auszeichnung hat.“

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

173

Hinsichtlich der Ausdifferenzierung des großen Stils ist zu bedenken, dass Heidegger das eindeutige Gegensatzpaar aktiv-reaktiv zunächst gegenüber der in sich doppeldeutigen Unterscheidung von Sein und Werden präferiert. Die Erschließung des Kunstschaffens aus dem zugrundeliegenden, aktiven Impuls der freien Schöpferkraft oder der ressentimenterfüllten, reaktiven Abstoßung erhellt, welche Ausprägung innerhalb des jeweils zwiespältigen Verlangens nach dem Sein oder nach dem Werden dominiert. Dennoch ringt Heidegger zum Ende des Abschnitts Der große Stil um die adäquate Verhältnisbestimmung zwischen diesen vier Elementen (aktiv-reaktiv, Sein-Werden) im Hinblick auf den Willen zur Macht, der sie in einer „gestaltenden Einheit“⁴⁷³ versammeln soll. Eine Einigung zwischen dem Aktiven und dem Reaktiven lässt sich insofern erzielen, als beide innerhalb der „Grundbestimmungen des Seins“⁴⁷⁴ der Bewegung zugeordnet werden können. Dass die Eingliederung dieser beiden Pole in die Kinesis mit der Integration in das Sein kompatibel ist, hängt mit Heideggers These zusammen, wonach aus der in Aktivität und Reaktivität gespaltenen Bewegung die philosophiegeschichtlichen Titel der Dynamis und der Energeia entsprangen, die jedoch als Bestimmungen des Seins „im Sinne des Anwesens“⁴⁷⁵ firmieren. Gleichwohl ist sich Heidegger darüber im Klaren, dass es gerade auf Grund des Primats der beiden Polen zugrundeliegenden Bewegtheit wesentlich plausibler erscheint, die Opposition vom Aktivem und Reaktivem, Klassischem und Romantischem, in das Werden aufzunehmen. Die Rückführung dieses über das Werden koordinierten Vereinigungsweges in das Sein wird über die bereits bekannte Bestimmung des Willens zur Macht als Werden gewährleistet. Zum einen findet in diesem die Zusammengehörigkeit ihren Anhalt, weil das Werden des Willens zur Macht zum Sein des Seienden (als Wesen des Seienden) avanciert; zum anderen, weil dessen Werden sich permanent zum Sein (als Beständigkeit) rundet. Damit erreicht Heidegger den Gipfelpunkt seiner Auseinandersetzung mit Nietzsches Ästhetik. Stillschweigend kehrt er die von Nietzsche proponierte Reihenfolge um, indem nun die Vereinigung von Sein und Werden die kunstbezogene Konstellation des Aktiven und Reaktiven auf einer metaphysischen Ebene begründet. Im „Durchgang durch das Wesen der Kunst“⁴⁷⁶ entbirgt sich nach Heidegger die Legitimität des „Fragen[s] nach Nietzsches metaphysischer Grundstellung“.⁴⁷⁷ Das Wesen der Kunst muss im Willen zur Macht als Sein des Seienden wurzeln     

Heidegger, N I, S. 137. Heidegger, N I, S. 137. Heidegger, N I, S. 137. Heidegger, N I, S. 138. Heidegger, N I, S. 138.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

beziehungsweise mit diesem konvergieren. Zudem lässt sich die Einheit von Aktion und Reaktion nach Heidegger nur unter der Bedingung mit derjenigen von Sein und Werden verflechten, wenn der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr als Prinzipien statuiert werden. Aktion und Reaktion scheinen zwar auf den ersten Blick nur dem Werden und damit dem Willen zur Macht zugehören – dieser ist jedoch, wie in der Auseinandersetzung mit dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung gezeigt werden konnte, nur als ewige Wiederkehr.⁴⁷⁸ Mit Nietzsche bliebe natürlich zu fragen, weswegen die Dichotomie von Aktivem und Reaktivem überhaupt auf eine Einheit des großen Stils zurückgeführt werden muss, die „jene Überlegenheit ist, die alles Starke in seiner stärksten Gegensätzlichkeit unter ein Joch zwingt“.⁴⁷⁹ Die Auffassung erscheint plausibel, dass ein unverbunden-unversöhnliches Bestehenlassen der von Nietzsche vorgezogenen Dissonanz zwischen dem Aktiven und Reaktiven auch die Verbindbarkeit von Sein und Werden gefährden würde. Deswegen begründet Heidegger den ersten Gegensatz aus dem zweiten und bestärkt in diesem Zuge zugleich die in der metaphysischen Dimension angesiedelte These, dass der Wille zur Macht sich nur im Verbund mit der ewigen Wiederkehr erhalten kann. Der ewigen Wiederkehr wird als grundierender Seinsweise des Willens zur Macht erneut die Kompetenz zugesprochen, die Einheitsstiftung von Sein und Werden eigenständig zu arrangieren: Die dem großen Stil eignende Fügung des Aktiven und des Seins und Werdens zu einer ursprünglichen Einheit muß demnach im Willen zur Macht, wenn er metaphysisch gedacht wird, beschlossen sein. Der Wille zur Macht aber ist als die ewige Wiederkehr. In ihr will Nietzsche Sein und Werden, Aktion und Reaktion in eine ursprüngliche Einheit zusammendenken. Damit ist ein Ausblick in den metaphysischen Horizont gegeben, in dem das zu denken ist, was Nietzsche den großen Stil und die Kunst überhaupt nennt.⁴⁸⁰

Folgerichtig rekonstruiert Heidegger schließlich den aus dem Gefühl der Missgunst und der Fokussierung auf die Intransigenz heraus schaffenden, romantischen Pessimismus wie auch die auf die Fülle des Lebendigen zurückgreifende, klassische Kunst aus zwei grundlegenden Modi der Bewegtheit des Willens zur Macht: Eigentliches Wollen ist nicht ein Von-sich-weg, wohl aber ein Über-sich-hinweg, wobei in diesem sich-Überholen der Wille den Wollenden gerade auffängt und in sich mit hinein-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 138.  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 138.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

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nimmt und verwandelt. Von-sich-weg-wollen ist daher im Grunde ein Nichtwollen. Wo dagegen der Überfluß und die Fülle, d. h. das sich entfaltende Offenbaren des Wesens sich selbst unter das Gesetz des Einfachen bringt, will das Wollen sich selbst in seinem Wesen, ist Wille. Dieser Wille ist Wille zur Macht; denn Macht ist nicht Zwang und nicht Gewalt. Echte Macht ist noch nicht dort, wo sie sich nur aus der Gegenwirkung gegen das noch-nicht-Bewältigte aufrecht halten muß. Macht ist erst, wo die Einfachheit der Ruhe waltet, durch die das Gegensätzliche in der Einheit der Bogenspannung des Joches aufbewahrt, d. h. verklärt wird.Wille zur Macht ist eigentlich da, wo die Macht das Kämpferische in dem Sinne des bloß Reaktiven nicht mehr nötig hat und aus der Überlegenheit alles bindet, indem der Wille alle Dinge zu ihrem Wesen und zu ihrer eigenen Grenze freigibt.⁴⁸¹

Die romantische Kunst ist nicht nur auf eine äußere Instanz angewiesen, an der sie ihren Widerwillen gegen das Bestehende (dies entspricht der destruktiven Seite des Verlangens nach Werden) bezeugen kann. Sie schöpft bereits in ihrem Kern aus einem Mangel, weswegen sie die persönlichen Negativerfahrungen zur Allgemeingültigkeit, zum Sein eines sinnwidrigen Weltlaufs hypostasiert⁴⁸² (dies bezeichnet die „ausdrucksvollste Form des romantischen Pessimismus“ im Verlangen nach Sein). In ihre allein durch die Aversion gefüllte Armut zurücklaufend und aus dieser hervorgehend, kann sie niemals über sich hinausschreitend in das aufgrund der eigenen Leere unerreichbare Wesen zurückfinden. Als einziger Ausweg bleibt einzig die Flucht vor der eigenen Entbehrung, in der das „Von-sichweg-wollen“ gründet, in der es erzeugt wird und von der es zugleich wegstrebt. Der Wollende will aus dem Willen entkommen, der in seinem permanenten Mangel nur durch perennierende Abgrenzungsakte aufrechterhalten werden kann. Bemerkenswert ist, dass Heidegger den Willen zum Willen und dessen Struktur in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik in einer frappierenden Ähnlichkeit zu dem Willen der romantischen Kunst schildern wird. Demgegenüber ähnelt die Charakterisierung des Über-sich-hinweg als Auffangen des Wollenden im Willen derjenigen aus dem Abschnitt Der Wille als Wille zur Macht ⁴⁸³, wonach der Wille im Wollen den Wollenden und das Gewollte zusammenschließt. Auch das dabei thematische Motiv des „Werde, der du bist“ fließt erneut in die Struktur des Willens ein. Insofern das Wollen ein Ankommen in dem werdenden Wollen seiner selbst ist, überschreitet der Wollende den Willen. In diesem Überstieg faltet sich Wollende selbst sich in den Willen hinein, weil dieser ihn je schon umgreift.

 Heidegger, N I, S. 138 – 139.  Damit kann auch in der romantischen Kunst eine Einheit von Sein und Werden stattfinden, die allerdings allein unter dem Gesichtspunkt der Reaktivität organisiert wird.  Vgl. Heidegger, N I, S. 37 f.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die Spezifikation dieser Wesensgewinnung ermöglicht die Einbindung des großen Stils in den Willen zur Macht und vice versa. Dergestalt erhält die abgeschlossene und in sich kohärente Beschreibung des Willens zur Macht zwei einschneidende Bestimmungen. Erstens kann der Überfluss durch die Charakterisierung als „sich entfaltendes Offenbaren des Wesens“⁴⁸⁴, das „sich selbst unter das Gesetz des Einfachen bringt“⁴⁸⁵ in einer Analogie zu der immanenten Selbsteinholung des Willens verstanden werden. Zweitens lässt sich die von Heidegger favorisierte Autonomiekonzeption des sich befehlenden Willens in das Lebendige einbeziehen, das nicht auf der Ebene der blinden Begierde und des Verfließens anhebt und nicht von einer äußeren Instanz geformt wird. In der willentlichen Unterstellung unter das wesenskonturierende Gesetz bezeugt es sich als Wille zur Macht. Auf den ersten Blick widerspricht die Selbstgesetzgebung, die sich die Fülle des Lebendigen auferlegt, der Einspannung des Gegensätzlichen in die Einheit des Joches, die von Seiten des Willens zur Macht vollzogen wird. Diese Positionen sind jedoch nur dann unversöhnlich, wenn das Joch mit einer unverbrüchlichen Starrheit⁴⁸⁶ assoziiert wird, in das zwei widerwendige Pole hineingezwungen werden. Begibt der Überfluss sich hingegen freiwillig unter das Maß, d. h. unter das „werdende Gesetz“⁴⁸⁷ und damit unter das Joch, das als „ursprüngliche Aktion“⁴⁸⁸ durch diesen Unterordnungsakt allererst entsteht, liegt diesem Geschehen tatsächlich kein Zwang zugrunde – zumal sich die Genese des großen Stils vor dem Hintergrund eines solchen repressiven Impetus wieder dem Reaktiven verdanken müsste. Es entspricht der von Heidegger explizierten Grundbewegtheit des Willens, dass das Natürliche sich selbst will, jedoch nicht als das Chaotische und Ungeregelte, sondern als das, was es in seinem Wesen der Möglichkeit nach sein könnte – der unter dem Gesetz stehende Wille. Das Lebendige tritt dergestalt zwar in die „Einfachheit der Ruhe“⁴⁸⁹ ein, verschwindet dabei als Überfluss jedoch nicht. Es wird als Nährgrund der Aufspannung in das sich teilend ausweitende Joch aufgenommen. Der verklärende Wille des großen Stils muss keine Gewalt ausüben, weil er keineswegs eine ungetrübte Indifferenz der Gegensätze anstrebt.

 Heidegger, N I, S. 138.  Heidegger, N I, S. 138.  Heidegger selbst legt dies teilweise nahe, wenn er das Joch als „Zwingendes“ beschreibt.Vgl. Heidegger, N I, S. 136: „Und selbst wenn wir das Große des großen Stils dahin verdeutlichen, daß es jene Überlegenheit ist, die alles Starke in seiner stärksten Gegensätzlichkeit unter ein Joch zwingt, dann gilt dieses noch vom Klassiker.“  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 136.  Heidegger, N I, S. 139.

1.3 Die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus

177

Im Kontrast dazu, sollen die Gegensätze zu einer sich wechselseitig durchdringenden Formbarkeit befreit werden. In dieser Freigabe des Chaos und des Gesetzes, des Überflusses und der Form zu ihrem jeweiligen Wesen überschneidet er sich mit jener Charakterisierung des amor fati, das Heidegger 1937 in der Vorlesung zur ewigen Wiederkehr des Gleichen zum Proprium der Metaphysik Nietzsches erhebt: Amor – die Liebe ist als Wille zu verstehen, als der Wille, der will, daß das Geliebte in seinem Wesen sei, was es ist. Der höchste und weiteste und entscheidenste Wille dieser Art ist der Wille als Verklärung, der das in seinem Wesen Gewollte in die höchsten Möglichkeiten seines Seins hinaus- und hinaufstellt. Fatum – die Notwendigkeit ist zu verstehen: nicht als beliebiges und irgendwo abrollendes, sich überlassenes Verhängnis, sondern als jene Wende der Not, die im ergriffenen Augenblick sich als die Ewigkeit der Werdensfülle des Seienden im Ganzen enthüllt: circulus vitiosus deus.⁴⁹⁰

Resümierend ist Heideggers ausgesprochen wohlwollende Erfassung des Willens zur Macht zu würdigen. Der Wille zur Macht wird 1936/37 – anders als in der Rektoratsrede – weder glorifiziert, heroisiert und verklärt.⁴⁹¹ Noch wird er rein negativistisch auf die Charakteristika der unbeugsamen Beherrschung und vorstellenden Vereinfachung reduziert. Als „guter Wille zur Macht“⁴⁹² wird er zu einem gelassenen, freigebigen und ruhenden Akteur. Der Wille zur Macht instrumentalisiert seine „alles bindende“ Überlegenheit nicht zur Einbettung alles

 Heidegger, N I, S. 422. Es ist daher tendenziös, wenn Katrin Meyer die 1936/37 geschilderte Version des Willens zur Macht in einer Weise politisch wendet, in der die Komponente der Freiheit verloren geht und das Gesetz nicht erst im Akt der Einwilligung als Selbstgesetzgebung entsteht, sondern durch einen befehlsgebenden Willen kollektiv verfügt wird. Vgl. Meyer, Das Rettende der Kunst, Auseinandersetzung mit Nietzsche II, S. 182: „Nietzsches Wille zur Macht, der ‚alle Dinge zu ihrem Wesen und ihrer eigenen Grenze freigibt‘ (N I 161) erscheint wie ein Echo auf Heideggers damaligen Appell an die ‚Entschlossenheit‘ der deutschen Studentenschaft für einen ‚Willen‘, der sie ‚unter das Gesetz ihres Wesens stellt und damit dieses Wesen allererst umgrenzt‘ (SU 15).“ Seubert betont hingegen die Anerkennung der Alterität, die sich im großen Stil vollzieht. Vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 98: „Doch was ist großer Stil? Für Heidegger ein Denk-Zeichen des Differenzaustrages zwischen Sein und Werden im Immanenzzusammenhang des Werkes. Es zeigt sich, dass die Immanenz des Kunstwerkes nur dann ‚Maß und Gesetz‘ für das Seiende im Ganzen ist, wenn das Chaos, als der fließende physische Grund der Gestalt, mit dargestellt und nicht, wenn es niedergehalten wird, wie im klassischen Stil. Im großen Stil wird es ‚transfiguriert‘, es erfährt eine Verwandlung – und bleibt dabei doch gegenwärtig.“  Heideggers anfängliche Verklärung des Willens zur Macht hat Rita Casale sehr überzeugend herausgearbeitet. Vgl. das gleichnamige Kapitel in: Casale, Heideggers Nietzsche, S. 241– 277.  Vgl. Jacques Derrida, Guter Wille zur Macht II. Die Unterschriften interpretieren (Nietzsche/ Heidegger), in: Philippe Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, Deutsch-französische Debatte, München 1984, S. 67– 82, bes. S. 70 f.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Seienden in die Einförmigkeit des Sich-selbst-wollens. Er wirkt aus der Superiorität heraus als schützender Individuationsgarant. Genauso wie der Überfluss sich kollektiv in das umfassende Maß einpasst, so kann im Medium dieses übergreifenden Geschehens jedes einzelne Ding seine eigene Grenze erfahren. Indem es von dem in der Gestalt des Joches zu sich kommenden Willen zur Macht in das Über-sich-hinweg versetzt wird, durch das es sich in seinem angelegten Telos wollen kann, vollzieht es die Grundbewegung des sich in der Überschreitung verwandelnden und bändigenden Willens zur Macht. Dieser wiederholt im Einzelnen die Grenzziehung des großen Stils.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus: Der „Entsetzen erregende Zwiespalt“ und die Verhältnisbestimmungen von Kunst und Wahrheit in der Politeia und im Phaidros 1.4.1 Die Kunst als Grundgeschehen des Seienden und die Notwendigkeit einer neuen Zielsetzung Der große Stil konnte als Einheit von Rausch und Schönheit, Schaffen und Form, Werden und Sein, Aktion und Reaktion durchsichtig gemacht werden. Er erwies sich als Verbindungsgarant zwischen den kunstphilosophischen Haupttiteln Nietzsches und der Metaphysik des Willens zur Macht. Allerdings geriet dabei der Gehalt der Nietzscheschen Situierung von Wahrheit und Kunst in einem „Entsetzen erregenden Zwiespalt“⁴⁹³ und die zu Beginn der Vorlesung in Aussicht gestellte Auseinandersetzung mit dem Platonismus, d. h. dem Nihilismus aus dem Blick. Heidegger konnte den immanenten Gegensatz in Nietzsches Wesenskennzeichnung der Kunst – auf der einen Seite die Eingliederung in die Physiologie, auf der anderen Seite die Aufwertung zur geschichtsgründenden Gegenbewegung gegen den Nihilismus – zugunsten der gemeinsamen Etablierung des in das Lebendig-Natürliche transformierten Physiologischen und der wegweisenden, gesetzesbezogenen Gestaltung des Seienden auflösen. Beide Pole wurden im großen Stil zusammengedacht. Weil Heidegger die im großen Stil vonstattengehende Einfindung des Chaotischen in das Maß sukzessive von der idealisierenden Tätigkeit des Künstlers hin zum autonomen Geschehen innerhalb des Seienden im Ganzen verschob, konnte die aus sich quellende Aktivität des auf Rangkämpfe verzichtenden, freigebendgrenzverleihenden Willens zur Macht zum Archetyp des in der Kunst in seiner  Heidegger, N I, S, 72; S. 165.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

179

höchsten Durchsichtigkeit hervortretenden Schaffens werden. Die den größten Reichtum in die Einfachheit bannende Kunst kann damit zwar als geschlossene, die Gegensätze bündelnde Formation behandelt werden. Die entscheidende Frage, welche inhaltliche Beschaffenheit die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus annimmt, wurde bislang nur durch die Umgrenzung des Schaffens beantwortet. Da ebenjene Bestimmung des Schaffens zum Rausch voranschritt und von dort zum Schönen, zur Form und schließlich zum großen Stil überging, erbrachte sie bislang ein Resultat, das die Bezirke und Prädikate der Kunst auffächerte, jedoch nicht in ihrem Verhältnis zum Nihilismus erörterte. Mit Nietzsche explizierte Heidegger den Nihilismus als Diskreditierung des sinnlichen Lebens. Das Leben wurde aufgrund der Hypostasierung des Übersinnlichen zur ewigen und unveränderlichen Wahrheit bislang an einem Maßstab gemessen, dem es niemals genügen konnte. Die Relationsklärung zwischen der Kunst und dem Nihilismus setzt allerdings die Auseinandersetzung mit drei anderen, sich verflechtenden Sachverhalten voraus: Zum ersten ist die Frage nach der Bedeutung der Wahrheit bei Nietzsche zu stellen, insofern diese – mit dem Übersinnlichen identifiziert – das Leben verleugne. Zum zweiten ist zu erhellen, wie sich der Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst gegenüber der platonischen Beurteilung dieser Konstellation charakterisieren lässt. Zum dritten ist die Rolle der Kunst nach der vollzogenen Umkehrung des Platonismus zu erläutern. Der kurze Abschnitt die Begründung der fünf Sätze über die Kunst ⁴⁹⁴ nimmt daher eine Scharnierfunktion ein, indem er die gewonnene Wesensbestimmung der Kunst rekapituliert und mit der generellen, antinihilistischen Ausrichtung der fünf Sätze zusammenbringt. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem dritten und dem fünften Satz zu. Wird der dritte Satz „Die Kunst ist das Grundgeschehen innerhalb des Seienden im Ganzen“⁴⁹⁵ kritisch beleuchtet, tritt hervor, dass die metaphysische Stellung des hervorbringenden Schaffens unterbestimmt bleibt, wenn nicht geklärt wird, worin das „Seiendsein am Seienden“⁴⁹⁶ besteht. Im Vorblick auf die Rivalität zwischen der erkenntnisgenerierten Wahrheit und der schaffend reüssierenden Kunst ist die zweite, drängende Frage noch entscheidender: „Inwiefern kann innerhalb des Seienden die Kunst seiender sein als das übrige Seiende?“⁴⁹⁷, d. h. warum wird in der Kunst und im Rausch die wahre Beschaffenheit des Seienden erfahren, erfasst und gestaltet? Der Ermittlung eines philosophischen Vorrangskriteriums der Kunst gegenüber allem anderen Seien   

Vgl. Heidegger, N I, S. 140 – 143. Heidegger, N I, S. 142. Heidegger, N I, S. 142. Heidegger, N I, S. 142.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

den kann allerdings nur dann ein Erfolg beschieden sein, wenn der fünfte Satz, wonach die Kunst mehr wert sei als die Wahrheit, hinsichtlich der Bedeutung des zugrunde gelegten Wahrheitsbegriffes erhellt wird. Auf den ersten Blick scheint die Frage nach der verwendeten Wahrheitsauffassung durch den vierten Satz bereits geklärt zu sein, insofern die Kunst dort als Gegenbewegung gegen den mit dem Nihilismus gleichgesetzten Platonismus firmiert, der die Wahrheit bekanntlich im Übersinnlichen, in den wahrhaft seienden Ideen verankert. Während Platon also urteilt, das Übersinnliche sei das Wahre und der Bereich der Kunst, das Sinnliche, nur ein Schein und deswegen weniger wert als die Wahrheit, verkehrt Nietzsche diesen Standpunkt, indem er das Sinnliche als schöpferischen Bereich der Kunst gegenüber der ewigen Wahrheit des Übersinnlichen präferiert.⁴⁹⁸ Würde allein diese „schlechte“ Umkehrung des Platonismus konstatiert, die sich in einem mechanischen Auswechseln des Rangverhältnisses äußert, wäre kein Erkenntnisfortschritt gegenüber dem Beginn der Vorlesung erreicht. Diese Umkehrungsweise des Platonismus wäre nur dann ausreichend und zufriedenstellend, wenn die Herabsetzung der realen Welt, die durch den Platonismus initiiert wurde, problemlos durch die Hochschätzung des bislang Untergeordneten zurückgenommen werden könnte. Dem Nihilismus wird jedoch 1936/37 auch und in erster Linie die Bedeutung einer geschichtsträchtigen Umsturzsituation verliehen, die sich in Nietzsches Wort „Gott ist tot“⁴⁹⁹ ausspricht und die Absenz aller früheren Maßstäbe und Verbindlichkeiten anzeigt. Dadurch wird die Notwendigkeit einer Selbstbegründung der Ziele virulent, die sich nach Heidegger und Nietzsche im Medium der Philosophie zu vollziehen hat.⁵⁰⁰ Aus diesem Grund ist die Frage nach der Wahrheit kein Gegenstand erkenntnistheoretischer Untersuchung. Vielmehr muss eine Besinnung erfolgen, was Nietzsche selbst unter „Wahrheit“ begreift, weil die Wahrheit nach Heidegger geschichtlich ist, sich innerhalb der historischen Situation der Agonie des Christentums (und damit der übersinnlichen Welt überhaupt) wandelt und stets das Seiende im Ganzen betrifft. Würde sich der axiologische Primat der Kunst in einer schema-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 166.  Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 125, S. 481.  Vgl. Marion Heinz, „Schaffen.“ Die Revolution von Philosophie. Zu Heideggers Nietzsche-Interpretation (1936/37), in: Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 174– 193, hier S. 189 – 190: „Es sind also zwei Arten von Zielbegründung zu unterscheiden: Erstens müssen die den Nihilismus überwindenden Ziele im Schaffen so begründet werden, dass sich dieses Setzen von Zielen am Maßstab des großen Stils ausrichtet. Zweitens aber muss diesen Zielen selbst durch die Philosophie Mächtigkeit, d. h. Wirksamkeit verschafft werden, indem die als Wille zur Macht bestimmten Seienden in die dem großen Stil entsprechende höchste Art ihrer Wirksamkeit überführt werden.“

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

181

tischen Inversion des Platonismus erschöpfen und würde Nietzsche in seinem Gebrauch des Terminus „Wahrheit“ tatsächlich nur die ewige Beständigkeit der „wahren“ Welt der Ideen meinen, bliebe zudem unerklärlich, weswegen Nietzsche jenen für Heidegger wegweisenden Satz schreibt, der hier noch einmal zitiert werden soll: Über das Verhältnis der Kunst zur Wahrheit bin ich am frühesten ernst geworden: und noch jetzt stehe ich mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt.⁵⁰¹

Es ist deutlich, dass im Falle einer einfachen Umkehrung des platonischen Hierarchiegefüges kein Entsetzen erregender Zwiespalt, d. h. kein paritätisches Auseinandergehen von Wahrheit und Kunst in und aufgrund der Übereinkunft in demselben zu konzedieren ist. Es wird einzig ein eindeutiger Abstand und Dignitätsunterschied generiert, der zugunsten der Kunst, des Sinnlichen ausschlägt. Die platonische Wahrheitsauffassung ist zwar beizubehalten, wenn erklärt werden soll, wie die Herabsetzung des Sinnlichen gerechtfertigt wurde und was den Nihilismus einläutete. Sie muss allerdings ausgeklammert werden, wenn verstanden werden soll, weswegen für Nietzsche ein Zwiespalt zwischen der bereits analysierten, in der Wesensbestimmung des großen Stils versammelten Kunst und der Wahrheit bestehen kann. Neben der Geschichtlichkeit des Wahrheitswesens kristallisiert sich dies als zweiter Grund für eine genuine Auseinandersetzung mit Nietzsches Begriff der Wahrheit heraus.

1.4.2 Die Geschichtlichkeit des Wahrheitswesens: Der Platonismus und der Positivismus als maßgebliche Erkenntnisparadigmen Bereits in einem ersten Problemaufriss zeigt sich für Heidegger, dass Nietzsche nicht nach dem Wesen des Wahren, d. h. nach der Wahrheit in ihren geschichtlichen Wandlungsstufen fragt. Stattdessen setzt Nietzsche laut Heidegger erst auf der Ebene des Wahren an. Nietzsche fragt – genauso wie Platon, Aristoteles und Descartes vor ihm – ebenfalls nicht nach dem, „was sich in der Verwandlung durchhält“⁵⁰², was „das Unwandelbare des Wesens, das west in seiner Wandlung“⁵⁰³ ist. Nach Heidegger beleuchtet Nietzsche allein, was das Kriterium des Wahrseins erfüllt. Obwohl er die Wahrheit nicht als Gewissheit oder als tran-

 Heidegger, N I, S. 165. Vgl. Nietzsche, KSA 13, S. 500. Vgl. Nietzsche, NF 1888, KGW VIII, 3, 16 [40] §7, S. 296.  Heidegger, N I, S. 150.  Heidegger, N I, S. 150.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

szendentale Wahrheit bestimmt, sondern sie – wie Heidegger im Vorgriff auf das zentrale Thema der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis signalisiert – als „Irrtum“⁵⁰⁴ auslegt, eint ihn eine entscheidende Gemeinsamkeit mit allen seinen Vorgängern. Für sie alle ist das Wahre „das wahrhaft Seiende, das in Wahrheit Wirkliche“⁵⁰⁵ (das auch in einer unaufhebbaren, notwendigen Verfälschung bestehen kann) und damit stets auch das „in Wahrheit Erkannte“.⁵⁰⁶ Dieses kann allein über den Weg der Erkenntnis gewonnen werden (selbst wenn sich das Wahre in der Wirklichkeit als Irrtum enthüllen sollte), weil nur im Erkennen etwas „wahr oder falsch sein kann“.⁵⁰⁷ Anders als in Heideggers Konzeption der Aletheia eröffnet die Wahrheit nicht erst den Bereich des Unverborgenen, in dem Erkenntnis überhaupt erst möglich ist. Insofern in der metaphysischen Tradition das Erkennen als „Zugangsweise zum Seienden“⁵⁰⁸ gilt, entscheidet umgekehrt die Bestimmung der Tragweite, Beschaffenheit und der Grenzen der menschlichen Erkenntnis über den jeweiligen Begriff der Wahrheit. Nichtsdestotrotz ist die Erkenntnis in ihrem Immanenzzusammenhang stets auf etwas gerichtet, das als ihr Bezugsmaßstab figuriert. Indem sich die Erkenntnis dem zu Erkennenden angleicht und anmisst, erbringt sie den Wahrheitserweis für dasjenige betrachtete Seiende, das sich dieser Anmessung in privilegierter Weise fügt. Heidegger sucht die Relativität (die aus seinsgeschichtlicher Sicht freilich keineswegs beliebig ist) des jeweils Maßstäblichen anhand zweier Auslegungen der Erkenntnis aufzuzeigen. Er wählt dazu den Platonismus und den Positivismus. Das entsprechende Kapitel lautet: Wahrheit im Platonismus und im Positivismus. Nietzsches Versuch einer Umdrehung des Platonismus aus der Grunderfahrung des Nihilismus. ⁵⁰⁹ Der Titel gibt Aufschluss darüber, dass sich die Wahl ebendieser beiden Erkenntniskonzeptionen der Intention verdankt, Nietzsches Umkehrung des Platonismus noch stärker in ihrer geschichtlichen Dimension sichtbar zu machen und einer möglichen Verwechslung mit dem Positivismus die Grundlage zu entziehen. Heideggers Abschnitt zum Platonismus bietet im Vergleich zu der bereits im Eingangstext Die fünf Sätze über die Kunst explizierten Deutung des Übersinnlichen außer der Einführung des Topos der Theoria wenig Neuartiges. Heidegger räumt selbst ein, nicht auf Platon selbst und dessen vielschichtiges Werk zurückzugreifen, sondern allein eine schematische Kurzübersicht des kanonisierten

     

Heidegger, N I, S. 151. Heidegger, N I, S. 152. Heidegger, N I, S. 152. Heidegger, N I, S. 152. Heidegger, N I, S. 152. Vgl. Heidegger, N I, S. 153 – 164.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

183

Erkenntnisbegriffs im Platonismus zu geben: Das, was wahrhaft erkannt werden kann, ist das Seiende, das seinen Seinsgehalt durch die Ideen erhält. Die nichtsinnlichen Ideen entbergen sich dem geistigen Auge der Seele, wenn die Dinge auf ihren Was-Gehalt befragt und betrachtet werden. Erst im Lichte der Idee kann die Vielfalt des sinnlich Wahrnehmbaren erscheinen. Weil die Idee den Seinsgrund und den Verständnishorizont des Sinnlichen, das „Sein am Seienden“⁵¹⁰ bildet, muss das Nichtsinnliche dem Sinnlichen, das als „μὴ ὂν“⁵¹¹ (relativ Nichtseiendes) zu markieren ist, übergeordnet werden: Sofern und soweit es seiend genannt werden darf, muß das Sinnliche am Übersinnlichen gemessen werden; den Schatten und Rest des Seins hat das Nichtseiende vom wahrhaft Seienden.⁵¹²

Die Anmessung an das Übersinnliche vollzieht sich, indem sich das Erkennen das „nicht sinnlich Sichtbare sich zu Gesicht“⁵¹³ bringt und es sich dergestalt vorstellt. Diese geistige Schau entspricht dem ursprünglichen Wortsinn der Theorie, sodass Heidegger resümieren kann: „Das Erkennen ist im Wesen theoretisch“.⁵¹⁴ Im Positivismus verändert sich zwar der inhaltliche Maßstab, auf den das Erkennen bezogen ist, doch bleibt dessen Verfasstheit als vorstellende Anmessung an das Wirkliche erhalten. Gemäß der Bedeutung des Wortes „positum“⁵¹⁵ ist der Maßstab nunmehr das Vorgesetzte, das in der sinnlichen Realität über die Empfindungen, Affektationen und die Wahrnehmung zugängliche Gegebene. Die sich innerhalb des Vorliegenden und den entsprechenden Empfindungen objektivierende Mannigfaltigkeit wird mittels des Urteils verglichen und geordnet. Das Sinnliche zeigt sich als das Wahre und wird als das tatsächlich Seiende festgelegt. Heidegger verwehrt sich dagegen, Nietzsches Erkenntnisauffassung mit derjenigen des Platonismus oder des Positivismus oder einer „Mischform“⁵¹⁶ zwischen beiden zu identifizieren. Dennoch stipuliert er, durch diese Gegenüberstellung zweier paradigmatischer Erkenntnisauffassungen einen „entscheidenden Schritt“⁵¹⁷ im Hinblick auf die Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Kunst bei Nietzsche getan zu haben. Wie die gesamte Tradition vor

       

Heidegger, N I, S. 153. Heidegger, N I, S. 156. Heidegger, N I, S. 156. Heidegger, N I, S. 153. Heidegger, N I, S. 153. Heidegger, N I, S. 154. Heidegger, N I, S. 154. Heidegger, N I, S. 155.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

ihm fasst Nietzsche die Wahrheit als „Bezugsgegenstand“⁵¹⁸ der Erkenntnis auf; während bereits veranschaulicht werden konnte, dass der Bezugsgegenstand des Schaffens die Schönheit ist. Die konstitutive Funktion der Theoria konnte anhand des Platonismus und des Positivismus untermauert werden. Indem Heidegger die Bedeutung der leitgebenden Theoria auf das wissenschaftliche Erkennen überträgt, gelangt er zu einer Konkretion der Begriffe von Kunst und Wahrheit. Die Wahrheit fungiert nicht mehr nur als Kriterium des wahrhaft Seienden. Sie repräsentiert den gesamten Bereich, Forschungssinn und Gehalt wissenschaftlicher Erkenntnis: Demnach muß das in Frage stehende, Entsetzen erregende Verhältnis von Wahrheit und Kunst als das Verhältnis von Kunst und wissenschaftlichem Erkennen, bzw. als das von Schönheit und Wahrheit begriffen werden.⁵¹⁹

Eine „kulturphilosophische“⁵²⁰ Verhältnisbestimmung von Kunst und Wahrheit wird von Heidegger verworfen, da sie nicht in der Lage sei, einen entsetzlichen Zwiespalt zwischen beiden Elementen zu denken. Die Auffassung, dass sowohl die Kunst (zum Beispiel in Gestalt der Dichtung oder der Malerei) als auch die Wissenschaft eine kulturprägende Funktion besitzen und in ihren mannigfachen Verweisungszusammenhängen untersucht werden können, führt zu einer harmonischen Integration in einem übergreifenden Ganzen. Heideggers Abweisung des kulturphilosophischen Erklärungsansatzes ist jedoch insofern symptomatisch, als er selbst ab 1939 und (tendenziell schon 1936/37) Wahrheit und Kunst als bestandsichernde und d. h. als die Lebenssteigerung garantierende Kräfte im Willen zur Macht harmonisieren wird. Damit wird Heidegger den entsetzlichen Zweispalt abmildern, weil die festmachende Wahrheit den „notwendigen“⁵²¹ und die verklärende Kunst den „höheren Wert“⁵²² repräsentiert.

    

Heidegger, N I, S. 155. Heidegger, N I, S. 155. Heidegger, N I, S. 155. Vgl. Heidegger, N I, S. 483. Vgl. Heidegger, N I, S. 553.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

185

1.4.3 „Das Leben im Schein als Ziel“: Nietzsches frühe Kennzeichnung seiner Philosophie und der kooperative Einklang von Wahrheit und Kunst als vorläufiges Ergebnis der Umdrehung Es zeigte sich bereits, dass das wahrhaft Seiende in der abendländischen Überlieferung als dasjenige begriffen wird, was dem jeweiligen Maßstab der Erkenntnis entspricht. Eine Ergründung des Nietzscheschen Wahrheitsbegriffes ist daher darauf angewiesen, den von Nietzsche gewählten Maßstabsbereich zu bestimmen. Genau betrachtet, gibt es in der Tradition der Philosophie nur zwei grundlegende Maßstabsbereiche für die Erkenntnis: Entweder das Übersinnliche, dessen inhaltliche Konstitution mannigfaltige Deutungsvarianten zulässt; oder das Sinnliche und Gegebene, das durch verschiedene Arten erkannt, d. h. angemessen vorgestellt werden kann. Diese beiden Grundmaßstäbe werden durch den Platonismus und den Positivismus vertreten, weswegen zu erfragen ist, wie sich Nietzsches Erkenntniskonzeption in diesem Gefüge situiert. In diesem Zuge zitiert Heidegger eine Bemerkung Nietzsches aus den Jahren 1870/71, die Heideggers Emphase auf die Umdrehung des Platonismus als Kernmotiv und Impetus von Nietzsches Philosophie zu beglaubigen scheint: Meine Philosophie umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.⁵²³

Heidegger beurteilt diese Textstelle als treffliche Selbstauslegung Nietzsches: Das ist ein erstaunlicher Vorausblick des Denkers in seine gesamte spätere philosophische Grundstellung, denn seine letzten Schaffensjahre mühten sich um nichts anderes als um diese Umdrehung des Platonismus.⁵²⁴

Gegenüber Heidegger ist allerdings zu betonen: Die Pointe der obigen Bemerkung Nietzsches besteht gerade darin, dass der Platonismus nicht umgedreht wird, wenn mit dem Begriff der Umdrehung die Hypostasierung des Sinnlichen zum wahrhaft Seienden bei gleichzeitiger Indienstnahme und Unterordnung des als Schein und Lüge enthüllten Übersinnlichen gemeint ist. Nietzsche versucht 1870/ 71 nicht, die Wahrheitsdimension des Sinnlichen einzuklagen. Vielmehr basiert die argumentative Logik seiner Aufzeichnung ja gerade darauf, dass die platonische Dichotomie zumindest vordergründig anerkannt und in ihrem Recht belassen wird. Die komparative Kriterienversammlung, wonach es „reiner schöner

 Heidegger, N I, S. 156. Vgl. Nietzsche, NF-1870,7 [156], KSA 7, S. 199.  Heidegger, N I, S. 156.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

besser“ (und nicht: wahrer oder dem Wesen der Realität entsprechend) sei, in der Abwendung vom wahrhaft Seienden zu existieren, indiziert, dass Nietzsche in dieser frühen Notiz nicht daran gelegen ist, das vermeintlich wahrhaft Seiende als Fiktion zu verabschieden. Unter einem ästhetischen Gesichtspunkt optiert er für die lebenspraktische Güte einer Unterkunft in dem Illusorischen, Täuschenden, Werdenden und Wechselnden. Gleichwohl lässt sich diese Aufzeichnung auch so interpretieren, dass Nietzsche an einem Fußfassen in jenem Bereich gelegen ist, der von Seiten des Platonismus als Schein gebrandmarkt worden sei, in Wirklichkeit jedoch in seiner unerschöpflichen Vielfalt das Charakteristikum des Lebens darstelle und deswegen nicht nur „schöner“, sondern auch „wahrer“ als die Ideenwelt sei. In dieser Richtung legt auch Heidegger das Zitat aus, weswegen er schon hier die spätere Umdrehung des Platonismus präfiguriert sieht. Heidegger ist zugute zu halten, dass er verschiedene Stadien und Reifegestalten der Umdrehungsversuche des Platonismus unterscheidet und werkbiographisch periodisiert.⁵²⁵ Die 1870/71 geschilderte Zielsetzung eines „Lebens im Schein“ wird der frühen Umdrehungsphase zugeordnet, während Nietzsches endgültige Positionierung zum Platonismus erst in der Götzen-Dämmerung (1888) erfolgt. Es wird noch zu demonstrieren sein, weswegen Heidegger in dem Stück Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde eine Umdrehung des Platonismus am Werke sieht, die in eine Herausdrehung aus dem Entgegensetzungsgefüge mündet, ohne in einen Positivismus umzuschlagen. Ebendieser Positivismus prägt nach Heidegger allerdings Nietzsches Grundstellung in den Jahren 1879 – 1881 in einer „extremen“⁵²⁶ Weise. Obzwar der Positivismus „gewandelt in die spätere Grundstellung hineingenommen wurde“⁵²⁷ bleibt er – im Gegensatz zum durchgängigen Ziel einer Umkehrung des Platonismus⁵²⁸ – ein temporär gültiges Durchgangsstadium auf dem Denkweg Nietzsches. Dennoch lässt sich die Frage kaum verhehlen, was Nietzsches Umdrehung des Platonismus im Resultat vom Positivismus unterscheidet, wenn in beiden Erkenntnisauffassungen behauptet wird, das Wahre sei das Sinnliche. Der Unterscheidungsversuch beider Philosopheme mithilfe einer verschiedenartigen Funktionsbestimmung des nunmehr herabgestuften Übersinnlichen – wonach Nietzsche es beispielsweise in bestimmten Grenzen zulässt, der Positivismus es hingegen gänzlich ausschließt – trägt nicht weit, weil das Übersinnliche in beiden Grundstellungen als das Unwahre enthüllt wurde. Heideggers Argumentation ist    

Vgl. Heidegger, N I, S. 156. Heidegger, N I, S. 157. Heidegger, N I, S. 157. Vgl. Heidegger, N I, S. 157.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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im Folgenden einerseits dadurch gekennzeichnet, die resultative Übereinkunft zwischen dem Positivismus und der Nietzscheschen Umdrehung des Platonismus hinsichtlich der Wahrheit des Sinnlichen festzuhalten. Andererseits wählt er zwei Wege, um Nietzsche vom Positivismus abzurücken: Erstens sucht er an der Bedeutung der sinnlichen Wahrheit anzusetzen und sie zu spezifizieren. Dies erfolgt am Ende der ersten Nietzsche-Vorlesung. So kristallisiert sich im Abschnitt Die neue Auslegung der Sinnlichkeit heraus, dass sich das Sinnliche nicht – wie es der Positivismus will – in Messungen, Empfindungen und Fakten bewahrheitet, sondern in einer perspektivischen Wahrnehmung aufscheint und als lebendiges Kraftgefüge agiert. Zweitens akzentuiert Heidegger, dass die Approximation des Wahren an das Sinnliche nicht in einen harmlosen Positivismus einmündet. Im diametralen Gegensatz dazu, wird in ihr eine „Revolution der Philosophie“⁵²⁹ eingeläutet, weil der geschichtliche Agon mit dem Platonismus nun in aller Offenheit ausgetragen wird. Die Bedrohung des Nihilismus wird von Heidegger erneut als fundamentales Differenzkriterium beschworen. Die Kunst ist die maßgebliche und einzig wirksame Antwort auf die bestürzende Einsicht in den Gottestod und auf das damit zusammenhängende, geschichtliche Ereignis der „Entwertung der obersten Werte“. Diese Eruption äußert sich schließlich in der ziellosen Beliebigkeit und Vertauschbarkeit⁵³⁰ von Werturteilen. Deswegen kommt der Kunst die „metaphysische Aufgabe“⁵³¹ zu, in ihrer Zielsetzung die „Ordnung des Seienden im Ganzen“⁵³² zu übernehmen. Der Tod Gottes, der den Nihilismus als „Grundtatsache der Geschichte“⁵³³ zum Vorschein bringt, und das Übermaß des Übersinnlichen, das die Kunst als schaffendes Hervorbringenlassen des Lebens zu restringieren sucht, treten ebenfalls in einen Zwiespalt.

 Vgl. Heinz, „Schaffen.“ Die Revolution von Philosophie, bes. S. 177 ff.  Als Beleg für diese Konfusion hinsichtlich des Kriteriums der Güte zieht Heidegger eine zeitdiagnostische Aufzeichnung Nietzsches aus den Jahren 1881/1882 heran. Vgl. Heidegger, N I, S. 159: „[…] man nennt den unbedingten Freund des Wahren gut, aber auch den Menschen der Pietät, den Verklärer der Dinge; man nennt den sich selber Gehorchenden gut, aber auch den Frommen; man nennt den Vornehmen, Edlen gut, aber auch den, der nicht verachtet und herabblickt; man nennt den Gutmütigen, dem Kampfe Ausweichenden gut, aber auch den Kampfund Siegbegierigen; man nennt den, der immer der Erste sein will, gut, aber auch den, der nichts vor irgend einem voraus haben will.“ Vgl. Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 193 – 194. Vgl. Nietzsche, NF-1882,5[34]).  Heidegger, N I, S. 159.  Heidegger, N I, S. 159.  Heidegger, N I, S. 158.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Der Tod Gottes bringt die umfassenden und teleologischen Werte und damit das Richtmaß der Transzendenz überhaupt zum Einsturz und erweckt den um sich greifenden Nihilismus, den die Kunst durch eine konstruktive Zielsetzung überwinden soll. Gleichzeitig soll die Kunst den lebensverneinenden Einfluss des Übersinnlichen, der christlichen Moral und der bisherigen Philosophie durch die Unterstützung, Entfaltung und Bändigung des Lebens dauerhaft ausschließen, obwohl die von der platonischen Philosophie und ihrer christlichen Rezeption geprägte Wertsetzung durch den Tod Gottes obsolet geworden ist. Dieser Widerspruch lässt sich auflösen, weil die Kunst sowohl dem Entstehungsgrund des Nihilismus (die Verleugnung des Lebens durch die Substantiierung der ewigen Ideenwelt und des Jenseits) als auch dessen Konsequenz (die investierte Sicherheit und transzendente Sinnstiftung wird als Fiktion entlarvt, sodass eine ubiquitäre Leere hervortritt) opponiert.⁵³⁴ Die für diese Entdeckung, die den untergründigen Nihilismus als beherrschendes Phänomen der europäischen Geschichte enthüllt, erforderliche Rechtschaffenheit und Stärke entspringt keiner äußerlich herangetragenen Aufklärung. Der Verbund aus Luzidität und Unerbittlichkeit ist das Produkt jener Eigenschaften, die das Christentum als Quelle nährte. Heidegger verdeutlicht diese subversive Immanenz durch zwei thematisch zusammengehörige Aufzeichnungen Nietzsches, die er in in unmittelbarer Aufeinanderfolge zitiert: Redlichkeit, als Konsequenz von langen moralischen Gewöhnungen: die Selbstkritik der Moral ist zugleich ein moralisches Phänomen, ein Ereignis der Moralität.⁵³⁵ Wir sind keine Christen mehr: wir sind dem Christentum entwachsen, nicht weil wir ihm zu ferne, sondern weil wir ihm zu nahe gewohnt haben, mehr noch, weil wir aus ihm gewachsen sind, – es ist unsere strengere und verwöhntere Frömmigkeit selbst, die uns heute verbietet, noch Christen zu sein.⁵³⁶

Die These, dass die Kunst die Initiation, Heraufkunft und Ausfaltung des Nihilismus in einer aus der verdrängten Sinnlichkeit schöpfenden Zielsetzung gleichermaßen revidiert, wird von Heidegger bestätigt. Die Aufdeckung der Absenz eines versammelnden und sinnverleihenden „Schwergewichtes“⁵³⁷ hinterlässt nur deswegen eine ungeahnte, tiefschürfende Handlungsunfähigkeit, Orientierungslosigkeit und das Leben aufgrund seiner vermeintlichen Unzulänglichkeit

 Vgl. Heidegger, N I, S. 160.  Heidegger, N I, S. 162. Vgl. Nietzsche, KSA 11, 25 [447], S. 132.  Heidegger, N I, S. 162. Vgl. Nietzsche, KSA 12, S. 165.  Dergestalt laufen die Stränge zusammen: Die Nietzsche-Vorlesungen von 1936/37, 1937 und 1940 kreisen allesamt um den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, bestimmen diesen jedoch jeweils anders.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

189

anklagende Verzweiflung⁵³⁸, weil die potenziell rettende, Einhalt gebietende und mögliche Gegenziele artikulierende „Grundkraft des Daseins“⁵³⁹ (d. h. hier: des Lebens) in einem deszendierenden, geschichtlichen Prozess sukzessive verringert wurde. Es ist gerade das ursprünglich aus dem Bedürfnis der Sinnstiftung entsprungene und bei Platon aufgerichtete Schwergewicht – die Idee des Guten oder Gott – das diese Schwächung der sinnlichen Realkräfte jahrhundertelang befördert hat. Deswegen muss das Anwachsen neuer und regenerierter, planetarisch⁵⁴⁰ wirksamer Steigerungsmöglichkeiten sorgsam eingeleitet werden: Zielbegründung ist Gründung im Sinne der Erweckung und Befreiung derjenigen Mächte, die dem gesetzten Ziel die alles überhöhende und durchherrschende Kraft der Verbindlichkeit verleihen. Nur so kann in dem durch das Ziel eröffneten und ausgesteckten Bereich das geschichtliche Dasein ursprünglich wachsen. Hierzu gehört schließlich, d. h. anfänglich, das Wachsen von Kräften, die das Vorbereiten des neuen Bereiches, das Vordringen in ihn und den Ausbau des in ihm sich Entfaltenden tragen und befeuern und zum Wagnis bringen. All dieses hat Nietzsche im Blick, wenn er von Nihilismus, von den Zielen und der Zielsetzung spricht. Er sieht aber auch bei der beginnenden Auflösung aller Ordnungen auf der ganzen Erde die notwendig geforderte Wirkungsweite einer solchen Zielsetzung.⁵⁴¹

Der aus dem Christentum hervorgehende Gipfelpunkt der Stärke, der sich in der redlichen Einsicht in die Ungegründetheit des Ideals äußert, offenbart zugleich den Tiefpunkt der Ohnmacht und der Irritation, der ebenfalls aus der fortwährenden Dominanz des Ideals und der damit implizierten Stilllegung des steigenden Lebens erwachsen ist.⁵⁴² Die „neue Auslegung des Platonismus“⁵⁴³, die aus der Erfahrung des sichtbar gewordenen Nihilismus erwachsen ist, entschlüsselt den platonischen Dualismus zwischen Idee und sinnlicher Erscheinung als Be-

 Dies ist eine weitere Folge des Nihilismus: Die gegen das Leben gerichtete Anklage des Lebens als eines Nichtigen und Sinnlosen ist in ihrem destruktiven Angriff ihrerseits nihilistisch; zugleich hebt sie die Ziellosigkeit des Lebens und dessen ungegründete Verfasstheit hervor, die nunmehr rückhaltlos anzuerkennen ist. Vgl. dazu das Kapitel 1.9 zu Heideggers Vorlesung Der europäische Nihilismus (1940).  Heidegger, N I, S. 161.  In einem wesentlichen Paradigmenwechsel behält Heidegger das Narrativ des planetarischen Ausgriffs zwar in der ab 1939 ansetzenden Phase seiner Nietzsche-Auseinandersetzung bei; er sieht in diesem jedoch nicht mehr die übergreifende Rettung vor dem Nihilismus durch die Kunst hinterlegt, sondern begreift die Welterstreckung unter der Signatur einer vollständigen Hegemonie des in seiner Wertsetzung nihilistischen Willens zur Macht. Vgl. hierzu die Kapitel 1.8 und 1.9 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 160.  Vgl. Heidegger, N I, S. 161.  Heidegger, N I, S. 162.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

dingung der „Möglichkeit des Heraufkommens des Nihilismus“⁵⁴⁴, auf dessen Basis die „Verneinung des Lebens wünschbar“⁵⁴⁵ wurde. Für die Aufgabe der Überwindung des Nihilismus ist es unumgänglich, die Ausrichtung auf ein Ideal und damit den Unterschied zwischen einem Seinsollenden und einem an der Wiedergabe dieses Anspruches zu messenden, zweitrangigen Ordnungsbestand zu revidieren. In der Gegenbewegung gegen den Platonismus soll das Sinnliche nicht nur die Stelle des Übersinnlichen erobern. Als „schaffendes Leben“⁵⁴⁶ soll das Sinnliche zum Feld der Kunst avancieren, die ein Ziel begründet und alles Seiende auf dieses implementierte Ziel hin freigibt.⁵⁴⁷ Weil die Überfrachtung mit einem im Übersinnlichen verankerten Sollensanspruch als Grund für den emporwachsenden Nihilismus konstatiert wurde, ist der von Nietzsche vollzogenen Umdrehung daran gelegen, das „als sollensfrei aufgefasste Seiende“⁵⁴⁸, das Sinnliche, innerhalb eines neugewonnenen Realitätssinns auf sein Wesen zu befragen: Da gemäß der Umdrehung jetzt das Sinnliche als das Seiende den Grundbereich für die Neugründung des Daseins abgeben soll, erlangt die Frage nach dem Sinnlichen und damit die Feststellung des Wahren und der Wahrheit eine erhöhte Bedeutung.⁵⁴⁹

Deswegen ist die Wahrheit des Sinnlichen ambivalent verfasst: Sofern allein die Erkenntnis Träger dieser Einsicht in die wahre Wirklichkeit sein soll, konvergiert Nietzsches Auffassung mit derjenigen des Positivismus. Unter dem Gesichtspunkt der Kunst betrachtet, offenbart sich das Sinnliche hingegen als Reservoir der Überwindung des Nihilismus. Indem das Sinnliche im künstlerischen Schaffen immer wieder gestaltet wird, kann die Auslagerung der Zielsetzung in eine jenseitige Beständigkeit konterkariert werden: Die Ansetzung der Wahrheit, des wahrhaft Seienden, als des Sinnlichen, ist zwar formal schon eine Umdrehung des Platonismus, sofern dieser das Übersinnliche als das eigentlich Seiende behauptet. Doch diese Umdrehung und mit ihr die Auslegung des Wahren als des sinnlich Gegebenen müssen von der Überwindung des Nihilismus her verstanden werden. Nun bewegt sich aber auch die maßgebende Auslegung der Kunst in derselben Hinsicht,

 Heidegger, N I, S. 162.  Heidegger, N I, S. 161.  Heidegger, N I, S. 163.  Vgl. Heidegger, N I, S. 160. Hier zeigt sich die Ambivalenz des metaphysischen, weiten Kunstbegriffes: Einerseits steht die Kunst für das Sinnliche überhaupt, insofern die Wahrheit als das Übersinnliche betrachtet wird, andererseits soll die Kunst innerhalb des Sinnlichen die Ordnung auf ein einheitliches Ziel einleiten.  Heidegger, N I, S. 163.  Heidegger, N I, S. 163.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

191

wenn sie als die Gegenbewegung zum Nihilismus angesetzt wird. Gegen den Platonismus gilt es zu fragen: Was ist das wahrhaft Seiende? Antwort: das Wahre ist das Sinnliche. Gegen den Nihilismus gilt es das schaffende Leben, d. h. zuvor die Kunst, ins Werk zu setzen; die Kunst aber schafft aus dem Sinnlichen.⁵⁵⁰

Zum Ende des Abschnitts Wahrheit im Platonismus und Positivismus hat sich ein überraschender Sachverhalt herauskristallisiert: Wahrheit und Kunst sind bei Nietzsche bislang nicht in einen tiefen, „Entsetzen erregenden“ Zwiespalt getreten. Stattdessen finden sich beide Pole in einem Verhältnis des Einklangs und der Übereinstimmung wieder: Kunst und Wahrheit, Schaffen und Erkennen treffen sich in der einen leitenden Hinsicht auf die Rettung und Gestaltung des Sinnlichen. Im Hinblick auf die Überwindung des Nihilismus, d. h. im Hinblick auf die Grundlegung der neuen Wertsetzung erhalten die Kunst und die Wahrheit und damit die Besinnung auf ihr Wesen gleiches Gewicht. Sie treten ihrem Wesen gemäß von sich aus innerhalb des neuen geschichtlichen Daseins zusammen.⁵⁵¹

Im Zuge der „Grundlegung der neuen Wertsetzung“ beziehen sich sowohl die Wahrheit, die sich in der Erkenntnis des zum tatsächlich Seienden gewordenen Sinnlichen bekundet, als auch die Kunst, die aus dem Sinnlichen heraus schafft, auf die eine Welt des Sinnlichen. Insofern sie deren Alleinstellung und Stützung gegen den lebensverneinenden, einen unerreichbaren Maßstab des Seinsollenden über der sinnlichen Welt aufrichtenden Nihilismus durchsetzen, kooperieren sie nicht nur miteinander („sie treten innerhalb des neuen geschichtlichen Daseins zusammen“). Die Wahrheit und die Kunst sind auch in ihrem Rang einander ebenbürtig, was sich in Heideggers Formulierung „gleiches Gewicht“ manifestiert. Indes deutet sich bereits an dieser Stelle die Pointe Heideggers an, mit der er die Statthaftigkeit der Zwiespalt-These unterstreichen kann: Wenn Kunst und Wahrheit beide im Sinnlichen übereinkommen, bedeutet dies, dass sie sich auch nur innerhalb der gemeinsam vollzogenen „Rettung“, „Gestaltung“ und Erhaltung des Sinnlichen entzweien können. Aus diesem Grund legt Heidegger eine Konzeption des Zwiespalts zugrunde, die es ihm ermöglicht, die vorgängige Zusammenkunft zur Bedingung der Trennung zu erheben.⁵⁵²

 Heidegger, N I, S. 163.  Heidegger, N I, S. 164.  Vgl. Heidegger, N I, S. 191– 192.

192

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.4.4 Zu den leitenden Prämissen in Heideggers Rückgang auf die beiden platonischen Urgestalten der Konstellation von Wahrheit und Kunst Zu Beginn des Abschnittes Umkreis und Zusammenhang von Platons Besinnung auf das Verhältnis von Kunst und Wahrheit greift Heidegger das soeben profilierte, kooperative Modell von Kunst und Wahrheit auf, um es mit der von Nietzsche inaugurierten Überwindung des Platonismus zu verknüpfen. Um Heideggers weitere Erläuterungen verstehen zu können, ist zuvorderst festzuhalten, dass er eine Bedeutungsausdehnung des Topos der „Umdrehung des Platonismus“ vornimmt und ab diesem Textstadium mit zwei Begriffen der Umdrehung operiert. Es wird sich herauskristallisieren, dass es ihm allein der Bezugsbereich der zweiten Umdrehung ermöglicht, den „Entsetzen erregenden Zwiespalt“ zwischen Wahrheit und Kunst als geschichtliche Reaktion auf den Nihilismus, d. h. den Platonismus zu untermauern. Die zweite Form der Umdrehung des Platonismus bezeichnet nunmehr nicht allein die Inversion des Maßstabsverhältnisses von Übersinnlichem und Sinnlichem. Vielmehr bezieht sich Heidegger mit dem zweiten Begriff der Umdrehung direkt auf die von Platon entwickelte Konstellation von Wahrheit und Kunst.Wenn Nietzsche den Platonismus umdreht, muss er im Vollzug dieser Umdrehung zu einer diametral entgegengesetzten Bestimmung der internen Relation von Wahrheit und Kunst gelangen. Prima facie scheint keine Abweichung gegenüber der ersten Version der Umdrehung vorzuliegen. Wird die von Nietzsche gewählte Semantik der platonischen Bereichseinteilungen beibehalten, wonach die Wahrheit auf das Übersinnliche referiert und die Kunst der wechselvollen Sinnlichkeit und der gestimmten Leiblichkeit zuzuordnen ist, ist die auf die unerschöpfliche Fülle angewiesene Kunst als „Bejahung des Sinnlichen“⁵⁵³ zu klassifizieren. Dergestalt wird ein Dissens mit dem Platonismus unausweichlich, insofern dieser das Übersinnliche „als das eigentliche Seiende bejaht“⁵⁵⁴ und demzufolge das Sinnliche als „Nicht-sein-sollendes“⁵⁵⁵ ablehnen müsste. Entscheidend für die Profilierung des zweiten Umdrehungsverständnisses ist jedoch Folgendes: Im Falle des Platonismus, so konstatiert Heidegger, ist eine eindeutige Hierarchieordnung vorhanden, in welcher der Vorrang des Übersinn-

 Heidegger, N I, S. 164.  Heidegger, N I, S. 164.  Vgl. Heidegger, N I, S. 164: „Im Platonismus, für den die Wahrheit das Übersinnliche ist, wird das Verhältnis zur Kunst anscheinend ein solches der Ausschließung, des Gegensatzes und der Entzweiung, also des Zwiespaltes. Wenn jedoch Nietzsches Philosophie die Umkehrung des Platonismus ist, das Wahre somit die Bejahung des Sinnlichen, dann ist das Wahre dasselbe, was die Kunst bejaht: das Sinnliche.“

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

193

lichen die Kunst aus dem Bereich des Wahren und Seienden ausschließt. Folglich sind Wahrheit und Kunst in einem Gegensatz situiert, der eine Entzweiung ausbuchstabiert und als „Zwiespalt“⁵⁵⁶ bewertet werden kann. Es wird transparent, dass selbst der Zwiespalt ambivalent verfasst ist. Während Heidegger den Zwiespalt im Hinblick auf Nietzsche so austariert, dass zwei Relate in demselben Bereich zusammentreffen, in welchem sie zugleich voneinander geschieden werden, so wird er in Bezug auf Platon zunächst als Dissonanz und Rangabstand zweier Elemente bestimmt, die in epistemisch getrennten Regionen beheimatet sind. Aufgrund der Dominanz der ersten Konzeption des Zwiespalts wird Heidegger die letzte Variante im weiteren Verlauf nicht mehr als Zwiespalt benennen; dagegen wird er sie als Abstand begreifen. Indem in der Umkehrung des Platonismus die Kunst nicht nur aus der Subordination gegenüber der mit dem Übersinnlichen konvergierenden Wahrheit befreit wird, sondern das vormals als Schein herabgesetzte Sinnliche den Kriterien des Wahren eher entspricht als die Ideen, erbringt auch „das Wahre somit die Bejahung des Sinnlichen“.⁵⁵⁷ Weil die Wahrheit „dasselbe ist, was die Kunst bejaht: das Sinnliche“⁵⁵⁸, äußert sich die Umkehrung des Platonismus sowohl in der Positionsvertauschung von Übersinnlichem und Sinnlichem als auch in dem Zusammentreten und der Einebnung der für den Platonismus charakteristischen Entzweiung und Abgrenzung von Wahrheit und Kunst: Für den umgedrehten Platonismus kann das Verhältnis von Wahrheit und Kunst nur das einer Einstimmigkeit und Eintracht sein. Wenn allenfalls bei Platon ein Zwiespalt bestehen sollte, was noch fraglich ist, da nicht schon jeder Abstand als Zwiespalt begriffen werden kann, dann müßte er in der Umkehrung des Platonismus, also in der Aufhebung dieser Philosophie, mitverschwinden.⁵⁵⁹

Durch diese (zugegebenermaßen elegante) Lösung entsteht der Eindruck, es seien endgültig alle diskutierten Problempunkte ausgeräumt oder bewältigt. Mit der Singularisierung des Sinnlichen scheint die Umkehrung des Platonismus geglückt und das Übersinnliche destabilisiert zu sein. Die normative Überfrachtung und

 Heidegger, N I, S. 164.  Heidegger, N I, S. 164.  Heidegger, N I, S. 164.  Heidegger, N I, S. 165. Vgl. Heidegger, N I, S. 165 – 166: „Die Frage, ob im Platonismus ein Widerstreit zwischen der Wahrheit, dem wahrhaft Seienden, und der Kunst und dem in ihr Dargestellten notwendig und deshalb wirklich besteht, kann allein aus Platons Werk selbst entschieden werden. Wenn hier ein Widerstreit besteht, dann muß er sich in einen Satz bringen lassen, der im Vergleichen von Wahrheit und Kunst das Gegenteil von dem sagt, was Nietzsche bei der Abschätzung ihres Verhältnisses entscheidet.“

194

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Verleugnung der Sinnlichkeit in der Gestalt eines ansichseienden, ewigen Wahrheitsmaßstabes wurde revidiert, da die Wahrheit in die Welt des Werdens integriert werden konnte. Indem die Kunst als schöpferische Macht anerkannt worden ist, konnte die nihilistische Verlagerung der gestaltenden Kräfte aus der einzigen Realität in die jenseitige Sphäre des Ideals beendet werden. Die für den Platonismus paradigmatische Diskreditierung der Kunst bei simultaner Privilegierung der Wahrheit beziehungsweise der Erkenntnis ließ sich zugunsten eines Einklanges beider Vollzugsweisen auflösen, ohne dabei zwangsläufig den axiologischen Primat der Kunst konstatieren und damit die platonische Wertungslogik in umgekehrter Form reproduzieren zu müssen. Es ist jedoch ebenso unverkennbar, dass durch die nun erreichte Verhältnissetzung Heideggers Intention, den Grund und die Verfassung des „Entsetzen erregenden Zwiespalt[es]“ zwischen Kunst und Wahrheit zu profilieren, an Plausibilität eingebüßt hat.⁵⁶⁰ Mit der gelungenen Aufhebung des Chorismos zwischen wahrer und scheinbarer Welt ist die Umdrehung des Platonismus „für ihn [Nietzsche, J.K.] entschieden“.⁵⁶¹ Dies dokumentiert sich vorzüglich in einer von Heidegger herangezogenen Aufzeichnung aus dem Jahre 1888, die der Schrift Götzen-Dämmerung entnommen ist: Die Gründe, darauf hin ‚diese Welt‘ [d.i. die sinnliche] als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, – eine andre Realität ist absolut unnachweisbar.⁵⁶²

 Vgl. Capurro, „Herausdrehung aus dem Platonismus“, S. 150: „Heidegger stellt nun die Frage, wieso Nietzsche trotz der Umdrehung des Platonismus das Verhältnis zwischen Kunst und Wahrheit als Zwiespalt, und zwar als einen ‚Entsetzen erregenden‘, auffaßt. Denn gesetzt, daß dieses Verhältnis für Platon ein solches des Zwiespalts wäre – die Kunst bejaht das Sinnliche, das wahrhaft Seiende ist aber das Übersinnliche –, müsste er verschwinden, wenn das Sinnliche als das Wahre bejaht wird.“  Heidegger, N I, S. 165.  Heidegger, N I, S. 165. Vgl. den Kontext dieses Zitats: Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Die „Vernunft“ in der Philosophie, § 6, KSA 6, S. 78: „Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus. Erster Satz. Die Gründe, darauf hin ‚diese‘ Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, – eine andre Art Realität ist absolut unnachweisbar. Zweiter Satz. Die Kennzeichen, welche man dem ‚wahren Sein‘ der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht-Seins, des Nichts, – man hat die ‚wahre Welt‘ aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine moralischoptische Täuschung ist. Dritter Satz. Von einer ‚andren‘ Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines ‚anderen‘, eines ‚besseren‘ Lebens. Vierter Satz. Die Welt scheiden in eine ‚wahre‘ und eine ‚scheinbare‘, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines hinterlistigen Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom niedergehenden

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

195

Wie Heidegger darlegt, werden die Rätsel und Schwierigkeiten im Rahmen der auszeichnenden Alleinstellung der sinnlichen Welt nicht geringer. Im Gegenteil: Der gravierende Widerspruch zwischen der harmonischen Einbettung und dem entsetzlichen Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit schält sich nun in aller Deutlichkeit heraus. Unproblematisch wäre diese Repugnanz nur dann, wenn Nietzsches Einschätzung, er stehe „noch jetzt mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt“ vor der erfolgreichen Umkehrung des Platonismus – die 1888 in der Götzen-Dämmerung festgehalten wird – geäußert worden wäre. In diesem Falle ließe sich argumentieren, Nietzsche habe mit der vollzogenen Umkehrung des Platonismus auch den Entsetzen erregenden Zwiespalt von Wahrheit und Kunst beseitigt, der ihn in seinem Denken zuvor begleitete und belastete. Der oben präsentierte, zweite Begriff der Umkehrung – wonach Nietzsche die platonische Dualität korrigiert – würde eindeutig bestätigt und zementiert. Umso herausfordernder muss sich daher der folgende Sachverhalt ausnehmen: Nietzsches Aussage, er „stehe noch jetzt mit einem heiligen Entsetzen vor diesem Zwiespalt“ stammt aus dem Herbst 1888 und damit aus derselben Zeit, zu der er die Umkehrung des Platonismus bereits für gelungen und abgeschlossen hielt. Obwohl Heidegger dies nicht explizit markiert, lassen sich auf der Grundlage dieser Simultaneität zwei wichtige Schlussfolgerungen ziehen und eine kritische Rückfrage formulieren: 1) Unterschwellig wird sichtbar, dass sich die Umkehrung des Platonismus – auch wenn es erst so aussah – nicht in der Revision der platonischen Entzweiung von Wahrheit und Kunst zugunsten eines Einklangs beider erschöpfen darf. In diesem Falle würde die zeitlich-werkgeschichtliche Zusammengehörigkeit zwischen Nietzsches Bekenntnis, vor einem erregenden Zwiespalt zu stehen und der Überzeugung, die platonische Maßstabssetzung destruiert zu haben, nicht beachtet. Der Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst und die Umkehrung des Platonismus dürfen einander nicht wie bislang ausschließen, sondern sie müssen koexistieren. 2) Auf den ersten Blick hat sich Heidegger aufgrund des inhaltlichen Gehalts des Passus aus der Götzen-Dämmerung eine gewichtige Interpretationshürde eingehandelt. Nichtsdestotrotz ist zu registrieren, wie er durch die Einführung dieser Textstelle die Gesamtauslegung in die von ihm gewünschte Richtung lenkt. Diese erreicht ihre Destination in dem Abschnitt Die neue Auslegung der Sinn-

Lebens… Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn ‚der Schein‘ bedeutet hier die Realität noch einmal, nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur… Der tragische Künstler ist kein Pessimist, – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist dionysisch…“ Vgl. auch: Nietzsche, NF-1888,14[168].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

lichkeit. Was sich vormals nur als plausible Lesart anbot, bezeugt sich nun als Unausweichlichkeit. Wenn nämlich die mit der Umdrehung des Platonismus einhergehende Suisuffizienz der Sinnlichkeit mit dem entsetzenerregend-zwiespältigen Gefüge von Wahrheit und Kunst zusammengedacht und versöhnt werden soll, kann dies nur gelingen, indem die Kunst und die Wahrheit als erhaltende Faktoren der im Sinnlichen und im Werden waltenden Einheit apostrophiert werden. Dazu ist erforderlich, dass sie einerseits gemeinsam in dieser sie zusammenfügenden Einheit stehen und die Einheit andererseits in zwei Wesensaspekte aufspalten. In einem kurzen Vorgriff auf den Abschnitt Die neue Auslegung der Sinnlichkeit und auf die Ergebnisse der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis kann dies wie folgt erläutert werden. Als je einzelne Elemente folgen sie der jeweiligen, einheitsaffinen, ihrem Fähigkeitsrahmen entsprechenden Verlaufsform und befördern eine Seite des Bedürfnisprofils jener Einheit. Dabei verlieren sie den sowohl rivalisierend-agonalen als auch sekundierend-kooperativ verfassten Bezug auf das je andere Relat nicht. Die beiden Pole von Wahrheit (Festmachung) und Kunst (Verklärung) überhöhen sich im Sinne des reziproken Aufeinanderaufbauens, obwohl (und weil) sie zugleich versuchen, sich in ihrer Konkurrenz gegenseitig auszuschließen und alleine die Gestaltung des Seienden im Ganzen zu okkupieren. Gerade dadurch ergibt sich eine unentwegte Dynamik der Überschreitung und Abwechslung, die nichts anderes ist als das Wesen des Willens zur Macht. Der Wille zur Macht enthüllt sich als Einheitsgrund und Stamm der Sinnlichkeit. Er kontrolliert und koordiniert den Widerstreit zwischen der Wahrheit und der Kunst. Wahrheit und Kunst werden in der willensdominierten Sinnlichkeit zusammengefügt. Inmitten der sinnlichen Realität stoßen sie sich immer wieder voneinander ab, wodurch sich der „Entsetzen erregende“ Zwiespalt aufbaut und aufrechterhält. Also bahnt sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst jene Struktur des Willens zur Macht an, die Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) komplettieren und bis hin zu dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik (1946) beibehalten wird. Im binnenhaften Mikrokosmos einer Vorlesung vollzieht sich eine eklatante Wandlung: Anders als zu Beginn der Vorlesung von 1936/37 ist der Wille zur Macht zum Schluss derselben Vorlesung nicht mehr vorrangig auf der Seite der Kunst einzuordnen, in der er als schaffendhervorbringendes Vermögen sichtbar wird und dergestalt der übersinnlich verankerten, platonisch-nihilistischen Wahrheit opponiert. Heidegger situiert ihn vielmehr auf einer Metaebene, von der aus er die einhegend-vereinfachende, beständigende Wahrheit und die steigernde Kunst in jenes Wechselspiel bringt, aus dem er selbst immer wieder triumphierend hervorgeht. Der Wille zur Macht nimmt die vormals übersinnliche Wahrheit zwangsläufig in sich auf, weil er im

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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Zuge der Universalisierung der Sinnlichkeit gänzlich mit dieser einzigen Realität gleichgesetzt werden muss. 3) Diesseits dieses Vorgriffs stellt sich die berechtigte Frage, weswegen Heidegger mit Nachdruck auf dem Motiv eines Entsetzen erregenden Zwiespalts zwischen Wahrheit und Kunst beharrt. Eine umfassende und befriedigende Antwort kann natürlich erst durch die Analyse des weiteren Fortgangs der Vorlesung gegeben werden. Diesbezüglich gibt Heidegger einen ersten Fingerzeig, wenn er im unmittelbaren Anschluss des Textes darauf insistiert, der „hintergründige Sinn dieses merkwürdigen Wortes“⁵⁶³ [d. h. des Entsetzen erregenden Zwiespalts, J.K.] müsse unweigerlich entschlüsselt werden, weil es nur auf diese Weise möglich sei, Nietzsches „metaphysische Grundstellung in ihrem eigenen Lichte zu sehen“.⁵⁶⁴ Die in dem obigen Vorgriff (unter 2.) geäußerten Erläuterungen bestätigen sich bereits an dieser Stelle, da Heidegger den entsetzlichen Zwiespalt als Verständnisschlüssel der Metaphysik Nietzsches etabliert. Es lässt sich folgern, dass die Verflechtung von Wahrheit und Kunst in einer in sich unterschiedenen Einheit bereits 1936/1937 zu einem hauptsächlichen Wesenszug des Sinnlichen qualifiziert wird, das mit dem Willen zur Macht zusammenfällt. Die Zusammensetzung des Willens zur Macht aus dem Vermögen und der Beschaffenheit der Kunst und der Wahrheit weist eine die gesamten Nietzsche-Vorlesungen übergreifende Kontinuität auf; im Gegensatz zu der verschiedenartigen Bewertung dieser festmachend-überhöhenden Einheit wird ihre innere Struktur nicht variiert. In einer rückblickenden Ergebnissichtung wird manifest: Bislang gibt es keinen triftigen Grund und Anhalt, in Nietzsches Verhältnisbestimmung von Kunst und Wahrheit einen Entsetzen erregenden geschweige denn überhaupt einen Zwiespalt im Sinne des Auseinandergehens des Zusammengehörigen vorzufinden. Entweder äußert sich das neue Verhältnis von Kunst und Wahrheit als Umstülpung der tradierten, platonischen Rangfolge beider Entitäten (sodass die Kunst gemäß dem fünften Satz bei Nietzsche mehr wert ist als die Wahrheit), wodurch sich eine Dignitätsunterscheidung generiert, ohne dass sich ein Abstand zwischen sie schieben müsste. Oder es konturiert sich in der Umkehrung des Platonismus jener Einklang zwischen Wahrheit und Kunst innerhalb des Sinnlichen (sodass die Kunst und die Wahrheit gleich notwendig sind für die Erhaltung der Realität), der die platonische Entzweiung zwischen der übersinnlich gegründeten Wahrheit und der sinnlich ausgerichteten Kunst revoziert:

 Heidegger, N I, S. 165.  Heidegger, N I, S. 165.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nietzsches Philosophie ist nach seinem eigenen Wort umgedrehter Platonismus. Gesetzt, es bestehe im Platonismus ein Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit, dann müßte auch durch die umdrehende Aufhebung des Platonismus der Zwiespalt für Nietzsche verschwinden.⁵⁶⁵

Weil bei Nietzsche der Einklang von Wahrheit und Kunst vorerst über die Möglichkeit eines Zwiespalts obsiegt hat und Heidegger den Entsetzen erregenden Zwiespalt dennoch als Proprium der Metaphysik Nietzsches betrachtet, muss der Umweg über Platons Werk eingeschlagen werden, weil sich in diesem zumindest eine Entzweiung von Wahrheit und Kunst, Idee und Sinnenschein konstatieren lässt. Dadurch wandelt sich Heideggers Interpretationsstrategie. Sollte zuerst im Ausgang von der absolvierten Umdrehung des Platonismus, der Nietzscheschen Rehabilitierung der Sinnlichkeit und der Priorisierung der Kunst als Grundgeschehen des Seienden ein Rückschluss auf die platonische Grundstellung erfolgen, so verfährt Heidegger nun in spiegelverkehrter Reihenfolge. Ausgehend von einer Sichtbarmachung des Zwiespalts von Wahrheit und Kunst bei Platon schließt er auf das Vorhandensein einer diametral entgegengesetzten Zwiespältigkeit in Nietzsches Denken: Wir möchten von Platon her, für den eine Entzweiung besteht, einen Fingerzeig dafür gewinnen, wo und wie wir in der Umdrehung des Platonismus bei Nietzsche diesem Zwiespalt auf die Spur kommen können.⁵⁶⁶

Dergestalt kann zwar noch nicht umgrenzt und ausgelotet werden, wie der Entsetzen erregende Zwiespalt tatsächlich beschaffen ist und wie und worin er sich niederschlägt. Indes kann zumindest seine Existenz behauptet werden. Auf der Basis der Prämisse, dass es bei Nietzsche zu einer Umkehrung des Platonismus komme, kann die Gleichung auch mit einer Unbekannten – diese wird hier durch die inhaltliche Disposition des entsetzlichen Zwiespalts bezeichnet – zu einer konstruktiven Lösung fortschreiten. Weil das Umkehrungstheorem (beziehungsweise das bei Nietzsche erreichte Ergebnis der Umkehrung) nun auf die ursprüngliche, platonische Relationsermittlung der bei Nietzsche umzukehrenden und umgekehrten Elemente zurückprojiziert wird und ein Licht auf die platonische Ausgangslage werfen soll, sind die Erkenntnisziele und Resultate der Heideggerschen Auseinandersetzung mit Platons Ansetzung des Gefüges bereits präfiguriert. Die (später gegen Nietzsche gewendete, zwecks Anzeige einer Verstrickung in den Platonismus herangezogene) These einer ganzheitlichen Um-

 Heidegger, N I, S. 190.  Heidegger, N I, S. 166.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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drehung des Platonismus und einer lückenlosen Entsprechung soll noch in der Inversion durchgehalten werden. Deswegen müssen die bislang herausgearbeiteten Leitbestimmungen des Verhältnisses von Wahrheit und Kunst bei Nietzsche – der bereits erläuterte und hinreichend begründete Einklang auf der einen Seite sowie der noch unbestimmte, Entsetzen erregende Zwiespalt auf der anderen Seite – bei Platon in der umgekehrten Ursprungsform vorliegen. Auf Grund dieser inneren Logik, die aus der strengen Berücksichtigung der Umdrehungsthese erwächst, lassen sich die bei Platon aufzuspürenden Konstellationen von Wahrheit und Kunst antizipieren. Die erste, naheliegende Konstellation wurde oben erörtert und ist daher bekannt. Heidegger muss sie profilieren, wenn er an der These eines Zwiespalts, d. h. einer ranghaften, ontologischen Entfernung zwischen Wahrheit und Kunst bei Platon festhalten will, die in Nietzsches Umkehrung des Platonismus zum Einklang, zur paritätischen Koexistenz beider Wesenheiten inmitten der Sinnlichkeit gefügt wird. Daher wird Heidegger im Durchgang durch Platons Werk logischerweise eine Entzweiungsgestalt entdecken müssen, in welcher die Wahrheit mitsamt der Erkenntnis (und damit auch der Philosophie) privilegiert wird und in einen Gegensatz zur Kunst tritt, insofern die Wahrheit auf die beständige Seiendheit der Ideen referiert, während die Kunst innerhalb des Widerscheins der Urbilder agiert. Durch die Exposition dieses klar zugunsten der Wahrheit ausfallenden Dignitätsunterschieds bei Platon kann Heidegger zudem die zweite Variante der Nietzscheschen Neubestimmung des Verhältnisses von Kunst und Wahrheit auffangen, insofern in der von Nietzsche vollführten Umkehrung des Platonismus, d. h. hier: in der Destruktion des Übersinnlichen, die Kunst den Vorrang gegenüber der Wahrheit erhält. Weil Heidegger jedoch den „Entsetzen erregenden Zwiespalt“ in Nietzsches Denken erweisen und diesen in dem Narrativ der Umdrehung des Platonismus verankern möchte, muss Heidegger bei Platon eine zweite, entscheidende und neuartige Konstellation freilegen. Es ist zu einer weiteren platonischen Verhältnissetzung vorzudringen, in der Kunst und Wahrheit gleichwohl nicht in einem reinen Einklang situiert sind. Die resultative Umdrehungsgestalt des reinen Einklangs ist zu unbestimmt und tendiert dazu, in ein unabhängiges Nebeneinanderstehen umzuschlagen. Ebenso dürfen die Wahrheit und die Kunst (wie in der ersten Konstellation) nicht in einem entzweienden, hierarchischen Rangabstand angeordnet sein. Wird eine vorausgesetzte, binäre Hierarchie von Wahrheit und Kunst umgedreht, vertauschen die beiden Pole ihre Stellung zueinander, wie es in der ersten Konstellation veranschaulicht ist. Auf diesem Wege kann der Entsetzen erregende Zwiespalt demnach nicht mit dem Akt der Umdrehung des Platonismus verbunden werden. Es ergäbe sich kein entsetzlicher, herausfordernder Zwiespalt. Für den entsetzlichen Zwiespalt ist es ja gerade konstitutiv, sich innerhalb eines Einklanges und eines Zusammentreffens in derselben Sphäre zu ereignen. Der

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Einklang muss auch im Entsetzen erregenden Zwiespalt konserviert werden. Er darf nicht einfach beseitigt werden. Andernfalls könnte neben der verschiedenartig auslotbaren Qualitätshierarchie einzig ein beziehungsloser Dualismus von Wahrheit und Kunst proponiert werden. Dergestalt zeichnet sich abermals ab, weswegen der laut Heidegger 1888 in der Götzen-Dämmerung erreichte Zusammenfall der Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt inmitten der einen Realität, den Heidegger bislang noch von dem entsetzlichen Zwiespalt dissoziiert hatte, nicht das unaufhebbare Gegenbild zu diesem symbolisiert. Die Einebnung der Unterscheidung enthüllt sich als Ermöglichungsbedingung des entsetzlichen Zwiespalts und fungiert als Grundlage für das aufeinander bezogene Auseinandergehen von Wahrheit und Kunst. Es bleibt vorerst festzuhalten: Weder die Postulierung des innerhalb einer einzigen Sphäre habitualisierten Einklanges zweier Wesenheiten noch die Hervorhebung einer Rangdifferenz von Wahrheit und Kunst in der platonischen Grundstellung ergeben in der Umwendung in das Entgegengesetzte einen Entsetzen erregenden Zwiespalt. Es gibt also nur eine einzige Möglichkeit, wie die in Platons Denken herauszuschälende Urversion der Relation von Wahrheit und Kunst in einer Weise umgekehrt werden kann, dass sie bei Nietzsche schließlich in einen Entsetzen erregenden Zwiespalt mündet. Das generelle Charakteristikum eines Zwiespalts muss schon in der platonischen Ausgangsgestalt vorliegen und in seinem Status beibehalten werden, doch muss der Zwiespalt in seiner inneren Struktur gegenüber dem aus der Transformation dieser Anfangsform hervorgehenden, Entsetzen erregenden Zwiespalt konträr verfasst sein. Wenn Nietzsche in der Umkehrung des Platonismus zu einem „Entsetzen erregenden Zwiespalt“ von Wahrheit und Kunst gelangt, darf der Zwiespalt bei Platon ursprünglich kein Entsetzen erregender, sondern muss im Gegenteil ein „beglückender“⁵⁶⁷, beseligender und besänftigender Zwiespalt sein. Es muss sich um einen Zwiespalt handeln, der im Grunde Einklang des aus zwei verschiedenen Regionen Zusammentretenden, sich Verbindenden ist, während der von Nietzsche bedachte Zwiespalt eine „Zerrissenheit“⁵⁶⁸, d. h. ein Einklang des Auseinanderweisenden und Streitenden ist. Daher stellt sich die Aufgabe, inwieweit bei Platon glaubhaft ein Einklang, eine Übereinkunft der beiden an sich differenten Elemente aufgedeckt werden kann. Die beiden hier präsentierten, platonischen Konstellationen von Wahrheit und Kunst lassen sich somit im Ausgang von den Nietzscheschen Verhältnisbestimmungen gemäß der Umkehrungslogik folgern und vorgreifend setzen. Es ist

 Vgl. Heidegger, N I, S. 190 ff.  Heidegger, N I, S. 192.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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daher wenig überraschend, dass Heidegger im weiteren Fortgang zwei verschiedene Konstellationsbestimmungen zwischen Wahrheit und Schönheit in Bezug auf Platon unterscheidet. In der Politeia wird die mimetische Funktion der Kunst gegenüber der Wahrheit der Idee betont, sodass dort einerseits Nietzsches Umwertung zugunsten der sinnlichen Kunst angelegt ist. Andererseits muss in der Politeia der Kontrast zu dem von Heidegger exponierten Einklang von Wahrheit und Kunst walten, der in der Philosophie Nietzsches zutage treten soll. Im Hinblick auf den Phaidros wird Heidegger hingegen der zweiten Konstellation zu ihrem Recht verhelfen, weil die Wahrheit und die Kunst in diesem Dialog in einem „beglückenden Zwiespalt“ situiert sind, insofern in dem Schönen die Idee in ihrem Aufleuchten durchsichtig wird. Dergestalt prägt sich im Phaidros der Konterpart zu dem Entsetzen erregenden Zwiespalt aus, sodass Heidegger das erste Etappenziel erreichen kann: Der Nachweis, dass im Rahmen der Umdrehung des Platonismus notwendigerweise ein entsetzlicher Zwiespalt entstehen muss, dessen Beschaffenheit allerdings noch zu bestimmen ist. An dieser Stelle drängt sich ein gewichtiger Einwand förmlich auf. Die bei Platon zu entdeckenden Urbestimmungen des Verhältnisses von Wahrheit und Kunst lassen sich antizipieren, weil sie nach Heidegger die gegenbildliche Verkehrung der bei Nietzsche gewonnenen Trias von Relationsbenennungen (Einklang; Vorrang der höherwertigen Kunst gegenüber der Wahrheit; Entsetzen erregender Zwiespalt) bilden müssen. Ist Heideggers Zugang zu Platons Werk dann nicht von vornherein dadurch geprägt und geleitet, die beiden Modi der Entzweiung und des beglückenden Zwiespalts unbedingt in den verschiedenen Dialogen finden zu wollen? Steht damit bereits fest, was in einem unvoreingenommenen Durchgang durch die platonischen Dialoge erst zu erweisen wäre? Auch wenn diese Kritik berechtigt erscheint, schmälert dies Heideggers Auslegung der Politeia und des Phaidros nicht. Trotz der prädefinierten Erkenntnisziele schlägt Heidegger Interpretation der beiden Dialoge keineswegs in eine willkürliche Präjustierung entlegener, dem Originaltext gewaltsam oktroyierter Motive um. Heideggers Auswahl der Dialoge – dass er zur Bestätigung des Abstandstheorems auf der einen Seite ausgerechnet die Politeia heranzieht und auf der anderen Seite zur Untermauerung des „beglückenden Zwiespalts“ den Phaidros und das Symposion als Gespräche über das Schöne präferiert – ist zwar von seinem Deutungsparadigma geleitet, welches von der abgeschlossenen Gestalt des umgedrehten Platonismus ausgeht. Nichtsdestotrotz könnte die immanente Interpretation der jeweiligen Verhältnisklassifikation von Wahrheit und Kunst in der Politeia und im Phaidros mitsamt ihren Ergebnissen eine signifikante Plausibilität und Nachvollziehbarkeit selbst dann beanspruchen, wenn das Narrativ der Umdrehung des Platonismus und die Figuration eines Entsetzen erregenden Zwie-

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spalts nicht im Hintergrund stünden. Anders als Heideggers Erkenntnisintention, ist der reine Vollzug der Interpretation der Politeia und des Phaidros nicht von der Fokussierung auf die metaphysische Grundstellung Nietzsches abhängig. Um zu dem Ursprungsort der Entzweiung vorzudringen und einen Widerstreit zwischen Wahrheit und Kunst bei Platon freizulegen, rekurriert Heidegger zunächst auf die wertbezogene Differenz. Demzufolge muss das für die Umkehrung des Platons relevante Urteil, die Kunst sei mehr wert als die Wahrheit, bei Platon umgekehrt „die Kunst ist weniger wert als die Wahrheit“⁵⁶⁹ lauten: Die Frage, ob im Platonismus ein Widerstreit zwischen der Wahrheit, dem wahrhaft Seienden, und der Kunst und dem in ihr Dargestellten notwendig und deshalb wirklich besteht, kann allein aus Platons Werk selbst entschieden werden. Wenn hier ein Widerstreit besteht, dann muß er sich in einen Satz bringen lassen, der im Vergleichen von Kunst und Wahrheit das Gegenteil von dem sagt, was Nietzsche bei der Abschätzung ihres Verhältnisses entscheidet. Nietzsche sagt: Die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit. Platon muß entscheiden: die Kunst ist weniger wert als die Wahrheit, d. h. als die Erkenntnis des wahrhaft Seienden, als die Philosophie. So muß es in der Platonischen Philosophie, die man gern als die Blüte griechischen Denkens darstellt, zu einer Herabsetzung der Kunst kommen. Dies bei den Griechen, die doch wie kaum ein abendländisches Volk die Kunst bejahten und begründeten! Das ist eine befremdliche Tatsache; aber sie ist dennoch unbestreitbar. Wir müssen daher zunächst, wenngleich nur in aller Kürze, darstellen, wie bei Platon diese Herabsetzung der Kunst gegenüber der Wahrheit aussieht, inwiefern sie sich als notwendig ergibt.⁵⁷⁰

Für die weitere Auseinandersetzung mit der platonischen Verhältnisbestimmung ist von signifikanter Bedeutung, in welcher Weise Heidegger die „Wahrheit“ in diesem Kontext versteht. Heidegger knüpft hier an Nietzsches Benennung der Kunst, Religion und der Philosophie als Dekadenz-Formen an. Weder setzt Heidegger die Wahrheit als „Erkenntnis des wahrhaft Seienden“⁵⁷¹ mit dem Übersinnlichen schlichtweg gleich, noch fasst er sie in ihrer gewendeten Gestalt als „Bejahung des Sinnlichen“.⁵⁷² Stattdessen gibt Heidegger die Wahrheit mit dem Terminus „Philosophie“⁵⁷³ wieder und führt sie somit auf jenes Wissen zurück, dessen Proprium die Begründung des Wahren ist. Für Platon – so lässt sich diese Überlegung resümieren – muss die Philosophie als Betrachtungsweise des Wahren, d. h. der Ideen, über der Kunst ange-

 Heidegger, N I, S. 166.  Heidegger, N I, S. 165 – 166.  Heidegger, N I, S. 166.  Heidegger, N I, S. 164.  Vgl. Heidegger, N I, S. 166: „Platon muß entscheiden: die Kunst ist weniger wert als die Wahrheit, d. h. die Erkenntnis des wahrhaft Seienden, als die Philosophie.“

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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siedelt sein, die auf das Schattenbild ebendieser Wahrheit, auf das Sinnliche, konzentriert ist. Aufgrund der differenzierten Verwendungsweise des Wahrheitsbegriffes lässt sich eine weitere Deutungsschwierigkeit, ein potenzieller Widerspruch, im Hinblick auf zwei vermeintlich konfligierende Produkte der Umdrehung des Platonismus umschiffen. Der Einklang von Wahrheit und Kunst innerhalb des Sinnlichen auf der einen Seite und der von Nietzsche behauptete, durch Heidegger ausgestaltete und systematisierte Primat der Kunst auf der anderen Seite schließen sich nicht aus. Sofern unter „Wahrheit“ das wahrhaft Seiende im Sinne des Übersinnlichen, Maßstäblichen und Beständigen gemeint ist, erhält die Kunst eine Präeminenz.⁵⁷⁴ Sie richtet sich gegen die Verleugnung des Werdens und die Verurteilung des sinnlichen Lebens. Die Negation des Werdens geht nach Nietzsche mit der Homöostase eines fordernd und normierend auftretenden Ideals des Seinsollenden einher. Es ist dieses Ideal, das die potenzielle Gestaltungskraft des Lebens über Jahrtausende absorbiert hat. Wenn die „Wahrheit“ nach der Umdrehung des Platonismus hingegen das wahrhaft Seiende und Wirkliche im Sinne des Sinnlichen bedeutet, legitimiert und bestärkt sie die schöpferische Potenz der Kunst. Die Kunst manifestiert sich als Inbegriff des Grundgeschehens der Realität. Also steht die Wahrheit in einer Eintracht mit der Kunst, weil beide Entitäten dasselbe affirmieren. Nichtsdestotrotz bleibt die Wahrheit in diesem versöhnenden Modell etwas Äußerliches. Sie erschöpft sich gewissermaßen in der Auffassung, dass das Sinnliche das Wahre sei. Die Wahrheit fungiert als ausweisende Anzeige der Statthaftigkeit dessen, was die Kunst als aktive Tätigkeit vollzieht. An der „Rettung“ des Sinnlichen ist die Wahrheit in diesem Deutungsmuster nicht direkt beteiligt. Es wird noch zu demonstrieren sein, dass Heidegger schon 1936/37 das ab 1939 unangefochten dominierende Schema zu profilieren beginnt: In diesem Schema kommt auch der Wahrheit eine tätige Funktion zu, indem ihre platonischen Charakteristika – das Wahre ist ein Sein, das beständig ist – in die Aufrechterhaltung der Sinnlichkeit eingespannt werden. Weil die Wahrheit als Festmachung hinter der sich überhöhend-streitenden und wechselvollen, wahren Verfasstheit der Welt permanent zurückbleibt, ist die Kunst eher in der Lage, den Titel der Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen. In dieser (von Nietzsche gegebenen und von Heidegger weitergedachten) Neubestimmung der Wahrheit als lebensdienlicher Festmachung ergibt sich die Paradoxie, dass die innerhalb des unbeständigen und vielfältigen Sinnlichen agierende Kunst wahrer, d. h. der Wirklichkeit angemessener, ist als die Wahrheit. Dennoch wandert diese nicht

 Vgl. hierzu Heinz, „Schaffen.“ Die Revolution von Philosophie, S. 178.

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einfach in den Begriffsbestand der Kunst ein, wodurch Kunst und Wahrheit in einen Einklang der Verschmelzung und Ununterscheidbarkeit treten würden. Vielmehr enthüllt sich die Wahrheit als Irrtum, der für die Sicherung des Lebens notwendig ist. Im Gegensatz dazu, erbringt die Kunst die noch wesentlichere Verklärung und Perspektivenanreicherung, welche die Grundbewegtheit des sich steigernden Lebens austrägt. Auf diese Weise wird Heidegger den „Entsetzen erregenden Zwiespalt“ zwischen Kunst und Wahrheit, der sich inmitten des Einklangs im Sinnlichen evoziert, besonders in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis apostrophieren. Gleichzeitig wird er die Auffassung beibehalten und validieren können, dass die Kunst als dezidierte Gegenbewegung gegen den Nihilismus mehr wert sei als die Wahrheit.

1.4.5 Der qualitative Rangabstand von Wahrheit und Kunst in Platons Politeia: Die Kunst als „dritte Erzeugung“ Heideggers ausführlicher und teilweise immens detaillierter Platon-Exkurs, der die drei Kapitel Umkreis und Zusammenhang von Platons Besinnung auf Kunst und Wahrheit ⁵⁷⁵, Platons Staat: Der Abstand der Kunst (Mimesis) von der Wahrheit (Idee) ⁵⁷⁶ und schließlich Platons Phaidros: Schönheit und Wahrheit in einem beglückenden Zwiespalt ⁵⁷⁷ umfasst, kann nicht in all seinen Filiationen diskutiert werden. Dagegen soll der interne Zwiespalt in Platons Dialogen selbst – die Kunst kann einerseits das Wahre nur in vermittelter Form abbilden (Politeia), andererseits bringt die Schönheit dieses in privilegierter, „beglückender“⁵⁷⁸ Weise zum Vorschein (Symposion und Phaidros) – besonders gewürdigt werden. Im III. Buch der Politeia wirft Platon die Frage auf, ob die Dichter eine führende Position in dem entworfenen Gemeinwesen einnehmen können.⁵⁷⁹ Dabei hebt Platon hervor, dass die Kunst eine „Darstellung von Seiendem“⁵⁸⁰ ist, die in ihrem Herstellen eine Mimesis vollführt, „ein Dichten im Sinne des Erdichtens“.⁵⁸¹ Weil die Kunst das Seiende nicht in seinem unveränderlichen Wahrheitsgehalt

      

Vgl. Heidegger, N I, S. 164– 172. Vgl. Heidegger, N I, S. 173 – 190. Vgl. Heidegger, N I, S. 190 – 202. Heidegger, N I, S. 202. Vgl. Platon, Politeia 386b ff. Heidegger, N I, S. 170. Heidegger, N I, S. 170 – 171.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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entfalten kann, ist sie der „Gefahr der ständigen Täuschung und Lüge“⁵⁸² ausgesetzt. Folglich muss sie innerhalb des Staates, der die Frage nach der Herrschaft an das ideenorientierte Wissen über die Gerechtigkeit⁵⁸³ knüpft, einer strengen Kontrolle unterworfen werden.⁵⁸⁴ Für Heidegger rückt das X. Buch in den Vordergrund, in dem Platon die Gleichsetzung der Kunst mit der Mimesis thematisiert und den vermeintlichen Täuschungscharakter der Kunst expliziert.⁵⁸⁵ Da das Phänomen der Nachmachung stets mit Vorgängen des nachgeordneten Herstel-

 Heidegger, N I, S. 171.  Vgl. Heidegger, N I, S. 168.  In seinem einführenden Kommentar zu Platons Politeia bekräftigt Andreas Schubert, dass Platon das bedrohliche Potential der tragischen Kunst nicht vorrangig darin sieht, dass die Dichter trotz ihrer Ermangelung bereichszugehöriger Realkenntnis verschiedene Charaktere und Sachverhalte auf der Bühne inszenieren. In diesem Sinne müssten sie in dieser unzulänglichen Nachahmung die originaltypischen Handlungsweisen notwendigerweise verfälschen. Stattdessen arbeitet Schubert heraus, dass die im Drama aufgeführten Figuren nach Platon eine ethische Vorbildfunktion erfüllen. Die moralische Konstitution und die politisch-kulturelle Einstellung der Protagonisten wirken demzufolge direkt auf die Zuschauer ein und evozieren einen lebensweltlichen Nachahmungseffekt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass Platon die traditionell zum Repertoire der antiken Dichtkunst zählende, anthropomorphe Darstellung leidenschaftsbestimmter und sogar rachsüchtiger Götter zensieren und aus der idealen Polis verbannen möchte. Vgl. Andreas Schubert, Platon: ‚Der Staat‘. Ein einführender Kommentar, Paderborn 1995, S. 152 f.: „Innerhalb seines [Platons, J.K.] Gedankenganges ist der Begriff der ‚Mimesis‘, der im Deutschen häufig mit ‚Nachahmung‘ wiedergegeben wird, offenkundig zentral. Das ist bereits deutlich, bevor der Begriff in der Diskussion möglicher Darstellungsformen gebraucht wird. Erzählungen von Göttern und Heroen sollten diese als vorbildhaft zeigen. Ihr Verhalten soll also nicht etwa deshalb konsistent sein, um dem Menschen den ‚Glauben an das Gute‘ zu wahren, existenzielle Verzweiflungskrisen zu vermeiden: das, was gut – oder zumindest zulässig ist – wird durch die Darstellung solcher Figuren erst als solches erfahren. Und wenn Platon im Folgenden von den Darstellungen als mimetisch spricht, in denen Impersonisation auftritt, ist, so sollen wir verstehen, die Gefahr der Entwicklung einer ‚zweiten Natur‘ noch größer. Nicht nur der Dichter vollführt in seinem Schaffen einen Akt der Nachahmung; wir selbst, im Genuß dieses Werks, ahmen nach.“ Der psychologische Aspekt einer Assimilation des in der dramatischen Poesie eröffneten Ereigniszusammenhanges und die von Seiten Platons befürchtete, mimetische Verkennung des Unterschiedes zwischen Realität und Fiktion wird auch in Stephen Halliwells Kommentar zur platonischen Dichterkritik untermauert. Vgl. Halliwell, The Republic’s Two Critiques of Poetry (Book II 376c-III 398b, Book X 595a-608b), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Platon. Politeia, Reihe Klassiker auslegen, Bd. 7, 3. Aufl., Berlin 2011, S. 243 – 257, hier S. 250: „The concept of mimesis used in this section of the work, as defined first for the poet (393c) and later for the recipient/reciter (396a-b, 396d), is one of ‚self-likening‘ or assimilation to the figures of poetry. In experiencing poetry in the dramatic mode, the mind adapts itself to the viewpoint of the speaker. This model of close psychological identification allows a deepening of the earlier concern with poetry‘s effects on the mind.“  Vgl. Platon, Politeia 595b ff.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

lens konnotiert ist, wählt Platon die Beispiele der Artefakte⁵⁸⁶ des Bettgestells und des Tisches. Auf diese Weise soll das Verhältnis zwischen der „Einheit des

 Die Streitfrage, inwieweit Platon tatsächlich Ideen von Artefakten annahm, kann hier nicht ausführlich erörtert werden. Im Hinblick auf die Kunst-Kritik im X. Buch der Politeia und angesichts des von Platon gewählten Bett-Beispiels kommen sowohl Stephen Halliwell als auch Christoph Horn zu der Einschätzung, dass die Passage nicht als genuin platonische Ausgestaltung der Ideenlehre gelesen werden darf. Vielmehr heben beide Forscher hervor, dass die ironischen Aspekte dieses Passus berücksichtigt werden müssen. Horn konstatiert zahlreiche Interpretationsschwierigkeiten der Gott-Handwerker-Künstler-Herstellungshierarchie, die sich im Vergleich mit andersartigen, ontotheologischen Dialogaussagen Platons eindeutig herauskristallisierten. Vgl. Christoph Horn, Platons episteme-doxa-Unterscheidung und die Ideentheorie (Buch V 474b– 480a und Buch X 595c–597e), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Platon. Politeia, Reihe Klassiker auslegen, Bd. 7, 3. Aufl., Berlin 2011, S. 225 – 241, hier S. 231: „Auch die Interpretation unseres zweiten Textes [Platons Kunstkritik im X. Buch der Politeia, J.K.] ist diffizil. Sie wird zunächst dadurch erschwert, daß das gewählte Beispiel einer Idee, das Bett, anscheinend nur karikaturhaft und ironisch gemeint sein kann. Sodann ist anstößig, daß der Text eine Version der Ideentheorie enthält, die diese Konzeption im Blick auf eine Substanz (statt wie sonst i. d. R. am Beispiel mathematischer, ethischer und ästhetischer Eigenschaften) darstellt, noch dazu im Blick auf ein Artefakt. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, daß Platons Argument gegen die Künstler anscheinend leicht zu entkräften ist: Wer als Künstler Naturdinge und nicht Artefakte imitiert, scheint dem Argument zu entgehen. Schließlich führt der Text zu offenkundigen Ungereimtheiten im Blick auf Platons anderweitig greifbare Theologie: Im Timaios besteht die Rolle des göttlichen Demiurgen nicht im Erschaffen von Ideen, sondern im ideengemäßen Gestalten der Materie. Schon Cherniss (1932) hat deshalb den Vorschlag gemacht, man solle Platons eigentliche Theologie an dieser Stelle gar nicht impliziert sehen, sondern den Text als rein kontextbezogenes Argument lesen.“ In eine ähnliche Richtung wie Horn zielt auch Stephen Halliwell. Halliwell vertritt allerdings darüber hinaus die These, dass die gesamte Kunsttheorie des X. Buches mitsamt dem von Platon verwendeten, triadischen Schema eine dezidiert rhetorisch-polemische Einfärbung besitze. Platon verfolge daher in diesem Zusammenhang nicht die Intention, den authentischen Lehrgehalt einer komplexen Ideenmetaphysik aufzurufen und diese philosophisch zu begründen. Vgl. Stephen Halliwell, The Republic’s Two Critiques of Poetry (Book II 376c–III 398b, Book X 595a–608b), S. 252 f.: „The second critique is initiated by a notorously metaphysical argument, which applies the concept of a ‚form‘ (eidos, idea: 596a-b) to classes of objects such as couches or tables, rather than, as in Books V-VI or the Phaedo, to properties such as beauty and justice. I do not wish here to adress this awkward passage in relation to the so-called ‚theory of forms‘ itself. But I stress three general interpretative factors in this connection. First, the exposition oft he tripartite schema (forms, particulars, mimesis) is highly rhetorical, even (like later parts of the critique) satirical, in tone and emphasis: this shows itself in the choice of bed/couch as an example, the irony of 596be, or the language of 598b-c. It is imprudent to interpret these passage without taking account of Socrates’ provocative tone in this regard. Secondly, Socrates’ use of the tripartite schema need not depend on any one construal of ‚forms‘: provided there is some concept of truth or reality to occupy the top tier of the schema, then the schema provides a possible framework in which to pose questions about representantional art. Finally, the top tier of the schema in any case ceases to play much part in the argument after 597e: apart from the linking reference at 598a, the me-

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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εἶδος“⁵⁸⁷ als der unverfälschten Anwesenheit eines Dinges in seinem beständigen Aussehen auf der einen Seite und der Mannigfaltigkeit des Begegnenden auf der anderen Seite erfasst werden. Der Handwerker, der „δημιουργός“⁵⁸⁸, kann die Idee der entsprechenden Gerätschaft nicht anfertigen, muss sich jedoch, wenn er ein Bettgestell oder einen Tisch konstruieren möchte, von dem Blick auf diese leiten lassen. Nur weil der Tischler im gemachten Tisch das Aussehen, das, was dieser ist, innerhalb der „sinnlichen Sichtbarkeit“⁵⁸⁹ und in einem Anderen – in dem Material des Holzes – erscheinen lässt, kann dem Tisch der Status, seiend zu sein, zugesprochen werden. Während sich der jeweilige Handwerker auf den „Bereich der ihn leitenden ‚Idee‘“⁵⁹⁰ beschränken muss, gibt es einen bewundernswerten, „sehr mächtigen und unheimlichen“⁵⁹¹ Mann, der „alles und jedes“⁵⁹² herstellen kann. Dessen Fähigkeit ist nicht auf die einzelnen Gerätschaften der Handwerker limitiert. Vielmehr kann er auch die Götter, Tiere und alle Menschen produzieren. Der Terminus des Herstellens ist, wie Heidegger ausdrücklich vermerkt, hier nicht im Sinne des stofflichen Anfertigens zu begreifen. Das Her-stellen ist griechisch zu denken und in der Bedeutung des Herzeigens, Vorführens sowie des Hineinbringens in einen bestimmten Umkreis zu verstehen. Daher ist auch jeder Einzelne in der Lage, diese Form universaler Herstellbarkeit zu erfüllen. Heidegger akzentuiert an dieser Stelle Platons Wendung „τίνι τπόπῳ ποίεῖ“⁵⁹³, die er mit „in welcher Weise er herstellt“⁵⁹⁴, übersetzt. Derjenige τρόπος, der die Herstellung einer unbeschränkten Vielzahl divergierender Dinge ermöglicht, vollzieht sich unter Zuhilfenahme eines Spiegels. Im herumgeführten Spiegel können sowohl die Sonne, die Himmelskörper als auch die Lebewesen⁵⁹⁵ sichtbar werden und Gestalt annehmen – der Spiegel stellt sie her, indem er sie erscheinen lässt. Glaukons Entgegnung, dass das im Spiegel

taphysics of forms is never directly mentioned again, despite a final glimpse of the tripartite schema at 599a. The first part of the book X may evoke the spirit of the Divided Line and the Cave, and thereby recall one of the Republic‘s central thoughts, that truth and reality lie beyond the realm of sense-experience. But taken as a whole the second critique of poetry need not depend on an explicit set of metaphysical assumptions.“  Heidegger, N I, S. 174.  Heidegger, N I, S. 181.  Heidegger, N I, S. 178.  Heidegger, N I, S. 178.  Heidegger, N I, S. 178.  Heidegger, N I, S. 179. Vgl. Platon, Politeia 596c.  Heidegger, N I, S. 178. Vgl. Platon, Politeia 596d.  Heidegger, N I, S. 178.  Vgl. Platon, Politeia 596c.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Gezeigte nur wie dieses selbst aussehe, jedoch als φαινόμενον das „Anwesende in der Unverborgenheit“⁵⁹⁶ verdecke, darf nach Heidegger nicht voreilig auf die Unterscheidung von „wahr“ und „scheinbar“ zurückgeführt werden.⁵⁹⁷ Im Vordergrund steht nicht die Distinktion in der Wiedergabe des Wahrheitsgrades. Stattdessen unterstreicht Heidegger die Aussagekraft der Duplizierung des „ὄν“.⁵⁹⁸ Es kommt zu „verschiedenen Weisen des Anwesens“⁵⁹⁹, weil das Anwesende einmal das „Seiende als sich Zeigendes“⁶⁰⁰ (ὄν φαινόμενον) bezeichnet und einmal das „Seiende als Nichtverstelltes“⁶⁰¹ (ὄν τῇ ἀλήθεια) bedeutet. Das sich Zeigende und das Unverstellte sind, wie Heidegger am Beispiel eines Hauses verdeutlicht, dasselbe und zugleich verschieden. Sie sind dasselbe, weil in beiden Fällen das eine Anwesen und die eine Idee des Hauses erscheint. Sie sind verschieden, weil diese Idee einerseits unverstellt im Medium von „Stein und Holz“⁶⁰² hervortritt und andererseits auf der Oberfläche des Spiegels aufgefangen wird. Den entscheidenden Schritt zur Ausdifferenzierung des Begriffes der Mimesis nimmt Platon vor, indem er den beiden Weisen der Anwesenheit zwei Typen von Herstellern zuordnet und damit zur Klärung der Rolle der Kunst vordringt. Neben dem Handwerker ist auch der alles her-stellende Spiegler ein δημιουργός. Zu dieser Kategorie der Spiegler zählt allerdings – wie Sokrates betont – auch der Maler. „Im Durchscheinen durch ein Anderes“⁶⁰³, nämlich im τρόπος der Farbe, stellt der Maler das Bettgestell her. Weil auch der Handwerker immer nur ein einzelnes Exemplar des Bettgestells anfertigen kann, ist dieses bereits ein „Dunkles und Mattes“⁶⁰⁴ im Vergleich zu dem Sein dieses Seienden, dem reinen Aussehen des unverrückbaren Vorbildes. Es ist diesem in ähnlicher Weise nachgeordnet, wie es selbst der Gestaltannahme im Gemälde oder im Spiegel vorgeordnet ist.⁶⁰⁵ Die Idee des Bettgestells selbst wird durch den Gott hervorgebracht. Dessen Dignität bekundet sich darin, dass seinem Geschaffenen – im Unterschied zum Stellmacher und zum Maler – eine Einzigkeit und Veränderungslosigkeit zukommt. Diese Einheit ist nicht das Produkt einer Abstraktion aus der Mannigfaltigkeit. Stattdessen ist es die Singularität der Idee, welche eine

         

Heidegger, N I, S. 180. Vgl. Platon, Politeia 596e. Vgl. Heidegger, N I, S. 180. Heidegger, N I, S. 180. Heidegger, N I, S. 180. Heidegger, N I, S. 180. Heidegger, N I, S. 180. Heidegger, N I, S. 180. Heidegger, N I, S. 181. Heidegger, N I, S. 182. Vgl. Heidegger, N I, S. 182.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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Vervielfältigung und die sie konstituierende Stufenordnung der drei Weisen von Anwesenheit allererst ermöglicht.⁶⁰⁶ Bemerkenswert ist daher, dass sich das eine und selbe Bettgestell als Idee in der Unverborgenheit, in dem hölzernen Bettgestell und im Gemälde zeigt. Während der Gott dieses im „Aufgehen des reinen Aussehens besorgt“⁶⁰⁷ und der Handwerker es für den öffentlichen Gebrauch, für den „δῆμος“⁶⁰⁸ zurechtmacht, vollzieht der Maler eine – aus der Perspektive des ursprünglichen Erscheinenlassens der Idee durch den Gott betrachtet – „dritte Hervor-bringung“.⁶⁰⁹ Diese weist keinen unmittelbaren Anhalt für die praktische Verwendbarkeit mehr auf und kann als Nachahmung dessen charakterisiert werden, „mit Bezug worauf [d. h. auf die Idee, J.K.] jene [die Stellmacher, J.K.] die Her-steller für das Öffentliche sind“.⁶¹⁰ Zudem kann der Maler im Gemälde immer nur einen bestimmten Anblick des Tisches, ein „φάντασμα“⁶¹¹ zeichnen, wohingegen der Tischler einen ganzen, mit sich selbst identischen Tisch anzufertigen vermag.Weil sich der Maler

 Heidegger geht in diesem Kontext nicht weiter darauf ein, weswegen der Gott gezwungen ist, nur eine einzige Idee des Bettes herstellen zu können. Eine überzeugende Erklärung liefert Christoph Horn, indem er die Einzigkeit als wesentliche Eigenschaft der Idee auffasst. Vgl. Horn, Platons episteme-doxa-Unterscheidung und die Ideentheorie (Buch V 474b–480a und Buch X 595c– 597e), S. 232 f.: „Was steckt hinter Platons Forderung, daß nur eine einzige Idee der F-heit jedes Vorkommen von F erklären soll? Warum sollten nicht einige materielle Betten nach dem Vorbild dieser und andere nach dem Vorbild jener Idee geformt sein? Das Pathos, das Platon im vorliegenden Text mit der Einheitskonzeption verknüpft, ist sicher nur erklärbar, wenn man eine der zentralen Platonischen Überzeugungen ins Spiel bringt. In unserem Text aus Politeia X hat das Wissen des göttlichen Ideenschöpfers offenkundig direkt mit Sokrates’ Aussage zu Beginn der Ideenpassage zu tun, wo dieser sagt (596a6 – 8): ‚Sind wir nicht gewohnt, ein einziges eidos anzusetzen bezüglich jeder der Vielheiten, denen wir dieselbe Bezeichnung (onoma) beilegen‘? Bemerkenswert ist, daß Platon im Fall der Ideenproduktion nicht nur sagt, der Gott sei ‚gewohnt‘, sondern er sei ‚gezwungen‘, eine einzige Idee zu verfertigen. Dennoch deutet Platon im Text keinen zusätzlichen Grund dafür an, weshalb zwei Ideen des Bettes unzulässig sind. Er scheint vielmehr zu sagen, daß zwei Prätendenten auf die Rolle der Idee von vornherein nicht für diese Rolle in Betracht kommen. Somit legt sich die These nahe, daß zu einer Idee wesentlich ihre Einzigkeit gehört. Ist diese These richtig, so würde Platon nicht meinen, daß mehrere Ideen der Fheit redundant, unpraktikabel oder unschön wären, sondern er wäre der Ansicht, daß der Begriff ‚mehrere Ideen der F-heit‘ bereits in sich widersprüchlich ist, weil es die Idee kennzeichnet, eine einzige zu sein.“  Heidegger, N I, S. 187.  Heidegger, N I, S. 187.  Heidegger, N I, S. 187.  Heidegger, N I, S. 187. Vgl. Platon, Politeia 598e. Schleiermacher übersetzt diese Stelle mit: „Ich denke, entgegnete er, am schicklichsten nennen wir ihn Nachbildner dessen, wovon jene die Werkbildner sind.“  Heidegger, N I, S. 188. Vgl. Platon, Politeia 598b.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

damit gegenüber dem Tischler, dessen Produkt er nachzuahmen sucht, noch weiter von der Idee entfernt⁶¹², entwirft Heidegger eine Deutung der Mimesis, die naturalistische Konnotationen exkludiert: Die Entfernung vom Sein und seiner reinen Sichtbarkeit ist maßgebend für die Bestimmung des Wesens des μιμητής. Für den griechisch-platonischen Begriff der μίμησις, der Nachahmung, ist nicht das Wiedergeben, Abbilden entscheidend, dieses, daß der Maler dasselbe noch einmal bringt, sondern daß er dies gerade nicht kann und noch weniger zur Wiedergabe imstande ist als der Handwerker. Es ist daher irrig, wenn man der μίμησις die Vorstellung des ‚naturalistischen‘ und ‚primitiven‘ Nachbildens und Abschilderns unterlegt.⁶¹³

 Christoph Horn bezieht die dreifach gestufte Unterscheidung zwischen dem die Idee des Bettes herstellenden Gott, der nachbildenden Tätigkeit des Handwerkers und der Darstellungsweise des Malers direkt auf die epistemologische Fundamentaldifferenz von episteme und doxa. Auf diese Weise zeigt Horn den Zusammenhang zwischen den Büchern V und X der Politeia auf und verdeutlicht die ontologische Dimension in Platons Kunstkritik.Vgl. Horn, Platons epistemedoxa-Unterscheidung und die Ideentheorie (Buch V 474b–480a und Buch X 595c–597e), S. 238: „Das Ideenwissen des Philosophen scheint mir exakt jenes eidetische Wissen zu sein, an dem sich auch der ideenproduzierende Gott orientiert; die doxa ist hingegen diejenige Meinung, die der Handwerker seiner Arbeit zugrundelegt. Daneben gibt es als drittes Element jene Unkenntnis, auf die sich der mimetische Künstler stützt. Auch in Buch V liegt eine dreiteilige Unterscheidung vor: die doxa rangiert als ein ‚Mittleres‘ zwischen Sein und Nichtsein und wird einerseits vom Wissen, andererseits von der Unkenntnis (agnoia) abgesetzt.“  Heidegger, N I, S. 188 [von Heidegger kursiv]. Ähnlich wie Heidegger, optiert auch W. J. Verdenius in seiner Monographie zum Begriff der Mimesis für die Lesart, dass der defizitäre Status der Mimesis für Platon nicht daraus erwächst, dass die Kunst nur die Imitation und getreue Kopie eines Originals darstellen könne. Stattdessen liegt der hauptsächliche Beweggrund für Platons Zurückstufung der sinnlichen Abbildung auch für Verdenius darin, dass das Kunstwerk – mit Heidegger gesprochen – „noch weniger […] imstande“ ist, das wahre Sein der Idee adäquat zu reproduzieren. In diesem Zusammenhang richtet Verdenius den Fokus ebenfalls auf den approximativen Charakter der Kunst, welche die übersinnliche Wahrheit nach Platon in die verfälschende Gestalt der sinnlichen Phänomenwelt transfigurieren muss. Darüber hinaus zeigt Verdenius zur Stützung der Annäherungsthese des Kunstgeschehens anhand zahlreicher Textbelege auf, dass der Begriff des Bildes von Platon in sämtlichen Seinsbereichen als Indikator einer ontologischen Ebenenunterscheidung herangezogen wird. Vgl. W. J. Verdenius, Mimesis, S. 16 f.: „The term ‚image‘ shows that Plato’s doctrine of imitation is closely related to his hierarchical conception of reality. […] Our thoughts and arguments are imitations of reality (Tim. 47b, Crit. 107bc), words are imitations of things (Crat. 423e-424b), sounds are imitations of divine harmony (Tim. 80b), time imitates eternity (Tim. 38a), laws imitate truth (Polit. 300c), human goverments are imitations of true government (Polit. 293e, 297c), devout men try to imitate their gods (Phdr. 252cd, 253b, Laws 713e), visible figures are imitations of eternal ones (Tim. 50c), etc. This is sufficient proof that Platonic imitation is bound up with the idea of approximation and does not mean a true copy. […] In other words, imitation can never be more than suggestion or evocation. We can now proceed to the question what is the character of artistic suggestion. It cannot directly refer to ideal values, for art is separated from the plane of real Being by the domain of pheno-

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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Aufbauend auf der Entfernung des Kunstproduktes, welches das εἶδος in der diesem fremden Medium der Farbe entfaltet, von dem wahren Sein der Idee, kommt Platon zu dem Resultat: „Fern ab von der Wahrheit steht also doch die Kunst“.⁶¹⁴ War Platon zuvor von der Bestimmung des Spieglers zur Parallelisierung mit dem Maler fortgeschritten, so erreicht er nun sein angestrebtes Ziel, indem er den Maler mit dem Tragödiendichter vergleicht.⁶¹⁵ In der ersten Verhältnisklärung konnte Heidegger zeigen, dass für Platon eine Seinsentfernung vorliegt und somit ein rangbestimmter, qualitativer „Abstand“⁶¹⁶ zwischen der Wahrheit und der Kunst besteht. Platon folgert daraus, dass sich die Künstler in der intakten Polis den Philosophen unterordnen müssen. Weder konnte dabei ein Zwiespalt aufgefunden werden, der sich auf dem Grunde der Zusammengehörigkeit generiert, noch ließ sich ein Zwiespalt im Sinne der Zerrissenheit entdecken. In der Folge sucht Heidegger mit eigentümlicher, doch unbestritten geistreicher Vehemenz den Nachweis zu erbringen, weswegen Nietzsche trotz der absolvierten Umkehrung des Platonismus noch 1888 auf dem entsetzlichen Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst beharrt. In der Politeia – so wurde deutlich – konnte vor allem deswegen von einem Zwiespalt keine Rede sein, weil innerhalb der Relation keine Ebenbürtigkeit konzediert wurde. Es ließ sich allein eine unüberbrückbare Entfernung zwischen Wahrheit und Kunst umranden. Immerhin konnte der Satz, der die von Nietzsche prononcierte Höherwertigkeit der Kunst umkehrt und auf Platons Beurteilung appliziert – dass die Wahrheit für diesen mehr wert sei als die Kunst – bestätigt werden. Diese Inversion des Wertverhältnisses fungiert für Heidegger nun als Anhaltspunkt für die Wiedergewinnung des Zwiespaltes: Daraus ergibt sich für Platon – in Nietzsches Redeweise gesprochen – der Satz: Die Wahrheit ist mehr wert als die Kunst. Nietzsche aber sagt umgekehrt: Die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit. Offenbar verbirgt sich in diesem Satz der Zwiespalt.⁶¹⁷

Darauf aufbauend, insistiert Heidegger im Gegensatz zu seiner vorherigen, den Einklang betonenden Grundauffassung darauf, dass die Umkehrung des Platonismus den Entsetzen erregenden Zwiespalt nicht zum Verschwinden bringt: „Wenngleich Nietzsches Philosophie sich als die Umkehrung des Platonismus

menal reality. So it must content itself with representing visual objects, it must even humble itself before material reality, in so far as it cannot produce anything but bloodless images.“  Heidegger, N I, S. 189. Vgl. Platon, Politeia 598b.  Vgl. Heidegger, N I, S. 189. Vgl. Platon, Politeia 597e.  Heidegger, N I, S. 190.  Heidegger, N I, S. 191.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

versteht, so besagt dies doch nicht, durch diese Umkehrung müsse der Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit verschwinden“.⁶¹⁸ Nietzsche votiert für einen Entsetzen erregenden Zwiespalt. Die Umkehrung des Platonismus kann sich folglich nicht darin erfüllen, den als Rangabstand enthüllten Zwiespalt zugunsten eines Einklangs von Wahrheit und Kunst in der gemeinsamen „Bejahung des Sinnlichen“⁶¹⁹ aufzulösen. Eine Inversion kann sich also nur dann vollziehen, wenn sich die Bestimmung des auf beiden Seiten aufrechterhaltenen Zwiespaltes elementar wandelt. Daraus erwächst jene fragwürdige, oben bereits präsentierte Beweislastverteilung. Heidegger schließt nun von der noch gar nicht geklärten und entfalteten Grundstellung Nietzsches – Kunst und Wahrheit stehen in einem entsetzlichen Zwiespalt – auf die bei Platon nachzuweisende Konstellation. In Platons Philosophie situieren sich die Wahrheit und die Kunst in einem beglückenden Zwiespalt, der dem Entsetzen erregenden Zwiespalt diametral entgegengesetzt ist: Wenn aber im Unterschied zu Platon das Verhältnis von Wahrheit und Kunst der Rangordnung nach sich umkehrt und wenn für Nietzsche dieses Verhältnis ein Zwiespalt ist, dann folgt daraus nur, daß es für Platon auch ein Zwiespalt, aber ein umgekehrter, sein muß.⁶²⁰

Um die Frage zu beantworten, inwieweit bei Platon nicht nur ein qualitativer Abstand, sondern eine im Vergleich zu Nietzsche umgekehrte Beschaffenheit, Gestimmtheit und Beurteilung des Zwiespalts zwischen Wahrheit und Kunst konstatiert werden kann, ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Wesen des Zwiespalts vonnöten.⁶²¹ Der Begriff des Zwiespaltes wird zumeist deckungsgleich mit den Topoi der Gegensätzlichkeit und der Entzweiung verwendet, sodass es das Ziel sein muss, diesen trennscharf von jenen abzugrenzen.Wie oben bereits deutlich wurde, ist für Heideggers Begriff des Zwiespalts zum einen der wechselseitige Bezug der Opponenten aufeinander wesentlich. Zum anderen ist entscheidend, (und mit diesem Bezug einhergehend), dass sie in einer bestimmten Hinsicht übereinkommen. ⁶²² Ohne diese Übereinkunft könnte sich nur eine unverbundene, zwischen Duldsamkeit und Desinteresse oszillierende Koexistenz oder eine kompromisslose Ablehnungshaltung zwischen den beteiligten Parteien ergeben.

    

Heidegger, N I, S. 191. Heidegger, N I, S. 164. Heidegger, N I, S. 191. Vgl. Heidegger, N I, S. 191– 192. Vgl. Heidegger, N I, S. 191.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

213

Die beiden vorgestellten Kriterien des Zwiespalts treffen zwar auch auf die Gegensätzlichkeit zu. Diese ist indes dadurch konfiguriert, sich in einer Hinsicht in einer Übereinkunft zu situieren und sich in einer anderen Hinsicht in einer Dissonanz abzustoßen. In der Gegensätzlichkeit sind demnach sowohl Identität als auch Differenz, diese verteilen sich jedoch auf verschiedene Felder. Hingegen werden Vereinigung und Trennung im echten, heraklitischen Zwiespalt nach Heidegger in derselben, für beide Seiten primären Hinsicht ausgefochten. Der Zwiespalt ist dabei keine starre Präsupposition, um dessen aufklaffende Mitte widerstreitende Elemente gruppiert werden. Er entsteht erst in der von den beiden Polen ausgeübten Dynamik von Anziehung und Abstoßung. Die Pole gehen auseinander, indem sie sich zugleich in eine grundsätzliche Zusammengehörigkeit hineinbewegen. Der Zwiespalt entspringt aus dem „Auseinandertreten des Zusammengetretenen“.⁶²³ Dieses Hauptcharakteristikum des Zwiespalts lässt allerdings noch eine weitere Differenzierungsebene zu. Die entsprechende Unterscheidungsweise ist durch das Verhältnis zwischen dem Zwiespalt und der Entzweiung bezeichnet. Im Zwiespalt west stets eine Entzweiung im Sinne des Auseinanderweisens. Gleichwohl ist nicht jede Entzweiung ein Zwiespalt, d. h. eine „Zerrissenheit“⁶²⁴ und agonale Auseinandersetzung. Die Entzweiung muss freilich – als zumindest geringfüge Unterscheidbarkeit der Pole – auch innerhalb jener Version des Einklangs walten, in welcher die Konvergenz der beiden Relate in einer leitenden Hinsicht nicht mit der simultanen Verschiedenheit in ebenderselben Hinsicht zusammenfällt. Die Zweideutigkeit im Wesen des Zwiespalts – dass er einerseits „im Grunde Einklang“⁶²⁵ und andererseits die im Zentrum aufgerissene Dissoziationsbewegung der Entgegengesetzten ist – wird von Heidegger auf die Umkehrung des Platonismus angewandt. Durch diese konkrete Übertragung wird deutlicher, wie die Nietzsche zugesprochene, „umgekehrte Gestalt des Zwiespalts“⁶²⁶ fundiert ist.

1.4.6 Der „beglückende Zwiespalt“ in Platons Phaidros: Der Einklang von Wahrheit und Schönheit im Offenbarmachen des Seins Zu diesem Zweck muss gezeigt werden, dass die von Platon in der Politeia exponierte Nachrangigkeit der Kunst, die nach der Ideenebene und der handwerk-

   

Heidegger, N I, S. 192. Heidegger, N I, S. 192. Heidegger, N I, S. 192. Heidegger, N I, S. 191.

214

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

lichen Nachbildung auf der dritten Stufe steht, nicht dessen letztes Wort darstellt, sondern das Schöne in anderer Hinsicht eine „Gleichheit des Maßes“⁶²⁷ mit der Wahrheit beanspruchen kann: Jedenfalls muß, was überhaupt in den Zwiespalt soll treten können, sich gegenseitig gleichgestellt, desselben unmittelbaren Ursprunges, von derselben Notwendigkeit und von gleichem Range sein. Ein Oberes und ein Unteres kann zwar im Abstand und im Gegensatz sein, aber niemals im Zwiespalt, weil ihnen die Gleichheit des Maßes abgeht. Das Obere und das Untere ist in dem, was es je selbst ist, verschieden und kommt in der wesentlichen Hinsicht nicht überein.⁶²⁸

Dies sucht Heidegger anhand des Phaidros herauszuarbeiten, den er „nach allen wesentlichen Hinsichten als das vollendetste“⁶²⁹ Gespräch Platons beurteilt. Diese andere Hinsicht, in der die Ebenbürtigkeit von Kunst und Wahrheit unterstrichen wird, fokussiert sich weder auf das Wesen der Kunst noch geht sie von der Wahrheit aus. Vielmehr wird das Schöne „im Umkreis der ursprünglichen Frage des Verhältnisses des Menschen zum Seienden als solchem erörtert“.⁶³⁰ Heidegger erreicht hier eine bemerkenswerte Nähe zu Platon. Neben der im Phaidros artikulierten Diremtion von philosophischer Ernsthaftigkeit und meinungsbestimmter Alltäglichkeit hängt dies vor allem damit zusammen, dass Heidegger die Topoi der pränatalen Ideenschau, der lebensweltlichen Verdunkelung und der Anamnesis in Termini seiner Philosophie übersetzt.⁶³¹ Der unverkennbar die Züge des

 Heidegger, N I, S. 192.  Heidegger, N I, S. 192.  Heidegger, N I, S. 194. Durchaus mit Heideggers Wertschätzung des Phaidros vergleichbar, betont auch Barbara Zehnpfennig den herausragenden Status des Phaidros innerhalb des Platonischen Dialogcorpus.Vgl. Barbara Zehnpfennig, Platon zur Einführung, 4. Aufl., Hamburg 2011, S. 158 f.: „Welchen Weg der Mensch gehen muß, um zu einem erfülltem Leben zu finden, haben die schon dargestellten Aufstiegsdialoge geschildert.Woher die Kraft stammt, sich auf den Weg zu machen, beschreibt Platon auf mythologische Weise im Phaidros. Alle Fäden werden hier noch einmal zu einem Gewebe verknüpft: die Liebe, der Aufstieg, das Leben. Darüber hinaus aber – und das ist das Besondere am Phaidros – wird das Gewebe eingespannt in einen Rahmen, in dem es um die rechte Art zu reden und zu schreiben geht. So ist dieser Dialog zugleich Reflexion über den Dialog und insofern Schlüssel zum Selbstverständnis des unterrichtenden und Dialoge schreibenden Philosophen Platon.“  Heidegger, N I, S. 195.  Diese Tendenz der Heideggerschen Phaidros-Exegese lässt sich bereits in der letzten Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1928 nachweisen. Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, hrsg. von Klaus Held, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1990, S. 187: „Nach Plato (Phaidros 249b 5 – c 6) kann ein Lebendes, das nie die Wahrheit gesehen hat, nie die Gestalt eines Menschen annehmen. Denn der Mensch muß seiner Seinsart entsprechend in der Weise verstehen und wissen, daß er dabei das von ihm Gewußte anspricht

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

215

Seinsverständnisses⁶³² tragende „Seinsblick“⁶³³, die „Seinsvergessenheit“⁶³⁴, die „Verbergung des Seins“⁶³⁵ und der „Bezug zum Sein“⁶³⁶ avancieren zu den explanatorischen Grundpfeilern der Heideggerschen Phaidros-Auslegung. Zudem stechen die Referenzen auf Heideggers eigene Überlegungen zum Wesen der Wahrheit ins Auge. Als Ausgangssatz fungiert Platons Darlegung der Präexistenz der Seele in Phaidros 249e. Diese Stelle wird von Heidegger wie folgt übertragen: …jede Menschenseele hat von sich her aufgehend schon das Seiende in seinem Sein erblickt, oder sie wäre (anders) nie in diese Lebensgestalt gekommen.⁶³⁷

Es ist dieser vorzeitliche, nichtsinnliche Seinsblick, der den Zugang des Menschen zum Seienden ermöglicht und aufrechterhält. In der jeweiligen Lebensgestalt, also in dem Eingang der Seele in den Leib, wird der Seinsblick getrübt und durch die alltäglich begegnenden „δόξα“⁶³⁸ abgelenkt. Die in der Philosophie geschehende Freilegung und Wiedererringung des unverstellten Seinsblickes erweist sich für die meisten Menschen als ein schwieriges Unterfangen. Indem sie sich von der Aufgabe, die Idee⁶³⁹ rein zu erblicken, abkehren, „‚verbirgt sich‘ ihnen das Sein“.⁶⁴⁰ Konstitutiv für diese Form der „λήϑη“⁶⁴¹ ist, dass sie aufgrund der af-

mit Bezug auf sein Sein. Der Mensch kann nur Wahrheit über etwas haben, indem er Seiendes in seinem Sein versteht. Das Verstehen des Seins ist eine Wiedererinnerung an jenes, was unsere Seele vormals schon sah; vormals nämlich, als sie noch zusammenwanderte mit Gott und über das hinaussah, was wir jetzt das Seiende nennen. Platon sieht im Phänomen der Wiedererinnerung einen Bezug des Seinsverstehens zur Zeit, vermag sich diesen aber nur durch einen Mythos deutlich zu machen.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 195 – 196: „Damit der Mensch dieser hier leibend-lebende Mensch sein kann, muß er schon das Sein erblickt haben. Warum? Was ist denn der Mensch? Das wird nicht eigens gesagt, sondern unausgesprochen vorausgesetzt: Der Mensch ist das Wesen, das sich zum Seienden als solchem verhält. Aber dieses Wesen könnte er nicht sein, d. h. das Seiende könnte sich ihm als Seiendes nicht zeigen, wenn er nicht im voraus immer schon das Sein durch die ‚Theorie‘ im Blick hätte. Die ‚Seele‘ des Menschen muß das Sein erblickt haben, denn das Sein ist nicht faßbar mit den Sinnen.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 196.  Heidegger, N I, S. 197.  Heidegger, N I, S. 197.  Vgl. Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger, N I, S. 195. Vgl. Platon, Phaidros 249e.  Heidegger, N I, S. 197.  Heidegger spricht auch an dieser Stelle nicht von „Idee“, sondern von „Sein“, vgl. Heidegger, N I, S. 197.  Heidegger, N I, S. 197.  Heidegger, N I, S. 197.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

firmierten Ausrichtung am innerweltlich Begegnenden als Verbergung übersehen und vergessen wird. In diesem Zuge entsteht der Eindruck, das im unmittelbaren Umkreis Begegnende und das in geläufigen Ansichten Hinterlegte umrande das tatsächlich Seiende. In Wirklichkeit ist das sinnlich Wahrgenommene nur ein Anschein, der sich als „Angleichung an das Sein“⁶⁴² äußert. In Bezug auf den Anschein gilt ebenfalls, dass er nicht mehr als Anschein gewusst werden kann. Die wechselseitige Durchdringung dieser beiden Vorgänge kennzeichnet Heidegger in diesem Zusammenhang als „Seinsvergessenheit“.⁶⁴³ Damit die Idee und mit ihr das reine Aussehen trotz dieser Verdunkelung in den Vorschein treten können, ist die Konfrontation mit dem Schönen vonnöten. Im weiteren Verlauf ist auffällig, dass Heidegger die Semantik der Kernbegriffe aus Nietzsches Ästhetik wie das Schöne, den Rausch, das Maß und das entrückende Gestimmtsein mit ähnlichen Figuren bei Platon parallelisiert. Entsprechend ist die Wiederaufnahme des Seinsblickes, durch die sich der Mensch von dem sich in das Aussehen freigebenden Sein „binden läßt“⁶⁴⁴, mit einer Entrückung verknüpft. Diese übersetzt den Einzelnen in ein Zwischenstadium zwischen sich und der Idee. So wie der Rausch das Individuum im Sich-Einlassen auf den von der Form vorgezeichneten Bereich der Kraftsteigerung bei Nietzsche über sich hinaustreibt, so wird nach Heidegger das „Über-sich-hinweg-gehoben- und vom Sein selbst Angezogenwerden“⁶⁴⁵ in Platons Symposion und im Phaidros durch den „ἔρως“⁶⁴⁶ repräsentiert. Die Wiedererweckung des Seinsblickes kann aufgrund der Verstrickung in das Sinnliche und der ungeübten dialektisch-philosophischen Erfassungskraft nicht durch die verschüttete Idee selbst evoziert werden.⁶⁴⁷ Stattdessen ist es das Schöne, das „im nächsten Anschein des Begegnenden zugleich am ehesten das entfernteste Sein zum Vorschein bringt“.⁶⁴⁸ Das Schöne übergreift beide Bereiche. Es erscheint, in einem Zwiespalt zum wahren Sein stehend, innerhalb der Welt des Sinnlichen. Das Schöne trägt, sich in dieser Funktion mit der Wahrheit ver-

 Heidegger, N I, S. 197.  Heidegger, N I, S. 197.  Heidegger, N I, S. 198. Hier zeigt sich die Analogie zum Nietzscheschen Begriff der Form.  Heidegger, N I, S. 198.  Heidegger, N I, S. 198.  Vgl. Heidegger, N I, S. 198: „Der anfänglich aufgestellte Satz: Zum Wesen des Menschen, daß er als Mensch sein kann, gehört der Seinsblick, ist erst verstanden, wenn wir wissen, daß dieser Seinsblick nicht wie ein Ausstattungsstück am Menschen vorkommt, sondern ihm als jener innerste Besitz gehört, der am störbarsten ist und am leichtesten verunstaltet wird und daher immer wieder zurückgewonnen werden muß. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit dessen, was die Rückgewinnung und ständige Erneuerung und Bewahrung des Seinsblickes ermöglicht.“  Heidegger, N I, S. 198.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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einigend, als „Hervorscheinendstes“⁶⁴⁹ und „Entrückendstes“⁶⁵⁰ in das aufscheinende Sein zurück. Dadurch wird der Seinsblick aus der Seinsvergessenheit aufgerüttelt. Der Mensch wird in der Betrachtung des Nächsten mit dem am weitesten Abgewandten konfrontiert, indem die Idee des Schönen in dem umgebenden Sinnlichen dargestellt wird.⁶⁵¹ Der Idee und dem Sinnlichen korrespondiert jeweils ein genuines Vermögen des Blickes („ϑέα“⁶⁵²). In dieser Hinsicht entzweien sich die Schönheit und die Wahrheit. Das Schöne affiziert die visuelle Wahrnehmung und spricht den Einzelnen unter wahrheitsabgewandten Rahmenbedingungen an. Die Idee offenbart sich allein dem nichtsinnlich-geistigen Blick der philosophischen Erkenntnis.⁶⁵³

 Heidegger, N I, S.199. Heidegger bezieht sich hier auf: Platon, Phaidros 250d. Diese Passage übersetzt er wie folgt: „Nun aber hat (nämlich in der Wesensordnung des Aufleuchtens des Seins) die Schönheit allein dieses Los zugeteilt erhalten, nämlich das Hervorscheinendste zu sein, aber auch das Entrückendste“ (vgl. Heidegger, N I, S. 199). Schleiermacher übersetzt diese Superlative mit „das Hervorleuchtendste“ und das „Liebreizendste.“  Heidegger, N I, S. 199. Hartmut Buchner hat Heideggers Charakterisierung des Schönen in seiner Dissertationsschrift über Platons Symposion aufgenommen und erweitert. Indem Buchner das Schöne im Sinne des reinen Leuchtens sowie als Stiftungsgrund des jeweils Anwesenden begreift, rückt er es in eine ostensible Nähe zu Heideggers Begriff des Seins, welches das Seiende erscheinen lässt. Vgl. Hartmut Buchner, Eros und Sein. Erörterungen zu Platons Symposion, Bonn 1965, S. 124 f.: „Denn Schönes als lichtend Verweilendes ist der ermöglichende Anlaß dafür, daß sterblich Seiendes am Unsterblichen teilhaben und so dem innersten Willen des Eros nach der ständigen Gegenwart im Verweilen entsprechen kann. […] Sein [des Schönen, J.K.] Grundcharakter ist das Scheinen im Sinne des Leuchtens und Glänzens. Solches Scheinen vergibt in einem ausgezeichneten Sinne Gegenwart, Praesenz, Anwesen. Als das in und als Gegenwart Scheinende zieht Schönes auf sich, ruft in die Gegenwart seines Scheinens hervor. Es läßt als das in die Gegenwart seines Leuchtens Hervorgerufene selbst als ein Scheinsames sein, d. h. macht es zu etwas Anwesendem. Schön wird solches genannt, was aus der eigenen gegenwarthaften Scheinsamkeit anderes ins Verweilen hervorruft, erscheinen und als so Erscheinendes verweilen läßt. In diesem Sinne ist Schönes Anlaß ins und Einbehalt im Verweilen; als solcher Anlaß genommen, also in der Dimension der Poiesis gedacht, ist es in sich Gutes, d. h. Seinstaugliches.“  Die Verbindung zwischen der sinnlichen Schönheit, dem wiedererwachten Seinsblick und der durch den Eros erwirkten Transzendenzbewegung unterstreicht auch Barbara Zehnpfennig in ihrer ausgezeichneten Exposition der Kernmotive des Phaidros. Vgl. Zehnpfennig, Platon zur Einführung, S. 164: „Die Leistung des Gefieders war es, über die Sinnlichkeit zu erheben, und es ist die Liebe, die das Gefieder wieder wachsen läßt. Denn durch den Anblick der sinnlichen Schönheit erwacht die Erinnerung an das wahrhaft Schöne. Irdische Gerechtigkeit und Besonnenheit sind zu wenig ‚sinnfällig‘, um die Suche nach Gerechtigkeit und Besonnenheit an sich zu provozieren. Schönheit wird hingegen mit dem stärksten der Sinne, dem Sehen, wahrgenommen und bietet so den direkten Anreiz zur erneuten ‚Befiederung‘ (Phdr. 249d ff.).“  Heidegger, N I, S. 200.  Vgl. Heidegger, N I, S. 202– 203: „Die Wahrheit ist die unmittelbare, auf das Sinnliche sich nicht einlassende, im vorhinein davon abrückende Weise der Seinsenthüllung im Denken der

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nichtsdestotrotz gibt erst das Aufleuchten der Idee im Bereich des relativ Nichtseienden den privilegierten Anhalt, durch welchen der von der „φρόνησις“⁶⁵⁴ nicht selbstständig zu bewältigende Überstieg gelingen kann: „Dies ist jedoch der Ort der Schönheit“.⁶⁵⁵ Von dort aus verweist die Kunst ihrerseits auf die Wahrheit.⁶⁵⁶ Die Lenkung zu dem uranfänglichen Seinsblick ist nichts anderes als die Wiedergewinnung des „Grundverhältnisses zum Wahren“.⁶⁵⁷ Allein der Seinsblick ist in der Lage, die verborgene Idee in ihrem ungetrübten Aussehen zu erschließen und den ursprünglichen menschlichen Bezug auf das Seiende und Wahre zu gewähren.⁶⁵⁸ Die als Unverborgenheit und Entbergung begriffene und als „Offenbarkeit des Seins“⁶⁵⁹ bestimmte Wahrheit vollbringt die „Enthüllung des Seins“.⁶⁶⁰ Weil diese offenbarmachende Enthüllung in einem anderen Medium jedoch auch von der entrückenden Schönheit arrangiert wird, nähern sich die Schönheit und die Wahrheit an: Wahrheit und Schönheit sind in ihrem Wesen auf das Selbe, das Sein, bezogen; sie gehören in dem Einen, Entscheidenden zusammen: das Sein offenbar zu halten und offenbar zu machen.⁶⁶¹

An dieser Stelle ließe sich eine weitere Umkehrungsvariante benennen. Diese wird von Heidegger nicht apostrophiert, weil sie den Zwiespalt und den Rangabstand zwischen Wahrheit und Kunst sowohl bei Nietzsche als auch bei Platon aufhebt und die Umkehrung des Platonismus anhand der Entgegenstellung der Bereiche verdeutlicht, in denen diese Aufhebung jeweils geschieht. Während bei Nietzsche das Sinnliche und Werdende zum Wahren, zum tatsächlich Seienden geworden ist, das die Kunst im Durchsichtigmachen des schaffenden Lebens prolongiert, sodass Wahrheit und Kunst innerhalb des Sinnlichen zusammentreten; so koinzidieren Wahrheit und Kunst bei Platon unter und innerhalb der Ägide der Philosophie. Die Schönheit ist entgegengesetzt die in das Sinnliche einrückende, aus ihm her berückende Entrückung zum Sein.“  Heidegger, N I, S. 200.  Heidegger, N I, S. 201.  Demnach lässt sich hier konstatieren, dass sich Heideggers Modell nicht stringent durchhalten lässt. Im Phaidros ergibt sich ebenfalls ein Abstand, der sich sowohl in der räumlichen Distanz als auch in dem ontologischen Dignitätsunterschied niederschlägt.  Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger zitiert hier Phaidros 249b und übersetzt diese Passage wie folgt: „…nicht wäre die Seele in diese Gestalt gekommen, wenn sie niemals zuvor erblickt hätte die Unverborgenheit des Seienden, d. h. das Seiende in seiner Unverborgenheit.“ Vgl. Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger, N I, S. 201.

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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übersinnlichen Idee. Gegenüber der Heideggerschen Interpretation könnte vorgetragen werden, dass Platon in der Annäherung von Wahrheit und Schönheit zwar vordergründig tatsächlich auf das Nichtseiend-Sinnliche rekurriert. Genaugenommen befindet sich jedoch derjenige, der die Schönheit wahrnimmt, bereits auf der Ebene der Idee des Schönen, die in sich von höchster Wahrheit ist. Des Weiteren ist in diesem Modellvorschlag der Begründungsweg innerhalb des jeweiligen Bereiches vertauscht. Bei Nietzsche bestätigt die nachgängige Wahrheit die Angemessenheit und Legitimität des Sinnlichen (das im weiten Sinne mit der Kunst identifiziert werden kann) in der Beanspruchung des Titels des wahrhaft Seienden. Im Gegensatz dazu, gewährt bei Platon die vorauszusetzende, ewige Wahrheit, die mit der sich unverborgen offenbarenden Idee konvergiert, das Aufleuchten des reinen Aussehens im Schönen und ermöglicht somit die Kunst. Das hier vorgeschlagene Modell der Umkehrung, das den Zwiespalt von Wahrheit und Kunst entweder im Medium des Intelligiblen oder im Sinnlichen zurücknimmt, wird von Heidegger nicht diskutiert. Hingegen konstruiert Heidegger wie folgt: Er setzt an dem „Einen, Entscheidenden“⁶⁶² an, in dem Wahrheit und Kunst bei Platon zusammenkommen – dem gemeinsamen Seinsbezug im Offenbarmachen des Seins, der Idee – um zu veranschaulichen, weswegen sie in diesem Einenden notwendigerweise auseinandergehen müssen. Auf diese Weise könnte sich bei Platon zum ersten Mal und anders als in der Politeia ein Zwiespalt ergeben, der kein bloßer qualitativer Abstand ist. Im Hinblick auf den Zwiespalt bei Platon ist entscheidend, dass der Zusammengehörigkeit stiftende Seinsbezug von zwei verschiedenen Orten aus gewährt wird, während die Zusammengehörigkeit und Trennung bei Nietzsche in ein und demselben Raum generiert wird. Heidegger hebt hervor, dass sich die Kunst in die von der Wahrheit entfernteste Region, den „weitesten Abstand“⁶⁶³ begeben muss, um überhaupt mit der Wahrheit in der Offenbarmachung des Seins übereinzukommen zu können.⁶⁶⁴

 Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger, N I, S. 202.  Hartmut Buchner hebt im Hinblick auf Platons Symposion vollkommen zu Recht hervor, dass der Eros nicht als Vermittlungsinstanz gedacht werden darf, die nachträglich in den Zwischenbereich des ewigen Seins der Idee auf der einen Seite und der vergänglichen, sinnlichen Welt auf der anderen Seite eingespannt wird. Vielmehr gewähre der Eros allererst die ontologische Verknüpfung zwischen dem Grund und dem Gegründeten. Buchner formuliert die platonische Unterscheidung in Heideggers Terminologie um, sodass sich der Eros für Buchner als Akteur des Zusammenbringens von Seiendheit und Seiendem bezeugt. Vgl. Buchner, Eros und Sein, S. 119 f.: „Die Schwierigkeit, das durch den und als Eros vermittelte Verhältnis beider Seinsbereiche, also des Unsterblichen als des in Selbigkeit seienderweise und fortwährend Seienden und des Sterblichen als des in Übergänglichkeit unständig Seienden, sachlich konkret zu denken, liegt zunächst vor allem darin, daß Diotima bzw. Platon von Sterblichem und Unsterblichem, d. h. von

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Weil die Kunst damit der Wahrheit trotz der Distanzierung der Geltungsregionen nicht opponiert, sondern deren Gehalt aufnimmt und verlängert, gelangt Heidegger zu dem Schluss: Bedenken wir vollends, daß die Kunst, sofern sie das Schöne hervorbringt, sich im Sinnlichen aufhält und demnach im weitesten Abstand von der Wahrheit, dann wird deutlich, wie Wahrheit und Schönheit bei ihrem Zusammengehören in Einem doch zwei sein, sich entzweien müssen. Aber diese Entzweiung, der Zwiespalt im weiten Sinne, ist für Platon kein Entsetzen erregender, sondern ein beglückender. Das Schöne hebt über das Sinnliche hinweg und trägt in das Wahre zurück. In der Entzweiung überwiegt der Einklang, weil das Schöne als das Scheinende, Sinnliche im voraus sein Wesen in der Wahrheit des Seins als des Übersinnlichen geborgen hat.⁶⁶⁵

Ausgehend von diesem Passus, ließe sich gegenüber Heidegger die kritische Rückfrage anbringen, ob nicht auch in dieser Figuration statt eines Zwiespalts der aus der Politeia bekannte Abstand mitsamt der Wertdifferenz von Oben und Unten aktualisiert wird. Das Schöne zeigt sich als ein innerhalb des subordinierten Sinnlichen verankertes Verbindungselement ohne eigenen substantiellen Status. Im Kontrast dazu, ist das Wahre nicht nur mit den Ideen identisch. Das Wahre reüssiert darüber hinaus auch als Ausgangsort und Zielpunkt, von dem aus das Schöne ermöglicht, herabgesendet und genährt wird und auf den es ausgerichtet bleibt. Dass das Schöne dergestalt „sein Wesen in der Wahrheit des Seins“ birgt, besiegelt eher seine Unterordnung und Abhängigkeit denn eine Äquipollenz, die als entscheidende Bedingung für den Zwiespalt firmiert.⁶⁶⁶ Während Nietzsche das Übersinnliche und das Wahre im Rahmen seiner Überwindung des Platonismus schlichtweg gleichsetzt, scheint Heidegger im Phaidros den einen tiefen Einklang voraussetzenden Zwiespalt in erster Linie aus folgendem Grund exponieren zu können. Anders als Nietzsche, kappt Heidegger Seiendheit und Seienden als von zwei gleichsam feststehenden ontologischen Größen auszugehen scheint, und dann durch den Eros einen wechselweisen, dynamisch-vermittelnden Bezug herzustellen versucht. In dieser Weise des Vorstellens ist es jedoch nicht möglich, den Eros in seiner Ursprünglichkeit als das Grund-Geschehen des in zwei Bereiche unterschiedenen Seins des Seienden zu erfahren. […] Die Zusammengehörigkeit der Seinsbereiche des übergänglich-gelichteten Verweilens in Unständigkeit und des beständig in Selbigkeit göttlichen Verweilens ist von Diotima bzw. Platon von vornherein gedacht als das ontologische Verhältnis von Grund (Seiendheit) und Gegründetem (Seiendem). Der Eros ist als das Metaxy des Sterblichen und Unsterblichen bzw. Göttlichen das ursprünglich-einige Geschehen des Grundgebens und Grundnehmens selbst.“  Heidegger, N I, S. 202.  Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 270: „Obwohl die Analyse des Phaidros die Möglichkeit eines Einklangs der Schönheit mit der Wahrheit gezeigt hat, bleibt bei Platon jene Unterordnung des Sinnlichen unter das Übersinnliche bestehen, die im Verhältnis Kunst-Wahrheit hervortritt.“

1.4 Die Umdrehung des Platonismus

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in seiner Platon-Auslegung die unmittelbare Identität der Wahrheit mit der übersinnlichen Idee, indem er das Wahre der Idee (d. h. hier dem Sein) als Unverborgenheit und Erschließungsfolie vorlagert. Nur deswegen kann er es unter der Signatur der „Offenbarkeit des Seins“⁶⁶⁷ mit dem Schönen in einer Übereinkunft vereinigen. Wäre die Wahrheit in Heideggers Auslegung des Phaidros nämlich differenzlos dasselbe wie die Idee und das Sein, könnte die Eröffnung dieses Seins/der Wahrheit nicht als Akt beurteilt werden, welcher der in diesem Falle statischen Wahrheit zugeschrieben werden könnte. Indem Heidegger den Vollzug der offenbarmachenden Entbergung des Seins mit der Wahrheit identifiziert, ergibt sich deren Wesensnähe zum Schönen, das ebenjene Offenbarkeit ebenfalls in Anspruch nimmt und das Sein als aufleuchtendes Scheinen zum wahrnehmbaren Ausdruck bringt. Ohne diesen gemeinsamen Verbindungsgrund würde die These, im Phaidros werde ein Zwiespalt geschildert, in dem der Einklang dominiert, obsolet. Mit dieser Strategie rettet Heidegger die Konfiguration eines beglückenden, auf dem Einklang beruhenden Zwiespalts. Nichtsdestotrotz akzentuiert Heidegger am Ende des Abschnitts Platons Phaidros: Schönheit und Wahrheit in einem beglückenden Zwiespalt in einer kritischen Volte, dass auch im Phaidros ein Zwiespalt zu konstatieren sei, der nicht nur beglückend oder abstandausweisend ist. Allerdings kaschiere der Platonismus die Zerrissenheit zwischen der ambivalenten Präsenz der Idee im sinnlichen Aufscheinen des Schönen auf der einen Seite und in der intelligiblen Erkenntnis des Wahren auf der anderen Seite. Nach Heidegger lässt der Platonismus sowohl das Wahre als auch das Schöne aus der übergreifenden Idee entspringen und gründet beide Elemente in dieser Dimension. Dergestalt falle die für die jeweilige Zeigeweise unabdingbare Auftrennung der Wesensbereiche nicht weiter auf: Schärfer gesehen liegt auch hier ein Zwiespalt im strengen Sinne vor, aber es ist das Wesen des Platonismus, daß er diesem Zwiespalt ausweicht, indem er das Sein so ansetzt, daß er ausweichen kann und dieses Ausweichen nicht als ein solches sichtbar wird. Wo aber der Platonismus umgedreht wird, muß auch alles, was ihn kennzeichnet, sich umdrehen und, was sich verbergen und verschleiern ließ und als beglückend in Anspruch genommen werden konnte, muß umgekehrt heraustreten und Entsetzen erregen.⁶⁶⁸

Es wirkt zunächst höchst widersprüchlich, dass Heidegger erst einen gewichtigen Aufwand betreibt, um die Übereinkunft zwischen der nichtsinnlichen Wahrheit und der sinnlichen Schönheit in der Funktion der Eröffnung des Seins zu statu-

 Heidegger, N I, S. 201.  Heidegger, N I, S. 202.

222

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

ieren, um diesen Einklang schließlich selbst radikal in Frage zu stellen. Dass er dem Platonismus überhaupt vorwerfen kann, dem Zwiespalt auszuweichen, gründet bezeichnenderweise auf der Art, wie Heidegger zuvor die Zusammenfügung von Wahrheit und Kunst in ebenjener Tätigkeit der Seinsoffenbarung konstruierte. Heidegger selbst ist es, der das Sein, d. h. die Idee, in einer Weise ansetzt, dass es jenseits der Wahrheit und dem Schönen lokalisiert ist. So kann Heidegger die aufgrund der differenten Geltungsbezirke und der jeweils ganzheitlichen Okkupation des Sinnlichen beziehungsweise des Übersinnlichen möglicherweise aufbrechenden Konflikte von vornherein ausgleichen. Im Hinblick auf Heideggers Interpretationsstrategie ergibt die überraschende und abrupte Einklagung eines im Phaidros freizulegenden, nur scheinbar beglückenden Zwiespaltes durchaus Sinn: Zum einen kann Heidegger durch diese Markierung den sich aufdrängenden Eindruck zurückweisen, auch im Phaidros kehre das aus der Politeia vertraute Abstandsmotiv oder der bloßen Gegensatz zwischen Wahrheit und Kunst wieder. Zum anderen federt Heidegger in dem obigen Zitat die Kraft der Nietzscheschen Umdrehung des Platonismus ab, indem diese sich nicht zwangsläufig als fundamentale Drehwende äußert, sondern eine Form philosophischer Redlichkeit bezeugt, welche die verdeckten Tendenzen, Ausflüchte und Beschwichtigungen des Platonismus unbestechlich an die Oberfläche fördert, ohne sich ignorant von diesem abzuwenden und dergestalt die Auseinandersetzung mit dem Nihilismus zu scheuen. In dieser positiven Deutungslinie würde Nietzsches Umdrehung des Platonismus nochmals gegen den Vorwurf verteidigt, sich in einer schematischen Auswechslung des Bewertungsstandpunktes zu erschöpfen. Zugleich ist die Kehrseite der Auffassung Heideggers zu berücksichtigen. Wenn Nietzsche das platonische Gefüge nicht wesentlich verändert und deswegen auch den strengen, jedoch als beglückend verschleierten Zwiespalt von Wahrheit und Kunst nicht verwandelt oder aufhebt, ist er von dem Platonismus nur dadurch getrennt, dass er sich den vormals geleugneten, strengen Zwiespalt ehrlich eingesteht, um ihn in verschärfter und kompromissloser Form zu reproduzieren. Auf diese Weise wird die Tragweite und Glaubwürdigkeit der Nietzscheschen Überwindung des Platonismus (und damit auch diejenige des Nihilismus) massiv eingeschränkt. Die insinuierte Verschiedenheit der Grundstellungen wird fragil.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit. Die Herausdrehung aus dem Platonismus 1.5.1 Die Niedergangserzählung der Zwei-Welten-Dichotomie: Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde Um den Übergang vom beglückenden zum Entsetzen erregenden Zwiespalt zu bewerkstelligen und den Wandel in der Figuration und Bewertung des Zwiespaltes als Proprium der Umkehrung des Platonismus zu profilieren, nimmt Heidegger im Kapitel Nietzsches Umdrehung des Platonismus zunächst nicht den Ausgang von der Sinnlichkeit. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich die Sinnlichkeit als das der Aufgabe der Überwindung des Nihilismus gewachsene Medium herauskristallisieren könnte, welches das Auseinandergehen der Opponenten innerhalb derselben Hinsicht gewähren könnte. Auf diese Weise könnte die Sinnlichkeit die Nietzsche zugeschriebene Umkehrungsversion einer Zerrissenheit der Entzweiung gestatten. Hingegen hebt Heidegger an der beiderseitigen Bezogenheit von Wahrheit und Kunst auf das Sein an, die er in seiner Lektüre des Phaidros ergründete. Durch diese Relationsstiftung wird vermieden, das Übersinnliche im Sinne der Wahrheit als Einheitssphäre verstehen zu müssen. Ein solches Verständnis würde den Zwiespalt in Platons Phaidros unmöglich machen, insofern sich dieser über die räumliche Trennung der Wirksamkeit des Wahren und des Schönen konstituiert. Heidegger geht allerdings in entscheidender Hinsicht über die Privilegierung des Seinsbezuges als Einheitsmedium hinaus. Er identifiziert das Eine, in dem Schönheit und Wahrheit geeint sind, nämlich nicht nur mit dem Seinsbezug. Er setzt es sogar auch direkt mit dem Sein gleich: „Wenn für Nietzsche Schönheit und Wahrheit in den Zwiespalt treten, müssen sie zuvor in Einem zusammengehören. Dieses Eine kann nur das Sein und der Bezug zu ihm sein“.⁶⁶⁹ Damit ist eine Gelenkstelle in Heideggers Analyse des Zwiespaltes erreicht. Indem er das Sein, das bei Platon freilich der Idee entspricht, als „Grundcharakter des Seienden“⁶⁷⁰ fasst, kann ein unmittelbarer Zugriff auf Nietzsches metaphysische Grundstellung erfolgen. In dieser wird das Sein des Seienden bekanntlich als Wille zur Macht bestimmt. Dadurch löst Heidegger, nachdem er schon den großen Stil unter der Signatur des Willens zur Macht beschrieben hatte, auch in der Erläuterung des Zwiespaltes seine generelle Zielsetzung ein. Neben dem allgemeinen Wesen der Kunst und den konkret-ästhetischen Klassifikationen Nietzsches,

 Heidegger, N I, S. 203.  Heidegger, N I, S. 203.

224

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

soll die Überwindung des Platonismus/Nihilismus aus dem Willen zur Macht einsichtig gemacht werden: Nun bestimmt Nietzsche den Grundcharakter des Seienden, also das Sein, als Willen zur Macht. Demnach muß sich aus dem Wesen des Willens zur Macht eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Schönheit und Wahrheit ergeben, die zugleich ein Zwiespalt werden muß. Indem wir versuchen, diesen Zwiespalt zu sehen und zu begreifen, werfen wir einen Blick in das einheitliche Wesen des Willens zur Macht.⁶⁷¹

Da der Wille zur Macht zum Ort des Entsetzen erregenden Zwiespaltes werden muss – würde nämlich der Einklang überwiegen, wäre die Grundstellung Platons

 Heidegger, N I, S. 203. Manfred Riedel unterstreicht die Wichtigkeit der Besprechung der Überwindung des Platonismus für die Herausarbeitung der Metaphysik des Willens zur Macht sowie für die Standortbestimmung des Nietzscheschen Denkens in der abendländischen Geschichte überhaupt. Indem Riedel Heideggers Nachvollzug der Umkehrung des Platonismus jedoch in der Blickbahn des „Kampfes um die Erdherrschaft“ diskutiert, projiziert er eine Auffassung an den Anfang von Heideggers Nietzsche-Auseinandersetzung, zu der Heidegger erst 1939/40 gelangt. Damit wird eine Kontinuität und Stringenz in Heideggers Deutung suggeriert, die in dieser Form keineswegs besteht. Zwar soll die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus die Ordnung des Seienden im Ganzen übernehmen, doch äußert sich der große Stil keineswegs in der Gestalt jenes agonalen Okkupationsantriebes, den Heidegger ab 1939 im Willen zur Macht inkarniert sieht. Zudem kann auch in Bezug auf die Vorlesung zur ewigen Wiederkehr aus dem Sommersemester 1937 nicht ausschließlich die Rede davon sein, Heidegger intendiere die „geschichtliche Einfügung“ der „Einheit seiner [Nietzsches, J.K.] Grundlehren.“ Stattdessen sucht Heidegger – darin über den Topos einer Überwindung des Nihilismus hinausgehend – im Gedanken der ewigen Wiederkehr das Selbstverhältnis des Einzelnen als Möglichsein freizulegen, das sich über die augenblickliche Vereinigung der Zeitdimensionen konstituiert. Vgl. hierzu das Kapitel 1.6 dieser Arbeit. Vgl. Manfred Riedel, Heimisch werden im Denken. Heideggers Dialog mit Nietzsche, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor Allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, Frankfurt a. M. 1994, S. 17– 43, hier S. 27: „Ihr [die Nietzsche-Interpretation Heideggers, J.K.] ‚Vorhaben‘ ist die Erkenntnis der Einheit von Nietzsches philosophischen Grundlehren, wozu sie erst jede dieser Lehren gesondert zu erörtern und vorgreifend darzustellen hat. Als einziger Gedanke erscheint zunächst die Lehre vom Willen zur Macht, woraus sich die spezifische ‚Vorsicht‘ auf das nachgelassene Spätwerk und Stücke der Zarathustra-Dichtung ergibt. Der einigende Grund empfängt seine Bestimmung aus dem geschichtlichen Wesen der Metaphysik. Darum muß die Interpretation bei jedem Entwurfsschritt den ‚Vorgriff‘ auf Nietzsches Gedankenspiel von der metaphysisch ‚umgedrehten Wirklichkeit‘ dem platonisch verstandenen Verhältnis der scheinbaren zur vermeintlich wahren, wirklichen Welt mitvollziehen und seine Lehren nicht nur in den Gang der Philosophie seit Platon zurückfügen, sondern die darin versuchte ‚Drehung‘ aus dem Platonismus mitdenken: Nietzsches Umdeutung der scheinbaren Scheinwelt irdisch gezeitigten Lebens zur einzig wirklichen Welt im Gefolge des neuzeitlichen Zerfalls der neuplatonisch-kantischen Zwei-Welten-Lehre. Das nahe Ziel ist daher mit der Erkenntnis der Einheit seiner Grundlehren ihre geschichtliche Einfügung in das durch die Lehre vom ‚Willen zur Macht‘ vorausgedachte Zeitalter des Kampfes um die Erdherrschaft.“

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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restituiert – ist hinsichtlich des weiteren Verlaufes achtsam zu verfolgen, inwieweit Heidegger dieser Positionierung treu bleibt. Die von Heidegger eingangs des Abschnitts Wahrheit im Platonismus und im Positivismus ⁶⁷² untermalte Unterscheidungsnotwendigkeit zwischen der im Frühwerk in Angriff genommenen Umkehrung des Platonismus und dem im Jahre 1888 erreichten Erkenntnisstadium erhält ihre tiefere, mit der „Aufgabe der Überwindung des Nihilismus“⁶⁷³ korrespondierende Konturierung in dem Abschnitt Nietzsches Umdrehung des Platonismus. Entscheidend ist dabei der Topos der dem Platonismus eignenden „Baugestalt“⁶⁷⁴, die sich von der Unterscheidung einer „wahren“ von einer „scheinbaren“ Welt nährt. Kennzeichnend für das Wesen des Platonismus ist – anders als für Platon – demnach nicht die Gleichsetzung des Übersinnlichen mit der wahren Welt. Das hervorstechende Merkmal des Platonismus ist vielmehr in der hierarischen Auftrennung in ein ‚Oben‘ und ‚Unten‘ zu sehen. Die formale Umkehrung des Platonismus, die das Sinnliche als das Obere und Wahre erwählt, während das Übersinnliche zum Unteren deklassiert wird, kann den Nihilismus nicht überwinden, weil sie dessen Entstehungsgrund aufrechterhält. Die Ermöglichungsbedingung des Nihilismus wurzelt darin, dass eine Region des Lebens an einem wünschenswerten, unerreichbaren Ideal gemessen und im Hinblick auf dieses abgewertet wird. Also muss in der Überwindung des Nihilismus das „Wahre“⁶⁷⁵ verschwinden, insofern dieses als Komplementärbegriff zu einer „scheinbaren Welt“⁶⁷⁶ konzipiert ist. Auf diese Weise wird die Gestalt der gelungenen Umdrehung, die schließlich die tradierte Baugestalt aufhebt, zur Herausdrehung aus dem Platonismus.⁶⁷⁷ Die Herausdrehung beendet nach Heidegger das lange Rin-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 156 f.  Heidegger, N I, S. 203.  Heidegger, N I, S. 204.  Heidegger, N I, S. 204  Heidegger, N I, S. 204.  Vgl. Heidegger, N I, S. 204. Sowohl Rita Casale als auch Rafael Capurro gelangen zu der Auffassung, dass Heidegger Nietzsche eine Überwindung des platonischen Gefüges und damit eine Herausdrehung aus der Differenz von Oben und Unten, Ideal und Scheinbarkeit, zugesteht. Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 273: „Am Ende des Wintersemesters 1936/37, das der Thematisierung von Nietzsches Willen zur Macht als Kunst gewidmet ist, ist Heidegger geneigt, die platonische Umdrehung als Herausdrehung aus dem Platonismus, d. h. als Ausgang aus dem Nihilismus, zu interpretieren.“ Vgl. Capurro, „Herausdrehung aus dem Platonismus“, S. 152: „Eine Überwindung des Platonismus und somit auch des Nihilismus ist aber nur dann möglich, so Heideggers Argumentation, wenn kleine bloße Umdrehung, sondern eine Herausdrehung stattfindet. Letzteres heißt, daß die hierarchischen Verhältnisse nicht bloß umgedreht, sondern beseitigt werden.“ Katrin Meyer ist diesbezüglich vorsichtiger.Vgl. Katrin Meyer, Auseinandersetzung

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

gen Nietzsches mit dem Platonismus. In philologischer Hinsicht ist aufschlussreich, dass Heidegger die schriftliche Anbahnung und Niederlegung der Herausdrehung nicht im Nachlass verortet oder im Werk Der Wille zur Macht vorfindet, sondern sie in der Reihe der veröffentlichten Werke manifestiert sieht. Weil dieser gravierende Erkenntnisdurchbruch in das letzte Schaffensjahr (1888) falle, sei er zumeist übersehen worden.⁶⁷⁸ Als paradigmatisches Dokument der Herausdrehung zieht Heidegger das im September 1888 verfasste Stück Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums aus der Götzen-Dämmerung heran. Die Aufgipfelung, Drehung und Aufhebung der tradierten Verhältnissetzung lässt sich anhand der Leitlinie des Stückes Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums ⁶⁷⁹ aus der Götzen-Dämmerung beziehungsweise anhand der Kommentierungen und Auslegungen, die Heidegger in Bezug auf die Nietzschesche Genealogie des metaphysischen Denkens gibt, anschaulich machen. Die erste Stufe in Nietzsches ideengeschichtlichem Aufriss wird durch den Gründungsakt der Metaphysik bei Platon bezeichnet. Nietzsche beschreibt diese Phase wie folgt: 1. Die wahre Welt, erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, er ist sie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes ‚ich, Plato, bin die Wahrheit.‘)⁶⁸⁰

mit Nietzsche II. Das Rettende der Kunst, S. 183: „Gemäß Heidegger denkt Nietzsche im Bannkreis der metaphysischen Tradition, auch wenn sich seine ‚Umdrehung des Platonismus‘ im Blick auf die Götzen-Dämmerung (KSA 6, 80 f.) ansatzweise als ‚Herausdrehung‘ (N I 233) lesen lässt. Seine Rede vom ‚perspektivischen Schein‘ von Wahrheit und Kunst bleibt für Heidegger jedoch vieldeutig und der Abwertung zum ‚bloßen Schein‘ nicht definitiv enthoben.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 204: „In der Zeit, als für Nietzsche die Umdrehung des Platonismus zur Herausdrehung aus ihm wurde, überfiel ihn der Wahnsinn. Man hat diese Umkehrung bisher weder als letzten Schritt Nietzsches überhaupt erkannt, noch hat man gesehen, daß sie erst im letzten Schaffensjahr (1888) klar vollzogen wurde. Die Einsicht in diese wichtigen Zusammenhänge ist freilich, von der uns vorliegenden Gestaltung des Buches ‚Der Wille zur Macht‘ her gesehen, insofern recht schwer, als die zusammengestellten Textstücke einer Vielheit von Manuskripten entnommen sind, deren Niederschrift sich über die Jahre 1882 bis 1888 erstreckt. Aus den Originalmanuskripten Nietzsches ergibt sich ein durchaus anderes Bild. Aber auch ohne die Rücksicht darauf hätte in der im letzten Schaffensjahr an wenigen Tagen (September 1888) niedergeschriebenen Schrift ‚Götzen-Dämmerung‘ (erschienen erst 1889) ein Abschnitt auffallen müssen, dessen Grundstellung sich von der sonst bekannten unterscheidet.“  Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80 – 81.Vgl. Heidegger, Nietzsche I, S. 206 – 213.  Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 206.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Nietzsche und Heidegger sind sich darin einig, dass die terminologische Unterscheidung zwischen einer „wahren“ und einer „scheinbaren Welt“ einer Auslegungstendenz entspringt, die durch den Platonismus und durch das Christentum etabliert wurde. Platon selbst lebt im Einklang mit dem Sein, welches er nicht als Abstraktum einer Lehre gewinnt. Er erblickt das Sein in der übersinnlichen Gestalt der Ideen als das „leuchtend Anwesende“⁶⁸¹ und denkt es als Ermöglichungsgrund alles Seienden. Wie Heidegger expliziert, wirft Platon in Nietzsches Schilderung des ersten Geschichtsabschnittes keinen Dualismus auf. Die wahre Welt wird von Platon als selbstverständliches Faktum verstanden, sodass es allein darauf ankommt, durch welche Erkenntnishaltung und durch welches Verhalten der Mensch dieser vorausgesetzten, ihn überall umgebenden Wahrheit begegnen kann. Die wahre Welt ist lebensimmanent für jeden erreichbar, der in der Verringerung des Einfluss des Sinnlichen durch die Philosophie, die Frömmigkeit und die Sittlichkeit⁶⁸² den Blick auf das zeitenthobene Sein des Seienden zu richten vermag. Der tugendhafte Mensch, der das Wesen der Tugenden in sich handeln lässt und sich den mit der Sinnlichkeit verknüpften Neigungen nicht beugt, verwirklicht das Sein. Das Übersinnliche firmiert daher noch nicht als wünschbares Ideal. Heidegger integriert in seiner Besprechung der ersten Stufe eine aus dem Ende der Metaphysik zurückschauende Sichtbahn, indem er würdigt, dass das „Denken der Ideen und die so angesetzte Auslegung des Seins […] in sich selbst und aus sich schöpferisch“⁶⁸³ sind. Dies bedeutet, dass das Ideendenken Platons, anders als im Platonismus und im Christentum, nicht in einer dogmatischen Lehre fixiert und weitergegeben wird. Stattdessen werden die Ideen von Platon geschaut oder geschaffen. In dieser Beurteilung untermauert Heidegger den Gehalt der Nietzscheschen Formulierung „ich, Plato, bin die Wahrheit“.⁶⁸⁴ Nietzsche und Heidegger verwenden die Anerkennung der produktiven Entwurfsleistung des herausragenden Individuums Platon als Einrede gegen die behauptete Unveränderlichkeit und unantastbare Verbindlichkeit der Ideen. Im nächsten Entwicklungsschritt, der Epoche des Christentums, wird die Philosophie Platons in den Platonismus verkehrt. Der Platonismus initiiert die wachsende Zertrennung der Welt in Idealwelt und Sinneswelt:

 Heidegger, N I, S. 207.  Dergestalt wird bereits auf der ersten Stufe jene Trias von Religion, Moral, Philosophie herrschend, die Nietzsche als Gefüge der „décadence-Formen“ benennt, um ihnen die Kunst gegenüberzustellen. Vgl. Heidegger, N I, S. 70. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 794, S. 533. Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[168].  Heidegger, N I, S. 207.  Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 206.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften (‚für den Sünder, der Busse tut‘).⁶⁸⁵

Der entscheidende Schritt in der zweiten Epoche liegt darin, die wahre Welt nicht mehr als εἶδος zu begreifen, das durch eine Bezugsänderung innerhalb der physischen Lebenszeit gesichtet werden kann. Die wahre Welt wird nunmehr als „Jenseits“ aufgerichtet. Dieses kann erst nach dem irdischen Tod aufscheinen. Während die griechische, lebensbejahende Leidenschaft ihre Begrenzung in einem Erreichbaren fand, wird die Grenze nun zwischen dem umgebenden Diesseitigen und dem Versprochenen gezogen. Heidegger unterstreicht besonders die daraus erwachsende Ambivalenz, die sich in zwei Hinsichten entfaltet. Einerseits fungiert das irdische Leben als Hindernis, das die Erreichbarkeit der wahren Welt solange verhindert, als es selbst besteht. Damit geht eine „Abwertung“⁶⁸⁶ des mit dem Diesseitigen identifizierten, menschlichen Daseins einher. Andererseits wird das Diesseits nicht komplett verworfen, ein unentschiedenes „Sowohl-alsauch“⁶⁸⁷ tritt auf den Plan. Weil das irdische Leben als Beweisprobe und Prüfgang verstanden wird, setzt sich eine beständige „Anspannung“⁶⁸⁸ und Bewährungsnotwendigkeit frei. Dies impliziert und erfordert zugleich ein „Mitmachen-können im Diesseitigen“.⁶⁸⁹ Die „hinterste Hintertür“⁶⁹⁰ eines soteriologischen Eskapismus wird offengehalten. Eine weitere Paradoxie⁶⁹¹ zeigt sich in der zweiten Epoche darin, dass das Versprochene in der Hinausrückung des Abstandes zum Diesseitigen nicht an Wirkungsmacht einbüßt. Umgekehrt wird das Jenseitige in seinem Wahrheitsgehalt und in seiner Glaubhaftigkeit umso realer, je weniger es vom Sinnlichen korrumpiert wird. Im darauffolgenden, dritten Stadium thematisiert Nietzsche explizit den verdeckten Platonismus der Kantischen Philosophie. Nach Nietzsche ist Kants Transzendentalphilosophie durch die Spaltung zwischen einer innerhalb der Grenzen der apriorischen Anschauungsformen von Raum und Zeit zugestandenen, validierbaren Erkennbarkeit des Seienden und einer dahinterstehenden, unerkennbaren Welt der Dinge an sich gekennzeichnet:

 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 207.  Heidegger, N I, S. 207.  Heidegger, N I, S. 207.  Heidegger, N I, S. 207.  Heidegger, N I, S. 207.  Heidegger, N I, S. 207.  Diese Paradoxie ergibt sich natürlich nur, wenn der Erkenntnisgewinn des sechsten Stadiums als geltender Beurteilungsmaßstab zugrunde gelegt wird.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

229

3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch; die Idee sublim geworden, bleich, königsbergisch.)⁶⁹²

Im Rahmen der Untersuchung der theoretischen Vernunft demonstriert Kant, dass die Ideen der Unsterblichkeit der Seele, Gottes und der Allheit des Seienden über den statthaften Bereich des Kategoriengebrauchs hinausgehen und sich daher nicht beweisen lassen. In der Postulatenlehre der praktischen Vernunft wird der Mensch als Sinneswesen von seiner Empfänglichkeit für die intelligible Welt unterschieden. Im Rückbezug auf die Intelligibilität wird die menschliche Autonomie gegenüber der Naturkausalität statuiert. Doch auch die theoretische Vernunft ebnet die christliche Architektonik der Welt, das Sinngefüge von Jenseits und Diesseits, nicht ein. Zwar wird die Erkenntnis auf den Bereich der Erfahrung beschränkt, den das naturwissenschaftlich-mathematische Wissen besetzt. Dennoch wird das, was die innerhalb der Erfahrung gegebenen Dinge an sich sind, nicht abgestritten, sondern als Fundament der Erscheinung aufgewiesen. In der praktischen Vernunft bekräftigt das jenseits der Grenzen der Erfahrbarkeit liegende Unzugängliche in der Gestalt eines „Glaubens an die Vernunftforderung“⁶⁹³ weiterhin die eigenständige Realität der „alten Sonne“⁶⁹⁴, die durch „Nebel und Skepsis hindurch“⁶⁹⁵ leuchtet. Die „einfache Klarheit“⁶⁹⁶ Platons wird allerdings abgelöst zugunsten der Sublimierung und Formalisierung der grundgebenden Idee, die als gebietende Forderung auftritt. Heidegger ordnet die vierte Stufe der metaphysischen Entwicklung hin zur Herrschaft des Nihilismus historisch in die Zeit nach dem Deutschen Idealismus, um 1850, ein: 4. Die wahre Welt – unerreichbar? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch unbekannt. Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpflichtend: wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpflichten? … (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)⁶⁹⁷

Die Kantische Einsicht in die Unerkennbarkeit der wahren, d. h. übersinnlichen Welt wird gegen diese selbst verwendet. Wenn die Welt der Dinge an sich, die

     

Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 208. Heidegger, N I, S. 208. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 208. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 208. Heidegger, N I, S. 208. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 209.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Intelligiblität, niemals erkannt werden kann, schlägt sich in dem Verhältnis zu der wahren Welt ein Weder-Noch nieder.Weder lässt sie sich vorbehaltlos bejahen, noch kann sie zugunsten der Alleinstellung der sinnlichen Welt verabschiedet werden. Durch Kants „Zurückweisung des Übersinnlichen als eines Unbekannten“⁶⁹⁸ wird das Aufleuchten einer Redlichkeit ostensibel, die in immer weitere Bereiche vordringt, um schließlich den tradierten Chorismos sukzessive aufzulösen und den Geltungsraum des Positivismus abzustecken. Im vierten Stadium „erwacht die Vernunft“⁶⁹⁹, „das Wissen und Fragen der Menschen“⁷⁰⁰ zu sich selbst. Dies manifestiert sich anhand des hellsichtig-kritischen Elements der geschichtlichen Rückschau, wodurch sich der Maßstab der Beurteilung der wahren Welt zu verändern beginnt. Es wird noch nicht ausgeschlossen, dass es diese wahre Welt geben könnte. Allerdings wird in einer Rückdatierung des Sachverhalts der erst von Kant analysierten und deduzierten Unerfahrbarkeit nun auch gegenüber den vorherigen Stufen und gegenüber Platon stipuliert, die wahre Welt sei niemals erreicht worden, obgleich – wie Nietzsche nachdrücklich unterstreicht – Platon in ihr lebte.⁷⁰¹ Es ist augenfällig, dass Nietzsches Darlegung der Weltwahrnehmung der Menschen im vierten Zeitalter, wonach sich keine positiven Aussagen über die wahre Welt treffen lassen, weil diese der Erfahrung bislang nie begegnete, auf der Kantischen Bestimmung der wahren Welt aufbaut. Durch Kants kritische Prüfung der Tragweite des menschlichen Erkenntnisapparates wird die wahre Welt von jeder Möglichkeit des Aufscheinens in der Erfahrung exkludiert. Dass in dem vierten Abschnitt von dem bisherigen Unerreichtsein der wahren Welt auf deren generelles Unbekanntsein geschlossen werden kann, liegt darin begründet, dass Kant zuvor die wahre Welt von jeder potenziellen Erreichbarkeit und Entdeckbarkeit hinwegrückte. Der Maßstab, der nun angelegt wird, ist offenkundig in der Zusammengehörigkeit zwischen der gesicherten Erkennbarkeit der wahren Welt und der daraus abzuleitenden Sinnstiftung und Nützlichkeit fundiert. Es steht nicht mehr die theoretische Unerreichbarkeit im Vordergrund, sondern die Frage nach dem Faktum praktischen Erreicht-Seins. Dies zeigt Nietzsche durch die Nennung der Worte

 Heidegger, N I, S. 209.  Heidegger, N I, S. 209.  Heidegger, N I, S. 209.  Der Titel: „Geschichte eines Irrtums“ ist daher eine Bewertung, die ex post vorgenommen wird. Dazu ist die Standgewinnung in einem neuen, anderen Anfang vonnöten. Dies betont Heidegger, wenn er schreibt: „Das Ende ist als Ende erst sichtbar aus dem neuen Anfang.“ Vgl. Heidegger, N I, S. 211.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

231

„tröstend, erlösend, verpflichtend“⁷⁰² an. Aufgrund des in der Kritik der reinen Vernunft erbrachten Nachweises der Unbestimmbarkeit transzendenter Qualitäten kann die niemals zu gewinnende, wahre Welt weder innerhalb der lebendigen Existenz noch nach der Beendigung des irdischen Daseins als ideelles Richtmaß, als soteriologischer Horizont oder als moralische Instanz festgehalten werden. Der für das Menschsein konstitutive Erkenntnisvollzug ist zur Einsichtssperre für das Übersinnliche geworden. Darüber hinaus wird auf der vierten Stufe, die Rückschau auf Kant hält, die Auffassung virulent, Kants Hochschätzung des Übersinnlichen als Imperativ folge nicht dem vernunftprüfenden Ethos seiner Philosophie. Im Gegensatz dazu, sei Kants subtile Beibehaltung des Übersinnlichen „unerschütterten theologisch-christlichen Voraussetzungen“⁷⁰³ geschuldet. Folglich ergibt sich im weiteren Verlauf, dass die vormalige wahre Welt die irdische Lebensgestaltung nicht mehr auf eine zielgebende Kraft versammelt. Sie wird also nicht durch den wissenschaftlich-theoretischen Beweis ihres NichtSeins widerlegt. In pragmatisch-lebensweltlicher Orientierung wird die wahre Welt dahingehend ad absurdum geführt, dass sie dem im vierten Abschnitt emporwachsenden Maßstab – es darf nur Wahrheitsgeltung beanspruchen, was das menschliche Leben betrifft, herausfordert und befördert – nicht genügt: 5. Die ‚wahre Welt‘ – eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab! (Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröthe Plato‘s; Teufelslärm aller freien Geister.)⁷⁰⁴

Die Diagnose des Gottestodes erwächst aus der Erfahrung, dass die Ideale keinen Bezug mehr zum Menschen besitzen. Insofern dieser sich geschichtlich wandelnde Bezug zum Beurteilungskriterium der Fundiertheit des Übersinnlichen avanciert, wird die „wahre“, nun in Anführungszeichen gesetzte „Welt“, obsolet. Weil die Sinnlichkeit nicht mehr zugunsten eines übergeordneten Sinnes in Frage gestellt wird, weicht die inmitten des irdischen Lebens waltende Düsternis, belastende Schuld und Kontingenzerfahrung zugunsten des „hellen Tages“ der Freigeister. Die gewonnene, ungezwungene Ideallosigkeit wird von den Freigeistern genutzt, um die religiös-moralischen Instanzen einem radikalen Zweifel zu unterwerfen.

 Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80. Vgl. Heidegger, N I, S. 209.  Heidegger, N I, S. 209.  Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 81. Vgl. Heidegger, Nietzsche I, S. 209 – 210.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Heidegger sieht in der Schilderung des fünften Abschnittes die sogenannte ‚positivistische Phase‘ der Philosophie Nietzsches repräsentiert. Diese Werkperiode wird durch die Werke Menschliches, Allzumenschliches (1878), Morgenröte (1881) und Die fröhliche Wissenschaft (1882) flankiert. In der ‚positivistischen Phase‘ folgt Nietzsche dem im fünften Abschnitt formulierten Aufruf, die zur leeren Chimäre gewordene, „wahre Welt“, abzuschaffen. Heidegger betont ausdrücklich, dass es nicht Nietzsches Intention ist, die Auflösung der „wahren Welt“ mit einer lobpreisenden Präponderanz des Positivismus abzuschließen. Auch dieser verbleibt im Bann des Platonismus und somit der Metaphysik. Der Positivismus vertauscht die tradierte Wertsetzung und verleiht dem Sinnlichen den veritativen Vorrang gegenüber dem Transzendenten und Dauerfähigen. Wenn er die dichotome Baugestalt beibehält, lässt der Positivismus die nach dem Niedergang der „wahren Welt“ verbliebene Leerstelle offen. Statt der konstanten Ideen affirmiert der Positivismus das Verifizierbare, den Fortschritt und die Erkenntniszunahme.⁷⁰⁵ Der Positivismus erweist sich somit als Schlussstück und Abgesang des Platonismus. Daher muss behufs der Überwindung des Platonismus ein letzter Schritt vollzogen werden, der im sechsten Abschnitt thematisiert wird: 6. Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht? … Aber nein! Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft! (Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)⁷⁰⁶

Basierend auf der Voraussetzung, dass sich die wahre Welt des Übersinnlichen und die nach Platon ein relativ Nichtseiendes (μὴ ὂν) exemplifizierende, scheinbare Welt des Sinnlichen zu dem „Seienden im Ganzen“⁷⁰⁷ summieren, muss eine rein quantitative Betrachtungsweise zu dem Schluss kommen, dass nach der Abschaffung sowohl der wahren als auch der scheinbaren Welt ein Einsturz in das „leere Nichts“⁷⁰⁸ evoziert wird. Die notwendige Folge wäre eine ausweglose Verstrickung in den Nihilismus. Nietzsches Kernziel einer Überwin-

 Vgl. Capurro, „Herausdrehung aus dem Platonismus“, S. 152: „Diese Umdrehung des Platonismus ist also keine ‚schöpferische Überwindung‘. Diese geschieht erst mit der Abschaffung auch der scheinbaren Welt, d. h. also mit dem Verschwinden des hierarchischen Bezuges. Diese Drehung ins Freie (‚twisting free‘) bedeutet eine Verwandlung der bisherigen platonistischen Weise menschlichen Existierens.“  Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 81. Vgl. Heidegger, N I, S. 210.  Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

233

dung des Nihilismus sowie die mit der „physiologischen Ästhetik“⁷⁰⁹ verknüpfte „Bejahung der sinnlichen Welt“⁷¹⁰ würden dergestalt konterkariert. Es bedarf freilich keiner ausgefeilten Hermeneutik, um zu sehen, dass die Beseitigung der „wahren Welt“ mit der sofortigen Bedeutungserosion der durch den Platonismus bestimmten Komplementärbegriffe konvergiert. Es sind die Begriffe von ‚Wahrheit‘ und ‚Schein‘, die eine Privilegierung des Übersinnlichen als wahrer Welt in einer bipolaren Architektonik überhaupt erst erlaubten. Es muss zwischen der Bezeichnung und dem Bereich unterschieden werden. Im Zuge der Auflösung der mit dem Übersinnlichen gleichgesetzten Wahrheit wird nicht auch das Sinnliche aufgehoben. Nur die kontinuierliche Titulierung des Sinnlichen als „scheinbar“ wird abgewehrt. Nun ließe sich freilich argumentieren, dass dieser Vorgang analog auch in der Region des Übersinnlichen vonstattengehen müsse: Das Übersinnliche – und mit ihm die Ideen und das Jenseits – bleibt bestehen, obgleich dessen Privilegierung als ‚wahre‘ Welt verschwindet. Auf der Bewertungsebene des sechsten Abschnittes angelangt, setzt Nietzsche die lebensweltliche Relevanz der Ideale als Skala für deren Wahrheitswert an. Aus dieser Erkenntnishöhe betrachtet, ist es für Nietzsche unbestreitbar, dass es sich bei der „übersinnlichen Welt“ letztendlich um eine Fiktion handelt. Somit vermag er die Geschichte der Entlarvung eines „Irrtums“⁷¹¹ zu erzählen. Die „wahre“ Welt enthüllt sich als Irrtum. Dies bedeutet für Nietzsche, dass das Übersinnliche als nichtexistent begriffen werden muss. In diesem Wandel entpuppt sich der Bereich der vormaligen, „scheinbaren“ Welt als die wahre und einzige Realität. Weil die Bezeichnungsdifferenz von „wahr“ und „scheinbar“ jedoch allein von der prioritären Seite aufrechterhalten wurde, deren Existenz hinfällig geworden ist – nämlich von der des Übersinnlichen – kann sich in der zur Realität avancierten Sinnlichkeit jene Entgegensetzung nicht mehr reproduzieren. Die sinnliche Welt muss sich nicht mehr im Gegenhalt gegen eine als scheinbar deklarierte Ideenwelt stabilisieren.⁷¹² Damit ist die Herausdrehung aus dem Platonismus geglückt. Fraglich bleibt nur noch die Beschaffenheit des Sinnlichen, das nicht nach Maßgabe des Positivismus als das Gegebene und Vorliegende bestimmt werden darf. Heideggers Auslegung der sechsten Stufe ist höchst interessant. Einerseits betont er, dass die Bezeichnung der sinnlichen Welt als „scheinbar“ der „Ausle-

 Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger wird spätestens in der Vorlesung Der europäische Nihilismus (1940) seine Kritik verschärfen: Als Wert und Wahrheit gilt nur, was dem Menschen nützt.  Freilich gibt Nietzsche die Semantik der Termini „Sein“ und „Beständigkeit“ nicht gänzlich auf.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

gung durch den Platonismus“⁷¹³ entspringt, die mit der Verabschiedung der „wahren Welt“ jene Bastion verloren hat, von der aus sie dieses Urteil rechtfertigte. Dergestalt kristallisiert sich das oben beschriebene Resultat heraus: Das Sinnliche wird zur eigentlichen Realität. Andererseits hebt Heidegger hervor, dass die Tilgung der von dem Platonismus initiierten Semantik von „wahr“ und „falsch“ nicht mit der zwangsläufigen Einebnung des Übersinnlichen konvergieren muss: Allein nach dem Wortlaut des letzten Abschnittes der Geschichte des Platonismus ist die ‚scheinbare Welt‘ abgeschafft. Gewiß. Aber die ‚scheinbare Welt‘ ist nur die sinnliche Welt nach der Auslegung durch den Platonismus. Durch die Abschaffung dieser öffnet sich erst der Weg, das Sinnliche zu bejahen und mit ihm auch die nichtsinnliche Welt des Geistes.⁷¹⁴

Subtil ist Heideggers Interpretation deswegen, weil er die Möglichkeit eines Rückstoßes der Abschaffung der scheinbaren Welt auf die ins Nichts fallende, sinnliche Welt entkräftet, um im selben Atemzug die Perpetuierung und Affirmation der nichtsinnlichen Welt zu unterstreichen. Anstatt eines Ausschlusses der „wahren“, übersinnlichen Welt behält sich Heidegger ein Sowohl-als-auch beider Welten vor. Der Rückfall in einen modifizierten Platonismus wird vermieden, da Heidegger Nietzsches Position durchaus teilt, dass die Ideen und das Jenseits keine seinsgründende Bedeutung mehr besitzen. Indem Heidegger jedoch „das Übersinnliche“ in dem obigen Zitat durch das „Nichtsinnliche“⁷¹⁵ substituiert, können darunter alle geistig-kulturellen, ideellen Phänomene gefasst werden. Zu diesem Zweck muss Heidegger keinen Ideenkosmos insinuieren. Zudem mündet die Anerkennung der Realitätswerdung des Sinnlichen nicht in einen handfesten Biologismus. Heidegger beruft sich auf die Aufzeichnung Nr. 820 aus Der Wille zur Macht. Diese lautet: Ich wünsche mir selber und allen Denen, welche ohne die Ängste eines Puritaner-Gewissens leben – leben dürfen, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung ihrer Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten.⁷¹⁶

 Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.  Vgl. Heidegger, N I, S. 212.  Vgl. Heidegger, N I, S. 212. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 820, S. 552– 553. Vgl. Nietzsche, NF-1885,37[12]: „In der Hauptsache gebe ich den Künstlern mehr Recht als allen Philosophen bisher: sie verloren die große Spur nicht, auf der das Leben geht, sie liebten die Dinge ‚dieser Welt‘ – sie liebten ihre Sinne. Entsinnlichung zu erstreben: das scheint mir ein Mißverständniß oder eine Krankheit oder eine Kur, wo sie nicht eine bloße Heuchelei oder Selbstbetrügerei ist. Ich wünsche mir selber und allen denen, welche ohne die Ängste eines Puritaner-

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Heidegger folgert daraus: „Nötig ist weder die Abschaffung des Sinnlichen noch diejenige des Nichtsinnlichen“.⁷¹⁷ Demnach votiert er für das Modell einer Koexistenz, dass die tradierten Figurationen der interdependenten Extreme einer „Übersteigerung des Übersinnlichen“⁷¹⁸ einerseits und einer „Mißdeutung und Verketzerung des Sinnlichen“⁷¹⁹ andererseits konterkariert. Dennoch kann einer „neuen Rangordnung von Sinnlichem und Nichtsinnlichem“⁷²⁰ der Weg gebahnt werden. Wie anhand des sich anschließenden Kapitels Die neue Auslegung der Sinnlichkeit und der erregende Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst zu demonstrieren sein wird, zielt der Topos der ‚Rangordnung‘ weder auf einen Abstand noch auf eine bloße Umkehrung des „Ordnungsschemas“.⁷²¹ In der mechanischen Auswechslung des Standpunktes ginge die bisherige, das Sinnliche betreffende Missbilligung auf das Übersinnliche über, wohingegen das Sinnliche privilegiert würde.⁷²² Mit der Vergeistigung und Verfeinerung der Sinne sollen beide Sphären verbunden werden. Deswegen ist es erforderlich, den Globalbegriff des Sinnlichen abzulösen, was in der Gestalt des Perspektivismus geschehen wird. Neben dem Themenkomplex des Platonismus und seiner Überwindung ist die mit der Herausdrehung des Platonismus einhergehende „Verwandlung des Menschen“⁷²³ signifikant. Der sechste Abschnitt, den Heidegger als „Anbruch des letzten Abschnittes seiner [Nietzsches, J.K.] eigenen Philosophie“⁷²⁴ begreift, läutet den „Höhepunkt der Menschheit“⁷²⁵ ein. Die bislang vorherrschende Gestalt des Menschen dissoziiert sich in das Entweder-Oder des Übermenschen und des

Gewissens leben – leben dürfen –, eine immer größere Vergeistigung und Vervielfältigung der Sinne; ja wir wollen den Sinnen dankbar sein für ihre Feinheit, Fülle und Kraft und ihnen das Beste von Geist, was wir haben, dagegen bieten. Was gehen uns die priesterlichen und metaphysischen Verketzerungen der Sinne an! Wir haben diese Verketzerung nicht mehr nöthig: es ist ein Merkmal der Wohlgerathenheit, wenn Einer gleich Goethen mit immer größerer Lust und Herzlichkeit an ‚den Dingen der Welt‘ hängt: – dergestalt nämlich hält er die große Auffassung des Menschen fest, daß der Mensch der Verklärer des Daseins wird, wenn er sich selbst verklären lernt.“  Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.  Heidegger, N I, S. 212.  Es wird abermals deutlich, dass Heidegger mit einem gelungenen und einem unzureichenden Modell der Umdrehung des Platonismus operiert: Die gelungene Umdrehung des Platonismus bezieht sich auf den Zwiespalt; die nicht gelungene auf die bloße Inversion des Dualismus. Hingegen ist die Herausdrehung auf die Akzeptanz des Perspektivischen gegründet.  Heidegger, N I, S. 211.  Heidegger, N I, S. 211.  Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 81. Vgl. Heidegger, N I, S. 211.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

letzten Menschen. ⁷²⁶ In Nietzsches Genealogie von Aufstieg und Fall des Platonismus ergibt sich eine wichtige Parallele zu Heideggers seinsgeschichtlichem Denken. Die Erscheinungsform des Wesens des Menschen wird an den jeweiligen Bezug zu einer Sinn und Wahrheit verbürgenden und erschließenden Instanz gebunden. Deren Rolle als Wahrheitsgarant wird ab dem vierten Abschnitt zunehmend fragil. Entsprechend müssen sich die Bestimmung des Menschen und dessen Verankerung innerhalb des Seienden im Ganzen eklatant wandeln. Dieser Entscheidungspunkt beansprucht für Nietzsche die Mühsal der höchsten Anstrengung und bietet zugleich den Quell weitreichender Verheißung. Die wegweisende Frage bricht nun mit aller Kraft hervor, inwieweit es dem Menschen gelingen kann, sich aus der als unredlich und unzutreffend enttarnten, platonisch-christlichen Welterklärung und Versprechungsvariation zu befreien. Der Übermensch und der letzte Mensch treten simultan hervor: „Der Gegensatz des Übermenschen ist der letzte Mensch: ich schuf ihn zugleich mit jenem“.⁷²⁷ Nachdem der ordnungsstiftende Bezug auf eine transzendente oder jenseitige Realität unglaubwürdig geworden ist, schälen sich zwei geschichtliche Folgeoptionen heraus. Die erste Option besteht darin, dass sich der Mensch trotz dieser geschichtlichen Zäsur in der durch den Platonismus geprägten Gestalt halten will, obwohl das Haltgebende und diese Gestalt Gewährende als Irrtum entlarvt wurde. Dergestalt geht es mit dem „bisherigen Menschen“⁷²⁸ – der von der Wahrheit des Übersinnlichen fest überzeugt war und sich nach dieser ausrichtete – zu Ende. Allerdings geschieht dies so, dass ein „unbewältigter Nihilismus“⁷²⁹ stabilisiert wird. Dessen Folge bildet der letzte Mensch. Der Nihilismus bleibt unbewältigt, wenn das als Nichtseiendes dekuvrierte Übersinnliche weiterhin und in verfänglicher Manier festgehalten wird, als hätte es seine Ausstrahlungskraft nicht verloren. Der Nihilismus bleibt auch in dem Fall unbewältigt, dass es nach der Beendigung der Hegemonie des Platonismus zu einem „bloßen Auslauf“⁷³⁰ kommt, der in eine Stagnation und eine „zunehmende Verbreitung und Verflachung“⁷³¹ mündet. Weil nach dem akzeptierten Überflüssigwerden der unveränderlichen Wahrheitsbeständigkeit das Ordnungsprinzip aus dem Seienden ge-

 Vgl. dazu Casale, Heideggers Nietzsche, S. 271: „Die in den sechs Kapiteln umrissenen Metamorphosen der wahren Welt stehen auch für die korrelativen Metamorphosen des Menschen selbst.“  Heidegger, N I, S. 211. Vgl. Nietzsche, NF-1882,4[171].  Heidegger, N I, S. 211.  Heidegger, N I, S. 211.  Heidegger, N I, S. 211.  Heidegger, N I, S. 211.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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wichen ist, können eine unverbindliche Sinnlichkeit und ein Hedonismus präferiert werden, ohne von einem Korrektiv beschränkt zu werden. Die zweite Option ist dadurch charakterisiert, sich dieses Korrektiv selbst zu geben und damit über den bisherigen Menschen überwindend hinauszugehen. Der Übermensch ist derjenige Mensch, in dessen Seinsverhältnis sich die Herausdrehung aus dem Platonismus widerspiegelt, indem er diese in seinem Schaffen weiterträgt und sie gegen mögliche Atavismen und eine dogmatische Verfestigung verteidigt. Der Zusammenhang zwischen dem Schaffen und der Herausdrehung manifestiert sich ebenfalls in dem Kapitel Die neue Auslegung der Sinnlichkeit und der erregende Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit, dem als vermittelnden und motivversammelnden Schlussabschnitt der ersten Vorlesung eine Schlüsselrolle zuwächst.

1.5.2 Heideggers „Kritischer Exkurs“: Die Herausdrehung als Verfestigung des Platonismus? Heideggers Rekapitulation der sechs maßgeblichen Stadien in der Niedergangsgeschichte des Platonismus scheint die in jederlei Hinsicht vollendete Herausdrehung aus dem Platonismus zu schildern und zu besiegeln, insofern die platonisch-metaphysische Dichotomie von Wahrheit und Schein, Übersinnlichem und Sinnlichem in der sechsten Notiz eingeebnet wird. Diese Herausdrehung aus dem Platonismus erhält in dem anschließenden Kapitel, d. h. in der Neuen Auslegung der Sinnlichkeit, ihre Konkretion. Die nicht mehr scheinbare, sondern zum allein Realen, zum Wahren gewordene Sinnlichkeit schließt den Schein der Kunst in der Mehrdeutigkeit der Perspektiven ein, während die „Wahrheit“ als feste Umgrenzung von Gegenständen, Bezirken und Entitäten (wie dem Subjekt und der Substanz) selbst zu einer Scheinbarkeit wird. Diese ist unhintergehbar, weil sie für den Lebensvollzug erforderlich ist.⁷³² In der Separatausgabe der Vorlesung von 1936/37 lässt Heidegger unmittelbar nach der Besprechung des Stückes Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde einen kritischen Exkurs folgen. Im Vergleich zu dem ansonsten affirmativen, Nietzsche die Überwindung des Platonismus zusprechenden Auslegungsgang verändert sich die Tonlage in diesem Exkurs deutlich. Angesichts der textuellen Umrahmung ist die markante Negativierung der Urteilslage verblüffend. Schließlich liegen die platonischen Konstellationsbestimmungen von Wahrheit

 Vgl. hierzu das Kapitel 1.7 dieser Arbeit zu Heideggers Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

und Schönheit und die beipflichtende Besprechung des Stückes Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde im Rücken, während die wohlwollende Neue Auslegung der Sinnlichkeit dem vorgreifenden Blick zugewandt ist. Innerhalb des kritischen Exkurses lassen sich zwei Kerneinwände Heideggers benennen. Erstens setzt Heidegger an Nietzsches Infragestellung und Aufhebung der gesicherten Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt an, die dieser im sechsten Abschnitt der metaphysischen Sinngeschichte Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde formuliert. Zweitens macht Heidegger in einer abrupten Wandlung seines Standpunktes das Eingeständnis rückgängig, Nietzsche sei dergestalt auch die Auflösung der Dichotomie zwischen Oben und Unten geglückt. Der erste Einwand verdient eine differenzierte Betrachtung, wobei ein Vorgriff auf das Ende der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst unabdingbar ist. Der zweite, weniger überzeugende Einwand wird im Grunde durch die leitmotivartige Instantiierung der Kunst als Antidot gegen den Nihilismus und durch Heideggers eigene, im Abschnitt Die neue Auslegung der Sinnlichkeit vorgetragene Analyse und Deutung der Zusammengehörigkeit von Kunst und Wahrheit in der perspektivischen Realität in wünschenswerter Klarheit widerlegt. Der erste Einwand heißt im Wortlaut: Nietzsches Überwindung des Platonismus will nicht nur Umdrehung sein, sondern ein Herausdrehen. Mit der wahren Welt ist auch die scheinbare abgeschafft. Aber ist damit auch die Unterscheidung von Wahrheit und Schein abgeschafft, lässt sich das überhaupt abschaffen, und wenn nicht, warum nicht? Aber das eine wird sogleich deutlich: Nietzsche schafft nicht die Wahrheit und den Unterschied ihrer zur Unwahrheit und zum Schein ab, sondern nur die Platonische Auslegung der Wahrheit, daß das Wahre das Übersinnliche sei. Ja, Nietzsche schafft sowenig die Wahrheit ab, daß er sogar gerade den platonischen Begriff des Wahren beibehält und damit auch die Art des Gegensatzbezugs zum Unwahren und zum Schein – all dies in einer sehr vergröberten Auslegung! Nur gibt er dem so festgehaltenen Wahren eine andere Erfüllung, – d. h. weist seiner Verwirklichung – andere Bahnen zu. Mit anderen Worten: Der Unterschied von Wahrheit und Schein kehrt nur in anderer Form wieder.⁷³³

Indem er gegen Nietzsche auf der Unhintergehbarkeit einer Trennung von Wahrheit und Schein insistiert, erweist sich Heidegger in diesem Punkt und im Kontext des Exkurses als weniger radikaler Denker. Nietzsche könnte gegenüber Heidegger zugutegehalten werden, zur Auffassung einer unaufhebbaren, d. h. nicht mehr in die isolierten Bestandteile der Dichotomie zu zerlegenden Verflechtung von Sein und Schein in der Realität fortgeschritten zu sein. In dieser enthüllt sich das Sein, das als Festigkeit auftritt, als Schein, der als perspektivi-

 Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 261.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

239

sche Illusion zugleich wieder in das Sein übergeht, das die Welt in ihrem Werden ist. Heidegger wählt in seiner Kritik hingegen selektiv denjenigen der Wahrheitsbegriffe Nietzsches aus, der tatsächlich in der platonischen Kontinuitätslinie steht. Insofern die Wahrheit, die vormals für die Beständigkeit des Übersinnlichen stand, nach der Umdrehung des Platonismus als seinsverbürgende Verfestigung in die Sinneswelt einwandert, kann Heidegger die Auffassung verfechten, Nietzsche „behalte den platonischen Begriff des Wahren bei“ und gebe dem Wahren „nur eine andere Erfüllung“ in „anderen Bahnen der Verwirklichung“. Bekanntlich spricht Nietzsche auch nach der Beseitigung der wahr-scheinbar-Weltdisjunktion davon, der Schein im platonischen Sinne, d. h. die Veränderung, die Bewegung, das Werden sei die Realität. Da er außerdem proponiert, die Wahrheit im platonischen Sinne des Übersinnlich-Dauernden oder des perzeptiv und begrifflich erkannten Festen sei eine täuschende Fiktion⁷³⁴, kann dies tatsächlich wie eine simple Umverteilung, eine „sehr vergröberte Auslegung“ des Platonismus wirken: Die Neuauslegung des Sinnlichen-Nichtsinnlichen gerade mit Hilfe eines vergröberten, eines umgedrehten Platonismus (Griechen überhaupt). Also kein Herausdrehen, im Gegenteil.⁷³⁵

 In dem Nietzsche-Seminar von 1937 hält Heidegger, anders als in seinem kritischen Exkurs, nicht an der Unaufhebbarkeit des Unterschiedes von Wahrheit und Schein fest. Im Seminar von 1937 verfolgt Heidegger die Konsequenzen, die sich aus dem Verschwinden des Unterschiedes und aus der doppelten Negation von Wahrheit und Irrtum ergeben. Bereits in den Seminaraufzeichnungen von 1937 weicht die emphatische, verheißungsvolle Bedeutung des Schaffens aus der Vorlesung von 1936/37 einer Akzentuierung des leeren Aktionismus und des nahezu quantitativen Übermächtigungscharakters des zur einzigen Realität und Wahrheitsanhalt gewordenen Schaffens. Die Aufzeichnungen von 1937 weisen auf Heideggers 1939/40 inaugurierte Verknüpfung von Wille zur Macht, Wertsetzung, (Selbst‐)Gerechtigkeit und Nihilismus voraus. Vgl. Heidegger, Nietzsche. Seminare 1937 und 1944. 1. Nietzsches metaphysische Grundstellung (Sein und Schein), GA 87, S. 163: „Umkehrung und dann Herausdrehung aus Platonismus und (so) ihm gerade botmäßiger denn je. Aber der Schein ist das Wahre und das Wahre der Schein. Also was bleibt? Der Unterschied hat gar keinen Sinn, er fällt aus.Wahrheit und Irrtum verschwinden. Nur noch Aktion – Wert – Erhöhung – Steigerung, reine Kraft- und Machtmaße. Warum dieses – und die Folgen wovon? Aus dem Nichtfragen, aus dem bloßen zu Ende gehen ohne die Auseinandersetzung mit dem Anfang! Aber Nietzsche [hat] doch die Vorsokratiker entdeckt? Ja und nein! Die äußerste Verzweiflung in der leersten Leere! Nur noch das Schaffen – Herrschen, darin auszuhalten. In Nietzsche Beides – äußerste Leere und noch einmal das Gesammelte in der höchsten Entfaltung als bloßes Tun.“  Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 262. Vor dem Hintergrund dieser überraschenden (und von Heidegger nichtsdestotrotz in einem apodiktischen Duktus vorgetragenen) Rückverankerung der neuen Auslegung der Sinnlichkeit im Gefüge platonisch-dualistischer Metaphysik ist Pascal David vollkommen beizupflichten, wenn er eine gewichtige Unentschiedenheit in Heideggers Verständnisweise sowie in der Bewertung der Nietzsche zugesprochenen Umdre-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Heideggers Urteil, dass Nietzsche den platonischen Gegensatzbezug von Wahrheit und Schein noch in der vermeintlichen Sprengung des Gefüges nicht abstreifen kann, scheint vor diesem Hintergrund zutreffend zu sein. In diesem Zusammenhang ist zu ergänzen, dass Heidegger in seiner eigenen Wahrheitskonzeption den Schein nicht nur als Verstellung und Verdeckung von der Wahrheit und von dem Sein abgrenzt, sondern ihn auch als Weise des lichtenden Hervortretenlassens in die Unverborgenheit fasst.⁷³⁶ Zudem denkt Heidegger die Wahrheit in ihrem Wesen mit der Un-wahrheit als Verbergung zusammen.⁷³⁷ Heidegger selbst ist also durchaus bereit, an der geläufigen Diskrepanz von Wahrheit und Schein zu rütteln. Zur Verteidigung Nietzsches ist darauf hinzuweisen, dass Nietzsche bezüglich der zumeist in Anführungszeichen geschriebenen „Wahrheit“ tatsächlich in der platonischen Provenienz verbleibt. Doch kennt Nietzsche mit dem ungreifbaren Chaos des Werdens und mit der Weisheit des Silens zwei basale Formen von Wahrheit, die sich – anders als die platonische Wahrheit – gerade nicht in einem Gegensatz zum Schein oder zur Lüge konstituieren müssen.Vielmehr entzieht sich die Wahrheit des Werdens, sobald sie thematisiert, erfahren oder endgültig erfasst werden soll. Der mögliche dritte, von Heidegger in dem Kapitel Die neue Auslegung der Sinnlichkeit exponierte Wahrheitsbegriff Nietzsches, der die Welt als Relationsnetz perspektivischer Kraftzentren definiert, lässt den Unterschied von Wahrheit und Schein zwar „in anderen Formen wiederkehren“, jedoch nur, weil die Perspektiven umgrenzende Wahrheit und der Möglichkeiten aufwerfende Schein die internen Weisen der Erhaltung der Perspektiven darstellen. Der Perspektivismus selbst ist auf einer Metaebene angesiedelt, insofern er eine Wesensaussage über die Beschaffenheit, die Wahrheit alles Seienden trifft, in dessen Perspektiven sich der Widerstreit der innerweltlichen, in den Lebenszusammenhang eingeordneten „Wahrheit“ mit dem ebenso innerweltlichen Schein

hung des Platonismus konstatiert. Vgl. Pascal David, Der Metaphysikbegriff bei Nietzsche und Heidegger, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, S. 109 – 127, bes. S. 121: „Hier wird eine wesentliche Zweideutigkeit zur Sprache gebracht. Nietzsches Umkehrung des Platonismus ist eine Verstrickung in die Metaphysik. Nietzsches Umdrehung wird aber auch gewissermaßen zur Herausdrehung aus dem Platonismus, d. h. zu einer echten Überwindung der Metaphysik.“  Vgl. Heidegger, Nietzsche. Seminare 1937 und 1944. 1. Nietzsches metaphysische Grundstellung (Sein und Schein), GA 87, S. 131: „Das Scheinen gerade nicht als bloßer Schein gegen das Wirkliche, sondern das Erscheinen des Seins durch den Schein. Der Schein das Ursprünglichere (Er-eignis – vor das Auge, ins Licht stellen,), aber nur aus dem Da und dem ‚Streit‘. Der Streit, das Wesen der Wahrheit, Lichtung und Verbergung, ‚der Schein.‘… Der wesenhafte Schein, der er-scheint, ereignet das Sein und das Nicht-Sein.“  Vgl. Heidegger, Vom Wesen der Wahrheit, in: Heidegger, Wegmarken, hrsg. von FriedrichWilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2013, S. 193 – 194.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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vollzieht. Auch Nietzsches vierter, an den Perspektivismus angelehnter Begriff von Wahrheit, wonach alles Interpretation sei, lässt sich nicht mehr innerhalb der Diskrepanz von Wahrheit und Schein diskutieren. Die Auffassung, es existiere eine unverrückbare, ewige, intelligible Wahrheit (Platon) sowie die diametral entgegengesetzte These, diese erste Auffassung sei falsch, da es nur den Irrtum gebe, der aus der zurechtmachenden Tätigkeit der Perspektiven entspringe (Nietzsche), relativieren sich gegenseitig. Trotz dieser Relativierung wird dadurch weder alles Seiende zur bloßen Lüge herabgestuft noch wird umgekehrt ein vehementer Infallibilismus auf den Plan gerufen. Diese kurz skizzierte Pluralität Nietzschescher Wahrheitsbegriffe indiziert, dass Heideggers Rede von der „einen“ Wahrheit, deren Verständnis Nietzsche der platonischen Philosophie schlichtweg entlehnt habe, in höchstem Maße verkürzend ist. Der zweite Kerneinwand Heideggers lautet: Und wenn mit der wahren Welt die scheinbare abgeschafft ist, d. h. die Platonische Auslegung dieser Unterscheidung, dann scheint auch mit dem Oberen das Untere abgeschafft zu sein. Und doch nicht, sondern nur die Art der Auslegung des Oben und Unten. Die Stufung selbst und als solche bleibt erhalten. Denn was soll es sonst heißen, die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit, steht höher? Also ist wieder nur die Auslegung eine andere. Was nach der Darstellung der Geschichte des Platonismus in Ziff. 6 so aussieht wie ein völliges Herausdrehen, ist es gar nicht, sondern Nietzsche verstrickt sich hier noch einmal und endgültig und am tiefsten in das, was er überwinden will, nicht in einen Platonismus im äußersten Sinne, aber in das, was Grunderfahrung der Platonischen Philosophie selbst ist.⁷³⁸

Im Hinblick auf die Verstrickungs-These ist zuvorderst herauszustellen, dass es keine voraussetzungslose Herausdrehung geben kann. Jede Überwindung eines Gegensatzverhältnisses muss – wie Heidegger selbst betont – beide Pole aufnehmen, sie schöpferisch verwandeln oder sie in einem neuen Bereich zusammenführen. Natürlich hat Heidegger dahingehend Recht, dass in Nietzsches Attribution eines Mehrwerts der Kunst eine Stufung oder Rangordnung erhalten bleibt. Deren Gehalt, Tragweite und Begründung verändert sich gegenüber der platonischen Auftrennung in der Politeia und gegenüber der Grundstellung des Platonismus jedoch in einer derart eminenten Weise, dass die suggerierte Vergleichbarkeit und Kontinuität jenseits einer formalen Überschneidung zweifelhaft wird. Die Stufung wird von Nietzsche „als solche“ gerade nicht restituiert. Wie Heidegger selbst in dem Abschnitt Neue Auslegung der Sinnlichkeit im Gegensatz zu seinem kritischen Exkurs nochmals untermauern wird, gibt Nietzsche jene Scheidungsart in zwei dichotome Geltungsbereiche auf, die für den Platonismus charakteristisch ist. Anders als die Ideen, die als Formursache der Erscheinungen  Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 262.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

fungieren, kann die von Nietzsche präferierte Kunst (auch im weiten Sinne des Schaffens) nicht beanspruchen, die Ermöglichungsbedingung für die „Wahrheit“, für die Festmachung der Perspektiven, zu sein. Ebenfalls kann nicht die Rede davon sein, die Wahrheit imitierte die Kunst in schattenhafter Annäherung. Dergleichen müsste Nietzsche indes behaupten, um sich tatsächlich im Versuch der Herausdrehung tief im Platonismus zu verstricken. Es ist nicht zu bestreiten, dass die übersinnliche Wahrheit von Nietzsche als „erlogne“⁷³⁹ und daher scheinbare Welt markiert wird, die durch das Schaffen und die Kunst bekämpft wird. Nichtsdestotrotz kann die Kunst die Wahrheit bei Nietzsche niemals aus der einzigen Realität des Sinnlichen verdrängen. Umgekehrt vermag es die Wahrheit in der Philosophie Platons, der Kunst keinen Anteil an der prioritären Realität des Intelligiblen beizumessen. Deswegen hatte Heidegger in der Besprechung von Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde mit Nachdruck unterstrichen, Nietzsche ziele auch nach der sechsten Etappe keineswegs darauf ab, das Nichtsinnliche zu diskreditieren. Den wohl gravierendsten Einspruch gegen die eigene, in kritischer Absicht vorgetragene Ansicht, Nietzsche verstricke sich in der platonischen Grunderfahrung, artikuliert Heidegger selbst in dem Kapitel Die fünf Sätze über die Kunst. Nach Heidegger ist es die einschneidende geschichtliche Grunderfahrung des Nihilismus, auf die Nietzsche mit der Privilegierung des Schaffens reagiert, welches das Leben nach seiner Schwächung durch das Ideal wieder steigern soll. Deswegen ist Nietzsches Ausgangssituation nicht nur inkommensurabel gegenüber derjenigen Platons, auch die Motivation für die Etablierung der keineswegs unüberbrückbar ausfallenden Stufung ist eine gänzlich andere. Die Rangfolge wird nicht erkenntnistheoretisch-philosophisch legitimiert wie bei Platon, sondern entspringt einer geschichtlich-politischen Dringlichkeit – wie Heidegger selbst apostrophiert. Ein weiteres gewichtiges, entkräftendes Gegenargument gegen die obige Behauptung eines Versandens Nietzsches im Platonismus, im Gefüge von Oben und Unten, liefert Heidegger in dem Kapitel Die neue Auslegung der Sinnlichkeit, wenn er die Koexistenz von Wahrheit und Kunst in der perspektivisch verfassten Realität als Endstufe der Nietzscheschen Theoriebildung entfaltet. Die Kunst „steht höher“ als die Wahrheit, aber sie steht trotzdem mit dieser zusammen – in ebenjenem entsetzlichen Zwiespalt, der nach Heidegger das Kernstück der Metaphysik Nietzsches symbolisiert. Dieser Sachverhalt ist im Folgenden anhand des Kapitels

 Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 258: „Man hat die Realität in dem Grade um ihren Werth, ihren Sinn, ihre Wahrhaftigkeit gebracht, als man eine ideale Welt erlog … Die ‚wahre Welt‘ und die ‚scheinbare Welt‘ – auf deutsch: die erlogne Welt und die Realität …“

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Die neue Auslegung der Sinnlichkeit zu plausibilisieren. Dass Heidegger Nietzsche 1936/37 die Herausdrehung aus dem Platonismus nicht vorbehaltlos zugestehen möchte, ist im Ausblick auf die späteren Vorlesungen festzuhalten. In diesen wird sich die 1936/37 noch in einem wenig umfangreichen Exkurs eingeflochtene These einer Verstrickung Nietzsches in dem zu Überwindenden sukzessive stabilisieren.

1.5.3 Der Perspektivismus und die Vervielfältigung der Formen des Scheins im Bereich des Organischen Das Kapitel Die neue Auslegung der Sinnlichkeit vertieft zum einen die Wahrheitsfrage, indem es die Umdrehung des Platonismus mit dem Perspektivismus zusammendenkt. Zum anderen ist die Verflechtung zwischen der im Joch des großen Stils geschehenden Zulassung des Wilden und Lebendigen und dessen Besänftigung durch das Maß ein wesentliches Thema. Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass die bereits zu Beginn der Vorlesung eingeführte Gleichsetzung des Sinnlichen mit der Realität, die durch die Auseinandersetzung mit der Aufzeichnung Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde ihre endgültige textuelle Untermauerung erhielt, nach Heidegger keineswegs erst aus der Umkehrung des Platonismus entspringt. Die Umkehrung wird ihrerseits von der „neuen Auslegung“ der Sinnlichkeit animiert: Welche Verwandlung liegt der Umdrehung zugrunde? Wir müssen in dieser letztgenannten Form fragen, weil nicht zunächst umgedreht und dann aus der durch die Drehung erfolgten neuen Lage gefragt wird: was hat sich ergeben? Die Umdrehung hat vielmehr schon ihre Bewegungskraft und Bewegungsrichtung aus dem neuen Fragen und seiner Grunderfahrung, in der das wahrhaft Seiende, das Reale oder ‚die Realität‘ neu bestimmt werden soll.⁷⁴⁰

Die der Umdrehung bereits zugrundeliegende Neubestimmung des Realen wird von Heidegger nicht unmittelbar an den Perspektivismus angebunden, sondern zunächst mithilfe der Hauptbegriffe der „physiologischen Ästhetik“ verdeutlicht. Der erneut als „Gefühl der Kraftentfaltung“⁷⁴¹ definierte Rausch wird dabei von seiner Erschließung in der künstlerischen Gestimmtheit abgelöst und als eine Seite in die „innere Verfassung des ‚Sinnlichen‘“⁷⁴² eingefügt. Der Rausch versinnbildlicht nicht nur die Steigerungsbewegung im Sinnlichen, das „über-sichhinaus-Sein“.⁷⁴³ Entscheidend ist, dass in seinem „zu-sich-selbst-Kommen in der    

Heidegger, N I, S. 213. Heidegger, N I, S. 214. Heidegger, N I, S. 214. Heidegger, N I, S. 214.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

höchsten Durchsichtigkeit des Seins“⁷⁴⁴ der bei Platon verdrängte „Abgrund des Lebens“⁷⁴⁵ als innere Widerwendigkeit des Rausches zum Vorschein gebracht wird. Das Chaotische und Bedrohliche wird als Bejahtes in das Leiblich-Sinnliche inkludiert. Um die bändigende und sublimierende Wesensseite der rauschhaft-leiblichen Sinnlichkeit zu konkretisieren, greift Heidegger auf die Klassifikation der Schönheit als bestimmender Instanz innerhalb des ästhetischen Grundzustandes zurück.⁷⁴⁶ Darüber hinaus lässt Heidegger das Hauptcharakteristikum der Form – die „höchste Einfachheit der reichsten Gesetzlichkeit“⁷⁴⁷ – in den Entwurf der Sinnlichkeit einfließen. Demgegenüber fundiert Heidegger den abgründig-chaotisch-naturhaften Wesenspol des Sinnlichen durch die implizite Integration der im Kapitel Der große Stil vorgetragenen Bestimmung des Lebendigen als „Unruhe der Gesetzesfindung“.⁷⁴⁸ Dergestalt vermag er nochmals zu unterstreichen, dass die Bändigung des Sinnlichen nicht durch ein fremdes Maß arrangiert wird, sondern diesem im Kern zugehörig ist: Das Sinnliche ist in sich auf Übersicht, Ordnung, Beherrschbares und Festgemachtes gerichtet.⁷⁴⁹

Der Übergang zum Perspektivismus wird durch eine gravierende Verschiebung in Heideggers Verständnis der Sinnlichkeit eingeläutet, die freilich mit dem Hinweis auf die Nietzsche konzedierte „neue Auslegung“ gerechtfertigt werden kann. Anders als bisher, drängt das Lebendige in seinem Über-sich-hinaus-gehen nicht primär auf die regulierende Verankerung in dem „aus ihm selbst erwachsenden Gesetz“⁷⁵⁰, sodass das „Gegensätzliche in der Einheit der Bogenspannung eines Joches aufbewahrt“⁷⁵¹ wird. Stattdessen wird es nun selbst zu einem wählenden Kollektivsubjekt und zum Akteur der Ordnung und Bewältigung, unter die es sich zuvor freiwillig begab. Heidegger differenziert den Vorgang, in dem das Lebendige jene Formgebung vollzieht, in mehrere Schritte. Die detaillierte Gliederung dieser Verfahrungsweise ist im Hinblick auf die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis und die dort veranschaulichte Schematisierung des Chaos einerseits und

       

Heidegger, N I, S. 214. Heidegger, N I, S. 214. Vgl. Heidegger, N I, S. 214. Heidegger, N I, S. 119. Heidegger, N I, S. 131– 132. Heidegger, N I, S. 214. Heidegger, N I, S. 130. Heidegger, N I, S. 139.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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die Aktiteration der Wertsetzung innerhalb der Perspektiven andererseits von immenser Bedeutung. So gehört es zum Wesen des Lebendigen, d. h. jedes Lebewesens, sich äußeren Einflüssen auszusetzen, denen es sich zugleich entgegensetzt, indem es sie „nach Gestalt und Rhythmus“⁷⁵² fixiert. Die gestaltende Zurechtmachung ist die Voraussetzung für jene Abschätzung des jeweils Begegnenden, die ihrerseits einem möglichen, einverleibenden Zugriff oder dem Umgang mit den „anderen Kräften“⁷⁵³ vorausläuft. Das auf die Taxierung der Nützlichkeit, des „Lebenkönnens des Lebendigen“⁷⁵⁴ folgende Verhalten ist durch eine klare Disjunktion bezeichnet: Entweder werden die anderen Kräfte einverleibt, angegriffen oder ignoriert.Wichtig ist, dass diese Verhaltensweisen innerhalb einer grundlegenden Verengung des eigenen Gesichtskreises stattfinden, der als Regulativ fungiert und bestimmte Kräfte, Einflüsse und Ereignisse von vornherein aus dem jeweiligen „Sehwinkel“⁷⁵⁵ und „Blickbereich“⁷⁵⁶ ausschließt. Dies geschieht komplikationslos, unmerklich und unbewusst. Um diese apriorische Ausgrenzung zu veranschaulichen, gibt Heidegger hier das Beispiel einer Eidechse, die das „leiseste Rascheln im Gras“⁷⁵⁷ hört, den in unmittelbarer Nähe „abgeschossenen Pistolenschuß“⁷⁵⁸ jedoch nicht registriert. Durch die interpretative Limitation des Weltgeschehens erhält jedes Lebewesen seine Individuation, weil der Lichtkegel des Sehwinkels als „Auslegung seiner Umgebung und damit des ganzen Geschehens“⁷⁵⁹ untrennbar mit dessen Lebensführung verwachsen ist. Da diese Auslegung innerhalb der Perspektive und somit innerhalb des darin freigelassenen Blickbereiches vonstattengeht, avanciert das Perspektivische als in sämtliche Grade organischer Wahrnehmung eingeschriebene Abschätzung zur „Grundbedingung alles Lebens“.⁷⁶⁰ Damit scheint Nietzsche nur die Protagoreische und antidogmatische Einsicht in die Relativität

 Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.  Heidegger, N I, S. 214.Vgl. dazu: Nietzsche, NF-1885,34[247]: „Das Ganze der organischen Welt ist die Aneinanderfädelung von Wesen mit erdichteten kleinen Welten um sich: indem sie ihre Kraft, ihre Begierden, ihre Gewohnheiten in die Erfahrungen außer sich heraus setzen, als ihre Außenwelt. Die Fähigkeit zum Schaffen (Gestalten Erfinden Erdichten) ist ihre Grundfähigkeit: von sich selber haben sie natürlich ebenfalls nur eine solche falsche erdichtete vereinfachte Vorstellung.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

der Empfindungen und Meinungen in den Lebensvollzug verlängert zu haben, wobei das Kriterium der Dienlichkeit für das Wachstum hinzugefügt wird. In der neuen Auslegung der Sinnlichkeit geht Nietzsche darüber hinaus. Jedem Lebewesen eignet Nietzsche zufolge nicht nur eine besondere Perspektive, die in der Aufrichtung des Horizontes und in der Abblendung des Ungefügigen und nicht Einzuverleibenden eine nach außen gewendete Weltorientierung leistet. Bedeutsam ist vielmehr, dass sich der Streit der Perspektiven und Kräfte intraorganisch in jedem Lebewesen multipliziert: Das Wesentliche der organischen Wesen ist eine neue Auslegung des Geschehens: die perspektivische innere Vielheit, welche selber ein Geschehen ist.⁷⁶¹

Wie Jeffrey Powell gegenüber der selektiven und voreingenommenen Lesart Wolfgang Müller-Lauters überzeugend argumentiert hat, berücksichtigt Heidegger den Perspektivismus in einer Weise, in der die von Müller-Lauter als eigene Entdeckung reklamierte Mannigfaltigkeit fluider Machtzentren in jedem Einzelwesen unmissverständlich zur Geltung kommt: Im ‚Organischen‘ gibt es nun eine Vielheit von Trieben und Kräften, deren jede ihre Perspektive hat. Die Vielheit der Perspektiven unterscheidet das Organische vom An-organischen; doch auch dieses hat seine Perspektive, nur sind in ihr – in der Anziehung und Abstoßung – die ‚Machtverhältnisse‘ eindeutig festgesetzt.⁷⁶²

 Heidegger, N I, S. 215. Vgl. Nietzsche, KSA 12, 2 [92], S. 41.  Heidegger, N I, S. 215. Obgleich er Heidegger den Gedanken einer Pluralisierung der Willen zur Macht nicht konzediert, arbeitet Wolfgang Müller-Lauter an einigen Stellen differenziert heraus, dass sich die Einheit des Willens zur Macht für Heidegger durchaus in eine innere Vielheit aufspaltet. Vgl. Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, S. 85:“Zur Selbstbezogenheit des Befehlens gehört nach Heidegger durchaus sein Gegliedertsein in eine Vielheit von Befehlenden und Gehorchenden.“ Andererseits betont Müller-Lauter das „In-sichbleiben des Willens zur Macht“ (vgl. Müller-Lauter, Heidegger und Nietzsche. Nietzsche-Interpretationen III, S. 80 f.). Jeffrey L. Powell setzt sich in seiner Auslegung der oben zitierten Erörterung Heideggers mit Müller-Lauters Sichtweise auseinander.Vgl. Jeffrey L. Powell, Die NietzscheVorlesungen im Rahmen des Denkweges Martin Heideggers, in: Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 117– 132, hier S. 119: „Nach Heidegger gibt es im ‚Organischen […] nun eine Vielheit von Trieben und Kräften, deren jede ihre Perspektive hat. Die Vielheit der Perspektiven unterscheidet das Organische vom Anorganischen.‘ Das Anorganische würde dann die Position sein, die Heidegger [von Seiten Müller-Lauters, J.K.] zugeschrieben wird, wo aller Wille zur Macht sich auf einen einstimmigen, einzelnen, ‚wesentlichen‘ Willen zurückführen ließe. Was Heidegger als das Organische und das Anorganische der Analyse unterwirft, sind für Müller-Lauter die beiden Möglichkeiten, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht zu verstehen. […] Heidegger geht jedoch noch einen Schritt weiter, wenn er anmerkt, dass das Anorganische selbst nur eine andere Perspektive im Spiel der Kräfte ist. Heidegger legt dar: ‚Doch auch dieses hat seine

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Die das Organische kennzeichnende Pluralität sich überlagernder und konkurrierender Kraftpunkte konstituiert sich aufgrund der unzähligen Auslegungsdifferenzen. Diese können nur entstehen, weil jede einzelne Kraft eine bestimmte Perspektive besitzt. Die Annahme einer leblosen Natur, die durch eine kausale Gesetzmäßigkeit und Gleichförmigkeit gelenkt wird, kommt einer Reduktion der schillernden, organischen Vielheit gleich. Diese Verengung ist einzig als eine „Hypothese zu Zwecken der Berechnung“⁷⁶³ legitim. Die mechanistische Einheitskonzeption muss nämlich bereits das Wesen des Anorganischen verfehlen. Basierend auf der Gleichsetzung der Kräfte mit einer spezifischen Auslegung der Umgebung, die sich wiederum auf die in ihnen dominierende Perspektive zurückführen lässt, wird deutlich, dass auch die innerhalb der vermeintlich unbelebten Natur des Anorganischen dirigierenden „Kräfteverhältnisse“⁷⁶⁴ keiner Mechanik von Stoß und Bewegung unterworfen sind. Selbst in der „Anziehung und Abstoßung“⁷⁶⁵ wird die mit einer bestimmten Perspektive einhergehende Zurechtmachung der Umwelt austariert. Allerdings wird aufgrund der eindeutigen Festsetzung⁷⁶⁶ der Kraftverteilung der Eindruck einer Konstanz des Ablaufes und einer Festigkeit der Gestalten erzeugt. Ingesamt zeigt sich, dass die scharfe Grenzziehung zwischen unorganischer und organischer Welt für Nietzsche brüchig wird.⁷⁶⁷ Die Unumgänglichkeit der perspektivischen Auslegung nach Maßgabe der jeweiligen Kraftfülle manifestiert sich schon in der Ernährung der einfachsten Lebewesen. Im Unterschied zur alltäglichen Verwendung dieses Begriffes, be-

Perspektive, nur sind in ihr – in der Anziehung und Abstoßung – die ‚Machtverhältnisse‘ eindeutig festgesetzt.‘ Genau aus dieser Perspektive hat sich die Metaphysik der Anwesenheit ergeben, und genau von dieser Perspektive her ist Nietzsche selbst der platonischen Metaphysikgeschichte, einschließlich der Form, die für die Masse übernommen wird, dem Christentum, gegenüber kritisch.“ Zu Powells genereller Kritik an Müller-Lauters Deutung des Zwiegesprächs zwischen Heidegger und Nietzsche vgl. Powell, Die Nietzsche-Vorlesungen im Rahmen des Denkweges Martin Heideggers, S. 117– 122, bes. S. 118.  Heidegger, N I, S. 215. Heidegger gewinnt diese Auffassung aus einer wesentlichen Nachlassaufzeichnung aus dem Jahre 1885. Vgl. Nietzsche, NF-1885,34[247]: „…daß der Wille zur Macht es ist, der auch die unorganische Welt führt, oder vielmehr, daß es keine unorganische Welt giebt. Die ‚Wirkung in die Ferne‘ ist nicht zu beseitigen: etwas zieht etwas anderes heran, etwas fühlt sich gezogen. Dies ist die Grundthatsache: dagegen ist die mechanistische Vorstellung von Druck und Stoß nur eine Hypothese auf Grund des Augenscheins und des Tastgefühls, mag sie uns als eine regulative Hypothese für die Welt des Augenscheins gelten!“  Heidegger, N I, S. 215.  Heidegger, N I, S. 215.  Vgl. Heidegger, N I, S. 215.  Vgl. Heidegger, N I, S. 215: „Alles ‚Reale‘ ist lebendig, es ist in sich ‚perspektivisch‘ und behauptet sich in seiner Perspektive gegen andere.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

kunden sich die Perspektiven nicht einfach als kontigente Betrachtungsweisen, die sich von außen auf einen objektiven, an sich seienden Vorgang beziehen. Dabei können sie zu unterschiedlichen Bewertungen gelangen und möglicherweise in einen Deutungskonflikt geraten. Für Nietzsche begründet das Perspektivische stattdessen eine Weltwahrnehmung, die jeweils mit dem Maßstab der Kraft, an dem alles Seiende gemessen wird, synthetisiert ist. Diese perspektivische Maßstabsbindung bildet die fundamental-essentielle Beschaffenheit des perzipierenden Lebewesens: Grundfrage: ob das Perspektivische zum Wesen gehört? und nicht nur eine Betrachtungsform, eine Relation zwischen verschiedenen Wesen ist? Stehen die verschiedenen Kräfte in Relation, so daß diese Relation gebunden ist an Wahrnehmungs-Optik? Diese wäre möglich, wenn alles Sein essentiell etwas Wahrnehmendes wäre. ⁷⁶⁸

Anders als in der Rückführung des ästhetischen Wohlgefallens auf eine Lust am Geordneten, die wiederum aus dem biologischen Wohlgefühl entspringt, das bei den organischen Wesen „im Verhältnis zur Gefährlichkeit ihrer Lage“⁷⁶⁹ steht, wird der Lebensvollzug gemäß dem obigen Zitat nur dann zur grundgebenden Dimension, wenn er in seiner Untrennbarkeit mit dem Perspektivischen betrachtet wird.Weil die Bedingung des Lebensvollzuges überhaupt in der Beschränkung auf einen beherrschbaren Bereich wurzelt, ist damit immer eine Wahrnehmung verknüpft, die in sich Auslegung, Abschätzung und Kraftanwendung ist und das in dem jeweiligen Sehwinkel auftauchende Seiende als solches freigibt. Jede vorübergehend Kontur gewinnende Wahrnehmung schält sich aus einem internen Konflikt mehrerer Kraftpunkte heraus, in dem eine Auslegungstendenz triumphiert hat. In der in dem obigen Zitat entfalteten „Grundfrage“ stimmt Nietzsche nach Heidegger mit der Metaphysik Leibnizens überein, insofern das Seiende in sich „perspektivisch-wahrnehmend“⁷⁷⁰ und als solches „sinnlich“⁷⁷¹ ist. Anhand dieser neuen Bedeutung des Sinnlichen ist ein entscheidender Schritt in der Herausdrehung aus dem Platonismus, d. h. in der Verwandlung der bipolaren Baugestalt, getan. Das Sinnliche wird nicht mehr als undulatorischer Bereich gegenüber der Beständigkeit des nichtsinnlichen Wahren abgegrenzt. Nun wandert das Sinnliche in diejenige Art der Wahrnehmung ein, die in ver Vgl. Heidegger, N I, S. 215. Vgl. Nietzsche, NF-1886,5[12].  Vgl. Heidegger, N I, S. 121. Vgl. Nietzsche, NF-1885,35[3].  Heidegger, N I, S. 215.  Heidegger, N I, S. 215.Weil es sich bei dem „Sinnlichen“ nicht um einen naiven Sensualismus handelt, sondern um eine interpretierende Aneignung der Welt, opponiert das Sinnliche der Bedeutung der Schemata nicht, die in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis entwickelt wird.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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schiedenen Graden jedem Lebewesen zukommt. Mit diesem Erkenntnisgewinn ist die von Nietzsche geschilderte sechste Epoche in der Geschichte des Platonismus erreicht. Das bislang als Schein Herabgesetzte verwandelt sich in den Status des Wahren. Indem das Sinnliche als perspektivische Wahrnehmung die Wirklichkeit prägt, hebt sich die Trennung von wahrer und scheinbarer Welt auf. Der Schein wird selbst zur Realität.⁷⁷² Dies unterstreicht Heidegger mit der folgenden Aufzeichnung Nietzsches: Mit der organischen Welt beginnt die Unbestimmtheit und der Schein. ⁷⁷³

Heideggers Auslegung dieser Sentenz weist eine große Nähe zu den Grundtendenzen der modernen Nietzsche-Forschung auf.⁷⁷⁴ Heidegger bezieht das Charakteristikum des Scheins nicht vorrangig auf die Beschaffenheit der vorliegenden  Vgl. Nietzsche, KSA 11, 25 [470], S. 138: „‚Der Sinn für Wahrheit‘ muß, wenn die Moralität des ‚Du sollst nicht lügen‘ abgewiesen ist, sich vor einem anderen Forum legitimieren. Als Mittel der Erhaltung von Macht, als Macht-Wille….[als] der gestaltende Wille….der Sinn für das Wirkliche ist das Mittel, die Macht in die Hand zu bekommen, um die Dinge nach unserem Belieben zu gestalten. Die Lust am Gestalten und Umgestalten – eine Urlust! Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben.“  Heidegger, N I, S. 216. Vgl. Nietzsche, NF-1885,35[53]: „Wahrnehmen auch für die unorganische Welt einräumen und zwar absolut genau: da herrscht ‚Wahrheit‘! Mit der organischen Welt beginnt die Unbestimmtheit und der Schein.“  Vgl. Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 336: „Am Ende steht nicht das Gefängnis des ‚Scheins‘, sondern die explizite Übernahme und Bejahung des Willen-zur-Macht-und-Interpretations-Charakters des Daseins und darin der Perspektivität als solcher. Dies ist kein Zurückgeworfensein vor den Schleier einer vermeintlichen Wahrheit-an-sich, sondern die Überwindung der eben dieser Vorstellung zugrunde liegenden Optik.“ Vgl. ferner Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches, Berlin / New York 1996, S. 302: „Erst wenn alles Werden als eine fortwährende Änderung von Machtverhältnissen begriffen ist, wird man einsehen können, daß die Überzeugungskraft der ganzen Darstellung daran hängt, auch noch die Darstellung selbst als ein Machtgeschehen verstehen zu können. Wenn alles Werden ist, gehört auch das Begreifen des Werdens zum Werden, und wenn jedes Element des Werdens als eine Macht verstanden werden muß, dann haben auch Denken, Erkennen und Fühlen als Elemente des Werdens und damit als Mächte zu gelten. […] Die scheinbare Welt, die alles ist und keine anderen Welten neben sich braucht, ist ein Produkt des wahrnehmenden und auswählenden Wesens.“ Vgl. Andreas Urs Sommer, Nietzsche und die Folgen, Stuttgart 2017, S. 63: „So sehr Nietzsche nun selbst ein philosophischer Festleger sein möchte, so wenig entspricht dieses Trachten doch offensichtlich seinem intellektuellen Profil, das nicht Starrheit, sondern Beweglichkeit auszeichnet: Jeden Tag entdeckt er etwas Neues, was sich mit seinen bisherigen philosophischen Mitteln nicht auf den Begriff bringen lässt. So verfällt er auf die paradoxe Idee, sich auf das Werden, die stete Veränderung festlegen zu wollen, das zu seinem unsystematischen ‚Systemgedanken‘ zu machen – das ist ‚historisches Philosophieren‘. Ein kontinuierliches Bauen in der Mitte ist ihm fremd.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Welt. Er rückt die „Mehrheit von Trieben und Vermögen“⁷⁷⁵ in den Vordergrund, die sich in der „Einheit eines organischen Wesens“⁷⁷⁶ in verschiedene, sich widerstreitende Perspektiven auffächern. Die Singularität einer primären Perspektive, Interpretation und Wahrnehmung, in der die Welt für ein Lebewesen erscheint, wird konterkariert. Die dauerhafte Einförmigkeit der Perzeption wird durch den inneren Facettenreichtum eines Ringens ersetzt, das in einem vorübergehend geronnenen, auswechselbaren Standpunkt mündet. Diese Polydimensionalität färbt auf das sich jeweils Zeigende ab, das innerhalb der wechselnden Perspektiven eines Lebewesens notwendigerweise seine Eindeutigkeit verliert („bald so, bald anders scheint“⁷⁷⁷). Daraus resultiert die Nichtfestlegbarkeit und Unbestimmtheit des verschiedenartig erscheinenden Gegebenen. Obgleich Heidegger nicht auf eine Systematisierung abzielt, ist zu konstatieren, dass sich durch die Herausdrehung aus dem Platonismus der Begriff des Scheins vervielfältigt.⁷⁷⁸ Innerhalb des Platonismus hatte dieser eine klare Bedeutung: Die Entfernung vom wahren Sein, von der Idee hin zum Werdenden und Vergehenden besiegelte die Triftigkeit der Bezeichnung als Schein. Hingegen lassen sich nun drei Variationen des Scheins unterscheiden, die als verschiedene „Grade der Scheinbarkeit“⁷⁷⁹ die Realität konstituieren. Zum ersten der Schein als Unbestimmtheit: In dem Aufwurf sich vermengender und abwechselnder Interpretationen zeigt sich nicht mehr die eine Welt, sondern nur noch eine für kurze Zeit überlegene Hinblicknahme auf die Welt. Dieser Sachverhalt unterminiert die Verlässlichkeit, Allgemeingültigkeit, Beständigkeit und übergreifende Zugänglichkeit einer Welt und lässt somit jene Eigenschaften nicht mehr zu, die für die Gewinnung einer Einheitssicht auf die einzige Wahrheit unabdingbar sind. Zum zweiten der Schein als Anschein: War bei Platon die sich wandelnde Vielheit ein Indikator des Scheins (im Sinne des Antagonisten zum Wahren), so ist es bei Nietzsche die Verfestigung der Einförmigkeit. Der Schein kann für sich nur eine flüchtige Gestaltannahme inmitten der Unbestimmtheit und Interpretationskontingenz prätendieren. Sobald er sich von sei-

 Heidegger, N I, S. 216.  Heidegger, N I, S. 216.  Heidegger, N I, S. 216.  Vgl. Nietzsche, NF-1885,34[247]: „Unsere Welt als Schein, Irrthum – aber wie ist Schein und Irrthum möglich? (Wahrheit bezeichnet nicht einen Gegensatz zum Irrthum, sondern die Stellung gewisser Irrthümer zu anderen Irrthümern, etwa daß sie älter, tiefer einverleibt sind, daß wir ohne sie nicht zu leben wissen und dergleichen.).“  Vgl. Nietzsche, NF-1886,7[49]: „Sein und Schein, psychologisch nachgerechnet, ergiebt kein ‚Sein an sich‘, keine Kriterien für ‚Realität‘, sondern nur für Grade der Scheinbarkeit gemessen an der Stärke des Antheils den wir einem Schein geben.“

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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nem eigenen Entstehungsprozess abschneidet und sich mitsamt der ihn gewährenden Perspektive zum Gradmesser des atavistisch mit der Suggestion eindeutiger Bestimmbarkeit versehenen Wirklichen aufrichtet, wird er zum Schein im Sinne des Betruges, der Fälschung und der Abkehr von dem in die Perspektivität eingebundenen und aus ihr hervorgehenden Realen: Dieser Anschein aber ist erst dann ein Schein im Sinne des bloßen Scheins, wenn das, was in der einen Perspektive sich zeigt, sich verfestigt und als allein maßgebend festgestellt wird zu ungunsten von anderen, sich wechselnd andrängenden Perspektiven.⁷⁸⁰

Zum dritten der Schein als lebensnotwendiger Irrtum: Die Lebenserhaltung kann nur gelingen, wenn in sich wiederholenden Verhaltensmustern intuitiv auf vergleichbare Fälle und Situationen zurückgegriffen werden kann. Dazu ist ebenjene Verfestigung des Scheins als Anschein vonnöten, welche die Unbestimmtheit zumindest kurzzeitig aufhebt oder – in anderen Hinsichten und Erfahrungsräumen oder der „menschlichen Logik“⁷⁸¹ – gänzlich und ständig aufgehoben hat: In der organischen Welt beginnt der Irrtum. ‚Dinge‘, ‚Substanzen‘, Eigenschaften, Tätig ‚keiten‘ – das alles soll man nicht in die unorganische Welt hineintragen! Es sind die spezifischen Irrtümer, vermöge deren die Organismen leben.⁷⁸²

Nietzsche liefert in diesem Kontext den performativen Beweis für seine Theorie des Perspektivismus. Dass er den Schein – in der Gestalt der aus einem Prozess von Fälschungen erwachsenden Zurechtmachung – als Irrtum beurteilen kann, dem die Imagination eines konstanten Trägersubjektes auf der Gegenseite korrespondiert, setzt voraus, dass es eine Version des Scheins gibt, die der Wahrheit eher entspricht. Die aus dem Platonismus bekannte Dichotomie von „wahrer“ und scheinbarer“ Welt würde Nietzsche hier nur dann restituieren, wenn die

 Heidegger, N I, S. 217.  Heidegger, N I, S. 217. Die Bedeutung von Logik, Urteil, Schemata und Kategorien für den Willen zur Macht diskutiert Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis von 1939 ausführlich. Vgl. hierzu das Kapitel 1.7 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 216. Vgl. Nietzsche, NF-1885,1[28]: „…alle Bewegungen sind als Gebärden aufzufassen, als eine Art Sprache, wodurch sich die Kräfte verstehn. In der unorganischen Welt fehlt das Mißverständnis, die Mittheilung scheint vollkommen. In der organischen Welt beginnt der Irrthum. ‚Dinge‘ ‚Substanzen‘ Eigenschaften, Thätig-‚keiten‘ – das alles soll man nicht in die unorganische Welt hineintragen! Es sind die spezifischen Irrthümer, vermöge deren die Organismen leben. Problem von der Möglichkeit des ‚Irrthums‘? Der Gegensatz ist nicht ‚falsch‘ und ‚wahr‘, sondern ‚Abkürzungen der Zeichen‘ im Gegensatz zu den Zeichen selber. Das Wesentliche ist: die Bildung von Formen, welche viele Bewegungen repräsentiren, die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Wahrheit der starre Gegenbegriff des Scheins wäre und nicht – wie von Nietzsche intendiert – dessen höchste Fülle. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Gleichsetzung der Wahrheit mit dem Sein oder der Substanz, welche gegen die Privilegierung des Scheins eingewandt werden könnte, durch die Entzifferung der bislang unter die Signatur der „Wahrheit“ fallenden Beständigkeit als lebensdienlicher Irrtum kompromittiert ist. Deswegen kann sie nicht als Einwand gegen die höchste Fülle des Scheins in der Perspektivenvielfalt eingebracht werden kann, der aus der tradierten Warte der Metaphysik als irrtümlich zu beurteilen ist. Da sich die Verteilung jeder Superiorität – auch in der Gliederung der Grade des Scheins – ebenfalls einer bestimmten Perspektive und Interpretationsabsicht verdankt, reflektiert sich der Perspektivismus als erkenntnistheoretische Position selbst und nimmt sich in den eigens eröffneten Möglichkeitsraum zurück, in dem er sich als eine von vielen plausiblen Auslegungen enthüllt. Den weitesten Abstand vom Irrtum der Verfestigung weist offenkundig der Schein als Unbestimmtheit auf, weil dieser als Gipfel und ursprüngliche Entfaltungsform der Perspektivität klassifiziert werden kann. Dass die in der organischen Welt beginnende Unbestimmtheit als dessen Ermöglichungsgrund über dem Schein als Anschein angeordnet ist, lässt sich nicht mehr im Hinblick auf eine verifizierende Bezugsnorm unterstreichen, sondern nur über die Tragweite der Anmessung⁷⁸³ an die freizusetzende Vielfalt der Kraft-Verhältnisse.

 In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst kritisiert Heidegger Nietzsches Wahrheitsauffassung, weil diese die tradierte Ansetzung der Erkenntnis als Zugangsweise zum Seienden unangetastet lasse. Gleichwohl deutet sich in dem Abschnitt Die neue Auslegung der Sinnlichkeit Heideggers Einwand bereits an, dass Nietzsches Konzeption der „Wahrheit“ als Festmachung die korrespondenztheoretische Voraussetzung einer adäquaten Anmessung an das Seiende perpetuiere. In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis aus dem Sommersemester 1939 wird Heidegger diesen Sachverhalt anhand des Chaos des Werdens spezifizieren. Die These, die fixierende und horizontbegrenzende „Wahrheit“ sei ein Irrtum, wohingegen die Kunst die metaphysische Beschaffenheit des Seienden, d. h. des Werdens besser widerspiegeln könne, beruht nach Heidegger auf der Annahme, die Wahrheit werde durch die Angleichung an das Wirkliche erwiesen, was der Kunst folglich eher gelingt als der „Wahrheit“. Vgl. zu Heideggers Hauptkritikpunkten an Nietzsches Wahrheitsauffassung: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, Nr. 234, S. 362: „Nietzsche aber kommt in seiner Besinnung auf die Wahrheit nicht ins Freie, weil er 1. Die Wahrheit auf ‚das Leben‘ (‚biologisch‘ – idealistisch) bezieht als Bestandsicherung desselben. ‚Das Leben‘ wird als Grundwirklichkeit angesetzt und ihm der allgemeine Charakter des Werdens zugesprochen. 2. Zugleich faßt Nietzsche ganz im Sinne der ältesten platonischen Überlieferung das ‚Sein‘ als das ‚Beständige‘, und als dieses ist es, vom Leben her und auf dieses zu gesehen, das Festgemachte und so jeweils ‚Wahre‘. 3. Dieser auf ‚das Leben‘ ausgerichtete und vom überlieferten Seinsbegriff her bestimmte Begriff der Wahrheit ist überdies ganz in der Bahn des Überkommenen, insofern die Wahrheit eine Bestimmung und ein Ergebnis des Denkens und des Vor-stellens ist. Der Ansatz dieser geläufigen Meinung bei Aristoteles.“

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Die erste Variante, die Unbestimmtheit, kann präferiert werden, weil diese Konzeption ebenjene Vielfalt am ehesten zu fassen vermag: In jedem Lebewesen wird permanent ein Streit mehrerer Triebe ausgefochten, in dem sich eine dominante Kraft als Perspektive emanzipiert, die einen Ausschnitt der Welt wahrnimmt. Dieser als Ganzheit empfundene Ausschnitt bietet sich sowohl in den weiteren, dem Lebewesen zugehörigen Perspektiven als auch in der Auslegung anderer Lebewesen, die ihrerseits durch differierende, konfligierende Machtverhältnisse hindurchgegangen ist, in einer veränderten Gestalt dar, sodass die Unauslotbarkeit und ateleologische Verfassung der Welt gewahrt wird. Je mehr der Schein als Unbestimmtheit eingeebnet wird, desto mehr reüssiert der Schein als irrtümlicher Anschein. Je weniger sich der in der Unbestimmtheit aufscheinende Schein in die Bestimmtheit der Berechenbarkeit, Klarheit und Übersichtlichkeit freigibt, desto weniger kann der Schein jedoch auch die Charakteristika der Lebensdienlichkeit erfüllen. Soll die freie Perspektivität des „Sich-durch-und Festsetzen im ständigen Wechsel“⁷⁸⁴ und somit das Reale sich weiterhin entfalten, ist die basale Erhaltung des Lebens vonnöten, die auf die strukturelle oder logische Eindämmung einer überschaubaren Welt innerhalb eines „jeweils maßgebenden“⁷⁸⁵ Horizontes gegründet ist. Der Irrtum der Fixierung kann daher nicht aus der Deutungshöhe der oszillierenden Pluralität dementiert werden, weil diese auf jenen angewiesen ist. Dies verdeutlicht Nietzsche in der von Heidegger zitierten Aufzeichnung Nr. 493 aus Der Wille zur Macht: Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.⁷⁸⁶

Obgleich Heidegger keine Typologie des Scheins entwirft, ordnet er sowohl dem die Eindeutigkeit konterkarierenden als auch dem einer solchen Einheitsfingierung sekundierenden Schein noch eine weitere Bedingung vor: Das Erscheinen und zum-Vorschein-Kommen von Etwas. Dieses Sich-Zeigen wird von Heidegger weder mit dem Aufgang des Seienden gleichgesetzt noch erschließt es sich als Bewusstseinsphänomen. Vielmehr markiert es „das Perspektivische selbst“⁷⁸⁷ als Begründendes, welches das „zum sich-zeigen-Bringen“⁷⁸⁸ verfügt. Indem Hei-

 Heidegger, N I, S. 217.  Heidegger, N I, S. 217.  Heidegger, N I, S. 217. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 493, S. 343. Vgl. Nietzsche, NF1885,34[253].Vgl. zu Nietzsches Erhebung des Lebens zum Wertmaßstab: Mihailo Duric, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin / New York 1985, S. 197 ff.  Heidegger, N I, S. 217.  Heidegger, N I, S. 217.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

degger das Perspektivische in die Semantik des „eigentlichen Scheinens“⁷⁸⁹ im Sinne des Erscheinenlassen des Erscheinenden überführt und den Schein folgerichtig als „perspektivisches Scheinenlassen“⁷⁹⁰ begreift, dreht er das Perspektivische aus der wahrheitstheoretischen Benennung als Schein heraus. Heidegger lagert das Perspektivische selbst der Disjunktion zwischen dem Schein als Unbestimmtheit und dem Schein als Anschein vor, obgleich es bei Nietzsche – wie oben geschildert – nicht vor oder losgelöst von der Triebvielfalt agieren kann. Damit wird Nietzsches metaphysikkritische Intention, welche die Beständigkeit des Wahren aus einem vorgängigen Agon der Triebe und ihrer jeweiligen Perspektive rekonstruiert, abgemildert. Zudem lässt Heidegger die von Nietzsche explizit formulierte Gradunterscheidung im Wesen des Scheins verschwinden. Es ist signifikant, dass Heidegger die ontologische Vieldeutigkeit der Weisen des Scheins auf die sprachliche Unklarheit der Bedeutung des Wortes zurückführt und die enigmatische Verschachtelung des Weltganzen dergestalt entkräftet. Nietzsche sei sich über das mögliche Missverständnis im Topos des Scheins allerdings im Klaren gewesen, wie Heidegger anhand einer Aufzeichnung Nietzsches verdeutlicht: Es gibt verhängnisvolle Worte, welche eine Erkenntnis auszudrücken scheinen und in Wahrheit eine Erkenntnis verhindern; zu ihnen gehört das Wort ‚Schein‘, ‚Erscheinung‘.⁷⁹¹

Trotz dieser reflektierten Mahnung Nietzsches weist Heidegger darauf hin, dass Nietzsche „des Verhängnisses, das in diesem Wort [Schein, J.K.], d. h. in der Sache liegt, nicht Herr geworden“⁷⁹² sei. Um diese These zu untermauern, zieht Heidegger eine Aufzeichnung Nietzsches heran, in welcher der Schein mit der (jeder Benennbarkeit entzogenen!) Realität gleichgesetzt wird: ‚Schein‘, wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge.⁷⁹³

 Heidegger, N I, S. 218.  Vgl. Heidegger, N I, S. 218: „Die Realität, das Sein, ist der Schein im Sinne des perspektivischen Scheinenlassens.“  Heidegger, N I, S. 217. Vgl. Nietzsche, Werke XIII, S. 50.  Heidegger, N I, S. 218.  Heidegger, N I, S. 218. Vgl. das gesamte Zitat: Nietzsche, NF August–September 1885, KGW VII, 3, 40 [53], S. 386: „Schein wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge, – das, dem alle vorhandenen Prädikate erst zukommen und welches verhältnißmäßig am besten noch mit allen, also auch den entgegengesetzten Prädikaten zu bezeichnen ist. Mit dem Worte ist aber nichts weiter auszudrücken als seine Unzugänglichkeit für die logischen Prozeduren und Distinktionen: also ‚Schein‘ im Verhältniß zur ‚logischen Wahrheit‘ – welche aber selber nur an einer imaginären Welt möglich ist. Ich setze also nicht ‚Schein‘ in Gegensatz zur ‚Realität‘ sondern

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Wie aus dem weiteren Fortgang des Zitats deutlich wird, meint Nietzsche hier mit dem Terminus der „Realität“ gerade nicht die wahrnehmende und wahrnehmbare Sinnlichkeit oder die hiesige Welt. Genauso wenig besitzt die Verwendung des Begriffs „Realität“ hier eine kritisch-subversive Stoßrichtung in dem Sinne, dass das, was als Realität, als Wirklichkeit, als Sein tituliert wird, sich selbst schon durch zahlreiche Interpretationen und Verfälschungen hindurchbewegt hat. Im Gegensatz dazu, wird „Realität“ von Nietzsche in der vorliegenden Aufzeichnung in einem metaphysischen Sinne als Ursprungsanzeige der Wesenheit der Dinge verstanden. Nietzsche möchte betonen, dass der Titel „Schein“ am ehesten dafür in Frage kommt, die Realität der Dinge zu bezeichnen, weil er in der Lage ist, vermeintlich unvereinbare Gegensätze und widerwendige Prädikate in sich aufzunehmen. Diese bilden in ihrer primordialen Mannigfaltigkeit die reichhaltige, kernhafte Beschaffenheit der Dinge vor dem Gebrauch logischer Kategorien und folglich vor der Transfiguration in eine vereinheitlichte, geordnete, jedoch „imaginative Wahrheits-Welt“.⁷⁹⁴ Der „Schein“ selbst darf keineswegs als substantielle Entität betrachtet werden, weil er in diesem Fall ebenjener fiktiven Welt anheimfiele. Er wird von Nietzsche in diesem Kontext zwar als Kontrastbegriff zur logozentrischen Wahrheit gefasst, dieser simplifizierten Wahrheitswelt indes nicht schlichtweg auf derselben Wirkungsebene opponiert: Er bezeichnet ihr Anderes, ihren entzogenen, unfasslichen Grund, an dem sämtliche logischen Operationen scheitern. In seiner Deutung des Satzes „‚Schein‘, wie ich es verstehe, ist die wirkliche und einzige Realität der Dinge“ klammert Heidegger diese entscheidende Komponente mitsamt dem Einbettungszusammenhang gänzlich aus, wenn er kommentiert: Das soll nicht heißen: die Realität ist etwas Scheinbares, sondern: Das Realsein ist in sich perspektivisch, ist ein zum Vorschein-Bringen, ein Scheinenlassen, in sich ein Scheinen, Realität ist Schein.⁷⁹⁵

Motiviert von der Intention, Nietzsche gegen sich selbst in Schutz zu nehmen und die in dessen Weltauslegung antizipierte Gefahr einer nihilistischen Produktion bloßen, täuschenden Scheins abzuwenden, geht Heideggers Auslegung offenkundig am Gehalt der Nachlassnotiz vorbei. Während Nietzsche „Schein“ und „Realität“ innerhalb des prälogischen und illusionsvorgängigen Abgrundes und

nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ‚Wahrheits-Welt‘ widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre ‚der Wille zur Macht‘, nämlich von innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.“  Vgl. Nietzsche, NF August–September 1885, KGW VII, 3, 40 [53], S. 386.  Heidegger, N I, S. 218.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Ursprungs lokalisiert, sie auf diese Weise von der täuschenden Scheinbarkeit der „Wahrheitswelt“ dissoziiert und zu einer Wesensbestimmung des wirklich Wahren fortschreitet, die nicht als bloße Lüge angegriffen werden kann, verlagert Heidegger beide Titel auf die ontische Ebene der Sinnlichkeit.Weil diese in Nietzsches Modell bereits in den Fängen der Verwandlung in das Imaginative liegt, müsste diese „Realität“ allerdings tatsächlich als „etwas Scheinbares“ etikettiert werden. Um dem Bedrohungsszenario einer unausweichlichen Irrtumshaftigkeit der Welt entgegenzuwirken, votiert Heidegger für die Gleichsetzung der Realität mit der nicht wahrheitstheoretischen, sondern phänomenalen Bedeutung des Scheins: „Die Realität, das Sein ist der Schein im Sinne des perspektivischen Scheinenlassens“.⁷⁹⁶ Dergestalt greift Heidegger erneut auf die Identität des Perspektivischen mit dem Erscheinenlassen zurück. Trotz der Ebenenverlagerung überschneidet sich Heideggers Definition des Realseins in gewisser Weise mit Nietzsches Bestimmung des Scheins als noch nicht in die täuschenden Denkoperationen eingegangene Realität, insofern auch dieser abgründige Schein als dasjenige verstanden werden könnte, was etwas erscheinen lässt. Heideggers offenkundige Eingliederung der (von Nietzsche an dieser Stelle in anderer Bedeutung gebrauchten Termini) des Scheins und der Realität in die Seiendes zur Erscheinung bringende Vollzugsweise der Sinnlichkeit ist umso bemerkenswerter, als er im Anschluss selbst die wesentliche Fortsetzungspassage der hier diskutierten Aufzeichnung zitiert: Ich setze also nicht ‚Schein‘ in Gegensatz zur ‚Realität‘, sondern nehme umgekehrt Schein als die Realität, welche sich der Verwandlung in eine imaginative ‚Wahrheits-Welt‘ widersetzt. Ein bestimmter Name für diese Realität wäre ‚der Wille zur Macht‘, nämlich von Innen her bezeichnet und nicht von seiner unfaßbaren flüssigen Proteus-Natur aus.⁷⁹⁷

Auf den ersten Blick ist es als überraschender Effekt zu verzeichnen, dass Heidegger auf Nietzsches ontologische Klassifikation des Willens zur Macht als innerer Wesensgrund der ungreifbar-proteischen Realität überhaupt nicht eingeht, sondern sich unmittelbar nach dieser Zitatwiedergabe mit dem Geflecht von Wahrheit, Lüge, Schein und Irrtum inmitten des Perspektivischen auseinandersetzt. Für diese kontextuelle Nichtbeachtung des Willens zur Macht lassen sich neben der Tatsache, dass Heideggers dominierender Themenfokus in diesem Zusammenhang auf der Klärung des Verhältnisses von Schein und Realität liegt, systematische Gründe anführen. Diese können plausibilisieren, weswegen Hei Heidegger, N I, S. 218.  Heidegger, N I, S. 218.Vgl. Nietzsche, NF August–September 1885, KGW VII, 3, 40 [53], S. 386.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

257

degger das einladend wirkende Angebot, seine vermeintlich metaphysische Nietzsche-Deutung durch den Rückgang auf ein unmissverständlich scheinendes Originalzitat zu stützen, ausschlägt. So baut Nietzsche an dieser Stelle mehrere Hindernisse ein, die verhindern, den Willen zur Macht naiv als metaphysisches Prinzip zu hypostasieren. Zum einen ist die Verwendung des Irrealis („wäre“) hervorzuheben, zum anderen streicht Nietzsche die metaphysische Priorisierung des Willens zur Macht im Akt ihrer Setzung sogleich durch, indem er den Willen zur Macht in mehrere Widersprüche verwickelt: Er setzt ihn als „bestimmten Namen“ in einer Realität in Geltung, die dadurch ausgezeichnet ist, unbestimmbar zu sein. Nietzsche wirbt dafür, der Wille zur Macht könne von Innen her ergründet werden, obwohl er ihn zuvor mit der „wirklichen und einzigen“ Realität identifiziert hatte, die gerade nicht auf einen inneren Grund befragt werden kann, weil ihr alle entgegengesetzten Prädikate zukommen könnten und weil sie eine solche Vertiefung in ihrem undurchdringlichen und regellosen Fluss konterkariert. Der Wille zur Macht soll paradoxerweise prätendieren können, das Wesen einer entgleitend-unbeschreiblichen Realität zu sein, obwohl er sich selbst jeder Zuschreibung fester Charakteristika verweigert, die für eine solche Bestimmungsgradierung unumgänglich wären. Diese Beschreibung des Willens zur Macht muss für Heidegger zwangsläufig einen geringen Reiz ausüben, weil er 1936/37 die Wesenszüge der Selbstüberwindung, Steigerung, der Entschlossenheit, der Durchsichtigkeit und des Befehlenskönnens favorisiert, während Nietzsche den Willen zur Macht im obigen Passus mit den gegenläufigen Eigenschaften des bestimmungslosen Fließens, der Unfassbarkeit, des Chaos und des Entzugs ausstattet. Auf der anderen Seite veranschaulicht Heideggers nonchalanter Vorbeigang an dieser Schlüsselstelle der Nietzscheschen Willenstheorie, dass die Exposition des Willens zur Macht als metaphysisches Prinzip 1936/37 noch nicht zu den Hauptabsichten seiner Nietzsche-Interpretation zählt. 1936/37 stehen die Ausstrahlungsbereiche (Kunst, Perspektivität), die phänomenologisch-affektiven Zugangsweisen (Entschlossenheit, Rausch, Befehl, Selbstgesetzgebung), die Figurationen (großer Stil, Joch), die Attribute und die Kontrastfolien (Platonismus und Nihilismus) des Willens zur Macht im Vordergrund. Sie sind von wesentlich gewichtigerer Bedeutung als die Untermauerung der willensmetaphysischen Singularitätsthese. In der gesamten Vorlesung ist der Nihilismus ein virulentes Thema. Wie hoch Heidegger die Gefahr der nihilistischen Bestimmung des Scheins bei Nietzsche veranschlagt, bezeugt sich, wenn er schreibt:

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nietzsche bestimmt sogar jenes Scheinen, das Perspektivische, zuweilen als Schein im Sinne der Illusion und der Täuschung und setzt diese der Wahrheit, die im Grunde auch Irrtum ist, gegenüber.⁷⁹⁸

Weil diese „Wahrheit“, d. h. der festgemachte Anschein, der sich in jeder „wahren“, vermeintlich unanfechtbaren Aussage und Evidenzbehauptung manifestiert, der Lüge im Sinne der Überdeckung und Verstellung des Wirklichen (dieses ist der perspektivische Schein) entspricht, gelangt Nietzsche zu dem Urteil: „Der Wahrhaftige endet damit, zu begreifen, daß er immer lügt“.⁷⁹⁹ Die Schwierigkeiten in Nietzsches Theorie des Scheins resultieren in großem Maße aus der Ambiguität des Begriffs der Lüge. Während die „Lüge“ in der soeben zitierten Charakterisierung des Wahrhaftigen mit der Wahrheit im Sinne des festgemachten Anscheins identisch ist, setzt Nietzsche die Lüge in der folgenden, von Heidegger ebenfalls herangeführten Aufzeichnung mit dem (Auf)Schein des Perspektivischen gleich, der die Erstarrung des Lebens im Sein, in der „Wahrheit“ verhindert: Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese ‚Wahrheit‘ zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben… Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins.⁸⁰⁰

Die unumgängliche Lüge kann zum einen die „Wahrheit“ als Anschein bezeichnen, die lebensnotwendig ist, weil sie die niemals einzuverleibende Wahrheit des ewigen Flusses – das unerschöpfliche Werden – stillzulegen und zurechtzumachen vermag.⁸⁰¹ Zum anderen kann der Status der Lüge auch der perspektivischen Vielgestaltigkeit zugesprochen werden, die nötig ist, um die von der festlegenden Wahrheit unterdrückte Verflüssigung des Lebens und die für dessen Vollzug

 Heidegger, N I, S. 218.  Vgl. Heidegger, N I, S. 218. Vgl. Nietzsche, NF-1882,3[1].  Vgl. Heidegger, N I, S. 220. Vgl. Nietzsche, NF 1887– 1888, KGW VIII, 2, 11 [415], S. 435. Für Capurro dokumentiert sich in der oben zitierten Nachlassnotiz der Entsetzen erregende Zwiespalt zwischen Wahrheit und Kunst. Vgl. Capurro, „Herausdrehung aus dem Platonismus“, S. 154.  Vgl. Ingeborg Schüßler, Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Verwechselt mich vor Allem nicht!, Heidegger und Nietzsche, S. 157– 179, hier S. 166: „Zwar ist die Irrtumswahrheit der Metaphysik, d. h. die vergegenständlichende Richtigkeit niemals Wahrheit und Richtigkeit in dem Sinne, daß sie mit dem Chaos des Werdens als Grundcharakter übereinstimmt. Insofern ist sie ohne Wahrheit: wahrheitslose Richtigkeit. Sofern sie sich aber im vorhinein mit dem Leben als dem sich übersteigernden Willen zur Macht zur Übereinstimmung bringt, d. h. im Entwurf der vergegenständlichenden Kategorien jeweils der erreichten Stufe der Macht entspricht, ja auf deren Übersteigerung abzielt, ist sie gerade dem, was jetzt allein noch als oberstes Richtmaß fungieren kann, gemäß: nämlich der im Willen zur Macht selbst waltenden Forderung nach Übersteigerung seiner selbst.“

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

259

konstitutive Steigerung zu aktivieren. Nietzsche begnügt sich nicht einfach mit der These eines Zusammenfalls der wahren und scheinbaren Welt, sondern er zeigt überzeugend auf, warum sich eine Ununterscheidbarkeit Bahn bricht, in der Realität und Schein miteinander verwachsen. Die immerwährende Wahrheit erweist sich im Gegenhalt gegen den zur Wahrheit gewordenen Schein als Irrtum; der Wahrheit beanspruchende Schein des perspektivischen Oszillationsgefüges enthüllt sich aus der Sichtbahn der zur Lüge gewordenen, erkennbaren und artikulierbaren Wahrheit als Illusion. Es gilt zum Abschluss dieses Kapitels zu verfolgen, wie Heidegger das Erkenntnisziel der Vorlesung – die ausgestaltende Sichtbarmachung des entsetzlichen Zwiespaltes von Wahrheit und Kunst inmitten der modifizierten, perspektivisch verfassten Sinnlichkeit – verwirklicht. Das sich wie ein Ariadnefaden durch die erste Nietzsche-Vorlesung hindurchziehende Motiv des Schaffens firmiert in diesem Zusammenhang als Ausgangspunkt und Schlussstein, wobei Heidegger viele der gewonnenen Begriffe und Bestimmungen der Ästhetik aufruft. Darüber hinaus dient die Fundierung der Stufenordnung der logischen und ästhetischen Wohlgefühle im Lebensvollzug als Einstieg: Das künstlerisch-menschliche Schaffen erbringt als „Formen und Gestalten“⁸⁰² die Konkretion der sich selbst durchsichtig werdenden Kunst.

1.5.4 Die endgültige Konfiguration des Entsetzen erregenden Zwiespalts: Der Antagonismus von festmachender Wahrheit und verklärender Kunst innerhalb der perspektivischen Realität Das Schaffen ist im „Wesen des Lebens gegründet“.⁸⁰³ Weil das Leben als perspektivisches Wechselgeschehen bestimmt wurde, konvergiert die bislang mit dem Sinnlich-Lebendigen identifizierte und der Wahrheit des Übersinnlichen gegenüberstehende Kunst im weiten Sinne mit der Vielfalt des Perspektivischen. Das Perspektivische spezifiziert wiederum den Haupttitel des Sinnlichen.Während diese Anbindung der Kunst an das Perspektivische gewissermaßen „unten“, an der basalen Erscheinungsform des Lebens ansetzt, bezieht Heidegger den großen Stil als Vervollkommnungsform der Kunst ein. So wie dieser die Kunst im weiten Sinne in der Unterstellung unter das Maß emporzieht und sublimiert, so verklärt er zugleich das „wachsende Leben“⁸⁰⁴, das Wilde und „Physiologische.“ Der große

 Heidegger, N I, S. 218.  Heidegger, N I, S. 218.  Heidegger, N I, S. 219.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Stil ordnet das Natürliche im Joch nicht nur unter, um es einzudämmen. Er lässt das Drängende zugleich zu, um sich die Möglichkeit der Verklärung weiterhin offenzuhalten.⁸⁰⁵ Diese beherrschenden Wesenszüge des großen Stils lassen sich analog auf den Widerstreit von Wahrheit und Kunst übertragen. Das Leben gewinnt nicht an Höhe, indem es sich mengenmäßig steigert. Es kann nur wachsen, wenn es sich in die Fülle seiner Anblicke und Perspektiven entfaltet. Das schaffende Leben hält sich in der Kunst ein Gesetz der Gestaltung entgegen, dass die Freisetzung und Ausbildung der Vielfalt gestattet: „Die Kunst bringt die Realität, die in sich ein Scheinen ist, am tiefsten und höchsten zum Scheinen im Aufschein der Verklärung“.⁸⁰⁶ Aufbauend auf dieser Leitthese rollt Heidegger zahlreiche der bereits zitierten Aphorismen und Aufzeichnungen Nietzsches erneut auf, um ihnen im zweiten Auslegungsgang einen angepassten Sinn zu verleihen. Die Kunst offenbart sich als die „höchste Aufgabe“⁸⁰⁷ des Lebens und als dessen „eigentlich metaphysische Tätigkeit“⁸⁰⁸, indem sie das Leben auf das freigibt und in dem erhellt, was dieses in seiner Tiefe und damit in einer Realität ist, die nicht durch den Anschein der Beständigkeit verschattet ist. Als Antagonist dieser als Irrtum dechiffrierten Persistenz entspricht die Kunst dem „Willen zum Schein“⁸⁰⁹, der das „Werden und Wechseln“⁸¹⁰ der zahlreichen, auf einen jeweils verschiedenartig erscheinenden Sachverhalt geworfenen Perspektiven erstrebt und koordiniert, wobei er sich niemals mit einer unverrückbaren oder vermeintlich endgültigen Einfassung des Lebens begnügt. Auf den ersten Blick scheint der Wahrheit nach der Erosion ihrer übersinnlichen Verankerung – bei gleichzeitiger Beibehaltung des Charakteristikums der Unwandelbarkeit, des „Seins“ – allein die negative Funktion zuzufallen, jenen changierenden Reichtum des Werdens zugunsten des Supremats einer sich vordrängenden, bestimmten Sichtbahn zurückzubeordern, was offenkundig eine Stagnation und Verkrustung zur Folge hat. Vor diesem Beurteilungsmaßstab, der sich aus dem Überwindungsanspruch des als Nihilismus markierten Platonismus herschreibt und die Lebenssteigerung als Antidot anempfiehlt, schlägt sich die

 Heidegger bestätigt diese Interpretation, wenn er schreibt: „Die Kunst im eigentlichen Sinne ist die Kunst des großen Stils, sie will das wachsende Leben selbst zur Macht bringen, nicht stillstellen, sondern zur Entfaltung befreien, verklären: 1. in die Klarheit des Seins setzen; 2. Die Klarheit als Erhöhung des Lebens selbst durchsetzen.“ Vgl. Heidegger, N I, S. 219.  Heidegger, N I, S. 219.  Vgl. Heidegger, N I, S. 219. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 24.  Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 24.  Heidegger, N I, S. 220.  Heidegger, N I, S. 220.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

261

Wahrheit als „Hemmung“⁸¹¹ und „Zerstörung“⁸¹² des Lebens nieder. Der „Wille zur Wahrheit“, zeigt sich in diesem Kontext nicht mehr als ein Erkenntnisstreben, welches das Sinnliche hin zu den maßgebenden, ewigen Ideen oder zum erlösenden Jenseits transzendiert und die empirische Welt somit desavouiert. Der Wille zur Wahrheit wird nun als immanente Festlegungsperspektive auf eine bestimmte Erscheinungsweise des Sinnlichen begriffen, das durch ebendiese Einhegung dafür einstehen soll, Singularitätstitel wie „die Wirklichkeit“ und „das Sein“ für sich zu vindizieren.⁸¹³ Es wird nach Heidegger transparent, weswegen Nietzsche im Zuge der kathartischen Einsicht in den entsetzlichen Zwiespalt die Überzeugung äußert, „daß es nicht möglich ist, mit der Wahrheit zu leben“.⁸¹⁴ Insofern „leben“ dadurch charakterisiert ist, sich immer wieder zu überwinden und beständig über sich Herr werden zu wollen, kann der Wille zur Wahrheit, d. h. zum Gleichbleibenden, Unbestreitbaren und Eindimensionalen nur ein ‚Symptom‘ der Degeneration des Lebens sein. Zur Plausibilisierung derartiger Überlegungen beruft sich Heidegger auf das bereits zitierte, folgende Diktum: Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn. ⁸¹⁵

Heidegger versteht die „Wahrheit“, an der die Menschen gemäß dem Zitat zugrunde zu gehen drohen, erneut nicht als Wahrheit des Nihilismus. Wenn die tiefe Wahrheit in der desperaten, lähmenden und weisen Schau der Furchtbarkeit, Sinnlosigkeit und Ungerechtigkeit der Realität liegt, angesichts derer es sich nicht zu leben lohne, bekommt der Satz einen geänderten Richtungssinn. Dass dieser Sinn der von Nietzsche intendierten Bedeutung näher kommen kann als die von Heidegger gegebene Interpretation, indiziert Nietzsches Einleitung des Satzes, der im Original mit „Die Wahrheit ist häßlich“⁸¹⁶ begonnen wird. Soll angesichts des unerträglichen Abgrundes die gerade durch die silenische Weisheit gerechtfer-

 Heidegger, N I, S. 219.  Heidegger, N I, S. 219.  Vgl. Heidegger, N I, S. 220.Vgl. Schüßler, Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger, S. 165: „Alle vermeintliche Richtigkeit unserer gegenständlichen Erkenntnis – die, wie Nietzsche in einem Fragment aus dem Frühjahr 1888 sagt, immer nur ‚relative Richtigkeit‘, d. h. Subjekt- und Lebens-relative Richtigkeit ist, enthüllt sich so als wahrheitslose Richtigkeit. Denn sofern sie sich auf die vorgängig von ihr selbst zugerichteten Gegenständlichkeiten richtet, stimmt sie eben gerade nicht mit der Realität selbst überein.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 72.  Heidegger, N I, S. 219. Vgl. Nietzsche NF 1887– 1888, KGW VIII, 2, 11 [108], S. 293. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 822, S. 554.  Vgl. Nietzsche NF 1887– 1888, KGW VIII 2, 11 [108], S. 293.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 822, S. 554.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

tigte und als einzig adäquate Handlung beschriebene Lebensverneinung nicht die Oberhand gewinnen, wird neben einer Fähigkeit des Vergessenkönnens die Installierung des schönen Scheins, der die Wahrheit in die Verborgenheit zurückdrängt, unumgänglich. Im Aphorismus Nr. 107 (Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst) der Fröhlichen Wissenschaft bleibt Nietzsche der Grundauffassung seines Werkes Die Geburt der Tragödie treu. Die Wahrheit äußert sich auch in dem Aphorismus Nr. 107 als redliche und desillusionierte (und nunmehr wissenschaftlich untermauerte) Entdeckung der irrtumserfüllt-ungerechten Verfasstheit der einen, sinnlichen Welt, die nicht zugunsten eines trostspendend-ewigen Seins überschritten werden kann. Die fingierende Kunst ist nach der Umdrehung des Platonismus notwendig und von höchster Relevanz, um über die bestürzende Wahrheit hinwegzutäuschen und von dieser unaufhebbaren Wesensbestimmung der Realität abzulenken: Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. – Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Konsequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den guten Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluß des Werdens tragen – dann meinen wir eine Göttin zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können. ⁸¹⁷

Die Titel „Wahrheit“ und „Kunst“ würden gemäß Nr. 107 der Fröhlichen Wissenschaft bei Platon und bei Nietzsche in einer vollständigen Bedeutungskontinuität gebraucht: Die Wahrheit bezeichnet das wahrhaft Seiende, die Kunst erbringt hingegen eine bloße Produktion von Schein. Das einzige, was sich ändert, ist der abgründige Erstreckungsbereich, in dem die Wahrheit bei Nietzsche situiert wird. Zudem darf die Kunst bei Nietzsche gerade keine Mimesis der Wahrheit sein, sondern muss deren gänzliche Verfremdung erwirken können. Obwohl die Entschleierung der Wahrheit den Niedergang des Lebens implizieren müsste, ist sie in dem Sinne „mehr wert“ als die Kunst, als diese ihre wesentliche Funktion allein aufgrund der entsetzlichen Wahrheit ausüben kann, auf die sie reagieren muss und aus der sie hervorgeht. Die nihilistische Wahrheit

 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 107, KSA 3, S. 464.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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reicht tiefer als die Ausdeutungen der Wahrheit als Idee und als dem Werden inadäquate, irrtümliche Festmachung. Die verborgene Wahrheit ist es, die jene Ansetzungen des Wahren motiviert, obgleich diese im Vergleich zu der ihr innewohnenden, existenziellen Verschärfung des Ernstes wie ein heiteres Spiel anmuten. Selbst die Auslegung der Wahrheit als perspektivischer Schein müsste noch als lebensnotwendige, als narkotisierende Lüge entlarvt werden; die Auffassung, das Wahre sei nach der Umdrehung des Platonismus das Sinnliche, in dem die Kunst wichtiger und mehr wert sei als die Wahrheit, als geistreicher Eskapismus beurteilt werden. Aufgrund ihres tragischen, nicht aushaltbaren und in jedem Akt der Interpretation notwendigerweise überdeckten Gehalts, ist die radikale Infragestellung jeglicher Sinnhaftigkeit dem oszillierenden Interpretationsgeschehen entzogen, das Nietzsche in der Gestalt des perspektivischen Aufscheinens zur Gesetzmäßigkeit der Realität, zur Wahrheit des Seienden erhebt. Heidegger sieht in der obigen Notiz hingegen das im fünften Satz über die Kunst („Die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit“⁸¹⁸) benannte Wertkriterium repräsentiert. Weil er in der Gestalt des Lebens die ihm korrespondierende Messeinheit empfängt, kann der Vorrang der Kunst begründet werden: Indem die Kunst das Leben in der Widerspiegelung und Verdichtung des diesem eignenden Scheinens eher steigert, ist sie mehr wert als die Wahrheit, die dessen Pluralität einschränken muss, um zur Geltung zu kommen. Die Kunst gewährt jene Ausweitung des Blickbereiches, die von der Erkenntnis einengend fixiert werden muss, will sie sich das Lebensphänomen einverleiben.⁸¹⁹ Durch die Entschlüsselung dieser Valenz kann Heidegger zum Zentrum vorstoßen und sich dem Entsetzen erregenden Zwiespalt widmen. In dem scharfen Konkurrenzgefüge zwischen Wahrheit und Kunst droht sich aufgrund der Klassifikation der Wahrheit als „Hemmung“⁸²⁰ und „Zerstörung“⁸²¹ des Lebens nicht einfach jene Asymmetrie umzukehren, in welcher der Platonismus für den Vorrang der Wahrheit votierte. Weil die Kunst als Gegenbewegung gegen den Nihilismus und als steigernde Verklärung des Perspektivischen eine herausragende Auszeichnung erfahren hat, droht die Wahrheit in Folge dieser Entwicklung gänzlich aus der Realität ausgeschlossen zu werden. In diesem Fall könnte es keinen Zwiespalt, sondern – wie in der Politeia – einzig einen unüberbrückbaren Abstand geben.

 Heidegger, N I, S. 219.  Vgl. Heidegger, N I, S. 573: „Kunst und Erkenntnis ernötigen sich wechselseitig in ihrem Wesen. Kunst und Erkenntnis leisten in ihrem Wechselbezug erst die volle Bestandsicherung des Lebenden als eines solchen.“  Heidegger, N I, S. 219.  Heidegger, N I, S. 219.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Um die Wiederkehr des Abstandverhältnisses und den Herausfall der Wahrheit aus der Realität zu umgehen, sind zwei Aufgaben zu lösen: Erstens muss eine partielle Aufwertung der Wahrheit aktualisiert werden, die es zweitens gestattet, sie in einem Medium der Zusammengehörigkeit von der Kunst zu scheiden. Die Rehabilitierung der Wahrheit (im Sinne der Festmachung des Anscheins) erhält ihre Legitimität vor dem Hintergrund der Frage, ob das von der Kunst angetriebene, entfaltende Aufscheinenlassen der Lebensfülle, das jede Festlegung einer bestimmten Perspektive und die Beständigkeit konterkariert, ein autosuffizientes Geschehen darstellt. Das Leben kann sich nur erhalten, wenn es sich permanent überwindet und sich in neuen Gestalten formiert. Aus diesem Grund scheint die Kunst sowohl als Movens der Überhöhung als auch der Konstanz zu fungieren. Diese Konstanz ist jedoch nichts anderes als die Erhaltung in der Disposition der Verklärung, im beharrlichen Werden. Die Realität muss immer wieder angereichert werden, damit sie diese sein und bleiben kann. Dazu ist sie allerdings auf die Ankunft in einer Verankerung angewiesen, die sie übersteigen kann. Deswegen ist eine Umgrenzung vonnöten, die ein ausuferndes Verfließen des Lebens verhindert. An dieser Stelle bestätigt sich die These, dass das Paradigma des großen Stils, der die Befreiung und zugleich die Bändigung des Natürlichen koordiniert, in die inhaltliche Ausfüllung des Zwiespalts von Wahrheit und Kunst hineinstrahlt. Genau wie im Falle des großen Stils, in dem entweder das Verlangen nach Verewigung oder das Verlangen nach Zerstörung schöpferisch wirksam ist, wird auch in der abschließenden Wesensklärung des entsetzlichen Zwiespalts das Verhältnis von Sein und Werden virulent. Dies manifestiert sich in Heideggers prägnanter Darlegung der Verbindung und Unterscheidung des Werdens im Aufschein und des Seins des Anscheins: Damit das Reale (Lebendige) sein kann, muß es einerseits sich in einem bestimmten Horizont festmachen, also im Anschein der Wirklichkeit bleiben. Damit aber dieses Reale real bleiben kann, muß es andererseits sich über sich hinaus verklären, im Aufscheinen des in der Kunst Geschaffenen sich überhöhen, d. h. gegen die Wahrheit angehen. Indem Wahrheit und Kunst gleichursprünglich zum Wesen der Realität gehören, gehen sie auseinander und gegeneinander.⁸²²

 Heidegger, N I, S. 220. Auf der Basis ihrer Grundthese, wonach sich die Philosophie in Heideggers erster Nietzsche-Vorlesung allein im Medium der Kunst zu revolutionieren vermag und sich deswegen nicht mehr auf die Erkenntnis als Zugang zur Wahrheit des Seienden berufen kann, vertritt Marion Heinz die Auffassung, dass diese im obigen Zitat geschilderte Form der Umkehrung unvollkommen sei und den Nihilismus nicht überwinde.Vgl. Heinz, „Schaffen“. Die Revolution von Philosophie, S. 178 – 179. Demgegenüber betont Rafael Capurro, dass die Kunst nach der Beseitigung der platonischen Dichotomie keineswegs mit der Sinnlichkeit im Ganzen zusammenfällt. Aus diesem Grunde muss in der Herausdrehung aus dem Platonismus eine Entfaltung der ge-

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Nachdem das der Wahrheit zugesprochene Charakteristikum einer „Hemmung des Lebens“⁸²³ zugunsten der notwendigen Sicherung des Lebens in einem Horizont verabschiedet wurde, kann in der Simultaneität des Zusammenkommens und Auseinanderklaffens von Wahrheit und Kunst in der Einheit des perspektivischen Scheins der Rangabstand beider nivelliert werden. Obzwar beide dergestalt „gleich notwendig sind für die Realität“⁸²⁴, kann Heidegger zugestanden werden, dass sie innerhalb der Realität in einem Zwiespalt stehen, gerade indem sie gegenwendige Funktionen erfüllen, die einer einzigen Instanz zugutekommen sollen. Dennoch drängt sich nun der diametral entgegengesetzte Eindruck auf, dass in der exponierten Figuration wie im Phaidros wieder der Einklang überwiegt, weil Wahrheit und Kunst gemeinsam die einzige Realität strukturieren. In der Auseinandersetzung mit dieser Problemkonstellation wird der Kreis der Vorlesung geschlossen. Die bislang nicht verbundenen Motive des Nihilismus und des Entsetzen erregenden Zwiespaltes treten zusammen. Es ist das Ereignis der Offenbarwerdung des Nihilismus – der Tod Gottes – der die zerrissene Entzweiung von Wahrheit und Kunst vor der Zurücknahme in den harmonischen Einklang bewahrt. Wesentlich ist, dass allein das Schaffen der Kunst eine wegweisende Gründung von Bedeutsamkeit innerhalb des sein sinnverbürgendes Schwergewicht einbüßenden Seienden inaugurieren kann: Dieses Verhältnis wird aber erst entsetzlich, wenn wir bedenken, daß das Schaffen, d. h. die metaphysische Tätigkeit als Kunst, noch eine andere Notwendigkeit erhält in dem Augenblick, wo die Tatsache des größten Ereignisses, des Todes des moralischen Gottes, erkannt ist. Jetzt ist das Dasein für Nietzsche nur noch im Schaffen zu überstehen. Die Überführung der Realität in die Macht ihres Gesetzes und ihrer höchsten Möglichkeiten gewährleistet allein noch das Sein. Schaffen aber ist als Kunst Wille zum Schein, es steht in der Entzweiung zur Wahrheit.⁸²⁵

gensätzlichen Vermögen von Wahrheit und Kunst erfolgen. Dieses Gegensatzverhältnis stellt nach Capurro keine unzulängliche Umkehrung des tradierten platonischen Ranggefüges dar, sondern bezeugt die Anpassung an die scheinhafte Verfassung der Sinnlichkeit, die aus der Überwindung des Platonismus resultiert. Vgl. Capurro, „Herausdrehung aus dem Platonismus“, S. 153.  Vgl. Heidegger, N I, S. 219.  Heidegger, N I, S. 221.  Heidegger, N I, S. 221. Im Ausgang von dieser Akzentuierung der Notwendigkeit der Kunst nach dem Tode Gottes und der Überführung der Realität in die ihr zukommende Gesetzmäßigkeit zeigt Marion Heinz auf, dass die Kennzeichnung der Kunst als Wille zum Schein aufzugeben ist. Heinz hat Recht, wenn sie betont, dass die Kunst andernfalls allein als Produktionsform von nichthaften Irrtümern firmieren müsste. Dergestalt wäre die Kunst in ihrer Seinsweise noch nihilistischer als die übersinnliche Wahrheit Platons, die sich als Ursprung des Nihilismus herauskristallisierte. Heinz ist darüber hinaus zuzustimmen, wenn sie die Lösung dieser Problematik mit Nietzsche und Heidegger in der Auflösung des Dualismus zwischen wissensbasierter Wahr-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

heit und scheinhafter Kunst entdeckt. Aufgrund des Wegfalls der Disjunktion wird die Kunst nach der Verabschiedung des Primats der Erkenntnis nur prima facie in einer Weise frei gesetzt, in der sie als Schein die Organisation der Realität zu übernehmen hätte. In der Folge hypostasiert Heinz allerdings die Rolle der Kunst. Im Rückgriff auf die oben zitierte Heidegger-Stelle sieht Heinz die Kunst in der Aufgabe einer „Gewährleistung des Seins“ vollkommen auf sich selbst gestellt. Heinz exkludiert die Erkenntnis und die Festmachung gänzlich aus der nunmehr anerkannten Realität der Sinnlichkeit. Deswegen kann Heinz den „Entsetzen erregenden Zwiespalt“ nicht als letzte und entscheidende Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Kunst beurteilen. Sie bewertet das Entsetzen nur als ein Durchgangsstadium, da sie die innerhalb des Zwiespalts angesiedelte Wahrheit nicht als intrasinnliche Festmachung versteht. Heinz setzt die Verfestigung gänzlich mit der im platonischen Sinne als Garant der Beständigkeit des Seins begriffenen Wahrheit gleich. Dergestalt lässt sie unberücksichtigt, dass sich in der Herausdrehung des Platonismus ein eminenter Wandel der Funktion der Wahrheit vollzieht. Die Wahrheit wird zum einen als Titel der sinnlichen Wirklichkeit etabliert. Zum anderen wird die Wahrheit als stabilisierende Komponente in diese Wirklichkeit eingefügt. Heinz lässt also die Ambiguität im Begriff der Beständigkeit, der bei Platon die Ideenordnung und bei Nietzsche die temporäre Befestigung und Einhegung bestimmter Perspektiven meint, weitgehend außen vor. In logischer Konsequenz gelangt Heinz zu der problematischen Ansicht, es sei der tradierte, platonische Antagonismus von Wahrheit und Kunst, der in der Gestalt des entsetzlichen Zwiespaltes in rudimentärer Form gewahrt bleibe. Gegen die sehr stringente Interpretation von Marion Heinz ist vorzubringen, dass die Wahrheit und die Erkenntnis nicht aus der perspektivischen Sinnlichkeit wegzudenken sind. Nur durch die Kooperation von Wahrheit und Kunst in der perspektivischen Sinnlichkeit ist eine Bestandsicherung des Lebens möglich. Dabei ist es erforderlich, dass beide in einem entsetzlichen Zwiespalt zueinander stehen, d. h. jeweils andere Aufgaben übernehmen und dabei miteinander ringen. Im Grunde räumt Heinz dies selbst ein, wenn sie darauf verweist, dass die Kunst nicht in der Lage sei, eine Perspektive als solche zu befestigen. Vgl. Marion Heinz, „Schaffen“. Die Revolution von Philosophie, S. 180 – 181: „Der Entsetzen erregende Zwiespalt von Kunst und Wahrheit zeigt sich damit in aller Schärfe: Wenn Erkenntnis und Wahrheit als das Bestand und Beständigkeit in ontischer und ontologischer Hinsicht Gewährleistende angesetzt sind und die Kunst im Gegensatz dazu als Wille zum Schein bestimmt ist, dann kann die Kunst nicht leisten, was sie zufolge der Einsicht in den Tod Gottes zu leisten hat. Mit dem Hinfälligwerden des vormals Wahren und der Diskreditierung der Erkenntnis als Zugangsweise zum Wahrheit wird die Realität zwar ‚in die Macht ihres Gesetzes‘ als Über-sich-hinaus-Schaffen überführt, so jedoch dass es zunächst so aussieht, als steigere sich damit der Nihilismus nur ins Extrem, insofern nämlich, als die Kunst qua Wille zum Schein nur den illusionären und unwirklichen Charakter des als Sein angesetzten perspektivischen Charakters zum Vorschein bringen könnte, so dass es letztlich auf die bestandlose Iteration von Weisen bloßen Scheinens, von Lügen über Lügen hinausliefe. Die Kunst kann also weder eine Perspektive festmachen, um damit der Erhaltung des Lebens zu dienen, noch kann sie das perspektivische Scheinen als Wesen der Realität, als Sein des Seienden gewährleisten. Nun verhält es sich aber nach Heidegger so, dass nur im Durchdenken dieses Gedankens die Ohnmacht der auf sich selbst gestellten Kunst, und d. h. des auf sich selbst verwiesenen Lebens, der Ansatzpunkt zur grundlegenden Überwindung des Nihilismus im Sinne der Herausdrehung aus dem Platonismus zu finden ist. Indem erkannt wird, dass das Entsetzen selbst nur der Schatten der unangetastet gebliebenen Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Kunst ist, ist der Weg zur Überwindung des Nihilismus eröffnet: Die alte Opposition von Kunst und Wahrheit, der gemäß Kunst wahrheitsloser Schein ist und Wahrheit die im Wissen erlangte Be-

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

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Der Widerspruch zwischen dem höheren Wert der Kunst und ihrer Ebenbürtigkeit mit der Wahrheit, der innerhalb der Realität die „gleiche Notwendigkeit“ zukommt, bleibt demnach nur bestehen, wenn die geschichtliche Dringlichkeitsdimension mitsamt der darin aufscheinenden „andere[n] Notwendigkeit“⁸²⁶ nicht berücksichtigt wird. Verklärung und Festmachung sind nicht allein Prinzipien, die das perspektivische Scheinen als geschichtslose Erscheinungsweise des Seienden perpetuieren, sondern entfalten ihre Wirkung erst in der Respondenz auf die Herausforderung der Nihilismus. Die Kunst ist mit dem Schaffen, d. h. der Selbstgesetzgebung des nach dem Tod Gottes auftretenden Übermenschen⁸²⁷ aufs Engste verknüpft. Bereits vor dem Akt der gelungenen Herausdrehung aus dem Platonismus vermochte die Kunst nach Heidegger das sinnliche und steigende Leben im Ganzen zu repräsentieren. Die Gründung eines den moralischen Gott verabschiedenden und eine geschichtliche Zäsur hervorbringenden Maßes kann allein in dem zur einzigen Realität gewordenen Sinnlichen gestaltet werden. Deswegen ist die Kunst imstande, den Vorrang vor der Wahrheit zu behaupten.

1.5.5 Die Ursprungsrekonstruktion des Gedankens der ewigen Wiederkehr und die Duplizität des „perspektivischen Scheinens“ Zu Beginn der Vorlesung wurde die als Wille zum Schein erschlossene Kunst zur „durchsichtigsten Gestalt des Willens zur Macht“⁸²⁸ heraufgestuft. Diese Bestimmung wird zum Ende der Vorlesung erneut aufgenommen. Zwar kann auch der Wille zur Wahrheit als ein Wille zur Macht gefasst werden, insofern sich in der Festmachung des unbestimmten Werdens selbst eine Form höchster Stärke manifestiert, die als Ausweis des gesteigerten Lebens fungieren kann. Der Wille zum Schein ist jedoch einerseits der vollendete Wille zur Macht, weil er zu dem hinstrebt und das bejaht, was das Leben im Kern ist – die freigesetzte Selbstüberwindung innerhalb sich wechselseitig interpretierender und vermengender Kraftkonstellationen. Andererseits bedient er sich in diesem Sich-Einlassen auf den „Grundcharakter des Seienden“ der primären Vollzugsweise des Willens zur Macht, indem er das drängende Hinweggehobensein des Sinnlichen kanalisiert, gerade weil er es entfaltet und verklärt. Im Zuge der Gleichsetzung der Kunst mit dem Willen zum Schein und dessen Privilegierung als Proprium des Willens zur ständigkeit, ist aufzugeben. Wird die Bewertung der Kunst aus der Gegenstellung zur Erkenntnis befreit, ergibt sich eine neue Rangordnung…“  Heidegger, N I, S. 221.  Vgl. Heidegger, N I, S. 223.  Vgl. Heidegger, N I, S. 68.

268

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Macht ist das „Werden und Wechseln“ endgültig zum Kennzeichen des Seins des Seienden als „Wesen der Realität“ geworden. Der Wille zur Macht erscheint demgemäß als „dasjenige Sein, das sich selbst will, indem es das Werden sein will“.⁸²⁹ Besonders im Vorblick auf die Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 lässt sich sagen, dass diese Beschreibung des Willens zur Macht, die inmitten der Auseinandersetzung mit der Kunst vorgetragen wird, Heideggers ausgiebige Beschäftigung mit der Lehre der ewigen Wiederkehr beglaubigt. Dass im perspektivischen Scheinen Wahrheit und Kunst, Sein (Beständigkeit) und Werden (Verklärung) zusammengedacht werden können und der Schulterschluss zwischen dem Verlangen nach Ewigkeit und dem Verlangen nach Zerstörung im großen Stil gewährleistet wird, leitet Heidegger folglich nicht gänzlich aus der metaphysischen Dignität und Struktur des Willens zur Macht ab: Die Kunst als Wille zum Schein ist die höchste Gestalt des Willens zur Macht. Dieser aber ist als der Grundcharakter des Seienden, als das Wesen der Realität, in sich dasjenige Sein, das sich selbst will, indem es das Werden sein will. So versucht Nietzsche im Willen zur Macht die ursprüngliche Einheit des alten Gegensatzes von Sein und Werden zusammenzudenken. Sein als die Beständigkeit soll das Werden ein Werden sein lassen. Der Ursprung des Gedankens der ‚ewigen Wiederkehr‘ ist damit gewiesen.⁸³⁰

Heidegger rekurriert hier auf das metaphysische Verhältnisgefüge von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr, das in der Besprechung des Abschnittes Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung als zweites der insgesamt vier entworfenen Beschreibungsmodelle systematisiert wurde.⁸³¹ Der Wille zur  Heidegger, N I, S. 221.  Heidegger, N I, S. 221. In der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen aus dem Sommersemester 1937 verknüpft Heidegger die „Umprägung des Werdenden zum Seienden“, die er im Rekurs auf Nr. 617 von Der Wille zur Macht nunmehr allein durch den höchsten Willen zur Macht vollziehen lässt, mit dem Schaffen. Doch ist es auch in dieser Konzeption keineswegs so, dass der Wille zur Macht sich die ewige Wiederkehr erschaffen würde. Stattdessen wird er im Schaffen mit ihr vereinigt, weil sich die Transformation des Unbeständigen zum Beständigen (d.i. das Schaffen) nicht in der sukzessiven Zeit, sondern nur im Augenblick ereignen kann. Ebendieser Augenblick muss jedoch in die ewige Wiederkehr eingelassen sein, weil sie im Augenblick das bislang Gewordene das künftig Werdende sein lässt. Vgl. Heidegger, N I, S. 419: „Schaffen ist als über sich hinaus Schaffen zuinnerst: im Augenblick der Entscheidung stehen, in welchem Augenblick das Bisherige und Mitgegebene in das vorentworfene Aufgegebene hinausgehoben und so bewahrt wird. Diese Augenblicklichkeit des Schaffens ist das Wesen der wirklichen, wirkenden Ewigkeit, die ihre höchste Schärfe und Weite gewinnt als der Augenblick der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Die Umprägung des Werdenden zum Seienden – der Wille zur Macht in seiner höchsten Gestalt – ist in seinem tiefsten Wesen Augenblicklichkeit, d. h. ewige Wiederkehr des Gleichen.“  Vgl. hierzu das Kapitel 1.1 dieser Arbeit.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

269

Macht ist als Sein des Seienden gemäß seiner innersten Natur ein Werden, das in seinem Wollen darauf abzielt, sich als das Sichsteigernde immerwährend zu erhalten; d. h. das Sein im Werden zu haben. Heidegger legt den Gedanken nahe, dass Nietzsche angesichts der Frage und Problemstellung, ob und wie das in der Mehrdeutigkeit des Willens zum Schein seine Gipfelgestalt erreichende Leben bereits in seinem zugrundeliegenden Wesen es selbst als Übersteigbares sein kann, zu dem bahnbrechenden Entwurf der ewigen Wiederkehr getrieben wird, die das Werden stabilisiert, ohne es als Werden aufzuheben. Im Hinblick auf die zahlreichen Neuanläufe und Verschiebungen, die der Begründungsweg von ewiger Wiederkehr und Wille zur Macht im Laufe der Nietzsche-Vorlesungen nehmen wird, ist signifikant, dass die ewige Wiederkehr an dieser Stelle dazu verhelfen soll, eine zugunsten des Werdens ausfallende Einseitigkeit im Willen zur Macht auszugleichen, deren Auflösung ihm dennoch vollständig zugeschlagen wird. Diese in die Inhärenz des Willens zur Macht zurückverlagerte Synthesebildung zeigt Heidegger deutlich mit der Formulierung an: „So versucht Nietzsche im Willen zur Macht die ursprüngliche Einheit des alten Gegensatzes von Sein und Werden zusammenzudenken“.⁸³² Wie in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) wird die ewige Wiederkehr auf diese Weise in den Willen hineingedreht.⁸³³ Gegenüber der von Heidegger suggerierten Vergleichbarkeit ist darauf hinzuweisen, dass der Zusammenfall von Sein und Werden im Willen zur Macht, der über die ewige Wiederkehr koordiniert wird, sich nicht uneingeschränkt – und wenn, dann nur auf der semantischen Oberfläche – mit der Verflechtung von Sein und Werden parallelisieren lässt, die zum Wesen der perspektivischen Realität gehört. Die über die Horizonteingrenzung herbeigeführte Beständigkeit des Seienden in einem kontrollierbaren Anblick ist ein Vorgang innerhalb des sich übersteigenden, in sich perspektivischen Schaffens. Das Schaffen benötigt das Festzumachende, um sich in seinem Übersich-Hinausgegangensein zu manifestieren. Ebenjene Perspekivenvielfalt geht in der Beständigkeit einer Wiederholbarkeit des Gewordenen als des Werdenden, die durch die ewige Wiederkehr erbracht wird, verloren. Trotzdem sucht die bereits erwähnte Marion Heinz auch in Bezug auf diese Ursprungsanzeige der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen ihre These zu validieren, der durch die Herausforderung des Nihilismus hindurchgegangene Wille zur Macht müsse nicht auf die Verfestigung des Werdens im Medium der Erkenntnis zurückgreifen:

 Heidegger, N I, S. 221.  Vgl. hierzu das Kapitel 1.7 dieser Arbeit.

270

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Wenn der Wille zur Macht als Sein des Seienden angesetzt ist und wenn zufolge der Einsicht in den Tod Gottes im Durchgang durch den Entsetzen erregenden Zwiespalt die Erkenntnis als Zugangsweise zum Wahren preiszugeben ist, muss das Schaffen das Sein ‚gewährleisten.‘ Das aber ist nur so möglich, dass sich das Wollen selbst grenzenlos, ewig als Werden will. So entspringt der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen aus dem Entsetzen erregenden Zwiespalt von Kunst und Wahrheit als der erste vom zu sich gekommenen Willen zur Macht geschaffene triumphale Gedanke, durch den der Nihilismus zugunsten einer vollkommenen Selbstbejahung des auf sich selbst verwiesenen Sinnlichen in seinem Scheinen überwunden ist. Auf diese Weise hat Heidegger die Intention, Nietzsches Denken als Vollendung der Metaphysik zu erweisen, eingelöst, und zwar indem der Zusammenhang seiner Lehren vom Willen zur Macht, von ewiger Wiederkehr und der von der Umwertung der Werte herausgestellt wurde. Metaphysisch ist es, das Sein als Anwesen, Beständigkeit zu denken. […] Der durch die Erfahrung seiner Ohnmacht hindurch zu sich selbst als höchster Macht gekommene Wille hat es nicht mehr nötig, das Werden in der Erkenntnis durch Festmachen einer Perspektive in den Anschein des Seins zu bringen – er ermöglicht es als höchste Form seines Schaffens, Sein und Werden ohne Verfälschung des einen durch das andere zu versöhnen.⁸³⁴

Bezüglich dieser Überlegungen von Marion Heinz ist nochmals zu unterstreichen, dass zwei Ebenen unterschieden werden müssen: Auf der einen Seite die generelle Konservierung des metaphysischen Prinzips, auf der anderen Seite die spezifische Art und Weise, wie dieses Prinzip die für es konstitutive Steigerung in den Wechselfällen der mannigfaltigen und perspektivenreichen Realität vollführen kann.Wenn die Frage in den Fokus rückt, wie der Wille sich als das Werden selbst wollen kann, wie er seinen Status als Wesen der Wirklichkeit auf Dauer stellen kann, wird dies nur gelingen, wenn er in seinem Vorauswollen auf sich selbst als den Gleichen zurückkommt. In dieser Hinsicht erweist sich die ewige Wiederkehr des Gleichen als unverzichtbar. Anders verhält es sich, wenn gefragt wird, wie der Wille zur Macht als Kunst ungeahnte Ausblicke eröffnen und den niemals stillstehenden Wechsel als Turnus der Realität immer wieder zum Ausdruck bringen kann. Dazu ist es notwendig, dass ihm die gewandelte Erkenntnis in einer gegenläufigen Entzweiung opponiert und ihm zugleich sekundiert. Insofern die Erkenntnis nicht mehr auf die Entdeckung einer an sich seienden Wahrheit konzentriert ist, sondern auf die Vereinfachung der von der Kunst generierten Vielheit angelegt ist, ermöglicht sie ihm, perennierend aus der vorgehaltenen Horizontfestlegung auszubrechen. Hingegen unterstreicht Ingeborg Schüßler in sehr überzeugender Weise, dass die Erkenntnis mitsamt dem Willen zur Wahrheit dem Willen zur Macht keineswegs entgegengesetzt sein muss. Nach Schüßler gehört sie ihm aber auch nicht nur deswegen zu, weil sie eine festgemachte Basis der Übersteigerung offeriert. Schüßler plädiert dafür, dass der Wille zur Wahrheit selbst das entscheidende  Heinz, „Schaffen.“ Die Revolution von Philosophie, S. 182.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

271

Organ der Machterhöhung bilde, weil das wiederholte Gestalten des Chaos in sich bereits ein Seismograph für dessen Pleonexie sei: Denn dem Leben ist, sofern es sich selbst in der Hand hat, von Haus aus zu eigen, daß es immer neu lustvoll genießt, des Chaos des Werdens Herr zu werden, und dies eben dadurch, daß es ihm je und je gelingt, es zu ‚gestalten‘, d. h. in feste berechenbare Gestalten zusammenzustellen. [….] So erweist sich – wie Nietzsche in einem Fragment aus dem Herbst 1887 sagt – ‚der Wille zur Wahrheit als Wille zur Macht.‘ Der Wille zur Macht aber ist immer schon Wille zu mehr Macht. Denn eine Macht, die stagniert, ist keine Macht – hat sie doch keine Macht über sich selbst. So enthüllt sich der Wille zur Wahrheit – d. h. die sich auf Richtigkeit zusammennehmende Subjektivität – als der sich stets übersteigernde Wille zur Macht. So sagt Nietzsche in dem bereits zitierten Fragment aus dem Frühjahr 1888: ‚Die Erkenntnis arbeitet als Werkzeug der Macht. So liegt es auf der Hand, daß sie wächst mit jedem mehr von Macht.‘⁸³⁵

Die von Heinz vorgetragene Konstruktion, in der sich der Wille zur Macht den Gedanken der ewigen Wiederkehr selbst schafft, ist in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen. Auch Heinz verlegt eine in Heideggers Nietzsche-Auseinandersetzung erst später gewonnene Auffassung in den Sachbestand der ersten Vorlesung. Es ist einzuräumen, dass diese Rückdeutung in diesem Kontext eine gewichtige Plausibilität prätendieren kann. Allerdings entspricht es nicht der von Heidegger 1936/37 verfochtenen Deutungsrichtung, dass sich der triumphierende Wille zur Macht den Gedanken der ewigen Wiederkehr selbst schaffe. Wie anhand des Abschnitts Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung veranschaulicht werden konnte, ist 1936/1937 umgekehrt die ewige Wiederkehr als Sinn des Willens zur Macht, als Wesen und Grund dieses Seins zu benennen. Der nach der Unterminierung der übersinnlichen Ewigkeitswahrheit zu sich gekommene Wille zur Macht beständigt sich nicht, indem er die ewige Wiederkehr hervorruft oder gar kreiert, sondern weil er im Kern als diese selbst sein muss; weil diese ihm als Bewegtheit zugrunde liegt. Gleichwohl ist Heinz dahingehend Recht zu geben, dass die ewige Wiederkehr in Heideggers Konzeption dafür einsteht, das Sein des Seienden als Anwesen denken zu können. Die über die permanente Rückkehr zu sich selbst koordinierte Anwesenheit wird unausweichlich, weil es nach der Erosion der übersinnlichen Ewigkeit, des unveränderlichen Seins, keine andere Möglichkeit gibt, das souverän gewordene Werden und Leben aufrechtzuerhalten, ohne es erstarren oder verfließen zu lassen. Der Wille zur Macht ist 1936/37 von der ewigen Wiederkehr abhängig, er kann ohne sie nicht er selbst sein.

 Schüßler, Zur Frage der Wahrheit bei Heidegger und Nietzsche, S. 165.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Dennoch trifft Heinz mit ihrer offenkundig im Rekurs auf Nr. 617 („Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht“⁸³⁶) aus Der Wille zur Macht entwickelten These, der Wille zur Macht löse seinen ewigen Wollensanspruch durch die Schaffung der ewigen Wiederkehr ein, einen wesentlichen Punkt. Im Laufe seiner Nietzsche-Vorlesungen wird Heidegger dieser Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Hauptlehren tatsächlich immer stärker zuneigen. 1936/37 ist der Wille zur Macht von der unverfügbaren, ewigen Wiederkehr abhängig. Ab 1939⁸³⁷ und besonders ab 1953⁸³⁸ sieht Heidegger den Willen zur Macht in der Lage, diese Lehre auf der Grundlage seines auf Hindernisse angewiesenen Wesens und in der Reaktion auf das Drama der entrinnenden Zeit zu entwerfen. Dies zeigt auch, dass Heidegger den Willen zur Macht und damit das willensmetaphysische Narrativ im Ganzen sukzessive ausbaut, bestärkt und schließlich in die Dominanz des Willens zum Willen einmünden lässt. Der Wille zum Willen lässt sich durch die ewige Wiederkehr nicht mehr in vorgeprägten Grenzen bändigen. Außerdem ist im Rekurs auf Heinz’ Auslegung zu hinterfragen, ob es 1936/37 im Allgemeinen und in dem Kapitel zur Neuen Auslegung der Sinnlichkeit im Besonderen tatsächlich Heideggers Intention ist, Nietzsche als Vollender der Metaphysik zu präsentieren. Viel eher scheint Heideggers Erkenntnisziel darin zu gründen, Nietzsche als den Überwinder des Nihilismus zu inszenieren. Die Spur der ewigen Wiederkehr wird von Heidegger an dieser Stelle nicht mehr weiterverfolgt. Stattdessen sucht er die Vorlesung durch die Interpretation eines berühmten Nietzsche-Satzes abzurunden, der die drei Bestandstücke enthält, die die Realität in verschiedenen Differenzierungsstufen konstituieren – die Kunst, die Wahrheit und das beide beheimatende Perspektivische. In ihrem Zusammenklang verdeutlichen sie die Irreduzibilität der Instanz des Lebens. Es handelt sich um den Spruch: „die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens.“⁸³⁹ Indem Heidegger die Wissenschaft

 Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 617, S. 418. Vgl. die analogen Formulierungen bei Heinz, „Schaffen“. Die Revolution von Philosophie, S. 182: „[…] der als Sein des Seienden angesetzte Wille zur Macht überführt sich selbst in sein Gesetz; er will sich selbst und macht sich in permanenter Selbstidentifikation beständig. […] Und indem es [das Sein des Seienden als Wille zur Macht, J.K.] das Werden freilässt, gibt es dem Werden den Charakter des Seins, der Beständigkeit.“  Vgl. hierzu die Kapitel 1.7 und 1.8 dieser Arbeit.  Vgl. hierzu das Kapitel 1.10 zu Heideggers Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? aus dem Jahre 1953.  Heidegger, N I, S. 222. Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, Versuch einer Selbstkritik 2, KSA 1, S. 14.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

273

als Wissen und dieses als „Verhältnis zur Wahrheit“⁸⁴⁰ übersetzt, findet die etwas aus dem Blick verschwundene Rivalität zwischen Philosophie und Kunst nochmals Eingang in die Diskussion. Der Terminus der „Optik“ besagt nach Heidegger nicht, dass die subordinierte Disziplin unter dem Geschichtspunkt der leitenden Eigenschaften der jeweils übergeordneten Entität beleuchtet werden soll. Der Begriff der „Optik“ verweist auf das Perspektivische, das im Leben gründet.⁸⁴¹ Der Titel des Lebens ist hier nicht biologisch oder praktizistisch zu verstehen. Stattdessen ist die Bedeutung des Lebens metaphysisch zu vertiefen und mit dem Sein im Sinne der Wirklichkeit gleichzusetzen. Das Leben, das allein als fluides Relationskonglomerat ist und sein kann, wird als Bewertungsmaßstab hervorgehoben, auf dessen Grundlage die Kunst als schöpferisches Prinzip etabliert werden kann. Die von Nietzsche geforderte Betrachtung der Kunst unter der Optik des Lebens verpflichtet die Kunst nach Heidegger weder auf eine mimetische Nachbildung des Lebens, noch soll einer Dienerrolle der Kunst das Wort geredet werden, die dem Leben zu nützen habe. Aus der gegebenen Beschreibung des Lebens, das in seinem Sein das Werden sein will, leitet sich der Auftrag der Kunst ab, „die eigentliche Gesetzgebung für das Sein des Seienden“⁸⁴² zu leisten. Die akteurfokussierte Nennung des „Künstlers“⁸⁴³ statt des Gesamtbereiches der Kunst irritiert Heideggers Deutung nicht, weil er sie als Beweis für seine These sieht, dass die „Kunst vom Künstler her begriffen werden müsse“⁸⁴⁴, der den großen Stil in das Werk setzt. Die Präponderanz der Kunst gegenüber der Wahrheit wird von Heidegger in einer weiteren Hinsicht illustriert. Entscheidend ist nämlich, dass der unter der Optik des Lebens, des „Wesens des Seins“⁸⁴⁵ gesehenen und zum „Grundgeschehen des Seienden“⁸⁴⁶ gradierten Kunst zugesprochen wird, das Verhältnis zwischen sich und der Wahrheit auszutarieren. Die Kunst wird zur schätzenden Instanz.⁸⁴⁷ Sie eröffnet die Optik und die Auslegungsperspektive für das, was als wahr gelten darf:

 Heidegger, N I, S. 222.  Vgl. Heidegger, N I, S. 223.  Heidegger, N I, S. 223.  Heidegger, N I, S. 222.  Heidegger, N I, S. 223.  Heidegger, N I, S. 223.  Heidegger, N I, S. 223.  Heidegger, N I, S. 223. Diese von der Kunst gefällte Entscheidung über das, was für wahr gehalten werden kann, kann durchaus als Präfiguration des Charakteristikums perennierender Wertsetzung verstanden werden, die 1939/1940 Einzug in den Willen zur Macht erhält.

274

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Das Wort will sagen: Vom Wesen des Seins aus muß die Kunst als das Grundgeschehen des Seienden, als das eigentlich Schaffende, begriffen werden. Die so begriffene Kunst aber gibt den Gesichtskreis, innerhalb dessen abgeschätzt werden kann, wie es mit der ‚Wahrheit‘ bestellt ist und in welchem Verhältnis Kunst und Wahrheit stehen.⁸⁴⁸

Dieser Passus, in dem der (hier offensichtlich als Grundgeschehen der aufscheinenden Realität bestimmten) Kunst die Kompetenz zugestanden wird, über die Tragweite und die Grenzen der „Wahrheit“, d. h. des jeweils zugelassenen Verfestigungsgrades, frei zu disponieren, plausibilisiert die von Marion Heinz gegebene Interpretation: […] das Schaffen wird zur einzigen Weise, das Dasein zu überstehen, das Leben zu erhalten. Jetzt hat die Kunst als die höchste Form des Schaffens die Aufgabe des Beständigmachens, und das heißt, sie kann sich nicht länger bloß aus der Relation zum Wahren verstehen und verhalten, indem gegen das im Erkennen Festgemachte das perspektivische Scheinen in seiner unbestimmten Fülle zur Geltung gebracht wird. Der Kunst wird zugemutet, eigenständig und absolut die Beständigkeit des Seienden im Sinne der Lebenserhaltung zu garantieren. Zudem hat die Kunst die vormals der Erkenntnis zugetraute Gewährleistung des Seins zu übernehmen.⁸⁴⁹

Nichtsdestotrotz ist zu bestreiten, dass die Kunst „eigenständig und absolut die Beständigkeit des Seienden im Sinne der Lebenserhaltung“ zu garantieren vermag. Heinz geht von einem unversöhnlichen Entweder-Oder zwischen Kunst und Erkenntnis aus. Während bei Platon und in der ganzen abendländischen Metaphysik die Erkenntnis dominierte, müsse in der „Revolution von Philosophie“ umgekehrt und logischerweise die Kunst verabsolutiert werden. Es ist gegenüber Heinz zu konzedieren, dass die Kunst in Heideggers Konzeption die Dynamik des Lebens vorantreibt. Des Weiteren ist einzuräumen, dass die verklärende Steige-

 Heidegger, N I, S. 223.  Marion Heinz, „Schaffen.“ Die Revolution von Philosophie, S. 180. Anders als Heinz, vertritt Rita Casale ebenfalls eine komparative Konstellationsbestimmung, in der die Kunst die Verfassung der perspektivischen Realität trefflicher zum Ausdruck bringt als die Wahrheit, ohne dass diese gänzlich aus der Wirklichkeit verwiesen werden müsste. Vgl. Casale, Heideggers Nietzsche, S. 272: „Außerdem zeigt der Rausch, als Voraussetzung für jedes künstlerische Schaffen, dass die Kunst mehr als die Wahrheit dazu geeignet ist, das Gesetz der Existenz sichtbar werden zu lassen, insofern sie das perspektivische Wesen der Wirklichkeit enthüllt und die ‚Fixierung‘ der Wahrheit auf ideale Hypothesen demaskiert.“ Die Relevanz der Wahrheit wird von Casale unter Hinzuziehung der Beiträge zur Philosophie und im Vorblick auf die spätere Einverleibung der Wahrheit, die der Wille zur Macht als notwendigen Wert benötigt, mit Nachdruck unterstrichen: „Wenn aber erst einmal der Wille als ein Über-sich-hinaus-Wollen gesetzt ist, dann wird die Wahrheit die Bedingung des Willens zur Macht“ (Casale, Heideggers Nietzsche, S. 274). Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 363 f.

1.5 Der Perspektivismus als Neue Auslegung der Sinnlichkeit

275

rung als dauerhafter Grundzug des über sich hinauswollenden Lebens wesentlicher ist als die je nur temporär gültige, als Wahrheit installierte Festmachung. In diesem Sinne schreibt Heidegger: Kunst und Wahrheit sind Weisen des perspektivischen Scheinens. Der Wert von Realem aber bemißt sich darnach, wie es dem Wesen der Realität genügt, wie es das Scheinen vollzieht und die Realität steigert. Die Kunst ist als Verklärung lebenssteigernder denn die Wahrheit als Festmachung eines Anscheins. ⁸⁵⁰

Die am Ende der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst erreichte Wesensbestimmung des entsetzlichen Zwiespalts soll noch einmal zusammenfassend erläutert werden. In Abgrenzung zu der Forschungsposition von Marion Heinz ist die hier vertretene These zu bekräftigen, dass Heidegger die Unverzichtbarkeit der Wahrheit und der Erkenntnis inmitten der sinnlichen Realität unangetastet lässt. Im Medium der Steigerung situiert sich die Wahrheit in dem entsetzlichen Zwiespalt, indem sie das dem Leben und der Kunst vermeintlich Entgegengesetzte – die Befestigung – affirmiert. Gerade deshalb steht sie in einer Zusammengehörigkeit mit dem als und in der Steigerung seienden Leben, zu dessen immer wieder aufgehobenem Anhalt und Vehikel sie wird. Ab 1940 wird Heidegger eine Umkehrung vornehmen, insofern die Bestandsicherung als zentrale Vergewisserungsabsicht des Willens reüssiert, in welche die Steigerung eingespannt wird. Auf diese Weise wird das Philosophem des Willens zur Macht stärker in die präsenzontologische Verfassung der Metaphysik eingerückt und von lebensphilosophischen Konnotationen dissoziiert. Im Ausgang von dem obigen Zitat wird nochmals in aller Schärfe transparent, mit welchen Schwierigkeiten die Aufrechterhaltung der Konzeption eines Entsetzens erregenden Zwiespaltes verknüpft ist. Diese Problematik wurzelt in dem bereits zu Beginn der Vorlesung entworfenen Bedeutungssupremat der Kunst als höchster und durchsichtigster Gestalt des Willens zur Macht, in der sich die Gesetzlichkeit manifestieren soll, die das Seiende als solches prägt. Die hermeneutischen Fährnisse erben sich fort, weil die Kunst im weiten Sinne als „Grundgeschehen des Seienden“⁸⁵¹ ausgezeichnet wird und über diese Bestimmung zugleich an den Willen zur Überwindung des lebenshemmenden Nihilismus angeschlossen werden soll. Sofern die Kunst nicht allein als Verklärungskomponente innerhalb des perspektivischen Scheins angesiedelt werden soll, kommt es zwar nicht zu der von Heinz apostrophierten Monarchie, aber doch nahezu zwangsläufig zu einer Hegemonie der Kunst. Die Wahrheit wäre demge Heidegger, N I, S. 219 – 220.  Heidegger, N I, S. 223.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

mäß notwendig für die Stabilisierung des Lebensganzen, diese Notwendigkeit kann allerdings von der Kunst je nach Bedarf eingesetzt wird. Es ist schwer zu sehen, worin noch ein auf der Isometrie und der Zerrissenheit beider Pole beruhender, Entsetzen erregender Zwiespaltes bestehen soll, wenn die Kunst innerhalb des Verhältnisses von Wahrheit und Kunst als Relat über die Gestaltung des Verhältnisses bestimmt. Dies lässt sich anhand der letzten Zeilen der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst belegen: Die Wissenschaft ‚unter der Optik des Künstlers sehn‘, heißt: sie abschätzen nach ihrer schaffenden Kraft, weder nach dem unmittelbaren Nutzen noch nach einer leeren Ewigkeitsbedeutung. Das Schaffen selbst aber gilt es nach der Ursprünglichkeit abzuschätzen, mit der es in das Sein hinabreicht, weder als bloße Leistung des einzelnen noch als Vergnügen für die Vielen. Das Schätzenkönnen, d. h. das Handelnkönnen nach der Maßgabe des Seins ist selbst das höchste Schaffen, denn es ist das Bereiten der Bereitschaft für die Götterm das Ja zum Sein. ‚Der Übermensch‘ ist der Mensch, der das Sein neu gründet – in der Strenge des Wissens und im großen Stil des Schaffens.⁸⁵²

Im Vorgriff auf die wesentliche Bedeutung der Wertsetzung, die besonders in der Vorlesung Der europäische Nihilismus (1940) hervorstechen wird, ist die Anbindung des Schaffens an das Schätzen zu akzentuieren. Die beiden an dieser Stelle ausgeschlagenen Optionen der Wertschätzung, das Absehen auf den „unmittelbaren Nutzen“⁸⁵³ oder auf die „leere Ewigkeitsbedeutung“⁸⁵⁴, wird Heidegger später durchaus aufrufen, um die inhaltliche Ausrichtung der vom Willen zur Macht dekretierten Festlegung zu beleuchten. Im obigen Passus bleibt dunkel, wie sich „die schaffende Kraft“ der Wissenschaft und die aus dem Leben ergehende Abschätzung des Schaffens nach der „Ursprünglichkeit“ genauer fassen lassen. Im Hinblick auf Heideggers in der Vorlesung Der europäische Nihilismus geäußerte, scharfe Kritik an der Wertphilosophie⁸⁵⁵, ist bemerkenswert, dass das „Schätzenkönnen“ nach „Maßgabe des Seins“ ausgesprochen positiv beurteilt wird. Im immanenten Gehalt der ersten Nietzsche-Vorlesung (1936/37) betrachtet, könnte der Terminus „Maßgabe des Seins“ eine dezidiert an der antinihilistischen Lebenssteigerung orientierte Form des Wertens bezeichnen, die der Verlaufsgesetzmäßigkeit der perspektivischen Realität entspricht. Zugleich ist nicht zu verkennen, dass das Diktum „nach der Maßgabe des Seins“ als seinsphilosophische Chiffre gedeutet werden kann. Deswegen ist es wenig überraschend, dass die Vorlesung mit einem pathetischen Ausblick auf den Übermenschen endet, in dem

   

Heidegger, N I, S. 224. Heidegger, N I, S. 224. Heidegger, N I, S. 224. Vgl. Heidegger, N II, S. 27 ff.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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die Synthese von Wahrheit („Strenge des Wissens“) und Kunst („großer Stil des Schaffens“) stattfinden soll. In seiner Selbstgesetzgebung soll sich die Frage beantworten, wie die Abschätzung geschehen kann, in der sich das „Ja zum Sein“ und somit die Überwindung des Nihilismus artikuliert.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises: Die ewige Wiederkehr als Intensivierung der persönlichen Zeiterfahrung und als Selbstaufhebung des Nihilismus 1.6.1 Allgemeines zur ewigen Wiederkehr des Gleichen und zum Themenschwerpunkt der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 Um einen adäquaten Einstieg in Heideggers Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen zu gewinnen, erscheint es sinnvoll, diese nicht in chronologischer Abfolge nachzuvollziehen. Im ersten Segment des Kapitels 1.6 werden daher einige allgemeine Überlegungen zur Genese des abgründigsten Gedankens in Nietzsches Biographie vorangestellt. Im zweiten Unterkapitel werden die kosmologischen Grundannahmen referiert, die zur Plausibilisierung der ewigen Wiederkehr als „höchste[r] Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann“⁸⁵⁶ beitragen. Im dritten Unterkapitel erfährt Heideggers Rekapitulation der Bedeutung und Einbettung der ewigen Wiederkehr in den unveröffentlichten Aufzeichnungen von 1881– 1888 eine konzentrierte Betrachtung, wobei die Bestimmung des Verhältnisses zum Willen zur Macht als thematischer Ariadnefaden gewählt wird. Anschließend wird im vierten Zwischenabschnitt im Hinblick auf die thematisch miteinander verwandten Aphorismen Nr. 341 aus der Fröhlichen Wissenschaft und Nr. 56 aus Jenseits von Gut und Böse gezeigt, wie Heidegger die experimentell-herausfordernde Verwandlungskraft der ewigen Wiederkehr mit den eigenen Überlegungen zum Selbstsein und zur Flucht und Ankunft des Göttlichen parallelisiert. In der fünften Sektion werden die zusammengehörigen Kapitel Vom Gesicht und Rätsel und Der Genesende aus Also sprach Zarathustra in unmittelbarer Aufeinanderfolge besprochen. Nietzsche löst das Rätsel, wer der am Ende von Vom Gesicht und Rätsel erscheinende Hirte sein könnte, erst im Stück Der Genesende auf, das im 3. Teil von Also sprach Zarathustra situiert ist. Weil sich dieses Stück auf das Kapitel Vom Gesicht und Rätsel zurückgründet, erfüllt es im Handlungszusammenhang eine zugleich analeptische wie prospektive, brückenschlagende Funktion. Heidegger betrachtet zwar beide Stücke in ihrer Ein Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 335.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

heit, widmet sich aber erst in einem zweiten Auslegungsgang explizit dem Sinnbild des Bisses, mit dem sich der Hirte in Vom Gesicht und Rätsel gegen den Angriff der schwarzen Schlange verteidigt. In einem erweiterten Durchgang bezieht Heidegger das Gleichnis auf die Erfahrung des Nihilismus, der nach Heidegger auf dem gleichem Gefahrengebiet wie die ewige Wiederkehr angesiedelt ist und sich als ihre Schattenseite enthüllt. Diese vertiefende und klärende Interpretationslinie beginnt erst nach Heideggers Rekapitulation des Beweises und der Gewichtung von Freiheit und Glauben im Angesicht des Wiederkunftsgedankens. Somit wird in dem vorliegenden Kapitel 1.6 zwar eine veränderte Anordnung gewählt; diese weiß sich jedoch in einer sachlogischen Übereinstimmung mit Heideggers Vorgehen. Im sechsten, das Kapitel beschließenden Part wird der Bedeutung des Glaubens im Hinblick auf die Einverleibung der Wiederkunftslehre nachgegangen. Es soll bekräftigt werden, dass Heidegger den Glauben nicht im ausschließlich epistemologischen Sinne als haltgebende Billigung versteht, sondern als Haltung und Ethos herausstellt, das die menschliche Freiheit nicht nur fundiert, sondern auch hervorruft. Die ewige Wiederkunft des Gleichen ist derjenige Gedanke, der Nietzsche in anbahnenden Vorstufen seit seinen denkerischen Anfängen begleitete. Bereits in der 1863 verfassten autobiographischen Skizze Mein Leben kündigt er sich in der Metapher des allumfassenden Ringes an: Und so entwächst der Mensch allem, was ihn einst umschlang; er braucht die Fesseln nicht zu sprengen, sondern unvermutet, wenn ein Gott es gebeut, fallen sie ab; und wo ist der Ring, der ihn endlich noch umfasst? Ist es die Welt? Ist es Gott?⁸⁵⁷

Zehn Jahre später koppelt Nietzsche in der Historienschrift den Wahrheitswert der monumentalischen Historie an die Möglichkeit einer Wiederkehr der Geschehnisse. Diese Möglichkeit verwirft er jedoch ausdrücklich.⁸⁵⁸ Am 6. August 1881 verdichtet sich das Angelegte zur blitzartigen Vision am Felsblock unweit von Surlej und bestimmt von da an in zahlreichen Entwürfen Nietzsches Philosophie

 Heidegger, N I, S. 230. Vgl. Nietzsche, Mein Leben. Autobiographische Skizze des jungen Nietzsche, Frankfurt a. M. 1936, S. 12.  Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 261: „Im Grunde könnte ja das, was einmal möglich war, sich nur dann zum zweiten Male als möglich einstellen, wenn die Phythagoreer Recht hätten zu glauben, dass bei gleicher Constellation der himmlischen Körper auch auf Erden das Gleiche, und zwar bis auf‘s Einzelne und Kleine sich wiederholen müsse: so dass immer wieder, wenn die Sterne eine gewisse Stellung zu einander haben, ein Stoiker sich mit einem Epikureer verbinden und Cäsar ermorden und immer wieder bei einem anderen Stande Columbus Amerika entdecken wird.“

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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im Ganzen, wenngleich sie in den späteren Aufzeichnungen gegenüber dem Willen zur Macht zurückzutreten scheint.⁸⁵⁹ Heideggers Interpretation des Gedankens der ewigen Wiederkehr gliedert sich in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 in vier Themenbereiche. Ein erster Schwerpunkt konzentriert sich auf die Diskussion der drei veröffentlichten Mitteilungen der Wiederkunftslehre.⁸⁶⁰ Diese finden sich im Aphorismus Nr. 341 aus dem Fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, in den Kapiteln Vom Gesicht und Rätsel und Der Genesende aus Also sprach Zarathustra und im Aphorismus Nr. 56 aus Jenseits von Gut und Böse. ⁸⁶¹ Bedeutsam ist für Heidegger zweitens die Gewichtung des Beweisganges, den er von naturwissenschaftlichen und physikalischen Herangehensweisen abzugrenzen sucht.⁸⁶² Obwohl sich Nietzsche mit der Wiederkunftslehre nach Heidegger gegen eine formgebende Teleologie ausspricht, legt er behufs einer Plausibilisierung bestimmte Konzepte des Raumes und der Zeit zugrunde. Daher wird für Heidegger die Frage virulent, ob die ewige Wiederkehr als radikale Zurückweisung oder als Bestätigung des Anthropomorphismus bewertet werden muss. Einen dritten Hauptaspekt bildet die Klärung des Zusammenhanges zwischen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und der menschlichen Freiheit.⁸⁶³ Indem Heidegger die Freiheit als im zukünftig-gewesenen Augenblick aufscheinende Ermöglichung des Seinkönnens exponiert, die jeweils neu zu wählen oder auszuschlagen ist, distanziert er die Lehre der ewigen Wiederkehr von dem fatalistischen Gepräge, das bei Nietzsche selbst anklingt. Viertens widmet Heidegger sich den ersten Entwürfen einer Philosophie der ewigen Wiederkunft aus dem Jahr 1881 und geht deren Widerhall bis in die Nachlassaufzeichnungen des Jahres 1888 nach.⁸⁶⁴ In diesem Kapitel sollen die drei erstgenannten Inhaltsfelder eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Es gilt zu zeigen, wie Heidegger die Bewertung der Lehre als Schwergewicht, das gleichzeitig Bedrohung und Befreiung, vollendete Sinnlosigkeit und Wende der Not ist, von der dämonischen Begegnung in der einsamsten Einsamkeit (in Nr. 341 der Fröhlichen Wissenschaft) bis hin zu der  Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 335: „Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.“ Vgl. Heideggers Besprechung der Entwürfe aus dem August 1881 in: Heidegger, N I, S. 293 – 302.  Vgl. Heidegger, N I, S. 238 – 246; S. 251– 283; S. 283 – 290; S. 387– 401.  Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 341, S. 570; Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 56, S. 74– 75; Also sprach Zarathustra, KSA 4, Vom Gesicht und Rätsel, S. 197– 202; Der Genesende, S. 270 – 278.  Vgl. Heidegger, N I, S. 326 – 341.  Vgl. Heidegger, N I, S. 341– 362.  Heidegger, N I, S. 360 – 383.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Substitution der erodierten Verpflichtungsschwere des Christentums verfolgt. Dabei ist darauf zu achten, in welcher Weise Heidegger den am ehesten als existenziell oder freiheitsphilosophisch zu klassifizierenden Deutungsansatz mit der kosmologischen Universalanschauung verbindet. In diesem Sinne ist zu klären, wie Heidegger die personale Dimension, in welcher der Einzelne das Schwergewicht auf sich nimmt, mit der globalen Ausweitung des Wiederkunftsgedanken zur Gegenbewegung gegen den Nihilismus parallelisiert, die freilich von einem herausragenden Individuum – Zarathustra – initiiert wird.

1.6.2 Die Notwendigkeit der Wiederkehr: Raum, unendliche Zeit und endliche Kraft als Koordinaten des Beweisganges Um zu illustrieren, dass die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen von Nietzsche nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinne bewiesen wird, sondern ein über das faktisch Feststellbare hinausgehendes Verständnis von Raum, Zeit, Unendlichkeit und Kraft beinhaltet, fasst Heidegger die maßgebenden Äußerungen aus dem Nachlass und aus den veröffentlichten Werken in einem aszendierenden Beweisgang zusammen, der in zehn Punkte gegliedert ist.⁸⁶⁵ Die Konklusion fußt auf den folgenden Prämissen: Das Seiende im Ganzen wird von einer Kraft getragen und durchwaltet, die Nietzsche im weiteren Verlauf der Werkentwicklung mit dem Willen zur Macht identifizieren wird. Diese den „durchgängigen Charakter der Welt“⁸⁶⁶ bildende Kraft muss als limitiert und endlich gedacht werden. Wäre sie nämlich unbegrenzt oder nähme sie quantitativ zu, könnte ihr kein konturierender Widerstand entgegengesetzt werden. Außerdem wäre die Möglichkeit einer externen Quelle ausgeschlossen, aus der sich die Energie für ein unaufhaltsam-überschüssiges Wachstum jedoch zwangsläufig speisen müsste. Das Wesen der Kraft wird in den ersten Argumentationsschritten aus ihrem Begriffsinhalt gewonnen: Wir bestehen darauf, daß die Welt, als eine Kraft, nicht unbegrenzt gedacht werden darf – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft, als mit dem Begriff ‚Kraft‘ unverträglich.⁸⁶⁷

 Vgl. Heidegger, N I, S. 302– 318.  Heidegger, N I, S. 306.  Heidegger, N I, S. 307. Vgl. Nietzsche, NF-1885,36[15]. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1062, S. 693.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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Es darf nach Heidegger nicht übersehen werden, dass Nietzsche den Wahrheitsgehalt dieser Auffassung hinterfragt, indem er ihn als „Glauben“⁸⁶⁸ beurteilt. Der bestimmbare und gleichbleibende Energiehaushalt der All-Kraft verhindert nicht nur das Fortfließen und die infinite Steigerung. Vielmehr muss auch in der umgekehrten Richtung gefolgert werden, dass es keine sukzessive Abschwächung oder gar ein Erlöschen der Kraft geben kann. Zur Veranschaulichung führt Heidegger im Rahmen des vierten Beweispunktes eine entsprechende Äußerung Nietzsches heran: Das Maß der All-Kraft ist bestimmt, nichts ‚Unendliches‘; hüten wir uns vor solchen Ausschweifungen des Begriffs!⁸⁶⁹

Aus der beidseitigen Absenz von Minderung und Vergrößerung darf allerdings nicht voreilig der Sachverhalt eines Gleichgewichtszustandes geschlossen werden. Nietzsche widerlegt die Stagnationsthese mit dem Hinweis, dass sich ein einmal erzielter, ausgeglichener Zustand der Kräfteverteilung ohne äußere Einflussnahme perpetuieren müsste. Da er offenkundig in diesem Augenblick nicht erreicht worden ist, gilt dies auch für die gesamte bislang abgelaufene, den Augenblick ermöglichende Zeitspanne, da deren Entstehung und Wirkungsentfaltung von einem sich ewig durchhaltenden oder irgendwann einmal eingetretenen Gleichgewichtszustand unterbunden worden wäre: Wäre ein Gleichgewicht der Kraft irgendwann einmal erreicht worden, so dauerte es noch: also ist es nie eingetreten.⁸⁷⁰

Die Existenz eines einzigen Augenblickes reicht demnach aus, um zu erweisen, dass die Hineinhebung alles Seienden in eine Kraftindifferenz noch nie geschehen ist. In diesem Kontext wird transparent, dass der Einbezug des Augenblickes den gesamten Beweisgang stützt. Dennoch leuchtet in diesem Beweisstadium noch kein profunder Grund auf, weswegen sich die Konstitution eines Gleichgewichtszustandes nicht in einer fernen Zukunft ereignen könnte. Dieser Ausschluss

 Heidegger, N I, S. 307. Vgl. Nietzsche, NF-1885,36[15]: „Welches ist denn aber der Satz und Glaube, mit welchem sich die entscheidende Wendung, das jetzt erreichte Übergewicht des wissenschaftlichen Geistes über den religiösen götter-erdichtenden Geist, am bestimmtesten formulirt? Heißt er nicht: die Welt, als Kraft, darf nicht unbegrenzt gedacht werden, denn sie kann nicht so gedacht werden – wir verbieten uns den Begriff einer unendlichen Kraft als mit dem Begriff ‚Kraft‘ unverträglich. Also – fehlt der Welt auch das Vermögen zur ewigen Neuheit.“ Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1062, S. 693.  Heidegger, N I, S. 308. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[202].  Heidegger, N I, S. 308. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[245].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

wird nur indirekt über das kontinuierliche und unveränderliche Wesen der Kraft geleistet. Der Gleichgewichtszustand kann niemals eintreten, weil sich die durch die Kraft erhaltene und genährte Erscheinungsdimension als „ständiges Werden“⁸⁷¹ ausprägt. Heidegger versteht dieses Werden nicht als maßgebende Seinsund Lebensbestimmung, die den Hervorgang aus dem Ursprung und die Einkehr in denselben versinnbildlicht und somit auf die Pole des Entstehens und Vergehens bezogen bleibt. Er markiert das ständige Werden als zwischen den beiden Grundierungsorten angesiedelte Vermittlungsform des permanenten Wandels und Überwältigens.⁸⁷² Aus dem eingehegten Charakter der Kraft resultiert die Abgeschlossenheit des Weltganzen. Etwas, das weder unendlich noch unerschöpflich ist, muss überschaubar sein, d. h. dass die Myriaden von Konstellationen, die sich innerhalb des Weltganzen abspielen können, prinzipiell erkennbar sein müssen. Die Symmetrie der unumkehrbaren Endlichkeit, in der die Kraft den Menschen und die Welt einander zueignet, schlägt jedoch in ein Ungleichgewicht und eine Einsichtsmarginalisierung um, sobald versucht wird, die konstitutive Perspektivität zu überschreiten und sich der Grenzen der Einhegung zu vergewissern. Wird die Welt aus dem endlichen und verengenden Gesichtspunkt des in diesem Zustand nicht reflektierenden Individuums betrachtet, erwächst innerhalb dieses Horizontes kein Zweifel daran, dass die Kombinationsanzahl nicht ins Unfassbare und Unendliche entgleiten kann. Erst wenn in Gedanken eine göttliche Vogelperspektive eingenommen wird, scheint die Welt eine unausdenkbare Vielfalt von Gestaltwerdungen aufzubewahren. Außerdem scheint der Kosmos in diesem Falle eine sich ins Endlose erstreckende Kombinierbarkeit der aufgeworfenen Zusammenballungen zu inkludieren. Diese vermeintliche Unerschöpflichkeit möchte Nietzsche als Unermesslichkeit verstanden wissen. Es ist die Unermesslichkeit, die es dem von sich selbst abstrahierenden Einzelnen nicht gestattet, die prinzipielle Zählbarkeit möglicher Ereignisse und Zustände zu registrieren und anzuerkennen: die Zahl der Lagen,Veränderungen und Kombinationen und Entwicklungen dieser Kraft [ist] zwar ungeheuer groß und praktisch ‚unermeßlich‘, aber jedenfalls auch bestimmt und nicht unendlich.⁸⁷³

Dass die Konfigurationen den Anschein des Unbekannten und Neuen erwecken, hängt nach Nietzsche mit der Unüberschaubarkeit zusammen. Dies stellt sicher-

 Heidegger, N I, S. 308.  Vgl. Heidegger, N I, S. 308.  Heidegger, N I, S. 309. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[202].

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

283

lich den kritischen Punkt der gesamten Argumentation dar. Zwecks Umformung des Eindrucks der Unerschöpflichkeit in die Unermesslichkeit kann sich Nietzsche einerseits auf die perspektivisch restringierte Normalwahrnehmung des Menschen berufen, für den sich die unausweichliche Begrenztheit potenzieller Zustände lebensweltimmanent als Unüberblickbarkeit darbietet. Andererseits wendet Nietzsche die ontologischen Hypothesen einer gleichförmig-eingehegten Kraft und einer unendlichen Zeit gegen die eine proteushafte Unerschöpflichkeit vermutende Sichtweise, die mit der reflektierten, abstrahierenden Perspektive jedes Einzelnen auf das Geschehen übereinstimmt. Auf diese Weise hintergeht Nietzsche partiell die eigene Einsicht in die Perspektivität alles Seienden, kritisiert aber darin zugleich die von sich selbst absehende Ausweitung der Perspektive. Der Vorrang der Kraft bezeugt sich in Heideggers siebtem, mit der Frage „Wo ist diese Allkraft als endliche Welt?“⁸⁷⁴ eingeleiteten Beweispunkt darin, dass sie sich den Raum als imaginäres Lokalisierungsmedium geschaffen hat und somit indirekt auch die menschlichen Raumvorstellungen leitet: Raum ist erst durch die Annahme leeren Raumes entstanden. Den gibt es nicht. Alles ist Kraft.⁸⁷⁵

Heidegger kritisiert diese Ableitung. Bei der Vorstellung eines leeren Raumes handle es sich umgekehrt um eine Abstraktion, die einen gegenstandsenthaltenden Raum voraussetze.⁸⁷⁶ Die Intention, die Entstehung des Raumes auf eine andere Entität zurückzuführen, ist Heidegger ebenfalls vertraut, dachte er diesen in Sein und Zeit doch als aus der ursprünglichen Zeitigung entspringend⁸⁷⁷; ein

 Heidegger, N I, S. 309.  Heidegger, N I, S. 309. Vgl. Nietzsche, NF-1882,1[3].  Vgl. Heidegger, N I, S. 309 – 310. In der Vorlesung Einführung in die Metaphysik setzt Heidegger den Raum in einen Bezug zur χώρα, der „Amme des Werdens“ aus Platons Timaios [49b ff.]. Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 70: „Das, worin etwas wird, meint jenes, was wir ‚Raum‘ nennen. Die Griechen haben kein Wort für ‚Raum‘. Das ist kein Zufall; denn sie erfahren das Räumliche nicht von der extensio her, sondern aus dem Ort (τόπος) als χώρα, was weder Ort noch Raum bedeutet, was aber durch das Dastehende eingenommen, besetzt wird. […] In diesen örtlichen Raum wird das Werdende hinein und aus ihm herausgestellt. Damit dies aber möglich ist, muß der Raum bar sein aller Weisen des Aussehens, die er irgendwoher soll aufnehmen können. Denn wäre er irgendeiner der in ihn eingehenden Aufnahmeweisen ähnlich, so würde er bei der Aufnahme von Gestalten teils entgegengesetzten, teils gänzlich anderen Wesens eine schlechte Verwirklichung des Vorbildes zustande kommen lassen, indem er hierbei doch sein eigenes Aussehen mit zum Vorschein brächte.“  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §70, S. 367– 370.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Versuch, der sich, wie Heidegger 1962 in Zeit und Sein zugibt, nicht halten lässt.⁸⁷⁸ Gemeinsam ist Nietzsche und Heidegger, dass sie Kants Nachweis der Idealität des Raumes nicht teilen.⁸⁷⁹ Für den weiteren Argumentationsgang ist entscheidend, dass die Zeit im achten Deduktionsschritt aus der gängigen Synthese mit dem Raum befreit wird, von ihrem Status als apriorische Anschauungsform und innerem Sinn hinweggerückt und an die Kraftkomponente angeschlossen wird: Wohl aber ist die Zeit, in der das All seine Kraft übt, unendlich, das heißt, die Kraft ist ewig gleich und ewig tätig.⁸⁸⁰

Diese unendliche Zeit kann logischerweise keiner bewusstseinsförmigen Messung entspringen, aber auch nicht als sukzessionslose Ewigkeit begriffen werden, in der alle Veränderungen stillgestellt würden.⁸⁸¹ Sie ist ewig im Sinne ihres Seins als anfangs- und endloses Worin der Bewegung, d. h. als unveränderliches Substrat der ewig gleichbleibenden Krafteinwirkung.⁸⁸² Insgesamt beurteilt Heidegger Nietzsches Reflexionen über das Wesen der als unendlich vorgestellten Zeit und des Raumes als „sehr dürftig“⁸⁸³ und „sprunghaft“⁸⁸⁴, zumal Nietzsches Überlegungen zur Zeit „kaum über das Überlieferte“⁸⁸⁵ hinauskämen. Der Ineinsfall von Voraussetzung und Resultat hinsichtlich der in den bisherigen Beweisabschnitten dargelegten Weltkennzeichnungen: „Kraft, Endlichkeit, ständiges Werden, Unzähligkeit der Erscheinungen, Begrenztheit des Rau-

 Vgl. Heidegger, Zeit und Sein, in: Zur Sache des Denkens, GA 14, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2007, S. 29.  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 42, Hamburg 1998, S. 101– 102: „Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist. Weil nun die Rezeptivität des Subjekts, von Gegenständen affiziert zu werden, notwendiger Weise vor allen Anschauungen dieser Objekte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die Form aller Erscheinungen vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori im Gemüte gegeben sein könne, und wie sie als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Prinzipien der Verhältnisse derselben vor aller Erfahrung enthalten könne.“  Heidegger, N I, S. 310. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[202].  Vgl. Nietzsche, NF November 1882–Februar 1883, KGW VII, 1, Nr. 266, 5 [1], S. 222– 223: „Die Welt steht fertig da – eine goldne Schale des Guten. Aber der schaffende Geist will auch das Fertige noch schaffen: da erfand er die Zeit – und nun rollte die Welt auseinander und rollt wieder in großen Ringen in sich zusammen, als das Werden des Guten durch das Böse, als die Gebärerin der Zwecke aus dem Zufalle.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 310.  Heidegger, N I, S. 310.  Heidegger, N I, S. 311.  Heidegger, N I, S. 311.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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mes, Unendlichkeit der Zeit“⁸⁸⁶ manifestiert sich für Heidegger in dem Aphorismus Nr. 109 der Fröhlichen Wissenschaft. Dort heißt es: Der Gesamt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos.⁸⁸⁷

Im Rahmen des neunten Schrittes gliedert Heidegger die Bedeutung dieser Markierung in zwei verschiedene Aspekte: Einerseits unterstreicht das Motiv des Chaos den ewigen Fluss der Dinge, die pseudo-heraklitische Konzeption des πάντα ῥεῖ, sodass die „Leitvorstellung des ständig Werdenden festgehalten“⁸⁸⁸ werden könne. Andererseits, und diese Beurteilung ist zentral, fungiert die kosmologische Allzeitlichkeitsexplikation des Chaos als Korrektiv gegenüber einer transzendenten, henologischen Übersteigerung, demiurgischen Ursprungsannahme und jeglichem systembildenden Einheitswillen: Zum andern soll mit der Leitvorstellung ‚Chaos‘ das ständig Werdende bei sich selbst belassen werden und nicht als ein Vieles aus dem ‚Einen‘ erst noch abgeleitet werden, mag dieses Eine nun als Schöpfer oder Baumeister, als Geist oder als ein Grundstoff vorgestellt sein. ‚Chaos‘ ist demnach der Name für diejenige Vorstellung vom Seienden im Ganzen, demgemäß dieses als notwendiges Werden mit einer Mannigfaltigkeit angesetzt wird, so zwar, daß ‚Einheit‘ und ‚Form‘ ursprünglich ausgeschlossen bleiben. Das Ausschließen scheint zunächst die Hauptbestimmung der Chaos-Vorstellung zu sein, sofern es sich auf alles erstrecken soll, was irgendwie ein Hineintragen menschlicher Art in das Weltganze bei sich führt.⁸⁸⁹

Heidegger gesteht Nietzsche dergestalt zu, die tradierten menschlichen Hierarchie- und Ordnungsentwürfe im Rahmen der Einklagung des sich regellos Ver-

 Heidegger, N I, S. 311.  Heidegger, N I, S. 311. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 109, S. 468: „Der Gesammt-Charakter der Welt ist hingegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie all unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen.“ Es ist zu berücksichtigen, dass Heidegger den Beweisgang nach der zirkelhaften Vorgabe der ewigen Wiederkehr strukturiert. Die chaotische Verfasstheit der Welt bildet zum einen die Konklusion: Die ewige Wiederkehr garantiert, dass die Welt das Gepräge des Chaos im Sinne der unüberwindbaren Ziellosigkeit trägt. Zum anderen kehrt der neunte Punkt in den Anfang zurück, da die zu der Konklusion überleitenden spezifischen Raum- und Zeitanalysen in ihrem Zusammenklang nur stichhaltig sind, wenn die Teleologie und die Unaufhörlichkeit der Neukombinationen im Vorhinein ausgeschlossen wurden. Die ewige Wiederkehr wird zur Voraussetzung ihrer selbst. Dergestalt hat Heideggers Interpretation, dass der Gedanke der ewigen Wiederkehr allererst festlegt, wie das Seiende im Ganzen ist, eine nachvollziehbare Berechtigung.  Heidegger, N I, S. 311.  Heidegger, N I, S. 312.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

vielfältigenden überwunden und die Vorstellungen der tendenzaffinen Zweckhaftigkeit, der abschließenden Endabsicht und der lenkenden Providenz einer handfesten Kritik unterzogen zu haben. Die Zurückweisung der „Vermenschung“⁸⁹⁰ trifft sowohl den Hegelschen Panlogismus, der die Wirklichkeit als Selbstexplikation der Vernunft begreift, als auch den Schopenhauerschen Voluntarismus, der sie als Sichtbarwerdung des sinnblinden Willens auslegt. Genauso wie die Freilegung der Realität als Wandlungstotalität scheinhafter Bedeutungsgebilde den Schein erst zur einzigen Wirklichkeit macht und ihn in der daraus resultierenden Ununterscheidbarkeit beider auflöst, führt die konsequent bedachte Ablehnung des Weltplans und der Teleologie auch die Aufhebung der gegensätzlichen Denkweisen herbei. Es eröffnet sich keineswegs die Schneise für den Zufall, die wesenhafte Unvollkommenheit oder die Zwecklosigkeit, da sie dem Verdacht der menschlichen Maßstabsaufprägung ebenfalls ausgeliefert sind. Dementsprechend schreibt Nietzsche in einer wesentlichen Nachlassaufzeichnung aus dem Jahre 1881: Hüten wir uns, diesem Kreislaufe irgend ein Streben, ein Ziel beizulegen: oder es nach unseren Bedürfnissen abzuschätzen als langweilig, dumm usw. Gewiß kommt in ihm der höchste Grad von Unvernunft ebenso wohl vor wie das Gegentheil: aber es ist nicht darnach zu messen, Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit sind keine Prädikate für das All. – Hüten wir uns, das Gesetz dieses Kreises als geworden zu denken, nach der falschen Analogie der Kreisbewegung innerhalb des Ringes: es gab nicht erst ein Chaos und nachher allmählich eine harmonischere und endlich eine feste kreisförmige Bewegung aller Kräfte: vielmehr alles ist ewig, ungeworden: wenn es ein Chaos der Kräfte gab, so war auch das Chaos ewig und kehrte in jedem Ringe wieder. ⁸⁹¹

Wenn die Abgeschlossenheit des Alls keine externe Nährstelle zulässt, erweist sich auch eine organische Konzeption als unzulänglich.⁸⁹² Die ewige Wiederkehr etabliert sich als diejenige Denkweise, welche die anthropologischen Konstruktionen kenntlich macht und zurückweist, während der Wille zur Macht die vollständige Herrschaftsübernahme des Menschen evoziert: Wir wollen indes hier schon beachten, daß Nietzsche um die Zeit, da der Gedanke von der ewigen Wiederkunft des Gleichen heraufkommt, am entschiedensten die denkerische Entmenschlichung und Entgöttlichung des Seienden im Ganzen anstrebt. Dieses Streben ist nicht ein Nachklang, wie man meinen könnte, seiner jetzt abklingenden, ‚positivistischen Periode‘, es hat seinen eigenen und tieferen Ursprung. Nur darum ist es möglich, daß

 Heidegger, N I, S. 312.  Nietzsche, NF Frühjahr 1881–Sommer 1882, KGW V, 2, 11 [157]. Vgl. Heidegger, N I, S. 312 f.  Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, 14 [88]: „Die Welt lebt von sich selber: ihre Exkremente sind ihre Nahrung.“

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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Nietzsche alsbald aus diesem Streben in den scheinbar damit unvereinbaren Gegensatz getrieben wird, indem er in der Lehre vom Willen zur Macht die höchste Vermenschlichung des Seienden fordert.⁸⁹³

Um diese These zu untermauern, referiert Heidegger auf zwei prima vista diametral entgegengesetzte Äußerungen Nietzsches. So heißt es zum Ende des Aphorismus Nr. 109 der Fröhlichen Wissenschaft: Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen! ⁸⁹⁴

Im Kontrast dazu stellt Nietzsche die Forderung nach der gänzlichen Durchdringung der Natur mithilfe menschlicher Wertungskategorien: Die Welt ‚vermenschlichen‘, d. h. immer mehr uns in ihr als Herren fühlen.⁸⁹⁵

Überblickt man den gesamten Auslegungsbogen, lässt sich diese Form der Unterscheidung der beiden Grundlehren als die lichtvollste und eindeutigste Wesensklärung benennen. Werden die obigen acht Klassifikationen des Weltganzen mit der im neunten Punkt erwähnten Hauptbestimmung des Seienden im Ganzen als Chaos zusam-

 Heidegger, N I, S. 315. Im Rahmen von weiterführenden Überlegungen gelangt Heidegger zu dem Ergebnis, dass der höchste Wille zur Entmenschung des Seienden im Ganzen dem Willen zur höchsten Vermenschung korrespondiert, weil es immer der Mensch bleibt, der noch die gänzliche Entmenschung des Seienden vollzieht und damit immens folgenreiche Entscheidungen über dessen Verfasstheit trifft. Gleiches gilt für den Versuch, die Position der Urteilsenthaltung und Standpunktfreiheit einzunehmen, um dem Seienden alle qualitativen Bestimmungen abzusprechen. Vgl. Heidegger, N I, S. 325: „Die Frage, wer der Mensch sei, muß schon in der Fragestellung den Menschen in und mit seinen Bezügen zum Seienden im Ganzen in den Ansatz bringen und das Seiende im Ganzen mit in die Frage stellen. Aber, so hörten wir, dieses Seiende im Ganzen wird doch erst durch den Menschen ausgelegt und jetzt soll der Mensch selbst vom Seienden im Ganzen ausgelegt werden. Hier dreht sich alles im Kreis. Allerdings. Die Frage ist, ob und wie es gelingt, mit diesem Kreis Ernst zu machen, statt fortgesetzt die Augen vor ihm zu schließen.“ Vgl. zur Forderung der Vermenschlichung alles Seienden: Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 245, KSA 2, S. 205: „Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns mehr hülfreich: unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine ‚Allwissenheit‘ muss über dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen.“  Heidegger, N I, S. 314. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 109, S. 468 – 469.  Heidegger, N I, S. 314. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 614, S. 417. Vgl. auch die thematisch verwandte Aufzeichnung Nr. 616 (Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 418).

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

mengedacht, ergibt sich der folgende Übergang hin zur Konklusion. Da sich das Weltwerden in der (nach vorwärts und rückwärts) endlosen Zeit habitualisiert, aber innerhalb des endlichen Auswirkungsfeldes der Kraft keine Grenzverschiebungen möglich sind, müssen sich alle potenziellen Kombinationen irgendwann einmal erschöpft haben. Es lässt sich empirisch erschließen, dass diese aus den Prämissen resultierende Vervollkommnung der Verknüpfungsmöglichkeiten sich nicht in einem Gleichgewichtszustand niederschlägt und niedergeschlagen hat. Dass sich das Spiel der Kombinationen unbehelligt und variantenreich fortsetzt, indiziert notwendigerweise darauf, dass sich ein bestimmter Kombinationsnexus (in jedem Augenblick) zu wiederholen beginnt.⁸⁹⁶ Weil sich die identische Herausbildung jeder der ihn kennzeichnenden Wandlungsformen in zwei voneinander verschiedenen Zeitausschnitten ereignen muss, diese jedoch beide in der kraftdurchwirkten, unendlichen Zeit verwurzelt sind, kann die Wiederholung keine singuläre gewesen sein, sondern muss sich schon unzählige Male vollzogen haben und bis in alle Ewigkeit erneut geschehen. Die Wiederholungskonzeption stellt aber noch nicht die zentrale Distinktion dar, welche die Wiederkunftslehre von den klassischen, zyklisch-periodischen Denkweisen unterscheidet.⁸⁹⁷ Für die ewige Wiederkehr ist – im Gegensatz zu deterministischen Modellen, die die Einförmigkeit des Zeitpfeils zugrunde legen – konstitutiv, dass jeder Werdevorgang nicht allein auf alle anderen rückverweist und von ihrer Aufeinanderfolge bedingt wird. Vielmehr gebiert sich ein in die Gegenwart eintretender Vorgang selbst als Künftigen. Darin rekurriert er zugleich auf sich selbst als gewesene Augenblickskristallisation, auf die all jene Geschehnisse folgten, die ihn im Jetzt ermöglichten. Demnach wird die Zwischenzeit bis zur nächsten Wiederkehr mit denjenigen Kombinationen ausgefüllt, die vorher der spezifischen Begebenheit vorgeordnet waren.⁸⁹⁸

 Vgl. Heidegger, N I, S. 329 – 330.  Nach Mircea Eliade erfüllten die archaischen Zyklusvorstellungen in erster Linie die Aufgabe, das Feld des Geschichtlichen und des Veränderlichen in eine archetypische Architektonik einzufügen. Auf diese Weise konnte zum einen die Furcht vor dem Unerwarteten reduziert werden. Zum anderen war der „primitive“ Mensch aufgrund der Partizipation am Heiligen, das sich in der Wiederkehr hervorbrachte, nicht zur aktiven Gestaltung der Geschichte verpflichtet. Umgekehrt erlag er aber auch nicht der Obsession, diese gestalten zu müssen. Vgl. Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Frankfurt a. M. u. Leipzig 2007.  Nietzsche hat die Wiederherstellung einer Gesamtlage der Kräfte allerdings von der Konzeption einer ewigen Wiederkehr des Gleichen abgegrenzt, die nicht nur die Kombinationen bis ins kleinste Detail wiederholt, sondern auch die in diesen Kombinationen geschaffenen Lebewesen als identische generiert. Weil nach Nietzsche in der jeweiligen Gesamtlage neue Eigenschaften entstehen, wird die für eine differenzlose Gleichheit erforderliche Bedingungsverflech-

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Werden die Prämissen akzeptiert, kann die Wiederkehr nur verhindert werden, wenn dasjenige, was wiederkehrt – die Welt im Ganzen – sich ihr aktiv verweigerte.⁸⁹⁹ Dies könnte aber nur gelingen, wenn in ihr ein Zweck waltete, der in Form einer letztgültigen Zielsetzung die sich erschöpfende und erneut anhebende Möglichkeitsbildung in einer verrinnend ihrem Endpunkt zulaufenden Zeit abfinge.⁹⁰⁰ Das Kriterium der Notwendigkeit ist auf eine dreifache Weise mit der ewigen Wiederkehr zusammengeschlossen. Sie schließt erstens den Zweck aus, da das Beständige ein ewiges, unaufhörliches Werden ist, das in einem konturierten Umkreis stattfindet. Sie ist notwendig im Sinne des Unwiderlegbaren, des nicht Nichtmöglichen, weil zur Widerlegung ebenjene menschlichen Zweckvorstellungen wiederbelebt werden müssen, die durch die Konzeption des Weltchaos exkludiert wurden.⁹⁰¹ Zweitens ergibt sich ihre Notwendigkeit aus dem Beweis im Sinne der Unausweichlichkeit. Drittens wirkt sie als Erbin der Prädestination und tung unterbunden. Diese würde nämlich eine innerhalb der Wiederkehr des Gleichen beharrende, substantielle Gleichheit einer Ursächlichkeit voraussetzen. Diese Statik wäre von einer ewigen Wiederkehr des Gleichen nicht betroffen. Die substanzhafte Gleichheit müsste sogar als Ausschlussgrund einer ewigen Wiederkehr begriffen werden. Es ist darüber hinaus zu beachten, dass Nietzsche die Vorstellung der Gleichheit als Ausdruck einer verfälschenden Erkenntniskette beurteilt. Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1881–Sommer 1882, KGW V, 2, 11 [202], S. 421: „Alles ist unzählige Male dagewesen, insofern die Gesammtlage aller Kräfte immer wiederkehrt. Ob je, davon abgesehen, irgend etwas Gleiches dagewesen ist, ist ganz unerweislich. Es scheint, daß die Gesammtlage bis in’s Kleinste hinein die Eigenschaften neu bildet, so daß zwei verschiedene Gesammtlagen nichts Gleiches haben können. Ob es in Einer Gesammtlage etwas Gleiches geben kann, z. B. zwei Blätter? Ich zweifle: es würde voraussetzen, daß sie eine absolut gleiche Entstehung hätten, und damit hätten wir anzunehmen, daß bis in alle Ewigkeit zurück etwas Gleiches bestanden habe, trotz aller Gesammtlagen-Veränderungen und Schaffung neuer Eigenschaften – eine unmögliche Annahme!“  Vgl. Heidegger, N I, S. 331.  Vgl. Heidegger, N I, S. 331.Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII, 2, 10 [138], S. 201– 202: – „die absolute Necessität des gleichen Geschehens in einem Weltlauf wie in allen übrigen in Ewigkeit, nicht ein Determinismus über dem Geschehen, sondern bloß der Ausdruck dessen, dass das Unmögliche nicht möglich ist …daß eine bestimmte Kraft eben nichts anderes sein kann als eben diese bestimmte Kraft; daß sie sich an einem Quantum Kraft-Widerstand nicht anders ausläßt, als ihrer Stärke gemäß ist – Geschehen und Notwendig-Geschehen ist eine Tautologie…“  Vgl. Nietzsche, Morgenröte, KSA 3, Nr. 130, S. 122: „…vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke, und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unendliche Zeit: da müssen Würfe vorkommen, die der Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. Vielleicht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen: die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht!“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

der Moira, indem sie ihre Macht in jedem Augenblick bezeugt und vorauswirft. Diese Bedeutungsvielfalt der Notwendigkeit verdichtet sich im zehnten und letzten Punkt: 10. Mit dem Satz: Das Weltchaos ist in sich Notwendigkeit, gewinnen wir den Abschluß der Reihe, in der wir vorausnehmend das Weltganze kennzeichnen, dem als Grundcharakter seines Seins die ewige Wiederkehr des Gleichen zugesprochen sein soll.⁹⁰²

1.6.3 Der Wiederkunftsgedanke in Heideggers Besprechung der Entwürfe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1881 – 1888 Anhand der Rekonstruktion des Beweisaufbaus wurde transparent, dass die Komponente der endlichen Kraft als durchgängige Verfassung des Seienden eine fundierende Rolle für die sich in der unendlichen Zeit ereignende Wiederkehr des Gleichen erfüllt. Somit wird die Verhältnisklärung der beiden Grundlehren, die Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst eigens thematisierte, auch im Kontext des argumentativen Nachweises der Unumgänglichkeit der ewigen Wiederkehr virulent. Heidegger widmet sich dieser Problemstellung allerdings nicht unmittelbar im Rahmen der Diskussion der hinführenden zehn Beweispunkte. Stattdessen geht er auf diese Frage im Zuge seiner Erörterung der Präsenz der ewigen Wiederkehr in den Entwicklungsstufen und gesamtphilosophischen Entwürfen der unveröffentlichten Aufzeichnungen der Jahre 1881– 1888 ein. Heidegger unterscheidet drei wesentliche Stadien: Die Aufzeichnungen aus der Zeit der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1881/82)⁹⁰³, die Aufzeichnungen aus der Zarathustrazeit (1883/84)⁹⁰⁴ und schließlich die Aufzeichnungen aus der Zeit des „Willens zur Macht“ (1884 – 1888)⁹⁰⁵, d. h. der Konzeption des philosophischen Hauptwerkes. In Heideggers Besprechung der verschiedenen Entwürfe, Planskizzen und Aufzeichnungen aus den Jahren 1881– 1888 lässt sich die Tendenz erkennen, die Rangposition der ewigen Wiederkehr als Zentrum der Philosophie Nietzsches zu untermauern und deren bestimmende, theoretische Erhellungsfunktion bis in die letzten Schaffensjahre festzuhalten. Dergestalt sucht Heidegger den sich aufdrängenden Eindruck zu konterkarieren, dass Nietzsche sich ab 1884/1885 gänz-

   

Heidegger, N I, S. 317. Vgl. Heidegger, N I, S. 360 – 362. Heidegger, N I, S. 362– 368. Heidegger, N I, S. 368 – 383.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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lich auf die Zurückführung alles Seienden auf den ontologischen Titel des Willens zur Macht kaprizierte. Die unveröffentlichten Aufzeichnungen aus der Zeit der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1881/82) stehen nach Heidegger in einem „großen Mißverhältnis zu dem schon Gedachten und Gewußten“.⁹⁰⁶ Angesichts der mannigfaltigen, zurückgehaltenen Reflexionen der Jahre 1881/1882, die sich hauptsächlich auf die Möglichkeit und die Art der Verbreitung und Lehrbarkeit der ewigen Wiederkehr, die Tragweite ihrer Rezeption und Wirkungsweise sowie auf die von Nietzsche erwarteten Charakteristika der ersten Anhänger beziehen⁹⁰⁷, konstatiert Heidegger einen Kontrast zu den beiden geheimnisvoll-versteckten Andeutungen in den Aphorismen Nr. 341 (Das grösste Schwergewicht) und Nr. 342 (Incipit tragoedia) des Vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft. Gleichwohl ist es für Heidegger evident, dass sich die ewige Wiederkehr als „Anfangsgedanke seiner [Nietzsches, J.K.] neuen Philosophie“⁹⁰⁸ herauskristallisiert. In den Aufzeichnungen aus der Zarathustrazeit (1883/84) kehrt sich das Verhältnis zwischen dem Mitgeteilten und dem Zurückgehaltenen nach Heidegger um, insofern das gesamte Werk Also sprach Zarathustra als zweite Mitteilung der Wiederkunftslehre zu begreifen ist, der jedoch in den Jahren 1883 – 1884 nur spärliche Nachlassnotizen beigeordnet sind. Die wichtigste Stoßrichtung in Heideggers Durchgang durch den entsprechenden Textbestand wird durch die Zurückweisung der geläufigen Gleichsetzung der Nietzscheschen Wiederkunftskonzeption mit dem (vermeintlich) Heraklitischen Gedanken eines „ewigen Flusses aller Dinge“⁹⁰⁹ markiert. Weil Nietzsche die zeitgenössische, oberflächliche Lesart der Lehre Heraklits in der Gestalt eines „endlosen Wechsels und Unbestandes“⁹¹⁰ adaptiert habe, kam er nach Heidegger zu seinem bekannten Urteil, diese Auffassung des Weltgeschehens sei die tiefste und „letzte Wahrheit“⁹¹¹, die „keine Einverleibung mehr vertrage“⁹¹², da der menschliche Lebensvollzug unweigerlich auf die verfestigende Übersicht und die Einheitsformung vergleichbarer Fälle angewiesen sei. Darauf aufbauend, etabliert Heidegger den Wiederkunftsgedanken mit Nietzsche gerade als erfolgreiche Einverleibung dieser offenkundig unzugänglichen Wahrheit vom ewigen Fluss der Dinge: Indem die ewige Wiederkehr das Werden in sich zurücklaufen lässt, wird das „zerstörerische

      

Heidegger, N I,, S. 360. Vgl. Heidegger, N I, S. 360 – 362. Heidegger, N I, S. 362. Heidegger, N I, S. 364. Heidegger, N I, S. 364. Heidegger, N I, S. 364. Heidegger, N I, S. 364.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Wesen“⁹¹³ des uferlosen Immer-Weiter überwunden. Die ewige Wiederkehr rückt somit in eine Gegenposition zur angeblichen Grundauffassung Heraklits. Dies bekundet sich eindeutig in einer Aufzeichnung aus der Zarathustrazeit: Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluß fließt immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluss, als die Gleichen.⁹¹⁴

Im Unterschied zu der ab dem Jahre 1939 in der Auseinandersetzung mit Nietzsche vorherrschenden Deutungslinie, besiegelt diese „Erlösung vom ewigen Flusse“ für Heidegger 1937 keineswegs die Unterordnung des Werdens unter die Botmäßigkeit der Seiendheit und Anwesenheit. Ebenso wenig wird eine Verkrustung des Welt-Spiels evoziert. Im Gegensatz dazu, betont Heidegger die versöhnende Kraft der Wiederkunftslehre. Sie lässt das Werden im Sinne des Flusses zu und erhält diesen aufrecht, indem die Beständigkeit in dessen transitorischen Charakter integriert wird. Diese Synthese vollzieht sich vor dem Hintergrund eines periodischen Prozesses. In diesem vermählen sich Endlichkeit und Unendlichkeit, einhegend-rückkehrende Geschlossenheit und endlos fortlaufend-entstehendes Werden: ‚Ein unendlicher Prozeß kann gar nicht anders gedacht werden als periodisch.‘⁹¹⁵

Heideggers wohlwollend-affirmative Beurteilung der ewigen Wiederkehr spiegelt sich in seinem Kommentar zu diesem Zitat wider. In der Kreislaufvorstellung sieht er die Versammlung der gesamten Fülle der Zeit und des Seins in jedem einzelnen Geschehnis gewahrt: In der Unendlichkeit der wirklichen Zeit ist für eine endliche Welt, sofern sie jetzt immer noch ‚wird‘, nur der Geschehenscharakter einer Wiederkehr und damit eines Umlaufes möglich. Dabei sind die einzelnen Vorkommnisse nicht als äußerlich aneinandergereiht vorzustellen, so daß sie einfach in einem leeren Kreislauf abschnurren, sondern jegliches ist je nach seiner Art immer der Wiederklang aus dem Ganzen und der Einklang in das Ganze.⁹¹⁶

Dass durch diese Präsenz des Ganzen in dem Einmalig-Einzigen „jeder Augenblick die höchste Schärfe und Entscheidungskraft“⁹¹⁷ erlangt, bekräftigt Heidegger im Rekurs auf ein bemerkenswertes Nietzsche-Zitat:

    

Heidegger, N I, S. 364. Heidegger, N I, S. 365. Vgl. Nietzsche, NF-1882,5[1]. Heidegger, N I, S. 365. Vgl. Nietzsche, NF-1883,15[18]. Heidegger, N I, S. 365. Heidegger, N I, S. 366.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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Weißt du das nicht? In jeder Handlung, die du tust, ist alles Geschehens Geschichte wiederholt und abgekürzt.⁹¹⁸

Die ewige Wiederkehr bildet nach Heidegger in den Jahren 1881– 1884 (und somit sowohl in den Aufzeichnungen aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft als auch während der Zarathustra-Zeit) unbestritten das „Pendel“⁹¹⁹, welches Nietzsche das „ständige Zustreben auf die Mitte sichert“.⁹²⁰ Doch auch in den Aufzeichnungen der Jahre 1884 – 1888 vermag Heidegger keineswegs ein „Zurücktreten“⁹²¹ oder gar eine „Preisgabe“⁹²² zugunsten des Willens zur Macht zu erkennen. Dass die ewige Wiederkehr auch in den Aufzeichnungen aus der Zeit des „Willens zur Macht“ (1884– 1888) die „Mitte von Nietzsches Denken“⁹²³ repräsentiert und dessen „Grundgedanke“⁹²⁴ bleibt, wird von Heidegger nicht allein im Rückgriff auf den Aphorismus Nr. 56 aus Jenseits von Gut und Böse begründet, der in das Jahr 1886 fällt. Als das alles durchwaltende und durchdringende Gesetz ist die ewige Wiederkehr nach Heidegger nicht nur bis in die letzten Jahre als Gegenstand des Fragens, Zweifelns und Beleuchtens präsent, sondern strukturiert insgeheim auch die prima facie gänzlich auf den Gedanken des Willens zur Macht zugeschnittenen und durch diesen gestützten Entwürfe eines philosophischen Hauptwerkes: Nach all dem, was wir bis jetzt über Nietzsches ‚Gedanken der Gedanken‘ und dessen Bewältigung seit 1881 gehört haben, müßte es verwunderlich erscheinen, wenn der Plan des philosophischen Hauptwerkes nicht getragen und nicht durchherrscht wäre vom Gedanken der ewigen Wiederkunft. Jedenfalls steht das Eine durch den obigen Beleg eines Planes aus dem Jahre 1886 fest, daß der Gedanke der ewigen Wiederkunft auch um diese Zeit die Mitte seines Denkens bildet. Wie sollte er um dieselbe Zeit sein philosophisches Hauptwerk vorbereiten, ohne diesen Gedanken oder gar unter Preisgabe desselben?⁹²⁵

Wie noch zu illustrieren sein wird, geht Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) dazu über, die ewige Wiederkehr aus dem Prinzipienzentrum der Philosophie Nietzsches auszuschließen und den Willen zur Macht zum einzigen Gedanken zu stilisieren. In der Erläuterung und Bewertung der

       

Heidegger, N I, S. 365. Vgl. Nietzsche, NF-1884,31[51]. Heidegger, N I, S. 366. Heidegger, N I, S. 366. Heidegger, N I, S. 372. Heidegger, N I, S. 368. Heidegger, N I, S. 368. Heidegger, N I, S. 372. Heidegger, N I, S. 368.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Entwürfe von 1884– 1888 verfolgt Heidegger die divergierende Interpretationsabsicht, die Vereinbarkeit beider Lehren unter der Ägide der ewigen Wiederkehr zu proponieren. Zwar komme im Jahre 1884 durch den Gedanken des Willens zur Macht „nach der Erfahrung des Gedankens von der ewigen Wiederkunft“⁹²⁶, zweifelsohne etwas „Neues und Wesentliches“⁹²⁷ hinzu, doch firmiere die ewige Wiederkehr nichtsdestotrotz als „sein eigentlicher und einziger Grund“.⁹²⁸ Bezogen auf das Jahr 1884, kann Heideggers Priorisierung der ewigen Wiederkehr tatsächlich eine gewichtige Belegbarkeit prätendieren. So fertigt Nietzsche in ebenjenem Jahre Pläne an, welche die Titel „Mittag und Ewigkeit. Eine Philosophie der ewigen Wiederkunft“⁹²⁹ und „Philosophie der ewigen Wiederkunft“⁹³⁰ tragen. Heidegger intendiert, seine Auffassung einer grundgebenden Signifikanz der ewigen Wiederkehr auch anhand eines Entwurfes aus dem Jahre 1885 zu erhärten. In diesem Entwurf wird die ewige Wiederkehr zum einen nicht mehr namentlich erwähnt. Zum anderen scheint der Wille zur Macht zum ontologischen Zentraltitel aufgestiegen zu sein. Die entsprechende Aufzeichnung aus dem Jahre 1885 hat den Titel: „Der Wille zur Macht.Versuch der Auslegung alles Geschehens“.⁹³¹ Trotz der genannten Hindernisse spürt Heidegger die geheime, doch gewichtige Spur der ewigen Wiederkehr in ebenjenem Werkentwurf auf. Die Vorrede des anvisierten Werkes sollte sich den Motiven der „drohenden Sinnlosigkeit“⁹³² und „dem Problem des Pessimismus“⁹³³ zuwenden. Weil es nach Heidegger allein die ewige Wiederkehr ist, die als „geschichtliche Entscheidung“⁹³⁴ und „Krisis“⁹³⁵ die SelbstÜberwindung des Pessimismus zu leisten vermag, konstatiert er, dass der ganze Plan von vornherein in den „Bereich“⁹³⁶ der ewigen Wiederkehr eingerückt sei.Vor diesem Hintergrund gelangt Heidegger zu dem Zwischenfazit: „Die Frage nach dem Willen zur Macht ist in die Philosophie der ewigen Wiederkunft eingeordnet“.⁹³⁷ Im Ganzen betrachtet, besitzt der Gedanke des Willens zur Macht in den Entwürfen der Jahre 1884/1885 Heidegger zufolge eher den Status einer ontolo-

           

Heidegger, N I, S. 371. Heidegger, N I, S. 371. Heidegger, N I, S. 371. Heidegger, N I, S. 373. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[465]. Heidegger, N I, S. 373. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[243]. Heidegger, N I, S. 373. Vgl. Nietzsche, NF-1885,40[2]. Heidegger, N I, S. 373. Vgl. Nietzsche, NF-1885,40[2]. Heidegger, N I, S. 373. Vgl. Nietzsche, NF-1885,40[2]. Heidegger, N I, S. 372. Heidegger, N I, S. 372. Heidegger, N I, S. 373. Heidegger, N I, S. 373.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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gischen Hilfskonstruktion, welche die Statthaftigkeit der Lehre der ewigen Wiederkehr plausibilisieren soll und dazu dient, deren Strahlkraft innerhalb der Philosophie Nietzsches zu untermauern: Die Prüfung der Pläne aus den Jahren 1884 und 1885 zeigt jedoch eindeutig: die Philosophie, die Nietzsche im Ganzen darzustellen plante, ist die Philosophie der ewigen Wiederkunft; um sie zu gestalten, bedarf es der Auslegung alles Geschehens als Wille zur Macht. Je mehr Nietzsche sich in die Gesamtdarstellung seiner Philosophie hineindenkt, um so bedrängender wird ihm die Auslegung alles Geschehens als Wille zur Macht. Deshalb rückt dieses Wort ‚Wille zur Macht‘ in den Titel des geplanten Hauptwerkes. Daß jedoch das Ganze vom Gedanken der ewigen Wiederkunft getragen und durchgängig bestimmt bleibt, ist so eindeutig, daß man sich fast scheut, noch eigens darauf hinzuweisen.⁹³⁸

Konnte Heidegger die These einer obzwar weniger augenfälligen, so doch ungebrochenen Relevanz der ewigen Wiederkehr innerhalb des aus dem Jahre 1885 stammenden Entwurfes Der Wille zur Macht. Versuch der Auslegung alles Geschehens noch mit einigem hermeneutischem Aufwand rechtfertigen, so zeichnet sich der neuralgische Punkt für seine Interpretationsabsicht in Nietzsches Rede von den „Voraussetzungen“⁹³⁹ der ewigen Wiederkehr ab. Die damit verbundene Insinuation eines relativierenden Bedingungsgefüges entdeckt Heidegger in der Aufzeichnung Nr. 1059 aus der Kompilation Der Wille zur Macht. Dieses Stück ordnet er korrekterweise dem Jahre 1884 zu.⁹⁴⁰ Durch Nietzsches Erwähnung von vorzuschaltenden Bedingungen der ewigen Wiederkehr sieht Heidegger den metaphysischen Vorrang der Lehre gefährdet, da diese wegen ihrer ausgezeichneten Disposition als „alles bestimmende Grundlehre“⁹⁴¹ nicht ihrerseits eine weitere Fundierungsebene besitzen darf. Die daraus erwachsenden exegetischen Schwierigkeiten legt Heidegger sich freilich selbst auf (beziehungsweise: er erhöht diese merklich), da Nietzsche den Willen zur Macht weder in Nr. 1059 noch an anderen Stellen explizit als Voraussetzung der ewigen Wiederkehr begreift. Auch wenn Heidegger aus „Andeutungen und der Gesamtrichtung seines [Nietzsches, J.K.] Denkens […] eindeutig“⁹⁴² entnehmen möchte, dass Nietzsche mit der Voraussetzung der ewigen Wiederkehr „den Willen zur Macht als die durchgängige Verfassung alles Seienden“⁹⁴³ meine, wird dieser Sachverhalt von Heidegger durchaus eingestanden. Ein genauerer

     

Heidegger, N I, S. 374. Heidegger, N I, S. 380. Vgl. Heidegger, N I, S. 379. Heidegger, N I, S. 380. Heidegger, N I, S. 380 Heidegger, N I, S. 380.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Blick auf den Primärtext des thematischen Stückes Nr. 1059 vermag zu veranschaulichen, dass Nietzsche den Willen zur Macht zumindest nicht unmittelbar als Bedingung der ewigen Wiederkehr instantiiert, sondern diesen eher als „Mittel, um ihn [den Wiederkunftsgedanken, J.K] zu ertragen“ versteht und daher der Bedeutung der ewigen Wiederkehr unterordnet: 1. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist. Was aus ihm folgt. 2. Als der schwerste Gedanke: seine mutmaßliche Wirkung, falls nicht vorgebeugt wird, d. h. falls nicht alle Werte umgewertet werden. 3. Mittel, ihn zu ertragen: die Umwertung aller Werte: nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr ‚Ursache und Wirkung‘, sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht usw. nicht mehr die demütige Wendung ‚es ist alles nur subjektiv‘, sondern ‚es ist auch unser Werk!‘ seien wir stolz darauf!⁹⁴⁴

Dass Nietzsche selbst die Parallelisierung zwischen dem Willen zur Macht und der Voraussetzung des Wiederkunftskonzeption nicht eigens vornahm, indiziert für Heidegger darauf, dass Nietzsche der innere Zusammenhang beider Gedanken verschlossen geblieben sei: Wie versteht er [Nietzsche, J.K.] hier ‚Voraussetzung‘? Hat Nietzsche von diesem hier obwaltenden Verhältnis einen klaren und gegründeten Begriff? Nietzsche hatte in der Tat keine klare und zumal keine begriffliche Einsicht in das genannte, erst zu bedenkende Verhältnis.⁹⁴⁵

In dieser Einschätzung offenbart sich die Zweischneidigkeit der Heideggerschen Argumentation. Einerseits sucht Heidegger der Lesart entgegenzutreten, dass der Wille zur Macht als „letztes Faktum“⁹⁴⁶ die ewige Wiederkehr als „Gedanke der Gedanken“⁹⁴⁷ in den späteren Entwürfen verdränge. Andererseits ist es Heidegger selbst, der – wenngleich unter erheblichen Einschränkungen – der Prioritätsthese  Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1059, S. 691. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[284].  Heidegger, N I, S. 381.  Heidegger, N I, S. 374. Vgl. Nietzsche, KGW VII, 3, 40 [61], S. 493.  Vgl. Heidegger, N I, S. 374: „Die ewige Wiederkunft ist kein letztes Faktum, sondern ‚der Gedanke der Gedanken‘. Der Wille zur Macht ist kein Gedanke, sondern ein ‚letztes Faktum‘; dieses kann jenen weder verdrängen noch ersetzen. Es erhebt sich die entscheidende, von Nietzsche selbst nicht mehr gestellte Frage: Was liegt hinter diesem Unterschied zwischen der ewigen Wiederkunft als dem ‚schwersten Gedanken‘ und dem Willen zur Macht als dem ‚letzten Faktum‘ im Grunde verborgen? Solange wir in diesen gründenden Bereich nicht zurückfragen, bleiben wir an Worten hängen und in einem äußerlichen Verrechnen von Nietzsches Denken stecken.“

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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des Willens zur Macht eine zumindest hypothetische Geltung verschafft, indem er diesen (darin über Nietzsche hinausgehend) als Voraussetzung der ewigen Wiederkehr dechiffriert. Nichtsdestotrotz ist zu beachten, dass Heidegger auf diese Weise die bereits in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst entwickelte Fundamentalthese einer Zusammengehörigkeit beider Lehren auch in der philologisch-editionsgeschichtlich orientierten Rekonstruktion der Nachlassaufzeichnungen bewahren und bewähren möchte. Dies manifestiert sich darin, dass Heidegger die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Hauptgedanken auf der Basis der etablierten Unterscheidung zwischen der Verfassung und der Seinsweise des Seienden im Ganzen zu erörtern gedenkt: Es ergibt sich indes aus der Übersicht über die Pläne dieser Zeit [1884– 1888, J.K.], daß die Wiederkunftslehre nirgends zurückgedrängt wird, sie behauptet überall ihre bestimmende Stellung. Demnach bleibt nur die Frage: Wie verhalten sich der Wille zur Macht als die durchgängige Verfassung des Seienden und die ewige Wiederkunft des Seienden im Ganzen zueinander? Was bedeutet es, wenn der Wille zur Macht von Nietzsche als ‚Voraussetzung‘ für die ewige Wiederkunft des Gleichen angesetzt wird?⁹⁴⁸

In der Folge entfaltet Heidegger drei Begründungszenarien und Rückführbarkeitsmodi der ewigen Wiederkehr auf den Willen zur Macht. In den beiden ersten Varianten rekurriert er auf den Ergebnisstand der einleitenden Punkte des Beweises. Wie oben bereits erhellt werden konnte, avancierte die werkinterne Vorform des Willens zur Macht in der Gestalt der endlich-bestimmten, mit dem Weltgeschehen und dessen Energiehaushalt gleichgesetzten All-Kraft zum Ausgangsort der Herleitung.Wenn daher erstens in epistemologischer Zugriffsrichtung nach dem Kriterium gefragt wird, das die Einsehbarkeit, Nachvollziehbarkeit sowie die stichhaltige Kohärenz der Konzeption einer in sich zurücklaufenden Seinsweise des Seienden gestattet und dergestalt die Triftigkeit der Annahme einer ewigen Wiederkehr des Gleichen validiert, enthüllt sich der Wille zur Macht als Voraussetzung: 1. sofern aus dem Willen zur Macht als dem Kraftcharakter des Weltganzen sich die ewige Wiederkunft des Gleichen erweisen läßt. Der Wille zur Macht wäre so der Erkenntnisgrund für die ewige Wiederkehr des Gleichen.⁹⁴⁹

Da sich in der Rekapitulation des Beweises ergab, dass allein die Endlichkeit der Kraft die zwar praktisch unüberschaubare, theoretisch jedoch begrenzte Anzahl an Kombinationen inmitten des ständigen Werdens (im Sinne des fortgesetzten  Heidegger, N I, S. 380.  Heidegger, N I, S. 381.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Wandels) garantiert und diese somit die Abgeschlossenheit des Weltganzen sichert, fungiert der Wille zur Macht zweitens als physikalische Ermöglichungsbedingung der ewigen Wiederkunft des Gleichen: 2. sofern die ewige Wiederkehr nur möglich ist, wenn dem Seienden als solchen die Verfassung des Willens zur Macht eignet. Der Wille zur Macht wäre so der Sachgrund für die ewige Wiederkehr des Gleichen.⁹⁵⁰

Anders ausgedrückt: Nur wenn das Seiende durch den ziellosen, sich niemals erschöpfenden Willen zur Macht charakterisiert ist und es nichts außer diesem gibt, kann es einer Wiederkehr zugewandt sein. Diese Bestimmung des Willens zur Macht als Verfassung des Seienden überträgt Heidegger im dritten Voraussetzungsmodell in seine Kerndistinktion von essentia und existentia. Die im zweiten Punkt thematische, kosmologische Vorrangigkeit des Willens zur Macht wird in einer metaphysischen Dimension gegründet beziehungsweise in dieser reproduziert: 3. sofern die Verfassung des Seienden (sein Was, die quidditas, essentia) die Weise des Seins (dessen Wie und Daß, die existentia) begründet.⁹⁵¹

Die dreigliedrige Aufzählung der epistemologischen, kosmologischen und metaphysischen Fundierungsoptionen lässt sich kaum mit der von Heidegger zuvor lancierten Ansicht vereinigen, „daß der Wille zur Macht die ewige Wiederkunft des Gleichen fordert“.⁹⁵² Vielmehr scheint der Wille zur Macht in allen drei Modellen zur unabhängigen Entität aufgewertet zu werden. Der Wille zur Macht muss der ewigen Wiederkehr notwendigerweise zugrunde liegen, kann aber selbst auch ohne diese subsistieren. In ersichtlicher Divergenz zu Heideggers Schilderung der Forderungsdirektion erfordert die ewige Wiederkehr des Gleichen offenkundig den Willen zur Macht, während dies umgekehrt nicht gilt. Durch die von Heidegger in Nr. 1059 hineingelesene Gradierung des Machtwillens zur Präsupposition scheint die ewige Wiederkehr ab 1884 tatsächlich ihre Erstrangigkeit einzubüßen. Auch in diesem Kontext wählt und findet Heidegger allerdings einen Weg, der es ihm erlaubt, die ewige Wiederkehr in die insinuierte Wesensfülle als „alles bestimmende Grundlehre“⁹⁵³ zurückzuführen und seine ambitionierte These auf diese Weise verteidigen zu können. Entscheidend ist, dass Heidegger bei dem dritten Punkt ansetzt und eine zumindest mögliche, invertierte Er   

Heidegger, N I, S. 381. Heidegger, N I, S. 381. Heidegger, N I, S. 380. Heidegger, N I, S. 380.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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schließungsrichtung der Verfassung des Seienden aus der Seinsweise in Aussicht stellt. Entsprechend reformuliert, kann das Seiende im Ganzen allein dann durch den Grundcharakter des Willens zur Macht geprägt sein, wenn es sich zunächst und zumeist in der kreisförmigen Anfangs- und Endlosigkeit, in der Notwendigkeit des Chaos und in der Möglichkeit der Selbstwiederbringung hält: Solange das Verhältnis zwischen der Verfassung des Seienden und der Weise des Seins im Unbestimmten bleibt, besteht auch die Möglichkeit, daß umgekehrt die Verfassung des Seienden aus der Weise des Seins entspringt.⁹⁵⁴

In der von Heidegger daraufhin arrangierten, freilich eher unter der Signatur einer experimentellen Erprobung zu betrachtenden Umkehrung reüssiert die ewige Wiederkehr als ursprüngliche Seinsweise des Weltgeschehens, das sich in der inhaltlichen Bestimmung als Wille zur Macht nur ausdrückt, konkretisiert und entfaltet. Indem Heidegger den Willen zur Macht als „Zurückwollen zu dem, was war, und Hinauswollen in das, was sein muß“⁹⁵⁵ begreift, ist die Gesamtverfassung des Seienden dadurch geprägt, qua Selbsterhaltung die von der ewigen Wiederkehr vorgegebene Bewegung zu vollziehen. Der Wille zur Macht wird als ein von der ewigen Wiederkehr ununterscheidbarer Impetus in diese eingesenkt. Heidegger behält die Differenz von Erkenntnis- und Sachgrund auch in der zugunsten der ewigen Wiederkehr ausfallenden Umstülpung der Relation bei: Als „Wesen des Willens zur Macht“⁹⁵⁶ kann sie ihrerseits als dessen Voraussetzung und Sachgrund klassifiziert werden. Weil ihr Wesen als Sachgrund des Willens zur Macht jedoch einzig im abstrahierenden Rückschreiten von dem als Ausgangspunkt genommenen Willen zur Macht einsichtig gemacht werden kann, bleibt dieser als beleuchtender Erkenntnisgrund unverzichtbar.⁹⁵⁷ Die Umdrehung des Fundierungsweges, die eine Vertauschbarkeit beider Lehren impliziert, rechtfertigt Heidegger im Rückgriff auf die letzten Zeilen des furiosen und sprachgewaltigen Schlussaphorismus Nr. 1067 aus Der Wille zur Macht. Während Nietzsche in der früheren Fassung die Eingangsfrage: „Und wißt

 Heidegger, N I, S. 381.  Heidegger, N I, S. 382. In dieser Auffassung des Willens überschneidet sich Heideggers Deutung mit derjenigen Löwiths. Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 82: „Denn im Wollen des immer wiederkehrenden Kreislaufs der Zeit und des Seins wird der so wollende Wille auch selber aus einer geraden Bewegung zum voran- wie zurückwollenden Kreis, dessen Bewegung nicht, wie die des Ziele und Zwecke setzenden Wollens, zur Zukunft hin offen, sondern in sich selber geschlossen ist, und der darum in allem Gewollten ausschließlich sich selber und stets das Gleiche und immer das Ganze will.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 419.  Vgl. Heidegger, N I, S. 382.

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ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist?“ mit der Identifikation von Welt und ewiger Wiederkehr⁹⁵⁸ beantwortet hatte, revidiert er diese Antwort in der zweiten, endgültigen Fassung aus dem Jahre 1885, die er apodiktisch-universalisierend wie folgt beschließt: „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem!“⁹⁵⁹ Durch die Bezugnahme auf die beiden unterschiedlichen, das Weltgeschehen einmal in der ewigen Wiederkehr des Gleichen zurückgründenden und einmal im Willen zur Macht verortenden Endabschnitte des Stückes Nr. 1067 möchte Heidegger bekräftigen, dass er die Problematik der Relationsermittlung beider Lehren nicht schlichtweg von außen und tendenziös-unvermittelt an Nietzsche heranträgt. Heidegger will unterstreichen, dass für „Nietzsche selbst in den letzten Schaffensjahren dieses Verhältnis als ein dunkles und für ihn nicht faßliches die eigentliche Unruhe seines Denkens“⁹⁶⁰ ausgemacht habe. Im vergleichenden Rückblick auf die Vorlesung aus dem Wintersemester 1936/1937 lässt sich sagen, dass Heidegger seine früheren Überlegungen zur Verhältnisbestimmung beider Lehren wieder aufnimmt und zugleich modifiziert. Die ewige Wiederkehr kann nach wie vor beanspruchen, sowohl die Seinsweise des Seienden als auch das Wesen des Willens zu definieren. Obschon Heidegger in das Spannungsgefüge eine Privilegierung der Seinsweise gegenüber der Verfassung einträgt, da diese in der Gestalt der ewigen Wiederkehr dessen sich in dem verfließenden Werden habitualisierende Bewegung grundiert, so kann die ewige Wiederkehr doch nie unabhängig vom Willen zur Macht erkannt werden. Weil die

 Vgl. das Ende der ersten Fassung: Nietzsche, KGW VII 4/2, S. 471 f: „…diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimnis-Welt der doppelten Wollüste, dies mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt,…: diese meine Welt, – wer ist hell genug dazu, sie zu schauen, ohne sich Blindheit zu wünschen? Stark genug, diesem Spiegel seine Seele entgegen zu halten? Seinen eignen Spiegel dem Dionysos-Spiegel? Seine eigne Lösung dem Dionysos-Rätsel? Und wer das vermöchte, müßte er dann nicht noch mehr tun? Dem ‚Ring der Ringe‘ sich selber anverloben? Mit dem Gelöbnis der eignen Wiederkunft? Mit dem Ring der ewigen Selbst-Segnung, Selbstbejahung? Mit dem Willen zum Wieder- und-noch-ein-Mal-Wollen? Zum Zurückwollen aller Dinge, die je gewesen sind? Zum Hinaus-Wollen, zu allem, was je sein muß? Wißt ihr nun, was mir die Welt ist? Und was ich will, wenn ich diese Welt – will?“ Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der beiden Fassungen vgl. Andreas Urs Sommers Diskussion des Aphorismus Nr. 36 aus Jenseits von Gut und Böse.Vgl. Andreas Urs Sommer, Kommentar zu Nietzsches „Jenseits von Gut und Böse“, NK 5/1, Berlin / New York 2016.  Heidegger, N I, S. 382.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1067, S. 697: „[…] wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Rätsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? – Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem.“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,38[12].  Heidegger, N I, S. 381.

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Erkenntnis wiederum einzig und immer aus dem Willen zur Macht entspringt, können sowohl die Begründung als auch der Nachvollzug der ewigen Wiederkehr niemals außerhalb der Sphäre des Willens zur Macht stehen. In diesem Zusammenhang weist Heidegger auf die Besinnung auf die „Wesensherkunft des Wesens des Seins“⁹⁶¹ hin, aus der sich eine lichtvolle Klärung der nicht mehr in hierarchische oder kausale Ableitungsverhältnisse aufzulösenden Zusammengehörigkeit beider Gedanken zuspielen könnte: Das Verhältnis läßt sich durch die Beziehung zwischen einem Bedingenden und einem Bedingten, zwischen Gründendem und Begründetem nicht bestimmen. Zu seiner Bestimmung bedarf es vorgängig einer Erörterung der Wesensherkunft des Wesens des Seins.⁹⁶²

1.6.4 Selbstsein und kairologische Theophanie: Heideggers Auslegung der Mitteilungen aus der Fröhlichen Wissenschaft und aus Jenseits von Gut und Böse Der Aphorismus Nr. 341 aus der Fröhlichen Wissenschaft lautet: Das grösste Schwergewicht. – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‘ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ‚du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‘ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; die Frage bei allem und jedem: ‚willst du dies noch einmal und noch unzählige Male?‘ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie müßtest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?⁹⁶³

 Heidegger, N I, S. 381.  Heidegger, N I, S. 381.  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 570. Vgl. Heidegger, N I, S. 238 – 239.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Der mit „Das grösste Schwergewicht“ überschriebene Aphorismus Nr. 341 wird von Heidegger als Anfang und Ende der Fröhlichen Wissenschaft gedeutet.⁹⁶⁴ Anhand der Reaktion auf diese Lehre lässt sich ablesen, ob eine sich als fröhlich verstehende Wissenschaft, in der sich die Grundhaltung zum Seienden ausspricht, die tragische Einsicht der unumgänglichen und ständigen Konstitution des Furchtbaren und Sinnwidrigen in eine Gesamtbejahung der Welt umzuwenden vermag oder an ihr scheitert. Eine Philosophie, welche die Wiederkehr des Gleichen zu ihrem Kerngedanken macht, mutet destruktiv und freiheitshemmend an. Sie erhebt die präfigurierte Unausweichlichkeit des individuellen Lebenslaufes in ihre höchste Steigerungsstufe und scheint dem Einzelnen allein die Möglichkeit der einwilligenden Zustimmung und der konsternierten oder belächelnd-aufgeklärten Ablehnung zu gewähren.Wenn sie wahr ist, vermag keine der beiden Optionen die Iteration des Geschehens zu beeinflussen. In der ersten Mitteilung der Wiederkunftslehre wird im Gegensatz dazu der hypothetische, experimentelle Charakter durch mehrere Stilelemente markiert. Der Dämon, der die Wiederholung aller Ereignisse, der unbedeutenden, austauschbaren und der unvergesslichen, einschneidenden und seltenen beschwört, spricht nicht aus einer intellektuellen Hochwarte. Er folgt dem von Nietzsche angesprochenen Du vielmehr in den seiner Kundgabe vorhergehenden Zustand gänzlichen Zurückgeworfenseins auf sich selbst. In der Schilderung der möglichen Folgehandlungen auf die Verlautbarung des Dämons ist auffällig, dass Nietzsche die unmittelbar-abrupte, unwirsche Reaktion von einer glücksgenährten Beistimmung und enthusiastischen Lobpreisung des Dämons als göttliches Wesen unterscheidet, die an einen herausragenden Augenblick gebunden ist und aus ihm allererst erwächst.⁹⁶⁵ In einem darüber hinausgehenden Schritt führt Nietzsche die Annahme einer Internalisierung ein, die von der überwältigenden Kraft des Gedankens evoziert wird. Es ist nicht mehr die Relation zwischen dem Dämon und dem Individuum, die im Vordergrund steht, sondern die innere Auswirkungsform der Wiederkunftslehre selbst. Sie wird zum Kontrollorgan, zum ethischen, in die Zeit er-

 Vgl. Heidegger, N I, S. 240: „Jetzt begreifen wir schon eher, warum Nietzsche diesen dämonischen Gedanken erstmals am Schluß der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ mitteilt; denn was hier zum Schluß erwähnt wird, ist der Sache nach nicht das Ende, es ist der Anfang der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘, ihr Anfang und Ende zugleich: die ewige Wiederkunft des Gleichen, dasjenige, was die ‚Fröhliche Wissenschaft‘ zuerst und zuletzt wissen muß, um eigentliches Wissen zu sein. ‚Fröhliche Wissenschaft‘, das ist für Nietzsche nichts anderes als der Name für die ‚Philosophie‘, für jene, die in ihrer Grundlehre die ewige Wiederkunft des Gleichen lehrt.“  Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 341, S. 570.

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streckten Imperativ, der das Kriterium der Wiederholbarkeit zugrunde legt, um die Güte, Überzeugungskraft und Tragweite einzelner Handlungen zu beurteilen und zu hinterfragen.⁹⁶⁶ Weil sie sich anders als der kategorische Imperativ nicht nur auf moralisch qualifizierbare Maximen und Handlungen bezieht, sondern – im Falle ihrer rigorosen Befolgung – jede Entäußerung auf ihre Verewigung hin problematisiert und individuell zuspitzt, kann Nietzsche sie als „das grösste Schwergewicht“⁹⁶⁷ bewerten. Nimmt das Individuum die Lehre an, kann es sich nicht mehr vor sich selbst verstecken. Jede noch so unwichtig erscheinende Handlung wird auf eine strukturierende Bedeutungstiefe verpflichtet, weil auch die mit ihrer Genese verbundenen Erwartungen, Gedanken und Empfindungen mit ihr gemeinsam wiederkehren werden. Wichtig ist, dass Nietzsche im letzten Satz der Aufzeichnung einen Perspektivwechsel einschlägt. Er entwirft die Alternative, dass die Scheidung in die Überwindenden, die den sich selbst einholenden und hervorbringenden Lauf der Dinge rückhaltlos bejahen und diejenigen, die vor ihm zurückweichen, nicht aus der Konfrontation mit der Lehre selbst erwachsen muss. Stattdessen besteht die Möglichkeit, dass diejenigen, die das Leben uneingeschränkt gutheißen und deswegen dieselben Situationen unendlich oft durchleben wollen, die Wahrheit der Wiederkunft von sich aus fordern. Dies ist der verewigende Wunsch, den auch Schopenhauer im §54 der Welt als Wille und Vorstellung dem fiktiven, glücklichselbstsicheren Menschen angedeihen lässt.⁹⁶⁸ Um zu illustrieren, weswegen ein einziger Gedanke eine lebensgestaltende Macht erhalten kann, greift Heidegger auf eine Äußerung Nietzsches zurück: Gegen die Lehre vom Einfluß des Milieus und der äußeren Ursachen: die innere Kraft ist unendlich überlegen. ⁹⁶⁹

 Vgl. zur Verknüpfung der ewigen Wiederkehr mit einem ethischen Imperativ: Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche, S. 394 ff.  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 341, S. 570.  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §54, S. 357– 358: „Ein Mensch, der die bisher vorgetragenen Wahrheiten seiner Sinnesart fest einverleibt hätte, nicht aber zugleich durch eigene Erfahrung, oder durch eine weitergehende Einsicht, dahin gekommen wäre, in allem Leben dauerndes Leiden als wesentlich zu erkennen; sondern der im Leben Befriedigung fände […] und der, bei ruhiger Überlegung, seinen Lebenslauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer Wiederkehr wünschte, und dessen Lebensmuth so groß wäre, daß er, gegen die Genüsse des Lebens, alle Beschwerde und Pein, der es unterworfen ist, willig und gern mit in den Kauf nähme; ein solcher stände mit ‚festen, markigen Knochen auf der wohlgegründeten, dauernden Erde‘ und hätte nichts zu fürchten…“  Heidegger, N I, S. 242. Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[175].Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 70, S. 57.

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In Übereinstimmung mit der Profilierung des kommandierenden Gedankens in der Vorlesung des Wintersemesters 1936/1937, der in der Selbstauslegung des Wollenden zum Vorschein kommt, interpretiert Heidegger das „Innerste der ‚inneren Kraft‘“⁹⁷⁰ als denjenigen Gedanken, der den Menschen in allen Bezügen grundlegend bestimmt, sofern er als „grösstes Schwergewicht“ begriffen wird. Das Schwergewicht zieht den Menschen in die Tiefe, um ihm von dort die Aussicht in die Höhe zu eröffnen. Da es sich als lastende Beschwerung selbst aufheben würde, falls es gänzlich niederbeugte und unten hielte, kann das Schwergewicht den Dingen ihre Verbindlichkeit, ihre Ernsthaftigkeit und den dauernden Anspruch des Widerständigen nur verleihen, indem es selbst als ordnendes Maß präsent bleibt.Wenn die Dinge ihr Gewicht verlieren, steigen sie an die Oberfläche und büßen ihre Dignität ein. Das bisherige Schwergewicht wurde durch das Christentum repräsentiert, das den einzelnen Menschen einerseits marginalisierte, indem es ihn in ein transmundanes Offenbarungs- und Heilsgeschehen einfügte, ihn andererseits jedoch auszeichnete, indem es ihm einen festen Platz im Kosmos zuwies und das Individuum der göttlichen Anteilnahme für würdig befand: Die Zeit kommt, wo wir dafür bezahlen müssen, zwei Jahrtausende lang Christen gewesen zu sein: wir verlieren das Schwergewicht, das uns leben ließ, – wir wissen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein.⁹⁷¹

Bemerkenswert ist, dass Heidegger den im Aphorismus Nr. 341 erwähnten Topos der „einsamsten Einsamkeit“⁹⁷² nicht als Rückzug eines vereinzelten Ichs begreift. Interne Selbstkritik an den subjektivistischen Restbeständen von Sein und Zeit übend, überformt Heidegger die sich anbietende Assoziation der Eigentlichkeit mit der spätestens ab 1936 hervortretenden Konzeption des Da-Seins als Gründungsstätte der Wahrheit des Seins.⁹⁷³ Die einsamste Einsamkeit konvergiert nach Heidegger mit dem Selbstsein des Menschen, das jedweder dialogischen und autoreflexiven Beziehung vorausgeht. Da das Selbstsein in die Bezüge von Ich, Du und Wir ermöglichend ausstrahlt, bestimmt die Art und Weise, wie im Selbstsein epochale Gedanken Gestalt annehmen und aufgenommen werden, den Zugang des Individuums zur Gesamtheit des Seienden. Weil der schwerste, am meisten heraus-fordernde Gedanke die Lebensführung des Einzelnen komplett verwan-

 Heidegger, N I, S. 242.  Heidegger, N I, S. 243. Vgl. Nietzsche, NF-1887,11[148]. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 30, S. 24.  Heidegger, N I, S. 244. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 341, S. 570.  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 330.

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delt, der existenzielle Entwurf aber auf die Rückgründung im basalen SelbstSein⁹⁷⁴ angewiesen ist, stellt sich das Denken der Wiederkehr selbst umkreisend in das Äußerste des Ringgeschehens hinaus, um von dort aus die „innerste Fülle“⁹⁷⁵ des Selbstseins umzuprägen. Aufgrund dieses grenzüberschreitenden Zusammenschlusses von Selbstsein und Weltganzem erweist sich die ewige Wiederkehr des Gleichen als der schwerste Gedanke. Die dritte Mitteilung der Wiederkunftslehre, die sich im Aphorismus Nr. 56 der 1886 erschienenen Schrift Jenseits von Gut und Böse findet, bildet für Heidegger die Einsatzstelle, um sich zum angeblichen Atheismus Nietzsches zu positionieren. Sie soll hier ebenfalls in voller Länge wiedergegeben werden: Wer, gleich mir, mit irgendeiner rätselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halbchristlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerschen Philosophie; wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein- und hinuntergeblickt hat – jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral –, der hat vielleicht ebendamit, ohne daß er es eigentlich wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht: für das Ideal des übermütigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, so wie es war und ist, wiederhaben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu dem, der gerade dies Schauspiel nötig hat – und nötig macht: weil er immer wieder sich nötig hat – und nötig macht – – Wie? Und dies wäre nicht – circulus vitiosus deus? ⁹⁷⁶

Die diskussionswürdige Charakterisierung der ewigen Wiederkunft als „weltverneinendste aller möglichen Denkweisen“⁹⁷⁷, die sogar den Schopenhauerschen Pessimismus überbietet, mitsamt der von Nietzsche dargelegten, unter der Hand geschehenen Umkehrung in das „Ideal des übermütigsten, lebendigsten und weltbejahendsten Menschen“⁹⁷⁸ wird von Heidegger weitgehend ignoriert. Heidegger reserviert sich diesen Umschlag aus der äußersten Negativität für die Sichtbarmachung der ewigen Wiederkehr als Überwindung des Nihilismus. Er konzentriert sich nahezu ausschließlich auf den am Ende des Passus erfragten circulus vitiosus deus. Das Wort circulus verweist auf den Kreis, als der und in dem

    

Zur Konzeption des Selbstseins vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 320 – 321. Heidegger, N I, S. 245. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 56, S. 74– 75. Vgl. Heidegger, N I, S. 285. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 56, S. 74. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 56, S. 75.

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die ewige Wiederkehr waltet. Dem Kreis werden mit dem Attribut des vitiosus die Merkmale des vielgestaltigen Leidens und der sich widersetzenden, täuschenden Mühsal aufgeprägt. Dies sind jene Charakteristika, die sich in Zarathustras Fürsprache für das Leben, das Leiden und den Kreis wiederentdecken lassen. Erklärungsbedürftig ist allerdings die Beifügung des „deus“. Es drängt sich die Frage auf, ob der Gott selbst als der Ring gefasst werden kann, der das Zerstörerische befördert und damit den „Gesamtcharakter des Seienden im Ganzen“⁹⁷⁹ repräsentiert. Dies könnte einen Widerhall in der dem Dämon in der ersten Mitteilung entgegengebrachten Antwort finden, in der die Wiederkunftslehre als göttlich klassifiziert wird. Indes ist die inhaltliche Bedeutsamkeit der Frageform selbst zu berücksichtigen. Der das Schauspiel betrachtende und benötigende, maskentragende Gott – Dionysos – wird nach Heidegger gerufen und erfragt, indem seine mögliche Präsenz und aufleuchtende Epiphanie im Ringgeschehen in Aussicht gestellt wird. Heidegger beruft sich diesbezüglich auf den bekannten Aphorismus Nr. 150 aus Jenseits von Gut und Böse, der als Leitwort der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 fungiert: und um Gott herum wird Alles – wie? Vielleicht zur ‚Welt‘?⁹⁸⁰

Da sich im Falle der Anwesenheit Gottes im Kreis, in dem die Welt je aufs Neue entsteht, verglüht und aufkeimt, pantheistische Assoziationen aufdrängen, diskutiert Heidegger zuerst eine solche „billige Auslegung“.⁹⁸¹ Er lässt allerdings unbeantwortet, ob die Vergöttlichung des Seienden im Ganzen als Pantheismus verstanden werden kann und behilft sich mit dem Hinweis, dass vor der abschließenden Beurteilung zuerst die Frage vertieft werden müsse: […] was πᾶν, das All, das Ganze, was θεός, Gott, denn heißt.⁹⁸²

 Heidegger, N I, S. 286.  Heidegger, N I, S. 286. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 150, KSA 5, S. 99.  Heidegger, N I, S. 286.  Heidegger, N I, S. 286. Vgl. zur Verknüpfung des Pantheismus mit der ewigen Wiederkehr: Nietzsche, NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 7, KSA 13, S. 213 – 214: „Da begreift man, daß hier [in der extremsten Form des Nihilismus, d. h. der ewigen Wiederkehr, J.K.] ein Gegensatz zum Pantheismus angestrebt wird: denn ‚Alles vollkommen, göttlich, ewig‚ zwingt ebenfalls zu einem Glauben an die ‚Wiederkunft‚. Frage: ist mit der Moral auch diese pantheistische Ja-stellung zu allen Dingen unmöglich geworden. Im Grunde ist ja nur der moralische Gott überwunden. Hat es einen Sinn, sich einen Gott ‚jenseits von Gut und Böse‚ zu denken? Wäre ein Pantheismus in diesem Sinne möglich? Bringen wir die Zweckvorstellung aus dem Prozess weg und bejahen wir trotzdem den Prozeß? – Das wäre der Fall, wenn Etwas innerhalb jenes Prozesses in jedem Moment desselben erreicht würde – und immer das Gleiche. Spinoza gewann eine solche

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In ebendieser aufgedeckten Fragwürdigkeit wird Gott als Rätsel offenbar und als unaussprechlich-undefinierbar gewürdigt. Gott wird nicht mehr jenseits der Welt, sondern diesseits einer einwandfreien Verortung gedacht. Nur der christliche, moralische Gott in Form der sich erbarmenden und bestrafenden Persönlichkeit ist gestorben. Im Gegensatz zu dem wichtigen Aufsatz: Nietzsches Wort „Gott ist tot“ aus dem Jahre 1943, der oft als Quintessenz der Beschäftigung Heideggers mit Nietzsche angesehen wird, folgt Heideggers Anamnese des Gottestodes 1937 weitgehend dem von Nietzsche entwickelten Narrativ. Er reichert dieses mit einer Wendung gegen die „oberflächlichen Atheisten, die Gott leugnen, wenn sie ihn nicht im Reagenzglas finden“⁹⁸³ an. In diesem Zusammenhang wird transparent, dass der Atheismus von denselben ontotheologischen Prämissen wie der Theismus lebt. Auch wenn der Atheismus Gott als actus purus, als Einheit in der Trinität oder als innersten Grund des Menschen negiert, konzentriert er sich dabei auf die Bestreitung der Anwesenheit Gottes. Diese Präsenz bildet den Ausgangspunkt für die rationale – apologetische wie kritische – Diskussion. Es sind die Ergründungsdisziplinen der göttlichen Einflussnahme – die Moralphilosophie und die Theologie – deren anerzogene Rechtschaffenheit den Ursprung der eigenen Legitimation in Zweifel zieht.⁹⁸⁴ Heideggers spätere These, dass sich der unausgesetzte Tod Gottes im Wertdenken vollzieht, das Gott entweder zum obersten Wert erhebt oder ihn im Medium der entlarvenden Umkehrung zu einem solchen herabsetzt, ist allerdings bereits 1937 präfiguriert: Er starb, weil die Menschen ihn mordeten, sie mordeten ihn, indem sie seine Größe als Gott nach der Kleinheit ihrer Belohnungsbedürfnisse ausrechneten und ihn damit klein machten; dieser Gott wurde entmachtet, weil er ein ‚Fehlgriff‘ des sich und das Leben verneinenden Menschen war.⁹⁸⁵

bejahende Stellung, insofern jeder Moment eine logische Nothwendigkeit hat: und er triumphierte mit seinem logischen Grundinstinkte über eine solche Weltbeschaffenheit.“  Heidegger, N I, S. 287.  Vgl. zu diesem Topos: Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 357, S. 600. In dem berühmten Aphorismus Nr. 344 der Fröhlichen Wissenschaft „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ zeigt Nietzsche auf, dass die bislang mit der Metaphysik und dem Christentum verbundene Apotheose der Wahrheit in der modernen Wissenschaft weiterhin wirksam ist. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 344, S. 577: „Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, – dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato‚s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist…“  Heidegger, N I, S. 286.

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Während der Abschnitt nach dem Semikolon eine Überlegung Nietzsches referiert, lässt sich in dem Sachverhalt der Ausrechnung von „Belohnungsbedürfnissen“ Heideggers 1943 postulierte Verknüpfung des unvollkommenen Nihilismus (der die transzendente Sinnposition beibehält) mit dem Motiv der unaufhörlichen Setzung von Werten antizipieren. Hingegen legt Heidegger das schöpferische-imaginative Potenzial des Menschen 1937 noch nicht auf die Leitbahn eines Werteagons fest, den der Wille zur Macht als heimlicher Akteur durchdringt. Vielmehr illustriert er, wie der gott-lose Zarathustra in der Konfrontation mit dem Tragischen zu einem doppelten Schaffensakt aufgefordert wird. Erst die desillusionierte Verabschiedung des bisherigen Gottes ruft die Not hervor. Es ist die Not, die den Menschen zu einer Befreiung aus der hervorgerufenen Leere verpflichtet, in der sich die Möglichkeit eines kommenden Gottes noch zugunsten der verlöschenden und zurückbleibenden Göttlichkeit verbirgt. Die Wende der Not kann nach Heidegger nur gelingen, wenn sich der Mensch in der Erschaffung von Göttern in seine höchsten Möglichkeiten aufschwingt. Darin bejaht der Mensch jene über sich hinausweisende, sinnstiftende Illusionskraft, die das Gefüge von Haltsuche und Veränderungsstreben allererst heraufbeschworen hat. Diese „stille Kraft des Möglichen“⁹⁸⁶ wird in der tätigen Entgegensetzung des Schwergewichts in diesem bewahrt und versperrt eine künftige Gotteserfahrung nicht. In der Folge garantiert das Schwergewicht, dass der Umgang mit dem kommenden Gott weder in die Beliebigkeit noch in die Berechenbarkeit abgleitet. Heidegger schließt diese Überlegungen an die Frage des 19-jährigen Nietzsche an: Und wo ist der Ring, der ihn [den Menschen] endlich noch umfaßt? Ist es die Welt? Ist es Gott?⁹⁸⁷

Heidegger beantwortet die Frage dahingehend, dass es die ewige Wiederkehr des Gleichen ist, die im ringförmigen Einschluss des Seienden den Menschen in die Welt freigibt. Dadurch ermöglicht sie überhaupt erst die Bestimmung der Welt als Welt, in der sich Licht und Schatten, Verheißungsvolles und Furchtbares, wechselseitig verflechten und bedingen, anstatt in manichäischer Disjunktion auseinanderzudriften. Weil das Mirakel der ewigen Wiederkehr nur im Augenblicksgeschehen erfahren werden kann, wird sie als Durchbruchsgedanke zu dem in der augenblicklichen Erfragung präsenten, in seiner Abwesenheit aufleuchtenden Göttlichen privilegiert. Demgegenüber wird der Gott in der auf Beweisen

 Heidegger, Sein und Zeit, §76, S. 394.  Heidegger, N I, S. 288. Vgl. Nietzsche, Mein Leben. Autobiographische Skizze des jungen Nietzsche, S. 12.

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gründenden Gewissheit entgöttlicht und auf unabweisliche Wesensmerkmale fixiert. Das Fragen aus dem Augenblick hält sich eine mögliche Theophanie offen, deren sich ankündigende Näherung und im Rufen aufrechterhaltene Ferne das menschliche Verhältnis zu den sich zusammendrängenden, sich dem Gott zukehrenden Zeitdimensionen prägt.⁹⁸⁸ Diese von Heidegger ursprünglich im Sommersemester 1937 vorgetragenen, kairologischen Reflexionen besitzen eine unbestreitbare Affinität zu dem in der VII. Fuge der Beiträge zur Philosophie bedachten Vorbeigang des letzten Gottes.⁹⁸⁹ Der letzte Gott ist stets in seinem Kommen befindlich und bleibend.⁹⁹⁰ Er führt innerhalb der ihm gewidmeten Erwartungshaltung die Begegnung mit der Akzeleration der Ankunft der Götter und der Verlangsamung ihrer Flucht herbei, was einen Zugang zur kairologischen Ursprungsdimension der Zeit ermöglicht. Diesem Geschehnis ist der Mensch nicht passiv erleidend ausgeliefert. In dem Aufschwung zum Da-Sein zeichnet sich die verborgene Möglichkeit einer Gründung ab, die im Umkreis des letzten Gottes des Streits von Welt und Erde gewahr werden könnte. Darin ereignet sich die Eröffnung der Götterankunft als Näherung der Fliehenden und des Ausbleibens als Entfernung der Nahestehenden.

 Vgl. Heidegger, N I, S. 288.Vgl. hierzu den folgenden Passus aus Heideggers früher Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion, die im Wintersemester 1920/1921 gehalten wurde, in: Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, hrsg. von Matthias Jung, Thomas Regehly und Claudius Strube, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2011, S. 119: „Es bleibt nur noch wenig Zeit, der Christ lebt ständig im Nur-Noch, das seine Bedrängnis erhöht. Die zusammengedrängte Zeit ist konstitutiv für die christliche Religiosität: ein ‚Nur noch‘; es bleibt keine Zeit zum Hinausschieben.“  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 405 – 417. Vgl. hierzu: Friedrich-Wilhelm v. Herrmann, Wege ins Ereignis. Zu Heideggers ‚Beiträgen zur Philosophie‚, Frankfurt a. M. 1994, S. 350 – 360 (II. Die Gottesfrage im seinsgeschichtlichen Denken). Darüber hinaus ist zu beachten: Günter Figal, Philosophie als hermeneutische Theologie. Letzte Götter bei Nietzsche und Heidegger, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, S. 109 – 127.  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65. S. 411: „Der letzte Gott ist nicht das Ende, sondern der andere Anfang unermeßlicher Möglichkeiten unserer Geschichte.“ Vgl. zu diesem Motiv besonders: Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1982, 9. Vorlesung, S. 245 – 285.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.6.5 Der nihilistische Abgrund des „Alles ist gleich“: Vom Gesicht und Rätsel und Der Genesende Im dritten Teil von Also sprach Zarathustra findet sich das Kapitel Vom Gesicht und Rätsel. ⁹⁹¹ Heidegger hebt hervor, dass genau wie in der ersten Kundgabe in der Fröhlichen Wissenschaft besonders auf das Wie, die Art des Lehrarrangements geachtet werden müsse, weniger auf das Gelehrte selbst.⁹⁹² Zarathustra bricht nach zwei Tagen der Überfahrt sein Schweigen und erzählt einigen Seeleuten das bildliche Enigma seines Aufstieges. Bevor er zur Freigabe des größten Schwergewichts aufsteigen kann, muss er die beständige Konfrontation mit dem Geist der Schwere, einem Zwerg, bewältigen. Indem der Zwerg Zarathustra herabzieht, lässt er den Abgrund aufklaffen, in den Zarathustra aufgrund seines abgerungenen Aufganges ins Hochgebirge hineinzublicken vermag. An einer bestimmten Wegmarke angelangt, verschärft Zarathustra ihre Gegenüberstellung und ruft den Zwerg zum Duell auf. Dabei schenkt Heidegger der Reihenfolge der Personalpronomina besondere Aufmerksamkeit. Während Zarathustra zuerst die Frage formuliert: „Zwerg! Du! Oder ich!“⁹⁹³, so wandelt sich dieses Verhältnis unmittelbar darauf, weil die Gewaltigkeit des abgründlichen Gedankens eingebracht wird: Halt Zwerg! sprach ich. Ich! Oder du! Ich aber bin der stärkere von uns Beiden –: du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! Den – könntest du nicht tragen!⁹⁹⁴

Der Zwerg springt Zarathustra von der Schulter und lässt sich auf einem Stein nieder. Es bleibt an dieser Stelle offen, ob er allein von der Neugierde, den Gedanken zu hören, getrieben wird oder die Räumung der erhöhten Position als Versinnbildlichung der eingestandenen Unterlegenheit gelesen werden kann.⁹⁹⁵ Zarathustra und der Zwerg haben an einem Torweg Halt gemacht, der mit „Augenblick“ überschrieben ist. Nietzsche verknüpft folglich die Spezifität des Ortes mit der Erhellung des Gedankens. Der Torweg ist der Treffpunkt zweier Gassen, deren eine in grenzenloser Ausdehnung zurückläuft, während die andere ihren vorausweisenden, ebenfalls unbeschränkten Ausgang vom Torweg nimmt. Es ist  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 197– 202. Vgl. Heidegger N I, S. 256 – 264.  Vgl. Heidegger, N I, S. 252.  Heidegger, N I, S. 260. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 198.  Heidegger, N I, S. 260. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 199.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 199.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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unschwer zu registrieren, dass die beiden Gassen die Unendlichkeit der keinen Anfang besitzenden Vergangenheit und der keinen Endzustand erreichenden Zukunft symbolisieren. Dieser Erkenntnisstandpunkt löst allerdings nicht das Rätsel, sondern schafft erst die Voraussetzungen, unter denen es erblickt werden kann: Indem dieses ‚Bild‘ sichtbar wird und gesehen wird, kommt allererst das Rätsel in Sicht, dasjenige, worauf das Raten abzielen muß. Das Raten beginnt mit dem Fragen. Zarathustra richtet daher sogleich Fragen an den Zwerg bezüglich des Torweges und seiner Gassen. Die erste Frage geht auf die Gassen – welche, ist nicht gesagt; denn was jetzt gefragt wird, ist beiden in gleicher Weise eigen.⁹⁹⁶

Zarathustra formuliert das erste, auf die Beschaffenheit der Gassen abzielende Rätsel mit diesen Worten: […] glaubst du, Zwerg, daß diese Wege sich ewig widersprechen?⁹⁹⁷

Der Zwerg scheint die Täuschung einer kontradiktorischen Entgegensetzung der beiden Zeitsphären, die sich herauskristallisiert, wenn die Unendlichkeit jeder Gasse isoliert betrachtet wird – sodass sie sich immer weiter voneinander entfernen – durchschaut zu haben. Er ersetzt sie durch die Zusammenführung im Kreisgeschehen: Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.⁹⁹⁸

 Heidegger, N I, S. 261.  Heidegger, N I, S. 261.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 200.  Heidegger, N I, S. 261.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 200. Hinsichtlich der Konfrontation zwischen dem Geist der Schwere und Zarathustra ist darauf hinzuweisen, dass Schopenhauer die gesamte Vorstellungswelt als Formwerdung des Kreises entziffert. Indem er dem Augenblick die Schlüsselrolle in der Neukonfiguration der Wiederkehr zukommen lässt und die von Schopenhauer als stehendes Jetzt, als statische Vollzugsdimension des Weltwillens verstandene Ewigkeit in die kronisch-flüchtige Zeit hineinnimmt, wertet Nietzsche denjenigen Gedanken auf, der von Schopenhauer als ausgezeichneter Beleg für die Indifferenz der Natur und die darin unaufhörlich geschehende Entzweiung des Willens betrachtet wird. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 41, S. 545: „Durchgängig und überall ist das ächte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der Tat die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch alleine in dem rastlosen Strohm der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Daseyn, d.i. eine Natur, möglich wird.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Der Zwerg hat entdeckt, dass die geraden, nur ausschnitthaft in die Wahrnehmung tretenden Gassen beide in die Ewigkeit weisen, dort aber nicht schlichtweg koinzidieren. Die beiden Geraden vereinigen sich in der Ewigkeit zum Kreis. Bei aller spöttischen Überheblichkeit kommt der Zwerg nicht über tradierte Ouroboros-Vorstellungen hinaus. Der Zwerg verkennt den Augenblick, d. h. die Perspektive des Torwegs, in der er steht und aus der er spricht. In einer selbstvergessenen Abstraktion von der eigenen Zeitlichkeit glaubt er, das Wesen der Zeit objektiv erfassen zu können.⁹⁹⁹ Daher ist Zarathustras zornige Reaktion auf die Antwort des Zwerges wenig verblüffend: Du Geist der Schwere! sprach ich zürnend, mache es dir nicht zu leicht! Oder ich lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuß, – und ich trug dich hoch! ¹⁰⁰⁰

Er legt dem Zwerg eine zweite Frage vor, die den Augenblick eigens in den Fokus rückt: Und wenn alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muß auch dieser Torweg nicht schon – dagewesen sein? […] Und diese langsame Spinne, die im Mondscheine kriecht und dieser Mondschein selber, und ich und du im Torwege, zusammen flüsternd, von ewigen Dingen flüsternd, müssen wir nicht ewig wiederkommen?¹⁰⁰¹

Auch wenn Zarathustra den Zwerg auf die Wichtigkeit des Augenblickes hinweist, wird die Begründung der ewigen Wiederkehr primär über die Unendlichkeit der rückwärts laufenden Gasse koordiniert, die aus dem Gesichtspunkt des Jetzt nicht anders denn als Vergangenheit bestimmt werden kann. Weil in der rückwärtigen, alle drei Zeitdimensionen einschließenden Unendlichkeit alle endlichen Geschehnisse der Sukzessionszeit einbehalten sind, muss sich auch der Augenblick, in dem das Gespräch zwischen Zarathustra und dem Zwerg stattfindet und von

 Vgl. Heidegger N I, S. 263. Vgl. Heideggers Bestimmung des Augenblickes als „eigentlicher Gegenwart“, in der sich die Koinzidenz von Gewesenheit und Zukunft ereignet: Heidegger, Sein und Zeit, §68, S. 338: „In der Entschlossenheit ist die Gegenwart aus der Zerstreuung in das nächst Besorgte nicht nur zurückgeholt, sondern wird in der Zukunft und Gewesenheit gehalten. Die in der eigentlichen Zeitlichkeit gehaltene, mithin eigentliche Gegenwart nennen wir den Augenblick.“ Zu berücksichtigen ist Heideggers Hinweis auf Kierkegaard in der Anmerkung auf Seite 338. Dort hält er Kierkegaard vor, dessen „existenziale Interpretation“ des Augenblickes sei unzulänglich. Sie beruhe auf der Innerzeitigkeit des Menschen, die von der Wiederherstellung eines sich erneuernden Jetzt ausgehe.  Heidegger, N I, S. 262. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 200.  Heidegger, N I, S. 263. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 200.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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dem aus zurückgeschaut wird, in ihr bereits ereignet haben. Die rückwärtige Ewigkeit übergreift all diejenigen Ereignisse, die den Eindruck des Ausstehenden und Zukünftigen erwecken.¹⁰⁰² Hölderlin legt Empedokles in der dritten Fassung seines Dramas Der Tod des Empedokles die folgenden Worte in den Mund, die diesen Sachverhalt perfekt beschreiben: Es kehret alles wieder / Und was geschehen soll, ist schon vollendet.¹⁰⁰³

Hervorstechend ist, dass der Augenblick als Versammlungspunkt fungiert, in dem sich die Umwendung der Zeit in die Ewigkeit aktualisiert, weil sich in ihm die scheinbar voneinander wegstrebenden jeweiligen Unendlichkeiten – die der Vergangenheit und der Zukunft – in dem Gegeneinander einer doppelten Unendlichkeit zusammenballen. Erst im Augenblick, wandelnd auf dem „hohen Joch zwischen zwei Meeren“¹⁰⁰⁴ kann die Verbundenheit aller Dinge im „verfädelten“¹⁰⁰⁵ Zustand offenbar werden. Dies bezeichnet die „kleinste Kluft“¹⁰⁰⁶ zwi-

 Vgl. zur theoretischen Untermauerung dieses Gedankens die späte Aufzeichnung Die neue Welt-Konzeption aus dem Jahre 1888, in welcher die Lehre der ewigen Wiederkunft bemerkenswerterweise wieder eine zentrale Position einnimmt: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1066, S. 695: „Man hat neuerdings mehrfach in dem Begriff Zeit-Unendlichkeit der Welt nach hinten einen Widerspruch finden wollen: man hat ihn selbst gefunden, um den Preis freilich, dabei [den] Kopf mit dem Schwanz zu verwechseln. Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick rückwärts rechnend zu sagen ‚ich werde nie dabei an ein Ende kommen‘: wie ich vom gleichen Augenblick vorwärts rechnen kann, ins Unendliche hinaus. Erst wenn ich den Fehler machen wollte – ich werde mich hüten, es zu tun – diesen korrekten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem gar nicht vollziehbaren Begriff eines unendlichen progressus bis jetzt, erst wenn ich die Richtung (vorwärts oder rückwärts) als logisch indifferent setze, würde ich den Kopf, diesen Augenblick, als Schwanz zu fassen bekommen: das bleibe Ihnen überlassen, mein Herr Dühring!…“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[188]. Diese Konzeption eines infiniten rückwärtigen Regresses findet sich auch bei Schopenhauer. Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, §53, S. 347: „Solches historisches Philosophieren liefert in den meisten Fällen eine Kosmogonie, die viele Varietäten zulässt, sonst aber auch ein Emanationssystem, Abfallslehre oder endlich, wenn aus Verzweiflung über fruchtlose Versuche auf jeden Wegen auf den letzten Weg getrieben, umgekehrt eine Lehre vom steten Werden, Entsprießen, Entstehn […] welches man übrigens am kürzesten abfertigt durch die Bemerkung, daß eine ganze Ewigkeit, d. h. eine unendliche Zeit, bis zum jetzigen Augenblick bereits abgelaufen ist, weshalb alles, was da werden kann oder soll, schon geworden sein muss.“  Friedrich Hölderlin, Der Tod des Empedokles, Dritte Fassung, Zweiter Auftritt, V. 319 – 320, S. 409, in: Hölderlin, Hyperion/Empedokles, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 2008.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Die sieben Siegel, KSA 4, S. 287.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Das Nachtwandler-Lied, KSA 4, S. 402.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

schen Zarathustra und dem Zwerg. Beide lehren, dass die Zeit ein Kreis sei. Zarathustra weiß allerdings, dass die Initiierung der Kreisbewegung aller Dinge immer in den Augenblick fällt. Der Augenblick fängt den Zusammenhang der Dinge auf und hält ihren Fortgang an, indem er sich als Spiegelung der Ewigkeit in die von ihm punktuell suspendierte Zeit entlässt.¹⁰⁰⁷ Der Zwerg ist hingegen davon überzeugt, dass der Akt wiederaufgenommenen Kreisens sich niemals innerzeitlich herstellt. Der Zwerg glaubt, dass sich die Kreisformierung nach einem vollendeten Durchlauf, der selbst schon in die Unendlichkeit eingesenkt ist, jenseits der Zeit in einem entfernten Irgendwann ereignet. Nachdem der Zwerg die zweite Frage nicht mehr beantwortet hatte und Zarathustra sich selbst vor der Tragweite seiner Überlegungen zu fürchten beginnt, vernimmt er das mitleidsvolle Heulen eines einsamen Hundes. Dies ruft die Erinnerung an die prägende Erfahrung seiner Kindheit hervor. Das in dieser Erin-

 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 272: „Zwischen dem Ähnlichsten gerade lügt der Schein am schönsten; denn die kleinste Kluft ist am schwersten zu überbrücken.“  Vgl. Platon, Parmenides, 156c-156d, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 3, hrsg. von Ursula Wolf, übers. von Friedrich Schleiermacher, 37. Aufl., Hamburg 2013, S. 133: „Wann aber wechselt es? Denn es wechselt weder, wenn es ruht, noch wenn es sich bewegt, und auch nicht, wenn es in der Zeit ist […] ist es wohl jenes Ortlose, in dem es dann wäre, wenn es wechselt? – Welches denn? – Der Augenblick.“ Besonders wirkmächtig ist Kierkegaards Theorie des Augenblickes geworden. Nietzsche versprach Georg Brandes in einem Brief aus dem Jahre 1888, sich auf dessen Empfehlung hin mit Kierkegaards Werken auseinanderzusetzen. Dazu ist es aufgrund der im Januar 1889 beginnenden geistigen Umnachtung Nietzsches nicht mehr gekommen. – Während der Augenblick, in dem sich in der platonischen Anamnesis-Lehre die Erinnerung an das seit jeher Gewusste und Wahre ereignet, unmittelbar von einer Ewigkeit überlagert wird, die ihn zu einem unbedeutenden und zufälligen Moment herabsetzt, versteht Kierkegaard den Augenblick vor einem christlichen Hintergrund als Auswicklungspunkt einer in ihm entstehenden Ewigkeit, der sich der Mensch im Bewusstsein seiner Wiedergeburt vergewissern kann. Dass für Kierkegaard die im platonischen Dialog Parmenides gegebene Definition des Augenblickes von zentraler Bedeutung ist, manifestiert sich darin, dass er den Augenblick als Übergang vom Nicht-Sein (d.i. der Zustand der Sünde, des selbstverschuldeten Aufenthalts in der Unwahrheit) zum Sein (d.i. die Wahrheit des Glaubens) fasst. Vgl. Sören Kierkegaard, Philosophische Brosamen, hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest, 3. Aufl., München 2013, S. 28 – 31. Obwohl Kierkegaard hinsichtlich des Augenblicks eine ähnliche Position wie Nietzsche vertritt (wenngleich Nietzsche diesen eher als Zusammenprall der Zeitdimensionen begreift und Kierkegaard den Aspekt einer Versöhnung von Ewigkeit und Zeit stärker gewichtet), betont er im Ausgang von einer modalitätstheoretischen Analyse die unhintergehbare Freiheit von Entstehen und Vergehen und schließt somit die Möglichkeit einer Wiederkehr des Gleichen dezidiert aus. Vgl. Kierkegaard, Philosophische Brosamen, S. 92: „Die Veränderung des Werdens ist die Wirklichkeit, der Übergang geschieht durch die Freiheit. Kein Werden ist notwendig; nicht bevor es wurde, denn dann kann es nicht werden; nicht nachdem es geworden ist, denn dann ist es nicht geworden.“

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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nerung aufgeworfene Traumbild lässt eine bedrohliche, mitternächtliche Szenerie des Gegenmittages entstehen, die Heidegger als Illustration der anfänglichen biographischen Wegstufe Nietzsches deutet. Diese umfasst die frühen 1870erJahre, in denen Nietzsche Anhänger Schopenhauers und Wagners war, bis zum Jahre 1881, in dem Nietzsche die elementare Bedeutung des Gedankens der ewigen Wiederkehr akzeptierte.¹⁰⁰⁸ In der Vision sieht Zarathustra am Wegesrand einen sich windenden, jungen Hirten auf dem Boden liegen. Diesem ist im Schlaf eine schwarze, schwere Schlange in den Rachen gekrochen. Die schwarze Schlange wird von Heidegger als Gegenbild zu der sich ringelnden Freundin des Adlers markiert.¹⁰⁰⁹ Die schwarze Schlange versinnbildlicht die Ödnis einer aussichtslosen Wiederkehr des Immergleichen, anbrandend und zurückgleitend in dieselbe Wesensstellung. Diese Empfindung der Monotonie korrespondiert mit der Heraufkunft des Nihilismus als philosophischer Lehre oder Weltanschauung. Zarathustra möchte den Hirten aus der misslichen Lage befreien und versucht deswegen, den Körper der Schlange vom Hirten wegzuziehen. Als dieser Versuch misslingt, weiß Zarathustra keine Remedien mehr anzubringen, doch „Es“, sein ganzes Wesen, wirft sich aus ihm heraus und dem Hirten in dem Schrei: „Beiß zu“¹⁰¹⁰ entgegen. Der Hirte folgt Zarathustras Aufruf und stimmt daraufhin ein emphatisches, unvergleichlich befreiendes Lachen an: Der Hirt aber biß, wie mein Schrei ihm riet; er biß mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange –: und sprang empor. – Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! ¹⁰¹¹

Es bleibt offen und ein Rätsel, wen Zarathustra im Gesicht des Traumbildes sah. Das Stück Der Genesende, das sich als viertletztes im 3. Teil von Also sprach Zarathustra findet, setzt ein, nachdem Zarathustra die Seefahrt schon lange hinter sich gebracht hat und in seine Höhle zurückgekehrt ist.¹⁰¹² Als er eines Tages von seinem Lager aufwacht, liegt neben ihm der verschlafene Wurm, der den noch nicht in seine Bedeutungshöhe, in seine Schlangenform gebrachten Gedanken symbolisiert. Zarathustra ruft seinen abgründigen Gedanken an die Oberfläche,  Vgl. Heidegger, N I, S. 395.  Vgl. Heidegger, N I, S. 396.  Heidegger, N I, S. 397. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 201.  Heidegger, N I, S. 397. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 202.  Vgl. Heidegger, N I, S. 269.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 270.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

doch schreckt er abermals vor der Furchtbarkeit dieser Entäußerung zurück. Er fällt in einen tiefen Schlaf, der sieben Tage und sieben Nächte anhält. Schließlich sehen die Tiere den Zeitpunkt gekommen, dass Zarathustra sich aktiv als Lehrer der ewigen Wiederkehr begreife und diese verkündige. Sie präsentieren diese wie folgt: Alles geht, Alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, Alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.¹⁰¹³

Heidegger prononciert, dass die Tiere trotz der schillernden Vielfalt und Schönheit der Gleichnisse, mit denen sie den Gedanken illustrieren, den indifferenten Erkenntnisstandpunkt des Zwerges teilen: Vielleicht ist das Reden der Tiere nur glänzender und gewandter und spielender, im Grunde jedoch dasselbe wie die Rede des Zwergs, dem Zarathustra entgegenhält, daß er sich‘s zu leicht mache.¹⁰¹⁴

Nietzsche gibt bezüglich dieser „verfänglichen Ähnlichkeit“¹⁰¹⁵ einen entscheidenden Wink, wenn er dem Zwerg die Formulierung: „Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis“¹⁰¹⁶ in den Mund legt und die Tiere in nahezu identischer Weise sagen lässt: „Krumm ist der Pfad der Ewigkeit“.¹⁰¹⁷ Zarathustra verhüllt seinerseits den Vorwurf der Seichtheit in einer ironischen Anerkennung ihres Tiefblicks: – Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen mußte: – und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir. Und ihr – ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus? Nun aber liege ich da, müde noch von diesem Beissen und Wegspein, krank noch von der eigenen Erlösung. Und ihr schautet dem Allen zu? ¹⁰¹⁸

 Heidegger, N I, S. 274. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 272– 273.  Heidegger, N I, S. 275.  Heidegger, N I, S. 274.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 200.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 273.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 273. Vgl. Heidegger, N I, S. 275; S. 398 – 399.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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Heidegger spezifiziert die in der Gleichnisrede der Tiere zum Vorschein kommende Auslegungstendenz dahingehend, dass die Tiere die untilgbare Existenz des Bösen und des Übels zwar einräumen, aber mit einer Abwechslungsdynamik überformen, die später ebenso das Gelungene und Gute hervorbringen wird und somit in einen Ausgleich einmündet: Es muß auffallen, daß über den Gehalt der Lehre außer dem Leier-Lied der Tiere nichts gesagt wird, daß Zarathustra dem nicht einen anderen Vortrag entgegenstellt, daß allein durch den Gang des Gespräches immer nur mittelbar gesagt wird, wie diese Lehre zu verstehen sei und wie nicht. Gleichwohl ergibt sich aus diesem Wie für das Verstehen ein wesentlicher Hinweis auf das Was. Uns liegt es ob, diesem Hinweis schärfer nachzudenken und zu fragen: wodurch wird die Lehre zur Leier? Dadurch, daß jenes, was stirbt, wegläuft, zerbricht, daß alle Zerstörung und alles Nein, alles Widrige und Böseste zwar zugestanden, aber im Grunde als jenes gefaßt wird, was im Kreislauf auch wieder vorbeigeht, so daß alles auch wieder anders und besser kommt.[…] und damit hat man für das Ganze eine bequeme Formel und hält sich selbst heraus aus jeder Entscheidung.¹⁰¹⁹

Demgegenüber ist es der in den Stücken Der Wahrsager und Der Nothschrei als Protagonist auftretende Wahrsager, der die Furchtbarkeit und Trostlosigkeit auf die desillusionierte Formel des „Es lohnt sich nichts“¹⁰²⁰ bringt und damit erst die kleinste, am schwersten zu überbrückende Kluft eröffnet. Zarathustra selbst lässt nach Heidegger das tragische Zeitalter beginnen, indem er das größte Leiden und die größte Hoffnung als Widerstreit begreift, der erst in der Akzeptanz des Kleinen und Missgünstigen zur Bedingung eines Lebens wird, das sich der Verobjektivierung in optimistischen oder pessimistischen Beurteilungen entzieht.¹⁰²¹ Dazu muss die aus Liebe entsprungene Verachtung sich gegen den eigenen Ekel wenden und diesen zugleich als permanent zu überwindenden in den Weltentwurf integrieren. Daher schreibt Nietzsche in einer Notiz: Die Lehre von der ewigen Wiederkunft: als seine [des Nihilismus] Vollendung, als Krisis. ¹⁰²²

Der Nihilismus ist nur in der potenzierten Bejahung der unüberbietbar wirkenden Verneinung zu überwinden. Dies äußert sich darin, dass der Hirte das Würgen der trostlos-schwarzen Schlange erst sachgerecht erwidert und aufhebt, als er ihr den Kopf abbeißt und sich auf diese Weise das Zentrum ihrer Gestalt einverleibt.

 Heidegger, N I, S. 276.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Der Nothschrei, S. 300: „Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Welt ist ohne Sinn, Wissen würgt.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 278.  Heidegger, N I, S. 377. Vgl. Nietzsche, KSA 12, S. 339.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Dass ein äußeres Wegziehen die Macht der Schlange nicht bricht, bedeutet nach Heidegger, dass der Nihilismus niemals durch den Fortschrittsglauben oder andere Ideale zu ersetzen und von außen zu bekämpfen ist.¹⁰²³ Im Anschein des Überwundenen verbirgt er sich und dirigiert die Verfestigung der weiterhin waltenden Sinnlosigkeit. Anhand dieses Sachzusammenhangs wird deutlich, dass der Hirte des Traumbildes niemand anderes als der sich in einem früheren Denkstadium anschauende Zarathustra ist, dem der „große Überdruß am Menschen in den Schlund“ gekrochen war.¹⁰²⁴ Diesen konnte er erst abstreifen, als er sich auf den Weg zum schwersten Gedanken machte. Dies darf jedoch nicht so verstanden werden, als zeigte sich die Wiederkunftslehre als ein dem Nihilismus respondierendes Antidot, erdacht, um ihn zu bezwingen. Vielmehr ist nur derjenige mit der in der Gestalt der würgenden Schlange veranschaulichten Schwärze, der Gleichförmigkeit und der zermürbenden Beschwerung konfrontiert, dieses tiefe Wissen austragen zu müssen, der den Gedanken der ziellosen Wiederkehr von vornherein auf sich zu nehmen bereit ist. Umgekehrt kann die ewige Wiederkehr nur adäquat gedacht werden, wenn sich ihr Lehrer der Gefahr des Nihilismus aussetzt: Zarathustra wird erst dann von seinen eigensten Tieren, von Adler und Schlange geehrt, wenn er die Welt des heulenden Hundes und der schwarzen Schlange überwunden hat; erst dann wird er ein Genesender, wenn er durch die Krankheit hindurchgegangen ist, wenn er wissen gelernt hat, daß dieses Würgende der schwarzen Schlange zum Wissen gehört, daß der Wissende auch mit diesem Überdruß am verächtlichen Menschen als einer Notwendigkeit fertig werden muß.¹⁰²⁵

Die ewige Wiederkehr schafft das tiefe Problembewusstsein für die Bedrohlichkeit des Nihilismus, weil sie mit diesem wesensverwandt ist. Deshalb wird der Nihilismus erst im Biss auf die Spitze getrieben: Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird nur gedacht, wenn sie nihilistisch und augenblicklich gedacht wird. ¹⁰²⁶

Diese beiden Bedingungen kennzeichnen für Heidegger die in sich zusammengehörige Weise, das Wie des Gedankens der ewigen Wiederkunft. Die Bedingungen werden von Heidegger mit inhaltlichen Bestimmungen, denkerischen Aufgabenstellungen und qualitativen Handlungsvollzügen versehen, in denen die

   

Vgl. Heidegger, N I, S. 396. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 274. Heidegger, N I, S. 398. Heidegger, N I, S. 401.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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Entschlossenheit wie in Sein und Zeit in einen Zusammenhang mit ausgezeichneten Modi der Zeiterfahrung gebracht wird: 1. Das Denken aus dem Augenblick: Dies besagt: Das Sichversetzen in die Zeitlichkeit des Selbsthandelns und Entscheidens aus dem Vorblick in das Aufgegebene und im Rückblick auf das Mitgegebene. 2. Das Denken des Gedankens als Überwindung des Nihilismus. Dies besagt: das Sichversetzen in die Not der mit dem Nihilismus heraufkommenden Lage; diese erzwingt eine Besinnung auf das Mitgegebene und eine Entscheidung über das Aufgegebene. Die Notlage selbst ist nichts anderes als das, was das Sichversetzen in den Augenblick eröffnet.¹⁰²⁷

Ausgesprochen subtil ist Heideggers Analogisierung des Bisses mit den für ihn zentralen Seinsweisen der Lehre der ewigen Wiederkehr, die sich in der Vereinigung des entschiedenen Handelns aus dem Augenblick mit der Überwindung des Nihilismus bewahrheitet. Der Augenblick, in dem sich der Biss ereignet, wird selbst als Überwindungszwiespalt auserkoren: Bevor der Biß nicht vollzogen ist, ist auch der Augenblick nicht gedacht; denn der Biss ist die Antwort auf die Frage, was der Torweg selbst, was der Augenblick sei: daß er die Entscheidung ist, in der die bisherige Geschichte als die Geschichte des Nihilismus zur Auseinandersetzung gestellt und zugleich überwunden wird.¹⁰²⁸

Die kleinste Kluft bezeugt sich in der identischen Formulierung dessen, was sowohl der Nihilismus als auch die aus dem Augenblick gedachte ewige Wiederkehr behaupten und fordern: Alles ist gleich. ¹⁰²⁹ Für den Nihilismus ist alles gleich im Sinne der Gleichgültigkeit. Diese wirkt sich vor allem in temporaler Hinsicht aus. Der im Hintergrund laufende Takt vollzieht sich nach Maßgabe einer Austauschbarkeit von Wellenschlägen, die sich in der individuellen Lebenserfahrung als verrinnende Zeit ausprägen. Dies drückt der Wahrsager in der Formel „Alles war“¹⁰³⁰ aus. Wenn alles unweigerlich in das Reservoir der Vergangenheit entgleitet und die Signatur des Zerfalls in sich trägt, ist es vergeblich, sich einer Aufgabe geduldig zu widmen. Das „Alles war“ ließe sich auch interpretieren als: „Alles ist bereits entschieden“. Der einzelne Mensch entfaltet gemäß dieser Lesart in seinen Handlungen nur das in seinem außerzeitlichen Sein Beschlossene. Obwohl er die alleinige Zurechnungsfähigkeit für seine Handlungen trägt, kann er

 Heidegger, N I, S. 400.  Heidegger, N I, S. 399.  Vgl. Heidegger, N I, S. 400.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Der Nothschrei, KSA 4, S. 302.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Der Wahrsager, KSA 4, S. 172.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

an dem pränatalen Wurzelgrund nicht rütteln. Nach Revision strebend, wird er von derselben Instanz aufgehalten, die ihn in seiner Individualität erst ermöglichte. Noch in seiner Wendung auf und gegen sich selbst kommt er nicht umhin, die unheilvolle Willenszielrichtung zu prolongieren, die ihn immer weiter von seinem Ursprung entfernt. Bedingt durch die Postulierung und Entdeckung der indifferenten Wiederholungsakkumulation des „Alles ist gleich“ zeichnet sich hinter allem Verheißungsvollen und scheinbar Dauerhaften die niederschmetternde Grundeinsicht des Wahrsagers ab, die Sinnlosigkeit des „Alles ist leer“.¹⁰³¹ Die Setzung in die Zukunft weisender Individualziele, die dem vernichtenden Fluss der Zeit – der alles Seiende zuerst in die Gleichgültigkeit unbestimmter Momente taucht und es alsdann in die Vergessenheit reißt – Widerstand leisten könnten, findet keine Unterkunft mehr in einem bestätigenden Gesamtsinn. Durch den Nominalismus, die mechanische Naturbetrachtung und die philosophische Selbstkritik wurden die übergeordneten Instanzen als Scheingebilde entlarvt. Weil dadurch auch die Grundlegung einer allgemeingültigen Moral obsolet wird, scheint es gänzlich einerlei zu sein, ob eine ästhetisch-hedonistische, ethische oder asketische Lebensform gewählt wird. Dass die menschliche Existenz im nihilistischen Abgrund des „Alles ist gleich“ dazu verurteilt ist, stets bruchstückhaft bleiben zu müssen, ruft eine Trostlosigkeit hervor, die in Verzweiflung umschlagen kann. Der Wahrsager weiß darum, dass das Wissen um diese Sachverhalte „würgt“¹⁰³² und deswegen mit einer Unverbindlichkeit und Beliebigkeit beantwortet wird, die in einer Art selbsterfüllender Prophezeiung die Leere gerade bestätigt, aus der sie ihre Legitimation zog.¹⁰³³ Die Einsicht in das „Alles ist leer“ könnte sich allerdings auch am Ende einer konsequenten Suche nach den Wurzeln des diagnostizierten Nihilismus herausschälen. Die Erkenntnis der Totalität der Leere birgt in sich das Potenzial einer rettenden Peripetie. Die theoretisch fundierte Herbeiführung des „Alles ist leer“ avanciert zum einverleibten Ziel des extremen Nihilismus, weil erst in der Leere des Nichts, d. h. des gänzlich zu sich befreiten Werdens, die Möglichkeit aufleuchten kann, es zum ersten Mal in seiner höchsten Wesensfülle zu verewigen. Indem die Leere zur einzigen Seinsweise des Gesamtgeschehens gerundet wird, kann der extreme Nihilismus mit einer ja-sagenden Globalbetrachtung konver-

 Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Der Wahrsager, KSA 4, S. 172.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Nothschrei, KSA 4, S. 300.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Der Wahrsager, KSA 4, S. 172: „Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick sengte unsere Felder und Herzen gelb. Trocken wurden wir Alle; und fällt Feuer auf uns, so stäuben wir der Asche gleich: – ja das Feuer selber machten wir müde.“

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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gieren. Dafür muss er in seine unerträglichen Konsequenzen hineingedacht werden, was nur in einem Weltentwurf vonstattengehen kann, der weder Telos noch Entropie kennt: Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr.‘ Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!¹⁰³⁴

Die ewige Ziellosigkeit kann sich in den Gestalten der kosmischen Unabschließbarkeit sowie in der menschlichen Aussichtslosigkeit äußern. Die Unabschließbarkeit des Weltlaufs verbürgt, dass es weder einen zu erreichenden, im Aufschub befindlichen Endzweck noch eine Fluchtmöglichkeit ins Nichts geben kann. Da die Berufung auf eine kausale, eingleisig-ordnende Mechanik ebenfalls ausscheidet, wird die Unhaltbarkeit jedweder Nachfolgefigur einer Eschatologie palpabel. Insofern die Welt jedoch keine Tendenz besitzt, eine Teleologie zu verwirklichen, muss sie ihre Zielabsenz wahren. Dies gelingt nur, wenn sie sich in jedem Augenblick als Allumfassende, als Vollendete und Gesättigte darreicht. Weil diese Ganzheit im darauffolgenden Augenblick aber nicht durch eine Kontinuität von Naturgesetzen gesichert und bewirkt werden kann, tritt sie in diesem Moment als unkalkulierbare, neue Welt hervor. In der Präsenz dieses Kosmos wird zugleich eine vor Ewigkeiten untergegangene Welt als gleiche wiederhergestellt. Folglich muss das „Alles ist gleich“ anders prononciert werden: Alles ist gleich. Dieser kosmische Vorgang der in jedem Augenblick erreichten Vollendung und lückenlosen Versammlung aller gewesenen und künftigen Ereignisse reproduziert sich im Mikrokosmos des Einzelnen. In jedem Zeitpunkt, der von außen betrachtet all jenen vollkommen gleicht, die ihn sekündlich tilgen, scheint die Möglichkeit eines nicht zu errechnenden Neubeginns der eigenen Existenz auf. Diese Freiheit steht der ewigen Wiederkehr als Naturnotwendigkeit nicht mehr entgegen, sondern wird von ihr hervorgebracht. Aus diesem Grunde kann Nietzsche die Wiederkunftslehre als „Hammer in der Hand des mächtigsten Menschen“¹⁰³⁵ begreifen. Es ist auffällig, dass sich der Aspekt des „gleich“, wird er nihilistisch gelesen, nicht auf das Zeitliche im Sinne der sich unmittelbar – in diesem Augenblick – eröffnenden Kollision der Zeitdi-

 Heidegger, N I, S. 392. Vgl. Nietzsche, NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 6, KSA 13, S. 213. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 55, S. 44.  Heidegger, N I, S. 375. Dieses Zitat stammt aus einem von Nietzsche im Jahre 1884 verfassten Entwurf und bildet dort den fünften Inhaltspunkt. Dieser Werkentwurf trägt den Titel: Die ewige Wiederkunft. Eine Wahrsagung. Vgl. Nietzsche, NF-1884,27[80]. Zur Besprechung dieses Entwurfes vgl. Heidegger, N I, S. 374– 376.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

mensionen bezieht. Die archetypisch durch den Wahrsager repräsentierte, nihilistische Verständnisweise beachtet in dem „Alles ist gleich“ einzig die egalitäre Qualität der Geschehnisse und Dinge innerhalb der fluiden Gleichläufigkeit der Zeit. Dies betont auch Heidegger, wenn er die kleinste Kluft beschreibt: Der Gedanke der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist nur als dieser überwindende Gedanke. Die Überwindung muß über die dem Anschein nach schmale Kluft hinüberführen; denn sie besteht zwischen solchem, was sich auf eine Weise gleicht, daß es als dasselbe erscheint. Auf der einen Seite steht: alles ist nichts, alles ist gleichgültig, so daß sich nichts lohnt: alles ist gleich. Auf der anderen Seite steht: alles kehrt wieder, es kommt auf jeden Augenblick an, es kommt auf alles an: alles ist gleich. Die kleinste Kluft, die Scheinbrücke des Wortes ‚alles ist gleich‘ verbirgt das schlechthin Verschiedene: ‚alles ist gleichgültig‘ und ‚nichts ist gleichgültig.‘ Die Überwindung dieser kleinsten Kluft ist die schwerste Überwindung im Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen als dem wesenhaft überwindenden Gedanken.¹⁰³⁶

Die These erscheint berechtigt, dass sich anhand der Reaktionen des Zwerges und der Tiere veranschaulichen lässt, wie sich der Nihilismus in der Ignoranz gegenüber der eigenen, ekstatischen Zeitlichkeit aufbaut und ausweglos bekräftigt. Die Tiere sind davon überzeugt, dass kein atomistischer Augenblick exponiert und ertragreich für sich stehen kann. Dass sie diesen konsequent übergehen, zeigt sich darin, dass sie in ihrer Verbildlichung der ewigen Wiederkehr an Würde, Prätention und Bedeutsamkeit kaum zu übertreffende Begriffe wie „Sein“, „Alles“, „Ewigkeit“, „Ring“ gebrauchen¹⁰³⁷, aber den vermeintlich unbedeutenden Konstitutionsgrund für die Aufschließung dieser ringförmigen Allheit verschweigen. Geschickt integriert Nietzsche die trostlose Theorie einer Gleichgültigkeit des Augenblickes und des sich additiv aus umschlagenden Jetztpunkten zusammensetzenden Zeitlaufes in seine Widerlegung des daran leidenden Nihilismus. Wenn sich die ganzheitliche Sichtbarwerdung der Welt im Augenblick einer weitverzweigten Genese verdankt, dieser aber selbst wieder auf einer unerschöpflichen Vorgeschichte fußt, bildet ein einziger von einem Individuum als glücklich und unvergleichlich empfundener Augenblick die asymmetrische Minimalanforderung für die absolute Gutheißung, ja Soteriologie des eigenen Lebens und damit auch der gesamten Natur und der Geschichte: Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht nichts für sich, weder in uns selbst, noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück

 Heidegger, N I, S. 399 – 400.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 272– 273.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nötig, um dies eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.¹⁰³⁸

Hierin kulminiert die Stoßrichtung gegen einen Pessimismus, der sich über eine Bilanzierung eines Übergewichts des Leidens zu bewahrheiten glaubt.

1.6.6 Die Eröffnung des individuellen Freiheitshorizontes im Glauben an die ewige Wiederkehr des Gleichen In dem Abschnitt die Wiederkunftslehre als ein Glaube verbindet Heidegger die personale Verinnerlichung des Lehrgehalts mit der gewandelten Bedeutungsschwere des Für-wahr-haltens. Dabei fällt die Ambivalenz des Für-wahr-haltens, verstanden als Orientierung an dem als seiend Vorgestellten, ins Auge. Es kann einerseits die Habhaftigkeit eines Halts unterstreichen, andererseits aber auch auf eine Haltung abzielen, die sich dieser Angewiesenheit entschlägt und sich auf sich selbst stellt. Diese Eingebundenheit in ein Ethos der Unabhängigkeit, das mit der Absage an die festgefügten Objekte des Glaubens konvergiert, wird von Nietzsche als Ausdruck des Schöpferischen gefasst: Ich glaube an nichts mehr – das ist die richtige Denkweise eines schöpferischen Menschen.¹⁰³⁹

In der Besprechung dieses Diktums privilegiert Heidegger das Schaffen als Ausdruck einer Gerechtigkeit, die den Dingen „das innerste Recht ihres Werdens“¹⁰⁴⁰ lässt und allein dasjenige verneint, was ihr die Entfaltung der verklärenden, möglichkeitseröffnenden Liebe verwehrt. Der im Satz vermeintlich anklingende rigorose Skeptizismus opponiert somit gegen jene Form des Glaubens, die als notwendige Formgebung einen Umkreis des Beherrschbaren um das Leben gruppiert. Auf diese Weise erwirkt sich das Schaffen den offenen Raum für facettenreiche, nicht mimetisch zu denkende Hervorbringungen, in denen es sich an das Leben verschenkt und es rückhaltlos gutheißt. Dieser Vorgang findet seine gestalthafte Entsprechung in der zur Einheit zusammentretenden Trias des (erkennenden) Philosophen, (schaffenden)

 Vgl. Nietzsche, NF Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 [38], KSA 12, S. 307 f.  Heidegger, N I, S. 346. Vgl. Nietzsche, NF-1882,3[1].  Heidegger, N I, S. 347.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Künstlers und (schenkenden) Heiligen.¹⁰⁴¹ Der Übermensch wird von Heidegger in diesem Zusammenhang als „Über-Gang“¹⁰⁴² diskutiert, der auf die Gestalt des Herrschenden hindeutet, welche sich aus der Dreiheit herausschält. Der Übermensch kann erst dann zum künftigen Menschen werden, wenn er sich nicht mehr im Gegensatz zum letzten Menschen begreift.¹⁰⁴³ Erst wenn er auf den Anspruch, über den bisherigen Menschen hinauszugehen, verzichtet, verschwindet auch der letzte Mensch. Demnach ist es die bereits in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung entworfene Dreieinheit des Idealtypus, der Heidegger zutraut, diejenige Haltung zu gewinnen, in der sich die befreiende, zweckentbundene Anerkennung des Werdens vollziehen kann. Umso überraschender ist, dass Heidegger in der Konkretisierung des Glaubensaspektes der ewigen Wiederkehr das Kriterium des Halts im Sinne des Festgemachten zu präferieren scheint: Aber Nietzsche bezeichnet nun dieses Denken des schwersten Gedankens nicht deshalb als Glauben, weil es als schaffende Liebe heilig und religiös ist, sondern weil es als Denken des Seienden im Ganzen das Seiende selbst in einem Entwurf festmacht. Der Glaubenscharakter dieses Gedankens entspringt zunächst nicht aus seinem religiösen Charakter, sondern aus seinem Charakter als Denken, sofern Denken als Vorstellen von Beziehung und Zusammengehörigkeit immer ein Beständiges hinstellt und meint. Das Denken des schwersten Gedankens ist ein Glauben, das Sichhalten im Wahren. Wahrheit heißt für Nietzsche immer das Wahre, und dieses bedeutet ihm: das Seiende, das, was als das Beständige festgemacht wird, derart, daß der Lebende im Umkreis dieses Festgemachten und durch dieses selbst seinen Bestand sicherstellt. Glauben als Festmachen ist Bestandsicherung. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr macht fest, wie das Weltwesen als Chaos der Notwendigkeit ständigen Werdens ist. Das Denken dieses Gedankens hält sich so im Seienden im Ganzen, daß ihm die ewige Wiederkehr als das alles bestimmende Sein gilt. Dieses Wahre kann nun für den einzelnen Menschen, da es das Seiende im Ganzen betrifft, nie unmittelbar in seiner Wirklichkeit durch Tatsachen belegt und bewiesen werden.¹⁰⁴⁴

In der Formulierung „das alles bestimmende Sein“ lassen sich die aus der Vorlesung der Wille zur Macht als Kunst bekannten Charakterisierungen der ewigen Wiederkehr als Sein und als höchste Seinsbestimmung wiedererkennen.¹⁰⁴⁵ Anders

 Vgl. Heidegger, N I, S. 348 – 349. Vgl. Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 380: „Das sind jene wahrhaften Menschen, jene Nicht-mehr-Tiere, die Philosophen, Künstler und Heiligen; bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudesprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 349.  Vgl. Heidegger, N I, 348 – 349.  Heidegger, N I, S. 350.  Vgl. hierzu das Kapitel 1.1 dieser Arbeit.

1.6 Der Augenblick des Mittags und die Ewigkeit des Kreises

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als in der Vorlesung von 1936/37 versteht Heidegger diese Primärkennzeichnungen offenkundig nicht mehr als unabhängig-notwendige, im Seienden selbst wurzelnde, ontologische Bestimmungen. Ihre Geltung entspringt gemäß dem obigen Zitat einer spezifischen, die Welt auf einen orientierungsaffinen Grundzug festlegenden Denkhaltung, die wiederum in dem vorstellungskonstitutiven und geschichtlich geprägten Bezug zum Seienden fundiert ist. Des Weiteren ist auffällig, dass Heidegger den Glauben an die ewige Wiederkehr ostentativ mit der Motivik der „Bestandsicherung“, „des Festmachens“, der Umkreisbildung, der Lebensdienlichkeit und der Bewältigung des Chaos verknüpft. All diese Elemente und Aktionsweisen wird er in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) in die Wesensdefinition des Willens zur Macht einfließen lassen.¹⁰⁴⁶ Auch die in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) entwickelte Kritik, die ewige Wiederkehr sei eine sublimierte Form der Rache an der Vergänglichkeit, ist in dem Topos einer einhegenden Beherrschung der Ständigkeit des Werdens präfiguriert.¹⁰⁴⁷ Die negativen Seiten des vorstellenden Hineinprägens des Weltganzen in das „alles bestimmende Sein“ der ewigen Wiederkehr verbleiben in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 nichtsdestotrotz im Andeutungsstatus, weil der Entwurf des Seienden, der dieses auf das im Kreisen persistierende Sein hin bestimmt, noch eine unberechenbare Offenheit gewährt. So nobilitiert Heidegger in dem obigen Zitat den Möglichkeitssinn des individuellen Glaubens an die ewige Wiederkehr, da sich kein Tatsachenbeleg für ihre ubiquitäre Wirklichkeit vorbringen lässt und die einwandfreie Wiederholung des in der vormaligen Wiederkehr Geschehenen folglich niemals zu erkennen ist. Deswegen spricht Heidegger dem Wiederkunftsgedanken zu, als Möglichkeit eine ungeahnte Veränderungstiefe und kathartische Kraft zu besitzen. Dass die stets drohende, klare Positionierungen fordernde Möglichkeit der Bewahrheitung eines Gedankens wesentlich signalkräftiger und identitätsstiftender ist als die verifizierte Richtigkeit positivistischer Faktenermittlung, wird von Nietzsche in Bezug auf die Erbsündenlehre und die ewige Verdammnis untermauert: auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammnis gewirkt!¹⁰⁴⁸

 Vgl. hierzu das Kapitel 1.7 dieser Arbeit.  Vgl. das Kapitel 1.10 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 351. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[203]: „Prüfen wir, wie der Gedanke, daß sich etwas wiederholt, bis jetzt gewirkt hat (das Jahr z. B. oder periodische Krankheiten, Wachen und Schlafen usw.) Wenn die Kreis-Wiederholung auch nur eine Wahrscheinlichkeit oder Mög-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die ewige Wiederkehr ebnet die Trennung in eine irdische und eine jenseitige Welt ein. Die Lehre gibt dem befreiten Leben in der Aussicht auf eine potentielle Repetition ein Gewicht, das es aus der Abwertung als sich verflüchtigendes Durchgangsstadium herausdreht. Entscheidend ist, dass diejenigen, die den Gedanken nicht in ihre Lebensführung hineinstrahlen lassen, in ebenjene Flüchtigkeit einwilligen müssen, die als vormals diskreditierter Restbestand der christlichen Entgegensetzung verbleibt. Weil ihnen das Ertragen prägender, in die höchste überhaupt denkbare Bedeutungsschwere getauchter Augenblicke und die geduldige Ausrichtung auf selbst geschaffene Ziele nicht vergönnt ist, sind sie gezwungen, von einem kurzweiligen Glückspunkt zum anderen zu fliehen: Diese Lehre ist milde gegen die, welche nicht an sie glauben, sie hat keine Höllen und Drohungen. Wer nicht glaubt, hat ein flüchtiges Leben in seinem Bewusstsein.¹⁰⁴⁹

Heidegger honoriert in diesem Zusammenhang, dass Nietzsche nicht nur die Vorherrschaft der οὐσία als Anwesenheit hinterfragt, sondern auch die traditionelle Hegemonie der Modalität der Wirklichkeit gegenüber der Möglichkeit bestreitet. Darüber hinaus räumt er ein, dass es Nietzsche gelungen sei, durch das Aufwerfen des existenzergreifenden Möglichen die Routine und Unbedarftheit, die das Verhältnis zum Faktischen, Hingenommenen und Bekannten beherrscht, in eine unausweichliche Entscheidungssituation umgeformt zu haben. Diese enthüllt sich als geschichtswendende, die Sichtweise auf das gesamte Seiende verändernde Bekenntnisnotwendigkeit. Aus diesem Grund kann die These vertreten werden, dass der Glaube erster Potenz, der sich im Für-wahr-halten des Geläufigen, Sichtbaren und Nahegebrachten und der damit einhergehenden Erkenntnisoperationen äußert, von dem Glauben zweiter Potenz ausgestochen wird. Der Glaube zweiter Potenz initiiert und beantwortet den herausfordernden und Ernst gebietenden Entwurf des Seienden als ewiger Wiederkehr des Gleichen, indem der Gläubige den eigenen Lebenslauf in die Möglichkeit einer identischen Konfigurationsweise hineinwirft. Im Hinblick auf den Perspektivismus ist Heideggers Auslegung des von Nietzsche mit dem Wiederkunftsgedanken assoziierten Anspruches „die einzelnen Menschen in ihren Affekten und Trieben neu zu bestimmen und zu ordnen“¹⁰⁵⁰ von großer Bedeutsamkeit. Deutlicher als in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst werden die Affekte hier als Bedingung für

lichkeit ist, auch der Gedanke einer Möglichkeit kann uns erschüttern und umgestalten, nicht nur Empfindungen oder bestimmte Erwartungen! Wie hat die Möglichkeit der ewigen Verdammniß gewirkt!“  Heidegger, N I, S. 343. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[160].  Heidegger, N I, S. 352.

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die Herausbildung der Perspektiven gesehen. Wie noch zu zeigen sein wird, lässt Heidegger den Vorgang der perspektivischen Horizontdurchmessung in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) aus dem praktischen Bedürfnis entspringen. 1937 steigt der Glaube an die ewige Wiederkehr zur elementaren Disposition auf, da er das Affektleben verwandeln kann. Heidegger begreift den Willen zur Macht in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst von 1936/37 als Ur-Affekt, von dem alle Triebregungen und Leidenschaften ihren Ausgang nehmen.¹⁰⁵¹ Daher hätte das Potenzial bestanden, mit Hilfe der affektformenden Haltung in der Wahrheit der ewigen Wiederkehr hinter den Willen zur Macht zurückzugehen. Die im Gedanken der ewigen Wiederkehr reflektierte Intensivierung und untermauerte Tragweite des Augenblicks hätte als Korrektiv gegen eine nur im Werden bei sich selbst bleibende Steigerung verwendet werden können. Der Glaube an die „Religion der freisten, heitersten und erhabensten See¹⁰⁵² len“ scheint nichtsdestotrotz die Freiheit auszuschließen, die Heidegger als Wesen des Menschen akzentuiert. Wenn alles, was war, in der Zukunft wiederkehrt und alle Einzelheiten verklammert sind, es keine Möglichkeit der Abweichung, des Heraustretens aus dem Kreis gibt, scheinen Fatalismus und Liebe zum Schicksal die einzigen adäquaten Verhaltensweisen zu sein – das vermeintliche Schwergewicht wird zum Vehikel der Unentschiedenheit und Selbstberuhigung.¹⁰⁵³ Die theoretisch nicht einwandfrei zu beantwortende Frage der Gewichtung von Freiheit und Notwendigkeit beschäftigte Nietzsche schon in den als Schüler verfassten Aufsätzen Fatum und Geschichte und in Willensfreiheit und Fatum. Die Denkbewegung von der Hypothese eines illusionären Freiheits- und damit verbundenen Wunschvermögens hin zur Auflösung in einer kosmischen Zwangsveranstaltung kommt am ehesten in dem folgenden Zitat zum Ausdruck:

 Vgl. Heidegger, N I, S. 41. Vgl. zur Bestimmung des Willens zur Macht als Affekt das Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 344. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[339]: „Seid ihr nun vorbereitet? Ihr müßt jeden Grad von Skepsis durchlebt haben und mit Wollust in eiskalten Strömen gebadet haben – sonst habt ihr kein Recht auf diesen Gedanken; ich will mich gegen die Leichtgläubigen und Schwärmerischen wohl wehren! Ich will meinen Gedanken im Voraus vertheidigen! Er [der Wiederkunftsgedanke, J.K.] soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein – ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!“  Vgl. Heidegger, N I. S. 353 – 354. Vgl. jedoch Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 96: „Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und sein wird. Man ist notwendig, man ist ein Stück Verhängnis, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, – es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurteilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurteilen… Aber es giebt Nichts ausser dem Ganzen.“

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Meine Lehre sagt: so leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben, ist die Aufgabe, – du wirst es jedenfalls. ¹⁰⁵⁴

In seiner Exegese dieser Aufzeichnung legt Heidegger das Augenmerk auf den Adressatenkreis. Da sich der Satz an das jeweilige Du richtet, kann Heidegger in Übereinstimmung mit seinem eigenen Denken in Sein und Zeit die „Verweisung auf das je eigene Dasein“¹⁰⁵⁵ unterstreichen. Entscheidend ist, dass die offene Stelle für das im Wiederkommen Werdende sich nicht in äußeren Abläufen oder Gesetzmäßigkeiten eröffnet. Der Ort der Wiederkunft wird im eigenen Leben aufgeschlagen. Das Individuum ist nicht einfach als marginaler Beeinflussungsfaktor in das Weltganze eingefügt. Diametral dazu, bejaht und erwirkt der Einzelne in der gewünschten Wiederkehr eines einzigen Moments die Wiederholung des gesamten, mit diesem Augenblick unauflöslich verketteten Weltlaufs.¹⁰⁵⁶ Während Zarathustra in der Herleitung der Wiederkunfslehre im Torweg-Gleichnis vorrangig die rückwärtige Unendlichkeit thematisiert, hebt Heidegger in großer sachlicher Nähe zur Entwurfskonzeption von Sein und Zeit den denkerischen und aktivischen Ausgriff in die Zukunft hervor.¹⁰⁵⁷ Heidegger betont, dass sich nicht an ein früheres Leben zurückdenken lässt und somit keine prognostischen Erkenntnisse aus einem vergangenen Durchgangsmodus der Wiederkehr geschöpft werden können. Allerdings ist es gestattet, in die Zukunft hinauszudenken. In der tätigen, in die Zukunft hineinreichenden Zielverfolgung kann sich der Einzelne das Narrativ einer abgeschlossenen Vergangenheit unterlegen, die jetzt eingeholt

 Heidegger, N I, S. 355. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[163]: „Meine Lehre sagt: s o leben, daß du wünschen mußt, wieder zu leben ist die Aufgabe – du wirst es jedenfalls! Wem das Streben das höchste Gefühl giebt, der strebe: wem Ruhe das höchste Gefühl giebt, der ruhe; wem Einordnung Folgen Gehorsam das höchste Gefühl giebt, der gehorche. Nur möge er bewußt darüber werden, was ihm das höchste Gefühl giebt und kein Mittel scheuen! Es gilt die Ewigkeit!“  Heidegger, N I, S. 356. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §25, S. 114– 117; §40, S. 188; §51, S. 254.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Das Nachtwandler-Lied, KSA 4, S. 402: „Sagtet ihr jemals Ja zu einer Lust? Oh, meine Freunde, so sagtet ihr auch Ja zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, verfädelt, verliebt, – wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr jemals, ‚du gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!‘ So wolltet ihr Alles zurück!“  Heidegger, N I, S. 356: „Merkwürdig – im Denken nach vorne soll etwas über die Vergangenheit erfahren werden? Allerdings.Was war denn schon, und was wird wiederkommen, wenn es wiederkommt? Antwort: das, was im nächsten Augenblick sein wird. Wenn du das Dasein in die Feigheit und die Unwissenheit abgleiten lässest mit all ihren Folgen, so wird diese wiederkommen und sie wird jenes sein, was schon war.“ Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §31, S. 145: „Das Dasein ist aber als Möglichsein auch nie weniger, das heißt das, was es in seinem Seinkönnen noch nicht ist, ist es existenzial. Und nur weil das Sein des Da durch das Verstehen und dessen Entwurfscharakter seine Konstitution erhält, weil es ist, was es wird bzw. nicht wird, kann es verstehend ihm selbst sagen: ‚werde, was du bist!‘“

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und als wiederkehrende initiiert wird. Weil jede einzelne Handlung, jeder gefasste und niedergeschriebene Gedanke, jede Emotion, Trauer und Freude, die sich im nächsten Augenblick ereignen, ewig wiederkehren werden und darin zugleich auf unzählige gewesene Wiederholungen indizieren, ermöglicht die gelebte Akzeptanz des Wiederkunftsgedanken eine Freiheit, die diesseits des Konflikts von Determinismus und Willensfreiheit angesiedelt ist. Der Determinismus wird erst in der Entscheidung des Einzelnen generiert. Es ist dem Menschen anheimgegeben, sich wie der Zwerg im Torweg-Gleichnis von außen zu betrachten und als passives Glied einer ungehindert ablaufenden Kausalkette oder als Handlungsvollstrecker eines sich sukzessive entfaltenden, unveränderlichen intelligiblen Charakters zu verstehen.¹⁰⁵⁸ Es steht ihm aber ebenso zur Verfügung, jeden kommenden Augenblick als Chance zu begreifen, in der Wahl des Gewollten das eigene Sein zu setzen und es als ewiges zu bestätigen.¹⁰⁵⁹ In diesem Zusammenhang leuchtet notwendigerweise die Frage nach der menschlichen Endlichkeit auf. Für Nietzsche ist wesentlich, dass der Untergang des Intellekts nach dem Tod die Unterscheidung von Zeitlosigkeit und Sukzession einebnet. Auch wenn es die Zeitspanne von Jahrbillionen überdauern könnte, bis wieder alle ermöglichenden Kombinationen zusammengetreten sind, so stellt

 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §23, S. 158 – 159: „Weil aber im Selbstbewußtsein der Wille unmittelbar und an sich erkannt wird, so liegt auch in diesem Bewußtseyn das der Freiheit. Allein es wird übersehen, daß das Individuum, die Person, nicht Wille als Ding an sich, sondern schon Erscheinung des Willens ist, als solche schon determinirt und in die Form der Erscheinung, den Satz vom Grund, eingegangen. Daher kommt die wunderliche Thatsache, daß Jeder sich a priori für ganz frei, auch in seinen einzelnen Handlungen, hält und meint, er könne jeden Augenblick einen andern Lebenswandel anfangen, welches hieße ein anderer werden. Allein a posteriori, durch die Erfahrung, findet er zu seinem Erstaunen, daß er nicht frei ist, sondern der Nothwendigkeit unterworfen, daß er, aller Vorsätze und Reflexionen ungeachtet, sein Thun nicht ändert, und vom Anfang seines Lebens bis zum Ende den selben von ihm selbst mißbilligten Charakter durchführen und gleichsam die übernommene Rolle bis zu Ende spielen muß.“ Vgl. hierzu besonders: Lore Hühn, Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers, in: Christian Iber (Hrsg.), Selbstbesinnung der philosophischen Moderne: Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, 1. Aufl., Cuxhaven 1998, S. 55 – 94.  Vgl. Heidegger, N I, S. 356– 357. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, § 31, S. 143 – 144: „Als modale Kategorie der Vorhandenheit bedeutet Möglichkeit das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige. Sie charakterisiert das nur Mögliche. Sie ist ontologisch niedriger als Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die Möglichkeit als Existenzial dagegen ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins; zunächst kann sie wie Existenzialität überhaupt lediglich als Problem vorbereitet werden.“ Vgl. jedoch Nietzsche, NF November 1882–Februar 1883, KGW VII, 1, 4 [24], S. 117: „Das größte Vergnügen, das, war wir müssen, auch das, was wir wollen. Also sich aufnehmen in den großen Plan.“

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dies aufgrund der Absenz des Bewusstseins eine verschwindend geringe Größe dar: Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen, – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen.¹⁰⁶⁰

Heidegger geht einen maßgeblichen Schritt über Nietzsche hinaus, indem er die Entstehung der Bedingungen individualisiert und mit seinem prospektiven Ansatz verbindet. Die Versammlung der Bedingungen wird nicht in einem disparaten, kosmologischen Ablauf besiegelt, sondern in dem autarken Selbstverhältnis des Einzelnen hervorgebracht. Die „entscheidende Bedingung“¹⁰⁶¹ lautet daher für Heidegger: […] diese [die entscheidende Bedingung, J.K.] bist du selbst – die Art, in der du dein Selbst erreichst, indem du über dich Herr wirst, indem du im wesentlichen Willen dich selbst in den Willen nimmst und zur Freiheit kommst.¹⁰⁶²

Die Überlegung der Selbstintegration in den Wesenswillen hatte Heidegger bereits in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst entwickelt, aber als unhintergehbare Vollzugsform des Wollens verstanden, das keinen Raum für ein Freiheitsvermögen lässt, das sich auch und gerade über das Ausschlagen-Können des Willens definieren könnte. An dieser Stelle ist es hingegen die sich in der Anerkennung oder Ablehnung des Gedankens der ewigen Wiederkehr bekundende Selbst-Wahl, die es erlaubt, sich im Falle des positiven Befundes in dem über sich selbst Herr gewordenen, eigenen Wollen zu verankern. Dieser wesentliche Wille befreit sich in Heideggers Auslegung der ewigen Wiederkehr nicht zum ewigen Wollen seiner selbst. Stattdessen entfaltet er sich in einem eigentlichen Sein-

 Heidegger, N I, S. 358.Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[148]: „Mensch! Dein ganzes Leben wird wie eine Sanduhr immer wieder umgedreht werden und immer wieder auslaufen – eine große Minute Zeit dazwischen, bis alle Bedingungen, aus denen du geworden bist, im Kreislaufe der Welt, wieder zusammenkommen. Und dann findest du jeden Schmerz und jede Lust und jeden Freund und Feind und jede Hoffnung und jeden Irrthum und jeden Grashalm und jeden Sonnenblick wieder, den ganzen Zusammenhang aller Dinge. Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder.“  Heidegger, N I, S. 358.  Heidegger, N I., S. 358. Auf diese Weise könnten der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr in derselben Person in ein Balanceverhältnis treten, in dem sie schließlich ineinander übergehen. In Bezug auf die hier zitierte Textstelle ist Heideggers stilistische Orientierung an Nietzsche bemerkenswert. Er übernimmt sowohl die protreptische Ansprache in der Form der zweiten Person als auch den pathetischen Duktus Nietzsches.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

331

können, das aufgrund seiner Unvertretbarkeit, Bedrohlichkeit und Unbezüglichkeit eine große Überschneidungsfläche mit dem „Vorlaufen zum Tode“¹⁰⁶³ aus Sein und Zeit besitzt. Hinsichtlich der Wiederkunftslehre muss Nietzsche eine große Redlichkeit und Wachsamkeit zugesprochen werden, da er sich nicht eigensinnig die Autorschaft der Lehre zuschreibt. Er fängt ihren Hervorgang mit ihren eigenen Mitteln ein und pluralisiert ihre Denkbarkeit und Verbreitungsgeschichte: Und in jedem Ring des Menschen-Daseins überhaupt gibt es immer eine Stunde, wo erst einem, dann vielen, dann allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge: – es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags. ¹⁰⁶⁴

Auf diese Weise bettet Nietzsche die vermeintliche Originalität der Wiederkunftskonzeption in die von ihr aufgeworfene Verlaufsform ein und springt in den Zirkel hinein. Des Weiteren illustriert er, dass die Ewigkeit der Wiederkehr sich nicht in immerwährender Präsenz im Bewusstsein der Menschen konserviert. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr blitzt in gewachsenen Zeitpunkten auf und ist als Auslegung des Seienden im Ganzen durch Phasen des Vergessens gekennzeichnet. Die Stunde des Mittags, in der sich der abgründige Gedanke auftut, ist in jenen Augenblick eingefügt, der die Entgegensetzung der Zeitsphären aufhebt. Dieser Augenblick lässt sich seinerseits erst auf der Folie der bedachten ewigen Wiederkehr als Quellgrund der Zeitlichkeit verstehen.

1.7 Die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche Die höchste Entscheidung, die fallen kann und die jeweils zum Grund aller Geschichte wird, ist diejenige zwischen der Vormacht des Seienden und der Herrschaft des Seins.Wann immer daher und wie immer das Seiende im Ganzen eigens gedacht wird, das Denken steht im Gefahrenkreis dieser Entscheidung. Sie wird nie von einem Menschen erst gemacht und vollzogen. Ihr Ausfall und Austrag entscheidet vielmehr über den Menschen und in anderer Weise über den Gott. Nietzsche ist ein wesentlicher Denker, weil er in einem entschiedenen, der Entscheidung nicht ausweichenden Sinne auf diese Entscheidung hinausdenkt und ihre

 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §53, S. 267.  Heidegger, N I, S. 359. Vgl. Nietzsche, NF-1881,11[148].Vgl. zur Auslegung dieser Aufzeichnung und zur Anbindung des Mittags-Motivs an das „große Jahr“ Heraklits: Günter Wohlfart, „Also sprach Herakleitos“. Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, 1. Aufl., Freiburg / München 1991, S. 347– 357.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Ankunft vorbereitet, ohne sie doch in ihrer verborgenen Spannweite zu ermessen und zu beherrschen. Denn dieses ist das Andere, was den Denker auszeichnet: daß er kraft seines Wissens erst weiß, inwiefern er Wesentliches nicht wissen kann.¹⁰⁶⁵

1.7.1 Die Hypostasierung des Willens zur Macht zu Nietzsches „einzigem Gedanken“ und zum Vollendungsprinzip der Neuzeit Dass sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis, die Heidegger im Sommersemester 1939 in Freiburg hielt, ein fundamentaler Wandel in Heideggers Beurteilung und Verortung des Nietzscheschen Denkens dokumentiert, tritt bereits zu Beginn der entsprechenden Textfassung deutlich zutage. Die Vorlesung gliedert sich in zwei übergreifende Teile. Im ersten Teil widmet sich Heidegger der metaphysikgeschichtlichen Stellung des Gedankens des Willens zur Macht. Im zweiten Teil ergründet Heidegger, wie sich die Bestandsicherung des Lebens in der schematisierenden und dichtenden Erkenntnis vollzieht. Dementsprechend soll die Struktur der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis in diesem Kapitel nachgebildet werden. Zuerst wird die Situierung des Willens zur Macht mitsamt der beachtenswerten Charakterisierung Nietzsches als „letzter Metaphysiker des Abendlandes“¹⁰⁶⁶ analysiert. Im Anschluss soll die Beziehung zwischen der epistemischen Weltaneignung und der Irrtumswahrheit untersucht und mit der Ausformung des Wesens der Wahrheit als Gerechtigkeit zusammengedacht werden. Um die Unterschiede gegenüber den beiden vorausgehenden Nietzsche-Vorlesungen sichtbar machen zu können, erscheint es zunächst sinnvoll, deren Grundlinien wiederholend zu skizzieren. In der ersten Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst hatte Heidegger den Willen zur Macht erstens in enger thematischer Anlehnung an Sein und Zeit und auf der Basis einer phänomenologischen Herangehensweise als äußerste Verdichtung der Entschlossenheit sowie als Stimmung des Rausches und der Kraftsteigerung hervorgehoben. Insgesamt wurde der Wille zur Macht als Inbegriff des Schaffens geschildert. Zweitens konturierte Heidegger den Willen zur Macht 1936/37 in der Figur des großen Stils als kunstgestaltendes, gewährendes Vermögen. Der Widerstreit von Chaos und Gesetz wurde durch den großen Stil versöhnt. In diesem Zuge löste Heidegger die Dichotomie zwischen der Einbettung in eine physiologische Ästhetik und der maßgebenden, antinihilistischen Zielsetzung der Kunst auf. Als drittes Kernmerkmal kristallisierte sich der Wille zur Macht als Ort und Vereinigungsgarant  Heidegger, N I, S. 428.  Heidegger, N I, S. 431.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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des Entsetzen erregenden Zwiespalts zwischen Wahrheit und Kunst heraus. Viertens ging Heidegger in der neuen Auslegung der Sinnlichkeit konstruktiv auf Aufzeichnungen Nietzsches ein, in denen die perspektivische Vervielfältigung der Kraftzentren des Willens zur Macht im Organischen und innerhalb jedes einzelnen Lebewesens betont wird. In der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen aus dem Sommersemester 1937 setzte Heidegger den Auslegungsfaden fort, dass der jeweilige Hauptgedanke Nietzsches das Chaos des Werdens zwar bändigen und einzuhegen vermag, es dabei jedoch zugleich gewähren lässt. Heidegger stellte heraus, dass sich der Einzelne im Rahmen der Einwilligung in die Möglichkeit der ewigen Wiederkehr in privilegierter Weise selbst befiehlt. Das Offene der Zukunft wird nach Heidegger im tätig ergriffenen Augenblick nicht verschlossen, da es im Für-wahr-halten der ewigen Wiederkehr als eigenes Gewesensein vorgreifend erschaffen werden kann. Deswegen konnte Heidegger das für den Willen zur Macht charakteristische Befehlenkönnen mitsamt der Entschlossenheit in die Deutung der ewigen Wiederkehr des Gleichen integrieren, ohne deren zeitlichen und möglichkeitstheoretischen Entwurfssinn ausblenden zu müssen. Darüber hinaus ergab sich eine entscheidende Gemeinsamkeit zwischen den 1936 und 1937 jeweils isoliert betrachteten Grundlehren Nietzsches: Wie der Wille zur Macht als Kunst in der ersten Nietzsche-Vorlesung 1936/37, so wird der Gedanke der ewigen Wiederkehr 1937 gegen den Nihilismus in Stellung gebracht und als dessen Überwindung (beziehungsweise als dessen Selbstüberbietung) entfaltet. In der ersten Nietzsche-Vorlesung wird der Nihilismus nahezu mit dem Platonismus identifiziert, insofern die Ansetzung einer übersinnlichen Wahrheit das reale, sich verändernde Leben entwertet und die Erfahrung der Sinnlosigkeit präfiguriert wird. Da die Kunst als durchsichtigste Gestalt des Willens zur Macht das schaffende Hervorbringen des Seienden zum Ausdruck bringt, konterkariert sie das lebenshemmende und vielfaltsausschließende Übermaß der Wahrheit, die beansprucht, ewig die einzig Allgemeingültige zu sein. Nach dem Tod Gottes soll die Kunst die neue Ordnung des Seienden und die Begründung verbindlicher Ziele generieren. Eine ähnliche Bedeutung misst Heidegger 1937 auch der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu. Allerdings steht in der zweiten Nietzsche-Vorlesung weniger der platonische Gründungsakt des Nihilismus im Vordergrund als dessen Entschlüsselung als Grundtatsache und Logik der abendländischen Geschichte, in der sich nach dem Verlust der christlichen Sinnerzählung die lähmende Erfahrung herausschält, das bestimmende Schwergewicht sei aus den Dingen gewichen. Die vormals kollektive Kohäsionskraft des Christentums wird in der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen einerseits individualisiert, indem sie zum ethischen Imperativ avanciert. Andererseits besiegelt die ewige Wiederkehr in

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

globaler Hinsicht die nach dem Verlust des Christentums zurückgelassene Sinnlosigkeit, indem sie das Nichterreichen eines Zieles auf Dauer stellt. Während der Wille zur Macht dem Nihilismus im Medium der Kunst ein tätiges Prinzip entgegenhält, überwindet die ewige Wiederkehr den Nihilismus, indem sie ihn radikalisiert. In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis findet ein Paradigmenwandel statt, weil Heidegger zwar den geschichtlichen Bezug der Grundlehren Nietzsches beibehält, das Narrativ des Nihilismus jedoch durch die Seinsgeschichte substituiert. Nietzsche wird nicht mehr zugesprochen, den Nihilismus mit der Freisetzung des Schaffens, der Rettung der Sinnlichkeit oder der Vollendung der Welt im Augenblick der ewigen Wiederkehr zugunsten des in der Metaphysik verdrängten, ziellosen Werdens, des naturhaften Chaos und der perspektivischen Relativierung absoluter Setzungen überwunden zu haben.Vielmehr wird er als „Denker der Vollendung der Metaphysik“¹⁰⁶⁷ bereits in den einleitenden Passagen der Vorlesung in Heideggers Konzeption eines ersten und eines anderen Anfangs eingegliedert. Bemerkenswerterweise gelangt Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis zu jenen plakativen, eingängigen und vermeintlich endgültigen Charakterisierungen der Philosophie Nietzsches, die den Anschein apodiktischer und überdauernder Gewissheit und Kontinuität erwecken. Sie überschatten die eigentümliche Dynamik der Heideggerschen Auseinandersetzung mit Nietzsche. Wie bereits ansatzweise verdeutlicht werden konnte, ist Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche durch die ambivalente Verbindung zwischen einer insgesamt durchaus progressiv verlaufenden Abkehr und der affirmativen Rückanknüpfung an einzelne Titel und Motive geprägt. Somit entwickelt sich eine Pluralität sich wechselseitig aufhebender, jeweils eindeutiger Definitionen des Gehaltssinns der Grundworte. Die interne, von Heidegger verschiedenartig austarierte Konkurrenz der Grundlehren fungiert als Impetus seiner abschließenden Deutungsversuche. Gerade an den 1939 zu registrierenden, neuralgischen Punkten einer bilanzierenden Bedeutungssichtung von Seiten Heideggers erweist sich eine vergleichende Kontextualisierung mit den früheren Ergebnissen, Standpunkten und Themengewichtungen seiner Nietzsche-Vorlesungen als unabdingbar. So kann der verbreiteten Auffassung entgegengewirkt werden, Heideggers vermeintlich systematische Beurteilung Nietzsches besitze einen im Grunde vereinnahmend-negativen Tenor. Es kann im Gegenzug die These erhärtet werden, dass sich Heideggers Nietzsche-Interpretation nicht mit den hervorstechenden (und zweifellos wichtigen) Schlagworten wie „Vollendung

 Heidegger, N I, S. 425.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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der Metaphysik“, „letzter Metaphysiker“, „Endzeit des Willens zur Macht“ hinreichend abbilden lässt. In der Vorlesung von 1939 sucht Heidegger hinter dem Verfänglichen, Persönlichen, Zeitgenössischen und Zweideutigen Nietzsches „das Vorausweisende und Einzige, das Entscheidende und Endgültige“¹⁰⁶⁸ aufzuspüren. Den ersten elementaren Schritt zur willensbestimmten Gesamtauslegung der neuzeitlichen Metaphysik, die Heidegger in den Jahren 1941– 1946 entfaltet und verwendet, vollzieht er 1939, indem er den Gedanken des Willens zur Macht in dem programmatischen Anfangsabschnitt Nietzsche als Denker der Vollendung der Metaphysik ¹⁰⁶⁹ zum einzigen Schlüssel der Ergründung des wahren Nietzsche und der geschichtlichen Wirksamkeit und Manifestation seines Denkens hypostasiert: Wer Nietzsche ist und vor allem: wer er sein wird, wissen wir, sobald wir imstande sind, denjenigen Gedanken zu denken, den er in das Wortgefüge ‚der Wille zur Macht‘ geprägt hat. Nietzsche ist jener Denker, der den Gedanken-Gang zum ‚Willen zur Macht‘ gegangen ist.¹⁰⁷⁰

1936 und 1937 hatte er Nietzsche noch konzediert, mit den Lehren des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr auf die akute, auf den nihilistischen Platonismus zurückgehende und durch diesen prädeterminierte Krisis des Zeitalters zu reagieren und in dem „Ja zum Sein“¹⁰⁷¹ eine neue, vielversprechende Ordnung des Seienden zu schaffen. Demgegenüber ist es für Heideggers Auslegung ab 1939 emblematisch, dass Nietzsche mit seiner Metaphysik des Willens zur Macht in einen seinsgeschichtlichen Entscheidungsraum vorausblickt und die Verfassung der künftigen Weltgestalt bestimmt: Was uns allein angehen muß, ist die Spur, die jener Gedanken-Gang zum Willen zur Macht in die Geschichte des Seins, will heißen: in die noch unbegangenen Bezirke künftiger Entscheidungen gezogen hat. Nietzsche gehört zu den wesentlichen Denkern. Mit dem Namen ‚Denker‘ benennen wir jene Gezeichneten unter den Menschen, die einen einzigen Gedanken – und diesen immer ‚über‘ das Seiende im Ganzen – zu denken bestimmt sind. Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken. Dieser bedarf weder der Anpreisung noch einer Wirkung, um zur Herrschaft zu kommen.¹⁰⁷² Unter den Denkern sind nun aber jene die wesentlichen Denker, deren einziger Gedanken auf eine einzige und höchste Entscheidung hinausdenkt, sei es in der Art einer Vorbereitung dieser Entscheidung, sei es in der Weise des entschiedenen Vollzugs derselben.¹⁰⁷³

     

Heidegger, N I, S. 426. Vgl. Heidegger, N I, S. 425 – 432. Heidegger, N I, S. 425. Heidegger, N I, S. 224. Heidegger, N I, S. 426 – 427. Heidegger, N I, S. 427.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die qualitativ-inhaltliche Klassifikation dieser „Entscheidung“ erfolgt über die Weise des Austrags der ontologischen Differenz. Gegenüber der These einer persönlichen Urheberschaft der Gedanken der wegweisenden Philosophen hebt Heidegger die Unverfügbarkeit des denkerischen Wahrheitsentwurfes hervor. Dieser formgebende Entwurf gestaltet vorgreifend das weltliche Gepräge aus und wird zugleich von dem in seiner Geschichtlichkeit auftretenden Sein zum Vorschein gebracht. Nietzsche wird 1939 als Gipfelpunkt der metaphysischen Verlaufsrichtung markiert, weil er den für die gesamte Geschichte der Metaphysik kennzeichnenden Primat des Seienden vor dem Sein besiegelt, ohne dieses Votum selbst als Ergebnis einer schwerwiegenden Entscheidung verstehen zu können: Nietzsche steht in einer Entscheidung so wie alle abendländischen Denker vor ihm. Er bejaht mit ihnen die Vorherrschaft des Seienden gegenüber dem Sein, ohne zu wissen, was in solcher Bejahung liegt. Aber zugleich ist Nietzsche derjenige abendländische Denker, der die Bejahung dieser Vormacht des Seienden unbedingt und endgültig vollzieht und dadurch in die härteste Schärfe der Entscheidung zu stehen kommt. Das wird darin sichtbar, daß Nietzsche in seinem einzigen Gedanken vom Willen zur Macht die Vollendung des neuzeitlichen Zeitalters vorausdenkt. Nietzsche ist der Übergang aus dem vorbereitenden Abschnitt der Neuzeit – historisch gerechnet der Zeit zwischen 1600 und 1900 – in den Beginn ihrer Vollendung. Den Zeitraum dieser Vollendung kennen wir nicht. Vermutlich wird er entweder sehr kurz und katastrophenartig sein oder aber sehr lang im Sinne einer immer dauerfähigeren Einrichtung des Erreichten. Halbheiten werden im jetzigen Stadium des Planeten keinen Platz mehr finden.Weil nun aber die Geschichte ihrem Wesen nach auf einer von ihr selbst nicht gefällten und von ihr selbst auch nie fällbaren Entscheidung über das Seiende gründet, gilt dies in je eigener und betonter Ausprägung von jedem Zeitalter der Geschichte.¹⁰⁷⁴

In diesem Passus bahnt sich Heideggers Vernetzung des Willens zur Macht mit dem Topos der Seinsverlassenheit an.¹⁰⁷⁵ In der Vorlesung von 1936/37 hatte Heidegger den Willen zur Macht als Bejahung des Sinnlichen (und damit als Bejahung des tatsächlich Seienden) konturiert, die sich gegen die nihilistischplatonische Verehrung der einen Wahrheit der Ideen richtet. Die Eigenschaft der „Bejahung“ taucht auch im obigen Zitat wieder auf. Indes wendet sich der Wille

 Heidegger, N I, S. 428 – 429.  Vgl. Heidegger, N I, S. 445: „Sofern wir dabei den Grundgedanken zu denken versuchen, ist jeder Schritt eine Besinnung auf das, was in der abendländischen Geschichte ‚geschieht.‘ Diese Geschichte wird nie ein Gegenstand, in dessen historische Betrachtung wir uns verlieren; sie ist auch kein Zustand, den wir bei uns psychologisch nachweisen könnten. Was ist sie dann? Wir wissen es, wenn wir den Willen zur Macht begreifen, d. h. uns nicht nur vorstellen können, was dieses Wortgefüge bedeutet, sondern verstehen, was das ist: Wille zur Macht – eine einzigartige Herrschaft des Seins ‚über‘ das Seiende im Ganzen [in der verhüllten Gestalt der Seinsverlassenheit des Seienden].“

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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zur Macht nun nicht mehr gegen das Sein im Sinne der Idee oder der Beständigkeit. In seiner Affirmation der Steigerung und Vervielfältigung des Seienden schließt der Wille zur Macht das Sein als geschichtliche Ereignung und als Entzug seiner selbst aus. Zudem ist augenfällig, dass Heidegger seinen Begriff der Neuzeit als Parallelformation aus der Metaphysik und dem epochalen, lebensweltlichen Zeitgeist entwickelt. Zwischen den historischen Lebensdaten ihres anfänglichen (Descartes: 1596 – 1650) und ihres vollendenden Denkers (Nietzsche: 1844– 1900) generiert sich der geschichtlich-metaphysische Aufstieg der Subjektivität. Deren Autoritätsgewinn schlägt sich nach und seit 1900 unvermeidlich innerhalb des menschlichen Zugangs zum Seienden, in den historisch feststellbaren Vorgängen sowie in dem Weltzustand im Allgemeinen nieder. Die bereits 1936/37 vorgetragene Würdigung Nietzsches als Übergang¹⁰⁷⁶ wird zwar beibehalten, doch wird dessen Zielrichtung neu ausgelotet. Nietzsches Philosophie erscheint hier nicht als Übergang in den anderen Anfang. Im Jahre 1939 wird das Denken Nietzsches von Seiten Heideggers als epocheninterner Versammlungsgrund der Tendenzen der Neuzeit erfahren. Nietzsche nimmt ihren „vorbereitenden Abschnitt“¹⁰⁷⁷ in sich auf, um die Neuzeit in ihre Vollendungsbewegung zu überführen: Die Vollendung der Metaphysik der Neuzeit eröffnet nicht den Weg in den anderen Anfang, der die Verbergung des Seins und die Kontingenz des Ereignisses wahrt, sondern initiiert den Beginn ihrer ontischen Herrschaft. Hinsichtlich der Vollendung akzentuiert Heidegger nicht nur deren negativistische Züge. Er erwägt nun auch ernsthaft die Möglichkeit, dass sich die Vollendung der Neuzeit gegen jeden Übergang abriegeln könnte. Anstatt in ein ZuEnde-kommen im Sinne eines Abschlusses einzumünden, prolongiert sich ein abweichungsloser Dauerzustand. Dass dieser sich immunisierenden Wiederkehr des Immergleichen allein eine Vollendung in der Gestalt eines katastrophalen Bruches beigeordnet werden kann, wird Heidegger in dem Aufsatz Die Überwindung der Metaphysik zur Kernthese ausbauen, um die Beziehung zwischen dem jähen Aufgang des Seins selbst auf der einen Seite und dem sich einrichtenden Willen zur Willen auf der anderen Seite zu vermitteln.¹⁰⁷⁸ Sowohl in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche als auch mit Schelling hatte Heidegger im Jahre 1936 eine verheißungsvolle Lesart exponiert. Demzufolge sollten die von Nietzsche in der Vereinigung von Sein und Werden erzielte

 Vgl. Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 278: „Nietzsche ist ein Übergang – das Höchste, was von einem Denker gesagt werden kann. Ein Übergang, der Übergänge einleitet zum zweiten Anfang. Darum die Kluft und die Not des Umschwunges, einzig, weil das Ende völlig und das Ende eines größten Anfanges ist.“  Heidegger, N I, S. 429.  Vgl. hierzu das Kapitel 3.1.2 der vorliegenden Arbeit.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Abrundung der Metaphysik und der Stoß, den ihr Schelling mit seiner „Metaphysik des Bösen“¹⁰⁷⁹ versetzt, das Fußfassen im anderen Anfang einläuten. Diese positive Charakterisierierungstendenz verschwindet in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis gänzlich. In der Spezifikation des Topos der Vollendung erhält die „Metaphysik“ einen weiteren Bedeutungsaspekt: Die Metaphysik denkt das Seiende im Ganzen nach seinem Vorrang vor dem Sein. Alles abendländische Denken seit den Griechen bis zu Nietzsche ist metaphysisches Denken. Jedes Zeitalter der abendländischen Geschichte gründet in der jeweiligen Metaphysik. Nietzsche denkt die Vollendung der Neuzeit voraus. Sein Gedanken-Gang zum Willen zur Macht ist die Vorwegnahme derjenigen Metaphysik, von der die sich vollendende Neuzeit in ihrer Vollendung getragen wird. ‚Vollendung‘ bedeutet hier nicht eine letzte Anstückung einer bislang noch nicht beseitigten Lücke. Vollendung meint die uneingeschränkte Entfaltung aller seit langem aufbehaltenen Wesensmächte des Seienden zu dem, was sie im Ganzen fordern. Die metaphysische Vollendung eines Zeitalters ist nicht der bloße Auslauf eines Bekannten. Sie ist die erstmals unbedingte und im voraus vollständige Anlage des Nichterwarteten und auch nie zu Erwartenden. Die Vollendung ist dem Bisherigen gegenüber das Neue. Sie wird daher auch von allen nur rückwärts Rechnenden nie gesehen und begriffen. Nietzsches Gedanke des Willens zur Macht denkt das Seiende im Ganzen, so daß der metaphysische Geschichtsgrund des gegenwärtigen und künftigen Zeitalters sichtbar und zugleich bestimmend wird.¹⁰⁸⁰

In diesem Zitat wird von Heidegger nochmals unterstrichen, dass sich in Nietzsches Denkweg zum Willen zur Macht, der sich von 1884 bis 1888 anhand der begonnenen und überarbeiteten Werkentwürfe, der Skizzierungen von Tragweite und Gestalt sowie auf der Basis brieflicher Bekundungen nachvollziehen lässt, eine Vollendung abzeichnet. Diese darf weder als unüberbietbare Erfüllung oder als unwiderrufliches Erreichen des leitgebenden Telos eines langwierigen Prozesses verstanden werden noch ist sie als Terminus für die Schwingungsbewegung einer Kehre des Seins zu benennen, die den vormetaphysischen Anfang des Aufgangs der Physis wiedererweckt. Indem die Vollendung als Offenbarwerdung jener bislang verborgenen und die Geschichte dennoch seit langer Zeit dominierenden Bindekräfte bestimmt wird, die den Vorrang des Seienden gestatten und die sich in der Neuzeit in Figuren der Subjektivität artikulieren, wird der Wille zur Macht als krönender Gedanke ostensibel. Er vermag die sich langhin ankündigende Forderungshöhe der Beherrschung des Seienden am ehesten – nämlich unbedingt – zu erfüllen. Er kann von Nietzsche nur deswegen als das gänzlich Neuartige und „Nichterwartete“¹⁰⁸¹ zur Sprache gebracht werden, weil er als

 Vgl. Heidegger, GA 42, S. 181. Vgl. zu dieser Thematik den 2. Teil der Arbeit.  Heidegger, N I, S. 430 – 431.  Heidegger, N I, S. 430.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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untergründig waltendes Prinzip endlich an die Oberfläche getreten ist, um die Phase der Neuzeitvollendung zu forcieren. In diesem Zuge fällt Heidegger das berühmte Urteil, Nietzsche sei als Denker des Willens zur Macht der letzte Metaphysiker des Abendlandes: Nietzsche denkt im Gedanken des Willens zur Macht den metaphysischen Grund der Vollendung der Neuzeit voraus. Im Gedanken des Willens zur Macht vollendet sich zuvor das metaphysische Denken selbst. Nietzsche, der Denker des Gedankens vom Willen zur Macht, ist der letzte Metaphysiker des Abendlandes. Das Zeitalter, dessen Vollendung in seinem Gedanken sich entfaltet, die Neuzeit, ist eine Endzeit. Das will sagen: ein Zeitalter, in dem sich irgendwann und irgendwie die geschichtliche Entscheidung erhebt, ob diese Endzeit der Abschluß der abendländischen Geschichte sei oder das Gegenspiel zu einem anderen Anfang. Nietzsches Gedanken-Gang zum Willen zur Macht durchlaufen, das bedeutet: dieser geschichtlichen Entscheidung unter die Augen kommen. Soweit einer nicht selbst in die denkerische Auseinandersetzung mit Nietzsche gezwungen wird, kann das nachdenkende Mitgehen im Gedanken-Gang Nietzsches nur zum Ziel haben, demjenigen wissend näher zu kommen, was in der Geschichte des neuzeitlichen Zeitalters ‚geschieht.‘¹⁰⁸²

Der Wille zur Macht avanciert zum Vollzugsorgan einer metaphysischen Eschatologie: Die Vollendung der Neuzeit, die sich in der Sichtbarwerdung und philosophischen Gestaltannahme der letzten metaphysisch möglichen Seiendheit des Seienden äußert, ist gleichbedeutend mit der letzten ausstehenden Ära innerhalb des Gefüges der Metaphysik, in der die Vorherrschaft des Seienden ihren Zenit erreicht. Das im Gedanken des Willens zur Macht vorausbestimmte Zeitalter ist eine Endzeit, weil es auf jene Entscheidung zuläuft, in der die Metaphysik zum ersten und einzigen Mal als Ganze zur Disposition steht. Die eschatologischen Charakteristika des neuzeitvollendenden Willens zur Macht manifestieren sich in der zeitlichen Unbestimmbarkeit des Endes dieser Präeminenz sowie in der Scheidung zwischen einer negativ konnotierten Verfestigung der inneren Verfassung der Neuzeit (in der folglich die Metaphysik triumphiert) auf der einen Seite und der fruchtbringenden Konversion in das Andere des Anfangs auf der anderen Seite. Signifikant ist zudem die Einbettung in ein vom Menschen nicht aktiv beeinflussbares Entscheidungsszenario eines Entweder-Oder zwischen „Abschluß“¹⁰⁸³ und „Gegenspiel“.¹⁰⁸⁴ Bislang ließen sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis drei wesentliche Veränderungen gegenüber der Heideggerschen Nietzsche-Deutung der Jahre 1936 und 1937 freilegen: Zum ersten gibt Heidegger die Orientierung an

 Heidegger, N I, S. 431.  Heidegger, N I, S. 431.  Heidegger, N I, S. 431.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nietzsches Nihilismus-Begriff auf und fügt dessen Denken in die eigene Konzeption der metaphysischen Zeitalterabfolge ein. Damit geht einher, dass die für Nietzsche akut-konkrete, sich lebendig vor den Augen aufdrängende Gefahr mitsamt der diagnostizierten Notwendigkeit einer schöpferischen Umwertung von Heidegger ins Unbestimmte verlagert wird. Zum zweiten garantiert die Besinnung auf das Schaffen und den Willen der Macht keinen Neuanfang mehr, keine „Revolution“ der Philosophie und keine Umwendung jener Niedergangsentwicklung, die mit der Setzung der Beständigkeit des Ideals eingeläutet wurde. Vielmehr erwirkt der Wille zur Macht als Geschichtsgrund der Neuzeit nun selbst die Einrichtung eines Dauerzustandes und befördert den Aufschub der Beendigung, indem er die „seit langem aufbehaltenen Wesensmächte des Seienden“,¹⁰⁸⁵ d. h. die Grundzüge der Subjektivität – die Steigerung, das vor-stellende Erkennen und die Selbstbezüglichkeit – entfaltet. Deswegen betrachtet Heidegger den Willen zur Macht nicht mehr vorrangig in seiner inhaltlichen Bestimmung oder im Hinblick auf die Art seines strukturellen Innenlebens. Er exkludiert die Möglichkeit einer phänomenologisch-vollzugshaften Fundierung und Vergleichsanbindung. Zum dritten steigt der Wille zur Macht 1939 zum einzigen, ersten und ranghöchsten Gedanken auf, er soll Nietzsches gesamte Metaphysik repräsentieren: Wenn der Gedanke vom Willen zur Macht der erste, d. h. der dem Range nach höchste Gedanke der Nietzscheschen und damit der abendländischen Metaphysik überhaupt ist, dann werden wir zum entschiedenen Denken dieses ersten und letzten metaphysischen Gedankens nur im Durchgehen jener Gänge hinfinden, die Nietzsche, der Denker dieses Gedankens, selbst gegangen ist.¹⁰⁸⁶

Ein Beleg dafür, dass Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht als Einbahnstraße einer zugunsten des Willenstitels verlaufenden Vereinheitlichung und dessen sukzessiver Ablehnung gedeutet werden muss, bekundet sich nur ein Jahr später in der Gestalt einer Differenzierung der fünf Grundworte, die Heidegger im Text Nietzsches Metaphysik (1940) entwirft. In diesem Quintett werden die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Nihilismus, die Gerechtigkeit und der Übermensch dem Willen zur Macht beigeordnet.¹⁰⁸⁷ Obgleich Heidegger den Willen zur Macht 1939 nicht politisch ausdeutet, scheint er in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis dennoch bei der drei Jahre zuvor vehement abgelehnten Position Baeumlers angelangt zu sein, die allein den Willen zur Macht gelten lässt und diesen zum Kern des Nietzscheschen

 Heidegger, N I, S. 430.  Heidegger, N I, S. 443.  Vgl. Heidegger, N II, S. 231– 301.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

341

Denkens ausgestaltet. Angesichts der apostrophierten Erstrangigkeit und Einzigkeit des Willens zur Macht stellt sich die Frage, wie Heidegger die Lehre der ewigen Wiederkehr 1939 zu dem „einzigen Gedanken“¹⁰⁸⁸ in einen Bezug zu setzen vermag. Wie spannungsreich die einseitige Privilegierung des Willens zur Macht, die eine vollständige Ausblendung der ewigen Wiederkehr nahelegt, tatsächlich ist, manifestiert sich darin, dass die ewige Wiederkehr 1936 und 1937 dem Willen zur Macht noch klar vorgezogen wurde und als „höchste Bestimmung des Seins“¹⁰⁸⁹, „schwerster Gedanke“¹⁰⁹⁰, „alles bestimmende Grundlehre“¹⁰⁹¹ und als „Wesen des Seins“¹⁰⁹² ausgezeichnet wurde. 1940 wird Heidegger sie in der Vorlesung Der europäische Nihilismus wieder als „wesentlichsten Gedanken“¹⁰⁹³ instantiieren. Weil das Verhältnis zwischen dem Willen zur Macht und der Erkenntnis im thematischen Fokus der Vorlesung des Sommersemesters 1939 steht, finden sich in ihr naturgemäß nur wenige Ausführungen zur ewigen Wiederkehr. Nichtsdestotrotz gibt Heidegger im Abschnitt Nietzsches sogenanntes „Hauptwerk“ eine ausgesprochen aufschlussreiche Relationsbestimmung: Wir nennen Nietzsches Gedanken vom Willen zur Macht Nietzsches seinen einzigen Gedanken. Damit ist zugleich gesagt, daß Nietzsches anderer Gedanke, der von der ewigen Wiederkehr des Gleichen, notwendig in den Gedanken vom Willen zur Macht eingeschlossen ist. Beides – Wille zur Macht und ewige Wiederkehr des Gleichen – sagt dasselbe und denkt denselben Grundcharakter des Seienden im Ganzen. Der Gedanke von der ewigen Wiederkehr ist die innere – nicht nachträgliche – Vollendung des Gedankens vom Willen zur Macht. Gerade deshalb wurde die ewige Wiederkehr des Gleichen von Nietzsche zeitlich früher gedacht als der Gedanke des Willens zur Macht. Denn jeder Denker denkt seinen einzigen Gedanken, wenn er ihn erstmals denkt, zwar in seiner Vollendung, aber noch nicht in seiner Entfaltung, d. h. in der ihn stets überwachsenden und erst auszutragenden Tragweite und Gefährlichkeit.¹⁰⁹⁴

Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird zum „anderen Gedanken“¹⁰⁹⁵ depotenziert. Heidegger denkt beide Lehren in einer Identität zusammen, die unter dem unangefochtenen Primat des Willens zur Macht arrangiert wird. Im vergleichen-

 Heidegger, N I, S. 432.  Heidegger, N I, S. 18.  Heidegger, N I, S. 19; S. 288.  Heidegger, N I, S. 380.  Heidegger, Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst, GA 43, S. 279.  Vgl. Heidegger, N II, S. 29: „Hier bleibt das Entscheidende zu beachten, daß Nietzsche die ewige Wiederkehr vor dem Willen zur Macht denken mußte. Der wesentlichste Gedanke wird zuerst gedacht.“  Heidegger, N I, S. 432– 433.  Heidegger, N I, S. 432.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

den Rückblick auf die vorherigen Auslotungen ihres Zusammenhanges lässt sich sagen, dass sich die These einer Selbigkeit des Aussagegehaltes beider Gedanken 1939 zwar verstärkt, sich allerdings schon 1936 angekündigt hatte. So hatte Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst dargelegt, der Wille zur Macht stabilisiere sein Wesen als ewige Wiederkehr. Auch der 1939 proponierte Einschluss der ewigen Wiederkehr in den Willen zur Macht lässt sich durchaus mit einer früheren Konfiguration parallelisieren, die 1937 jedoch die ontologische Priorität der ewigen Wiederkehr untermauern sollte. Wie bereits im ersten, den unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen der beiden Hauptgedanken gewidmeten Kapitel dieser Arbeit beschrieben und nachgezeichnet werden konnte, expliziert Heidegger in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Wille zur Macht sei „im Wesen und seiner inneren Möglichkeit nach ewige Wiederkehr des Gleichen“.¹⁰⁹⁶ Anhand der (ebenfalls in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 angesiedelten) Besprechung des Werkplanes: „Der Wille zur Macht. Versuch der Auslegung alles Geschehens“¹⁰⁹⁷ aus dem Jahre 1885 konnte im Kapitel 1.6.3 zudem der Nachweis erbracht werden, dass Heidegger den Primat der über die Wiederkunftslehre koordinierten Wesensfundierung konsolidiert. So optiert er in der Analyse dieses scheinbar unter der Ägide des Willens zur Macht verfassten Werkplans für eine Integrationsrichtung, die dem 1939 präferierten Einschluss der ewigen Wiederkehr in den Willen zur Macht diametral entgegengesetzt ist: Die Frage nach dem Willen zur Macht ist in die Philosophie der ewigen Wiederkunft eingeordnet. Dieser Gedanke greift allen anderen vor, er wird in der Vorrede behandelt, weil er durch alles hindurchgreift.¹⁰⁹⁸

1939 kehrt sich die Art der Einordnung um, weil die ewige Wiederkehr nicht mehr als Sinn und Wesen des sich auf seinen Grund zurückbeziehenden Willens zur Macht fungiert. Die ewige Wiederkehr wird in der Nietzsche-Vorlesung von 1939 als innere Verfassung des Willens zur Macht absorbiert und internalisiert. Indes lassen sich in dem weiter oben zitierten Passus aus der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis zwei Konstellationen benennen, die gänzlich provenienzlos und neuartig sind. Das erste Novum bildet die thetisch vorgetragene Übereinkunft beider Lehren in der Fähigkeit, denselben Grundcharakter des Seienden im Ganzen vertreten zu können und diesen zum Ausdruck zu bringen. Dies ist konsequent, wenn beide Lehren tatsächlich dasselbe sagen sollen; es ist

 Heidegger, N I, S. 419. Vgl. hierzu das Kapitel 1.1.2 dieser Arbeit.  Vgl. Heidegger, N I, S. 373. Vgl. das Kapitel 1.6.3 der vorliegenden Arbeit.  Heidegger, N I, S. 373.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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unausweichlich, wenn die ewige Wiederkehr lückenlos im Willen zur Macht aufgeht. Sowohl in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst als auch in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird diese Eigenschaft allein dem Willen zur Macht zugesprochen, der 1936 und 1937 kontinuierlich als Grundcharakter des Seienden im Sinne der Verfassung, des Was-Seins, der Essenz bestimmt wird. Trennscharf wurde ihm die ewige Wiederkehr gegenübergestellt, die – ab 1937 auch auf terminologischer Ebene – die Seinsweise des Seienden, das DassSein, die Existenz verkörpert und im Sein des Seienden mit dem Willen zur Macht zusammenfällt. In der vorliegenden Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis identifiziert Heidegger hingegen den Willen zur Macht wieder gänzlich und ausschließlich mit dem Sein des Seienden. Hier offenbart sich eine Rekursivität, weil Heidegger die uneingeschränkte Gleichsetzung des Willens zur Macht mit dem Sein des Seienden auch in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst stipuliert hatte. Anders als in der Vorlesung von 1936/37, wird der Status des Willens zur Macht als Sein des Seienden 1939 nicht mehr durch die wichtigere Dimension des Sinns dieses Seienden angefochten, dessen materiale Erfüllung Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst in der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen fand. Auf diese Weise wird die konkurrenzlose Herrschaft des Willens zur Macht besiegelt. Wie in der Auseinandersetzung mit Heideggers Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) zu umranden sein wird¹⁰⁹⁹, kehrt Heidegger zwar im selben Jahr zu der Unterscheidung der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht nach Maßgabe des Schemas von Existenz und Essenz zurück. Dennoch erleidet die nunmehr entschiedene Dominanz des Willens zur Macht dadurch keine Einbuße, weil seine Stellung als Wesensträger der Neuzeit unangetastet bleibt. Die zweite Neuerung äußert sich in der werkchronologisch flankierten Unterscheidung zwischen der Vollendung und der Entfaltung des einzigen Gedankens. Auf den ersten Blick wird die zunächst als „anderer Gedanke“¹¹⁰⁰ nivellierte ewige Wiederkehr im Immanenzzusammenhang des Zitats rehabilitiert, insofern sie als „Vollendung“¹¹⁰¹ des Willens zur Macht erschlossen wird. Heideggers eigenwilliger Gebrauch des Terminus „Vollendung“ bekundet sich auch an dieser Stelle: Dass die ewige Wiederkehr die „innere Vollendung“¹¹⁰² des Willens zur Macht repräsentiert, bedeutet hier nicht, sie sei dessen Wesen oder höchste Bestimmung. Stattdessen bezeichnet die Vollendung das erste, noch weitgehend un   

Vgl. das Kapitel 1.8 dieser Arbeit. Heidegger, N I, S. 432. Heidegger, N I, S. 433. Heidegger, N I, S. 433.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

konturierte Aufleuchten des einzigen Gedankens in seiner Unmittelbarkeit, der sich erst durch die aufspürend-ausweitende Entfaltung des Willens zur Macht in sämtlichen Bezirken des Seienden gänzlich enthüllen und konkretisieren wird. Der Wille zur Macht ist als Entfaltung einerseits die ausdifferenzierte und ausgereifte, in ihren Seinsmodi und ihrer Geltung begründete, später hinzutretende Seite des einzigen Gedankens. Beide Lehren werden in der Gestalt des einzigen Gedankens synthetisiert. Weil der Wille zur Macht die ewige Wiederkehr andererseits innerhalb des einzigen Gedankens im Hegelschen Sinne aufhebt, kann Heidegger den Willen zur Macht vollständig mit diesem gleichsetzen. In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis betont Heidegger also die Selbigkeit beider Lehren und votiert für die These, in der ewigen Wiederkehr werde derselbe Grundcharakter des Seienden gedacht. Trotzdem kann Heideggers Beurteilung der ewigen Wiederkehr als Vollendung des einzigen Gedankens mitsamt dem Einschluss innerhalb des Willens zur Macht als Ergebnis eines Kompromisses betrachtet werden. Dieser Ausgleich lässt sich auf die Intention zurückführen, die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen angesichts der nunmehr unleugbaren Präponderanz des Willens zur Macht zu retten. Daher versöhnt Heidegger die ewige Wiederkehr in einer Weise mit dem Willen zur Macht, durch die das mit der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis aufkommende Narrativ der Willensdominanz nicht gefährdet wird. Die singuläre geschichtliche Bedeutung des Willens zur Macht als hochrangigster Gedanke der abendländischen Metaphysik soll herausgestellt werden, ohne der 1936 und 1937 entfalteten Zentralität der ewigen Wiederkehr gänzlich widersprechen zu müssen In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass Heidegger das Verhältnis der beiden Grundlehren bereits in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen über den Topos einer werkchronologischen wie systematischen Unterscheidung zwischen dem „ursprünglichen und vorgängigen Entwurf“¹¹⁰³ (der Entwurf wird 1939 durch den Begriff der Vollendung ersetzt) auf der einen Seite und einer Aus- bzw. Entfaltung auf der anderen Seite bestimmt. Die folgende, im Rahmen des Kapitels 1.6.3 bereits ausschnittsweise zitierte und interpretierte Belegpassage aus dem Jahre 1937 ist darüber hinaus erkenntnisverheißend, weil Heidegger die Übereinkunft beider Lehren – gegen Baeumler – in seiner Diskussion der unveröffentlichten Aufzeichnungen von 1884– 1888 über die Grundbewegtheit des Wollens erschließt: Wie aber, wenn der Wille zur Macht im eigensten und innersten Sinne Nietzsches in sich nichts anderes wäre als das Zurückwollen zu dem, was war, und nichts anderes wäre als das Hinauswollen in das, was sein muß? Wie, wenn die ewige Wiederkehr des Gleichen als

 Heidegger, N I, S. 382.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Geschehen nichts anderes wäre als der Wille zur Macht, so nämlich, wie Nietzsche dieses Wort versteht und nicht wie irgendeine Ansicht von ‚Politik‘ sich das gerade zurechtlegt? Dann wäre die Kennzeichnung des Seienden als Wille zur Macht nur die Ausfaltung des ursprünglichen und vorgängigen Entwurfes des Seienden als ewige Wiederkehr des Gleichen. So verhält es sich in Wahrheit.¹¹⁰⁴

Da die Syntheseleistung des einzigen Gedankens 1937 noch keine Option darstellt, wird die ewige Wiederkehr nicht in den Willen zur Macht verschlungen. Konträr dazu, überträgt sich ihre interne Priorität als Wesen und Grund des Willens zur Macht analog auf das Seiende im Ganzen, das von Nietzsche zuerst und ursprünglich als ewige Wiederkehr entworfen wird. Die Ausfaltung des Seienden als Wille zur Macht figuriert 1937 als Bestätigung des ursprünglichen Entwurfes, nicht als aufhebende Fundierung in einem einzigen Gedanken, der von dem sich zuletzt entfaltenden Element geprägt wird. Die sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis ereignende Revision und Neuausrichtung des Heideggerschen Deutungszuganges ist nicht nur in dem Abschnitt Nietzsche als Denker der Vollendung der Metaphysik ersichtlich, sondern schlägt sich auch in dem Abschnitt Der Wille zur Macht als Prinzip einer neuen Wertsetzung ¹¹⁰⁵ nieder. Um Nietzsches mehrstufigen Gedanken-Gang zum Willen zur Macht nachvollziehen zu können, bezieht sich Heidegger auf die Überschrift des III. Buches der Kompilation Der Wille zur Macht, das den Titel Prinzip einer neuen Wertsetzung trägt.¹¹⁰⁶ Im Ausgang von dieser vielsagenden Überschrift sollen erste Anhaltspunkte für den Auslegungsbereich des Willens zur Macht transparent gemacht werden: Wenn nun der wesentliche und einzige Gedanke Nietzsches der Wille zur Macht ist, dann gibt uns die Überschrift des III. Buches sogleich eine wichtige Aufklärung darüber, was der Wille zur Macht ist, ohne daß wir damit sein eigentliches Wesen schon begreifen. Der Wille zur Macht ist das ‚Prinzip einer neuen Wertsetzung‘ und umgekehrt: das zu gründende Prinzip einer neuen Wertsetzung ist der Wille zur Macht.¹¹⁰⁷

Während Heidegger zunächst die geschichtliche Dimension des zum Grund der vollendeten Neuzeit aufsteigenden, die Vorherrschaft des Seienden gegenüber dem Sein selbst befestigenden „einzigen Gedankens“ betonte, widmet er sich im Anschluss daran der Verbindung zwischen dem Wert, dem Leben und der Perspektive. Obwohl Heidegger schon 1936 ein Einheitsgefüge von Wille zur Macht,

   

Heidegger, N I, S. 382. Vgl. Heidegger, N I, S. 438 – 445. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 329 – 533. Heidegger, N I, S. 438.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

ewiger Wiederkehr und Umwertung der Werte ¹¹⁰⁸ entwarf, kam dem Sachverhalt der Wertsetzung nur eine marginale Rolle zu, weil sie sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst in der Befreiung der Kunst und der Sinnlichkeit erschöpfte und weitgehend durch das Phänomen des Schaffens abgedeckt wurde. Dass Heidegger Nietzsche ab 1939 verstärkt als Initiator der Wertubiquität interpretiert und die Haupttätigkeit des Willens zur Macht in der permanenten Wertschöpfung und Setzung sieht, hängt zuvorderst damit zusammen, dass der Wert als „Bedingung des Lebens, Bedingung dafür, daß das Leben ‚Leben‘ sei“¹¹⁰⁹ definiert wird. Die Art und Präferenz der Wertsetzung ergibt sich aus der vorausgehenden Bestimmung der Verfasstheit des Lebens als des wahrhaft Wirklichen. Nietzsche fasst dieses weder im zeitgenössisch reüssierenden Sinne Darwins als „Selbsterhaltung (‚Kampf ums Dasein‘)“¹¹¹⁰ noch deutet er es in platonischer Weise als Diversität überzeitlicher Wesenheiten. Weil er es nach Heidegger als Steigerung und Selbstüberwindung begreift, ist jede Form der Wertsetzung auszuschließen und als Hemmung zu beurteilen, die jenes Über-sich-hinaus-gehen nicht zu bedingen und zu unterstützen vermag: „Nur was das Leben, das Seiende im Ganzen, steigert, hat Wert – genauer: ist ein Wert“.¹¹¹¹ Deswegen muss sich das Leben in der neuen Wertsetzung stets „höhere Möglichkeiten seiner selbst“¹¹¹² vorauswerfen und diese als Ausstehende und noch zu Erreichende in seiner Steigerung einzuholen suchen. Zu diesen Möglichkeiten bestimmt es sich mit Hilfe der voraussehenden Perspektive. Die Perspektivität, die Heidegger 1936/37 mit Nietzsche in der Unbestimmtheit des Organischen und in der Vielfalt der Sehwinkel innerhalb der realen Welt des Sinnlichen verankerte¹¹¹³, wandert 1939 in das Leben im Ganzen ein, das – wie kurz darauf deutlich wird – in seinem Wesen mit dem wertsetzenden und einzigen Willen zur Macht identisch ist: In der Steigerung liegt so etwas wie ein vorblickendes Durchblicken in den Umkreis eines Höheren, eine ‚Perspektive‘. Sofern das Leben, d. h. jegliches Seiende, Lebenssteigerung ist, hat das Leben als solches ‚perspektivischen Charakter‘. Entsprechend eignet auch dem

 Vgl. Heidegger, N I, S. 15 – 22.  Heidegger, N I, S. 438.  Heidegger, N I, S. 439. Zur Darwin-Rezeption Nietzsches vgl. Andreas Urs Sommer, Nietzsche und Darwin, in: Andreas Urs Sommer / Barbara Neymeyr (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, S. 223 – 240.  Heidegger, N I, S. 439.  Heidegger, N I, S. 439.  Vgl. hierzu das Kapitel 1.5.3 dieser Arbeit.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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‚Wert‘ als Bedingung des Lebens dieser perspektivische Charakter. Der Wert bedingt und bestimmt ‚perspektiv‘ jeweils das ‚perspektivische‘ Grundwesen des ‚Lebens‘.¹¹¹⁴

Auch der alten, platonisch-christlichen Wertsetzung eignete eine bedingende Perspektive, doch war diese nicht als inmitten des sinnlichen Lebens verankerte Durchblicksbahn in bislang ungekannte Möglichkeiten konfiguriert. Vielmehr suchte sich Leben durch den ununterbrochenen Ausgriff in das „επέκεινα“¹¹¹⁵, in das jenseitige Übersinnliche zu sichern, der das gegebene Seiende ausblendete und abwertete. Die „neue Wertsetzung“¹¹¹⁶ animiert und trägt den Hindurchgang durch die „Umwertung aller Werte“ und wird zugleich von dieser flankiert und untermauert. Die Korrelation zwischen der neuen Wertsetzung und der Umwertung der tradierten Werte verdichtet sich in der „Kritik der [bisherigen] höchsten Werte“.¹¹¹⁷ Nach dem gravierenden Perspektivwechsel im Leben selbst werden die bisherigen Werte – die Ideen, das Jenseits, die Beständigkeit, die unveränderliche Wahrheit, der anerkannte Tugendkatalog – an dem Maßstab der Steigerung gemessen und enthüllen sich als unzeitgemäße Bedingungen, weil sie jene Wertsetzung nicht mehr vollziehen können, die das Leben benötigt. Es ist im Hinblick auf Heideggers Gradierung des einzigen Gedankens von entscheidender Bedeutung, dass der Wille zur Macht nicht nur in der von außen herantretenden, versammelnd-überschauenden Ergründung der geschichtlichen Wandlungsstufen des Seins einen eminenten, den Geist eines gesamten (in der Metaphysik bereits zum Abschluss gebrachten) Zeitalters vorausprägenden Rang kondiziert. Auch im inneren Geflecht der von Nietzsche selbst gebrauchten Begriffe der Umwertung, der neuen Wertsetzung und der Kritik der höchsten Werte wird er von Heidegger als Zentrum und Grund markiert. In diesem zweiten Auslegungsgang kann Heidegger sich naturgemäß auf Nietzsches eigene Äußerungen, Erläuterungen und Aufzeichnungen beziehen. Um die wertontologische Unverzichtbarkeit des Willens zur Macht zu veranschaulichen, ist es Heideggers Absicht, dessen Einsetzung als „Prinzip“ der neuen Wertsetzung zu begründen und inhaltlich anzureichern. Die neue Wertsetzung, die sich an den möglichen Überhöhungsbedingungen orientiert und diese ermittelt und herausschält, legitimiert und aktiviert sich im Rückgang auf diejenige Entität, die im und als Leben für dessen Steigerung verantwortlich ist. Diese Entität bildet jedoch nicht nur den Rechtfertigungsgrund für

   

Heidegger, N I, S. 439. Heidegger, N I, S. 440. Vgl. Platon, Politeia 509b. Heidegger, N I, S. 440. Heidegger, N I, S. 441.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

die Präferenz der notwendigen Bedingungen der Steigerung, sondern offenbart sich als „ἀρχή“¹¹¹⁸, als Wurzel des Lebens. Sie ist diejenige Verfassung, durch die das Leben sein kann, was es ist. Heidegger kann hier an die bereits 1936/37 entwickelte Bestimmung des Willens zur Macht als Grundcharakter des Seienden im Ganzen anknüpfen und diese metaphysische These mit der Performativität der Wertgenerierung zusammendenken: Ist nun aber das Prinzip der neuen Wertsetzung der Wille zur Macht, dann sagt dies: das Leben, d. h. das Seiende im Ganzen, ist in seinem Grundwesen und Wesensgrund selbst Wille zur Macht – und nichts außerdem.¹¹¹⁹

Die bekräftigende und universalisierende Formulierung „ – und nichts außerdem“ entnimmt Heidegger dem berühmten Schlussaphorismus Nr. 1067 (1885) von Der Wille zur Macht, den auch Löwith ausführlich diskutiert hatte.¹¹²⁰ Wie im Kapitel 1.6.3 entfaltet werden konnte, greift Heidegger in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen von 1937 auf die Ursprungsfassung dieses Aphorismus zurück, um die Auffassung zu plausibilisieren, Nietzsche habe die keineswegs eindeutig zu beantwortende Frage nach der „dunklen und für ihn nicht leicht faßlichen“¹¹²¹ Verhältniseinordnung der beiden Kerngedanken unentwegt beschäftigt und beunruhigt. Ebenjene erste Fassung endet mit einem visionär-pathetischen Ausblick auf die ewige Wiederkunft des Gleichen, die Nietzsche als Lösung des Welträtsels präsentiert: […] Diese meine Welt, – wer ist hell genug dazu, sie zu schauen, ohne sich Blindheit zu wünschen? Stark genug, diesem Spiegel seine Seele entgegen zu halten? Seinen eignen Spiegel dem Dionysos-Spiegel? Seine eigne Lösung dem Dionysos-Rätsel? Und wer das vermöchte, müßte er dann nicht noch mehr tun? Dem ‚Ring der Ringe‘ sich selber anverloben? Mit dem Gelöbnis der eignen Wiederkunft? Mit dem Ring der ewigen Selbst-Segnung, Selbstbejahung? Mit dem Willen zum Wieder-und-noch-ein-Mal-Wollen? Zum Zurückwollen aller Dinge, die je gewesen sind? Zum Hinaus-Wollen, zu allem, was je sein muß? Wißt ihr nun, was mir die Welt ist? Und was ich will, wenn ich diese Welt – will?¹¹²²

Durch die 1937 zu konstatierende Fokussierung auf die Urfassung von Nr. 1067 sucht Heidegger im Rahmen der gewichtenden Sichtung der zurückgehaltenen Aufzeichnungen von 1884– 1888 der Lesart eines verabsolutierten und konkurrenzlosen Willens zur Macht entgegenzuwirken, um zu der eigenen Etablierung     

Heidegger, N I, S. 441. Heidegger, N I, S. 441– 442. Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 95 – 98. Heidegger, N I, S. 381. Nietzsche, KGW VII 4/2, S. 471 f.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

349

der ewigen Wiederkehr als Sachgrund des Willens zur Macht voranschreiten zu können.¹¹²³ In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis wird Nietzsches Charakterisierung des Weltgeschehens als Spiegelbild des sich selbst segnenden „Ring[es] der Ringe“ aus der ersten Fassung überhaupt nicht mehr erwähnt. Der 1937 verfochtenen Auslegungsabsicht konträr zuwiderlaufend, wird im Jahre 1939 allein das Ende der zweiten, in der Nachlasszusammenstellung Der Wille zur Macht veröffentlichten Fassung von Heidegger herangezogen, um den ultimativen Nachweis erbringen zu können, dass es sich bei der Erhebung des Willens zur Macht zum wichtigsten, allumfassenden und genuin metaphysischen Gedanken nicht um eine selektiv verfahrende Interpolation handle. Stattdessen situiere sich diese Exposition des Willens zur Macht als metaphysischer Leittitel in einem innigen Einklang mit Nietzsches Intentionen, weswegen sie als Prononcierung des sowieso Ersichtlichen begriffen werden könne. Die letzten Sätze der zweiten Fassung des Aphorismus lauten: Diese Welt ist der Wille zur Macht – und Nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem!¹¹²⁴

Indem Heidegger den von Nietzsche gewählten Terminus „Welt“ schlechthin mit „Leben“ gleichsetzt und das Leben als Titel für das Seiende im Ganzen begreift, kann er die Hauptklassifikation destillieren, die den Willen zur Macht nicht nur als Wesen des Lebens, sondern als dieses selbst etabliert. Heidegger verdichtet die Essenz von Nietzsches Denken nun in einem einzigen Satz, der als „Spruch seiner Metaphysik“¹¹²⁵ zur Weltformel der Neuzeit emporwächst: Das Leben ist Wille zur Macht. ¹¹²⁶

Diesem Satz inhärieren nach Heidegger zwei weitere Kernaussagen, die sich in ihrer jeweiligen Vereinzelung innerhalb des bisherigen Begründungsweges bereits herauskristallisiert haben und daher bekannt sind: 1. das Seiende im Ganzen ist ‚Leben‘; 2. das Wesen des Lebens ist ‚Wille zur Macht.‘¹¹²⁷

 Vgl. Heidegger, N I, S. 381– 383.  Heidegger, N I, S. 442. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1067, S. 697. Vgl. die Originalstelle: Nietzsche, NF-1885,38[12].  Heidegger, N I, S. 442.  Heidegger, N I, S. 442.  Heidegger, N I, S. 442.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

War Heidegger von der Exposition Nietzsches als „Denker der Vollendung der Metaphysik“ zur Erörterung des Willens zur Macht als Prinzip einer neuen Wertsetzung übergegangen, so kehrt er am Ende des letztgenannten Abschnittes zur ersten Bestimmung der Metaphysikvollendung zurück. Dergestalt wird deutlich, dass Heidegger die Anerkennung des Willens zur Macht als Grund der neuen Wertsetzung keineswegs als aussichtseröffnende Zäsur oder gar als Neubeginn der abendländischen Geschichte verstanden wissen möchte. Im Gegenteil: Dieser Vorgang wird als Gipfelpunkt eines prädeterminierten Fort-Schrittes aus dem Anfänglichen beurteilt: Mit diesem Spruch: Das Leben ist Wille zur Macht, vollendet sich die abendländische Metaphysik, an deren Anfang das dunkle Wort steht: Das Seiende im Ganzen ist φύσις. Der Spruch Nietzsches: das Seiende im Ganzen ist Wille zur Macht, sagt dasjenige über das Seiende im Ganzen aus, was im Anfang des abendländischen Denkens als Möglichkeit vorbestimmt und durch einen unvermeidlichen Abfall von diesem Anfang unumgänglich geworden ist. Dieser Spruch vermeldet nicht eine Privatansicht der Person Nietzsche. Der Denker und Sager dieses Spruches ist ‚ein Schicksal‘. Dies will sagen: Das Denkersein dieses Denkers und jedes wesentlichen abendländischen Denkers besteht in der fast unmenschlichen Treue zur verborgensten Geschichte des Abendlandes.¹¹²⁸

Diese Passage ist für die entwicklungsgeschichtliche Verortung der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis innerhalb der Heideggerschen Auseinandersetzung mit Nietzsche von kaum zu überschätzender Relevanz. Im zitierten Passus werden seinsgeschichtliche Motive und Positionen lanciert, die Heidegger in den erst 1989 veröffentlichten, von 1936 – 1938 verfassten Beiträgen zur Philosophie ausgearbeitet hat. Neben der Herkunftsentpersonalisierung des Gedankens des Willens zur Macht und der Zurückweisung psychologisierender Deutungsansätze stechen mehrere Aspekte hervor. Indem der Vollendung der abendländischen Metaphysik der anfängliche Aufgang des Seins als Physis entgegengestellt wird, erweist sich der Wille zur Macht als Widerschein dieser Urgestalt. Der Wille zur Macht sucht zu kaschieren, dass er auf das freie Sich-Zeigen des Seienden angewiesen ist. Nietzsches Selbstkennzeichnung als „Schicksal“¹¹²⁹ aufnehmend, passt Heidegger den Willen zur Macht in einen von Anfang an präfigurierten und sich in der Metaphysik entfaltenden, notwendigen Gesamtzusammenhang ein. Deutlicher als 1937 (in der Vorlesung zur ewigen Wiederkehr des Gleichen) bekundet sich der Anfang hier als normative Instanz. In dem vorliegenden Zitat wird der Anfang in Abweichung von Heideggers gewöhnlicher Begriffsprägung bestimmt. Die Charakterisierung des Seienden im Ganzen als Physis bezeichnet  Heidegger, N I, S. 442.  Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 365.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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für Heidegger normalerweise nicht den Anfang der Metaphysik, sondern beschreibt den vormetaphysischen Anfang der Ontologie im Sinne des Seinsdenkens. Hingegen wird der dezidiert erste Anfang der Metaphysik von Heidegger zumeist durch Platons Vernehmung des Seins als Idee markiert. Dessen ungeachtet, enthüllt sich der Wille zur Macht für Heidegger als die letzte Repräsentationsfigur „eines unvermeidlichen Abfalls“.¹¹³⁰ Somit steht der Wille zur Macht paradigmatisch für die entglittene, nicht bedachte Größe des Anfangs. Im Willen zur Macht wird der von Seiten des Seins selbst verfügte Sieg der Metaphysik ausgetragen. Über die seinsgeschichtlichen Überlegungen Heideggers hinausgehend, ist signifikant, dass sich in der Gleichsetzung des Gefüges Physis – Wille zur Macht mit der Opposition von Anfang – Ende der Bedeutungsverlust der ewigen Wiederkehr ausdrückt. In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 hatte Heidegger behauptet, mit der Sein und Werden zusammenschließenden Lehre der ewigen Wiederkehr gehe Nietzsche in den Anfang der abendländischen Philosophie zurück. Nietzsche scheitere an der Wiedererweckung des Anfangs, weil er die Grundstellungen Heraklits und Parmenides aufgrund der Zugrundelegung eines platonischen Blickwinkels nur als Dichotomie wahrnehmen könnte.¹¹³¹ Im Jahre 1939 firmiert allein der Wille zur Macht als Bindeglied zum Anfang, den er in der Endzeit der Metaphysik verkehrt. Nun kann zum zweiten Teil des Kapitels übergegangen und die Beziehung zwischen dem Willen zur Macht und der Erkenntnis untersucht werden.

1.7.2 Die Bestimmung der Wahrheit als Illusion Wenn der Wille zur Macht die Verfassung der Welt im Ganzen verkörpern soll, ist es nicht ausreichend, sämtliche Bezirke des Seienden in ihm zurückzugründen. Da er gemäß dem Aphorismus Nr. 693 aus Der Wille zur Macht das „innerste Wesen des Seins“¹¹³² ist, kann auch die Erkenntnis nicht disparat neben ihm situiert sein. Die Erkenntnis eröffnet die Pluralität von Vorstellungbereichen und das menschliche Verhalten zu diesen, indem sie Sachgehalten und Prinzipien Geltung verleiht, sie prüft oder nachträglich bestätigt. Daher ist die Frage zu beantworten,

 Heidegger, N I, S. 442.  Vgl. Heidegger, N I, S. 417 ff.  Heidegger, N I, S. 442. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 693, S. 468. Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, 14 [80], S. 52. Nietzsches Terminus „Sein“ ist an dieser Stelle deckungsgleich mit Heideggers Verwendung des Begriffs „Seiendes“.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

in welcher Weise der Wille zur Macht auf die Erkenntnis zurückgreift. Heidegger insistiert dabei von vornherein auf der Unhintergehbarkeit der Wahrheit: Wenn Nietzsches Gedanke des Willens zur Macht der Grundgedanke seiner und der letzte Gedanke der abendländischen Metaphysik ist, dann wird das Wesen der Erkenntnis, d. h. das Wesen der Wahrheit, aus dem Willen zur Macht bestimmt werden müssen. Die Wahrheit enthält und gibt das, was ist, das Seiende, inmitten dessen der Mensch selbst ein Seiender ist, so zwar, daß er sich zum Seienden verhält. In allem Verhalten hält sich der Mensch in irgendeiner Weise an das Wahre.¹¹³³

In weiteren Verlauf ist darauf zu achten, wie Heidegger die innige Verbundenheit von Wille und Vorstellung, die er zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst im Idealismus eines kommandierenden, im Wollen anklingenden Gedankens gefunden hatte, wieder auftrennt, um die Vernunft – als Repräsentantin des praktischen Bedürfnisses – dem wertenden Leben zu unterstellen. Heidegger beginnt seine Untersuchung des Willens zur Macht, sofern dieser unter dem Gesichtspunkt des ihm eigentümlichen Erkenntnisvollzuges betrachtet wird, indem er mit Hilfe aussagekräftiger Aufzeichnungen Nietzsches die Grenzziehung zwischen Wahrheit und Irrtum fragwürdig werden lässt. Die tradierte Verlässlichkeit der Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ lässt Nietzsche aus dem Glauben des Dafürhaltens entspringen, der sich als Wertschätzung konstituiert. Heidegger leitet die Klärung der Nietzscheschen Wahrheitsauffassung mit einer aus dem Jahre 1884 („in dem die Gestaltung des Gedankens vom Willen zur Macht bewußt beginnt“¹¹³⁴) stammenden Notiz ein, die in der Kompilation Der Wille zur Macht Teil des Aphorismus Nr. 602 ist: daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist.¹¹³⁵

Der Wille zur Macht und die Wahrheit scheinen sich auszuschließen. Wenn der Wille zur Macht das Wesen des sich steigernden Lebens und somit des Wirklichen darstellt, ergibt sich wie schon in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst der Eindruck, dass die als Illusion und demnach als etwas Unwirkliches oder gar

 Heidegger, N I, S. 448.  Heidegger, N I, S. 448.  Heidegger, N I, S. 449. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 602, S. 414: „Wir haben die Welt, welche Wert hat, geschaffen! Dies erkennend, erkennen wir auch, daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist – und daß man, mehr als sie, die bildende, vereinfachende, gestaltende, erdichtende Kraft zu schätzen hat. ‚Alles ist falsch! Alles ist erlaubt‘!“ Vgl. Nietzsche, NF-1884,25[505].

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Zerstörerisches betrachtete Wahrheit die „Entwirklichung“¹¹³⁶ und „Hemmung“¹¹³⁷ des Lebens herbeiführe. Im Rekurs auf die Positionierung von Kunst und Wahrheit in dem Entsetzen erregenden Zwiespalt stilisiert Heidegger die Unterscheidung zwischen einem notwendigen und dem höheren Wert für das Leben zur einzigen Alternative gegen den Nihilismus, der an dieser Stelle hypothetisch als Resultat des ununterscheidbaren Zusammenfalls von Wahrheit und Unwahrheit begriffen wird.¹¹³⁸ Heidegger begründet die Zugehörigkeit der Wahrheit zum Leben zunächst nicht wie 1936/37 über ihre festmachende Tätigkeit. Vielmehr insistiert er darauf, dass ein gleichgültiger Relativismus, in dem alle Dinge „gleich nichtig“¹¹³⁹ erscheinen, unausweichlich würde, wenn die Wahrheit nicht zum Leben gehörte. Nichtsdestotrotz kann die als Illusion charakterisierte Wahrheit nicht die höchste Bedingung der Lebenssteigerung und damit des Seienden im Ganzen symbolisieren. Wie schon 1936/37 ist es die Kunst, die das Leben „perspektivisch in seiner Lebendigkeit“¹¹⁴⁰ entfaltet. Die Kunst schützt das Leben vor einer Übermacht der Wahrheit und kann deswegen als höherer Wert figurieren. Diesen Sachverhalt bekräftigt Heidegger durch die Heranführung zweier Schlüsselaufzeichnungen zum Verhältnis von Kunst und Wahrheit. Diese Aufzeichnungen spielten bereits in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst eine prominente Rolle: daß die Kunst mehr wert ist, als die Wahrheit.¹¹⁴¹ Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn. ¹¹⁴²

Anders als 1936/37 wird die These einer Höherwertigkeit der Kunst nun direkt an die Wertsetzung, d. h. die Auswahl der Bedingungen des Lebens, rückgekoppelt. 1936/37 hatte Heidegger bilanziert, dass die Wahrheit und die Kunst nach der Umdrehung des Platonismus desselben Wesens seien. Der Wahrheit und der Kunst sei nämlich die gemeinsame Eigenschaft zugehörig, das Sinnliche als das Wirkliche zu bejahen. Im merklichen Kontrast dazu, werden beide Entitäten 1939 zu Heidegger, N I, S. 449.  Heidegger, N I, S. 449.  Vgl. Heidegger, N I, S. 449: „Wie aber, wenn alle Schranken zwischen Wahrheit und Unwahrheit fallen und alles gleichviel gilt, d. h. gleich nichtig ist? Dann wird der Nihilismus zur Wirklichkeit.“  Heidegger, N I, S. 449.  Heidegger, N I, S. 449.  Heidegger, N I, S. 449.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 853, S. 578.Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, S. 19.  Heidegger, N I, S. 449. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 822, S. 554. Vgl. Nietzsche NF 1887– 1888, KGW VIII, 2, 11 [108], S. 293.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

nächst unter dem Verdacht verhandelt, nur Statthalter des Unwirklichen zu sein. Dadurch scheint sich der Geist des Nihilismus unweigerlich auszubreiten: Kunst steht im metaphysischen Gegensatz zur Wahrheit als der Illusion.Wie aber: stellt nicht gerade die Kunst das Un-wirkliche dar, ist nicht gerade sie im eigentlichen Sinne ‚Illusion‘, zwar ein schöner Schein, aber doch immer ein Schein? Gilt nicht in geläufigen Kunsttheorien das ‚Illusionistische‘ als das Wesen aller Kunst? Wie soll dann die Kunst gegen die zerstörende Macht der Wahrheit als einer Illusion angehen und aufkommen, wenn sie desselben Wesens ist? Oder sind Kunst und Wahrheit nur verschiedene Arten der Illusion? Wird dann nicht alles zur ‚Illusion‘, alles zum Schein, alles nichtig? Wir dürfen der Frage nicht ausweichen. Wir sollen gleich zu Beginn überschauen, wie weit Nietzsches Kennzeichnung der Wahrheit als einer Illusion trägt. Denn es ist der erste Schritt zum Denken, den echten denkerischen Zumutungen standzuhalten.¹¹⁴³

Nietzsches Diktum „daß die Verehrung der Wahrheit schon die Folge einer Illusion ist“ wirkt nicht wie eine ernsthafte Zumutung, sondern wie die Verstrickung in einem Selbstwiderspruch. Um den Einwand des Selbstwiderspruches von der Tiefe der Kennzeichnung der Wahrheit als Illusion abzugrenzen, inszeniert Heidegger eine mit dem „leeren Scharfsinn“¹¹⁴⁴ versehene Widerlegung des Satzes: Die Bestimmung der Wahrheit als Illusion muss als propositionale Aussage ihrerseits einen Wahrheitsgehalt beanspruchen. Weil Nietzsche die begründbare Ausweisbarkeit jeglicher Erkenntnisakte und Gedanken als tatsächlich seiend, d. h. als wirklichkeitsadäquat, radikal in Frage stellt, kann die Äußerung nicht mit dem harmlosen Verdikt bekämpft werden, selbst nur eine beliebige Ansicht unter vielen zu sein. In diesem Falle wäre die Relativierbarkeit, Fragilität und Irrtumsanfälligkeit der Wahrheit ja gerade eingestanden.Vielversprechender scheint es daher zu sein, den Gehalt der Aussage, die Wahrheit sei im Kern eine Illusion, auf diese selbst anzuwenden. Diese Selbstprädikation führt in einen unergiebigen infiniten Regress, weil die vorgebrachte Widerlegung – wonach die These, die Wahrheit sei Illusion, selbst eine Illusion sein muss und deswegen nicht wahr sein kann – ihrerseits mit dem Irrtumsvorwurf konfrontiert und in diesen eingeschlossen ist.¹¹⁴⁵ Für die Auflösung der Aporie ist es daher unabdingbar, den Geltungsbereich der Irrtumsthese einzugrenzen und sich die Frage vorzulegen, inwieweit Nietzsche überhaupt noch mit dem tradierten Wahrheitsbegriff operiert. Andernfalls stehen sich zwei Argumentationsweisen unversöhnlich gegenüber. Die Verfechter eines klassischen Wahrheitsbegriffes könnten sich darauf berufen, dass noch die

 Heidegger, N I, S. 450.  Heidegger, N I, S. 451.  Vgl. Heidegger, N I, S. 451.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Benennung der Wahrheit als die Illusion oder als Ergebnis eines fälschenden, gleichmachenden Befehls dasjenige zur Voraussetzung machen muss, was sie eigentlich bestreiten möchte. Einerseits, weil ihre Aussage selbst wahr sein, d. h. gelten soll. Andererseits, weil die Kennzeichnung eines Sachverhalts (darunter fällt auch der Sachverhalt der Wahrheit) als Irrtum im Hintergrund offenbar einen positiv bestimmbaren Begriff der Wahrheit dieses Sachverhaltes besitzen muss. Nietzsche könnte hingegen betonen, dass in dem infiniten Regress einer gegenseitigen Irrtumszuweisung die unausgesetzte Anfechtbarkeit der Wahrheit den Primat des Irrtums bezeugt.¹¹⁴⁶

1.7.3 Das „Festhalten einer Ansicht“ als Wesen der Erkenntnis in Heraklits Fragment 28 und die Genealogie des Bildbegriffs Um Nietzsches Aussage, die Wahrheit sei eine Illusion, von ihrer Befremdlichkeit zu befreien und die Unergiebigkeit infiniter Widerlegungsspiralen aufzubrechen, nimmt Heidegger eine geschichtliche Vergleichsanbindung mit der Wahrheitsauffassung Heraklits vor. Heidegger legt dabei das Heraklit-Fragment Nr. 28 zugrunde, das in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis nur in seinem ersten Teil betrachtet wird. Das Fragment 28 wird in Heideggers eigener Heraklitauslegung der 40er-Jahre nicht erwähnt; auch in der gemeinsam mit Eugen Fink 1966/67 geleiteten Universitätsveranstaltung zu Heraklit kommt ihm nur eine randständige Rolle zu.¹¹⁴⁷ Allerdings erhält es in dem 1938/39 gehaltenen Seminar zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung eine wichtige Stellung, weil es als wegweisendes Zeugnis des Gedankens der Gerechtigkeit gewürdigt und deswegen auch in seinem zweiten Teil zitiert und interpretiert wird.¹¹⁴⁸ Der in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis allein diskutierte erste Teil lautet:  Vgl. Heidegger, N I, S. 451.  Vgl. Heidegger/Fink, Heraklit, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, S. 248 – 250.  Das komplette Fragment 28 lautet: „δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει· καὶ μέντοι καὶ Δίκη καταλήψεται ψευδῶν τέκτονας καὶ μάρτυρας.“ In dem im Wintersemester 1938/39 gehaltenen Seminar zur Historienschrift wird es von Heidegger wie folgt übersetzt: „Denn nur Scheinhaftes ist es, was erkannt (das ihm gerade Sichzeigende, Erscheinende); erkennt auch der Berühmteste (am meist in Erscheinung und Ansehen Tretende), und er hält dieses fest (nimmt es als das Feste). Doch wahrlich die Gerechtigkeit wird auch die Zimmerer und Zeugen der Verrechnungen (Irrtümer) und (Verfestigungen) zu fassen wissen (von oben her fassen und unter sich bringen, d. h. überwinden).“ Vgl. Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung, GA 46, S. 196.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

δοκέοντα γὰρ ὁ δοκιμώτατος γινώσκει, φυλάσσει.¹¹⁴⁹

Heidegger wählt zwei Übersetzungen, wobei die kürzere zweite dem „griechischen Wortlaut gemäßer“¹¹⁵⁰ sei: Jeweils Sichzeigendes – je nur Einem Erscheinendes ist es, was auch der Berühmteste (der am meisten in das Ansehen und den Ruhm Hinausgestellte) erkennt; und sein Erkennen ist: das Bewachen dieses je nur Erscheinenden – das Sichfesthalten an diesem als dem Festen und Haltgebenden.¹¹⁵¹ Ansichten haben ist nämlich / auch nur / des Angesehensten Erkennen, das Überwachen / Festhalten einer Ansicht.¹¹⁵²

Es bleibt nach Heidegger verwehrt, die Verwurzelung der Nietzscheschen Wesensbestimmung der Wahrheit in der abendländischen Überlieferung mitsamt der Art des Rückganges auf den Anfang zu ergründen, wenn der Versuchung nicht widerstanden wird, Heraklits Fragment 28 in einen neuzeitlichen Rahmen der Erkenntnistheorie einzubetten. Heidegger verweist hier auf die mögliche Parallelisierung mit Kants Unterscheidung zwischen dem Ding an sich und der Erscheinung, wobei die Gefahr besteht, die Erscheinung forciert als „bloßen Schein“¹¹⁵³ zu missdeuten. In diesem Fall liest sich der Spruch so, als könne auch der Angesehenste, Ruhmreichste, Weiseste immer nur eines jeweiligen Scheins gewahr werden und diesen festhalten, während dieses Erscheinende von einem unerkennbaren Ding an sich oder einem dahinterliegenden Wesen ausstrahlt.¹¹⁵⁴ Dergestalt wäre die Erkenntnis, die das bloß abgeleitete Erscheinende für wahr hält, tatsächlich einer Täuschung, einer Verdeckung des Wirklichen anheimgefallen: Dass die Wahrheit eine Illusion ist, würde nach der Logik dieser neuzeitlichen Rückprojektion schon für Heraklit gelten. Im Gegensatz dazu, sucht Heidegger in der Zusammengehörigkeit der Wahrheitsauffassungen Heraklits und

 Vgl. Heidegger, N I, S. 453.  Heidegger, N I, S. 453.  Heidegger, N I, S. 453.  Heidegger, N I, S. 453.  Heidegger, N I, S. 454.  Vgl. Heidegger, N I, S. 454. Zu Nietzsches Kritik an dem Begriff eines Dinges an sich vgl. Nietzsche, KSA 12, 10 [202], S. 580: „Das ‚Ding an sich‘ widersinnig. Wenn ich alle Relationen, alle Eigenschaften, alle Tätigkeiten eines Dinges wegdenke, so bleibt nicht das Ding übrig: weil Dingheit erst von uns hinzufingiert ist, aus logischen Bedürfnissen, also zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung.“ Vgl. außerdem: Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII, 2, S. 48: „Der Gegensatz ‚Ding an sich‘ und ‚Erscheinung‘ ist unhaltbar; damit aber fällt auch der Begriff ‚Erscheinung‘ dahin.“

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Nietzsches die geschichtliche Kluft sichtbar zu machen. Entscheidend ist, dass sich das Sichzeigende weder als Vordergrund eines Dinges an sich gibt noch durch subjektive Anschauungsformen und Kategorien allererst konstituiert wird. Das Sichzeigende, das in dem Spruch Heraklits genannt ist, wird von Heidegger stattdessen als Bezeichnung für das Seiende überhaupt begriffen. Das Seiende wird von Heraklit nicht als Statisch-Beständiges erfahren, sondern dynamisch und prozessual als Aufgehen in die Anwesenheit vernommen. Dies entspricht der anfänglichen Bedeutung der φύσις.¹¹⁵⁵ In diesem Aufgehen bietet das Seiende einen Anblick dar, der bei Platon als Aussehen und „Gesicht (ἰδέα)“¹¹⁵⁶ fixiert wird. Die Erhebung der Idee zum Sein des Seienden beruht weiterhin auf der Voraussetzung, dass das Seiende das „aufgehend-anwesende Sichzeigen“¹¹⁵⁷ sei. Um Nietzsches Auffassung, die im Erkennen ermittelte Wahrheit sei eine Illusion, ohne neuzeitliche Verstellung auf Heraklits Fragment 28 beziehen zu können, ist die Klärung des Sinnes des Wortes „δοκέοντα“ von herausragender Wichtigkeit. Ebenjenes „δοκέοντα“ muss als das vom Seienden her ergehende, sich in einer Ansicht darbietende, „jeweils Sichzeigende“¹¹⁵⁸ gefasst werden. Es darf demnach nicht mit der Ansicht im Sinne eines inneren Geschehnisses parallelisiert oder gar mit der „bloß subjektiven Meinung“¹¹⁵⁹ gleichgesetzt werden. In diesem Fall wird – wie schon in dem Versuch, das von Heraklit beschriebene Festhalten einer Ansicht mit Hilfe der Disjunktion von Ding an sich und Erscheinung verstehen zu wollen – die neuzeitliche Grundstellung, die von einem der Außenwelt gegenüberstehenden „Ich-Subjekt“¹¹⁶⁰ ausgeht, restituiert. Um zu verdeutlichen, weswegen die Subjekt-Objekt-Korrelation nicht auf Heraklit appliziert werden kann, ist das Verhältnis zwischen den δοκέοντα und dem Angesehensten, dem δοκιμώτατος¹¹⁶¹ zu erörtern, wodurch das zweite, ebenfalls vom Stamm δοκ- abgeleitete Wort in den Vordergrund rückt. Der Angesehenste, d. h. der am meisten in das Ansehen hervortretende, im Aufglänzen des Scheinens zu sich selbst kommende und deswegen des „Ruhmes Würdigste“¹¹⁶² zeichnet sich weder durch eine narzisstische Selbstgefälligkeit noch durch eine subjektivistische Selbstbezüglichkeit aus, sondern dadurch, dass er von sich

       

Vgl. Heidegger, N I, S. 454. Heidegger, N I, S. 454. Heidegger, N I, S. 454. Heidegger, N I, S. 454. Heidegger, N I, S. 454. Heidegger, N I, S. 454. Vgl. Heidegger, N I, S. 453. Heidegger, N I, S. 454.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

abzusehen und seinen Blick ungetrübt auf die Fülle des sich Zeigenden zu richten vermag. Dadurch ist es dem Berühmtesten möglich, dem „zum-Vorschein-Kommen“¹¹⁶³, der „φαντασία“¹¹⁶⁴ beizuwohnen. Die Verwandtschaft zwischen Heraklit und Nietzsche äußert sich darin, dass das Erkennen auch für Heraklit ein Festmachen des aufgehend Sichzeigenden ist, dessen Anblick der Angesehenste als das Wahre bewacht und hütet. Als inhaltliche Differenz zwischen beiden Positionen kristallisiert sich heraus, dass diese Festnahme des Bildes bei Heraklit keineswegs eine Verfehlung der werdend-chaotischen Wirklichkeit besiegelt. In Heraklits Denken leitet die Erfassung des Bildes die Würdigung und Erfahrung der ungehinderten Eigenständigkeit des sich selbst zeigenden, den Anblick gewährenden Seienden an. Auf der Basis des Ursprungsgehaltes der Phantasia als Bild entfaltet Heidegger eine bildtheoretische Auslegung des Erkennens, um den gravierenden Unterschied zwischen Heraklit und Nietzsche in der beiden gemeinsamen Verwiesenheit auf das Seiende als Aufgehendes sichtbar zu machen. Die mehrstufige Wandlung des Bildbegriffes entspricht Heideggers seinsgeschichtlicher Epocheneinteilung in die griechische Antike, das christliche Mittelalter und in die cartesische Neuzeit. Zugleich reformuliert Heidegger im Bildbegriff die Wesensstadien der Wahrheit als Unverborgenheit, als Korrespondenz von göttlich Geschaffenem und menschlicher Erkenntnis sowie als vor-stellend-subjektive Anmessung an den Gegenstand: ‚Bild‘:

1. Hervortreten in die Anwesenheit. 2. Verweisendes Entsprechen innerhalb der Schöpfungsordnung. 3. Vorstellender Gegenstand.¹¹⁶⁵

Durch die Genealogie des Bildbegriffes und die Spezifizierung des Sichzeigenden als einer vom Seienden her geschehenden Freigabe an das festhaltend-bewachende Erkennen ist es möglich, Heraklit und Nietzsche trennscharf zu unterscheiden und parallel dazu die Anfang und Ende übergreifende Herrschaft der Physis zu veranschaulichen: Wenn Nietzsche sagt: Wahrheit ist ‚Illusion‘, dann bedeutet sein Spruch dasselbe, was Heraklit sagt, und doch nicht dasselbe. Dasselbe, insofern noch Nietzsches Spruch, wie sich uns zeigen wird, die anfängliche Auslegung des Seienden im Ganzen als φύσις voraussetzt; nicht dasselbe, sofern sich die anfängliche griechische Auslegung des Seienden inzwischen und zumal durch das neuzeitliche Denken wesentlich abgewandelt hat, in dieser Abwandlung

 Heidegger, N I, S. 454.  Heidegger, N I, S. 454.  Heidegger, N I, S. 455.

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aber sich gleichwohl durchhält. Wir dürfen weder Heraklit mit Hilfe von Nietzsches Grundgedanken auslegen, noch Nietzsches Metaphysik einfach aus Heraklit und als ‚heraklitisch‘ erklären; vielmehr offenbart sich erst ihre verborgene geschichtliche Zusammengehörigkeit, wenn wir die Kluft besser sehen und durchsteigen, die als Geschichte des abendländischen Denkens zwischen beiden liegt. Erst dann ermessen wir, in welchem Sinne diese beiden Denker, der eine am Anfang, der andere am Ende der abendländischen Metaphysik ‚dasselbe‘ denken mußten.¹¹⁶⁶

Die seinsgeschichtlich verfügte Wesenseinheit schließt sowohl die Selbigkeit als auch die Divergenz beider Sprüche ein. Es ist für Heidegger eine Marginalie von allein „historischem Interesse“¹¹⁶⁷, dass Nietzsche aufgrund seiner Berufung als klassischer Philologe ein versierter Kenner Heraklits war. So bleibt es für Heidegger eine an der Oberfläche haftende, neugierige Aufspürung von „AbschreibeZusammenhängen“¹¹⁶⁸, dass Nietzsche die Ansetzung der Wahrheit als Illusion direkt aus dem Heraklit-Fragment 28 übernommen haben könnte.

1.7.4 Heideggers Diskussion der Aufzeichnung Nr. 507: Die Wertschätzung als Wesen der Wahrheit und das Verhältnis von Glauben und Urteil Die Weltaneignungsweise des Willens zur Macht soll durch eine Klärung seines Bezuges zum Wesen der Erkenntnis, die sich in der Erfassung der Wahrheit habitualisiert, erschlossen werden. Es ist also unumgänglich, Nietzsches Markierung der Wahrheit als Illusion ernstzunehmen. Heidegger möchte veranschaulichen, dass diese Kennzeichnung keine nur temporäre, zufällige, vereinzelte und mit Absicht paradox formulierte Auffassung Nietzsches bildet. Um zu erweisen, dass Nietzsches Theorieformation als Seismograph des Wesenswandels der Wahrheit fungiert, ordnet Heidegger ihr einen weiteren, ähnlich lautenden Satz zu: Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte.¹¹⁶⁹

 Heidegger, N I, S. 455.  Heidegger, N I, S. 455.  Heidegger, N I, S. 456.  Heidegger, N I, S. 457.Vgl. die Gesamtaufzeichnung: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 493, S. 343: „Wahrheit ist die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,34[253].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Jeder tiefere Einstieg in die Fragestellung nach der Wahrheit scheint durch diese neuerliche Gleichsetzung mit der Täuschung verbaut zu sein, da der Irrtum zur verabsolutierten Wesensprägung des Seienden im Ganzen aufsteigt. Heidegger gelangt in diesem Kontext zu einem vorentscheidenden Schluss, indem er die illusionäre Verfasstheit der Wahrheit über die Charakterisierung als Wert für das Leben legitimiert: Wahrheit: ‚Illusion, Wahrheit: ‚eine Art von Irrtum‘? Wieder stehen wir auf dem Sprung zu schließen: also ist alles Irrtum, also lohnt es sich nicht, nach der Wahrheit zu fragen. Nein, würde Nietzsche entgegen: gerade weil Wahrheit Illusion und Irrtum ist, deshalb gibt es ‚Wahrheit‘, deshalb ist Wahrheit ein Wert.¹¹⁷⁰

Um die widersinnig anmutende Dissonanz zwischen der Diskreditierung jeglicher Wahrheit als Irrtum auf der einen Seite und der Affirmation als Wert auf der anderen Seite zu erhellen, bezieht sich Heidegger auf das Stück Nr. 507. Dieses ist in der Kompilation Der Wille zur Macht im I. Abschnitt (Der Wille zur Macht als Erkenntnis) des III. Buches (Prinzip einer neuen Wertsetzung) platziert. In Heideggers Ergründung der Nietzscheschen Wahrheitsauffassung kommt der Aufzeichnung Nr. 507 von Der Wille zur Macht die Schlüsselstellung zu. Heidegger bespricht diesen Text minutiös und widmet sich dabei jedem einzelnen Satz. In der detaillierten Auslegung von Nr. 507 verfolgt Heidegger nach, wie Nietzsche den Kantischen Kritizismus aufnimmt, weiterführt und in der noch tiefer ansetzenden Frage nach dem Grund der Vernunft überbietet. Die komplette Aufzeichnung lautet: Die Wertschätzung ‚ich glaube, daß Das und Das so ist‘ als Wesen der ‚Wahrheit‘. In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs- und Wachstums-Bedingungen aus. Alle unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und WachstumsBedingungen. Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren ‚Wahrheit‘. Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: – das ist Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens. Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist. ‚Die wahre und die scheinbare Welt‘ – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse. Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in unserm Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus

 Heidegger, N I, S. 457.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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haben wir gemacht, daß die wahre Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.¹¹⁷¹

Heidegger beginnt seine Analyse des Textes mit Nietzsches erstem Satz: „Die Wertschätzung ‚ich glaube, daß Das und Das so ist‘ als Wesen der ‚Wahrheit‘“.¹¹⁷² In diesem Satz stechen drei Aspekte hervor: Die Wertschätzung, der Glaube und die Wesensbestimmung der Wahrheit. Um den Bezugssinn der Wertschätzung erfassen zu können, ist eine Klärung der von Nietzsche zugrunde gelegten Bedeutung der „Wahrheit“ vonnöten. Indem Nietzsche die „Wahrheit“ in Anführungszeichen setzt, verweist er auf die traditionelle und allgemein akzeptierte Verständnisweise dieses Wortes innerhalb der Geschichte der abendländischen Metaphysik.¹¹⁷³ Die sowohl philosophisch als auch lebensweltlich nahezu unangefochtene und die gesamte menschliche Erfahrung prägende Wahrheitstheorie lässt sich nach Heidegger in der Definition bündeln: Wahrheit ist Richtigkeit des Vorstellens, wobei Vorstellen heißt: das wahrnehmende und meinende, erinnernde und planende, hoffende und verwerfende Vor-sich-haben und Vorsich-bringen des Seienden. Das Vorstellen richtet sich nach dem Seienden, gleicht sich ihm an und gibt es wieder. Wahrheit besagt: die Angleichung des Vorstellens an das, was das Seiende ist und wie es ist. Wenn wir auch bei den Denkern des Abendlandes dem ersten Anschein nach sehr verschiedene und sogar entgegenlaufende Begriffsumgrenzungen des Wesens der Wahrheit antreffen, sie gründen doch alle in der einen und einzigen Bestimmung: Wahrheit ist Richtigkeit des Vorstellens.¹¹⁷⁴

Traditionell wurde das Wesen der Wahrheit stets als Kontrapunkt zu einer bloßen Wertschätzung und als dezidierte Negation eines täuschungsanfälligen Glaubens oder eines ungesicherten Meinens begriffen. Weil Nietzsche in seiner Aushöhlung des Wesens der Wahrheit die wesensmäßig rekonstruierte „Wahrheit“ allein als Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand versteht und voraussetzt, sichert und verschärft er nach Heidegger die singuläre Stellung der Korrespondenzwahrheit.¹¹⁷⁵ Prima facie ist diese Deutung verwunderlich. Nietzsches Gleichsetzung der Wahrheit mit einer Illusion oder einem Glauben an die Faktizität eines Sachverhaltes scheint viel eher auf die Folgerung hinauszulaufen, dass es überhaupt keine Wahrheit gibt. Deswegen wirkt eine Einrückung der Nietz Heidegger, N I, S. 458. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].  Heidegger, N I, S. 459.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348.Vgl. Nietzsche, NF1887,9[38].  Vgl. Heidegger, N I, S. 459.  Heidegger, N I, S. 460.  Vgl. Heidegger, N I, S. 461.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

scheschen Wahrheitsauffassung in die Bahnen der (antiken) Skepsis plausibel und gerechtfertigt. Da jedoch die Vorstellungsrichtigkeit in der Rückführung der Wahrheit auf die lebensbedingende Wertschätzung unangetastet bleibt, ordnet Heidegger ihn in die Gefilde der bei Platon und Aristoteles inaugurierten Adäquationstheorie ein. Diese umspannt einen Wandlungszusammenhang, in welchem sie bei den Griechen als Homoiosis auftrat, in die lateinische Adaequatio über-setzt wurde und im Thomistischen Denken auf die Formel veritas est adaequatio rei et intellectus gebracht wurde.¹¹⁷⁶ Noch bei Kant wird diese Wahrheitsklassifikation als „geschenkt und vorausgesetzt“¹¹⁷⁷ charakterisiert. Die neuzeitliche Gestalt der Richtigkeit tituliert Heidegger nicht ausschließlich als formale Folgerichtigkeit. Er hebt sie als maßnehmend-angemessene Gerichtetheit an und auf das begegnende Seiende hervor.¹¹⁷⁸ Nietzsches Bestimmung der Wahrheit als Illusion oder als Art des Irrtums wird davon dispensiert, ein freischwebender Entwurf, ein skeptisches Spiel oder ein destruktiver Nihilismus zu sein, weil sie auf der „überlieferten und niemals angetasteten Kennzeichnung der Wahrheit als Richtigkeit des Vorstellens“¹¹⁷⁹ aufbaut und diese abwandelt. Um die Wahrheit in Gestalt der vor-stellenden Angleichung an das Beständige in sich als Illusion benennen zu können, genügt es – wie Heidegger später ergänzen wird – freilich nicht, sie auf einen Akt der Beglaubigung zurückzuführen, der mit einer Wertschätzung einhergeht. Dass sich die Wahrheit eines Sachverhaltes im Fürwahrhalten dieses Etwas erschöpft, ist kein hinreichendes Kriterium für die Falschheit des Fürwahrgehaltenen. Daher muss Nietzsche, wenn er die klassische, platonisch-aristotelisch-kantische Form der Wahrheit als Illusion definiert, mit einem zweiten Wahrheitsbegriff operieren, der das Scheitern und die Unzulänglichkeit dieser Irrtumswahrheit aufzudecken vermag. Es ist für Heideggers Argumentationsführung entscheidend, dass Nietzsche auch in dem zweiten, privilegierten Wahrheitsbegriff die Orientierung an der Korrespondenztheorie beibehält. Die eigentliche Wahrheit enthüllt sich als Einstimmigkeit des Werdens, d. h. als Angleichung der Erkenntnis an die Wirklichkeit, die ein rastloses Werden und Chaos ist. Die Pointe liegt darin, dass gerade diese Wirklichkeit niemals erkannt werden kann, weil nach Nietzsche jede Erkenntnis per definitionem auf Gleichmachung, Fixierung und begriffliche Benennbarkeit

 Vgl. hierzu Heideggers Text Der Wandel der Wahrheit zur Gewissheit, in: Heidegger, N II, S. 283 – 291.  Heidegger, N I, S. 462– 463. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 58, B 82.  Vgl. Heidegger, N I, S. 460.  Heidegger, N I, S. 461.

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angewiesen ist.¹¹⁸⁰ Das Erkennen, welches das Werden erkennen will, ist unweigerlich gezwungen, ein Sein zu perzipieren und es für die Wahrheit halten zu müssen. Damit befindet sich das Erkennen immer schon im Bereich jener „Wahrheit“, die von Nietzsche als Illusion entziffert wird. Die gelingende Einstimmigkeit mit dem Werden ist als Maßstab dennoch vorauszusetzen, weil sonst nicht zu eruieren wäre, weswegen die erkannte Allgemeingültigkeit eine Art des Irrtums darstellt. Das Gefüge „Die Wertschätzung ‚ich glaube, daß Das und Das so ist‘ als Wesen der ‚Wahrheit‘“ hat eine erste Erhellung erfahren, da das „Wesen der ‚Wahrheit‘“ als Richtigkeit des Vorstellens dechiffriert wurde. Damit ist auch in Bezug auf die Komponente der Wertschätzung ein erster Erkenntnisansatz gewonnen, insofern die Richtigkeit (Wahrheit) als Wertschätzung transparent wird. Der Semantik der Wertschätzung ist zum einen inhärent, dass etwas – in diesem Falle die Wahrheit – als ein Wert eingeschätzt wird und zum anderen, dass eine Entität aktiv als Wert gesetzt wird.¹¹⁸¹ Da der Wert in dem Abschnitt Der Wille zur Macht als Prinzip einer neuen Wertsetzung als „perspektivische Bedingung der Lebenssteigerung“¹¹⁸² definiert wurde und diese von dem Leben in der Gestalt des Menschen hervorgebracht wird, kristallisiert sich die als Richtigkeit des Vorstellens begriffene Wahrheit schon hier als durch und für den menschlichen Lebensvollzug gesetzte Bedingung heraus. Die Reduktion des überlieferten und übernommenen Wesens der Wahrheit auf die Wertschätzung klassifiziert Heidegger als „entscheidende metaphysische Einsicht“¹¹⁸³ Nietzsches. Es stellt sich allerdings die Frage, wie, worin und wodurch die Wahrheit als Wert eingeschätzt wird und wie die Wertschätzung selbst zu spezifizieren ist. Die Weise des Wertschätzens findet ihre Erklärung in dem Satzteil: „Ich glaube, daß Das und Das so ist“. Die Wertschätzung ist demnach als Glaube zu charakterisieren. Die Setzung der Richtigkeitswahrheit, die erkenntnismäßige Angleichung an das Seiende, wird im Glauben vollzogen. Der Sachverhalt des Glaubens meint freilich nicht, dass unbewiesene Hypothesen blind akzeptiert, unbestimmte An Vgl. zu der Unerkennbarkeit der maßstäblichen Wirklichkeit des Werdens gegenüber der modellierten Welt der Phänomene: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 569, S. 388: „2. Die Welt der ‚Phänomene‘ ist die zurechtgemachte Welt, die wir als real empfinden. Die ‚Realität‘ liegt in dem beständigen Wiederkommen gleicher, bekannter, verwandter Dinge, in ihrem logisierten Charakter, im Glauben, daß wir hier rechnen, berechnen können; 3. der Gegensatz dieser Phänomenal-Welt ist nicht die ‚wahre Welt‘, sondern die formlos-unformulierbare Welt des SensationenChaos, – also eine andere Art Phänomenal-Welt, eine für uns ‚unerkennbare‘…“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,9[106].  Vgl. Heidegger, N I, S. 461.  Heidegger, N I, S. 461.  Heidegger, N I, S. 463.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sichten hypostasiert, Ungesehenes für existent gehalten oder autoritativ verkündigte Lehren kritiklos befolgt würden. Stattdessen spricht sich im Glauben das Vernehmen des je verschiedenartig beschaffenen Begegnenden aus. Wie in der Vorlesung zur ewigen Wiederkehr des Gleichen wird der Glaube auch an dieser Stelle als „Fürwahrhalten“¹¹⁸⁴ und „dafürhalten“¹¹⁸⁵ präzisiert. Etwas kann allerdings nur für wahr gehalten werden, wenn es zugleich als seiend genommen wird. Daher kann Heidegger unterstreichen, dass auch für Nietzsche die Auffassung gültig bleibe: „Das Wahre ist das Seiende“.¹¹⁸⁶ Auch wenn dieser Satz von Heidegger zuvorderst nicht weiter erläutert wird, ist er von eminenter Wichtigkeit. Zum einen wird damit die Kontinuität bestärkt, in die Nietzsche eingegliedert ist. Auch für Platon, für Aristoteles, für Descartes und Kant ist das Wahre nicht nur als ein so oder so beschaffenes Seiendes unter vielem anderem zu begreifen, sondern bezeichnet das Seiende im privilegierten Sinne der eigentlichen Wirklichkeit. Zum anderen kann der Gehalt auf die anfänglich erfahrene, sukzessiv verschüttete Unverborgenheit des Seienden abzielen, durch deren Akzentuierung Heidegger auf den ersten Anfang zurückzugehen und deren Unabweislichkeit er zu verdeutlichen trachtet. Bislang konnten die Wertschätzung als perspektivische Lebensbedingung, das „Wesen der Wahrheit“ als Einstimmung und Angleichung und der Glaube als Fürwahrhalten durchsichtig gemacht werden. Nietzsches Fragment Nr. 507 zeichnet sich dadurch aus, die zu Beginn eingeführten Hauptbestimmungen in einer beachtenswerten Weise zu vertiefen und sie aus ihren letzten Bedingungsfaktoren her verständlich zu machen. Dies lässt sich analog anhand des Fürwahrhaltens illustrieren. Wird das Fürwahrhalten im Hinblick auf das einordnende Artikulationsmedium befragt, in dem sich die inhaltliche Bestimmung des für seiend Gehaltenen bekundet, als solche bestätigt und als diese aussagend gesetzt wird, zeigt sich, dass das Urteil als ursprünglicher und hauptsächlicher Träger des etwas für seiend nehmenden Glaubens fungiert. Heidegger zitiert hier einen Satz aus dem Aphorismus Nr. 531 von Der Wille zur Macht: Das Urteilen ist unser ältester Glaube, unser gewohntestes Für-wahr-oder-für-unwahr-halten…¹¹⁸⁷

 Heidegger, N I, S. 462.  Heidegger, N I, S. 462.  Heidegger, N I, S. 462.  Heidegger, N I, S. 462. Vgl. die unmittelbare Fortsetzung des Zitats: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 531, S. 365: „[…] ein Behaupten oder Leugnen, eine Gewißheit, daß etwa so und nichts anders ist, ein Glaube, hier wirklich ‚erkannt‘ zu haben, – was wird in allen Urteilen als wahr geglaubt?“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[84].Vgl. ferner Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, KSA 2, S. 390: „Wesshalb zieht also der Mensch das Wahre dem Unwahren vor […] ursprünglich,

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Genauso wie Heidegger Nietzsches vorausgesetzte Wesensbestimmung der Wahrheit in der abendländischen Tradition verankert und als Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand expliziert hatte, so verfährt er im Ausgang von der obigen Erfassung des Urteils als wesentlichem Unterscheidungsindikator für das glaubende Für-seiend-nehmen eines Sachverhalts oder dessen Nichtbeglaubigung. Das Urteil gilt seit jeher als „Wesen der Erkenntnis“.¹¹⁸⁸ Wenn sich die Wahrheit als Richtigkeit herauskristallisiert und die Rangposition des Urteils als Ermittlungsorgan der Adäquatheit der vorstellenden Angleichung an das Sichzeigende beibehalten wird, dann „scheint [Nietzsche] nicht nur mit der abendländischen Überlieferung in Einklang zu stehen, er steht in der Tat mit ihr im Einklang; nur deshalb kann er, ja muß er sich von ihr unterscheiden“.¹¹⁸⁹ Der Grundkonflikt in Nietzsches Wahrheitsverständnis bahnt sich an. Auf der einen Seite wird die verfestigende und Beständigkeit suggerierende „Wahrheit“ von Nietzsche als Illusion und Irrtum markiert. Auf der anderen Seite wird das als Richtigkeit des Vorstellens erschlossene Wesen der Wahrheit in der Identifikation mit der Wertschätzung präsupponiert und aufrechterhalten: Er [Nietzsche, J.K.] scheint den Spruch, Wahrheit sei eine Illusion, ganz vergessen zu haben.¹¹⁹⁰

Um diesen Widerstreit – die Wahrheit ist die Illusion; die Wahrheit ist Richtigkeit – aufzulösen, ist nachzuvollziehen, wie Nietzsche die tradierte Wesenskennzeichnung der Wahrheit durch die Primordialität der Wertschätzung „in eine ganz andere Richtung“¹¹⁹¹ abdreht. Heidegger hält Nietzsche zugute, dass er durch die Benennung der Wertschätzung als Tiefenschicht die fruchtlose erkenntnistheoretische Diskussion über die Subjekt-Objekt-Relation mitsamt der sie begleitenden Problemstellung vermieden habe, inwiefern die Vorstellungen im Bewusstsein die äußeren Gegenstände abzubilden imstande sind.¹¹⁹² Wie aus dem weiteren Verlauf von Nr. 507 hervorgeht, belässt es Nietzsche keineswegs bei dem Faktum der Wertschätzung. Er versucht auch hier, die Veranlassung und den Triebgrund für die Affirmation der sich im fürwahrhaltenden, urteilshaften Fixieren eines Soseins äußernden Adäquationswahrheit freizulegen:

weil das Wahre – wie auch das Billige und Gerechte – nützlicher und ehrebringender war als das Unwahre.“ Vgl. zum Urteil hingegen: Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 190, S. 250.  Heidegger, N I, S. 462.  Heidegger, N I, S. 463.  Heidegger, N I, S. 462.  Heidegger, N I, S. 463 – 464.  Vgl. Heidegger, N I, S. 463.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

In den Wertschätzungen drücken sich Erhaltungs- und Wachstums-Bedingungen aus.¹¹⁹³

Es konturiert sich nunmehr noch deutlicher, dass die Wertschätzung, etwas verhalte sich tatsächlich auf eine bestimmte Weise („Das und Das ist so“) und sei deswegen seiend und richtig, keine willkürliche oder leichthin auswechselbare Option der Weltwahrnehmung ist. Vielmehr verlängert sich – wie es nach Nietzsche in jeder Wertschätzung geschieht – in der unhinterfragten Gutheißung und selbstverständlichen Anwendung fürwahrhaltender Erkenntnisakte auf das begegnende Seiende die in Erhaltung und Steigerung aufgespaltene Einheit der Lebens-Bedingung.¹¹⁹⁴ Diese durch das Leben evozierte Applikation der Grundbedingungen wirkt sich nicht allein auf der Seite der Wahrheit aus, deren dominierende Wesensprägung es verfügt. Nietzsche schlägt den Bogen zur Identifikation des Urteils mit dem Glauben zurück: Weil es die Erkenntnis ist, die die Richtigkeit ins Werk setzt, enthüllen sich auch die „Vermögen der Wahrheitsauffassung“¹¹⁹⁵ als durch ebenjene Erhaltungs- und Wachstumsbedingungen (und somit durch das Leben) infiltriert und hervorgebracht. Dies erhellt aus dem unmittelbaren Satzfortgang von Nr. 507, den Heidegger am Ende des Abschnittes Das Wesen Der Wahrheit (Richtigkeit) als ‚Wertschätzung‘ zitiert: All unsre Erkenntnisorgane und Sinne sind nur entwickelt in Hinsicht auf Erhaltungs- und Wachstums-Bedingungen.¹¹⁹⁶

Nach einem Exkurs zu Nietzsches angeblichem Biologismus ¹¹⁹⁷ setzt Heidegger die weichenstellende Diskussion der zentralen Aufzeichnung Nr. 507 in dem Ab-

 Heidegger, N I, S. 464.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348.Vgl. Nietzsche, NF1887,9[38].  Über die Exposition einer Notwendigkeit des Glaubens für den Lebensvollzug hinausgehend, leitet Nietzsche den Glauben an das Seiende auch aus dem Unbehagen und Leiden an dem Werden ab. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 579, S. 393: „Zur Psychologie der Metaphysik. – Diese Welt ist scheinbar – folglich gibt es eine wahre Welt. Diese Welt ist bedingt – folglich gibt es eine unbedingte Welt. Diese Welt ist widerspruchsvoll – folglich gibt es eine widerspruchslose Welt. Diese Welt ist werdend – folglich gibt es eine seiende Welt. Lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein). Zu diesen Schlüssen inspiriert das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginiert wird, eine wertvollere: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das Wirkliche ist hier schöpferisch.“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,8[2].  Heidegger, N I, S. 464.  Heidegger, N I, S. 464. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].  Vgl. Heidegger, N I, S. 465 – 474.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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schnitt Die abendländische Metaphysik als „Logik“ ¹¹⁹⁸ fort. Die Vernunft, der Logos, ist die oberste Instanz für die Vernehmung des Seienden. Ohne die Vernunft und die verhältnisgenerierenden Kategorien kann das Seiende nicht anwesend sein; ohne das sich eröffnende Seiende findet die Vernehmung keinen Anhalt und verliert ihr Wesen.¹¹⁹⁹ Diese Reziprozität drückt sich bereits zu Anfang des abendländischen Denkens im berühmten Spruch des Parmenides aus: „Dasselbe aber ist Vernehmung sowohl als auch Sein“.¹²⁰⁰ Wenn jeder abendländische Denker notwendigerweise innerhalb des Gefüges dieses Spruches stehen muss(te), ihn je verschiedenartig modifizierte und hinsichtlich des jeweiligen Vorranges des Denkens oder des Seins austarierte, muss sich nach Heidegger bei dem Denker der Vollendung der Metaphysik ebenfalls eine Positionierung zu der „logischen“ Verfassung der Metaphysik aufspüren lassen. Die Reichhaltigkeit der Aufzeichnung Nr. 507 manifestiert sich darin, dass dieser auch Nietzsches Stellungnahme zum Wesen und zur Konstitution der Vernunft entnommen werden kann. Sie folgt direkt auf die oben angeführte Stelle: Das Vertrauen zur Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wertschätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene Nützlichkeit für das Leben: nicht deren ‚Wahrheit‘.¹²⁰¹

Das Vertrauen zur Vernunft ist weder mit den formalen Mitteln der Logik noch mit Hilfe reflexiver Denkakte einsichtig zu machen. Die Vernunft kann sich nicht aus sich selbst begründen, weil selbst eine pragmatische Erklärung aus dem Geiste der Nützlichkeit sich nur durch den empirischen Hinweis auf einen geschichtlichen Bewährungszeitraum plausibilisieren ließe. Ebenso wenig kann sie die Funktionsweise der Erkenntnisorgane verändern. Nichtsdestotrotz ist die Vernunft in der Geschichte der Metaphysik als primärer Zugang des Menschen zum Seienden allgemein anerkannt und schließlich zum „alleinigen und höchsten Gerichtshof“¹²⁰² über das Seiende und Nichtseiende aufgestiegen, obwohl sie mitsamt ihren Kategorien keine „Wahrheit“ im Sinne der korrekten Anmessung

 Vgl. Heidegger, N I, S. 474– 480.  Vgl. Heidegger, N I, S. 475.  Heidegger, N I, S. 475. Vgl. Parmenides, DK 28 B 5, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 322: „τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.“ Vgl. hingegen Nietzsches Antwort auf den Spruch des Parmenides: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 539, S. 369: „Parmenides hat gesagt ‚man denkt das nicht, was nicht ist‘ – wir sind am andern Ende und sagen ‚was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein‘.“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[148].  Heidegger, N I, S. 477. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].  Heidegger, N I, S. 478.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

verbürgt und auf keine an sich seiende Instanz gerichtet ist. Nach Nietzsche verdankt sich diese Würdigung – wie schon im Falle jener Wertschätzung, die im Fürwahrhalten zu Tage tritt – der Prosperität und Sicherheit, die das Leben durch den Gebrauch und die Unterstützung der Vernunft gewinnt: Die Wahrheit ist überhaupt nicht etwas für sich, was dann noch abgeschätzt wird, sondern sie besteht in nichts anderem als in der Abschätzbarkeit auf einen erreichbaren Nutzen. Aber den Gedanken des Nutzens und der Nützlichkeit dürfen wir bei Nietzsche so wenig in diesem groben und alltäglichen (pragmatistischen) Sinne nehmen wie seinen biologischen Sprachgebrauch in einem biologistischen. Etwas ist nützlich, heißt hier allein: es gehört unter die Bedingungen des ‚Lebens‘. Und alles hängt für die Wesensbestimmung dieser Bedingungen und der Arten ihres Bedingens und ihres Bedingnischarakters überhaupt daran, wie das ‚Leben‘ selbst im Wesen bestimmt wird.¹²⁰³

Um sich im Leben stabilisieren zu können, muss der Mensch etwas für wahr und für seiend halten, wobei er sich auf die Vernunft stützt und ihr vertraut. Indem sie das Seiende vor-stellt, leistet die seit der cartesianischen Explikation des fundamentum inconcossum ihrer selbst gewisse Vernunft¹²⁰⁴ zugleich die kriterielle Ermittlung dessen, was zugunsten des Lebens als wahr gelten kann. Dem intuitiven „Vertrauen zur Vernunft“ korrespondiert die von Nietzsche in den folgenden Sätzen des Stückes Nr. 507 beschriebene Unverzichtbarkeit der Wahrheit im Sinne des Fürwahrhaltens: Daß eine Menge Glauben da sein muß; daß geurteilt werden darf; daß der Zweifel in Hinsicht auf alle wesentlichen Werte fehlt: – das ist die Voraussetzung alles Lebendigen und seines Lebens.¹²⁰⁵

Ohne die Wahrheit und den Glauben könnte sich das Leben nicht perpetuieren, weil es keine Orientierung, keine perzeptiven Anhaltspunkte, keinen Austausch mit anderen Lebewesen, keine Möglichkeit der Identifizierung mit sich selbst geben könnte. Der basale Glaube, der – ähnlich wie von Heraklit im Fragment 28 beschrieben – etwas Seiendes vernimmt und es festhält, wird hier nicht als hinzutretendes Fürwahrhalten oder als ein möglicherweise vorkommender, kontingenter Vorgang verstanden. Der Glaube bezeugt sich als ein notwendiger, le-

 Heidegger, N I, S. 479.  Vgl. Descartes, Meditationen, Hamburg 2009, Erste Meditation, S. 10: „[…] weil schon allein die Vernunft dazu rät, daß dem nicht völlig Sicheren und Unzweifelhaften die Zustimmung nicht weniger gründlich entzogen werden muß als dem offenbar Falschen, wird es schon ausreichen, alles zurückzuweisen, worin ich auch nur irgendeinen Grund zum Zweifeln antreffe.“  Heidegger, N I, S. 482. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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bensermöglichender Sicherheitsvorschuss, der als Grundlage jedes Urteils fungiert.¹²⁰⁶ Dadurch verschiebt sich auch die Position der Wahrheit im Sinne des Fürwahr-haltens. Als Voraussetzung alles Lebendigen beglaubigt sie das Seiende nicht nur als Seiendes, sondern schafft erst den Umkreis des für seiend Gehaltenen. Dabei blendet sie die Möglichkeit des tiefen Zweifels aus und sichert die widerspruchslose Eindeutigkeit: Damit sagt Nietzsche: Die Wahrheit ist der Baugrund und das Grundgefüge, worein das Leben als Leben eingelassen ist und eingelassen sein muß.Wahrheit und Wahres bestimmen sich also nicht erst nachträglich aus einem praktischen Nutzen, der dem Leben erst zufällt, sondern Wahrheit muß schon sein, damit Lebendiges leben und Leben überhaupt ein Leben bleiben kann. Wer wollte dieser Einschätzung der Wahrheit die Zustimmung verweigern?¹²⁰⁷

Der Eindruck, dass Nietzsches Theoriebildung zwischen der Bestimmung der Wahrheit als die Wirklichkeit verfehlende Illusion, als anmessende Richtigkeit und als notwendige Voraussetzung des Lebens schwankt, verschärft sich scheinbar in einem irritierenden Maße, sobald die den Duktus der Konklusion prätendierende Fortsetzung von Nr. 507 hinzugezogen wird: Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist. ¹²⁰⁸

Auf den ersten Blick scheint Heidegger recht zu haben, wenn er in Nietzsches ostentativer Bestreitung der Notwendigkeit eines intrinsischen Wahrheitsgehaltes des Fürwahrgehaltenen einen Widerspruch zu dem vorherigen, ersten Satz vermutet, in dem Nietzsche den Glauben und die elementare Zweifellosigkeit zur

 Vgl. zu der Voraussetzungshaftigkeit des Urteils: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 532, S. 366: „Das Urteil – das ist der Glaube: ‚Dies und dies ist so‘. Also steckt im Urteil das Gedächtnis, einem ‚identischen Fall‘ begegnet zu sein: es setzt also Vergleichung voraus, mit Hilfe des Gedächtnisses. Das Urteil schafft es nicht, daß ein identischer Fall da zu sein scheint. Vielmehr es glaubt einen solchen wahrzunehmen; es arbeitet unter der Voraussetzung, daß es überhaupt identische Fälle gibt.“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,40[15]. Zur Verbindung von Glauben und Urteilen ist weiterhin zu berücksichtigen: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 550, S. 372: „In jedem Urteile steckt der ganze, volle, tiefe Glauben an Subjekt und Prädikat oder an Ursache und Wirkung (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung Tätigkeit sei und daß jede Tätigkeit einen Täter voraussetze); und dieser letztere Glaube ist sogar ein Einzelfall des ersteren, so daß als Grundglaube der Glaube übrigbleibt: es gibt Subjekte, alles, was geschieht, verhält sich prädikativ zu irgend welchem Subjekte.“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[83].  Heidegger, N I, S. 482.  Heidegger, N I, S. 482. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Voraussetzung des Lebendigen auserkor. Es wird jedoch schnell deutlich, dass Heideggers dramatische, künstlich-indignierte Inszenierung des Aussagesinns des zweiten, soeben zitierten Satzes als „Zerstörung aller Wahrheit“¹²⁰⁹ und als „metaphysischer Zynismus“¹²¹⁰ nur deswegen an Virulenz gewinnt, weil er Nietzsche zuvor die Auffassung unterlegt hatte, die Wahrheit sei der „Baugrund“¹²¹¹ und das „Grundgefüge“¹²¹² des Lebens. Diese Hypostasierung und Vorlagerung der Wahrheit vor den Lebensvollzug entspringt jedoch viel eher aus Heideggers eigener Denkmaxime, als es sich aus dem Nietzsche-Zitat entnehmen ließe. Nietzsche prononciert zwar, dass ein apriorisches Grundvertrauen, ein fester Bestand des unhinterfragt Geglaubten, eine autolegitimierte Urteilsfähigkeit und eine Affirmation der maßgebenden Werte unumgänglich sind, um die destruktiven Folgen eines radikalen Zweifels von vornherein zu unterbinden. Allerdings bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass die Wahrheit dem Leben vorauslaufen müsste. Doch selbst wenn die Wahrheit als „Wesensgrund alles Lebendigen“¹²¹³ markiert wird, entfacht dies keinen Gegensatz zu Nietzsches als Folgerung („Also“) aus dem ersten Satz vorgetragenen These, dass es nicht entscheidend sei, dass etwas wirklich wahr ist, sondern nur, dass es für wahr gehalten werde. Vordergründig lässt sich diese Ansicht Nietzsches tatsächlich als sophistisch-verantwortungslose Destruktion verstehen, wie Heidegger plakativ ausmalt: Das Geglaubte, Für-wahr-gehaltene kann demnach (‚an sich‘) eine Täuschung und unwahr sein – genug, wenn es nur geglaubt wird, und besser und am besten, wenn es bedingungslos und blind geglaubt wird. Will Nietzsche demnach, daß jeder ‚Schwindel‘ für Wahrheit gelte, wenn er nur das ‚Glück‘ habe, sich den nötigen ‚Glauben‘ zu sichern? Will Nietzsche also doch die Zerstörung aller Wahrheit und Wahrheitsmöglichkeit? Wenn auch dieser Verdacht ihn keineswegs treffen sollte, ist nicht seine Auffassung der Wahrheit voller Widersprüche und – gerade herausgesagt – irrsinnig? Eben forderte Nietzsche noch als Wesensgrund alles Lebendigen: daß Wahrheit sei. Und jetzt erklärt er mit einem metaphysischen Zynismus: es kommt nicht darauf an, daß etwas wahr sei, es genügt, wenn es dafür gehalten wird.Wie geht beides zusammen?¹²¹⁴

Bei genauerer Betrachtung wird indes transparent, dass die Leugnung einer übersinnlichen oder an sich seienden Wahrheit bei gleichzeitiger Apostrophie-

     

Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 482. Heidegger, N I, S. 482. Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 483.

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rung der Unverzichtbarkeit fester und allgemeiner Bezüge für die Lebensführung fast automatisch zu Nietzsches vermeintlich widersprüchlicher Auffassung überleitet und den logischen Zusammenhang beider Sätze unterstreicht. In der Wirklichkeit des unfasslich-souveränen Werdens und Chaos lässt sich nicht leben, also müssen Weisen der Beständigkeit vorhanden sein, auf die permanent zurückgegriffen wird. Als qualitativer Inbegriff und „Wesensgrund“¹²¹⁵ all dieser Beständigungsformen kann die Wahrheit im Sinne eines grundsätzlichen, internalisierten und wiederholten Fürwahrhaltens von Kategorien fungieren, welches das erfahrungskonstituierende Grundgerüst für konkrete Handlungssituationen, Gedankenausprägungen und Kommunikationsarten darbietet. Obwohl diese nicht „wahr sind“, lassen sie sich keinesfalls als „Schwindel“¹²¹⁶ oder als „Täuschung“¹²¹⁷ etikettieren: Wahrheit muß sein, aber das Wahre dieser Wahrheit braucht nicht ‚wahr‘ zu sein.¹²¹⁸

Über Heidegger hinausgehend ist zu ergänzen: Die Pointe liegt darin, dass das Wahre dieser Wahrheit nicht nur nicht wahr zu sein braucht, sondern nicht wahr sein kann. Weder kann das vorgängige Fürwahrhalten, die Wahrheit als „Wesensgrund alles Lebendigen“¹²¹⁹, die „eine Menge Glauben“ inkludiert, (dies thematisiert Nietzsche in dem ersten Satz als Voraussetzung des Lebens) wahr sein, wenn es keine singuläre, platonisch-metaphysische Wahrheit mehr gibt und die Wirklichkeit des Werdens ungreifbar ist. Noch können die sich aus dem basalen Fürwahrhalten herleitenden, wechselnden Akte des jeweiligen Glaubens an etwas (diese Ebene beschreibt Nietzsche im zweiten Satz) eine Wahrheitsprätention anmelden. Wie schon in Nietzsches Herausdrehung aus dem Platonismus wird manifest, dass nach dem Wegfall der einen „Wahrheit“ auch die Gefahr der Täuschung und Unwahrheit obsolet wird, der das Fürwahrhalten nach Nietzsche (und Heidegger) ausgesetzt ist. Dass Nietzsche die Notwendigkeit des Fürwahrhaltens von etwas im zweiten Satz im Gesichtskreis der Möglichkeit eines tatsächlichen Wahrseins dieses Etwas diskutiert und das Etwas-für-wahr-halten von dort aus als ein potenzielles Setzen des Unwahren beleuchtet, verdankt sich erneut dem Maßstab der Anmessung an die nicht thematisierbare Wirklichkeit des Werdens.

    

Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 483. Heidegger, N I, S. 483.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nichtsdestotrotz bahnt sich in Nietzsches Diktum der Schritt in die äußerste Erosion des Wahrheitswesens an, den Heidegger in seiner Deutung der metaphysischen Gerechtigkeit gehen wird. Wenn das für wahr Gehaltene und persuasiv-suggestiv Plausibilisierte immer auch „wahr“ ist (beziehungsweise das Wahre nur das aufgrund von Bestandsicherungserwägungen Gesetzte repräsentiert) und die Unterscheidung von Irrtum und Wahrheit in sich zusammenfällt, ist es allein von Bedeutung, wie das Leben die ihm dienende „Wahrheit“ generiert und diese in den Machtvollzug des Willens zur Macht einfügt. Den Beleg dafür findet Heidegger nicht zuletzt in den zeitgeschichtlichen Erscheinungsformen der Instrumentalisierung und der gewaltsamen Inanspruchnahme fingierter Wahrheiten: Oder sollen wir erst noch auf den geschichtlichen Gesamtzusammenhang unseres Planeten hinweisen, um deutlich zu machen, daß Nietzsche etwas ganz Anderes ausspricht als eine ausgefallene und überspitzte Privatmeinung, wenn er sagt: ‚Also daß etwas für wahr gehalten werden muß, ist notwendig, – nicht, daß etwas wahr ist‘‚ Indes hat dieser Satz nicht deshalb ein noch unausgewogenes dunkles Gewicht, weil er aus dem geschichtlichen Gesamtzustand des Planeten seine Bestätigung finden könnte durch vordergründig aufzählbare Erscheinungen, z. B. durch die ins Riesenhafte eingerichteten Propagandakriege, durch das Fassadenmäßige, Aufzug- und Reklamehafte, worin sich alles Leben kundgibt. Dies alles kann man nicht […] als bloße Veräußerlichung und Oberflächlichkeit abtun; denn darin spricht eine Tiefe des Abgrundes des neuzeitlichen Wesens des Seins. Der obige Satz nennt das, was geschieht, in einer Weise, daß die jeweiligen geschichtlichen Lagen und Zustände bereits nur noch die Folgen dieser verborgenen Geschichte sind und als Folgen ohne Herrschaft über ihren Grund. Steht es so, dann zieht – und zwar auf dem Grunde des ‚Vertrauens zur Vernunft‘ – nicht nur eine grenzenlose Verstörung alles Vertrauens und jeder Vertrauenswürdigkeit über den Planeten, sondern es muß auf Verborgenes hinausgedacht werden: darauf, daß nicht nur irgendeine Wahrheit, sondern daß das Wesen der Wahrheit erschüttert ist und eine ursprünglichere Gründung ihres Wesens vom Menschen übernommen und geleistet werden muß.¹²²⁰

In dem Abschnitt Der Gegensatz der „wahren und scheinbaren Welt“. Die Rückführung auf Wertverhältnisse ¹²²¹ sucht Heidegger den gewonnenen Satz „Wahrheit muß sein, aber das Wahre dieser Wahrheit braucht nicht ‚wahr‘ zu sein“¹²²² hinsichtlich seines Begründungszusammenhanges durchsichtig zu machen. Was ist der Grund dafür, dass die Wahrheit als Notwendigkeit verstanden und angesetzt wird, aber gerade durch die Herleitung aus einem externen Grund in ihrer Prätention als an sich seiende Richtmarke angefochten wird und deswegen in ihren

 Heidegger, N I, S. 484.  Heidegger, N I, S. 485 – 492.  Heidegger, N I, S. 483.

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Ausstrahlungen nicht wahr sein muss? In der Beantwortung dieser Frage schließen sich der Anfang und der Schluss des Aphorismus Nr. 507 zusammen. Außerdem gelangt Heideggers Diskussion dieser epochal vorausweisenden Aufzeichnung an ihr Ende. In erinnernder Absicht sei angemerkt, dass Nietzsche zu Beginn von Nr. 507 davon sprach, dass die Wahrheit (als Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand) in ihrem Wesen eine „Wertschätzung“ sei. Im Blick auf den Schluss von Nr. 507 weitet Heidegger die Bedeutung der Wertschätzung aus. In dieser Relevanzerweiterung fundiert die Wertschätzung nicht allein die Wahrheit. Die Wertschätzung muss als subversiver Ursprung aller vermeintlich festgefügten Essenzen begriffen werden: Die Wesensbestimmung alles Wesenhaften wird auf ‚Wertschätzungen‘ zurückgeführt. Das Wesenshafte wird hinsichtlich seines Wertcharakters und nur so als Wesenhaftes begriffen.¹²²³

Nietzsches durchaus verdienstvolle Unterminierung und Verflüssigung jeder scheinbar absolut, exklusiv und zeitenthoben herrschenden Wahrheit birgt jedoch eine Schattenseite in sich. Das Phänomen des Wertes wird in der Betrachtung jeder metaphysischen Grundstellung unter der Signatur der in ihr zu Tage tretenden Wertschätzung seinerseits totalisiert. Den Topos einer rückdeutenden Verabsolutierung der selbst erst geschichtlich gewachsenen Wertkomponente wird Heidegger in der Vorlesung Der europäische Nihilismus (1940) und in der Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944 – 46) zum Kern seiner Nietzsche-Kritik ausbauen.¹²²⁴ In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis entschlüsselt Heidegger die generelle Ontologisierung des Wertes als Ermöglichungsbedingung für die Umwertung der Werte: Vor der Umwertung aller bisherigen Werte, die Nietzsche als seine metaphysische Aufgabe übernimmt, liegt eine ursprünglichere Umwendung: die nämlich, daß überhaupt das Wesen alles Seienden im Vorhinein als Wert angesetzt wird.¹²²⁵

In den letzten Zeilen von Nr. 507 wendet Nietzsche die Methode einer Rekonstruktion aus Wertschätzungen auf die Entstehung der platonischen Ideenlehre und damit auf den Anfang der abendländischen Metaphysik überhaupt an. Nach Heidegger ist die Metaphysik im wörtlichen Sinne dadurch gekennzeichnet, über das reine Aufgehen der Physis hinauszugehen und es dergestalt zu vergessen. Die

 Heidegger, N I, S. 485.  Vgl. dazu das Kapitel 1.9.3 sowie den Abschnitt 3.2 dieser Arbeit.  Heidegger, N I, S. 485.

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in der Vorlesung von 1936/37 thematische Hauptfrage nach der Überwindung des Platonismus wird in Nr. 507 aufgegriffen und fundamental abgewandelt. Nietzsche ist in diesem Stück weniger an einer Umdrehung in Form einer Bevorzugung und Rehabilitierung der vormals niedergehaltenen Sinnlichkeit oder an einer mehrstufigen Erzählung des Sinnverlustes der Zweiweltenlehre gelegen. In Nr. 507 möchte er die Motivation dechiffrieren, die Platon zu der Unterscheidung der „wahren“ und der „scheinbaren“ Welt animierte. Indem das wertende Leben als Wurzel jenes Gegensatzes expliziert wird, erweist sich die innerphilosophische gerechtfertigte Unumgänglichkeit und Wahrhaftigkeit der Aufrichtung der Ideen zu beständigen Seinsträgern als bezweifelbar: Die wahre und die scheinbare Welt – dieser Gegensatz wird von mir zurückgeführt auf Wertverhältnisse.Wir haben unsere Erhaltungs-Bedingungen projiziert als Prädikate des Seins überhaupt. Daß wir in unserem Glauben stabil sein müssen, um zu gedeihen, daraus haben wir gemacht, daß die ‚wahre‘ Welt keine wandelbare und werdende, sondern eine seiende ist.¹²²⁶

Nach Heidegger vermochte Nietzsche nicht zu der die Seiendheit in ihrem zeithaften Charakter durchsichtig machenden Einsicht zu gelangen, dass die übersinnliche Wahrheit, die „wahre Welt“ (ὄντως ὄν¹²²⁷) und das Seiende in der abendländischen Metaphysikgeschichte darin übereinkommen, auf der Basis des nicht hinterfragten Entwurfes auf die „beständige Anwesenheit“¹²²⁸ konzipiert und verstanden worden zu sein. Gleichwohl hält Heidegger ihm zugute, überhaupt „die Frage nach dem Ursprung dieser Unterscheidung als solcher“¹²²⁹ aufgeworfen zu haben. Indem Nietzsche in den Grund der Unterscheidung zwischen „wahrer“ (ewiger und unwandelbarer) und „scheinbarer“ (werdender und sich verflüchtigender) Welt zurückfragt, spürt er dort sich subtil verbergende, außerphilosophische Ziele und Präferenzen auf. Im Zuge dieser Abtragung entpuppt sich das vermeintliche An-sich-Sein einer transzendenten Beständigkeit als Ergebnis einer „bestimmten Wertung“¹²³⁰, die das generell wertsetzende Leben über sich selbst vornahm. Dem Leben war vorrangig an seiner Bewahrung und Bestandsicherung, an Überschaubarkeit, Kontrolle, Begrenzung und an der Eindeutigkeit der Hierarchie gelegen, weil es sich zuvor in seinem Wesen als dau-

 Heidegger, N I, S. 485. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].  Vgl. Heidegger, N I, S. 487.  Heidegger, N I, S. 488.  Heidegger, N I, S. 489.  Heidegger, N I, S. 489.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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erhaftes und somit als sicherheitsbedürftiges und haltverlangendes bestimmte.¹²³¹ Aus diesem Grund schuf sich das Leben ein Übersinnliches – konkreter: die Ideen, das Jenseits oder eine beharrende Substanz – als höchste Bedingung seiner Erhaltung, hielt es als alleinigen Wert hoch und desavouierte die gegenläufige Wertsetzung, die dem Werden zu seinem Recht verhelfen wollte, als „Schein“, „Nichtseiendes“ oder „Täuschung“. Wenn es dem Leben generell auf Beständigkeit ankommt, muss auch die Wahrheit diesem Charakteristikum entsprechen und jeglicher Veränderung entzogen werden. Deswegen wird die Wahrheit mitsamt der wahren Welt als das Seiende begriffen, wie Nietzsche in der Konklusion des Schlusssatzes von Nr. 507 untermalt.¹²³² Die Rede von einem durch den Philosophen hindurch „wertenden Leben“ mutet zunächst unbestimmt, wenn nicht gar mythisch an. Demgegenüber akzentuiert Nietzsche den geschichtlichen Sinn dieser neuen Wesensbestimmung des Lebens, indem er in dem Schlussabschnitt von Nr. 507 zwei Mal das Wort „unsere“¹²³³ beigefügt. Im Falle der Erhaltungs-Bedingungen, die gemäß Nietzsche zu Prädikaten des Seins projiziert wurden, hebt Heidegger zurecht hervor, dass Nietzsche damit weder eine überdauernde anthropologische Konstante im Blick hat noch auf die aktuell gültigen Lebensbedingungen der in der Moderne existierenden Menschen abzielt. Unter dem Index der Erhaltungs-Bedingungen beleuchtet Nietzsche das Gepräge des Geschichtskreises der „abendländischen, griechischen, römisch-christlichen, germanisch-romanisch-neuzeitlichen ‚Welt‘“.¹²³⁴ Es wird transparent, dass das „Leben“, das innerhalb dieses Zeitalters maßgeblich auf Verlässlichkeit und Verewigung kapriziert war, die übergreifende Bezeichnung für den in den Lebensvollzug des Einzelnen hineinwirkendenden und zugleich aus ihm hervorgehenden Kollektivsinn beschreibt. Diejenige Ordnung, welche die Menschen im Mikrokosmos ihrer Lebensbewältigung als wünschenswert erstrebten oder als Erhaltungs-Bedingung benötigten, wurde zu dem „Höchstwertigen“¹²³⁵ hypostasiert. Dieser höchste Wert sollte in der Gestalt der

 Vgl. Heidegger, N I, S. 490.  Vgl. Heidegger, N I, S. 488: „Etwas ist, sagen wir von jenem, was wir jederzeit und im voraus als immer schon vorhanden antreffen; was jederzeit anwest und in solcher Anwesenheit ständigen Bestand hat. Das eigentlich Seiende ist das im voraus und nie Wegzubringende, was seinen Stand behält und jedem Überfall standhält und jeden Zufall übersteht.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 485.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348; Nietzsche, NF1887,9[38].  Heidegger, N I, S. 490.  Heidegger, N I, S. 490.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Seinsprädikate mit der Verfassung und Gesetzmäßigkeit der wahren Welt zusammenfallen. Hier erinnert Nietzsches Gedankengang an Feuerbach. Es ist für die Menschen erforderlich, dass Seiendes und nicht nur Werdendes ist. Nun ließe sich entgegnen, dass sowohl die platonische als auch die christliche Wertsetzung diese Bedingung gerade nicht erfüllen oder ihr sogar direkt zuwiderhandeln, insofern das Seiende im Übersinnlichen und Jenseitigen verankert und auf diese Weise aus dem menschlichen Leben hinweggerückt wird. Dieser Einwand greift allerdings zu kurz: Zum ersten verleiht das durch die Ideen repräsentierte Seiende dem Werden seine temporäre Form und Existenz, sodass sich in dem Wechselnden die Spuren und somit die Gegenwart des Ewigen erkennen lassen. Zum zweiten spendet die Möglichkeit eines Ausblickes auf das Seiende Trost. Zum dritten findet der Glaube in dem Seienden jene Stabilität, welche die zwecks „Gedeihen“ des Lebens auf wiederkehrende Fälle der Anschauung und auf die Persistenz der Kategorien und des Begriffs versierte Erkenntnis metaphysisch absichert.¹²³⁶ Wenn auf der Grundlage dieses Standpunktes das Verhältnis zwischen dem Glauben, in dem „wir“ nach Nietzsche „stabil sein müssen, um zu gedeihen“¹²³⁷, und dem beständigen Seienden betrachtet wird, erfährt der Satz „Daß Wahrheit sei, ist notwendig, aber das Wahre dieser Wahrheit braucht nicht wahr zu sein“¹²³⁸ seine Aufhellung. Nicht nur dasjenige, woran geglaubt wird, muss etwas Beständiges sein. Auch der Glaube selbst muss selbst die Beschaffenheit der Festigkeit haben und einen unverrückbaren Bezug zum Seienden besitzen. Wenn seiend „das für beständig und fest Genommene“¹²³⁹ heißt, das Wahre gemäß Nr. 507 das Seiende ist, und die Wahrheit als „das Wesen des Wahren“¹²⁴⁰ gefasst wird, muss sich die Wahrheit als dasjenige enthüllen, was das Wahre zu einem Wahren, d. h. zu einem Seienden macht und als dieses bestimmt. Es ergab sich, dass es der Glaube im Sinne des Für-wahr-haltens ist, der aufgrund eines im Leben wurzelnden Bedürfnisses etwas als seiend nimmt und das Seiende, das es ansonsten nicht gibt, dergestalt schafft. Der Glaube offenbart sich folglich als das Wesen des Wahren. Weil dem Glauben daher dieselbe Stellung wie der Wahrheit zukommt, wandelt sich diese von einer statischen Entität zur Tätigkeit des Fürwahr-haltens.

 Vgl. Heidegger, N I, S. 491.  Heidegger, N I, S. 485.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 507, S. 348.Vgl. Nietzsche, NF1887,9[38].  Heidegger, N I, S. 485.  Heidegger, N I, S. 492.  Heidegger, N I, S. 492.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Heideggers Diktum: „Daß Wahrheit sei, ist notwendig, aber das Wahre dieser Wahrheit braucht nicht ‚wahr‘ zu sein“, ließe sich daher umformen in den Satz: „Weil das Leben auf Bestandsicherung angewiesen ist, muss der Glaube (an Festes), der etwas als seiend vernimmt und festhält, als Voraussetzung alles Lebendigen sein, doch braucht das, was er dabei als beständig erachtet, nicht wahr, sondern nur lebensdienlich zu sein.“ Wird dieser Satz auf den Anfang von Nietzsches Aufzeichnung Nr. 507 („Die Wertschätzung, ‚ich glaube, daß Das und Das so ist‘ als Wesen der ‚Wahrheit‘“) zurückbezogen, dekuvriert sich, dass sich nicht nur die Wesensbestimmung der als Richtigkeit erfahrenen Wahrheit einer Wertschätzung verdankt. Auch die Ausübungslegitimation des Wesens des Wahren als Glaube entspringt der Wertschätzung. Nach der Beantwortung der Frage, in welcher Weise die Wahrheit – die im Phänomen des Glaubens an das Feste¹²⁴¹ lokalisiert werden konnte – als „Baugrund“¹²⁴² des Lebens firmiert, kann zur zweiten Schwierigkeit fortgeschritten werden: Zu Nietzsches Kennzeichnung der Wahrheit als Illusion. Wenn berücksichtigt wird, dass die Welt nach Nietzsche in Wahrheit gerade keine unveränderliche, für wahr gehaltene Beständigkeit ist, sondern ein sich vervielfältigendes Werden, einen Wandel von Entstehen und Vergehen austrägt, wird ersichtlich, weswegen er die „Wahrheit“ als Illusion benennen muss: Das mit dem Seienden gleichbedeutende Wahre verfehlt das Werden – kann sich ihm nicht angleichen – und ist daher unwahr, täuschend, scheinhaft. Gleichwohl ist die Irrtumswahrheit als Bedingung des Lebens ein notwendiger Wert. Diese Herabstufung zur Illusion kann Nietzsche nach Heidegger jedoch nur promulgieren, weil er den Maßstab der Einstimmigkeit und Angemessenheit ex negativo beibehält. In diesem Kontext wird deutlich, warum Heidegger auf der Ansicht beharrt, dass das unangetastete Wesen der Wahrheit als Richtigkeit Nietzsches vermeintliches Paradoxon der mit der Illusion identifizierten Wahrheit fundiert: Damit blicken wir zum ersten Mal in die Richtung, aus der jener befremdliche Spruch, Wahrheit sei eine Illusion, spricht.Wir sehen aber zugleich, daß in diesem Spruch das Wesen der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit festgehalten wird, wobei Richtigkeit besagt: Vorstellen des Seienden im Sinne der Angleichung an das, was ‚ist.‘ Denn nur dann, wenn die Wahrheit im Wesen Richtigkeit ist, kann sie nach Nietzsches Auslegung Un-richtigkeit und Illusion sein. Wahrheit im Sinne des Wahren als des angeblich Seienden im Sinne des Beständigen,

 Vgl. Nietzsche, NF-1887,9[91]: „Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regulär-Wiederkehrendes gegründet; je mächtiger das Leben, um so breiter muß die errathbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisirung, Rationalisirung, Systematisirung als Hülfsmittel des Lebens.“  Heidegger, N I, S. 482.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Festen und Unwandelbaren ist dann Illusion, wenn die Welt nicht eine seiende, sondern eine ‚werdende‘ ist.¹²⁴³

Wenn die Erkenntnis stets auf Seiendes ausgreift und das Für-wahr-halten des Beständigen eine lebenswichtige Wertschätzung darstellt, scheint es nahezu unmöglich zu sein, die grundlegenden Erhaltungs-Bedingungen des Lebens zu revidieren.Vollständig zurückgenommen werden kann nur die Überzeugung, dass dem lebensweltlich notwendigen Für-wahr-halten eine übergeordnete, an sich wahre Welt korrespondiere. Die jenseitige Topologie kann vom Willen zur Macht zwar aufgehoben werden, die Stabilität als solche kann aber aufgrund ihrer Verkettung mit den Erhaltungs-Bedingungen nicht schlichtweg beseitigt werden. Deswegen muss der in die Lebensimmanenz gewendete Wille die Komponente der Stabilität in sich aufnehmen, indem er auf sie im Überstieg über das ihm eignende Werden zurückkommt. In diesem Vollzug generiert er im Medium des Für-wahrhaltens jeweils Akte beständiger Seinssetzung. Weil sich der Überstieg nicht mehr auf die Transzendenz richten kann und jede andere Steigerungsbewegung dem Werden vorbehalten bleibt, ist der Wille zur Macht gezwungen, das Gesicherte und Verfestigte als Substrat des zu Überwindenden und als sein Überwundenes konstant zu evozieren. In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis werfen die Grundzüge der Auseinandersetzung mit dem Nihilismus in Nietzsche II ihren Schatten bereits voraus. Wenn nämlich die Erhaltungs-Bedingungen als Prädikate des Seins im Rahmen einer genealogischen Betrachtungsweise auf den platonisch-christlich grundierten Wunsch nach Übersicht und Klarheit eingeschränkt werden, gibt es nach dem Tod Gottes offenbar keinen Grund mehr, nicht auch das Entfliehende, Einzelne und Ungebundene hochzuschätzen. Nietzsche bringt daher – im Bewusstsein, dass auch er eine bestimmte Wertsetzung verteidigt – den „Wert des Kürzesten“ ausdrücklich gegenüber Spinozas amor intellectualis Dei ¹²⁴⁴ und Descartes Innatismus¹²⁴⁵ in Stellung:

 Heidegger, N I, S. 493.  Vgl. z. B. Spinoza, Ethik,V. Teil, Lehrsatz 37, 4. Aufl., Hamburg 2015, S. 583: „Es gibt nichts in der Natur, was dieser geistigen Liebe entgegensetzt ist, d. h. was sie aufheben könnte. Beweis: Die beschriebene geistige Liebe folgt notwendigerweise aus der Natur des Geistes, insofern er durch Gottes Natur und damit als eine ewige Wahrheit betrachtet wird. Gäbe es also etwas, das dieser Liebe entgegengesetzt ist, wäre es dem Wahren entgegengesetzt; was diese Liebe aufheben könnte, brächte es folglich mit sich, daß, was wahr ist, falsch wäre, was (wie sich von selbst versteht) widersinnig ist. Also gibt es nichts in der Natur usw. W.z.b.w.“  Vgl. Descartes’ Abgrenzung der angeborenen Ideen von den erworbenen und den selbst erzeugten Ideen in der Dritten Meditation: Descartes, Meditationen, S. 42 ff.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Gegen den Wert des Ewig-Gleichbleibenden (v. Spinozas Naivität, Descartes’ ebenfalls) den Wert des Kürzesten und Vergänglichsten, das verführerische Goldaufblitzen am Bauch der Schlange vita –.¹²⁴⁶

Fraglich ist nur, ob diese Hochschätzung des aufkeimend Verglühenden dauerhaft möglich ist, wenn der fixierende Glaube als conditio humana unausweichlich geworden, in die Erkenntnisapparatur des Menschen eingeschrieben ist. Nichtsdestotrotz avanciert die ausdrückliche Berücksichtigung des Vergänglichen zur Krisis innerhalb des sich abzeichnenden Wandels der Übereinstimmungswahrheit. Deren Unzulänglichkeit bezeugt sich in ihrer sich überkreuzenden Organisation: Die Übereinstimmung findet nur in der Fixierung des Rastlos-Unaufhörlichen einen Anhalt, weswegen ihr die werdende Wirklichkeit bereits im Augenblick ihrer Artikulation entgleiten muss. Sie kann nur den Anschein erwecken, die wandlungsförmige Natur des Seienden, das aufflackernde Leben gebannt zu haben. Hier tritt der „erregende Zwiespalt“¹²⁴⁷ zwischen Wahrheit und Kunst erneut hervor. Das hervorbringende Ins-Werk-Setzen der Verklärung bringt den Charakter der sich überwältigenden und niemals stillstehenden Wirklichkeit angemessener zum Ausdruck als die Unveränderlichkeit beanspruchende Wahrheit. Aus dem Gesichtspunkt der Entsprechungstheorie betrachtet – gemessen an dem Grad der Wiederspiegelung des Seienden – wird transparent, dass der viel-

 Heidegger, N I, S. 494. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 577, S. 392; Nietzsche, NF1887,9[26].Vgl. zum Topos der Wertschätzung des Gleichbleibenden auch: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 585, S. 402: „Die Verachtung, der Haß gegen alles, was vergeht, wechselt, wandelt – woher diese Wertung des Bleibenden? Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden.“ Daraus zieht Nietzsche eine entscheidende Schlussfolgerung: Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 585, S. 402: „In summa: die Welt, wie sie sein sollte, existiert; diese Welt, in der wir leben, ist nur Irrtum, – diese unsere Welt sollte nicht existieren. Der Glaube an das Seiende erweist sich nur als eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens … Was für eine Art Mensch reflektiert so? Eine unproduktive leidende Art; eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nötig: mehr noch, sie würde es verachten, als tot, langweilig, indifferent…“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,9[60].  Heidegger, N I, S. 213. Bemerkenswert sind die Überlegungen von Harald Seubert zur Platon-Rezeption des jungen Nietzsche. In seiner frühen Baseler Platon-Vorlesung (1871/1872) hebt Nietzsche hervor, dass Platon die Vorsokratiker aus ihrer monologischen Einsamkeit zwar in die Helle des Zwiegesprächs geführt habe, die Versammlungsmöglichkeit eines tragischen Philosophierens aber durch die Ideenlehre aufgelöst habe. Darauf aufbauend, macht Seubert deutlich, dass Nietzsches Auseinandersetzung mit Platon selbst zwiespältig ist, zwischen Poros und Penia oszilliert. Einerseits spricht Nietzsche Platon die Verherrlichung des erotischen Erkenntnistriebes zu, andererseits begreift er die Dialektik als Mittel, diesen auf das Jenseitige zu restringieren. Vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 118 – 123.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

faltsabbildende Schein der Kunst „wahrer“ ist als das Sein der Wahrheit, das andere Perspektiven verdrängt und das souveräne Werden übergeht. Als Verfälschung des wirklichen, in der Kunst erschlossenen Seins ist die Wahrheit „scheinhafter“ als der in der Verklärung aufleuchtende Schein: „Sein ist Schein und Schein ist Sein“. ¹²⁴⁸ Der Schein als Irrtum konvergiert mit dem Sein in dem ersten Gleichsetzungspaar, der Schein als Verklärung entspricht dem Sein der zweiten Identitätskonfiguration.

1.7.5 Das Chaos des Werdens und die kategoriale Horizontbildung Indem Nietzsche die Genese des Chorismos zwischen der wahren und scheinbaren Welt aus Wertverhältnissen herleitet, setzt sich er sich zwei potenziellen Missverständnissen aus, von denen sich Heideggers Auslegung abgrenzt. Diese sind durch den Pragmatismus und den Biologismus bezeichnet. Den Vorwurf des Biologismus wehrt Heidegger mit dem aus Sein und Zeit ¹²⁴⁹ und aus dem im Jahre 1938 gehaltenen Vortrag Die Zeit des Weltbildes ¹²⁵⁰ bekannten Hinweis auf das metaphysische Vorverständnis des Lebensbegriffes ab, von dem die Gebietssätze der Biologie Gebrauch machten, ohne sich über die Herkunft derselben im Klaren zu sein.¹²⁵¹ Um den Vorwurf jedoch gänzlich zu entkräften, muss sich Heidegger der Aufgabe widmen, die elementare Vollzugsform des Lebens so zu erhellen, dass die Diffusität des Vitalen zugunsten einer in ihm aufzufindenden, dirigierenden Instanz abgelöst wird. Heidegger enthüllt die Gerechtigkeit als ebenjene Macht erst am Ende der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis. Der Pragmatismus bemisst die Wahrheit einer Idee oder eines Gedankens an der ostensiblen Nützlichkeit und führt die Entstehung, Etablierung und Dauerhaftigkeit von Weltanschauungen auf den lebensweltlichen Erfolg zurück. Dem Pragmatismus begegnet Heidegger mit einer Vorverlagerung des „praktischen Bedürfnisses“¹²⁵², das eine unumgängliche Schematisierung in jeder einzelnen Perspektive veranlasst. Diese Schematisierung läuft jeder ontischen Nützlichkeitserwägung voraus.

    

Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung, GA 46, S. 204. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §10, S. 45 – 50. Vgl. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 79 – 82. Vgl. Heidegger, N I, S. 468 ff u. S. 472 f. Heidegger, N I, S. 496.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Heidegger lehnt seine Untersuchung der Bedeutung des praktischen Bedürfnisses bei Nietzsche an Kants Exposition des transzendentalen Schemas ¹²⁵³ sowie der produktiven Einbildungskraft an, die vermittels der Zeit (in ihrer Doppelnatur als apriorische Anschauungsform und als der Sinnlichkeit zugehörige Zeitreihe) die korrekte Anwendung der Kategorien auf die ungeordneten Erscheinungen und somit die Erfahrung überhaupt ermöglicht.¹²⁵⁴ Indem sie die Apprehension des Mannigfaltigen in der Anschauung mit der transzendentalen Einheit der Apperzeption nach Regeln verknüpft, stiftet die schematisierende Einbildungskraft in der A-Auflage der Kritik der reinen Vernunft den Zusammenhang von Sinnlichkeit und Verstand.¹²⁵⁵

 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Jens Timmermann, Hamburg 1998, B 180 f., S. 242– 243: „Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie unverdeckt vor Augen legen werden. So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren. Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen seiner Form, (der Zeit,) in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, sofern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten.“  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 177 f., S. 240: „Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema. Der Verstandesbegriff enthält reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt. Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung. Nun ist eine transzendentale Zeitbestimmung mit der Kategorie (die die Einheit derselben ausmacht) sofern gleichartig, als sie allgemein ist und auf einer Regel a priori beruht. Sie ist aber andererseits mit der Erscheinung sofern gleichartig, als die Zeit in jeder empirischen Vorstellung des Mannigfaltigen enthalten ist. Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein, vermittelst der transzendentalen Zeitbestimmung, welche, als das Schema der Verstandesbegriffe, die Subsumtion der letzteren unter die erste vermittelt.“  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 124, S. 228 – 229: „Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt.Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits, und mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Im Ausgang von dieser Synthesefunktion, sucht Heidegger in seinem Kantbuch (1929) die Einbildungskraft als Wurzel der beiden Erkenntnisstämme zu etablieren. Zudem entfaltet er im Rückbezug auf das Kapitel Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe (Kritik der reinen Vernunft, B 176 ff.) im Allgemeinen und auf die vierfache Bestimmung der transzendentalen Schemata der Zeit im Besonderen (Zeitreihe/Quantität, Zeitinhalt/Qualität, Zeitordnung/Relation, Zeitinbegriff/Modalität¹²⁵⁶) die ambitionierte These, dass die Einbildungskraft nichts anderes sei als die ursprüngliche Zeit: Wenn die transzendentale Einbildungskraft als das reine bildende Vermögen in sich die Zeit bildet, d. h. entspringen läßt, dann gibt es kein Ausweichen mehr vor der oben ausgesprochenen These: die transzendentale Einbildungskraft ist die ursprüngliche Zeit.¹²⁵⁷

Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände eines empirischen Erkenntnisses, mithin keine Erfahrung geben würden.“  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 185, S. 246.  Vgl. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 187. Zur werkinternen Einbettung des Kantbuches zwischen der Kant-Kritik in Sein und Zeit, der Kant-Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (WS 1927/28) und der Davoser Disputation (1929) mit Ernst Cassirer vgl. Dieter Sturma, „Kant und das Problem der Metaphysik.“ Die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 80 – 86. Sturma liefert darüber hinaus eine profunde Übersicht über den Argumentationsgang und die Deutungsziele des Kant-Buches. Obgleich Sturma die „wuchtigen Umdeutungen der kantischen Terminologie“ kritisiert, ist für ihn dennoch ersichtlich, dass Heidegger und Kant im „Hinblick auf die Frage nach den Konstitutionsbedingungen menschlicher Erfahrung“ eine „gemeinsame Problemstruktur“ besitzen (Sturma, Die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, S. 85). Dass Kant die Einbildungskraft nicht explizit als Wurzel der Erkenntnisstämme von Verstand und Sinnlichkeit auszeichnete und in der B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft dazu überging, die Einbildungskraft gänzlich in den Verstand einzuhegen, deutet Sturma im Gegensatz zu Heidegger nicht als Verkennung der ursprünglichen Zeitlichkeit und Endlichkeit des Menschen. Er würdigt Kants Behutsamkeit bezüglich eines systemfundierenden Prinzips als erkenntniskritische Vorsichtsmaßnahme gegenüber nicht theoriefähigen Einheitsbildungen (vgl. Sturma, Die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis, S. 85). Zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem von Heidegger aufgeworfenen und zugespitzten Zusammenhang zwischen der Synthesis der Einbildungskraft, der Bedeutungserschließung von Gegenständlichkeit und der ursprünglichen Zeit vgl. Rudolf A. Makkreels lichtvollen Aufsatz Ontologische Schematisierung, Einbildungsund Urteilskraft. Wie Kant, Dilthey und Heidegger den Idealismus beurteilen, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 59 – 77. Makkreel gibt Heidegger bezüglich der Auslegung und Profilierung der Zeit als Eröffnungsfeld der Gegenstandserfahrung grundsätzlich Recht. Er sieht Heideggers These, wonach die schematisierende Einbildungskraft „unsere eigene Begrenztheit oder Unterworfenheit unter die zeitliche Zerstreuung“ (Makkreel, Ontologische Schematisierung, S. 62) erschließe, in Übereinstimmung mit der

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Im abgrenzenden Vorblick auf Heideggers Auseinandersetzung mit der dichtendhervorbringenden Funktion des praktischen Bedürfnisses bei Nietzsche ist unbedingt festzuhalten, dass die „wesenhaft zeitbezogene reine Einbildungskraft“¹²⁵⁸ in Heideggers Kant-Auslegung keineswegs die empirischen Gegenstände als solche im Sinne des tätigen Setzens eines subjektiven Idealismus konstruiert. Sie bildet und erschließt allein den Horizont, in dem sich der Mensch innerhalb seiner Endlichkeit anschauend auf die potentiell vernehmbaren Gegenstände hin anweisen kann: Der transzendentale Schematismus ist sonach der Grund der inneren Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis. Er bildet das im reinen Gegenstehenlassen Gegenstehende dergestalt, daß sich das im reinen Denken vorgestellte notwendig im reinen Bilde der Zeit anschaulich gibt. Die Zeit also ist es, die als a priori von vornherein dem Horizont der Transzendenz den Charakter des vernehmbaren Angebotes verleiht. Aber nicht nur das. Als das einzige reine universale Bild gibt sie dem Horizont der Transzendenz eine vorgängige Umschlossenheit. Dieser eine und reine ontologische Horizont ist die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß das innerhalb seiner gegebene Seiende je diesen oder jenen besonderen offenen, und zwar ontischen Horizont haben kann. Die Zeit […] macht das ‚Dawider‘ der Gegenständlichkeit, das zur Endlichkeit der transzendierenden Zuwendung gehört, einem endlichen Wesen vernehmbar.¹²⁵⁹

Hingegen steckt Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst im Zuge der Analyse der Schematabildung des praktischen Bedürfnisses die Grenzen für die Einwirkung der Kunst ab, die schließlich gemeinsam mit der Erkenntnis die Perpetuierung des Lebens und somit des Willens zur Macht gewährleistet. Als Einstieg wählt Heidegger die aus dem Jahre 1888 stammende Aufzeichnung Nr. 515 der Nachlasszusammenstellung Der Wille zur Macht:

Kantischen Darlegung. Gleichwohl bekräftigt auch er (wie Dieter Sturma), dass Kants Zurückstufung der Einbildungskraft in der B-Auflage keinen Rückfall in ein statisches Gerüst unveränderlicher Verstandesbegriffe bezeichne. Mit der Revision der Stellung der Einbildungskraft habe Kant dem Anschein entgehen wollen, „in psychologischen Spekulationen zu dilettieren“ (Makkreel, Ontologische Schematisierung, S. 63) und zu vermeiden gesucht, einem Idealismus Berkeleyscher Prägung das Wort zu reden. Gestützt auf eine differenzierte Argumentation, legt Makkreell in der reflektierenden Urteilskraft ein Vermögen frei, das innerhalb der Kantischen Systemarchitektonik als Pendant und Weiterentwicklung der Einbildungskraft begriffen werden könne (vgl. Makkreel, Ontologische Schematisierung, S. 68 – 76).  Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 83.  Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, S. 108.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nicht erkennen, sondern schematisieren, – dem Chaos so viel Regularität und Formen auferlegen, als es unserem praktischen Bedürfnis genugtut.¹²⁶⁰

Heideggers denkerischer Zugriff auf diese Aussage ist dadurch gekennzeichnet, dass er das „Bedürfnis“ nicht als ausstehende Ermangelung oder als Streben nach einer praxisaffin-wirklichkeitsbezogenen Tätigkeit fasst, sondern als unhintergehbare Forderung nach einer den menschlichen Umgangsweisen zugekehrten Welt. Das dem Leben innewohnende, praktische Bedürfnis selbst ist es, das die dafür benötigten Schemata und Formgebilde hervorruft: ‚Praktisches Bedürfnis‘ besagt jetzt: dasjenige Bedürfen und Nötighaben, was im Wesen der Praxis als Lebensvollzug liegt. Nötig hat das Lebendige aus seiner und für seine Lebendigkeit zuvor jenes, worauf es ihm als Lebendigem ankommt, nämlich daß es ‚lebe‘, daß es ‚sei‘, daß es […] dem Fortriß des eigenen Chaoscharakters nicht erliege, sondern in ihm sich aufrichte und stehe. Solches Stehen im Fortriß bedeutet: dem Andrang entgegenstehen, ihn irgendwie zum Stehen bringen, – jedoch nicht so, daß das Leben dadurch stillstehe und aufhöre, sondern daß es gerade als Lebendiges in seinem Bestand gesichert sei. Praxis als Lebensvollzug ist in sich Bestandsicherung. Weil diese Sicherung nur durch ein Beständig- und Festmachen des Chaos möglich ist, verlangt die Praxis als Bestandsicherung die Versetzung des Andrängenden in ein Stehendes, in die Gestalten, die Schemata. Praxis ist in sich – als Bestandsicherung – ein Bedürfnis nach Schemata; ‚praktisches Bedürfnis‘ meint, metaphysisch gedacht, dasselbe wie: das die Bestandsicherung ermöglichende Daraufausgehen, Schemata zu bilden, kurz: Schemabedürfnis. Das Schemabedürfnis ist bereits Ausblick auf Festmachendes und damit Eingrenzendes.¹²⁶¹

Mit diesem von Nietzsche bedachten Primat der Praxis weiß sich Heidegger innig verbunden; hatte er doch in Sein und Zeit den Vorrang des Umganges mit Zuhandenem gegenüber der sekundären, aus ihr entspringenden Vorhandenheit der

 Heidegger, N I, S. 499. Vgl. Nietzsche, Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 351; Nietzsche, NF-1888,14[152]. Auch bei Kant kommt dem Begriff des Bedürfnisses eine zentrale Bedeutung zu. Er versteht das Bedürfnis jedoch als der menschlichen Natur innewohnendes Verlangen, die Erfahrung zugunsten einer metaphysischen Überwölbung zu übersteigen. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 21, S. 75: „Denn die menschliche Vernunft geht unaufhaltsam, ohne daß bloße Eitelkeit des Vielwissens sie dazu bewegt, durch eigenes Bedürfnis getrieben bis zu solchen Fragen fort, die durch keinen Erfahrungsgebrauch der Vernunft und daher entlehnte Prinzipien beantwortet werden können, und so ist wirklich in allen Menschen, so bald Vernunft sich in ihnen bis zur Spekulation erweitert, irgend eine Metaphysik zu aller Zeit gewesen, und so wird es auch immer bleiben.“  Heidegger, N I, S. 515 – 516. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 179, S. 241: „Das Schema an sich ist jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden.“

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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theoretisch-wissenschaftlichen Betrachtung betont.¹²⁶² Bereits zu Beginn der 30er Jahre hat sich Heidegger von diesem praktizistischen Ansatz primärer Welterschließung distanziert. In der angeführten Aufzeichnung Nr. 515 aus Der Wille zur Macht bleibt der Status des Chaos unklar. Weil die alltägliche Welt als in ihrem Erscheinungsbild bekannte, in ihren Gebieten eingeteilte und umfangreich benannte begegnet, scheint das Chaos allein in kosmischen Ursprungserzählungen eine Referenz zu haben. Heidegger weist in diesem Kontext auf Hesiods Theogonie hin.¹²⁶³ Dort wird das Chaos als das gähnend Offenstehende, das Aufklaffende geschildert, auf das Nyx, Tartaros, Erebos, Gaia und Eros folgen.¹²⁶⁴ Um zu begreifen, warum das prädikationslose Chaos als Ausübungsfeld der produktiven Einbildungskraft akzentuiert werden kann, ist die Differenz zwischen dem Erkennen und dem Schematisieren zu berücksichtigen. Das Schematisieren bildet die Funktionsweise des Spontaneitätspols der Einbildungskraft, der ein vorgängiges, auf Erkennbarkeit und Welthandhabe auslangendes Triebgeschehen unterlegt wird. Während Kant die Einbildungskraft als Vermögen fasst, „einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen“¹²⁶⁵, meißelt sie den Gegenstand bei Nietzsche aus dem Chaos heraus und stellt ihn auf diese Weise in die zugängliche Welt hinein. Im Gegensatz dazu, gehen tradierte Erkenntnistheorien von der erkannten Welt aus und in der Ergründung der implizit getätigten Voraussetzung einer erkennbaren Welt zugleich hinter deren Gegebenheit zurück. Bei Kant leuchtet deren Objektivität, die durch die Aufprägung der reinen Verstandesbegriffe auf die noch ungeordnete Sinnesempfindung erbracht wird, in intersubjektiv geteilten Erfahrungsurteilen auf.¹²⁶⁶ Wird jedoch von der Anwen Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §13, S. 61: „Das In-der-Welt-Sein ist als Besorgen von der besorgten Welt benommen. Damit Erkennen als betrachtendes Bestimmen des Vorhanden möglich sei, bedarf es vorgängig einer Defizienz des besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 506.  Vgl. zur Kennzeichnung des Chaos als aufklaffendem Abgrund: Schelling, Philosophie der Mythologie, 26. Vorlesung, S. 608: „‚Zuerst ward Chaos.‘ In dem Wort […] liegt der Begriff des Zurückweichens in die Tiefe, des Aufgethanseyns, des Offenstehens, der aber auf den höheren des Nicht-Widerstand-Leistens (das nur im Konkreten stattfindet) zurückkommt.“  Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 151, S. 192.  Anhand der folgenden Textstelle kann die große Nähe zwischen Kant und Nietzsche veranschaulicht werden, wenngleich Nietzsche wahrscheinlich bestreiten würde, dass es einen „transzendentalen Grund der Einheit“ geben könnte. Andererseits gleicht Kants „Gewühle von Erscheinungen“ dem von Nietzsche beschriebenen chaotischen Andrang des Werdens. Heidegger zieht diese Parallele mit Nachdruck und zitiert dabei auch Kants Ausdruck des „Gewühls“. Vgl. Heidegger, N I, S. 508. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 111, S. 218: „Einheit der Synthesis nach empirischen Begriffen würde ganz zufällig sein und, gründeten diese sich nicht auf einen transzendentalen Grund der Einheit, so würde es möglich sein, daß ein Gewühle von Erschei-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

dung der Urteilsfunktionen Quantität, Qualität, Modalität und Relation abstrahiert, werden zudem Farben, Geruch, Ausdehnung an einem Seienden weggedacht, kann keine Als-Struktur, keine verlässliche Bezeichnungsweise mehr aufrechterhalten werden. Heidegger verdeutlicht dies am Beispiel einer Wandtafel: Um dieses Ding als Tafel zu erkennen, müssen wir das Begegnende zuvor überhaupt als ‚Ding‘ und nicht etwa als einen hervorhuschenden Vorgang festgestellt haben. Was zuvor und überhaupt als Ding genommen ist, dieses Begegnende, war wir antreffen und was uns in dem, was und wie es ist, trifft und angeht, müssen wir bei diesem ersten Zusammentreffen vernommen haben. Da begegnet Schwarzes, Graues, Weißes, Braunes, Hartes, Rauhes, Tönendes (wenn beklopft) Ausgedehntes, Flächiges, Bewegliches – also eine Mannigfaltigkeit von Gegebenem. Doch ist dies nun das Gegebene – das Sichgebende? Ist das nicht auch schon ein Genommenes, aufgenommen durch die Worte schwarz, grau, hart, rauh, gedehnt, flächig? Müssen wir nicht auch noch dieses unser Überfallen des Begegnenden durch das Wort, in dem wir das Begegnende festgenommen haben, zurücknehmen, um das rein Begegnende zu haben – begegnen zu lassen? Das Begegnende – ist von ihm überhaupt noch etwas zu sagen? Oder beginnt hier der Bezirk des Nichtmehrzusagenden und jenes Verzichtes, wo über seiend, unseiend und nichtseiend nicht mehr oder noch nicht entschieden werden kann?¹²⁶⁷

Die im Zuge dieser prädikatsreduzierenden Abstraktionskette in die Unbestimmbarkeit und Unbeständigkeit entlassenen Körper und Gegenstände können nicht mehr voneinander unterschieden werden, sie überlagern sich in ungeregelter Wirrnis. Wichtig ist, dass Heidegger das Chaos nicht als tumultuarisches Verfließen interpretiert, dem sich der menschliche Leib als unbeteiligter Ruhepol entziehen könnte. Soll das definitorisch präzisierte Chaos der „Name für einen eigentümlichen Vorentwurf der Welt im Ganzen und ihres Waltens“¹²⁶⁸ sein, muss der Mensch unumkehrbar in es involviert sein. Heidegger schließt die Forderung Nietzsches, den Leib zum „Leitfaden“¹²⁶⁹ der Weltauslegung zu machen, mit

nungen unsere Seele anfüllete, ohne daß doch daraus jemals Erfahrung werden könnte. Alsdenn fiele aber auch alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände weg, weil ihr die Verknüpfung nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen mangelte, mithin würde sie zwar gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns so viel als gar nichts sein.“  Heidegger, N I, S. 507– 508.  Heidegger, N I, S. 510.  Heidegger, N I, S. 510.Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1887, KGW VIII, 1, 2 [91], S. 104: „Wenn unser ‚Ich‘ uns das einzige Sein ist, nach dem wir Alles sein machen oder verstehen: sehr gut! dann ist der Zweifel sehr am Platze ob hier nicht eine perspektivische Illusion vorliegt – die scheinbare Einheit, in der wie in einer Horizontlinie alles sich zusammenschließt. Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit.“

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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dessen Charakterisierung als „Herrschaftsgebilde“¹²⁷⁰ verschiedener Triebe zusammen. Da das vom Leib zu bewältigende Chaos folglich kein gänzlich zugriffsentzogenes, „wüstes Durcheinander“¹²⁷¹ sein kann, gelangt Heidegger zu seiner Hauptbestimmung des Chaos als „Verborgenheit des unbewältigten Reichtums des Werdens und Strömens der Welt im Ganzen“.¹²⁷² Auffällig ist, dass er die Heraufstufung des Leibes zum Auslegungszentrum als „Weltentwurf aus dem Standort des Tiers und der Tierheit“¹²⁷³ begreift, wobei dieser als „Welle im Strom des Chaos“¹²⁷⁴ leibt. Auf diese Weise wird Nietzsche aus der Denkertrias eines rein rationalen Subjektivismus, bezeichnet durch Descartes, Kant und Hegel ausgeklammert. Weil sich innerhalb des Chaos kein letzter Grund ausmachen lässt und es sich in seinem Reichtum niemals gänzlich preisgibt, könnte in ihm die heraklitische Kryptophilie des Seins anklingen.¹²⁷⁵ Dies bekundet sich in Heideggers Beschreibung der „unerschöpflich sich überdrängenden und ungemeisterten Fülle“¹²⁷⁶ des Chaos mit Hilfe der Signaltopoi des „sich-Selbst-Schaffenden“¹²⁷⁷ und „sich-selbst-Zerstörenden“.¹²⁷⁸ Diese Termini hatte bereits Nietzsche selbst in seinem Werk Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen ¹²⁷⁹ zur Erläuterung des für ihn wichtigsten Heraklit-Fragmentes B 52 genutzt. Der Drang des Lebens darf sich nicht selbst annihilieren. Der Drang soll in der Mannigfaltigkeit von Neigungen, Trieben und Anblicken erhalten bleiben. Um nicht in das Nichts fortgetrieben zu werden, benötigt das lebendige Werden den

 Heidegger, N I, S. 510.Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1887, KGW VIII, 1, 2 [76], S. 90 f.  Heidegger, N I, S. 510.  Heidegger, N I, S. 510.  Heidegger, N I, S. 510.  Heidegger, N I, S. 512.  Vgl. Heraklit, DK 33 B 123, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 259: „φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ.“. Mansfeld und Primavesi übersetzen: „Natur pflegt sich versteckt zu halten.“ Vgl. zu Heideggers Auslegung dieses Fragments, der es mit: „Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt‘s die Gunst“ (GA 55, S. 110) wiedergibt: Heidegger, Heraklit, GA 55, hrsg. von Manfred Frings, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, S. 124– 131.  Heidegger, N I, S. 512.  Heidegger, N I, S. 512.  Heidegger, N I, S. 512. Heidegger verweist an dieser Stelle auf den Schlussaphorismus Nr. 1067 aus der Wille zur Macht.  Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA I, S. 827– 828. Vgl. Heraklit, DK 22 B 52, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 289: „αἰὼν παῖς ἐστι παίζων, πεσσεύων· παιδὸς ἡ βασιληίη.“ Dieses Fragment wird von Mansfeld und Primavesi wie folgt übertragen: „Das ewige Leben ist ein Kind, die Brettsteine setzend; die Herrschaft gehört einem Kind.“ Vgl. hierzu: Günter Wohlfahrt, „Also sprach Herakleitos.“ Heraklits Fragment B 52 und Nietzsches Heraklit-Rezeption, bes. S. 278 – 300; S. 318 – 344.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Leib als Grundlage der regulierenden Beständigung.¹²⁸⁰ Weil dieser selbst von einer chaotischen Vielheit durchflutet ist, gewinnt der Leib erst in der widerständigen Entgegnung gegen die rastlos anbrandenden Empfindungen seinen eigenen Stand. Durch das mit Hilfe der vorausgeworfenen Schemata arrangierte Einrücken in das Weltchaos kann der Leib „überhaupt bedrängbar und sich überdrängend sein“.¹²⁸¹ Diese Rückspiegelung, die Heidegger mit einem Hinweis auf die „lebendigen Spiegel“¹²⁸² der Monadologie stützt, könnte nicht geschehen, wenn einem exponierten Subjekt die Welt als Objekt gegenüberstünde: Die Schemata werden – als die zum Voraus in die Rechnung gestellten und das Berechnen erst regelnden Zuweisungen des Verhaltens des Menschen zu Mensch und Ding – nicht wie ein Stempel dem Chaos aufgedrückt, sondern sie werden zuvor ausgedacht und dann dem Begegnenden vorausgeschickt, so daß dieses erst und je schon im Horizont der Schemata, und nur in einem solchen erscheint. Das Schematisieren meint keineswegs ein schematisches Unterbringen des Ordnungslosen in fertige Fächer, sondern das in Rechnung stellende Ausdichten von Gestalten, in die Drang und Andrang einrücken müssen, um dergestalt das Lebendige mit einem Beständigen zu umstellen und ihm so die Möglichkeit seiner eigenen Beständigkeit und Sicherheit zu-zustellen.¹²⁸³

Die Ermöglichung haltgebender Sicherheit (und mit ihr die Besänftigung des Werdens zum vertraut Geronnenen) kann sich nur innerhalb einer apriorischen Konturierung des Begegnungsradius stabilisieren. Nichtsdestotrotz weist Heidegger – gegen Kant – auf die Flüssigkeit und Durchlässigkeit der Schemaaufprägung und der Horizontbildung hin: „Der Horizont […] ist keine Wand, die den Menschen abriegelt, sondern der Horizont ist durchscheinend, er weist als solcher hinaus auf das Nicht-Festgemachte, Werdende und Werdenkönnende, auf das Mögliche“.¹²⁸⁴ Zudem unterstreicht er, dass der Horizont, d. h. die „Eingrenzung des sich ausfaltenden Lebensvollzuges im Umkreis einer Beständigung des Andrängenden und Bedrängenden“¹²⁸⁵, von den Schemata gebildet wird.¹²⁸⁶ Die entscheidende Pointe liegt darin, dass sich die Einkreisung des Begegnenden nicht auf die vorauszusetzende Formgebung der Vernunft stützt. Umgekehrt leitet

 Vgl. Heidegger, N I, S. 514.  Heidegger, N I, S. 514.  Heidegger, N I, S. 512.Vgl. Leibniz, Monadologie, §56, S. 133: „Nun bewirkt diese Verbindung oder diese Anpassung aller geschaffenen Dinge untereinander und eines jeden mit allen anderen, daß jede einfache Substanz Bezüge hat, welche alle anderen ausdrücken, und daß sie also ein lebendiger, immerwährender Spiegel des Universums ist.“  Heidegger, N I, S. 522.  Heidegger, N I, S. 517.  Heidegger, N I, S. 516.  Vgl. Heidegger, N I, S. 516.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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die bevorzugte Art der Bestandsicherung die Konstituierung der Kategorien.¹²⁸⁷ Dennoch gelingt es Heidegger, Kant und Nietzsche einander anzunähern, weil er das Resultat des von Nietzsche beschriebenen Adaptionsganges der aus dem Geiste des praktischen Bedürfnisses¹²⁸⁸ entspringenden Vernunft in deren ursprüngliches Wesen einschreibt: Die Vernunft entfaltet ihre Begriffe und Kategorien gemäß der jeweiligen Richtung der Bestandsicherung. Also: nicht die Vernunft selbst, nicht ihr Wesen, entwickelt sich erst aus dem Bedürfnis der Chaos-Bewältigung, sondern sie ist in sich schon Chaos-Vernehmung, sofern das als Wirres Andrängende nur im Gesichtsfeld von Ordnung und Beständigkeit überhaupt vernehmlich wird und demzufolge als je so und so Bedrängendes je diese oder jene Festmachung, diese oder jene Schemabildung nahelegt und fordert.¹²⁸⁹

Hier kristallisiert sich nochmals in aller Deutlichkeit heraus: Da das Emporscheinen und die darauf aufbauende Bemeisterung des Chaos (und somit die Fortdauer des Lebens im Ganzen) erst innerhalb des Horizontes erfolgsversprechende Aussichten besitzen, darf dieser weder als starr-unveränderliche Grenzmauer fungieren noch als von außen herangetragene Reichweitenkapazität. Aus diesem Grunde ist der Horizont selbst permeabel, er ist unausgesetzt mit dem oszillierend Werdenden konfrontiert. Um der proteischen Wandlungen gewahr zu werden und in ihnen Anknüpfungspunkte zulässiger Formatierungen zu ermitteln, muss er unter Zuhilfenahme einer „vorausgebahnten Durchblicksbahn“¹²⁹⁰ durchleuchtet werden. Obwohl Heidegger die Nietzschesche Bedeutungsverschränkung von Horizont und Perspektive markiert¹²⁹¹, entfaltet er selbst einen unaufhörlichen Relationswechsel zwischen beiden. Die Perspektive richtet sich innerhalb des Horizontes auf das zwar noch nicht Geordnete, aber in seiner Vielfalt Begrenzte und Überschaubare. Um diese Ausrichtung aufrechterhalten zu können, umstellt sie sich mit einem neuen Horizont, der als Versammlungsstätte

 Vgl. Heidegger, N I, S. 516.  Im Hinblick auf Nietzsches Relationsbestimmung zwischen dem praktischen Bedürfnis und der sich gewissermaßen evolutionär entwickelnden Vernunft führt Heidegger den bislang ausgesparten Fortsetzungstext von Nr. 515 an. Dort heißt es: „In der Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien ist das Bedürfnis maßgebend gewesen: das Bedürfnis, nicht zu ‚erkennen‘, sondern zu subsummieren, zu schematisieren, zum Zwecke der Beständigung, der Berechnung…“ Vgl. Heidegger, N I, S. 523. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 351; Nietzsche, NF1888,14[152].  Heidegger, N I, S. 518 – 519.  Heidegger, N I, S. 517.  Vgl. Heidegger, N I, S. 517: „Oft setzt Nietzsche Horizont und Perspektive einander gleich und gelangt deshalb nie zu einer klaren Darstellung ihres Unterschiedes und ihres Zusammenhanges.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

des Verfestigten erneut auf das Werdende hin perspektivisch zu durchbrechen ist.¹²⁹² Im Gesamtblick auf Heideggers Nietzsche-Auslegung sind an diesem Punkt zwei Aspekte zu apostrophieren: Zum einen weist Heidegger auf eine Verschiebung in der tradierten Identifikation des Erkennens mit dem Vorstellen hin. Das Vor-stellen wandelt sich zum „Vor-stellen“. ¹²⁹³ Es handelt sich nicht um eine unbedeutende Nuancierung. Die Gegenstände, die bislang in ihrer Gegebenheit für ein Subjekt betrachtet wurden, das bewusstseinsimmanente Abbilder generierte oder auf ein Ding an sich als Korrelat der äußeren Gegenstände angewiesen blieb, werden nun aktiv in den verfügbaren Umkreis hineingezogen, in bestimmte Schemata eingeordnet und dergestalt zugleich dem Bildner des Horizontes untergeordnet. Zum anderen ist im Hinblick auf Heideggers spätere Besinnung auf die Technik signifikant, dass er in diesen Erkenntnisvorgang als „Dar-stellen im Gestell einer Gestalt“ beschreibt.¹²⁹⁴ Obzwar er die geschilderte Praxis einer Einhegung des Anwesenden als „Grundgesetz des menschlichen Lebensvollzuges als solchen“¹²⁹⁵ versteht und somit deren Unumgänglichkeit einräumt, präfiguriert die Verwendung des Topos eines „in-Rechnung-Stellens“¹²⁹⁶, worin sich das Abfangen des sich Widersetzenden bekundet, das Kalkül des rechnenden Willens zur Macht. In der Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Bildung und die Aufprägung der Schemata vonstattengehen, scheint Heidegger im Abschnitt das Dichtende Wesen der Vernunft ¹²⁹⁷ die anklingende Einsicht in die Veränderbarkeit kategorialer Welterfassung zunächst zu revozieren. Seine Argumentationslinie

 Vgl. Heidegger, N I, S. 517 f.  Heidegger, N I, S. 519.Vgl. hierzu auch Heideggers Auseinandersetzung mit Schopenhauers Begriff der Vorstellung, in: Heidegger, Was heißt Denken?, GA 8, hrsg. von Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt a. M. 2002, S. 41– 47.  Heidegger, N I, S. 519. Vgl. Heidegger, Die Technik und die Kehre, 13. Aufl., Stuttgart 2014, S. 20: „Das Wort ‚stellen‘ meint im Titel Ge-stell nicht nur das Herausfordern, es soll zugleich den Anklang an ein anderes ‚Stellen‘ bewahren, aus dem es abstammt, nämlich an jenes Her-undDarstellen, das im Sinne der Poiesis das Anwesende in die Unverborgenheit hervorkommen läßt.“  Heidegger, N I, S. 523.  Heidegger, N I, S. 522.Vgl. Andreas Luckner, Heidegger und das Denken der Technik, 1. Aufl., Bielefeld 2008, S.102: „Die Grundoperation des methodischen, nach Heidegger ‚nachstellendsicherstellenden‘ Vorgehens ist charakteristisch für die gesamte neuzeitliche Naturwissenschaft bis heute: Messbarkeit und exakte Berechenbarkeit ist ein Kriterium dafür, dass überhaupt etwas als Naturvorgang angesehen wird. Das bedeutet aber nichts anderes, wie man in Anschluss an Heidegger zeigen kann, dass die neuzeitliche Wissenschaft ab ovo technisch, d. h. auf die Möglichkeit des Herstellens hin angelegt ist.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 524– 532.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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überschneidet sich dabei weitgehend mit derjenigen Platons im Theaitetos. ¹²⁹⁸ Um Veränderungen an einem Lebewesen oder Gegenstand wahrnehmen zu können, muss dieser als in seinem Wechsel beharrender gedacht werden. Heidegger wählt hier das Beispiel einer je nach Jahreszeiten, Wetterlage, Lichteinfall etc. verschiedenartig aussehenden Birke.¹²⁹⁹ Dieser Baum muss in jeder späteren Betrachtung und in der Vielfalt möglicher Blickwinkel als dieser gleiche je aufs Neue gesetzt werden, seine Selbigkeit muss ihm inmitten des Wechsels vorausgedichtet werden. Dieser „dichtende Charakter“¹³⁰⁰ ist nichts anderes als das „Wesen der Vernunft“.¹³⁰¹ In Übereinstimmung mit Platons Theorie der Koina und Kants Kategoriendenken macht Heidegger deutlich, dass die Wesensbestände der Gleichheit, Differenz, Beziehung, Beschaffenheit, Einheit und Vielheit niemals in der sinnlichen Anschauung selbst begegnen können, sondern ihr ermöglichend vorausgehen müssen.¹³⁰² Obschon der Terminus der Dichtung die Konnotation eines freischwebenden Entwerfens besitzt und das Dichten in der Hölderlin-Vorlesung aus dem Wintersemester 1934/1935 sogar als „Stiftung des Seyns“¹³⁰³ verstanden wird, bedeutet es in diesem Kontext nichts anderes als die Voraussetzung der Kategorien als erfahrungsunabhängiger Bündelungsklassen. Deren Herkunft wird in der platonischen Anamnesis-Lehre anhand der pränatalen Ideenschau erläutert. Indem Heidegger den im Phaidros ¹³⁰⁴ geschilderten Hineinfall der Idee in die Seele des irdischen Menschen als „griechische Auslegung des dichtenden Wesens der Vernunft“¹³⁰⁵ expliziert, gelingt es ihm, Nietzsches gegenläufige Distanzierung vom Platonismus wieder in diesen einzurücken. Dies dekuvriert Heidegger anhand des folgenden Nietzsche-Zitats, das ebenfalls dem Stück Nr. 515 aus Der Wille zur Macht entnommen ist:

 Vgl. Platon, Theaitetos 185d.  Vgl. Heidegger, N I, S. 525.  Heidegger, N I, S. 526.  Heidegger, N I, S. 526.  Vgl. Heidegger, N I, S. 526.  Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, hrsg. von Susanne Ziegler, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 35.  Vgl. Platon, Phaidros 249b, übers. von Kurt Hildebrandt, Stuttgart 2012, S. 48: „Denn, wie schon gesagt worden, hat jede menschliche Seele zwar ihrer Natur nach das Seiende durchschaut, weil sie sonst nicht in solches Geschöpf eingegangen wäre, doch fällt es nicht allen leicht, sich aus den irdischen Erscheinungen an das Seiende zu erinnern, sei es, daß sie beim Sturz auf diesen Ort hier das Mißgeschick betraf, in eine schlechte Gesellschaft zu geraten, so daß sie das Heilige vergaßen, daß sie einstmals geschaut.“  Heidegger, N I, S. 527.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Hier hat nicht eine präexistente ‚Idee‘ gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleichgemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden…¹³⁰⁶

Heidegger grenzt die apriorische Nützlichkeit als Bedingung jedes situativen Nutzens von einem utilitaristischen und pragmatischen Standpunkt ab. Er führt die Nützlichkeit mit der Praxis als Lebensvollzug eng. Unter stillschweigendem Rückgriff auf Platons Ernennung von Vernunft, Leben und Seele zu Wechselbegriffen¹³⁰⁷ zeigt Heidegger auf, dass die Idee bei Platon ebenfalls dem Leben entspringt respektive als wahrhaft Seiendes in dieses eingebunden bleibt. Auf dieser Basis kann Heidegger die Wesensidentität beider Herangehensweisen behaupten.¹³⁰⁸ Es darf indes nicht unterschlagen werden, dass Heidegger sich in der Erläuterung des Zitats wieder von dieser Kontinuitätsthese abwendet und sich kurzzeitig auf diejenige Theorie der Wahrheitserdichtung einlässt, die Nietzsche bereits in der 1873 verfassten Schrift Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne dargelegt hatte.¹³⁰⁹ Dass Farbworte wie rot oder blau eine unerschöpfliche Variation von Farbtönen einbegreifen können, ist das Resultat einer inkommensurable Sphären überspringenden, in ihrer Provenienz vergessenen Vereinfachungskette. Diese beginnt mit dem anfänglichen Nervenreiz, der in die bildliche Repräsentation einer individuellen Empfindung übertragen wird. Dieses Bild wird zu einer Metapher geformt, bis der Begriff das vormals Ungleiche vergleichbar und somit auch mitteilbar macht.¹³¹⁰ Heidegger schließt sensualistische oder empiristische Assoziationen allerdings aus, wenn er betont, dass Gegenstände gar nicht mehr anders begegnen können denn als vorgestaltete Bewältigungsgebilde für die Bestandsicherung, weil die apriorischen Kategorien sich gegen jedwede Kontingenzerfahrung abriegeln: Die Kategorien der Vernunft sind Horizonte der Ausdichtung, welche Ausdichtung dem Begegnenden erst jene freie Stelle einräumt, von der aus und auf die es gestellt es als ein Beständiges, als Gegenstand zu erscheinen vermag.¹³¹¹

 Heidegger, N I, S. 528. Vgl. Nietzsche, Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 351; Nietzsche, NF-1888,14[152].  Vgl. Platon, Sophistes 249a.  Vgl. Heidegger, N I, S. 528.  Vgl. Heidegger, N I, S. 529.  Vgl. Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1, S. 879 – 880.  Heidegger, N I, S. 529.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Heidegger begreift die Kategorien an dieser Stelle nicht mehr als Wirkkräfte einer vergänglichen, durchlässigen Horizontbildung, die sich dem frei aufscheinenden Werdenden bereitwillig aussetzt, ja aussetzen muss, um zu bestehen. Er exponiert sie nun als standfeste „Horizonte der Ausdichtung“¹³¹², d. h. als verzweigte Grundbahnen der Vereinfachung, die über das Hervorkommen der Dinge in den jeweiligen Gesichtskreis entscheiden. Sie eröffnen je auf eigene Weise den Raum für das Gleiche, das Verschiedene, das Relative, um es in der Konzentration auf ein einzelnes Seiendes zusammenzuschließen. Die Pluralität der Perspektiven wird zwar gewahrt, aber in den Einheitssinn der Vernunft zurückverlagert, welcher von der „Grundkategorie“¹³¹³ der Finalität aufrechterhalten wird. Obgleich Heideggers Kritik an einer instrumentellen Vernunft im Hintergrund präsent ist, bindet er auch den Gehalt des folgenden Nietzsche-Satzes an das griechische Denken zurück: Die Finalität in der Vernunft ist eine Wirkung, keine Ursache.¹³¹⁴

In der Deutung dieser auch im originalen Textzusammenhang von Nr. 515 ausgesprochen anspruchsvollen Äußerung grenzt Heidegger die Finalität nur vordergründig von der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre ab. Nietzsches Explikation der Finalität als Wirkung sieht er nicht in einem diametralen Gegensatzverhältnis zur aristotelischen Privilegierung der Zweckhaftigkeit als derjenigen Ursache, welche die planende Hinsicht und die Anfertigung leitet. Nietzsche gehe nur einen Schritt hinter Aristoteles zurück und ergründe gewissermaßen die Ursache der Ursache: Die Finalität kann in der Lebenswelt nur deswegen die ursächlich-handlungsorientierende Funktion einer Voraussicht auf die Endgestalt und den Besorgungssinn übernehmen, weil sie als Kategorie von dem dichtenden Charakter der Vernunft hervorgebracht, d. h. erwirkt wurde, um deren grundlegende Verfahrensweise des Ausgreifens auf Beständiges überall zu garantieren.¹³¹⁵ Da die Vernunft als Chaos-Vernehmung aber für Heidegger nur einen einzigen Zweck verfolgen kann – den der Festmachung – erscheint die These vertretbar, dass er (über Nietzsche hinausgehend) im Zweckbegriff Ursache und Wirkung zusammenfallen und die Vernunft auf eine zirkuläre Struktur zusteuern lässt. Zum Zwecke der Beständigung und somit der eigenen Wesenserhaltung verfolgt  Heidegger, N I, S. 529.  Heidegger, N I, S. 531.  Heidegger, N I, S. 529. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 351; Nietzsche, NF1888,14[152].  Vgl. Heidegger, N I, S. 531.

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die Vernunft mit Hilfe der Kategorie der Finalität den Zweck, alles Seiende in eine ausdichtende, d. h. teleologische Bahn zu versetzen, in deren Durchgang dieses und sie selbst eine hinreichende Bekanntheit und Regelmäßigkeit erlangen. Weil jede andere Vorstellungsweise die Performativität des Lebens aufhöbe, ist es für diese von essentieller Bedeutung, Anklänge alternativer Welterfahrung auszuschließen. Deswegen kann das ursprüngliche Chaos niemals erkannt werden, wie Nietzsche in Nr. 515 folgert: „[…] bei jeder anderen Art Vernunft, zu der es fortwährend Ansätze gibt, mißrät das Leben, – es wird unübersichtlich – zu ungleich“.¹³¹⁶ An dieser Stelle wird die Frage virulent, ob es neben dem potenziellen Niedergang des Lebens einen weiteren Sicherungsgrund für die Präponderanz der lebensbedingenden Vernunft gibt.¹³¹⁷

1.7.6 Der Satz vom Widerspruch als Imperativ Ausgehend vom Schlussabschnitt des Aphorismus Nr. 515 aus Der Wille zur Macht, scheint jeder Versuch, gegen die Verfestigungsnotwendigkeit zu opponieren, von Seiten des Lebens selbst verhindert zu werden: Die subjektive Nötigung, hier nicht widersprechen zu können, ist eine biologische Nötigung.¹³¹⁸

 Heidegger, N I, S. 531. Vgl. Nietzsche, Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 351; Nietzsche, NF-1888,14[152]. Vgl. auch Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII, 2, 9 [91], S. 50: „Gegen die anscheinende Zweckmäßigkeit – letztere ist nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel.“  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §27, S. 204: „Die Erkenntnis überhaupt, vernünftige sowohl als bloß anschauliche, geht also ursprünglich aus dem Willen selbst hervor, gehört zum Wesen der höhern Stufen seiner Objektivation als eine bloße μηχανή, ein Mittel zur Erhaltung des Individuums und der Art, so gut wie jedes Organ des Leibes.“ Vgl. Nietzsche, NF Sommer–Herbst 1884, KGW VII, 2, 26 [137]: „Wie weit auch unser Intellekt eine Folge von Existenzbedingungen ist – wir hätten ihn nicht, wenn wir ihn nicht nötig hätten und hätten ihn nicht so, wenn wir ihn nicht so nötig hätten, wenn wir auch anders leben könnten.“ Indem Nietzsche die transzendentalidealistische Epistemologie Schopenhauers streicht, die eine allgemeingültige Welterfassung verbürgen soll, verschärft er dessen Explikation der Dienernatur des Intellekts. Vgl. Nietzsche, NF Sommer 1883, KGW VII, 1, 24 [14]: „Der Mensch glaubt an ‚Sein‘ und an Dinge, weil er ein formen- und rhythmenbildendes Geschöpf ist. Sein Mittel, sich zu ernähren und die Dinge sich anzueignen ist, sie in ‚Formen‘ und Rhythmen zu bringen: das Begreifen zuerst nur Schaffen der ‚Dinge‘. Erkenntnis ein Mittel der Ernährung.“  Heidegger, N I, S. 533. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 352; Nietzsche, NF1888,14[152].

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Die Widerspruchsvermeidung steht demnach in den Diensten einer Weltorientierung, in der sich das Leben des Satzes vom Widerspruch, dem „Greifwerkzeug“¹³¹⁹ der Vernunft, bemächtigt, um sich in der Gestalt des einzelnen Leibes dem waltenden Chaos zu entziehen. Dies führt erneut auf das aristotelische Erbe zurück, nämlich zur Aufstellung des Satzes vom Widerspruch im IV. Buch der Metaphysik. ¹³²⁰ Die Unmöglichkeit der Affirmation eines Sachverhaltes bei simultanem Festhalten an seinem Gegensatz gründet laut Nietzsche jedoch nicht in einer unantastbaren Denknotwendigkeit, sondern in einem „Nichtvermögen“.¹³²¹ Die Bewahrheitung dieser These bekundet sich für Nietzsche in der Form eines „subjektive[n] Erfahrungssatz[es]“¹³²²: Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine ‚Notwendigkeit‘ aus, sondern nur ein Nichtvermögen. ¹³²³

Eingangs weist Heidegger darauf hin, dass sich in der menschlichen Lebenswelt eine Vielfalt von Widersprüchen entfaltet, die sich auflösen, verschärfen und zementieren können. Es scheint außerdem problemlos möglich zu sein, einer Sache kontradiktorische Prädikate zuzusprechen.¹³²⁴ Offenkundig wird die Entstehung von Widersprüchen von keiner höheren Gesetzmäßigkeit unterbunden. Es ließe sich nun folgern, dass es die daraus resultierende Einsicht in die ersichtliche Aufhebbarkeit und Unwirksamkeit des Gebots der Widerspruchsvermeidung war, die eine Institutionalisierung des obersten Denkgesetzes veranlasste. Einer solchen Interpretation, wonach der Satz vom Widerspruch erst sukzessive zum verdichteten Verbot logisch und empirisch widersinniger Aussagen aufgerichtet wurde, entzieht Heidegger die Grundlage. Er bestreitet, dass der Satz vom Widerspruch eine aus der Erfahrung geschlossene, geronnene Nutzenerwägung bedeuten könnte. Vielmehr kann die spezifische Gegebenheit einer Ansicht, eines Gegenstandes oder einer Tatsache laut Heidegger nur dann mit

 Vgl. Heidegger, N I, S. 535: „So wie bestimmte Seetiere, z. B. die Medusen, ihre Greif- und Fangwerkzeuge ausbilden und ausstrecken, so benützt das Tier ‚Mensch‘ die Vernunft und deren Greifwerkzeug, den Satz vom Widerspruch, um sich in seiner Umgebung zurechtzufinden und dabei den eigenen Bestand zu sichern.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 536.  Heidegger, N I, S. 537. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 516, S. 352; Nietzsche, NF1887,9[97].  Heidegger, N I, S. 537. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 516, S. 352; Nietzsche, NF1887,9[97].  Heidegger, N I, S. 537. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 516, S. 352; Nietzsche, NF1887,9[97].  Vgl. Heidegger, N I, S. 537.

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einer anderen verglichen, von ihr unterschieden und in eine ihr widersprechende Position gebracht werden, wenn im Vorhinein sichergestellt wurde, dass keiner der beiden Vergleichspole permanent in sein Gegenteil umschlägt.¹³²⁵ Heidegger verortet den Satz vom Widerspruch daher auf einer transzendentalen Ebene. Im Rahmen dieser Verlagerung fundiert er seine spätere Hauptthese, dass sich in Nietzsches Denken die befreite Animalitas, die für Heidegger mit dem Terminus „Leben“ nahezu identisch ist, mit der hochgestuften neuzeitlichen Vernunft verbünde. Die Vernunftsubjektivität vollende sich in der Philosophie Hegels.¹³²⁶ Um die geschichtliche Vergleichsdimension zu eröffnen, unterstreicht Heidegger, dass Aristoteles den Satz vom Widerspruch als ontologische Wesensbestimmung erkannt habe. In dieser Einsicht spreche sich das reine Sich-Zeigen des Seins in seiner entborgenen Anwesenheit als οὐσία aus.¹³²⁷ Diese bewahrt ihre überdauernde Gegenwart, indem sie den bejahenden Hinblick auf die fundamentale Kontradiktion ihres Anwesens als das schlechthin „Unmögliche“¹³²⁸ von sich ausschließt. Aufgrund dieses Wiedereinbezuges des Satzes vom Widerspruch in die Ontologie kann Heidegger behaupten, dass die Allgewalt des Satzes im einigenden Logos des Heraklit¹³²⁹ und in der Hegelschen Wissenschaft der Logik ¹³³⁰ nicht aufgelöst werde. Stattdessen werde der Satz vom Widerspruch in der  Vgl. Heidegger, N I, S. 539.  Vgl. Heidegger, N II, S. 178: „Jedesmal geht in jene dieser beiden Gestalten der unbedingten Subjektivität das Wesen des Menschen in einer je verschiedenen Rolle ein. Allgemein und durchgängig ist durch die Geschichte der Metaphysik hindurch das Wesen des Menschen als animal rationale festgelegt. In Hegels Metaphysik wird die spekulativ-dialektisch verstandene rationalitas bestimmend für die Subjektivität, in Nietzsches Metaphysik wird die animalitas (Tierheit) zum Leitfaden. Beide bringen, in ihrer wesensgeschichtlichen Einheit gesehen, die rationalitas und die animalitas zur unbedingten Geltung.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 538 – 539; S. 542– 546. Vgl. Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B, 1, in: Heidegger, Wegmarken, S. 299: „Die φύσις dagegen ist die aus sich selbst her und auf sich selbst zu unterwegige Anwesung der Abwesung ihrer selbst. Als solche Abwesung bleibt sie ein In-sich-zurück-Gehen, welches Gehen jedoch nur Gang ist eines Aufgehens.“  Heidegger, N I, S. 538.  Heidegger, N I, S. 539.Vgl. zu Heraklits „Aufhebung“ des Widerspruchverbotes: Heraklit, DK 22 B 88, in: Mansfeld/Primavesi, (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 269 – 270: „ταὐτό τ’ ἔνι ζῶν καὶ τεθνηκὸς καὶ [τὸ] ἐγρηγορὸς καὶ καθεῦδον καὶ νέον καὶ γηραιόν· τάδε γὰρ μεταπεσόντα ἐκεῖνά ἐστι κἀκεῖνα πάλιν μεταπεσόντα ταῦτα.“ Mansfeld und Primavesi übersetzen: „Dasselbe ist: lebendig und tot und wach und schlafend und jung und alt. Denn dieses ist umschlagend in jenes und jenes umschlagend in dieses.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 539 – 540. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Die objektive Logik. Lehre vom Sein,Werke 5, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986, S. 75: „Dasein ist Sein mit einem Nichtsein. Es ist Sein, einfache Beziehung auf sich selbst, aber nicht mehr als Unmittelbarkeit, sondern als negative Beziehung auf sich selbst; diese macht sein

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sachgerechten Akzentuierung der „Widerwendigkeit des Seins“¹³³¹ von der alleinigen Herrschaft auf sprachlich-logischer Ebene abgelöst. In seiner HeraklitVorlesung aus dem Jahre 1943 untermauert Heidegger im Rekurs auf die Fragmente 8, 51 und 54 die Zusammengehörigkeit des aus der unscheinbaren Physis aufgehenden Hinausspannens in die Gegenstrebigkeit mit dem darin geschehenden Zurückfahren in die versammelnde Fügung.¹³³² Im Gegensatz zu Aristoteles, versteht Nietzsche das „Unmögliche“ nach Heidegger nicht als Wesensbestimmung des Seins des Seienden, das in seinem Anwesen nicht zugleich Nicht-Anwesen sein kann. Heidegger argumentiert, dass das „Unmögliche“ bei Nietzsche gänzlich auf die „Verfassung unseres Denkvermögens“¹³³³ übergegangen sei und dergestalt das „subjektive Nichtkönnen“¹³³⁴ der gleichzeitigen Bejahung und Verneinung desselben bezeichne. Die als Gegenbegriff eingeführte „Notwendigkeit“¹³³⁵ drückt nach Heidegger hingegen das von Nietzsche gerade bestrittene „objektive Nichtzulassen“¹³³⁶, d. h. die von Seiten des Objekts verwehrte Möglichkeit der Widerspruchsbildung aus. Auf dieser Basis legt Nietzsche den Satz vom Widerspruch als Imperativ aus, der seine Voraussetzungen nicht zu begründen imstande ist: Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maßstäbe und Mittel, um Wirkliches, den Begriff ‚Wirklichkeit‘, für uns erst zu schaffen?… Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über Das, was als wahr gelten soll.¹³³⁷

Der Satz vom Widerspruch kann sowohl die vorgängige Bezugnahme auf das Seiende als auch den Anspruch, aus einer Kenntnis des Seienden zu entspringen, offenkundig nur suggerieren. Er reißt zwar die Dissonanz von Wahrheit und Irrtum auf, aber nur, weil er auf das ursprünglichere, weltformend-weltbemächtigende Bedürfnis reagiert, eine Sache eindeutig klassifizieren zu müssen. Aus diesem Grund können die Axiome weder als unanfechtbare Denkgesetze noch als Sein aus. So ist es Etwas. Hier kehrt sich also am Dasein das Moment des Nichtseins heraus. Etwas als Daseiendes unterscheidet erstlich sein Moment der Negativität von ihm selbst als seine Grenze.“  Heidegger, N I, S. 540.  Vgl. Heidegger, Heraklit, GA 55, S. 153 ff.  Heidegger, N I, S. 539.  Heidegger, N I, S. 539.  Heidegger, N I, S. 539.  Heidegger, N I, S. 539.  Heidegger, N I, S. 547.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 516, S. 352 f.Vgl. Nietzsche, NF1887,9[97].

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Produkte induktiv gewonnener Regelhaftigkeit markiert werden. Da die logischen Begriffe jedoch auch nicht die Gedanken Gottes vor der Schöpfung repräsentieren, können sie nicht als wahrheitsanzeigende Korrelate der Wirklichkeit in einem Absoluten gegründet sein. Wenn sie sich weder aus der Anschauung erschließen lassen noch als flankierende oder innere Gesetzmäßigkeit der Realität qualifiziert werden können, muss dafür optiert werden, dass sie diese erst hervorrufen, sie „schaffen“: Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über Das, was als wahr gelten soll.¹³³⁸

Hier zeichnet sich eine gewichtige Herausforderung für Heideggers Auslegung ab. Indem Nietzsche den Satz vom Widerspruch zur Maßsetzungsinstanz erhebt, bringt er eine Wahrheitskonzeption ins Spiel, die nicht mehr innerhalb der Korrespondenztheorie verhandelt werden kann, da sie diese allererst begründet. Als Prinzip aller Axiome befiehlt der Satz vom Widerspruch die eindeutige, vorausdichtende Schematisierung der Dinge und erwirkt überwältigend das menschliche Unvermögen, jenseits der ausdichtenden Setzungsnotwendigkeit und des Für-wahr-haltens eine absolute Wahrheit zu gewinnen.¹³³⁹ Hinsichtlich der Standortbestimmung dieses Für-wahr-haltens lässt sich allerdings eine Ambiguität konstatieren. Während es einerseits als nachfolgende Akzeptanz einer schematisierten Formation gefasst werden kann, bezieht es sich andererseits auf die maßgebenden Konstituenten der Erkenntnis selbst: Auf die Wahrnehmung und das vergleichende Urteil. Dieser vermeintliche Widerstreit lässt sich indes auflösen, weil das Für-wahr-halten der logischen Begriffe, das in jeder kategorialen Voraus-Setzung präsent ist, auch deren Produkt das Gepräge der Wahrheit verleihen muss. Die doppelte Wirksamkeit des Für-wahr-haltens lässt sich anhand einer Aufzeichnung aus dem Nachlass bekräftigen: Das Auszeichnende an dem gewöhnlich als einzig gedachtem ‚Bewußtsein‘, am Intellecte, ist gerade, daß er vor dem unzählig Vielfachen in den Erlebnissen dieser vielen Bewußtseins geschützt und abgeschlossen bleibt und, als ein Bewußtsein höheren Ranges, als eine regierende Vielheit und Aristokratie, nur eine Auswahl von Ergebnissen vorgelegt bekommt, dazu noch lauter vereinfachte, übersichtlich und faßlich gemachte, also gefälschte Ergebnisse, – damit er seinerseits in diesem Vereinfachen und Übersichtlichmachen, also Fäl-

 Heidegger, N I, S. 547. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 516, S. 353; Nietzsche, NF1887,9[97].  Vgl. Heidegger, N I, S. 552. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1887, KGW VIII, 1, [5], S. 209:“Alles, was als ‚Einheit‘ ins Bewusstsein tritt, ist bereits ungeheuer kompliziert: wir haben immer nur einen Anschein von Einheit.“

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schen fortfahre und das vorbereite, was man gemeinhin ‚einen Willen‘ nennt. [….] Das aber, was unserem Intellecte diese Auswahl vorlegt, was schon die Erlebnisse vorher vereinfacht, angeähnlicht, ausgelegt hat, ist jedenfalls nicht dieser Intellect.¹³⁴⁰

Nietzsche radikalisiert Schopenhauers Gedanken einer konstitutiven Dunkelheit und Unzulänglichkeit des zum Zwecke der Lebensbewältigung geschaffenen Intellekts, indem er diesen intern vervielfältigt und als Spitze einer Mehrheit von Bewusstseinsformen ausdeutet. Weil sich erst im Lichtkegel derjenigen synthetisierten Zusammenballungen, die aus der unbewussten Undurchdringlichkeit heraustreten, ein intentionaler, inhaltserfüllter Willensakt konturiert, kann dieser in seiner individuellen Ausprägung nicht als ursprüngliches Movens der Erkenntnisbildung wirken. Es muss also eine Instanz geben, die dem Bewusstsein die eindeutigen Vorstellungen von „Ich“, „Substanz“, „Identität“ und „Differenz“ vorlegt, die dieses dann auf eine Welt anwendet, in der es an sich keine Gleichheit und keine Diremtion von Subjekt und Objekt und von Ursache und Wirkung gibt. Erst an diesem Punkt kann die transzendentalphilosophische Rekonstruktion einsetzen. Die entscheidende Einsicht Nietzsches liegt nun darin, dass zwar viel von der Illusion eines selbstidentischen Subjekts, der unzulässigen Vergegenständlichung des Willensbegriffes und der Vielheit der im Willen ringenden Triebe gesprochen werden kann. Dennoch wird kein Mensch umhin können, sich zwecks Lebenserhaltung als diese eine Person mit jeweils klar benennbaren Intentionen innerhalb einer geordneten Welt zu begreifen. Dies meint Nietzsche mit der „biologischen Nötigung“¹³⁴¹ des „Nicht-widersprechen-könnens“¹³⁴², die der Satz vom Widerspruch dekretiert: Obwohl die Täuschungen theoretisch durchschaut worden sind, ändert dies überhaupt nichts am grundlegenden, schematisierenden Weltbezug. Die menschliche Erkenntnis, die selbst nur durch den Urbefehl der Widerspruchslosigkeit zustande kommt, verlängert diesen „Instinkt der Nützlichkeit“¹³⁴³ in die eigene Horizontziehung und befolgt auf diese Weise die Lebensnotwendigkeit der Festmachung. Gemäß dem obigen Zitat konstituiert sich die Erkenntnis durch Teilhabe an einer weder intellektuell noch voluntativ zu durchdringenden Instanz, die das Auszuwählende und das Wahlvermögen in das

 Nietzsche, NF Juni–Juli 1885, KGW VII, 3, 37 [4].  Heidegger, N I, S. 551. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 352; Nietzsche, NF1888,14[152].  Heidegger, N I, S. 551. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 352; Nietzsche, NF1888,14[152].  Heidegger, N I, S. 551. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 515, S. 352; Nietzsche, NF1888,14[152].

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Gewand der Wahrheit hüllt. Heidegger hat mit seiner Aufrichtung der Gerechtigkeit zu einem metaphysischen Leitbegriff insofern ein waches Gespür bewiesen, als sie genau jene rätselhafte Leerstelle füllt, die Nietzsche offen lässt. Weil die notwendige Horizontziehung auf einem Imperativ aufruht, unternimmt Heidegger den bedenkenswerten Versuch, sie aus einer ursprünglichen Freiheit abzuleiten. Darüber hinaus exponiert Heidegger die befehlende Ausdichtung sogar als Gründung der Möglichkeitszugänglichkeit: Die Notwendigkeit – das Müssen des Befehlens und Dichtens – entspringt der Freiheit. Zum Wesen der Freiheit gehört das Bei-sich-selbst-sein, dieses, daß ein Seiendes freier Art sich selbst einfallen, daß es sich selbst in seinen Möglichkeiten zugeben kann.¹³⁴⁴

Das von Schelling¹³⁴⁵ und Hegel¹³⁴⁶ als Freiheit des Geistes gekennzeichnete Beisich-selbst-sein wird von Heidegger in die Perspektive verlagert, deren Bedingtheit und Funktionalität er vorher markant umrandet hatte. Es handelt sich sicherlich um eines der bedeutendsten Zugeständnisse, das Heidegger gegenüber Nietzsche macht. Da Heidegger die Freiheit jeder einzelnen Perspektive nicht in der unvergleichlich-partikularen Weltbildung sehen möchte, läge eine weit größere Evidenz darin, die Postulierung einer unanfechtbar-biologischen Erkenntnisnötigung als ultimative Leugnung menschlicher Freiheit zu interpretieren. Auch wenn Heidegger zugutegehalten werden könnte, dass sich das im Willen zur Macht erschlossene, die positive Freiheit verbürgende Verbindungsgefüge von Befehl und Gehorsam in der Erkenntnisstruktur des Menschen wiederholt, so ist doch darauf hinzuweisen, dass sich im Falle der Erkenntnis der Befehlende nicht in den Gesichtskreis des Befohlenen hineinnimmt und deswegen unbekannt bleibt. Allerdings eröffnet die Nichtlokalisierbarkeit des Befehlsursprungs einen Abgrund, in dem die Freiheit als Grundlosigkeit walten könnte. Die Notwendigkeit  Heidegger, N I, S. 553.  Vgl. Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 69 – 70: „Von dem, was bloß an sich ist, nicht von sich weggeht, kann man eigentlich nicht sagen, daß es bei sich ist. Bei-sich-seyn heißt im außer-sich-Seyn an sich (in seinem Wesen) bleiben und bestehen, sein An-sich, sein Wesen, sein Selbst nicht verlieren im außer-sich-Seyn. Für dieses sich selbst Besitzende, bei-sich-Bleibende, das im Actus Potenz, im Seyn Macht zu seyn bleibt, hat nun aber die Sprache kein anderes Wort als Geist. Dem Geist allein ist es gegeben, im Actus Potenz, im Wollen Quelle des Wollens, d. h. Wille, zu bleiben, und umgekehrt, lautrer Wille zu seyn, indem er wollend ist.“ Zu den willenstheoretischen Aspekten des Schellingschen Denkens vgl. den 2. Teil dieser Arbeit.  Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 588: „In dem Wissen hat also der Geist die Bewegung seines Gestaltens beschlossen, insofern dasselbe mit dem unüberwundenen Unterschiede des Bewußtseins behaftet ist. Er hat das reine Element seines Daseins, den Begriff, gewonnen. Der Inhalt ist nach der Freiheit seines Seins das sich entäußernde Selbst oder die unmittelbare Einheit des Sichselbstwissens.“

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des dichtenden Weltzugangs kann allein aus der unbeeinflussbaren Souveränität des jeden Einzelbefehl übergreifenden Grundimperativs erklärt werden, der den Menschen in den Kategoriengebrauch hineinstellt und zur Perspektivenbildung verpflichtet. In diesem Fall könnte selbst das unweigerliche Einlassen in die Perspektive der ersten, sich selbst gründenden Freiheit antworten und sie weitertragen. Die dichtende Vorprägung der Kategorien leistet den vereinfachenden Ausgriff auf das als seiend zu Klassifizierende. Das in diesem Modus reüssierende Befehlen kann sich nicht an einer an sich bestehenden Wahrheit orientieren. Weil die bloß nachahmende Ausrichtung am bereits Verfestigten aber die zu Zwecken der Bestandsicherung geforderte, dynamische Verflechtung von Erkenntnis und Kunst sedieren würde, vollzieht sich in Nietzsches Denken die Kehre der Wahrheit als Angleichung. ¹³⁴⁷ In einem dialektischen Umschlag führt der Einsturz der Übereinstimmungswahrheit deren uneingeschränkte Herrschaft herbei. Der vermeintliche Untergang der zwischen Physis und Logos, Theonomie und menschlicher Maßausrichtung, εἶδος und Ideenblick (ϑέα), Sache und Gedanke, Signifikant und Signifikat vermittelnden, ja diese Unterscheidungsweisen zusammenfügend aufreißenden Wahrheit gewährt die unhinterfragte Vergessenheit, in die sich der Aufgang der Gerechtigkeit hüllt. Während die frühere Homoiosis ein in seiner Realexistenz nicht bestrittenes Substrat voraussetzte, von dem sie abhing und an dem sie sich orientierte, wird nun das eigens zugelassene Chaos zum Ausgangspunkt und Reservoir willensgesteuerter Zwecksetzungen. Damit verschiebt sich die Vielfalt des Chaosbegriffs deutlich zur Hesiodschen Deskription als klaffende Offenheit, die jedoch selbst noch geschaffen werden muss. Das Chaos fungiert nicht mehr als Chiffre für das rastlose Überschlagen der Werdenswelt. Seine Wesensbestimmung findet es aber ebenso wenig in der im Akt der Schematisierung aufgedeckten, formempfänglichen Fülle. Auch als das stets Übergangene, Unerkennbare kann es nicht mehr bezeichnet werden. Das Chaos wird zur verfügbaren Folie derjenigen Gewalt, die die verschiedenen Modi der erschließenden Heraushebung und der ausgestalteten Rückeingliederung des Seienden in ihm austariert.¹³⁴⁸ Dadurch verändert sich die Bedeutung der Homoiosis. Weil eine lückenlose Mimesis des Chaos auch der Kunst verwehrt bleibt, kann eine Einstimmigkeit mit dem Chaos niemals durch bloße Nachbildung evoziert werden. Sie kann nur erzielt werden mit Hilfe einer Eingleichung, die aus dem Chaos schöpft, indem sie es erobert und kontrolliert. Dabei durchmisst sie

 Vgl. Heidegger, N I, S. 561 ff.  Vgl. Heidegger, N I, S. 573 – 574.

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die festzulegenden Gesichtskreise – in sichernder und auflösender Absicht – innerhalb der Perspektiven.

1.7.7 Die Freilegung der Lebenstätigkeit als Grund für die Auflösung des platonischen Sein-Schein-Dualismus und die Krisis der Korrespondenzwahrheit In der rückschauenden Betrachtung des bisherigen Argumentationsganges lässt sich konstatieren, dass sich die anfängliche Bestimmung der Wahrheit als Irrtum in drei durchaus ineinander überführbare Aspekte aufgefächert hat. Aus diesen wird ersichtlich, wie der Irrtum hervorgebracht wird: Die „Wahrheit“ scheint erstens in der täuschenden Festmachung (Sein) auf. Zweitens enthüllt sie sich in dem befehlenden Für-wahr-halten des Satzes vom Widerspruch. Drittens manifestiert sie sich in der relativen Wahrheit der umkreissetzenden und offenhaltendüberschreitenden Perspektive. All diese abgeleiteten Wahrheitsauffassungen gehen aus der desillusionierten und daher gerade nicht scheinhaft-irreführenden Einsicht hervor, dass das wahre Grundgeschehen der Welt das Werden, das Chaos ist. Die Entschlüsselung der Welt als Werden kann im Sinne eines Korrektivs gegen den platonischen Ideenhimmel gelesen werden. Dennoch bleibt die begriffliche Wiedererweckung des Oszillierenden an jene lebensdienlichen Suggestionen und Oberflächen-Zeichen gebunden, die sie allein aus der je schon geschehenen Bewältigung des Chaos zu gewinnen und abzuleiten vermag.¹³⁴⁹ Genau wie die Entlarvung der beständigen Wahrheit als „Art des Irrtums“ bleibt Nietzsches eigene, positive Kennzeichnung der Wirklichkeit als Werden – sofern sie eine die Perspektivität überschreitende Erkenntnisposition beansprucht – auf eine immer schon zugrundeliegende Wahrheit angewiesen, die ihre ernsthafte Geltung und ihre ontologische Bedeutsamkeit unterstreicht.¹³⁵⁰ Die ursprüngliche Wahrheit, auf die jede Auffassung über das Seiende im Ganzen rückbezogen werden muss,

 Vgl. Schüßler, Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger, S. 161– 166.  Vgl. Heidegger, N I, S. 559: „Hier aber steht klar: Wahrheit ist eine ‚Art von Irrtum‘. Und Irrtum besagt: Vorbeigehen an der Wahrheit, Verfehlen des Wahren. Gewiß, und deshalb läßt der Irrtum die Wahrheit beiseite. Wenn nur nicht im Irrtum – und in ihm sogar wesentlicher als im Wahren – die Wahrheit ständig und immer aufdringlicher andrängte! Der Irrtum bleibt auf das Wahre und die Wahrheit angewiesen; wie sollte der Irrtum ein Verfehlen sein können, wie sollte er die Wahrheit verfehlen, an ihr vorbei- und sie übergehen können, wenn sie nicht wäre? Aller Irrtum lebt zuerst – in seinem Wesen nämlich – von der Wahrheit. Wenn Nietzsche also eindeutig sagt: die Wahrheit ist eine Art Irrtum, dann muß er in diesem Begriff Irrtum mitdenken: Verfehlung der Wahrheit, Abirren von der Wahrheit.“

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entspricht in ihrer Unverzichtbarkeit dem subjektunabhängigen und freien Sein der Wahrheit. Eigens bedacht, könnte sich dieses im anderen Anfang in die Wahrheit des Seins kehren.¹³⁵¹ Die Herabstufung zum notwendigen, d. h. auch weniger wahren Wert betrifft die erstgenannte Explikation der Wahrheit als simplifizierende Gleichförmigkeit. Da die Beschreibung der intuitiven Schematisierung die größtmögliche theoretische Anmessung an den chaotisch-drängenden Grundcharakter des Lebens bedeutet, ist die Forderung nach einer adäquationstheoretischen Belegbarkeit des Werdens nur berechtigt, wenn die wogende Verfasstheit eigens wiederholt, abgebildet und performativ veranschaulicht werden soll. Aus diesem Grund kann Heidegger die Wahrheit des Werdens in seine Typologie des höheren Wertes der Kunst integrieren. Heidegger formuliert bewusst paradox, die festmachende Wahrheit sei gegenüber der Einstimmigkeit mit dem Werden eine „Verfehlung der Wahrheit“.¹³⁵² In einer einschneidenden Neuerung gegenüber der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst hebt Heidegger 1939 hervor, dass auch die verklärende Kunst nicht nur einen Schein im positiven Sinne des Aufscheinens darstellt. Wie die Irrtumswahrheit ist auch die Kunst auf die bloße Scheinbarkeit angewiesen. Die Kunst, welche die ungeahnte Möglichkeitseröffnung des Lebens im Werk gestaltet, benötigt ebenfalls eine Festigkeit, in der sie die Gestalten formt und gerinnen lässt.¹³⁵³ Aufgrund dieser Vorgehensweise ist es unumgänglich, dass selbst der verklärende Kunst-Schein das Werdende verfehlen muss. Der Abschnitt Die Wahrheit und der Unterschied von „wahrer und scheinbarer Welt“ ist von eminenter Relevanz. In dieser Sektion bereitet Heidegger den Einsturz des von Nietzsche privilegierten Wahrheitsbegriffes der Einstimmigkeit (Homoiosis beziehungsweise Adäquatio) mit der Wirklichkeit des Werdens vor. Zum Ende der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis wird sich herauskristallisieren, dass zwei Faktoren zusammentreten, die gemeinsam den Untergang des Wahrheitswesens als Adäquatio besiegeln. An die Seite der Unmöglichkeit einer vollkommenen Anmessung an das Werdende – der Anforderungshöhe dieser Wahrheit kann weder die „Wahrheit“ der Erkenntnis noch die Kunst genügen – gesellt sich der Zusammenfall der Unterscheidung von wahrer und

 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 346: „Wahrheit ist nie das aus Sätzen zusammengefügte ‚System‘, worauf man sich berufen könnte. Sie ist der Grund als zurücknehmender und durchragender, der das Verborgene überragt, ohne es aufzuheben, die als dieser Grund stimmende Stimmung.“  Heidegger, N I, S. 559.  Vgl. Heidegger, N I, S. 560: „Diese Einstimmigkeit mit dem Werdenden, erreicht in der Kunst, ist aber ein Schein und zwar Schein als Scheinbarkeit (das festgewordene Werk ist nicht das Werdende selbst) und Schein als Aufscheinen der neuen Möglichkeiten in jenem Schein.“

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scheinbarer Welt, den Heidegger bereits 1936/37 nachvollzogen hatte. Weil das Leben unweigerlich auf Bestandsicherung angewiesen ist, der Glaube (das Fürwahr-halten) die elementare Bedingung für die Erhaltung des menschlichen Lebens bildet und es keine maßstäbliche, an sich seiende Wahrheit mehr gibt, muss eine Macht existieren, welche dem menschlichen Leben das zu glaubende, festzuhaltende Wahre darreicht. Sie kann diese niemals an sich wahren, sondern im doppelten Sinne konstruierten Inhalte jedoch nur hervorbringen, wenn sie sich der einzigen übriggebliebenen Wirklichkeit, dem Chaos, angleicht und die als lebensdienlich ermittelten Gestaltungsformen ohne eine Nachahmung eines schon Bestehenden aus diesem herauszieht. In dieser Angleichung zeigt sich der letzte, verblassende Widerschein der Korrespondenzwahrheit. Da es dieser Macht – sie wird sich als Gerechtigkeit enthüllen – allein auf die perpetuierte Setzung nützlicher Haltepunkte für das Leben ankommt, sucht sie diesen Zustand auf Dauer zu stellen, indem sie die Wiedererweckung einer ewigen, übersinnlichen Wahrheit, der eine scheinbare Welt opponiert werden könnte, untergräbt. In ihr kulminiert der „Gang ins Äußerste“¹³⁵⁴ des Wahrheitswesens, weil sie wegen ihres einzigen Ziels einer Ermöglichung des sich steigernden Lebens der Grund für die Einebnung der platonischen Dichotomie von Sein und Schein ist. Die Gerechtigkeit rechtfertigt sich selbst als Koordinatorin der bestandsichernden Verflechtung von Wahrheit und Kunst innerhalb der perspektivischen Realität. Auf den ersten Blick liest sich der Abschnitt Die Wahrheit und der Unterschied von „wahrer und scheinbarer Welt“ ¹³⁵⁵ wie eine Wiederholung der abschließenden Kapitel der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst. In beiden Texten geht Heidegger Nietzsches Gedankenevolution von einer schematischen Umdrehung des Platonismus hin zu einer Auflösung der Dichotomie von „wahrer“ und „scheinbarer“ Welt nach. Diese Herausdrehung ereignet sich in der Götzen-Dämmerung und fällt damit in das letzte Schaffensjahr 1888. 1936/37 hatte Heidegger sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst damit begnügt, die Austragungselemente des Entsetzen erregenden Zwiespalts in der perspektivischen Realität zu installieren. Dabei wurden die Wahrheit und die Kunst als zusammenwirkende und doch gegenstrebige Agenten einer Gestaltung und Rettung des Sinnlichen sichtbar gemacht. Weil Heidegger den Fokus am Ende der Vorlesung auf die Versöhnung des Gegensatzes von Sein und Werden im großen Stil legte, konnte der berechtigte Schluss gezogen werden, mit der Anerkennung des Scheinenlassens der Perspektivenvielfalt konzediere Heidegger die geglückte, überwindende Herausdrehung aus dem Platonismus.

 Heidegger, N I, S. 564.  Vgl. Heidegger, N I, S. 555 – 564.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

405

Demgegenüber setzt Heidegger in dem hiesigen Abschnitt der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis tiefer an und wirft die Frage auf, was nach der Abschaffung der wahren und scheinbaren Welt die für das Leben nichtsdestotrotz notwendige Wertschätzung des Wahren garantiert. In welcher Weise muss sich das Wesen der Wahrheit wandeln, wenn es diese Aufgabe erfüllen soll? Heidegger möchte zu Nietzsches „unbekannter letzter ‚Entwicklung‘“¹³⁵⁶ fortschreiten. Deswegen gesteht er ein, dass „dann auch unsere bisherige Darstellung von Nietzsches Auffassung des Wesens der Wahrheit noch nicht in das Endgültige gehen konnte“.¹³⁵⁷ Heidegger steigt mit einer frühen Version der Nietzscheschen Umdrehung des Platonismus ein, in der die gewonnenen Wesenszüge der Kunst als Verklärung und der Wahrheit als Festmachung in inverser Applikation auf den platonischen Chorismos bezogen werden. Obgleich sich die Positionen von wahrer und scheinbarer Welt dadurch vertauschen¹³⁵⁸, wird die Opposition als solche beibehalten: Eine Zeitlang neigte Nietzsche dahin, seine metaphysische Grundstellung durch eine rangmäßige Gegeneinandersetzung von Wahrheit und Kunst für entschieden und gesichert zu halten. Die Wahrheit macht das Chaos fest und hält sich kraft dieser Verfestigung des Werdenden in der scheinbaren Welt; die Kunst als Verklärung eröffnet Möglichkeiten, gibt das Werdende in sein Werden frei und bewegt sich so in der ‚wahren‘ Welt. Damit ist die Umkehrung des Platonismus vollzogen. Unter der Voraussetzung von Nietzsches Auslegung des Platonismus im Sinne der Unterscheidung der ‚wahren und der scheinbaren Welt‘ läßt sich sagen: Die wahre Welt ist das Werdende, die scheinbare Welt ist das Feste und Beständige. Die wahre und die scheinbare Welt haben ihre Plätze und ihre Art vertauscht; aber in dieser Vertauschung und Umkehrung bleibt gerade die Unterscheidung einer wahren und scheinbaren Welt erhalten. Die Umkehrung ist nur unter Zugrundelegung dieser Unterscheidung vollziehbar.¹³⁵⁹

Um zum Grund der Unterscheidung der wahren und scheinbaren Welt vorzustoßen, promulgiert Heidegger wie zu Beginn der Vorlesung¹³⁶⁰ die doppelte

 Heidegger, N I, S. 557.  Heidegger, N I, S. 557.  Zur Umkehrung des Platonismus vgl. Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [71– 72], S. 277: „Strenger: man darf nichts Seiendes überhaupt zulassen, – weil dann das Werden seinen Werth verliert und geradezu als sinnlos und überflüssig erscheint. Folglich ist zu fragen: wie die Illusion des Seienden hat entstehen können (müssen). Insgleichen: wie alle Werthur‐theile, welche auf der Hypothese ruhen, daß es Seiendes gäbe, entwerthet sind…. 2) das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.“  Heidegger, N I, S. 556.  Vgl. Heidegger, N I, S. 450.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Scheinhaftigkeit von Wahrheit und Kunst, wobei er den Maßstab der Einstimmigkeit mit dem Werdenden zugrunde legt. Schon 1936/37 wurde deutlich, dass die erfolgreiche Aufhebung der Unterscheidung in einer Weise ausgetragen werden muss, in der die Kunst und die Wahrheit nicht in gegensätzlichen und hierarchisch gestuften Sphären angesiedelt werden. Also darf keines der beiden Elemente einseitig – wie es nach Nietzsche bei Platon der Fall ist – mit dem Sinnlichen oder dem Übersinnlichen identifiziert werden. Da sie den „notwendigen“¹³⁶¹ beziehungsweise den (angesichts der größeren Übereinstimmung der verklärenden Kunst mit dem Chaos des Werdens und seinem Möglichkeitsreichtum) „höheren Wert“¹³⁶² für die Bestandsicherung des Lebens darstellen, dürfen weder die Wahrheit noch die Kunst ausgeschlossen werden. Es wird sichtbar, weswegen ihr Übereinkommen in der einen, aus der Herausdrehung entspringenden Welt unumgänglich ist. Wenn jedoch sowohl der festgemachte Anschein (Wahrheit) als auch der verklärende Aufschein (Kunst) das Wirkliche, das strömende Werden nicht treffen können, kristallisiert sich nach der gelungenen Herausdrehung aus dem Platonismus das furchterregende Resultat heraus, dass diese eine Welt sich als ein unaufhebbarer Schein enthüllt. Die Welt dekuvriert sich als ein von zwei Seiten und Werten fingiertes Täuschungsgebilde. Wird dieser drohenden Möglichkeit ins Auge geblickt, nimmt der Gang ins Äußerste des Wahrheitswesens eine erste Gestalt an: Alle Wahrheiten und Arten von Wahrheiten sind nur verschiedene Arten und Stufen von ‚Irrtümern‘ (vgl. n. 535). Dann gibt es in der Tat keine Wahrheiten und keine Wahrheit. Alles ist nur Schein und ein verschiedenartiges und verschiedenstufiges Scheinen. Bis in dieses Äußerste muss gegangen werden. Dieses Äußerste ist nicht das Nichts – wie das kurzatmige Denken meinen möchte –, und der hier sich ankündigende ‚Nihilismus‘ ist kein Hirngespinst verzwickter Gedanken, sondern das Beziehen einer äußersten Stellung, in der die metaphysisch begriffene ‚Wahrheit‘ ihr letztmögliches Wesen erreicht.¹³⁶³

Um dieser Folgerung einer unausweichlichen Scheinbarkeit¹³⁶⁴ oder des vermeinten Falles in das Nichts entgegenzuwirken, greift Heidegger auf einen aus der

 Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 560.  Heidegger, N I, S. 560 – 561.  Dass Nietzsche die Gefahr eines universalen Irrtumscharakters der Welt nicht nur sieht, sondern als unumgänglich charakterisiert und partiell sogar begrüßt, lässt sich durch zwei eindeutige Äußerungen unterstreichen. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 535, S. 367– 368: „‚Wahrheit‘: das bezeichnet innerhalb meiner Denkweise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den grundsätzlichsten Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrtümer zueinander: etwa daß der eine älter, tiefer als der andere ist, vielleicht sogar unausrottbar, insofern

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst vertrauten, besonders anhand des Stückes Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde exemplifizierten Gedankengang zurück. Die thematischen Überlegungen werden 1939 mit ähnlichen Aufzeichnungen Nietzsches gestützt. Allein die Behauptung eines absoluten Standpunktes vermochte die Herabsetzung der empirisch-flüchtigen Welt zu rechtfertigen. Die Prädikation eines bestimmten Grundelements des Lebens (der Kunst oder der Wahrheit) als „scheinbar“ verdankte sich der insinuierten Inbesitznahme und Erreichbarkeit einer unverrückbar-übersinnlichen Wahrheit: Die Wahrheit als Für-wahr-halten ist Irrtum, wenngleich ein notwendiger. Die Wahrheit als Einstimmigkeit mit dem Werden, die Kunst, ist Schein, wenngleich ein verklärender. Es gibt keine ‚wahre Welt‘ im Sinne eines an sich Gleichbleibenden, ewig Gültigen. Der Gedanke der wahren Welt als des zuerst und in allem und von sich her Maßgebenden denkt ins Nichts. Der Gedanke einer so gedachten wahren Welt muß abgeschafft werden, dann bleibt nur die scheinbare Welt übrig, die Welt als ein zum Teil notwendiger, zum Teil verklärender Schein: Wahrheit und Kunst als die Grundformen, in denen das Scheinen der scheinbaren Welt zum Erscheinen kommt. Wie steht es mit dieser Welt der Scheinbarkeit? Kann man, nachdem die wahre Welt abgeschafft werden mußte, noch sagen, dann bleibe uns die scheinbare Welt übrig? Wie soll denn ein Übriges bleiben, wenn außer ihm nichts anderes ist? Bildet dann nicht das eben noch sogenannte Übrige Alles und das Ganze? Ist dann die scheinbare Welt nicht für sich die einzige Welt? Was sollen wir von ihr halten, und wie sollen wir uns in ihr halten?¹³⁶⁵

Umgekehrt kann die Scheinbarkeit der intelligiblen Welt ausgehend von der nunmehr realen, sinnlichen Welt nicht mit derselben Absolutheit behauptet werden, weil der Hinfall der einen Wahrheit notwendigerweise mit einer Entfaltung unzähliger, auch gegeneinander gerichteter Perspektiven einhergeht, die bislang allesamt unter der Herrschaft des Allgemeingültigen standen. Die Selbsteinschränkung jedes Einzelnen auf eine Perspektive korrespondiert mit der Geltungsausformung der in sich vervielfältigten Wahrheit des Werdens. Innerhalb der Relativität glänzt das Sein im Sinne des Beharrlichen zwar noch auf, es kann aber nicht mehr als Ewiggültiges reetabliert werden. Aufgrund der Kantischen Einsicht in die theoretische Unerkennbarkeit der intelligiblen Welt kann die

ein organisches Wesen unserer Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen an solchen ‚Tyrannen‘, beseitigt und widerlegt werden können.“ Vgl. die Belegstelle: Nietzsche, NF-1885,38[4]. Vgl. ferner Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 542, S. 369: „Wenn der Charakter des Daseins falsch sein sollte – das wäre nämlich möglich –, was wäre dann die Wahrheit, alle unsere Wahrheit? … Eine gewissenlose Umfälschung des Falschen? Eine höhere Potenz des Falschen?…“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,16[21].  Heidegger, N I, S. 561– 562.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Klassifikation dieser vormals das Sein bildenden Gegenwelt als Schein aus dem Blickwinkel der wahren, sinnlichen Welt nicht vorgebracht werden. Sie müsste sich auf ein gänzlich unbekanntes, unerweisliches und unerreichtes Terrain beziehen, das weder als seiend noch als scheinkreierend entschlüsselt werden kann. Durch diese Desannexion verschwindet der strikte Gegensatz zwischen der wahren und scheinbaren Welt, der in der Form einer bloßen Umkehrung des Platonismus noch gewahrt wurde. Dass die Welt nunmehr in ein wandelndes Mosaik von Ausschnitten, in eine Polysemie von Bedeutungen und die Vielfalt von Interpretationen zerfällt, könnte nur dann als Verfehlung des Wirklichen desavouiert werden, wenn es eine priorisierte Metaebene gäbe, die nicht in das Wechselspiel der Perspektiven verschlungen wäre. Deswegen schreibt Nietzsche in dem als Nr. 567 gezählten Stück von Der Wille zur Macht: Das Perspektivische also gibt den Charakter der ‚Scheinbarkeit‘ ab! Als ob eine Welt noch übrig bliebe, wenn man das Perspektivische abrechnet! Damit hätte man ja die Relativität abgerechnet.¹³⁶⁶

In diesem Satz spricht sich die Quintessenz der von Nietzsche vollzogenen Herausdrehung aus dem Platonismus aus, die Nietzsche für die sechste Stufe der Aufzeichnung Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde reserviert.¹³⁶⁷ Gegenüber der Vorlesung von 1936/37 ist zu beachten, dass Heidegger Nietzsches Auflösung der Dichotomie, die mit der Ausfaltung der nunmehr unausweichlichen Perspektivität konvergiert, vordergründig affirmiert. Heidegger bewahrt die Herausdrehung vor dem Drohszenario eines erkenntnistheoretischen Nihilismus. Die wandelnden Relativitätsgebilde versteht Heidegger aber als Produkt der Lebensaktion, die er alsdann auf den Willen zur Macht zurückzuführen intendiert. Heidegger interpretiert das perspektivische Scheinen zwar wie 1936/37 als Er-

 Heidegger, N I, S. 562. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 567, S. 386; Nietzsche, NF1888,14[184].Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 34, S. 53 – 54: „Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins …“ Vgl. zu Heideggers Differenzierung des Scheins: Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 107: „Genauer besehen finden wir drei Weisen des Scheines: 1. Den Schein als Glanz und Leuchten; 2. Den Schein und das Scheinen als Erscheinen, den Vor-schein, zu dem etwas kommt; 3. Den Schein als bloßen Schein. Zugleich wird aber deutlich: Das an zweiter Stelle genannte ‚Scheinen‘, das Erscheinen im Sinne des Sichzeigens, eignet sowohl dem Schein als Glanz, wie auch dem Schein als Anschein, und zwar nicht als eine beliebige Eigenschaft, sondern als Grund ihrer Möglichkeit. Das Wesen des Scheines liegt im Erscheinen. Es ist das Sich-zeigen, Sich-dar-stellen, An-stehen und Vor-liegen.“  Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80 – 81.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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gründung der Sichtbarkeitsweise der Welt, in der sie nur „das ist, als was und wie sie entspringt“.¹³⁶⁸ Heidegger kursiviert jedoch neben dem existenzanzeigenden Ist diejenigen Pronomina, welche die metaphysischen Fragen nach der Essenz und Existenz einleiten. Die Tiefendimension deutet Heidegger mit der Verwendung des Wortes „Entspringen“¹³⁶⁹ an. Die Welt, aufscheinend in jeder einzelnen Perspektive und sich additiv aus ihnen zusammensetzend, entspringt allein dem „Lebensvollzug des Lebendigen“.¹³⁷⁰ Dies bedeutet, dass die mit dem „horizonthaften Perspektivenumkreis“¹³⁷¹ gleichgesetzte Welt „nichts anderes als eine Schöpfung der ‚Aktion‘ des Lebens selbst“¹³⁷² ist. Diese energische Herleitung der Perspektiven aus der verabsolutierten Lebensaktion illustriert eine fundamentale und markante Wendung gegenüber der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst. Dort hatte Heidegger das Perspektivische nicht auf eine vorausliegende Bedingung zurückgeführt. In der ersten Nietzsche-Vorlesung begriff Heidegger das Perspektivische als das letztbegründende Scheinen im Sinne des zum-Vorschein-bringens und und würdigte es somit als Inbegriff der Realität. Dergestalt baute Heidegger 1936/37 seine eigene Auffassung des Scheins in Nietzsches Theorie der Perspektivität ein. Die folgende, aus der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst stammende Textstelle kann die Divergenz zwischen den beiden Vorlesungen veranschaulichen: Aus tieferer Besinnung wird aber klar, daß aller Anschein und alle Scheinbarkeit nur möglich ist, wenn überhaupt sich etwas zeigt und zum Vorschein kommt. Was ein solches Erscheinen im voraus ermöglicht, ist das Perspektivische selbst. Dieses ist das eigentliche Scheinen, zum sich-zeigen Bringen.¹³⁷³

Die Entschlüsselung der Realität als Relativitätskonglomerat der Perspektiven mündet in dem Stück Nr. 567 in Nietzsches Schlussfolgerung:

 Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 563. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 567, S. 386: „Die ‚scheinbare Welt‘ reduziert sich also auf eine spezifische Art von Aktion und Reaktion auf die Welt, ausgehend von einem Zentrum.“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[184]).Vgl. auch die Aufzeichnung aus dem Winter 1883: Nietzsche, KGW VII, 1, 24 [16]: „Und kurz gesagt: es handelt sich vielleicht bei der ganzen Entwicklung des Geistes um den Leib: es ist die fühlbar werdende Geschichte davon, daß ein höherer Leib sich bildet. Unsere Gier nach Erkenntnis der Natur ist ein Mittel, wodurch der Leib sich vervollkommen will.“  Heidegger, N I, S. 562.  Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 217.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Es bleibt kein Schatten von Recht mehr übrig, hier von Schein zu reden.¹³⁷⁴

Auch diese Sentenz interpretiert Heidegger im Hinblick auf die Aktion des Lebens, welche die aus ihr entsprungene Welt organisiert und aufrechterhält.¹³⁷⁵ Eine weitere Wegmarke auf dem Gang ins Äußerste schält sich heraus. Das Leben setzt die Bedingungen der Erhaltung und Steigerung, indem es die Perspektiven offenhält und konturierte Horizonte zieht.¹³⁷⁶ Von einschneidender Wichtigkeit für Heideggers Deutung der Gerechtigkeit als Wesen der Wahrheit ist nun der folgende Sachverhalt: Es ist für diesen schöpferischen Akt unabdingbar, dass sich das Leben keiner äußeren Instanz angleicht und sich nicht an einer an sich seienden Wahrheit orientiert, sondern jedwede andere, maßstabsbefugte Anmessung von vornherein exkludiert. Darauf aufbauend wird sichtbar, dass die bestandsichernde Aktion des Lebens nicht erst aus der Umkehrung beziehungsweise aus der Herausdrehung des Platonismus ersteht und von dem Erfolg dieses Unternehmens abhängig wäre. Um mit der wesenseigenen Ausdichtung der Kategorien beginnen zu können, erzwingt die perspektiveneröffnende Tätigkeit des Lebens selbst die Aufhebung der platonischen Unterscheidung von wahrer und scheinbarer Welt. Die Aktion des Lebens ist als Grund für das Verschwinden des Chorismos zu markieren, da sie ansonsten die von ihr angestrebte Selbststeigerung mitsamt der dafür benötigten Verfassung der Realität als Relativität nicht durchsetzen könnte. Sie misst sich keiner ewiggültigen Wahrheit mehr an, weil dies für die Lebenssteigerung schlicht kontraproduktiv wäre.¹³⁷⁷ Indem sie die bisherige, überdauernde Wahrheit verdrängt, entwindet sich die in der Tätigkeit des Lebens entfaltete, singuläre Welt der Möglichkeit einer auf sie applizierten Bewertung als scheinbares Geschehen:

 Heidegger, N I, S. 563. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 567, S. 386; Nietzsche, NF1888,14[184].  Heideggers Interpretation ist plausibel, weil Nietzsche selbst die These einer Prolongation der „scheinbaren“ Welt durch die Steigerungsbedingungen des Lebensvollzugs in ebendiesem Aphorismus Nr. 567 bereits zu Beginn des Stückes expliziert. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 567, S. 386: „Die scheinbare Welt, d. h. eine Welt, nach Werten angesehn; geordnet, ausgewählt nach Werten, d. h. in diesem Falle nach dem Nützlichkeits-Gesichtspunkt in Hinsicht auf die Erhaltung und Macht-Steigerung einer bestimmten Gattung von animal.“ Vgl. Nietzsche, NF1888,14[184].  Vgl. Heidegger, N I, S. 563.  Vgl. zur ontologischen Fundierung: Nietzsche, KSA 13, 11 [98], S. 46: „Werth der Vergänglichkeit: etwas, das keine Dauer hat, das sich widerspricht, hat wenig Werth. Aber die Dinge, an welche wir glauben als dauerhaft, sind als solche reine Fiktionen. Wenn alles fließt, so ist die Vergänglichkeit eine Qualität (die ‚Wahrheit‘) und die Dauer und Unvergänglichkeit bloß ein Schein.“

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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„Wenn keine […] Abschätzung an einem Wahren mehr geschieht, wie soll dann die aus der ‚Aktion des Lebens‘ entsprungene Welt überhaupt noch als ‚Schein‘ abgestempelt und begriffen werden können?“¹³⁷⁸ Auf diese Weise wird der Gegensatz der wahren und scheinbaren Welt zugunsten einer leichter zu fassenden und zu entscheidenden Disjunktion aufgehoben, wie Nietzsche im Schlusswort des Aphorismus Nr. 567 aus Der Wille zur Macht exponiert: Der Gegensatz der scheinbaren und der wahren Welt reduziert sich auf den Gegensatz ‚Welt‘ und ‚Nichts‘.¹³⁷⁹

Erst diese vermittelnde Integration der vormals selbst zwei Welten exemplifizierenden Gegensätze in die eine Welt eröffnet und radikalisiert die Opposition zwischen der Welt und dem Nichts, zwischen Bejahung und Verneinung, Akzeptanz und Verweigerung. Während Platon die scheinbar-sinnliche Welt als μὴ ὂν markierte, aber nicht als οὺκ ὂν, als schlechthin Nichtseiendes begriff, verlässt die Welt des Vergänglichen bei Nietzsche ihre tradierte Mittelstellung zwischen der reichhaltigen Fülle des idealen Seins und der Leere des Nichts. ¹³⁸⁰ Die Achse, um die sich vormals das Intelligible auf der einen Seite und das Chaos auf der anderen Seite gruppierten, nimmt die „wahre“ Welt mitsamt ihrem identitätssichernden Gegenteil in sich auf und etabliert sich im beständigen Ausschluss des Nichts. Allerdings kehrt auch hier die Kernproblematik wieder, die in der Auffassung transparent wird, mit der Auflösung der Dichotomie von wahrer und scheinbarer Welt seien die Wahrheit und der Schein als solche beseitigt und in das Nichtseiende aufgelöst, sodass die Herrschaft des „Nichts“¹³⁸¹, d. h. der „äußersten Entfremdung zum Sein“¹³⁸² besiegelt zu werden scheint. Die Welt stabilisiert sich dann nicht im Gegensatz gegen das Nichts, sondern fällt selbst in dieses hinein, ist selbst nichts anderes als ein Nichts. Um die von Nietzsche geschilderte Genese der Fundamentaldisjunktion von Welt und Nichts zu stützen und das Geschehen innerhalb der Welt auf die Lebensaktivität rückgründen zu können, rekurriert Heidegger auf die schematische Valenzunterscheidung zwischen dem notwendi-

 Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 563. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 567, S. 386; Nietzsche, NF1888,14[184]. Vgl. außerdem Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Hinterweltlern, KSA 4, S. 35 – 38.  Vgl. Platon, Phaidon 79b; Politeia, 517b ff., Timaios, 38b.  Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 563.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

gen Wert der Irrtumswahrheit und dem höheren Wert der verklärenden Kunst für das Leben: So denkend, übereilen wir uns und vergessen, daß die Wahrheit als Irrtum ein notwendiger Wert ist und daß der Schein im Sinne der künstlerischen Verklärung der höhere Wert ist gegenüber der Wahrheit. Sofern Notwendigkeit hier besagt: zugehörig zum Wesensbestand und Wesensvollzug des Lebens, und wenn solche Zugehörigkeit den Gehalt des Begriffes ‚Wert‘ ausmacht, dann stellt ein Wert, je höheren Ranges er ist, eine um so tiefere Notwendigkeit dar.¹³⁸³

Die Wahrheit und der Schein werden nicht deswegen vor der Auflösung ins Nichts bewahrt, weil sie – wie noch 1936/37 – das perspektivische Scheinen der Realität in verschiedener Weise zum Ausdruck bringen. Stattdessen werden sie von der Lebenstätigkeit gerettet und integriert, indem diese die Überschaubarkeit schaffende Kraft der Wahrheit und die Möglichkeiten aufwerfende Fähigkeit des KunstScheins für die Artikulation ihrer Bedingungen nutzt.¹³⁸⁴ Dabei wächst der Perspektive die entscheidende Rolle zu, insofern sich in ihr das Lebendige mit Möglichkeiten konfrontiert, die im festgefügten Terrain der Wahrheit den Horizont schließen.¹³⁸⁵ Kunst und Wahrheit können daher als verbindende Kräfte zwischen der perspektivischen Aussicht auf bislang unbewältigte Präfigurationen und der durch sie erwirkten Einhegung in einem Horizont verstanden werden. In diesem Sinne werden sie auf den erhaltend-steigernden Instrumentalcharakter des Willens zur Macht verpflichtet. Heidegger hält folglich daran fest, dass allein das fixierend-verklärende Hervorbringen der chiastischen Sein-Schein-Relation (die Kunst ist als ein dem Werden nahekommender Schein das eigentliche Sein, die beständige Wahrheit, das Sein, ist ein lebensdienlicher Schein) die Aufrechterhaltung der einen, einzigen Welt und die Distanzierung von dem Nichts ermöglicht. Aus diesem Grund kann er in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) zu der These gelangen, Nietzsches Überwindungswille versande in der Umkehrung des Platonismus. Aus der Obhut des Seins befreit, wandle sich das

 Heidegger, N I, S. 563 – 564.  Vgl. Nietzsche, NF Frühjahr 1888, KGW VIII, 3, 14 [93], S. 63: „Die ‚Scheinbarkeit‘ gehört selbst zur Realität: sie ist eine Form ihres Seins d. h. in einer Welt, wo es kein Sein giebt, muss durch den Schein erst eine gewisse berechenbare Welt identischer Fälle geschaffen werden.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 561 f. Vgl. Nietzsche, NF Ende 1886–Frühjahr 1887, 7 [53], KSA 12, S. 313: „Erkenntnis [ist] an sich im Werden unmöglich; wie ist also Erkenntnis möglich? Als Irrthum über sich selbst, als Wille zur Macht, als Wille zur Täuschung.“ Demnach kann der Wille zur Wahrheit als die noch nicht enthüllte Verfestigungsperspektive innerhalb des überwältigenden Willens zur Täuschung angesehen werden.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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Sinnliche in das Leben und somit in den Willen zur Macht. Demgegenüber manifestiere sich die maßgebende Kontinuität des Übersinnlichen in der Bestandsicherung des Willens.¹³⁸⁶ Wenn das Leben in seiner befehlend-dichtenden und mit Hilfe der Schemata, der Wahrheit und der Kunst erwirkten Gestaltung das Ungebunden-Regellose aufhebt und es in praktische Verweisungszusammenhänge eingliedert, wird jegliche Besinnungsmöglichkeit auf eine angemessene Ergründung der Differenz von Wahrheit und Irrtum verdeckt. Das nunmehr unanfechtbare Leben kann sich endgültig als Grund ihrer Unterscheidung konstituieren: Wahrheit und Schein, Erkenntnis und Kunst, können daher mit der Abschaffung der ‚wahren und scheinbaren Welt‘ und ihres Gegensatzes nicht verschwunden sein. Indes muß sich das Wesen der Wahrheit gewandelt haben. Aber in welchem Sinne und in welcher Richtung? Offenbar in jener, die sich aus dem Leitentwurf des Lebens und damit des Seins und der Wirklichkeit überhaupt bestimmt, der jener Beseitigung der wahren und der scheinbaren Welt und ihres Gegensatzes schon zugrunde liegt.¹³⁸⁷

In der Erosion des Wahrheitswesens zeichnet sich der Wendepunkt der Philosophie im Ganzen ab, da die untergründige Verlaufsrichtung in die Helle ihrer Selbstaufhebung einkehrt. Die bislang nicht überschrittene Grenzlinie auf das Undenkbare hin öffnend, wird einem nicht mehr metaphysischen Denken der Absprung aus dem sich herausschälenden Äußersten in Aussicht gestellt: Dieser Entwurf geht vermutlich erst recht ins Äußerste des metaphysischen Denkens, wenn anders die in ihm verwurzelte Auslegung und scheinbare Auflösung der Wahrheit diesen Gang nimmt. Im Bereich des Äußersten gibt es nur die eine Frage, wie es überstanden werde; ob es in seinem verborgenen Wesen als Ende begriffen und in ein Entsprechendes, d. h. in einen anderen Anfang, gerettet werde. Doch lange vordem müssen wir erst einmal zu wissen lernen, wohin Nietzsche selbst bei seinem Gang ins Äußerste zu stehen kommt.¹³⁸⁸

 Vgl. Heidegger, N II, S. 10.  Vgl. Heidegger, N I, S. 564. Vgl. hingegen Nietzsche, NF November 1887–März 1888, 11 [415], KSA 13, S. 193: „Hier fehlt der Gegensatz von wahrer und scheinbarer Welt: es giebt nur Eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn…. Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt…Wir haben Lüge nöthig, um über diese Realität, diese ‚Wahrheit‘ zum Sieg zu kommen das heißt, um zu leben…Daß die Lüge nöthig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins..“ Zur Deutung dieser Aufzeichnung vgl. Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlaß, Berlin / New York 1982, S. 194– 200.  Heidegger, N I, S. 564.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.7.8 Die bauend-ausscheidend-vernichtende Gerechtigkeit als letzte Gestalt des innermetaphysischen Wahrheitswesens Der entscheidende Fragekomplex zielt sowohl auf eine Erhellung des Ortes ab, von dem aus die Maßgabe erteilt wird, als auch auf die Entdeckung derjenigen Macht, die die Richtung und die Wahlmechanismen adjustiert. Dabei gerät die Entschlüsselung der Weise, wie und weswegen die spezifischen Gestaltwerdungen gutgeheißen, aufrechterhalten und verflüssigt werden, in das Blickfeld. Gesucht wird der Grund von Begrenzung und Entgrenzung, die prinzipielle Einheit, die den Dualismus von Erkenntnis und Kunst freigibt und sich koordinierend in diesen ein- und entlässt, um sich im Arrangement von Wertverhältnissen ihrer selbst zu versichern. Das ethisch-epistemische Verständnis der Gerechtigkeit, das sich in zahlreichen Dialogen Platons als Handeln im Einklang mit dem erkannten Guten¹³⁸⁹ findet, wird in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche zugunsten eines physiokratischen Elementarvermögens der Weltgestaltung abgelöst. Dieses besitzt eine – freilich in die metaphysische Tiefendimension verlagerte – Strukturähnlichkeit zu der (von Platon übermittelten) Position des Sophisten Thrasymachos. ¹³⁹⁰ Es lässt sich zudem in einen Bezug zur athenischen Rechtfertigungsstrategie in der von Thukydides rekonstruierten Version des Melier-Dialoges bringen.¹³⁹¹ Weil Nietzsche intellektualistische und distributive Ge-

 Vgl. Platon, Protagoras 361b; Gorgias 507d; Politeia 354a; Kleitophon 409c.  Vgl. Platon, Politeia 338c: „φημὶ γὰρ ἐγὼ εἶναι τὸ δίκαιον οὐκ ἄλλο τι ἢ τὸ τοῦ κρείττονος συμφέρον.“ Schleiermacher übersetzt diese Zeilen mit: „Ich nämlich behaupte, das Gerechte sei nichts anderes als das dem Stärkeren Zuträgliche.“  Vgl. Thukydides, Der Peloponnesische Krieg. Auswahl, Griechisch/Deutsch, übers. von Helmuth Vrestka u. Werner Rinner, Stuttgart 2005, S. 57: „[Die Athener] Nein, im Rahmen des von uns als wahr Erkannten sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwachen sich fügen.“ Vgl. zu Nietzsches Beurteilung und zur theoretischen Ausweitung des Melier-Dialoges: Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Nr. 92, KSA 2, S. 89: „Ursprung der Gerechtigkeit. – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie dies Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit… Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch.“ Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Nietzsche die

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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rechtigkeitstheorien auf die dahinterliegenden asymmetrischen Machtverhältnisse hinterfragt und die illusionslose Wirklichkeitssicht des Geschichtsschreibers des Peloponnesischen Krieges und der Sophistik gutheißt, könnte er einer solchen Annäherung sicherlich einiges abgewinnen. In einer eigenständigen Interpretation geht Heidegger jedoch über Nietzsche hinaus. Er versucht das in wenigen Nachlassnotizen hinsichtlich der Gerechtigkeit Angedachte auf das darin Ungedachte hin transparent zu machen. Daher bezieht er sich nicht auf Nietzsches sozialpolitische Reflexionen über die Entstehung der Gerechtigkeit, die sich besonders in den Werken Menschliches, Allzumenschliches und in Zur Genealogie der Moral artikulieren. Zentral ist für ihn ein Fragment Nietzsches aus dem Jahre 1884, das die Bestimmungen der Gerechtigkeit attributreich hervorhebt: Gerechtigkeit als bauende, ausscheidende, vernichtende Denkweise, aus den Wertschätzungen heraus: höchster Repräsentant des Lebens selber. ¹³⁹²

Der Gerechtigkeit kommt die Komponente des Bauens zu, weil sie nicht ausschließlich vom Gegebenen abhängt oder beständig auf dieses verwiesen wird im Sinne einer Angleichung. Der Gerechtigkeit inhäriert der „Grundcharakter des Denkens“¹³⁹³, der dichtend-schöpferisch und befehlend zugleich ist. Die Gerechtigkeit er-richtet, d. h. sie dekretiert, was als wertvoll betrachtet werden kann. Die Werte sind die Bedingungen, die dem Leben im Ganzen Struktur und Halt verleihen, die das Unförmige auf Ziele hin ordnen. „Aus den Wertschätzungen heraus“¹³⁹⁴ kann deswegen nicht bedeuten, dass sich die Gerechtigkeit an materiellen Quantifizierungen orientieren würde, die sie in die Sphäre des menschlichen Wirtschaftslebens verlängerte. Ebenso erschöpft sich das Wesen der Gerechtigkeit nicht darin, eine „Folge aus Wertschätzungen“¹³⁹⁵ zu sein. Vielmehr liegt sie allen Wertungen, Urteilen und Einteilungen voraus, indem sie das Denken ist, das sich in Wertschätzungen äußert und als Einheitspunkt aus diesen besteht.¹³⁹⁶ Dabei übersteigt sie die Perspektivität des Erkennens und Schätzens im Modus des Errichtens, um einen „Blick-Raum“¹³⁹⁷ zu

Rache der Gerechtigkeit nicht gegenüberstellt, sondern unter dem Gesichtspunkt der Vergeltung mit dieser zusammenführt und aus der gleichen Motivationslage entspringen lässt.  Heidegger, N I, S. 576. Vgl. Nietzsche, NF-1884,25[484].  Heidegger, N I, S. 576.  Heidegger, N I, S. 576.  Heidegger, N I, S. 577.  Vgl. Heidegger, N I, S. 577: „Das Denken ‚aus den Wertschätzungen‘ könnte aber immer noch dahin mißdeutet werden, als sei es nur und erst die Folge ‚aus‘ den Wertschätzungen, während es gerade nichts anderes ist als der Vollzug der Schöpfung selbst.“  Heidegger, N I, S. 577.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

gewärtigen. In diesem Akt konstituiert sie in dichtend-befehlender Setzung einen Horizont, innerhalb dessen sich das Leben im Wechselspiel seiner Relationen einrichten kann. Doch alles, was in die Höhe emporwächst, benötigt eine Wurzel, aus der es sich speist und seine Kraft gewinnt. Die Gerechtigkeit setzt ihren Grund selbst, in dem sie im Ausgreifen über das Seiende im Ganzen einen Punkt der Höhe gewinnt, durch den sie etwas unter sich bringt. Weil sie dieses aus ihrer Höhenlage verdrängt, ist das bauende Denken zugleich das „ausscheidende“.¹³⁹⁸ Obwohl das Bauen in seiner Wuchsrichtung und Konstitution nicht auf das bereits Bestehend-Festgesetzte angewiesen ist, so bieten sich doch Widerstände, die als tradiertes Richtmaß Geltung beanspruchen. Um sich durchsetzen zu können und eigene Entscheidungen zu fällen, muss die Gerechtigkeit sich vom Gewordenen scheiden können und demnach den „Spiel-Raum“¹³⁹⁹ konstruieren können, in welchem sie über ihre Konstitution autonom entscheidet. Notwendigerweise muss sie daher auch „vernichtend“¹⁴⁰⁰ sein. Während das Ausscheiden die Vorauswahl des zu Selektierenden leistet, besiegelt die Zerstörung die Befreiung von denjenigen Benennungen, Befestigungen und Konventionen, die den Aufstieg aufhalten oder verlangsamen. Wenn die Gerechtigkeit die Wert-Schätzung leistet, also etwas als wert erachtet, das Leben zu steigern, stellt sich die Frage nach dem Wesen des Lebens selbst. Heidegger lenkt die Gerechtigkeit unter Berufung auf Nietzsches Formulierung „höchster Repräsentant des Lebens selber“¹⁴⁰¹ in den Bereich ihrer Weisungsgebundenheit. Heidegger unterstreicht, dass die Repräsentationsart der Gerechtigkeit nicht als eine fassadenartige Vertreterfunktion verstanden werden darf, hinter der sich der Kern versteckt hält. Deswegen kann sie nicht als eher verdeckender denn enthüllender Ausdruck des eigentlich Gemeinten oder Leitenden beurteilt werden. Die Gerechtigkeit muss, so Heidegger, als das Medium begriffen werden, worin das Leben sich in höchster Potenz entfaltet, indem es sein Wesen im Vollzug des bauend-ausscheidend-vernichtenden Denkens in die Wirklichkeit zu übersetzen vermag.¹⁴⁰² Obwohl sich der bauende Aspekt des Erhöhens als Übermächtigung des Lebens offenbart, verweigert sich Heidegger einer biologistischen Vereinnahmung Nietzsches. Die Gewalt, die zur Wirkungsentfaltung und Sicherung der Macht vonnöten ist, konsolidiert sich keineswegs in der willkürlichen Triebentladung und in der Ausblendung jeglicher Vernunft. Statt-

    

Vgl. Heidegger, N I, S. 578. Heidegger, N I, S. 578. Heidegger, N I, S. 578. Heidegger, N I, S. 576; S. 579. Vgl. Heidegger, N I, S. 579.

1.7 Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) als Zäsur und Wendepunkt

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dessen ist sie nichts anderes als die praktische „Aktion des Lebens“¹⁴⁰³ selbst, deren Koordination von der Gerechtigkeit verantwortet wird. Heidegger komplettiert seine Interpretation durch die Ergänzung eines weiteren Fragments aus dem Jahre 1884: Gerechtigkeit, als Funktion einer weitumherschauenden Macht, welche über die kleinen Perspektiven von Gut und Böse hinaussieht, also einen weiteren Horizont des Vorteils hat – die Absicht, Etwas zu erhalten, das mehr ist als diese und jene Person.¹⁴⁰⁴

Das „Weitumherschauen“ darf nicht als ein austauschbar-flüchtiges Schweifen der Neugierde verstanden werden. Es ist durch eine Aus-Sicht gekennzeichnet, die die moralischen Setzungen von Gut und Böse über-sieht. Da innerhalb der Blickbahn der Metaphysik bisher das sein-sollende Gute als Ideal und das nichtsein-sollende Böse als sinnlich Korrumpiertes erschien, muss die Gerechtigkeit diese Einteilung hinter sich lassen, um mit der Moral auch die Entwertung der Welt zu verwinden.¹⁴⁰⁵ Weil sich die Gerechtigkeit als ermöglichendes Aufleuchtenlassen der Perspektivierung des Seienden nicht mehr an deontologischen oder utilitaristischen Abgrenzungen des Erlaubten orientiert, besitzt sie einen „weiteren Horizont des Vorteils“.¹⁴⁰⁶ Auch wenn Heidegger darauf insistiert, dass dieser Vorteilshorizont nicht mit einer kalkulatorischen Verfolgung von Mittel-Zweck-Relationen identifiziert werden könne und keineswegs die Legitimation eines gewaltsam verfahrenden Faustrechts verfüge¹⁴⁰⁷, sollte auf Heideggers Analyse des Vor-Teils ein besonderes Augenmerk gelegt werden. Es lässt sich nämlich dafür plädieren, dass die hier vorgeschlagene Anknüpfung an Thrasymachos – bei dem nicht ganz klar ist, ob seine Markierung ein normatives oder deskriptives Gepräge trägt – keine bloß philosophiegeschichtliche Erinnerungsnote konturiert, sondern hilfreich sein kann, um die am Ende der Metaphysik herrschende Gerechtigkeit zu beleuchten. Heidegger nimmt eine etymologische Herleitung vor, wonach „Vor-Teil“ das vor einer Teilung Zustehende benennt.¹⁴⁰⁸ Demnach grundiert die Gerech-

 Heidegger, N I, S. 563.  Heidegger, N I, S. 582. Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[149].  Vgl. Heidegger, N I, S. 581– 582.  Heidegger, N I, S. 582.  Vgl. Heidegger, N I, S. 580.  Vgl. Heidegger, N I, S. 583: „Eine Gerechtigkeit, die es auf den Vorteil absieht, das klingt befremdlich und zugleich deutlich nach Nutzen, Übervorteilung und Berechnung, wenn nicht gar nach Geschäft. Dabei hat Nietzsche das Wort ‚Vorteil‘ noch unterstrichen, um keinen Zweifel zu lassen, daß es bei der hier gemeinten Gerechtigkeit wesentlich auf den ‚Vorteil‘ ankommt. Die

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

tigkeit einen Wahlmechanismus, der die Stadien der Eingrenzung, der Zuteilung und der Bewahrung durchläuft. Sie weist dem Vorstellen dasjenige zu, was in ihm erfasst und konserviert werden soll. In dieser Erhaltungsintentionalität überschreitet die Gerechtigkeit sowohl das Individuum, das Ich und das Du, als auch das Kollektiv. Darüber hinaus verfolgt die Gerechtigkeit keine geschichtliche Endabsicht. Das einzige „Etwas“, das die Gerechtigkeit durativ zu vitalisieren sucht, ist die „weitumherschauende Macht“ selbst, als deren Funktion sie eingesetzt wird.¹⁴⁰⁹ Diese Macht kann jedoch keine andere als der Wille zur Macht sein. Da in den Willen zur Macht definitorisch die eigene Persistenz als stärkste Macht eingeschrieben ist, ist die Gerechtigkeit nichts anderes als das dem Stärksten Zuträgliche. Als Selbst-Gerechtigkeit ist sie zugleich der Nachteil, die Ungerechtigkeit für den Schwächeren. Die Gerechtigkeit entpuppt sich als der „Grundzug des Lebens“¹⁴¹⁰ selbst, welches sich im Überwältigen, Ausscheiden, Zerstören durch ebenjene höchste Macht bewährt und bewahrt.¹⁴¹¹ Obwohl Heidegger die Dignität des Willens zur Macht der Gerechtigkeit vorordnet, manifestiert sich erst in ihr die vollendete und höchste Wirkungsart des Willens zur Macht im Vollzug seines „Machtens“.¹⁴¹² Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gerechtigkeit von Heidegger als „Grund der Möglichkeit“¹⁴¹³, ja als „Wesen der Wahrheit“¹⁴¹⁴ (im Sinne der Eingleichung in das Chaos) definiert wird. Sie ist die geheime Macht, die dem Intellekt das Material für weitere Verfälschungen liefert. Daher geht sie derjenigen Wahrheit voraus, die als Anmessung an das Werdende von der Kunst in den Aufschein gehoben wird.¹⁴¹⁵ Ebenso diktiert die Gerechtigkeit als „Grundzug des Lebens“¹⁴¹⁶ die Fest-Stellung des Werdenden, das von der Erkenntnis vollzogen wird, um einen Habitualisierungsrahmen für den Willen zur Macht zu schaffen. Die Ge-

Betonung muß uns in der Anstrengung bestätigen, den Begriff, den dieses Wort deckt, nicht mehr nach Alltagsvorstellungen zu denken.“  Wichtig ist in diesem Zusammenhang Heideggers Interpretation des Begriffs der „Funktion“. Vgl. Heidegger, N I, S. 582: „‚Funktion‘, ‚Fungieren‘ will heißen: Vollzug, Ausführung, die Weise, wie die gemeinte Macht – Macht ist und machtet. ‚Funktion‘ bedeutet hier nicht etwas von dieser Macht erst Abhängiges und einen Nachtrag zu ihr, sondern sie selbst in ihrem Machten.“  Heidegger, N I, S. 585.  Vgl. Heidegger, N I, S. 584 u. S. 586 ff.  Heidegger, N I, S. 584.  Heidegger, N I, S. 575.  Heidegger, N I, S. 575.  Heidegger, N I, S. 582 ff.  Heidegger, N I, S. 585.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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rechtigkeit wägt das „Mund-gerechte“¹⁴¹⁷, das Rechte und Zutreffende ab und selektiert es. Dabei dient ihr das Denkgesetz des Satzes vom Widerspruch als Instrument. Nunmehr kann die einzige Gewissheit allein im rückhaltlosen Bekenntnis zu der (in und aufgrund der Instabilität ihrer Formierungsweisen beharrenden) Gerechtigkeit errungen werden. Die Gerechtigkeit bekundet sich als richtungsweisende Bedingung der „Möglichkeit jeder Art von Einstimmigkeit des Menschen mit dem Chaos“.¹⁴¹⁸ Die Gerechtigkeit gibt den Menschen in das Seiende frei: Die befehlende Erklärung und die dichtende Verklärung sind ‚recht‘ und gerecht, weil das Leben selbst im Grunde das ist, was Nietzsche Gerechtigkeit nennt.¹⁴¹⁹

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) 1.8.1 Die äußerste Bestätigung des metaphysischen Leitentwurfs in der „Lebendigkeit des Lebens“ Weil das Sommersemester 1939 im Juli vorzeitig beendet wurde, konnte Heidegger die Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis nicht zu Ende bringen. Es waren allerdings noch zwei Schlussvorlesungen vorgesehen, die nach Heidegger versucht hätten, „alles Voraufgegangene zusammenzudenken“.¹⁴²⁰ Mit deren Textfassung, die den Titel Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht erhalten hat, beginnt der Band Nietzsche II. ¹⁴²¹ Die Platzierung dieses Textes am Anfang von Nietzsche II erweist sich als eine glückliche und wohlbegründete Wahl. Durch diese Einteilung können die Unterschiede zu der ersten (in dem Abschnitt Die Einheit von Wille zur Macht, ewiger Wiederkehr und Umwertung ¹⁴²² vorgetragenen) Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr sehr gut sichtbar gemacht werden. Anhand der Verschiebungen gegenüber der drei Jahre zuvor (zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst) entfalteten Charakterisierung ihres Zu-

     

Heidegger, N I, S. 575. Heidegger, N I, S. 584. Heidegger, N I, S. 584. Vgl. dazu die Anmerkung in: Heidegger, N I, S. 594. Heidegger, N II, S. 1– 22. Vgl. Heidegger, N I, S. 15 – 22.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sammenhanges kann bekräftigt werden, dass die Positionierung der beiden Grundlehren zueinander den Glutkern bildet, der auf die anderen Grundworte der Metaphysik Nietzsches – Nihilismus, Übermensch und Gerechtigkeit – ausstrahlt.¹⁴²³ Darüber hinaus lässt sich der Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht als ein der Periodisierung in vorzüglicher Weise dienliches Dokument beurteilen, weil er bereits das Grundgepräge der ab 1940 einsetzenden Phase der Auseinandersetzung mit Nietzsche trägt. Zwar tritt die Technik in ihrem Bezug zum Willen zur Macht – besonders im Vergleich zu dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik – noch nicht explizit in den Fokus. Trotzdem ist sie der Sache nach in den Motiven der Machbarkeit, der Bestandsicherung, der Pleonexie der Steigerung und in den Verlaufsformen des Sichwiederholens des Identischen sowie der Beständigung des Werdens präsent. In ihrer Versammlung werfen diese Eigenschaften, Selbstvergewisserungsarten und Seinsweisen ein Licht auf Heideggers Erfassung des Hervortretens des Seins als Wille zum Willen voraus. Das Zeitalter des Willens zur Macht wird ab 1939 ostentativ als Zeitalter der Seinsverlassenheit begriffen, die sich der Verweigerung des Seins verdankt.¹⁴²⁴ Auch wenn sich manche der nunmehr unabweisbar aufscheinenden Kritikpunkte bereits in Nietzsche I beziehungsweise in den ersten drei Nietzsche-Vorlesungen angedeutet haben, so überrascht der aus einem Standpunkt der prätendierten Überlegenheit sprechende, nahezu polemische Ton gegenüber Nietzsche. Die skizzierte Ausweglosigkeit, die durch Nietzsches Lehren ihre Bestätigung finde und in Heideggers Schilderung der Neuzeit als Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit abgebildet wird, lässt sich in dieser Schärfe nicht einmal der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis entnehmen. Daher kann diese Wandlung auch nicht unmittelbar aus den vorangegangenen Vorlesungen hergeleitet werden. So grenzt Heidegger in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und Der Wille zur Macht die metaphysikbezogene Differenzierung der beiden Grundlehren nach Maßgabe der Titel essentia und existentia von der seinsgeschichtlichen Entschlüsselung ihrer Selbigkeit¹⁴²⁵ ab. Diese Selbigkeit äußert sich in der (aus der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis bereits bekannten) Stilisierung des Willens zur Macht zum neuzeitvollendenden Gedanken. An dessen

 Vgl. dazu den Text Nietzsches Metaphysik, in: Heidegger, N II, S. 230 – 300.  Vgl. Heidegger, N II, S. 20: „Was eigentlich geschieht, ist die Seinsverlassenheit des Seienden: daß das Sein das Seiende ihm selbst überläßt und darin sich verweigert. Sofern diese Verweigerung erfahren wird, ist schon eine Lichtung des Seienden geschehen, denn solche Verweigerung ist nicht Nichts, ist nicht einmal ein Negatives, kein Fehlen und kein Ab-bruch. Es ist anfängliche, erste Offenbarung des Seins in seiner Fragwürdigkeit – als Sein.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 6: „Ist der Wille zur Macht der Wesenscharakter der Seiendheit des Seienden, dann muß er dasselbe denken, was die ewige Wiederkehr des Gleichen denkt.“

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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Seite tritt nun die ewige Wiederkehr als eschatologische Figuration. Auf diese neue Ausdeutung wird noch zurückzukommen sein. Die ewige Wiederkehr wird nicht mehr – wie noch 1936/37 – emphatisch als Wiederentdeckung des „in sich selbst zurückschlagenden Jetzt“¹⁴²⁶ und dergestalt als das „verborgene Wesen der Zeit“¹⁴²⁷ begrüßt. Diametral dazu, apostrophiert Heidegger die ewige Wiederkehr als Verkehrung der Physis in ihr Unwesen. Obzwar sich in ihrer Synthese mit dem Willen zur Macht nach wie vor die zeithafte Verfasstheit des Seins bezeugen soll, hebt Heidegger 1939 hervor, dass sich die Verknüpfung von Sein und Zeit bei Nietzsche in einem vollständigen Einklang mit der metaphysischen Leitlinie bewege. Die ewige Wiederkehr verbürge eine präsentische, beständige Anwesenheit des Grundcharakters des Seienden.¹⁴²⁸ Nietzsches vehemente Kritik¹⁴²⁹ an der metaphysischen Konzeption eines substantiellen Seins¹⁴³⁰ oder der Hypostasierung erster Prinzipien ist nach Hei-

 Heidegger, N I, S. 17.  Heidegger, N I, S. 17.  Heideggers Position, dass erst im seinsgeschichtlichen Denken der Zusammenhang zwischen der jeweiligen Auslegung der Seiendheit und der zeithaften Bestimmung der beständigen Anwesenheit erkannt worden sei und selbst Nietzsche diesem Denkmuster verhaftet geblieben sei, ist insofern bestreitbar, als Nietzsche wie kein Zweiter die logisch-präsenzorientierte Verfasstheit der Metaphysik im Ganzen zum Vorschein gebracht und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet und begriffen hat. Allerdings ist Heidegger hinsichtlich der Auffassung recht zu geben, dass Nietzsche die Zentralität der Dauerhaftigkeit nicht aus einer epochalen Zeitigungsweise des Seins selbst erschließt. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 574, S. 391: „Unsinn aller Metaphysik als einer Ableitung des Bedingten aus dem Unbedingten. Zur Natur des Denkens gehört es, daß es zu dem Bedingten das Unbedingte hinzudenkt, hinzuerfindet: wie es das ‚Ich‘ zur Vielheit seiner Vorgänge hinzudenkt, hinzuerfindet: es mißt die Welt an lauter von ihm selbst gesetzten Größen: an seinen Grundfiktionen ‚Unbedingtes‘, ‚Zweck und Mittel‘, Dinge, ‚Substanzen‘, an logischen Gesetzen, an Zahlen und Gestalten. Es gäbe nichts, was Erkenntnis zu nennen wäre, wenn nicht erst das Denken sich die Welt dergestalt umschüfe zu ‚Dingen‘, Sich-selbst-Gleichem. Erst vermöge des Denkens gibt es Unwahrheit. Das Denken ist unableitbar, ebenso die Empfindungen: aber damit ist es noch lange nicht als ursprünglich oder ‚an sich seiend‘ bewiesen! sondern nur festgestellt, daß wir nicht dahinter können, weil wir nichts als Denken und Empfinden haben.“ Vgl. Nietzsche, NF-1883,8[25].  Vgl. dazu paradigmatisch Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 608, S. 416: „Wir übersetzen eine uralte Mythologie und Eitelkeit des Menschen in die harte Tatsache: so wenig ‚Ding an sich‘, so wenig ist ‚Erkenntnis an sich‘ noch erlaubt als Begriff. Die Verführung durch ‚Zahl und Logik‘, die Verführung durch die ‚Gesetze‘. ‚Weisheit‘ als Versuch, über die perspektivischen Schätzungen (d. h. ‚über den Willen zur Macht‘) hinwegzukommen: ein lebensfeindliches und auflösendes Prinzip, Symptom wie bei den Indern usw., Schwächung der Aneignungskraft.“ Vgl. die Belegstelle: Nietzsche, NF-1886,5[14].Vgl. ferner Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 616, S. 418: „Daß der Wert der Welt in unserer Interpretation liegt (daß vielleicht irgendwo noch andere Interpretationen möglich sind, als bloß menschliche –) daß die bisherigen Interpretationen perspektivische

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

degger für die Entwicklung, Gültigkeit und Wirkungskraft der in seiner (Nietzsches) eigenen Metaphysik profilierten, epochalen Gedanken ohne Belang. Ohne dass Nietzsche die Bedeutung dieses Geschehnisses, die Verwurzelung in der Tradition und die Folgen selbst ermessen konnte, wird nach Heidegger in dem neuzeitabschließenden Gedanken des Willens zur Macht (wie in der bisherigen Metaphysik) alles Seiende in einer Seiendheit rückgegründet, die in den nicht hinterfragten Horizont der Zeit als Beständigkeit eingelassen ist. Dies verdeutlicht Heidegger einerseits anhand des immanenten, bei Nietzsche disparat und offen bleibenden Bezuges der ewigen Wiederkehr zum Willen zur Macht: Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen wird von Nietzsche zeitlich früher gedacht als der Wille zur Macht, obzwar Anklänge zu diesem sich gleich früh finden. Der Wiederkunftsgedanke ist jedoch vor allem sachlich früher, d. h. vorgreifender, ohne daß Nietzsche selbst jemals die Wesenseinheit mit dem Willen zur Macht eigens als solche zu durchdenken und metaphysisch in den Begriff zu heben vermochte. Ebensowenig erkennt Nietzsche die metaphysikgeschichtliche Wahrheit des Wiederkunftsgedankens, und dies keineswegs deshalb nicht, weil ihm der Gedanke dunkel geblieben wäre, sondern weil er in die Grundzüge des metaphysischen Leitentwurfes so wenig zurückfinden konnte wie alle Metaphysiker vor ihm. Denn das Gezüge des metaphysischen Leitentwurfes des Seienden auf die Seiendheit und damit das Vorstellen des Seienden als eines solchen im Bezirk der Anwesenheit und Beständigkeit werden erst wißbar, wenn jener Entwurf als geschichtlich geworfener zur Erfahrung kommt. Ein Erfahren dieser Art hat mit den erklärenden Theorien, die bisweilen die Metaphysik über sich selbst aufstellt, nichts gemein. Auch Nietzsche gelangt nur zu solchen Erklärungen, die freilich nicht zu einer Psychologie der Metaphysik verflacht werden dürfen.¹⁴³¹

Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachstum der Macht erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven auftut und an neue Horizonte glauben heißt – dies geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch, d. h. kein Tatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist ‚im Flusse‘, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine ‚Wahrheit‘.“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[108].  Vgl. zur Reduktion der beharrenden Einheit auf ein aus dem Mangel geborenes Bedürfnis: Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 600, S. 413: „Unendliche Ausdeutbarkeit der Welt: jede Ausdeutung ein Symptom des Wachstums oder des Untergehens. Die Einheit (der Monismus) ein Bedürfnis der inertia; die Mehrheit der Deutung, Zeichen der Kraft. Der Welt ihren beunruhigenden und änigmatischen Charakter nicht abstreiten wollen!“ Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[117].  Heidegger, N II, S. 4– 5. Zu dem Topos der Psychologie der Metaphysik vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 576, S. 391– 392: „Zur Psychologie der Metaphysik. – Der Einfluß der Furchtsamkeit. Was am meisten gefürchtet worden ist, die Ursache der mächtigsten Leiden (Herrschsucht, Wollust usw.), ist von den Menschen am feindseligsten behandelt worden und aus der ‚wahren Welt‘ eliminiert. So haben sie die Affekte Schritt für Schritt weggestrichen, – Gott als

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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Um angesichts dieser innermetaphysischen Kontinuität des Leitentwurfes dennoch auf der gewichtigen Devianz und dem ausgezeichneten Status des Nietzscheschen Denkens beharren zu können, kontextualisiert Heidegger die Lehre der ewigen Wiederkehr in einer anamnetischen Hinblicknahme andererseits mit der griechischen Erfahrung der Physis. Diese Parallelisierung hatte zuvor bereits Löwith in die Diskussion eingebracht.¹⁴³² Anders als Löwith, sieht Heidegger in diesem Rekurs keine Wiedergewinnung des anfänglichen, ewig bewegten und aufgehenden Seins. Heidegger vermag darin allein den Ausdruck einer äußersten Entfremdung zu erkennen, die das Entstehen und das Vergehen tilgt und damit auch die Vergänglichkeit der endlichen Zeit nicht mehr zulässt. Im Unterschied zu dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) wird die ewige Wiederkehr 1939 noch nicht als widerwillige Rache an der Zeit, an der Einmaligkeit sowie an der Irreversibilität zurückliegender Ereignisse geschildert. Gemäß dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht leistet sie als endgeschichtliche Formation die im Anfang des griechischen Denkens vorgezeichnete Fixierung des Werdens. Einzig zur Identität mit sich selbst zurückkehrend, vermag das in der ewigen Wiederkehr gehaltene Werden bei Nietzsche schließlich kein Erglänzen des Unverwechselbaren mehr zu gewähren:

Gegensatz des Bösen angesetzt, d. h. die Realität in die Negation der Begierden und Affekte angesetzt (d. h. gerade ins Nichts). Insgleichen ist die Unvernunft, das Willkürliche, Zufällige von ihnen gehaßt worden (als Ursache zahlloser physischer Leiden). Folglich negierten sie dies Element im An-sich-Seienden, faßten es als absolute ‚Vernünftigkeit‘ und ‚Zweckmäßigkeit‘. Insgleichen der Wechsel, die Vergänglichkeit gefürchtet: darin drückt sich eine gedrückte Seele aus, voller Mißtrauen und schlimmer Erfahrung (Fall Spinoza: eine umgekehrte Art Mensch würde diesen Wechsel zum Reiz rechnen). Eine mit Kraft überladene und spielende Art Wesen würde gerade die Affekte, die Unvernunft und den Wechsel im eudämonistischen Sine gutheißen, samt ihren Konsequenzen, Gefahr, Kontrast, Zugrunde-gehen usw.“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,18[16]. Zu der von Heidegger (auch) an Nietzsche kritisierten „Verflachung“ metaphysischer Probleme durch ihre Rückführung auf psychologische Idiosynkrasien (z. B. die Furcht der Metaphysiker vor dem Leiden, die sie nach Nietzsche zu der Konzeption einer selig-ruhigen, unveränderlichen Wahrheitswelt veranlasst) und durch die Parallelisierung mit Krankheits-Symptomen vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 579, S. 394– 395: „Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. ‚Ewige Seligkeit‘: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Menschen fassen Lust und Leid nie als letzte Wertfragen, – es sind Begleit-Zustände: man muß beides wollen, wenn man etwas erreichen will. – Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehen. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt. Insgleichen die Präokkupation durch Schein und Irrtum: Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der ‚Gewißheit‘, im ‚Glauben‘).“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,8[2].  Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 193 – 194.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Der Wiederkunftsgedanke ist nicht Heraklitisch in dem gewöhnlichen philosophiehistorischen Sinne, er denkt jedoch, ungriechisch inzwischen, das Wesen der vormals entworfenen Seiendheit (der Beständigkeit des Anwesens), denkt es in seiner ausweglosen, in sich eingerollten Vollendung. Der Beginn ist so in die Vollendung seines Endes gebracht.¹⁴³³

In dieser Passage kündigt sich an, dass die ewige Wiederkehr wie 1936/37 wieder in die Lage versetzt wird, den in der Metaphysik ausgetragenen Gegensatz von Sein und Werden aufzuheben. Wie in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst geschieht diese Aufhebung nicht nur im Sinne eines vereinigenden Zurückdrehens in die Entwürfe Heraklits und Parmenides’, die von Nietzsche als Anfang begriffen werden. In erster Linie vollzieht sich der Einsturz der anfänglichen Entgegensetzung zugunsten des Willens zur Macht, dessen Werden durch die ewige Wiederkehr zu einem beständigen Anwesen geprägt wird. In Anbetracht dieser vermeintlichen Bedeutungspersistenz der ewigen Wiederkehr ist nachdrücklich zu betonen, dass sich der Richtungssinn der Befestigung ändert, weil sich die Beurteilung des Willens zur Macht gegenüber 1936/37 fundamental gewandelt hat: Der freigiebige, schöpferische, vielfaltserzeugende große Stil ist dem wertesetzenden „einzigen Gedanken“ gewichen. Der einzige Gedanke koordiniert die monolithische Bestandsicherung des Lebens. Die ewige Wiederkehr steht in der Durchstreichung der Dichotomie dafür ein, das Werden und das Sein in der weder wahren noch scheinbaren Wirklichkeit immer wieder ineinander aufzulösen. So wird der Lebensvollzug gewährleistet und der Wille zur Macht aufrechterhalten. Die ewige Wiederkehr besiegelt die Erosion der Aletheia. Die Unverborgenheit wird schließlich von der Gerechtigkeit verdrängt: Die Geschichte der Wahrheit des Seins endet in der durch den Einsturz der ungegründeten ἀλήθεια vorgebahnten Verlorenheit ihres anfänglichen Wesens. Aber zugleich erhebt sich notwendig der historische Schein, als sei jetzt die anfängliche Einheit der φύσις in ihrer ursprünglichen Gestalt zurückgewonnen; denn sie wurde schon in der Frühzeit der Metaphysik auf das ‚Sein‘ und ‚Werden‘ verteilt. Das so Zerteilte wurde den beiden maßgebenden Welten, der wahren und der scheinbaren, zugeteilt. Was kann jedoch, so meint man, die Aufhebung der Unterscheidung beider und das Ausstreichen der Unterschiedenen anderes bedeuten als das Zurückfinden in das Anfängliche und damit die Überwindung der Metaphysik? Allein Nietzsches Lehre ist nicht Überwindung der Metaphysik, sie ist die in sich erblindete äußerste Inanspruchnahme ihres Leitentwurfes. Sie ist darum auch wesentlich Andres als die lahme historische Reminiszenz über den zyklischen Verlauf des Weltgeschehens.¹⁴³⁴

 Heidegger, N II, S. 5.  Heidegger, N II, S. 6.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

425

Analog zur 1939 registrierbaren Beurteilungswende bei der ewigen Wiederkehr des Gleichen und ihrem Verhältnis zur Zeitlichkeit fällt der Einschätzungswandel hinsichtlich des Gedankens des Willens zur Macht aus. Im Vergleich zur ersten Nietzsche-Vorlesung kappt Heidegger nun jede Anbindung des Willens zur Macht an die Entschlossenheit und an die Affektivität des Einzelnen. Heidegger vermeidet die Verknüpfung des Willens zur Macht mit der lichtenden Bündelung des Seienden. Er rückt die bereits 1936/1937 anklingenden Schattenseiten des Willens zur Macht in den Mittelpunkt. Diese Negativaspekte fügt Heidegger mit den Untersuchungen zum kategorial vorgegebenen Erkenntnisrahmen aus der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis zusammen. Heidegger betrachtet die Zeigeweisen und Auswirkungen des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr ab 1939 nicht mehr innerhalb der menschlichen Perspektive, die er noch im selben Jahr als Ort der Freiheit begriffen hatte. Er thematisiert beide Lehren nun nur noch in ihrem ontologischen Bezug zueinander. Mit dieser Vorgehensweise sucht er die von ihnen ausgehende Herrschaftsausübung innerhalb des nach Heidegger vom Sein verlassenen Zeitalters transparent zu machen. Wie anhand des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? unterliniert werden soll, bricht er auch 1953 nur partiell mit diesem Auslegungsparadigma.¹⁴³⁵ Es ist der Wesenswille, der jede menschliche Einzelperspektive in sein Wollen hineinnimmt und die Art der Chaos-Vernehmung dirigiert. Jeden Erkenntnisakt verwandelt er in einen Machtbeweis. Die sich in den Veränderungen durchhaltende Anwesenheit des Willens ist nichts anderes als die unbezweifelbare Restriktion auf ein stehendes Jetzt, das sich den Anschein der Veränderung gibt. Die Anwesenheit des Willens zur Macht verweigert sich einer anfänglichen Spurenermittlung ihres selbst nicht voluntaristischen Wesens. Die kritische Frage nach der Herkunft der Bevorzugung einer Zeitdimension – die der Gegenwart – wird durch den einförmig und repetitiv agierenden Willen zur Macht unterbunden. Ein zentrales Element der Nietzsche-Kritik Heideggers liegt also in dem Nachweis, dass dessen Grundlehren in sich von verselbstständigten Modi der Selbstabriegelung getragen werden. Daher stellen die Haupttheoreme Nietzsches nicht einfach nur möglicherweise zutreffende Aussagen über das Seiende dar. Die Immunisierungstendenz lässt es nicht mehr zu, die Umkehrung des Platonismus als gleichbedeutend mit der Umwertung aller Werte zu erfahren. Die Umwertung bremst die intendierte Überwindung der Metaphysik aus, indem sie deren Prinzipien in der durch den Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr bestimmten, einzigen, wahrheitslosen (und deswegen dem „letzten Wort“ der Metaphysik entsprechenden) Wirklichkeit zur vollen Geltung bringt:

 Vgl. hierzu das Kapitel 1.10 dieser Arbeit.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Sofern aber zugleich die Platonische ‚Idee‘, und zwar in ihrer neuzeitlichen Form, zum Vernunftprinzip und dieses zum Wert geworden ist, wird die Umkehrung des Platonismus zur ‚Umwertung aller Werte‘. In ihr kommt der umgekehrte Platonismus zur blinden Verhärtung und Verflachung. Jetzt besteht nur noch die einzige Fläche des sich selbst um seiner selbst willen zu sich selbst ermächtigenden ‚Lebens‘. Sofern die Metaphysik eigens mit der Auslegung der Seiendheit als ἰδέα beginnt, erreicht sie in der ‚Umwertung aller Werte‘ ihr äußerstes Ende. Die einzige Fläche ist jenes, was nach der Abschaffung der ‚wahren‘ und der ‚scheinbaren‘ Welt bleibt und als dasselbe von ewiger Wiederkehr und Wille zur Macht erscheint. Als Umwerter aller Werte bezeugt Nietzsche, ohne daß er die Tragweite dieses letzten Schrittes weiß, seine endgültige Zugehörigkeit zur Metaphysik und mit ihr die abgründige Trennung von jeder Möglichkeit eines anderen Anfangs.¹⁴³⁶

Zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis hatte Heidegger die geschichtliche Disposition der Nietzscheschen Philosophie allein über den Willen zur Macht begründet. Als einziger Gedanken Nietzsches weitet der Wille zur Macht in seiner Personalunion als „erster und höchster“¹⁴³⁷ Gedanke der Metaphysik im Ganzen die vor-stellende, neuzeitliche Subjektivität¹⁴³⁸ und den Aufruf zur Haltgewinnung in der Machtsteigerung in das Unbedingte aus. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und Der Wille zur Macht restituiert Heidegger eine paritätische Relevanzgewichtung. Stellenweise liest sich Heideggers Reetablierung der ewigen Wiederkehr, der wie schon 1936/37 die tragende, doch nunmehr negativ konnotierte Funktion der Rückbindung der werdenden Überhöhung in die Anwesenheit zukommt, wie eine Selbstkritik an der wenige Monate zuvor expli Heidegger, N II, S. 15 – 16.  Vgl. Heidegger, N I, S. 443.  Dass Heideggers Einordnung der Nietzscheschen Philosophie in das Gefüge der vorstellend-wollenden Subjektivität durchaus plausibel ist und eine Berechtigung besitzt, kann anhand von zwei Aufzeichnungen aus dem späten Nachlass verdeutlicht werden. Trotz seiner kritischen Rekonstruktion des Subjektbegriffes stärkt Nietzsche die Subjektivität in epistemischer Hinsicht, indem er sie zum einen mit der Interpretation nahezu gleichsetzt und indem er die Subjekt-ObjektKorrelation zum anderen noch in ihrer Abweisung als selbstverständliches Bezugsverhältnis zugrunde legt. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 583, S. 396: „Damit, daß eine Welt, die unsern Organen zugänglich ist, auch als abhängig von diesen Organen verstanden wird, damit, daß wir eine Welt als subjektiv bedingt [verstehen], damit ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive Welt überhaupt möglich [ist.] Wer wehrt uns zu denken, daß die Subjektivität real, essentiell ist?“ Vgl. Nietzsche, NF-1888,14[103].Vgl. auch Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 560, S. 382: „Daß die Dinge eine Beschaffenheit an sich haben, ganz abgesehen von der Interpretation und Subjektivität, ist eine ganz müßige Hypothese: es würde voraussetzen, daß das Interpretieren und Subjektsein nicht wesentlich sei, daß ein Ding aus allen Relationen gelöst noch Ding sei. Umgekehrt: der anscheinende objektive Charakter der Dinge: könnte er nicht bloß auf eine Graddifferenz innerhalb des Subjektiven hinauslaufen? – daß etwa das Langsam-Wechselnde uns als ‚objektiv‘ dauernd, seiend, ‚an sich‘ sich herausstellte – daß das Objektive nur ein falscher Artbegriff und Gegensatz wäre innerhalb des Subjektiven?“ Vgl. Nietzsche, NF-1887,9[40].

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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zierten Zurückstufung dieser Lehre zum „anderen“ Gedanken. So offeriert Heidegger die These, dass das Zeitalter des Willens zur Macht nur dann hinreichend verstanden werden könne, wenn die Lehre der ewigen Wiederkehr nicht schlichtweg in diesen einbezogen wird. Vielmehr müsse die ewige Wiederkehr in ihrer eigenständigen metaphysikgeschichtlichen Aussagekraft gewürdigt werden: Denken wir aus dem tragenden und die ganze Metaphysikgeschichte anfänglich überholenden Leitentwurf der Seiendheit des Seienden, dann erkennen wir das metaphysisch Notwendige und Endgültige der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Bestimmung des Zusammenhanges dieser Lehre mit dem Grundgedanken des Willens zur Macht bringt Nietzsches Philosophie als die ausgezeichnete geschichtliche Endstellung der abendländischen Metaphysik zum Vorschein. Für ein solches Wissen rückt sie wiederum in die Notwendigkeit jener Aus-einander-setzung, in der sich und für die sich die abendländische Metaphysik als das Ganze einer vollendeten Geschichte in die Gewesenheit, d. h. in die endgültige Zukünftigkeit zurücksetzt. Die Gewesenheit ist die Befreiung des scheinbar nur Vergangenen in sein Wesen, die Über-setzung zumal des scheinbar endgültig zurückgesunkenen Anfangs in seine Anfänglichkeit, durch die er alles ihm Nachkommende überholt und so zukünftig ist. Das wesende Vergangene, die je entworfene Seiendheit als verhüllte Wahrheit des Seins, überherrscht alles, was als gegenwärtig und, kraft seiner Wirksamkeit, als das Wirkliche gilt.¹⁴³⁹

Dieser Passus wurde in seiner vollen Länge zitiert, um Heideggers zwiespältige Deutungsstrategie hinsichtlich der Lehre der ewigen Wiederkehr veranschaulichen zu können. Zunächst ist im Hinblick auf augenfällige Interpretationsveränderungen voranzuschicken, dass Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis den Willen zur Macht in seiner Funktion als neuzeitvollenden Gedanken zugleich als endzeitliches Prinzip markiert hatte. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht erreicht Heidegger eine höhere Differenzierungsschärfe. Diese konvergiert mit der Wiederherstellung des Status der ewigen Wiederkehr. Die eschatologische Rolle geht auf die ewige Wiederkehr über. Die ewige Wiederkehr wendet sich auf das Walten der Physis

 Heidegger, N II, S. 2– 3. Ähnlich bestimmt Heidegger das Verhältnis zwischen dem Anfang, dem Gewesenen und dem Künftigen zum Ende des sechsten Abschnittes von Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht: „Die Vollendung der Metaphysik als Wesenserfüllung der Neuzeit ist nur darum ein Ende, weil ihr geschichtlicher Grund schon der Übergang in den anderen Anfang ist. Dieser aber springt nicht aus der Geschichte des ersten weg,verleugnet nicht das Gewesene, sondern geht in den Grund des ersten Anfangs zurück und übernimmt mit dieser Rückkehr eine andere Beständigkeit. Sie bestimmt sich nicht aus dem Erhalten des jeweils Gegenwärtigen. Sie fügt sich in das Aufbewahren des Künftigen. Dadurch wird das Gewesene des ersten Anfangs genötigt, selbst auf dem Ab-grund seines bisher ungegründeten Grundes zu ruhen und so erst Geschichte zu werden.“ Vgl. Heidegger, N II, S. 21.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sowie auf den Leitentwurf des Seins als zeithafte Anwesenheit zurück. Zudem vollendet sie die vorgezeichneten Wegbahnen des Anfangs. Hingegen wird der Wille zur Macht auf den Gesichtskreis der Neuzeit eingeschränkt und figuriert als Sinnbild für die Herrschaft der Subjektivität. Heidegger ordnet die Lehre der ewigen Wiederkehr gänzlich in die Metaphysik ein, weil sie – wie oben bereits erwähnt wurde – zum einen die letzte Seiendheit befestigt und perpetuiert (und somit vollendet, d. h. zum unbedingten Austrag bringt und in die „Zukünftigkeit“ einer lang anhaltenden, in ihrem Endpunkt unabsehbaren Wirkung in der Moderne übersetzt). Zum anderen nimmt sie die anfängliche, platonische Zertrennung von Sein und Werden mitsamt der Aufteilung auf verschiedene Geltungsbereiche in der zum Unwesen ihrer selbst – nämlich zu dem sich allein selbst erhaltenden und steigerungsbedürftigen Leben des Willens zur Macht – vorangeschrittenen Physis zurück. Die metaphysischen Grundstellungen und damit auch die „geschichtliche Endstellung“ Nietzsches lassen sich aus Heideggers seinsgeschichtlicher Sicht nicht als abgeschlossenvergangene Geronnenheit bewerten. Dies hängt vornehmlich damit zusammen, dass jede für sich betrachtete Seiendheit ein durch das Sein verfügtes und deswegen nie im historischen Sinne vergangenes Zeitalter geprägt hat. Außerdem wird die Metaphysik als Ganze in ihrer vorauswährenden Gewesenheit gewürdigt, weil sie nach ihrer Vollendung im Gedanken des Willens zur Macht in einem inneren Rücklauf auf ihre Herkunft aus dem Anfang zurückverwiesen werden kann. Der Anfang wird aus seiner (während der Ausfaltung der Grundstellungen anwachsenden) Verdeckung befreit. In der Vollendung zieht der Anfang die Entwürfe der Seiendheit zusammen und birgt sie in seiner überholenden, die metaphysische Geschichte präfigurierenden, zukünftigen Kraft. Zugleich gibt er die überwundenen Grundstellungen auf seinen unbedachten, andersartigen Abgrund frei. In diesem Gegenspiel zweier Anfänge besitzt die ewige Wiederkehr des Gleichen als eschatologische Verbindungsgarantin zwischen dem Anfang (bezeichnet durch Platons Umdeutung der Physis zur Idea) und dem Ende der Metaphysik durchaus eine privilegierte Stellung. Ansonsten scheint Heidegger die ewige Wiederkehr jedoch gänzlich in der geschlossenen Formation der Metaphysik aufgehen zu lassen. Prima facie wird der ewigen Wiederkehr dadurch die Gültigkeit ihres Lehrgehaltes bestritten. Die Ambiguität manifestiert sich indes darin, dass Heidegger den Inhalt der ewigen Wiederkehr im selben Atemzug affirmativ übernimmt, in welchem er den abgründigen Gedanken mitsamt dem Willen zur Macht in die Metaphysik und damit in die Gewesenheit der Ergründungsweisen des Seins des Seienden einrückt. Heidegger verwendet die Vollzugsweise der ewigen Wiederkehr als Beschreibungsmaxime, um das Verhältnis zwischen dem Anfang und der Metaphysik im Ganzen zu bestimmen. Schärfer ausgedrückt, lässt sich sagen, dass

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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Heidegger die ewige Wiederkehr in dem bereits in Sein und Zeit anklingenden Motiv der Wiederholung plagiiert. Dieses Theorem wird von Heidegger auch auf das immer noch Währende des Gestells übertragen. Stets wird der Gedanke der Iteration von Seiten Heideggers mit der Überzeugung der eigenständigen Entdeckerleistung exponiert. Die Vorstellung einer Wiederkehr wendet Heidegger des Weiteren auf das Phänomen einer Ankunft des vergessenen Göttlichen sowie auf die Geschichte der metaphysischen Grundstellungen an. Kritisch zugespitzt, ließe sich die folgende Frage aufwerfen: Was ist die Kernauffassung des seinsgeschichtlichen Narrativs, wonach das Gewesene des Anfangs nicht als etwas zurückliegend Vergangenes desavouiert werden dürfe, da es in sich das noch Ausstehende und aus der Zukunft Zurückkommende berge, anderes als eine „Ausformung der ewigen Wiederkehr des Gleichen“?¹⁴⁴⁰ Heidegger hebt emphatisch hervor, dass das in seiner zeitalterformenden Gestalt nicht hinreichend berücksichtigte Gewesene keineswegs schlichtweg verloren geht. Nach Heidegger schält es sich in der Zukunft aus seiner Vergessenheit heraus und bezeugt sich in seiner bislang verborgenen Größe. Dem entspricht – freilich auf der Basis eines anderen Ansatzes – Nietzsches Intention, keinen Aspekt inmitten des Werdens preiszugeben, weswegen das Zurückliegende im Vorauswollen einzuholen ist. Heideggers Grundthese, dass der Anfang immer etwas Zukünftiges bleibe, wird durch die Lehre der ewigen Wiederkehr gestützt. Gleichwohl könnte Nietzsche unter Zugrundelegung des Kreisganges sogar die Ansetzung eines Anfanges mitsamt dem Festhalten an einer Geschichtlichkeit des Seins als unzulässige Naivität ablehnen. Nietzsche könnte darin das Relikt einer nicht überwundenen, teleologischen Denkweise erblicken.

1.8.2 Das Kriterium der „Beständigung“ als gemeinsamer Wesenszug des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen inmitten des „Sichwiederholens des Identischen“ Die eminente, in keiner anderen Veröffentlichung Heideggers so deutlich hervortretende Wichtigkeit des Zusammenhanges zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Willen zur Macht bezeugt sich nicht zuletzt darin, dass ihre Verhältnisauslotung zum Gestaltungsprinzip des Textes Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht avanciert. Dieser gliedert sich in sechs Abschnitte,

 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 124.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

welche jeweils die Aufgabe besitzen, die folgenden sechs Leithesen Heideggers inhaltlich zu vertiefen: Die Bestimmung des Zusammenhanges zwischen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen zur Macht verlangt die folgenden Schritte: 1. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen denkt den Grundgedanken des Willens zur Macht metaphysikgeschichtlich voraus, d. h. in seine Vollendung. 2. Beide Gedanken denken metaphysisch, neuzeitlich und endgeschichtlich dasselbe. 3. In der Wesenseinheit beider Gedanken sagt die sich vollendende Metaphysik ihr letztes Wort. 4. Daß die Wesenseinheit ungesprochen bleibt, begründet das Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit. 5. Dieses Zeitalter erfüllt das Wesen der Neuzeit, die dadurch erst zu sich selbst kommt. 6. Geschichtlich ist solche Erfüllung, in der Verborgenheit und gegen den öffentlichen Anschein, die Not des alles Gewesene übernehmenden und das Künftige vorbereitenden Überganges auf den Weg in die Wächterschaft der Wahrheit des Seins.¹⁴⁴¹

Bereits im ersten Abschnitt, welcher der Umrandung der ewigen Wiederkehr als vorausgreifende Vollendung des Willens zur Macht gewidmet ist, entfaltet Heidegger eine ausgesprochen aufschlussreiche, differenzierte Auseinanderlegung jener Bestandteile, die den Terminus „Ewige Wiederkehr des Gleichen“ konstituieren. Der Topos der „Wiederkehr“ wird von Heidegger als Zielrichtung und Funktion des Gedankens benannt. Der Zusatz „ewig“ wird als Titel für die Verlaufsform – das Kreisen – und somit als Art der Selbsterhaltung verstanden. Das „Gleiche“ steht für das Substrat, das sich in den einzelnen Wiederholungen und im Wandel der mannigfaltigen Lebensgestalten durchhält. Konkret definiert Heidegger die Wiederkehr als „Beständigung des Werdenden zur Sicherung des Werdens in seiner Werdedauer“.¹⁴⁴² Das „Werdende“ lässt sich unschwer als permanent neu aufquellendes, sich übermächtigendes und anwachsendes Leben (beziehungsweise als Wille zur Macht) entschlüsseln. Es ist das Leben, das sich im Modus der Wiederkehr in seinem unbeständigen Werden immer wieder von neuem gewinnt und dergestalt eine „Werdedauer“ erlangt. Die Wiederkehr ist eine ewige (und nicht nur eine einmalige Wiederholung), weil das Vergehende innerhalb des drehenden Rades nicht umhin kann, unendliche Male in sein eigenes Entstehen zurückzulaufen: Das ‚ewig‘ denkt die Beständigung dieser Ständigkeit im Sinne des in sich zurück- und zu sich vorauslaufenden Kreisens.¹⁴⁴³

 Heidegger, N II, S. 3.  Heidegger, N II, S. 5.  Heidegger, N II, S. 5.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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Von gravierender Bedeutung für den Konstitutionszusammenhang der ewigen Wiederkehr und für deren Relation zum Willen zur Macht ist der Topos des Gleichen. Das Gleiche wird von Löwith als Rhythmus des bewegten Seins der Natur begriffen.¹⁴⁴⁴ In Jaspers’ Nietzsche-Deutung und in Heideggers thematischer Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 wird dem Gleichen keine inhaltliche Erfüllung im Sinne eines innewohnenden Identitätsträgers zugesprochen. Das wiederkehrende „Gleiche“ konnte im Grunde durch jedes beliebige Geschehnis und jede augenblickliche Handlung repräsentiert werden. Umso beachtenswerter ist, dass Heidegger nun innerhalb der Wiederkehr zwischen einem Vordergrund (der Vielfalt wechselnder Anblicke) und einem Hintergrund (dem sich darin durchhaltenden Gleichen) trennt. Der Spezifikation des Gleichen nähert er sich zunächst im Ausgang von dem Werdenden. Da dieses Werdende in das ewige Kreisen der Wiederkehr hineingehalten ist, kann es per definitionem nicht ein jeweils einmalig Entstehendes, d. h. das „fortgesetzt Andere des endlos wechselnden Mannigfaltigen“¹⁴⁴⁵ sein. Gleichwohl darf das Mannigfaltige als Indikator der Lebensfülle nicht ausgeblendet werden. Das Werdende erweist sich folglich als das „Eine und Selbe (Identische) in der jeweiligen Verschiedenheit des Anderen“.¹⁴⁴⁶ Das Identische ist anwesend, indem es wird; es wird, indem es auf seine bestehende Anwesenheit zurückgeht. Das Kriterium der Selbstgleichheit ist sowohl im Werden als auch in der Beständigkeit garantiert. Das Gleiche verliert im Sein nicht das ihm eignende Werden. Zudem geht das ‚Eine und Selbe‘ in seinem Werden nicht aus einem Zustand des Nichtseins in das Sein über. Als immerzu Werdendes beharrt es in seiner Dauer und ist daher im Werden seiend. Obwohl Heidegger an dieser Stelle nicht aufdeckt, wie das „Gleiche“, „Identische“ zu charakterisieren ist, so indiziert seine Beschreibung des Gleichen und dessen Klassifikation als das Werdende eindeutig auf den Willen zur Macht als Gehalt des Gleichen. Auf diese Weise macht der Wille zur Macht das Zentrum der ewigen Wiederkehr aus und wird von ihr unaufhörlich als Produkt hervorgebracht. Dass der Wille zur Macht als Benennung für das Gleiche fungieren kann, wird transparent, wenn die aus den geschilderten Wesensmerkmalen zusammengesetzte Gesamtcharakterisierung der ewigen Wiederkehr des Gleichen hinzugezogen wird: Nietzsches Gedanke denkt die ständige Beständigung des Werdens des Werdenden in die eine Anwesenheit des Sichwiederholens des Identischen.¹⁴⁴⁷

   

Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 135 – 141. Heidegger, N II, S. 5. Heidegger, N II, S. 5. Heidegger, N II, S. 5.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Heideggers abstrakt bleibende Hervorhebung einer singulären Anwesenheit, in der sich das Identische wiederholt, kann konkreter gefasst werden als Seiendheit, in der sich das Identische, der Wille zur Macht, in seinem Vorauswollen als ewige Wiederkehr konturiert und wieder-holt. Signifikant ist, dass Heidegger die in der Vorlesung zur ewigen Wiederkehr gegebene Bestimmung des Augenblicks als erfülltes Zugleichsein der Zeitdimension gänzlich ausblendet. Das Attribut des Gleichen gerät 1939 allein in der Synthesegestalt aus einer inhärenten Beharrlichkeit und einer zugunsten ihrer Erhaltung und Bezeugung als Gleichheit absolvierten, um sie kreisenden Bestandlosigkeit des vielfältig Wechselnden in den Blick. Heideggers Markierung dieser sinnleeren Möbiusschleife als „Sichwiederholen des Identischen“¹⁴⁴⁸ ist auch aus philosophiehistorischer Sicht von Interesse. Das Kierkegaardische (Gedanken‐) Experiment einer Wiederholung des Selben, das Constantin Constantius¹⁴⁴⁹ süffisant für gescheitert erklärt und das Karl Löwith¹⁴⁵⁰ vehement von der Figur einer Wiederkehr des Gleichen unterscheidet, wird von Heidegger nicht als Selbstwiederbringung der Welt gefasst. Die Wiederholung wird als „in sich eingerollte Vollendung“¹⁴⁵¹ thematisiert. In dieser exemplifiziert sich keineswegs die Wiedergewinnung einer versöhnenden Abrundung. Im Gegensatz dazu, wird in ihr das Unvermögen sichtbar, einen wirklichen Anfang zu stiften, durch den ein Unterschied in die Gleichheit eingezeichnet werden könnte. Heidegger überträgt auf diese Weise die sich 1936/1937 in der Beschreibung des Willens zur Macht andeutende, aber energisch zurückgehaltene Obsession der Selbstinbesitznahme auf die ewige Wiederkehr. Im zweiten Abschnitt des Textes Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht vertieft Heidegger die These einer Selbigkeit beider Lehren. Die Identität soll in sich insofern eine Differenz wahren, als der Willen zur Macht auf neuzeitlichen Bahnen dasselbe bedeuten soll, was die ewige Wiederkehr in endgeschichtlicher Hinsicht besagt. Um dieses Selbe näher zu erörtern, zieht Heidegger „den Leitentwurf aller Metaphysik“¹⁴⁵² heran.Wie oben bereits anklang, ist jede metaphysische Grundstellung nach Heidegger implizit durch die zeithafte

 Heidegger, N II, S. 5.  Vgl. Sören Kierkegaard, Die Wiederholung, 1. Aufl., Düsseldorf 1955, S. 45: „Als dies sich ein paar Tage wiederholt hatte, ward ich so erbittert, so der Wiederholung leid, daß ich beschloß, wieder nach Hause zu fahren. Meine Entdeckung war nicht bedeutend, indes sie war sonderbar; denn ich hatte entdeckt, daß die Wiederholung gar nicht vorhanden war, und dessen hatte ich mich vergewissert, indem ich dies auf alle nur mögliche Weise wiederholt bekam.“  Vgl. Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 173 – 178.  Heidegger, N II, S. 7.  Heidegger, N II, S. 7.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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Bestimmung einer Beständigkeit des Anwesens fundiert. Ohne dass diese Voraussetzung jemals auf ihren Hintersinn und ihre Herkunft befragt würde, wird sie Heidegger zufolge in jeder inhaltlichen Auslegung der das Seiende im Ganzen fügenden Seiendheit beibehalten. Das zeithafte Charakteristikum der Beständigung wird in diesem Textstadium nicht mehr allein für die ewige Wiederkehr reserviert. Heidegger hebt die Beständigung als den beide Hauptlehren einenden Wesenszug hervor, der sich auf verschiedene Weisen äußert. Gleichwohl ist die von Heidegger präsentierte Modellierung kein Novum. Das nunmehr bevorzugte Ordnungsschema ist schon in der 1936/37 gegebenen Auslegung des Aphorismus Nr. 617 aus Der Wille zur Macht präfiguriert. Der Wille zur Macht wird von Heidegger von vornherein nicht als uferloses Werden, sondern als ein beständiges Sich-Halten in der Steigerung verstanden. Zugleich soll die ewige Wiederkehr bereits 1936 das in der Neuzeit zum Anwesen aufsteigende Werden (d.i. der Wille zur Macht) nicht verändern. Stattdessen soll sie es in seinem Wesen gerade beständigen. In diesem Sinne fasst Heidegger das in der neuzeitlichen Gestalt des Willens zur Macht inkarnierte Anwesen des Anwesenden 1939 als „Beständigung der Überhöhung“.¹⁴⁵³ In Korrelation dazu, gewährt die ewige Wiederkehr als Repräsentantin des metaphysikübergreifenden Aspekts der Beständigkeit, d. h. der zeithaft artikulierten Seinserhaltung, die „ständigste Beständigung des Werdens des Ständigen“.¹⁴⁵⁴ Beachtenswert ist, dass Heidegger das Schellingsche Gefüge von Grund und Existierendem in der ersten Schelling-Vorlesung von 1936 in einer frappierend ähnlichen Weise verbunden und gleichzeitig auseinandergehalten hatte. Hervorstechend ist Heideggers affirmative Kennzeichnung der entfalteten Dimensionierung, in der sich keineswegs ein „metaphysischer Leitentwurf“ ausprägt, sondern das „Wesen des Seyns“ aufleuchtet: Grund und Existenz gehören zusammen; diese Zusammengehörigkeit ermöglicht erst ihre Scheidung und die Zwietracht, die sich in eine höhere Einheit hinaufbildet. Somit treten im Wesen des ‚Wesens‘, in der durch Grund und Existenz angezeigten Seinsverfassung des Seienden, zwei Dimensionen hervor: einmal die der ursprünglichen Zeitlichkeit des Werdens, und dann, in dieser, die notwendig mitgesetzte Dimension des Sichüberhöhens bzw. unter sich Herabfallens. Diese Bewegtheiten gehören zur inneren Strömung des Wesens des Seyns…¹⁴⁵⁵

 Heidegger, N II, S. 7.  Heidegger, N II, S. 7.  Heidegger, GA 42, S. 198.

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Folglich nutzt Heidegger im Hinblick auf Nietzsches Hauptlehren ebenjene Unterscheidung zwischen der nun von der ewigen Wiederkehr verantworteten, grundhaften „Zeitlichkeit des Werdens“ und dem Existierenden als Sichüberhöhen, das auf den Willen zur Macht übergeht. Heidegger wertet diese Einteilung jedoch nicht mehr als Prägung des Seyns. Er stuft die Zeitlichkeit des Werdens mitsamt der zugehörigen Überhöhung 1939 in die sich vollendende Metaphysik zurück. Die Differenzierung beider Lehren nach Maßgabe eines vorangehenden Übereinkommens im metaphysischen Leitentwurf wird von Heidegger als seinsgeschichtliche Dechiffrierung des Verhältnisses zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen priorisiert: Doch all dieses freilich nur für den Bereich eines Fragens, das die Seiendheit hinsichtlich ihres Entwurfsbereiches und dessen Gründung in Frage gestellt hat, eines Fragens, in dem der Leitentwurf der Metaphysik und somit diese selbst von Grund aus schon überwunden, nicht mehr als erster und allein maßgebender Bereich zugelassen sind.¹⁴⁵⁶

1.8.3 Nietzsches Verschärfung und Verschüttung der Differenz von Essenz und Existenz Es ist kaum überraschend, dass Heidegger die seit 1937 dominierende Relationsermittlung der beiden Grundlehren in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht merklich einklammert. Von 1937 bis 1939 hatte Heidegger die Auffassung vertreten, dass die ewige Wiederkehr des Gleichen als Antwort auf die Frage nach dem Wie des Seienden (als Seinsweise) zu entschlüsseln sei und der existentia entspreche. Der als Grundcharakter des Seienden markierte Wille zur Macht sei als Antwort auf die Frage „was ist das Seiende?“ aufzurufen und der essentia zuzuordnen. Heidegger betrachtet diese Verzweigung nun als provisorisches Durchdringungsstadium, das „im Gesichtskreis der Metaphysik und mit Hilfe ihrer Unterscheidungen“¹⁴⁵⁷ argumentiere. Die „innere Einheit beider“¹⁴⁵⁸ Lehren werde dabei im Hinblick auf ihre Stellung inmitten des Seienden im Ganzen aufgehellt. Diesen Weg, der auf die nun ostentativ verfochtene „Identität“¹⁴⁵⁹ beider Lehren hinleiten sollte, habe er mit den Vorlesungen Der Wille zur Macht als Kunst und Die ewige Wiederkunft des Gleichen beschritten. Die Differenzierung in Was-Sein und Dass-Sein wird von Heidegger als Vehikel    

Heidegger, N II, S. 7. Heidegger, N II, S. 7. Heidegger, N II, S. 7. Heidegger, N II, S. 7.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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einer Spaltung des Seins gefasst. Dieser Spaltung sei Nietzsche mit seinen beiden wichtigsten Gedanken gefolgt, ohne ihren Ursprung zu durchschauen.¹⁴⁶⁰ Als letzter Metaphysiker des Abendlandes vermochte er den Grund ihres Entspringens nicht mehr zu erfahren, weil er die Unterscheidung zwischen Was-Sein und DassSein unter dem nicht eigens bedachten Anschein ihres Zusammenfalls im Lebensganzen in ihre schärfste Entgegensetzung manövrierte, sie als solche jedoch vergaß.¹⁴⁶¹ Heideggers These, dass die Unterscheidung am Ende der Metaphysik noch einmal aufleuchten muss, obwohl zugleich der Eindruck entsteht, sie sei als solche beseitigt, lässt sich in zwei Schritten diskutieren. Zuerst soll anhand der Interaktionsaktionsweise der beiden auf ihrer metaphysischen Begriffsebene betrachteten Hauptlehren ergründet werden, weswegen sie nach Heidgger auf die jeweils andere Fundamentalkennzeichnung des Seienden im Ganzen angewiesen sind. In diesem Zuge soll die Frage erörtert werden, warum Nietzsche wie seine Vorgänger eine Differenz von Wesen und Sein zugrunde legen muss. Auf der Basis seiner strikten Identitätslesart optiert Heidegger 1939 dafür, dass – anders als in der platonischen und aristotelischen Metaphysik – keines der beiden Elemente einen Vorrang beanspruchen kann. Ebendiese Gleichrangigkeitstheorie leitet zu dem zweiten Schritt über. In diesem soll demonstriert werden, wie der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr des Gleichen in der gemeinsamen Sicherung der zur Lebendigkeit des Lebens gewordenen Physis untrennbar und ununterscheidbar zusammengehören. Aus dieser Zusammengehörigkeit leitet Heidegger die Verschüttung der Differenz von Essenz und Existenz ab. (1) Da der Wille als Grundcharakter des Seienden mit der Macht identisch ist, will das Seiende sich selbst als Macht.¹⁴⁶² In der Art und Weise, wie diese auf Dauer gestellt werden kann, manifestiert sich die Unumgänglichkeit der aufrechtzuerhaltenden Unterscheidung von existentia und essentia. Zum einen muss ein Mittel gefunden werden, die Faktizität des Seienden in ihrem Gesamtzusammenhang zu stabilisieren und eine permanente Ausfüllung durch den Grundcharakter des Seienden zu ermöglichen. Ebendies leistet die ewige Wiederkehr als

 Vgl. Heidegger, N II, S. 6: „Was kann jedoch, so meint man, die Aufhebung der Unterscheidung beider und das Ausstreichen der Unterschiedenen anderes bedeuten als das Zurückfinden in das Anfängliche und damit die Überwindung der Metaphysik? Allein Nietzsches Lehre ist nicht Überwindung der Metaphysik, sie ist die in sich erblindete äußerste Inanspruchnahme ihres Leitentwurfs. Sie ist darum auch wesentlich Anderes als die lahme historische Reminiszenz antiker Lehren über den zyklischen Verlauf des Weltgeschehens.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 9.  Vgl. Heidegger, N II, S. 9.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

„Beständigung der Anwesenheit“.¹⁴⁶³ Zum anderen muss die Verfassung angegeben werden, in der sich das Seiende steigernd entfalten kann, ohne in einem konturlosen Dass-Sein aufzugehen oder in einer Selbstlosbindung ins Nichts fortzufließen. Dies garantiert der Wille zur Macht als „Beständigung der Überhöhung“.¹⁴⁶⁴ Unter der Hand zeichnet Heidegger einen umgekehrten Platonismus in die beiden Grundlehren ein: Das Wesen ist das Werden, der Wille zur Macht; die Wirklichkeit ist das Sein, die ewige Wiederkehr. In der unausgesetzten Empfänglichkeit für die Kraftkonzentration des Willens zur Macht bringt die ewige Wiederkehr den spiralförmig gesteigerten Umkreis einer verfestigten Wirklichkeit hervor: Die ewige Wiederkehr nennt das Wie, in dem das Seiende solchen Was-Charakters ist, seine Tatsächlichkeit im Ganzen, sein ‚Daß es ist‘.Weil das Sein als ewige Wiederkehr des Gleichen die Beständigung der Anwesenheit ausmacht, deshalb ist das Beständigste: das unbedingte Daß.¹⁴⁶⁵

Hier bestätigt sich Heideggers Grundgedanke aus den Nietzsche-Vorlesungen der Jahre 1936 und 1937, wonach es für den Willen zur Macht nur eine einzige Weise geben kann – diejenige der ewigen Wiederkehr – die es ihm gestattet, das Wesen des Seienden zu bleiben. (2) Weswegen dennoch der Eindruck entstehen muss, durch Nietzsches Denken sei die Differenz von Existenz und Essenz behoben, sodass jedwede metaphysische Wesenskomponente verschwunden zu sein scheint, kann auf der Grundlage der von Heidegger skizzierten Genealogie der Unterscheidung von Wesen und Existenz erörtert werden. Diese die gesamte Metaphysik tragende Unterscheidung führt Heidegger auf Platons Trennung zwischen dem εἶδος und der flüchtigen Welt des μὴ ὂν zurück. Innerhalb der sinnlichen Welt offenbart sich das Was-Sein in verdunkelter Form an derjenigen Erscheinung, die mit ihm in der μέθεξις verbunden ist.¹⁴⁶⁶ Demgegenüber bedenkt Aristoteles den Vorrang des τόδε τι, des jeweiligen Diesen, das ein nachgeordnetes Was-Sein zum Ausdruck bringt. Obwohl Aristoteles das εἶδος in der Gestalt der μορφή in das συνόλων, in die Einheit mit der ὕλη einfügt, konserviert er gerade in dem aus ihnen Zusammengesetzten die ursprüngliche Scheidung beider.¹⁴⁶⁷ Nachdem essentia und

 Heidegger, N II, S. 9.  Heidegger, N II, S. 7.  Heidegger, N II, S. 9.  Vgl. dazu Heideggers Behandlung der Ideenlehre in seiner Auslegung des Höhlengleichnisses: Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Heidegger, Wegmarken, S. 214 ff.  Vgl. Heidegger, N II, S. 8.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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existentia in der philosophischen Gotteslehre der Scholastik eine bedeutende Rolle spielten, verkamen sie später zu „Reflexionsbegriffen“.¹⁴⁶⁸ An dieser Stelle könnte ergänzt werden, dass Essenz und Existenz ihren letzten großen Auftritt in der Potenzenlehre der negativen Philosophie Schellings hatten.¹⁴⁶⁹ Dort werden sie auf die Disjunktion von Seiendem/Sein-Könnendem (Potenz) und Sein (Actus) angewandt. Das Was-Sein definiert die grundlegende Beschaffenheit eines Seienden und sichert als merkmalsverleihendes Kriterium zugleich die dauerhafte Bedingung für die Wirklichkeit. Das Was-Sein bleibt allerdings eine bloße Möglichkeit, sofern es nicht aktualisiert wird. Wenn das Sein im platonischen Anfang der Metaphysik zum ersten Mal in die (bei Platon) auf zwei verschiedene Welten aufgeteilte Dissonanz von Was-Sein und Dass-Sein zerrissen wird, erscheint es folgerichtig, dass diese Differenz am Ende der Metaphysik verschwindet. Für die mit Nietzsches Philosophie erreichte Vollendung ist es nach Heidegger konstitutiv, den Platonismus zu überwinden und nur noch eine Welt bestehen zu lassen. In dieser singulären Welt wird das Sinnliche in der Gestalt des Willens zur Macht in das niemals ruhende Leben transformiert. Das bisherige Übersinnliche findet als Bestandsicherung ebenfalls Eingang in das Lebensganze.¹⁴⁷⁰ So wie die modifizierten Titel des Sinnlichen und des Übersinnlichen im Leben situiert werden, so fällt das Wesen des Seienden im Rahmen des Überwindungsversuches der Metaphysik, den Heidegger als „Verwandlung in ihre letztmögliche Gestalt“¹⁴⁷¹ exponiert und somit Nietzsche gerade nicht zugesteht, in der (als ewige Wiederkehr bestehenden) Wirklichkeit mit der „Lebendigkeit des Lebens“¹⁴⁷² zusammen. Das Was-Sein kann weder einer übersinnlichen Zone angehören noch prätendieren, ein extra- oder präreales „An sich“¹⁴⁷³ zu sein. Ansonsten geriete das Was-Sein mit sich selbst als Wille zur Macht, d. h. als sinnlich-leibendes Leben, in einen unauflöslichen Widerstreit. Deswegen kann das Wesen, das wie in der gesamten Metaphysik die „Bedingung“¹⁴⁷⁴ des Seienden bildet, seine Existenz – und damit das Dass-Sein des Lebens im Ganzen – nur in der wiederkehrenden Ermöglichung der Lebenssteigerung gewinnen. Das WasSein wird nunmehr in dem Dass-Sein des Lebendigen aufbewahrt. Weil das Dass-

 Heidegger, N II, S. 8.  Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung 1841/1842, hrsg. von Manfred Frank, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1977, S. 98 – 107.  Vgl. Heidegger, N II, S. 10.  Heidegger, N II, S. 10.  Heidegger, N II, S. 10.  Heidegger, N II, S. 10.  Heidegger, N II, S. 10.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Sein des Lebens qua Selbsterhaltung immer wieder auf die Persistenz der vom Was-Sein generierten Wertsetzung zurückgehen muss, bewahrheitet sich die Identität des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr. Beide Lehren „müssen […] als Seinsbestimmungen nicht mehr nur zusammengehören, sie müssen dasselbe sagen“.¹⁴⁷⁵ Um sich als Werden konsolidieren zu können, ist das Wesen auf eine Seinsweise angewiesen, welche die statische Anwesenheit auflöst, damit es als Werdendes permanent in diese eingehen kann.¹⁴⁷⁶ In der Folge möchte Heidegger die Identität beider Lehren und damit auch die Verwischung des Unterschiedes von Was-Sein und Dass-Sein noch stärker betonen. Heidegger modifiziert die vormals strikt durchgehaltene Unterteilungsart, in der jeweils einem der beiden Grundgedanken der Wesenszug der Erhöhung und dem anderen die Beständigung des Werdens zugesprochen wurde. Für Heidegger kristallisiert sich heraus, dass die bislang gänzlich mit dem Willen zur Macht parallelisierte Überhöhung des Werdens in sich und im Effekt nichts anderes sein kann als die durch die ewige Wiederkehr bezeichnete Beständigung des Werdens. Dergestalt inhäriert der einen Lehre immer schon der Gehalt der je anderen.¹⁴⁷⁷ Der Wille zur Macht setzt sich der Steigerungsmöglichkeit aus, indem er seine Gleichheit in dem kreisenden Werden der ewigen Wiederkehr beibehält und beständigt. Die ewige Wiederkehr fügt sich als Wirklichkeit mit sich selbst als dem Willen zur Macht zusammen,

 Heidegger, N II, S. 10.  Dies korrespondiert mit dem von Heidegger adaptierten Gedanken Nietzsches, dass sich der Wille zur Macht (respektive das Leben) beständig vor sich selbst bringt, indem er die ewige Wiederkehr als „größtes Hindernis“ und somit als eingrenzend-steigernden Widerstand erschafft. Vgl. Heidegger, Nietzsches Metaphysik (1940), in: Heidegger, N II, S. 261: „Nietzsche hat ein klares Wissen vom Grunde der Wahrheit des Entwurfes, der das Seiende im Ganzen als ewige Wiederkehr des Gleichen denkt: ‚Das Leben selber schuf diesen für das Leben schwersten Gedanken, es will über sein höchstes Hindernis hinweg!‘ (XII, 369) ‚Das Leben selber‘, das ist der Wille zur Macht, der sich durch die Übermächtigung der jeweiligen Machtstufe in sein höchstes steigert. Dies geschieht ihm dort, wo die reinste Beständigung nicht nur einmal, sondern ständig, und zwar als die gleiche vor ihm steht. Um diese höchste Bedingung (Wert) zu sichern, muß der Wille zur Macht das eigens erscheinende ‚Prinzip der Wertsetzung‘ sein.“ Vgl. zur Bedeutung des Widerstandes und des Hindernisses für die Akkumulation von Kraft: Nietzsche, KSA 13, 11 [77], S. 38: „Je nach den Widerständen, die eine Kraft aufsucht, um über sie Herr zu werden, muß das Maaß des hiermit herausgeforderten Mißlingens und Verhängnisses wachsen: und insofern jede Kraft sich nur an Widerstehendem auslassen kann, ist nothwendig in jeder Aktion eine Ingredienz von Unlust. Nur wirkt diese Unlust als Reiz des Lebens: Und stärkt den Willen zur Macht!“  Vgl. Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 35: „‚Sein‘ und ‚Werden‘ treten nur scheinbar in den Gegensatz, weil der Werdecharakter des Willens zur Macht im innersten Wesen ewige Wiederkehr des Gleichen und somit die beständigste Beständigung des Bestandlosen ist.“

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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wobei sie das Sichüberhöhen in diesem hält und immer wieder auf ihn zurücklenkt: Der Wille zur Macht ist das Sichüberhöhen in die Werdemöglichkeiten eines sich einrichtenden Befehlens, welches Sichüberhöhen im Kern Beständigung des Werdens als solchen bleibt und, weil allem bloßen Fortlaufen ins Endlose fremd und feind, sich diesem entgegenstellt.¹⁴⁷⁸

An diesem Ort wird das Befehlen nicht mehr als vorausdichtendes, zeitenthobenungeschichtliches und daher auch nicht negativ zu beurteilendes Anlegen der Kategorien verstanden. Das Befehlen ist selbst auf die Bereitstellung von Möglichkeiten angewiesen, aus denen es emporwächst. Aufgrund der Abgeschlossenheit des Machtumkreises dürfen diese nichts Ungeahntes eröffnen. Von einem „Hinaufbringen und Verwandeln“¹⁴⁷⁹ ist keine Rede mehr. Das Befehlen konstatiert die Fixierung des Werdens, die es auf seiner Höhe angenommen hat. Anschließend blockiert es ausscheidend den Fortfluss ins Unwegsame. Das Variabilität bietende, gewichtige Entscheidungen schaffende Wechselspiel von Befehl und Gehorchen, das Heidegger an anderen Stellen auf Heraklits Polemos-Fragment Fragment Nr. 53¹⁴⁸⁰ zurückbezieht, weicht einem schemenhaften Mechanismus. In diesem bestätigt das Befehlen das unweigerlich Geschehende. Dieser Grundverlauf wird durch die ewige Wiederkehr des Gleichen gewährleistet, die somit als Sekundantin des aus dem Willen zur Macht ergehenden Befehls gefasst werden kann.

1.8.4 Die „reine Selbigkeit“ der beiden Hauptlehren auf dem Grunde der Physis und der metaphysische Wettbewerb zwischen dem Sein und dem Werden Zum Ende des zweiten Abschnittes denkt Heidegger die These einer Identität zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr in einer anregenden und konstruktiven Weise weiter. So stellt er einer Besinnung, die nicht nur eine

 Heidegger, N II, S. 10.  Heidegger, N I, S. 58.  Vgl. Heraklit, DK 22 B 53, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 264: „Πόλεμος πάντων μὲν πατήρ ἐστι, πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.“ Vgl. die Übersetzung von Mansfeld und Primavesi: „Krieg ist von allem der Vater, von allem der König, denn die einen hat er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien gemacht.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Zusammengehörigkeit beider Lehren zu statuieren sucht, sondern ihre „reine Selbigkeit“¹⁴⁸¹ in allen Bereichen aufspürt und aus ihnen zurückgründet, in Aussicht, dass ihr ein Einsprung in die Wahrheit des Seins gelingen könnte. Durch den aus der Selbigkeit ent-springenden Sprung wird Nietzsches Denken als Vollendung des ersten Anfangs zum Übergang in den anderen Anfang: So werden sie zum Anstoß, in den ersten Anfang zurückzudenken, dessen Vollendung sie im Sinne der unbedingten Ermächtigung des mit der ἰδέα schon hervortretenden Unwesens ausmachen.¹⁴⁸²

Davon ausgehend, keimt die Frage auf, wie die reine Selbigkeit vertieft werden kann und auf welchen gemeinsamen Grund beide Lehren zurückgehen. Zu Beginn des dritten Abschnittes, in dem exponiert wird, weswegen die Metaphysik in der Wesenseinheit beider Gedanken ihr „letztes Wort“ verkündigt, wird erneut das für den gesamten Argumentationsgang des Textes Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht zentrale Motiv der Physis aufgerufen. Es ist die Physis, die als gesuchte, ursprüngliche Einheit – als Selbigkeit – von Sein und Werden gewürdigt wird: Das in der Wesenseinheit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr des Gleichen gesagte Selbe ist das letzte Wort der Metaphysik. Das ‚Letzte‘ im Sinne der erschöpfende Vollendung muß in gewisser Weise das Erste sein. Dieses, die φύσις, fängt an, indem es sich alsbald in den scheinbaren Gegensatz von Werden und Sein zertrennt. Das aufgehende Anwesen, unerfragt und unentworfen auf den ‚Zeit‘charakter, wird je nur nach einer Hinsicht vernommen: als Entstehen und Vergehen, als Änderung und Werden, als Bleiben und Dauern.¹⁴⁸³

Es ist leicht zu sehen, dass jene anfängliche Zusammengehörigkeit von Sein und Werden, Änderung und Dauern, in der Identität von ewiger Wiederkehr und Wille zur Macht restituiert werden soll. Im dritten Abschnitt grenzt sich Heidegger diesbezüglich eindeutig von Nietzsche ab. Dessen Klassifikation des Werdens als Sein (des Seienden) unterscheidet Heidegger von einer geglückten Variante ihrer Einigung, deren gedankliche Durchleuchtung er für sich selbst in Anspruch nimmt. Eingelassen in die reine Selbigkeit von ewiger Wiederkehr und Wille zur Macht ist die in sich unterschiedene Einheit des sich aus dem Sein herausschälenden Werdens und des im Werden aufgehenden Seins. In dem von Seiten Heideggers affirmierten Zusammenklang im ersten Einheitsgrund ist das Werden in

 Heidegger, N II, S. 10.  Heidegger, N II, S. 10 – 11.  Heidegger, N II, S. 11.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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der Eröffnung des Seins als Physis nicht nur an dessen Aufgang beteiligt. Das Werden waltet auch in der Entbergung der Aletheia aus der wesenseigenen Lethe. ¹⁴⁸⁴ Bei Nietzsche wird das Werden nach Heidegger hingegen nur aus der Unterordnung gegenüber dem Sein befreit, um sich dessen präsenzontologischer Botmäßigkeit umso mehr zu unterwerfen: Schließlich tritt das Sein in den Gegensatz und Wettbewerb zum Werden, sofern dieses die Stelle des Seins beansprucht. Die Gegensätzlichkeit beider entfaltet sich auf dem nicht eigens beachteten Boden des ‚Wirklichen‘, dessen Wirklichkeit auf das Sein Anspruch erhebt, weil sie gegen das Unwirkliche und Nichtige steht, welche Wirklichkeit aber zugleich den Werdecharakter für sich fordert, da sie kein erstarrtes, ‚leb‘-losen Vorhandenes sein möchte. Hegel vollzieht den ersten Schritt in die Aufhebung dieses Gegensatzes zugunsten des ‚Werdens‘, wobei dieses aus dem Übersinnlichen, aus der absoluten Idee als deren Selbstdarstellung begriffen wird. Nietzsche, der den Platonismus umkehrt, verlegt das Werden in das ‚Lebendige‘ als das ‚leibende‘ Chaos. Dieses umkehrende Auslöschen des Gegensatzes von Sein und Werden macht die eigentliche Vollendung aus. Denn jetzt ist kein Ausweg mehr, weder in die Zertrennung noch in eine gemäßere Verschmelzung. Dies bekundet sich darin, daß das ‚Werden‘ den Vorrang vor dem Sein übernommen haben will, während doch die Vormacht des Werdens nur die äußerste Bestätigung der unerschütterten Macht des Seins im Sinne der Beständigung des Anwesens (Sicherung) vollbringt; denn die Auslegung des Seienden und seiner Seiendheit als Werden ist die Beständigung des Werdens zur unbedingten Anwesenheit.¹⁴⁸⁵

Indem das Werden in den Status des Seins im Sinne des Wirklichen, Ausgezeichneten und Allgemeingültigen aufrückt, muss es selbst jene privilegierendabhebenden, statischen Eigenschaften in sich vereinigen, gegen die es zuvor opponierte. Erst auf diese Weise erfüllt sich die Omnipotenz der Seiendheit, die nun auch den dirigierten Wechsel in das Repertoire aufnimmt. Der anfängliche Leitentwurf des Seins als Anwesenlassen des Anwesenden lässt sich darin zwar wiedererkennen, aber so, dass die unausgesetzte Organisation und Sicherung des Anwesenden den Wesensunterschied von Sein und Werden einebnet. Die Gerechtigkeit ist das Grundwort, mit dem Heidegger die äußerste Entfremdung vom ersten Anfang untermauert.¹⁴⁸⁶ Das Merkmal der Mischung von

 Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 65 – 66: „In diesem Walten sind aus ursprünglicher Einheit Ruhe und Bewegung verschlossen und eröffnet. Dieses Walten ist das im Denken noch unbewältigt überwältigende An-wesen, worin das Anwesende als Seiendes west. Dieses Walten aber tritt aus der Verborgenheit heraus, d. h. griechisch: ἀλήθεια (Unverborgenheit) geschieht, indem das Walten sich als eine Welt erkämpft. Durch Welt wird das Seiende erst seiend.“  Heidegger, N II, S. 11– 12.  Vgl. Heidegger, N II, S. 12: „Wahrheit wird zur Gerechtigkeit im Sinne der befehlshaften Einschmelzung des Sichbefehlenden in den Drang seiner Überhöhung.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Sein und Schein wird als Freigabe des Seienden in seine „Werdemöglichkeiten“¹⁴⁸⁷ zwar beibehalten, doch zugleich eingegliedert in die vollendete Subjektivität. Als in die Tierheit zurückgebundene Vernunft darf diese nicht als anonymopakes Kollektivsubjekt verstanden werden. Stattdessen kommt sie nach Heidegger unmittelbar in den Individuen zur Herrschaft, wobei sie diese in die Unausweichlichkeit des Typus hineinprägt. Zugleich hüllt sich die vollendete Subjektivität in den Anschein, es gäbe keine schicksalhafte Einheitsmacht. Im Rahmen des Aufstieges der Subjektivität erwächst allein die Suggestion, das Individuum sei gegenüber den lebensweltlich-empirischen Ordnungsmustern zurückgewichen, wodurch die einzelnen Subjekte depotenziert würden.¹⁴⁸⁸ 1936/1937 hatte Heidegger noch das Zu-sich-kommen in der Überhöhung des Wollens affirmiert. Gleichzeitig hatte Heidegger das Wollen mit dem welterschließenden Gefühl identifiziert, das sich in der über sich hinausweisenden Entrückung in die Ganzheit des ebenfalls willensverfassten Seienden versetzt weiß. Im unleugbaren Kontrast dazu, befestigt die sich als Befreiung dünkende Flucht vor der Besinnung im Jahre 1939 die Autorität der Machenschaft. Diese wendet sich in der Steigerung gerade nicht mehr auf ihr inneres Wesen zurück: Diese [die Vollendung der Neuzeit, J.K.] aber zeigt sich in ihr selbst, d. h. in dem sie wesentlich treibenden und sichernden historisch-technischen Bewußtsein, keineswegs als Erstarrung und Ende eines Erreichtem, sondern als Befreiung in das fortgesetzte von-sichweg-Schreiten zu Steigerungen von Allem in Allem. Das Maßlose hat sich in die Gestalt der sich übermächtigen Macht als des einzig Beständigen gehüllt und kann in solcher Verhüllung selbst zum Maß werden.¹⁴⁸⁹

1.8.5 Die Maßlosigkeit und das Zeitalter der „vollendeten Sinnlosigkeit“ In diesem Zusammenhang äußert sich besonders im vierten und fünften Abschnitt der Einfluss Ernst Jüngers auf Heidegger, wenngleich der zeitgeschichtlich-politische Hintergrund ebenfalls berücksichtigt werden muss.¹⁴⁹⁰ Der Gedanke des

 Heidegger, N II, S. 10.  Vgl. Heidegger, N II, S. 19: „Das Äußerste der Subjektivität ist dann erreicht, wenn der Anschein sich festgesetzt hat, die ‚Subjekte‘ seien zugunsten irgendeiner übergreifenden Dienstbarkeit verschwunden.“  Heidegger, N II, S. 20. Zahlreiche Gedanken in den Schwarzen Heften kreisen um das Motiv der Maßlosigkeit, die nach Heidegger die fordernde Grundlage für die Persistenz der schrankenlosen Machsamkeit bildet. Vgl. Heidegger, Überlegungen XII-XV, GA 96, S. 118.  Vgl. Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 2014. Zur Auseinandersetzung Heideggers mit Ernst Jünger und dem Nihilismus vgl. Heidegger, Zur Seinsfrage (1955), in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 385 – 427; bes. S. 396: „In der Gestalt des Arbeiters und ihrer

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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Übermenschen wird von Heidegger 1939 nicht mehr als Verwandlungspotenzial des Menschen angesichts der herausfordernden Einverleibung der ewigen Wiederkehr verstanden. Der Übermensch wird auch nicht mehr auf die Überwindung der nach dem Tod Gottes anbrechenden Ziellosigkeit bezogen. Heidegger denkt die Figur des Übermenschen nun selbst als Garanten der Ziellosigkeit. Der Übermensch wird als alternativlos fest-gestellte „Vollendung des bisherigen letzten Menschen“¹⁴⁹¹ exponiert. Demnach verhilft Nietzsche demjenigen Menschentypus zur Herrschaft, den er in negativer Abgrenzung prophezeite und dem er in der Figur des Übermenschen eigentlich entgegenzuwirken gedachte. Es ist der letzte Mensch, der unter Zuhilfenahme des „wesenhaften Gewaltcharakter[s]“¹⁴⁹² der „totalen Mobilmachung“¹⁴⁹³, der er zugleich erlegen ist, das Seiende auf der Suche nach dem Machbaren und Nutzbaren durchforstet. Dabei observiert der letzte Mensch alles Seiende von vorherein unter dem Gesichtspunkt der Machbarkeit. Anhand dieses Sachverhalts wird die rezeptionsgeschichtliche Negativierungsspur der Grund-Kategorie der Finalität palpabel. Deren Semantik wird von Heidegger in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht nicht mehr an die von Aristoteles auf den Begriff gebrachte, essentielle Vollzugsform der Vernunft rückgekoppelt. Sie besiegelt nun den mit Nietzsche erreichten Endpunkt eines geschichtlichen Prozesses, sodass Heidegger insgesamt die variantenreiche Deutung der Kategorien aufgibt. In der ebenfalls aus dem Jahre 1939 stammenden Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis ließen sich die Kategorien als Horizonte der Ausdichtung

Herrschaft ist nicht mehr die subjektive, geschweige denn die subjektivistische Subjektität des Menschenwesens erblickt. Das metaphysische Sehen der Gestalt des Arbeiters entspricht dem Entwurf der Wesensgestalt des Zarathustra innerhalb der Metaphysik des Willens zur Macht.“ Vgl. zur Gestalt des Arbeiters und zum Einfluss Ernst Jüngers auf das Nietzsche-Bild Heideggers: Michael E. Zimmerman, Die Entwicklung von Heideggers Nietzsche Interpretation, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 107– 113. Zu Ernst Jüngers Ausweitung der Nihilismusdiagnose Nietzsches zur Gesellschaftstheorie der Moderne, Heideggers Kritik an Jüngers „romantisch-utopischer“ Auslegung des Willens zur Macht und zur Heideggerschen Desavouierung der individualistischen Figuren des Waldgängers und des Anarchen als Ausdruck eines literarisch-künstlerischen Eskapismus vgl. Friedrich Balke, Ernst Jünger. Kontroversen über den Nihilismus, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 381– 388, bes. S. 383 f.  Heidegger, N II, S. 16.  Heidegger, N II, S. 27.  Heidegger, N II, S. 14. Unter dem emblematischen Titel Die totale Mobilmachung publizierte Ernst Jünger im Jahre 1930 einen Essay, in dem er die unweigerliche Rationalisierung, Technisierung und vollständige Militarisierung der Industriestaaten diagnostizierte. Vgl. Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung, in: Ernst Jünger, Sämtliche Werke. Band 7. Essays I, Stuttgart 1980, S. 119 – 142.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

benennen. Die Kategorien sollten in der Nietzsche-Vorlesung aus dem Sommersemester 1939 nicht nur darüber entscheiden, in welcher Beschaffenheit Seiendes begegne. Sie sollten auch dekretieren, dass es überhaupt als Seiendes erfahren werde. Zudem interpretierte Heidegger die Kategorien als in das Chaos hineinweisende, lebensnotwendige Agenten einer herausziehenden Segmentierung. Zu Beginn von Nietzsche II markiert Heidegger sie ausschließlich als gedankenformende Instrumente der energischen Weltbemächtigung: Jedes Machbare bestätigt jedes Gemächte, alles Gemächte schreit nach Machbarkeit, alles Handeln und Denken hat sich darein verlegt, Machbares auszumachen.¹⁴⁹⁴

Heidegger, der Nietzsche in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen (1937) die Rehabilitierung und Rettung des in alle Ewigkeit bestehenden Chaos zugesprochen hatte, betont ab 1939, dass der Mensch zur „Bezugsmitte des Seienden“¹⁴⁹⁵ geworden sei. Jedes residuale Moment einer unverfügbaren Peripherie werde in der Anthropomorphie der Wertsetzungen eingefangen. Wichtig ist, dass die von Heidegger zuvor dezidiert abgelehnte Hineintragung eines Nützlichkeitskalküls in Nietzsches Perspektivismus nun mit dem Topos der Berechenbarkeit verschmilzt. Das Merkmal der Berechenbarkeit wird sogar zur einzigen Funktion der bestandsichernden Perspektivenbildung und der Pluralität von Weltanschauungen umgeformt: Solche machtermächtigenden Setzungen richten sich nicht mehr nach Maßen oder Idealen, die noch in sich gegründet sein könnten, sie stehen im Dienste der bloßen Machterweiterung und werden nur nach dem so geschätzten Nutzwert gewertet. Das Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit ist daher die Zeit des machtmäßigen Erfindens und Durchsetzens von ‚Weltanschauungen‘ die alle Rechenhaftigkeit des Vor- und- Herstellens ins Äußerste treiben, weil sie ihrem Wesen nach einer auf sich gestellten Selbsteinrichtung des Menschen im Seienden und dessen unbedingter Herrschaft über alle Machtmittel des Erdkreises und über diesen selbst entspringen.¹⁴⁹⁶

Auch anhand dieses Textabschnittes lässt sich die These untermauern, dass Heidegger das Mehr-wollen nicht mehr in der Immanenz des autarken Willens zu halten gedenkt, für den das überhöhende Werden konstitutiv ist, um die eigene Reichhaltigkeit zu wahren. Er favorisiert nun die auf den Aufsatz Überwindung der Metaphysik vorausweisende Konzeption eines Willens, der aufgrund seiner Substanzlosigkeit auf den äußeren Bestand angewiesen ist. Diesen Bestand trachtet

 Heidegger, N II, S. 20.  Heidegger, N II, S. 17.  Heidegger, N II, S. 14– 15.

1.8 Die Radikalisierung der Nietzsche-Kritik

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der Wille unaufhörlich in sein Inneres einzuholen, um am Berechenbar-Berechneten seine Macht zu bezeugen. 1936/1937 war der Wille noch nicht auf die quantitative Machterweiterung angewiesen, weil er im Kern die vollgültige Macht trug. Somit entsprach er selbst der Macht in einem nahezu tautologischen Sinne: „Macht besagt nichts anderes als die Wirklichkeit des Willens“.¹⁴⁹⁷ Heidegger hatte sich der Assoziation einer „bloß mengenmäßigen Steigerung“¹⁴⁹⁸ vehement verwehrt. Die Macht hatte Heidegger in der ersten Nietzsche-Vorlesung als SichFinden in der „geschlossenen Einfachheit des Wesens“¹⁴⁹⁹ definiert. Von eminenter Bedeutung für die in den Folgejahren intensivierte Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Willensmetaphysik ist Heideggers 1939 getroffene Porträtierung der Moderne als „Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit“.¹⁵⁰⁰ Das Kriterium der Sinnlosigkeit erschöpft sich nicht im vordergründigen Ausbleiben prospektiver Zielstrebungen und Wünsche, in der Desorientierung des Menschen in einem ihm fremd und unbeteiligt gegenüberstehenden Kosmos oder in der Einsicht in die Absurdität und Irrationalität des Weltgrundes. Diese Phänomene versinnbildlichen allesamt nur Folgeerscheinungen. Auch das Aufleuchten jener Folgeerscheinungen wird verdrängt. Im vielfältigen Schein des ständig Neuen erscheint eine Besinnung höchstens als situativ gerechtfertigt, obwohl sie sich auf die übergreifende Verfasstheit erstreckt und ein Schlaglicht auf diese wirft. Die Sinnlosigkeit ist für Heidegger nichts anderes als das Verstellen des Entwurfsbereiches, den das Sein im Da-Sein als geworfenem Werfer selbst aufwirft.¹⁵⁰¹ Die Einsicht in die aus dem Geschick des Seins verfügte, epochale Vorgegebenheit eines maßgeblichen Wahrheitswesens wird verwehrt, wenn der Mensch als Repräsentant des subiectum selbst zum Garanten der Wahrheit wird. Die Entbergungsdimension wird schließlich gänzlich vergessen, sobald die Gerechtigkeit sich zur Schöpferin des für wahr Gehaltenen aufschwingt. Um 1939/1940 beginnt Heidegger, die Beschaffenheit der lebensweltlichen Dominanzbekräftigung des Willens zur Macht zu verschieben. Dieser findet im hier diskutierten, fünften Abschnitt nur noch im Verbund mit der ewigen Wiederkehr und in der „Organisation der unbedingten Sinnlosigkeit“¹⁵⁰² Erwähnung. Ansonsten wird der Wille durch das Gefüge von Machenschaft, Machbarkeit und Gemächte substituiert. Heidegger eignet sich nun eine weiterentwickelte, von den

 Heidegger, N I, S. 60.  Heidegger, N I, S. 57.  Heidegger, N I, S. 61.  Heidegger, N II, S. 17.  Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Heidegger, Wegmarken, S. 330 – 331. Vgl. außerdem: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, S. 452– 455.  Heidegger, N II, S. 14.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Affekten in den Bereich des Technischen überführte Version des Willens zur Macht an. Diese Ausgestaltung des Willens erhebt Heidegger zum Definiens des Zeitalters. Die eklatante Wandlung hängt auch damit zusammen, dass sich für Heidegger in der jeweiligen Seiendheit die leitende Formgebung des geschichtlich gewordenen Seins aufbewahrt. Als Charakteristikum der Neuzeit möchte Heidegger jedoch den ausschließlichen Vorrang des Seienden über die Seiendheit und somit auch und gerade über das Sein exponieren. Dies war schon in Heideggers Gedanken angelegt, dass in jeder Epoche der Metaphysik ein ausgezeichneter Kandidat des Seienden zur Seiendheit aufgestuft wird. Wenn das Sein noch in seiner äußersten Verkehrung der leitende Akteur sein soll, dann muss es sich selbst in diese schicken. Es muss sich selbst gegenüber dem Seienden unterordnen, indem es sich in dieses loslässt und in ihm verbirgt.¹⁵⁰³ Auf diese Weise kann Heidegger die in der Neuzeit diagnostizierte Hierarchie Seiendes-SeiendheitSein umkehren und aus dem Sein hervorgehen lassen. Dieses hat das Seiende verlassen und es dergestalt dem Menschen übergeben: Die Seiendheit als Machsamkeit bleibt dem Sein botmäßig, das sich in das Ausmachen seiner durch die Berechnung und in die Machbarkeit des ihm gemäßen Seienden durch unbedingte Planung und Einrichtung losgegeben hat.¹⁵⁰⁴

Wichtig ist, dass sich die Faktizität einer Geschichte des Seins eruieren lässt. Es können aber keine hinreichenden Gründe angegeben werden, warum sich das Sein in bestimmte Schickungsweisen und Stadien entfaltete.¹⁵⁰⁵ Der Zusammenklang von Machenschaft und vollendeter Sinnlosigkeit verändert auch die Konstellation von Wille und Vorstellung. Die Vorstellung lässt nicht mehr als bedeutsamkeitsprofilierende, sublimierende Instanz innerhalb des Willens trennscharf von diesem abgrenzen. Die Machenschaft bedient sich zwecks geordneter Auswahl und rationaler Legitimation ihres sinnblinden Auslassens der ungeteilten Fusion beider Pole. Der fernste Entzug der Lichtung des Seins wird nun innerhalb der partikularen, eingrenzend-ausgrenzenden Perspektiven bestätigt und vollstreckt: Dieser Ausmachung entsprechend ist das Vorstellen das verrechnende, sichernde Abschreiten der Horizonte, die alles Wahrnehmbare und seine Erklärbarkeit und Nutzung ausgrenzen. Das Seiende wird in seine Werdemöglichkeiten freigegeben, in diesen als ma-

 Vgl. bezüglich der Thematik der Verbergung des Seins den Abschnitt 3.2 dieser Arbeit zu Heideggers Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus.  Heidegger, N II, S. 14.  Vgl. hierzu das Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein“, in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, S. 61– 63.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

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chenschaftlichen beständigt. Die Wahrheit als sichernde Einstimmung gibt der Machenschaft den ausschließlichen Vorrang.¹⁵⁰⁶

Noch im selben Jahr – ebenfalls noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges – hatte Heidegger die Möglichkeit einer Auslegung offen gelassen, nach der Nietzsche die Einheit von Wahrheit und Seiendem nicht zertrennt. In der unverbrüchlichen Unterbindung allen Zweifels und im erfahrungsbegründenden Fürwahr-halten des praktischen Bedürfnisses verstand Heidegger das Wahre als der denkerischen Ermittlung der Differenz zwischen Wahrheit und Irrtum vorgelagert. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht kann sich die Wahrheit nur noch bewahren, indem sich ihr Wesenszug der Eingleichung, den Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis diskutiert hatte, nochmals potenziert. Sie ist gezwungen, sich in der Einzeichnung produktiver Anknüpfungspunkte in das Chaos auf die Lebensgemäßheit zu beziehen, nach der sich der Nutzen berechnet. Weil Nietzsche das Leben nicht anders denn als Sein akzentuiert, die Wahrheit sich diesem aber möglichst angleicht, kann Heidegger ihr Verhältnis wie folgt resümieren: Die Wahrheit wird jetzt wieder dasselbe wie das Sein, nur daß dieses inzwischen die Vollendung in sein Unwesen übernommen hat.¹⁵⁰⁷

1.9 Der europäische Nihilismus (1940) 1.9.1 Die Erosion der kosmologischen Werte Die erste philosophische Erwähnung des Terminus „Nihilismus“ geht wahrscheinlich auf F.H. Jacobi zurück, der ihn im Jahre 1799 zur ablehnenden Kennzeichnung des Fichteschen Idealismus benutzte.¹⁵⁰⁸ Iwan Turgenjew verwendete den Begriff in seinem Roman Väter und Söhne (1862) und brachte in der Gestalt

 Heidegger, N II, S. 19.  Heidegger, N II, S. 13. Vgl. Heidegger, N II, S. 13: „Es [das Wesen der Wahrheit, J.K.] kann im Bezirk der Vormacht der aussichtslosen, d. h. lichtungsberaubten ‚Perspektiven und Horizonte‘ nicht mehr eines Erfragens würdig werden. […] Wahrheit ist ‚Gerechtigkeit‘, d. h. höchster Wille zur Macht. Dieser ‚Gerechtigkeit‘ wird nur die unbedingte Erdherrschaft des Menschen gerecht.“  Vgl. den folgenden Ausschnitt aus einem im Herbst 1799 verfassten Brief von F.H. Jacobi an J.G. Fichte: „Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sei, Chimärismus nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze….“ Hier zitiert nach: Heidegger, N II, S. 23.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

des Basarow jene im Russland der 1860er-Jahre um sich greifende Welthaltung zum Ausdruck, die die zaristisch gegründete Hierarchie und Obrigkeit ablehnte. Als philosophische Strömung ist der russische Nihilismus mit den Namen von Nikolai Tschneryschweski (1828 – 1889), Sergei Netschajew (1847– 1882) und besonders mit Dmitri Pissarew (1840 – 1868) verbunden.¹⁵⁰⁹ Nietzsche betrachtet den Nihilismus hingegen unter der Gesamtoptik der abendländischen Philosophiegeschichte und grenzt den entwicklungslogischen Aspekt von den phänotypischen Manifestationen des Verfalls, der Zerstörung und der Anarchie ab. Die wachsende Einsicht in die Fragilität des bislang Maßgebenden mündet in dem Aufleuchten des Grundes als eines Ausbleibenden. Nietzsches grundlegende Definition des Nihilismus lautet daher: Was bedeutet Nihilismus? – Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum‘?¹⁵¹⁰

Im Jahre 1940 hielt Heidegger die Vorlesung Der europäische Nihilismus, deren Titel sich an das erste Buch aus der Nachlasszusammenstellung Der Wille zur Macht anlehnt.¹⁵¹¹ Heidegger führt in die Auseinandersetzung von vornherein einen gewichtigen Vorwurf ein, der die Verwechslung von Sein- und Wertbegriff in Nietzsches Verständnis des Nichts anmahnt.¹⁵¹² Die Bestimmung des Nichts als Unwertiges gründet ihrerseits auf dem konstatierten Nichtvorhandensein einer Sache und fußt somit auf der im apophantischen Logos hervorgebrachten, ontologischen Ansprache von etwas als seiend oder nichtseiend.¹⁵¹³ Indem die Logik das Nichts als gedachtes „Ergebnis der Verneinung“¹⁵¹⁴ begreift, wird es aus dem faktisch Seienden exkludiert und als unsagbar behandelt. Wenn es anders als im

 Vgl. zum russischen Nihilismus Albert Camus’ ausgezeichneten Essay „Der Terrorismus des Einzelnen“, in: Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays, 29. Aufl., Hamburg 2013, S. 198 – 234.  Heidegger, N II, S. 36. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 2, S. 10. Vgl. Nietzsche, NF1887,9[35].  Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, S. 7– 99. Vgl. Heidegger, N II, S. 23 – 231.  Heidegger, N II, S. 40 – 41. Vgl. hierzu besonders das dritte Kapitel des 4. Teils der Dissertation von Markus Wirtz, das den Titel: Vollendung der Metaphysik im Nihilismus des Willens zur Macht: Heideggers Nietzsche-Rezeption trägt. Siehe: Markus Wirtz, Geschichten des Nichts: Hegel, Nietzsche, Heidegger und das Problem der philosophischen Pluralität, S. 374– 394.  Vgl. Heidegger, N II, S. 42. Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 82: „Wie sollen wir aber feststellen, daß ein irgendwo und irgendwann vermutetes Seiendes nicht ist, wenn wir nicht im voraus klar zwischen Sein und Nichtsein unterscheiden können? […] Wie soll uns je und immer Seiendes ein Seiendes sein, wenn wir nicht schon ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘ verstehen?“  Vgl. Heidegger, N II, S. 42. Vgl. zur Beziehung zwischen dem nichtenden Nichts und der logischen Verneinung: Heidegger, Was ist Metaphysik, in: Heidegger, Wegmarken, S. 119 – 122.

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Sophistes ¹⁵¹⁵ nicht das Verschiedene sein soll, das die fünf Hauptgattungen Seiendes, Bewegung, Ruhe, Differenz und Identität als Negation ihres Anderen in sich tragen, sondern das strikte Gegenteil des Seienden, ergibt sich der Sachverhalt, dass das Seiende per definitionem niemals in das Nichts absinken kann. In diesem Fall müsste sich die Nihilismus-Diagnose- und Befürchtung als Farce erweisen.¹⁵¹⁶ Nietzsche nimmt in Heideggers Sicht eine Zwischenstellung ein: Auch wenn Nietzsche das Nichts nicht als das Wesende des Seins zu erfassen imstande ist, so folgt er nach Heidegger doch nicht der Fraglosigkeit der Logik.Vielmehr erschließt Nietzsche die Wirksamkeit des Nichts geschichtlich in der Rückspiegelung des seinen Geltungsreichtum einbüßenden Seienden. Die von Nietzsche als Ankunft des „unheimlichsten aller Gäste“¹⁵¹⁷ etikettierte Ausbreitung des Nihilismus kann nach Heidegger allerdings nur deswegen auf den Plan treten, weil das Nichthafte im Nihilismus die ausbleibende eigene Wesenserkundung darstellt. Nietzsche ist der klassische Nihilist, da er in der Erfassung des Nihilismus unter dem Wertgedanken zum Bewertungskriterium des Verfalls erhebt, was selbst nur durch den Nihilismus, der sich der Besinnung auf das Nichts in der Überdeckung des Seienden mit Werten entschlägt, hervorgebracht werden konnte. Um Nietzsches Überlegungen zum Nihilismus gewichten, erörtern und konkretisieren zu können, greift Heidegger auf die in die Abschnitte A und B gegliederte, ausgesprochen luzide und umfangreiche Aufzeichnung Nr. 12 (1887) aus Der Wille zur Macht zurück. Diese Aufzeichnung ist mit dem Titel Hinfall der kosmologischen Werte ¹⁵¹⁸ überschrieben. Darin unterscheidet Nietzsche drei miteinander verbundene und ineinander übergehende Bedingungen für das Eintreten des Nihilismus als „psychologischer Zustand“.¹⁵¹⁹ Die Präformation des Nihilismus vollzieht sich für Nietzsche erstens in der Unterstellung eines erreichbaren Gesamtsinnes:

 Vgl. Platon, Sophistes 256d-e, Sämtliche Werke Bd. 3, hrsg. von Ursula Wolf, übers. von Friedrich Schleiermacher, 37. Aufl., Hamburg 2013, S. 317: „Fremder: „Also ist ja notwendig das Nichtseiende seiend, sowohl an der Bewegung als in Beziehung auf alle anderen Begriffe. Denn von allen gilt, daß die Natur des Verschiedenen, welche sie verschieden macht von dem Seienden, jedes nichtseiend macht, und alles insgesamt können wir also gleichermaßen auf diese Weise nichtseiend nennen und auch wiederum seiend, indem wir sagen, daß es sei, weil es Anteil hat am Seienden.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 42– 43.  Heidegger, N II, S. 43. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1, S. 7; Nietzsche, NF1885,2[127].  Vgl. Heidegger, N II, S. 46 – 48. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13 – 16; Nietzsche, NF-1887,11[99].  Heidegger, N II, S. 46. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13; Nietzsche, NF1887,11[99].

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Der Nihilismus als psychologischer Zustand wird eintreten müssen, erstens, wenn wir einen ‚Sinn‘ in allem Geschehen gesucht haben, der nicht darin ist: so daß der Sucher endlich den Mut verliert. Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen Vergeudung von Kraft, die Qual des ‚Umsonst‘, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit, sich irgendwie zu erholen, irgendworüber noch zu beruhigen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen…¹⁵²⁰

Dieser insinuierte Erfüllungssinn fächert sich auf und manifestiert sich in der Erwartung einer zunehmenden Sittlichkeit, einer Hoffnung auf das Anwachsen einer intersubjektiven Harmonie und in der Ausweitung einer quantitativ steigenden Glücksanhäufung. Eine die ganze Welt auf die Verfolgung eines Zieles verpflichtende Teleologie wird jedoch auch in der Behauptung eines Nichts-Zustandes erreicht, auf den das All zusteuere. Wenn sich allerdings herauskristallisiert, dass die antizipierten Zwecke und Erwartungen offenbar niemals erreicht werden und sich die Absenz einer Finalität und Entwicklung im Werden – und somit der Welt im Ganzen – in jedem daraus abgeleiteten Einzelziel niederschlägt, entsteht ein Gefühlskomplex aus Mutlosigkeit und Unruhe. Im Angesicht des Scheiterns der „Zweck-Hypothesen“¹⁵²¹ erwächst eine Scham über den Selbstbetrug: „Die Qual des ‚Umsonst‘“.¹⁵²² Bedeutsam ist, dass Nietzsche die daraus hervorgehende Enttäuschung nicht nur als Ausdruck, sondern auch als Konstitutionsvoraussetzung für den avancierenden Nihilismus begreift. Den zweiten Grund für die Heraufkunft des Nihilismus sieht Nietzsche in der Ansetzung einer überdauernden Einheit. Diese wird nicht allein durch die Ganzheit repräsentiert. Auch Systematisierung und Organisierung sichern den Wert und die Selbstakzeptanz des Menschen. Der Mensch fühlt sich von einem höheren Allgemeinen durchdrungen und begreift sich als Teil einer wohlgeformten Hierarchie: Der Nihilismus als psychologischer Zustand tritt zweitens ein, wenn man eine Ganzheit, eine Systematisierung, selbst eine Organisierung in allem Geschehen und unter allem Geschehen angesetzt hat: so daß in der Gesamtvorstellung einer höchsten Herrschafts- und Verwaltungsform die nach Bewunderung und Verehrung durstige Seele schwelgt (– ist es die Seele

 Heidegger, N II, S. 46. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13.  Heidegger, N II, S. 46. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13. Vgl. zur Genese des Zweckbegriffes: Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 163: „Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter den Umständen, in dieser Umgebung ist. Er ist nicht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der Versuch gemacht, ein ‚Ideal von Mensch‘ oder ein ‚Ideal von Glück‘ oder ein ‚Ideal von Moralität‘ zu erreichen, – es ist absurd, sein Wesen in irgend einen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den Begriff Zweck erfunden: in der Realität fehlt der Zweck…“  Heidegger, N II, S. 46. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

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eines Logikers, so genügt schon die absolute Folgerichtigkeit und Realdialektik, um mit Allem zu versöhnen…).¹⁵²³

In Anlehnung an Spinoza parallelisiert Nietzsche die Einordnung des Menschen in ein sinnstiftendes Allgemeines mit dem „modus der Gottheit“.¹⁵²⁴ Die Ausrichtung und Aufopferung auf beziehungsweise für eine monistisch verfasste Einheit wird verwehrt oder gar obsolet, wenn sich wie im ersten Fall der Eindruck erhärtet, dass es keinerlei Essenz und Ordnung gibt, die in den Menschen hineinstrahlt und ihn zur Partizipation auffordert. Diese Verlusterfahrung trägt Nietzsche nicht nur in die zweite Bedingung für den Nihilismus ein. Realgeschichtlich bezieht er sie auf die kopernikanische Wende: Seit Copernikus rollt der Mensch aus dem Centrum ins X.¹⁵²⁵

Dass die drei Formen des Nihilismus nicht drei ebenbürtige Ausfaltungen einer grundierenden Einheit repräsentieren, sondern ein Gesamtgeschehen abbilden, unterstreicht Nietzsche, indem er die dritte explizit aus den beiden bereits erwähnten Bedingungen hervorgehen lässt. Den beiden ersten Formen ist gemein, dass sich ihre Hypothesen und Ansetzungen auf eine Welt, auf die empirischsinnliche Realität, beschränken. Die Unhaltbarkeit einer dem Weltwerden unterlegten Antizipation eines Gesamtzweckes wurde aber ebenso enthüllt wie diejenige eines statischen Monismus, der den Einzelnen mit dem Allgemeinen zusammenschloss. Wenn nichtsdestotrotz an der Einzigkeit, Erkennbarkeit und Erreichbarkeit der Wahrheit festgehalten werden soll, ist eine dualistische Konzeption die nahezu notwendige Folge. Die Welt des Werdens wird als Täuschung und flüchtiger Widerschein diskreditiert, wohingegen eine jenseitig-metaphysische Welt all das verbürgt, was in der ihr entgegengesetzten permanent entgleitet:

 Heidegger, N II, S. 46 – 47. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14. Vgl. zum Topos der Einheit: Nietzsche, NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 1, KSA 13, S. 211.Vgl. außerdem: Nietzsche, KSA 13, 11 [73], S. 36: „Wir haben Einheiten nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ‚Ding‘ gebildet.“ Vgl. auch: Nietzsche, KSA 12, 2 [87], S. 104: „Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: nicht anders als wie ein menschliches Gemeinwesen eine Einheit ist: also Gegensatz der atomistischen Anarchie; somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist.“  Heidegger, N II, S. 47. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14.  Nietzsche, KGW VIII, 1, 2 [127], S. 125. Besonders Hans Blumenberg und Hans Jonas haben in ihren Werken an diese Erfahrung der kosmischen Sinnesleere angeknüpft.

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Der Nihilismus als psychologischer Zustand hat noch eine dritte und letzte Form. Diese zwei Einsichten gegeben, daß mit dem Werden nichts erzielt werden soll und daß unter allem Werden keine große Einheit waltet, in der der Einzelne völlig untertauchen darf wie in einem Element höchsten Wertes: so bleibt als Ausflucht übrig, diese ganze Welt des Werdens als Täuschung zu verurteilen und eine Welt zu erfinden, welche jenseits derselben liegt, als wahre Welt.¹⁵²⁶

Auch diese scheinbar rettende Dichotomie wird jedoch obsolet, sobald in einer überschauenden Rekonstruktion transparent wird, dass die dritte Form nur auf das in den beiden ersten artikulierte, psychologische Bedürfnis eines Glaubenkönnens an den eigenen Wert antwortete.¹⁵²⁷ Es ist nicht ganz klar, ob Nietzsche die daraus resultierende „letzte Form“ ¹⁵²⁸ des Nihilismus als eigenständig oder als Unteraspekt und Ergänzung der dritten auffasst. Wenn auch die Glaubhaftigkeit des dritten Entwurfes fragil wird, bleibt nichts anderes übrig, als die Aufspaltung in zwei Welten zu revidieren und zur Alleinstellung der Phänomenwelt zurückzukehren. In dieser verbieten sich aufgrund der erlangten Rechtschaffenheit und wegen des damit verbundenen Grades an Desillusionierung die vermeintlich sinnverleihenden Auswege der Setzung eines Universalzwecks und der Stipulation einer Einheit: Sobald aber der Mensch dahinterkommt, wie nur aus psychologischen Bedürfnissen diese Welt gezimmert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so entsteht die letzte Form des Nihilismus, welche den Unglauben an eine metaphysische Welt in sich schließt, – welche sich den Glauben an eine wahre Welt verbietet. Auf diesem Standpunkt gibt man die Realität des Werdens als einzige Realität zu, verbietet sich jede Art Schleichweg zu Hinterwelten und falschen Göttlichkeiten – aber erträgt diese Welt nicht, die man schon nicht leugnen will…¹⁵²⁹

Nietzsches Darlegung besitzt folglich keine zyklische Struktur. Aufgrund des unverstellten Eingeständnisses, dass die Kategorien der eigenen Wertbekräfti-

 Heidegger, N II, S. 47. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14.  Nach Nietzsche wird durch die christlich-moralische Weltauslegung das Bedürfnis nach einer werterfüllten Selbstsicht um eine Akzeptanz der eigenen Erkenntnisreichweite ergänzt, wodurch deren lebensskeptischer Zug in der Ausrichtung auf vermeintlich wahre, absolute Werte gehemmt wird. Vgl. hierzu den ersten Abschnitt der Lenzerheide-Aufzeichnung vom 10. Juni 1887. Nietzsche, NF Sommer 1886–Herbst 1887 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 1, KSA 13, S. 211: „Welche Vorteile bot die christliche Moral-Hypothese?…3) sie setzt ein Wissen um absolute Werthe beim Menschen an und gab ihm somit gerade für das Wichtigste adäquate Erkenntnis… sie verhütete, daß der Mensch sich als Menschen verachtete, daß er gegen das Leben Partei nahm, daß er am Erkennen verzweifelte: sie war ein Erhaltungsmittel: – in Summa: Moral war das große Gegenmittel gegen den praktischen und theoretischen Nihilismus.“  Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14.  Heidegger, N II, S. 47. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14– 15.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

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gung in die an sich seienden Maßstäbe der kosmischen Verfassung projiziert wurden, erscheint die Welt in der letzten Form als wertlos. Die investierten Begriffe werden als Interpretationen entlarvt und von ihrer welthaltigen Fülle dissoziiert. Aus der Leugnung der versöhnend-verortenden, platonischen Welt entsteht aufgrund der gleichzeitigen Aufforderung zur Akzeptanz des Unerklärlichen, der monadischen Vereinzelung und des unverbunden Vielförmigen ein unerträglicher Zwischenzustand, in dem der Mensch weder „aus noch ein“¹⁵³⁰ weiß. Die Endpassage des Abschnittes A resümiert einerseits die geschilderten Gelenkstellen und beschreibt andererseits den Umschlag in die Ratlosigkeit: – Was ist im Grunde geschehen? Das Gefühl der Wertlosigkeit wurde erzielt, als man begriff, daß weder mit dem Begriff ‚Zweck‘, noch mit dem Begriff ‚Einheit‘, noch mit dem Begriff ‚Wahrheit‘ der Gesamtcharakter des Daseins interpretiert werden darf. Es wird nichts damit erzielt und erreicht; es fehlt die übergreifende Einheit in der Vielheit des Geschehens: der Charakter des Daseins ist nicht ‚wahr‘, ist falsch…, man hat schlechterdings keinen Grund mehr, eine wahre Welt sich einzureden… Kurz: die Kategorien ‚Zweck‘, ‚Einheit‘, ‚Sein‘, mit denen wir der Welt einen Werth eingelegt haben, werden wieder von uns herausgezogen – und nun sieht die Welt wertlos aus…¹⁵³¹

In seiner Interpretation betont Heidegger, dass die in Nr. 12 zentralen Disziplinen der Psychologie und der Kosmologie – der Hinfall der Versprechen der letzteren ist mit dem Eintreten des Nihilismus als psychologischem Zustand aufs engste verbunden – keineswegs neben der Theologie in die Trias der Metaphysica specialis eingelassen sind. Vielmehr bezieht sich Nietzsches Begriffsgebrauch der Kosmologie nach Heidegger auf die Welt in der Gestalt des Seienden im Ganzen.¹⁵³² Den Bereich der Psychologie distanziert Heidegger von der Semantik der Seelenlehre und der empirischen Wissenschaft. Heidegger fasst die Psychologie aristotelisch als Frage nach dem Psychischen im Sinne des Lebendigen.¹⁵³³ Da das Bewegungsprinzip des Lebens nach Nietzsche aber nichts anderes ist als der Wille zur Macht, kann Heidegger den Bedeutungsrahmen dieses Terminus in die Metaphysik zurückführen. Gestützt wird diese folgenschwere Übertragung auf die Aussage Nietzsches, dass die Psychologie als „Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht“¹⁵³⁴ entfaltet werden müsse. Heidegger liest Nr. 12 nicht allein als Beschreibung eines Prozesses des Sinnzerfalls, an dessen Ende die wertlos gewordene Welt aufscheint. Komple-

    

Heidegger, N I, S. 243. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 30, S. 24. Heidegger, N II, S. 47– 48. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 15. Vgl. Heidegger, N II, S. 49. Vgl. Heidegger, N II, S. 50. Heidegger, N II, S. 51. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 23, S. 38.

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mentär dazu, akzentuiert er die Aufzeichnung Der Hinfall der kosmologischen Werte als Schilderung der Befreiung von der bisherigen Wertsetzung. Deren Interpretationsmuster stellten die Weichen für jenen Vorgang der Entwertung. Bereits in diese sich mit Nietzsche überschneidende Lesart trägt Heidegger die diskussionswürdige Tiefenschicht einer Vollendung des Homo-mensura-Satzes ein, weil die Akzeptanz der Wertlosigkeit der Welt das Gestaltungsgewicht zugunsten des Menschen verlagere. Während dieser Satz bei Protagoras die Vernehmung der unverborgenen Anwesenheit des Seienden im Umkreis des Begegnenden bedeute¹⁵³⁵, so feiere Descartes in der Aufgipfelung des Übermenschen zum Maß und Mittelpunkt seinen „höchsten Triumph“.¹⁵³⁶ Nun könne sich der Mensch aktiv als „subiectum“¹⁵³⁷ begreifen, ohne den Umweg einer über den ontologischen Gottesbeweis vermittelten Verifikation der Außenwelt beschreiten zu müssen.¹⁵³⁸ Nietzsches Fragmentierung und Destruktion des Subjektes, d. h. die scharfe Kritik an Descartes¹⁵³⁹, dient laut Heidegger dazu, das Subjekt umso tiefer auf eine Bewusstwerdung seiner selber zu verpflichten, in der sich das wollende Wirken, die animalitas, als untilgbarer Impetus und Grund des Denkens in dieses einschreibt. Aus zwei Gründen erwirkt Nietzsche trotz der umfänglichen Aufdeckung des Nihilismus als „verborgenes Grundgesetz“¹⁵⁴⁰ der abendländischen Geschichte laut Heidegger die vervollkommnete Zentralität des Menschen: Nietzsche insinuiert erstens ein psychologisches Bedürfnis des Menschen. Dieses Bedürfnis äußert sich in der Suche nach einem unbestreitbaren Sinn und prästrukturiert somit die „Vorbedingung“¹⁵⁴¹ für die Ausfaltung der Entwertung. Zu einer entscheidenden Erkenntnis könne Nietzsche auf diese Weise nicht mehr vordringen: Die Hypothese, dass die Notwendigkeit eines „Glaubenkönnens

 Vgl. den Abschnitt Der Satz des Protagoras, in: Heidegger, N II, S. 118 – 124.  Heidegger, N II, S. 51.  Heidegger, N II, S. 51.  Vgl. Descartes, Meditationen, S. 76: „So sehe ich, daß also ganz offenbar alle Gewißheit und Wahrheit des Wissens von der einen Erkenntnis des wahren Gottes abhängt, so daß ich über kein Ding irgendetwas wissen konnte, bevor er mir bekannt war.“  Vgl. zu Nietzsches Kritik an Descartes exemplarisch: Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1886, KGW VIII, 1, 2 [152], S. 139: „Die Entstehung der ‚Dinge‘ ist ganz und gar das Werk des Vorstellenden, Wollenden, Erfindenden. Der Begriff ‚Ding‘ selbst ebenso als alle Eigenschaften. – Selbst ‚das Subjekt‘ ist ein solches Geschaffenes, ein ‚Ding‘, wie alle Andern: eine Vereinfachung, um die Kraft, welche setzt, erfindet, denkt, als solche zu bezeichnen, im Unterschiede von allem einzelnen Setzen, Erfinden, Denken selbst. Also das Vermögen im Unterschiede von allem Einzelnen bezeichnet: im Grunde das Thun in Hinsicht auf alles noch zu erwartende Thun (Thun und die Wahrscheinlichkeit ähnlichen Thuns) zusammengefaßt.“  Heidegger, N II, S. 50.  Heidegger, N II, S. 53.

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an den eigenen Wert“¹⁵⁴² Movens der Erhebung oberster Ordnungsinstanzen sei, werde nicht mehr hinterfragt. Heidegger zufolge repräsentiert diese Hypothese jedoch das Produkt eines Denkens, das die „Selbstbehauptung“¹⁵⁴³ des Menschen inmitten des Seienden zwar nicht normativ einzufordern gezwungen ist. Dennoch werden in diesem Zuge alle im kosmischen Wechselspiel vor sich gehenden Abläufe allein in ihrer Wertigkeit für das menschliche Selbststeigerungsstreben beleuchtet. Zweitens kann Nietzsche nach Heidegger jenen gesuchten Sinn nur noch als Wert verstehen, sodass die Termini der „Wertlosigkeit“ und der „Sinnlosigkeit“ zu Synonymen werden.¹⁵⁴⁴ Die Frage, weswegen ausgerechnet der Zweck, die Einheit und die von Nietzsche am Ende von Abschnitt A mit dem Sein gleichgesetzte Wahrheit die Hauptmomente menschlicher Sinnentwürfe konstituieren, kann Nietzsche nach Heidegger ausschließlich innerhalb eines anthropozentrischen Gesichtskreises beantworten. In dieser Optik werde aber die weiterhin herrschende, metaphysische Herkunft der Begriffe verschleiert. Auf die Frage nach der Herkunft der drei beziehungsweise vier Zentralbegriffe erscheint einzig eine Antwort als zulässig: Weil sie in privilegierter Weise das All zurechtzumachen vermochten und dem Menschen das Gefühl vermittelten, an sich selbst glauben zu dürfen.¹⁵⁴⁵ Die Einheit, der Zweck und die Wahrheit werden von Nietzsche als „VernunftKategorien“¹⁵⁴⁶ entziffert. Die Vernunft-Kategorien werden wiederum als oberste Werte begriffen und als solche an den Anfang der Philosophie verlagert. Dies interpretiert Heidegger als einen ausgezeichneten Beleg für seine These, dass sich die Umwertung aller Werte nicht exklusiv darin äußert, das übersinnliche Residuum der Wertmanifestation zu negieren und das Bedürfnis nach einer transzendenten Maßstabsvergabe zu tilgen. Vielmehr vollzieht sich die Umwertung gerade in der Auslegung der bisher hochrangigsten Seinsbegriffe als Werte. Deswegen muss die Umwertung keineswegs auf eine ungeahnte und schöpferische Generierung neuer Werte abzielen.¹⁵⁴⁷

 Heidegger, N II, S. 56.  Heidegger, N II, S. 56.  Heidegger, N II, S. 53.  Vgl. Heidegger, N II, S. 57: „Dem Seiendem im Ganzen muß ein Wert eingelegt werden, damit der Selbstwert des Menschen gesichert bleibt…“ Vgl. allerdings konträr zu Heideggers Einschätzung: Nietzsche, NF Ende 1886, KSA 12, S. 317: „Es scheint mir wichtig, dass man das All, die Einheit los wird. Man muss das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir mit dem Unbekannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre.“  Heidegger, N II, S. 66. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 15.  Vgl. Heidegger, N II, S. 27: „Die Umwertung denkt erstmals das Sein als Wert. Mit ihr beginnt die Metaphysik, Wertdenken zu sein.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Die Umwertung aller Werte bedeutet laut Heidegger nichts anderes als die auf die gesamte Geschichte ausgedehnte Superiorität der Wertung aller Dinge nach ihrem Wert für den Menschen. Nietzsche schließt die Genese vermeintlich absoluter Zwecke mit dem Grad der in ihnen erwirkten, menschlichen Selbstachtung zusammen. Auch wenn Heidegger den Willen zur Macht 1936/1937 noch als ziellos und in sich bleibend beschrieben hatte, lokalisiert er den eigentlichen Grund der moralischen Zwecksetzungen, wie z. B. den sittlichen Weltzustand, nun in dem Willen selbst. Auf diese Weise wird es dem Willen gestattet, sein Wollen auszuüben. Das „Losgehen auf einen allgemeinen Nichts-Zustand“¹⁵⁴⁸, das Nietzsche in der ersten Form des Nihilismus angeführt hatte, garantiert dem Willen die sich gewissermaßen asymptotisch annähernde Permanenz seiner Steigerung, die ihre Spannung in sich selbst aufrechterhält und verwirklicht.

1.9.2 Der Nihilismus als innere Logik der abendländischen Geschichte Bemerkenswert ist, dass Heidegger trotz der an Nietzsche geübten Kritik, die Geschichte des Nihilismus werde auf die menschlich-willentliche Selbstbehauptung zentriert, die Sukzession der drei Formen in ihrem Rückgang bis auf die Vorsokratiker akzentuiert. Wenn auf die einleitenden Worte der drei Abschnitte in Nr. 12 geachtet wird, offenbart sich eine lineare Chronologie. Innerhalb dieses Narrativs führt Nietzsche die erste Form des psychologischen Zustandes mit dem bedingenden Notwendigkeitspostulat des „wird eintreten müssen“¹⁵⁴⁹ ein. Die zweite Form versieht Nietzsche mit der faktischen Bestimmung des „tritt ein“.¹⁵⁵⁰ Schließlich lässt Nietzsche beide Manifestationsarten in den Übergang zum „hat noch eine dritte und letzte Form“¹⁵⁵¹ einmünden. Heidegger gliedert die drei Abschnitte folglich in die Ermöglichungsbedingung des Nihilismus (postulierter Gesamtzweck der Welt), dessen Erscheinungsweise im Anbeginn seines Wirkens (Verleugnung der tatsächlichen Vielfalt durch einen Monismus) und dessen Eingang in die letzte Stufe der Wesensenthüllung (Dualismus).¹⁵⁵² Zur Erhellung der These Heideggers, Nietzsche schildere die epochalen Zäsuren der „wirklichen Geschichte“¹⁵⁵³, ist es hilfreich, die Abgrenzung der Stadien von hinten nach vorne zu lesen.

     

Heidegger, N II, S. 54. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13. Heidegger, N II, S. 70. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13. Heidegger, N II, S. 70. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14. Heidegger, N II, S. 70. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 14. Vgl. Heidegger, N II, S. 70 – 71. Heidegger, N II, S. 71.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

457

Die dritte Form des Nihilismus meint ganz offenkundig den – von Platon in seinen Spätdialogen Sophistes ¹⁵⁵⁴ und Parmenides ¹⁵⁵⁵ freilich selbst einer Kritik unterzogenen – Chorismos. Dieser bezeichnet die radikale Spaltung in die übersinnlichen Ideen einerseits, die als das wahre Seiende benannt werden, und die zerstreute Welt der an ihnen teilhabenden sinnlichen Dinge andererseits. Aufgrund dieser Entgegensetzung können die allenthaltende Einheit und der formende Zweck als Vernunft-Kategorien zwar keine Geltung mehr beanspruchen, diejenige der Wahrheit kann jedoch aufrechterhalten werden. Heidegger markiert dieses Geschehnis auch als Vollendung des Nihilismus, weil dergestalt die Abwertung der diesseitigen Welt als nichtig und flüchtig ihren zentralen Wesenszug erreicht, wenngleich sie im Christentum noch forciert wird: Im ersten Absatz ist die Grundbedingung der Möglichkeit, im zweiten der wirkliche Beginn, im dritten die notwendige Wesensvollendung des Nihilismus genannt.¹⁵⁵⁶

Wie ambivalent der Begriff des Nihilismus tatsächlich ist, zeigt sich allerdings kurz darauf, wenn Heidegger – scheinbar konträr zum soeben Diskutierten – über die dritte Form sagt, sie gehöre in Gestalt der Platonischen Philosophie mit den beiden anderen Formen zu den „Bedingungen für das Entstehen und das Wesen des Nihilismus“.¹⁵⁵⁷ Einmal firmiert sie demnach als Endgestalt, ein andermal als Teil eines Voraussetzungskonglomerats. Dieser Widerspruch lässt sich indes auflösen. Der Nihilismus Platons scheint mit dem zerstörerischen, nichts für wahr haltenden Nihilismus, der sich in der Moderne ausbreitet und dergestalt in ihr erst zu entstehen scheint, nichts gemein zu haben. Doch macht letzterer in der Destruktion des Übersinnlichen, die auch das Anathema über die haltlos gewordene empirische Realität verhängt, nur die an ihr Ende gekommene Entfaltung derjenigen Entwertungstendenz offenbar, die durch Platon in ihrem Wesen ermöglicht wurde. Erst auf diese Weise überspannt der Nihilismus die abendländische Geschichte mit der Unausweichlichkeit einer „inneren Logik“.¹⁵⁵⁸

 Vgl. Platon, Sophistes 254d, in: Platon, Sämtliche Werke Bd. 3, hrsg. von Ursula Wolf, übers. von Friedrich Schleiermacher, S. 312: „Wer also dieses gehörig zu tun versteht, der wird eine Idee als durch viele, die einzeln voneinander gesondert sind, nach allen Seiten sich hindurch erstreckend genau bemerken, und viele voneinander verschiedene als von einer äußerlich umfaßte, und wiederum eine als durch viele, die insgesamt miteinander verbunden sind, im Eins verknüpfte, und endlich viele als gänzlich voneinander abgesonderte.“  Vgl. Platon, Parmenides 130b-135d.  Heidegger, N II, S. 70 – 71.  Vgl. Heidegger, N II, S. 71.  Heidegger, N II, S. 79.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nach Nietzsche reagiert die Auftrennung in dichotome Gegenwelten auf den Verlust einer zusammenhaltenden Einheit. Daher stellt sich für Heidegger die Frage, in welchem denkerischen Entwurf der vorplatonischen Philosophie der Ganzheit die Attribute der Veränderungslosigkeit, Abgeschlossenheit und Ewigkeit prädiziert und ebenjene Einheit gestiftet wurde. Gewährsmann dieser Zusammenfügung ist niemand anders als der große Eleate Parmenides. ¹⁵⁵⁹ Der erste Weg, der Parmenides in seinem Lehrgedicht von der Göttin Aletheia ¹⁵⁶⁰ verkündigt wird, wonach das seiende Eine ist und es widersinnig ist anzunehmen, dass es jemals nicht sein, sich vermehren, vermindern oder bewegen könnte, erfüllt das Kriterium, das Nietzsche als konstitutiv für die zweite Form beschrieben hatte: Ein Monismus, der den Menschen in einem Übergreifenden hält. Wird auch von diesem erreichten Stadium abstrahiert und auf die Veranlassung seiner Genese reflektiert, kristallisiert sich heraus, dass der beständige Aufschub erwarteten Progresses in globaler, sozialer und moralischer Hinsicht ein Misstrauen in die Welt des Werdens hervorbrachte. Diese Skepsis konnte schließlich mit der Gründung eines beharrenden Kohäsionsprinzips besänftigt werden. In diesem Zusammenhang muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass Heideggers besonders hinsichtlich der Entstehung des Platonismus ausgesprochen plausible Deutung an Grenzen stößt. Es tut sich nämlich ein Anachronismus auf, wenn Nietzsche in der Besprechung der ersten Form offenkundig moderne, zumindest aber neuzeitliche Erwartungsparadigmen wie die allgemeine Sittlichkeit ins Feld führt: Jener Sinn könnte gewesen sein: die ‚Erfüllung‘ eines sittlichen höchsten Kanons in allem Geschehen, die sittliche Weltordnung; oder die Zunahme der Liebe und Harmonie im Verkehr der Wesen; oder die Annäherung an einen allgemeinen Glücks-Zustand; oder selbst das Losgehn auf einen allgemeinen Nichts-Zustand – ein Ziel ist immer noch ein Sinn. Das Gemeinsame aller dieser Vorstellungsarten ist, daß ein Etwas durch den Prozeß selbst erreicht

 Vgl. Heidegger, N II, S. 71. Hans-Jürgen Gawoll demonstriert in dem differenzierten Kapitel Von den Eleaten zur nihilistischen Lebensform seiner Dissertationsschrift Nihilismus und Metaphysik anschaulich, dass Nietzsche Parmenides als einen maßgeblichen Initiator des europäischen Nihilismus wahrnimmt, weil der Eleate einen im Gegensatz zur sinnlichen, unbestreitbaren Wirklichkeit des Entstehens und Vergehens „von allem Konkreten und Lebendigen entleerten Begriff als das ontologische Prius“ (Gawoll, Nihilismus und Metaphysik, S. 167) entwarf. Das reine Sein der Eleaten kann Nietzsche nach Gawoll mit dem buddhistischen Nirvana in einen Bezug setzen, weil es sich in beiden Fällen um „Substraktionen“ handle, „die in ihrem Resultat eine entweltlichte Leere meinen“ (Gawoll, Nihilismus und Metaphysik, S. 168).  Vgl. Parmenides, DK 28 B 8, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 327: „Auch teilbar ist es nicht, da es als Ganzheit ein Gleiches ist. Es ist ja nicht irgendwie an dieser Stelle ein Mehr oder an jener ein Weniger, das es daran hindern könnte, ein Geschlossen-Zusammenhängendes zu sein, sondern es ist als Ganzheit von Seiendem innen erfüllt.“

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

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werden soll: – und nun begreift man, daß mit dem Werden nichts erzielt, nichts erreicht wird.¹⁵⁶¹

Hinsichtlich der ersten Form betont Heidegger daher die Unmöglichkeit, ein geschichtliches Äquivalent aufzufinden. Dies rechtfertigt er mit der in ihr geschehenden und aufrechterhaltenen Koinzidenz von voranfänglicher Grundbedingung und innerer Struktur des Nihilismus, da auch die zweite und die dritte Form von ihr unterhalten und durchherrscht werden. An dieser Stelle zeichnet sich ein Unterschied zwischen Heidegger und Nietzsche ab: Beide gehen noch hinter die kosmische Grundbedingung des Nihilismus, die sich in dem Doppelaspekt der Unterwerfung des Werdens unter vorgegebene Intentionen und der damit präfigurierten, ernüchternden Erkenntnis der Vergeblichkeit eines Jahrhunderte andauernden Krafteinsatzes manifestiert, zurück. Während Nietzsche die erste Bedingung des Nihilismus jedoch aus einem generellen, anthropologischen Bedürfnis ableitet, sieht Heidegger ebenjenes Verlangen nach holistischer Zweckvergewisserung erst im Rahmen der Neuzeit aufkeimen. Heideggers Verzeitlichung einer vermeintlichen anthropologischen Konstante schließt eine Verlagerung der Stufenordnung ein. So führt Heidegger die Einhegung des Seienden in der Anwesenheit der Seiendheit, die Nietzsche (in Heideggers Interpretation von Nr. 12) bei Parmenides verortet hatte, erst auf Platon im Allgemeinen und die Idee des Guten im Besonderen zurück. Heidegger rehabilitiert Parmenides gegenüber Nietzsches Kritik. Er spricht Parmenides bereits in der AristotelesVorlesung aus dem Sommersemester 1931 von dem Verdikt frei, der Begründer eines starren Monismus zu sein: Parmenides hat die erste entscheidende Wahrheit der Philosophie gesprochen, und seitdem geschieht im Abendland das Philosophieren. Die erste Wahrheit – nicht nur der Zeit nach, die zuerst gefundene, sondern die erste, die vor allen anderen steht und durch alle weiteren hindurchscheint. Keine ‚blutlose Abstraktion‘ und Alterserscheinung, sondern die mit Wirklichkeit überladene Gesammeltheit des Denkens. Nietzsche, der so sicher ist im Aufspüren von Hintergründen des Denkens und Urteilens, hat nie gesehen, wie sein ganzes Denken von dem Mißverständnis gegenüber Parmenides bestimmt ist.¹⁵⁶²

 Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 13.  Heidegger, Aristoteles: Metaphysik IX 1 – 3, Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, GA 33, Freiburger Vorlesung Sommersemester 1931, hrsg. von Heinrich Hüni, Frankfurt a. M. 1981, S. 23 – 24. Vgl. ferner Heidegger, Moira (Parmenides VIII 34 – 41), in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 235 – 263.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Obwohl Parmenides den Weg des seienden Einen zwar als den erstrebenswerten von dem nachgeordneten Weg des Werdens und des Scheins abgegrenzt habe, eröffne erst die gegenwendige Zusammengehörigkeit beider Wege das reichhaltige Bezugsverhalten des Menschen zur Welt.¹⁵⁶³ Nietzsches Urquelle der Wertaufrichtung manövriert Heidegger schließlich an das Ende der Seinsgeschichte. Sie erlangt erst in demjenigen Zeitalter eine maßgebliche Strahlkraft, in dem sich die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie bereits etabliert hat und in der voluntaristischen Grundstellung aufgehoben wurde.¹⁵⁶⁴ In einer Rückschau auf Heideggers bislang vorgetragene Behandlung von Nr. 12 sticht besonders die Doppelsinnigkeit und Janusköpfigkeit des Nihilismus heraus. Der Nihilismus äußert sich nicht allein im Vorgang der Entwertung oder im besiegelnden Akt der Extraktion konventionell federführender Werte. Auch die daraus entspringende Bewusstwerdung ehemaliger Verabsolutierungen, die als geschichtlich divergierende Ankerpunkte der Lebensbewältigung erkannt werden und eine Transformation ihrer Dignität erfahren, ist trotz der illusionslosen Sichtbarwerdung einer indifferenten und fruchtlosen Welt nicht genuin nihilistisch. Vielmehr ist die nihilistische Sicht auf die Wirklichkeit bereits im nicht eigens reflektierten Hineinlegen der Werte und Ideale präsent, insofern das Werden durch einen zum Scheitern verurteilten, unerfüllbaren Vergleichsmaßstab überfordert wird. Im Herausziehen des Sinngehalts kommt der Nihilismus erst zu sich selbst, weil die Substanzlosigkeit und Arbitrarität der Wertsetzung zum Vorschein gebracht wird. Die entscheidende Konsequenz kulminiert für Nietzsche in der Erkenntnis, dass der Nihilismus und mit ihm die Metaphysik, aber auch moralische und temporale Mess- und Bewertungsgrade gar nicht hätten entstehen können, wenn dem Weltwerden nicht jemals derart hohe Ziele attribuiert worden wären. In diesem Sinne kann Nietzsches Emphase für Heraklits Philosophie des Werdens dahingehend verstanden werden, dass eine Dominanz des Heraklitischen Denkens gegenüber dem parmenideisch-platonisch-christlichen Traditionsstrang die Etablierung des Nihilismus verhindert hätte. Wie anhand der Abhandlung die Seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus noch zu demonstrieren sein wird¹⁵⁶⁵, wurzelt das Wesen des Nihilismus für Heidegger hingegen im Ausbleiben des Seins selbst. Dieses seinsmäßige Ausbleiben hätte daher niemals durch den hypothetischen Vorrang bestimmter Gedankenzüge beeinflusst werden können.

 Vgl. Heidegger, Parmenides, GA 54, hrsg. von Manfred S. Frings, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2018.  Vgl. Heidegger, N II, S. 38 – 39.  Vgl. hierzu das Kapitel 3.2.3 dieser Arbeit.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

461

1.9.3 Die Umwertung der Werte als Akzeptanz einer neuen Setzungsquelle Die Zurücknahme der Werte aus dem Umkreis des mit ihrer Hilfe Rubrizierten und Geordneten exemplifiziert eine menschliche Handlung, die den anthropogenen Ursprung sämtlicher Seinsannahmen zutage fördert. Der Mensch wird zum ersten Mal in der Geschichte mit der schonungslosen, auf sich selbst zurückgeworfenen Verantwortung konfrontiert, die sich als prometheische Formungskraft äußert. Diesen Rückstoß spricht Nietzsche im Abschnitt B von Nr. 12 aus. Im ersten Teil von Abschnitt B stellt Nietzsche den Versuch in Aussicht, den bisherigen Kategorien den Glauben „zu kündigen“.¹⁵⁶⁶ Aus der erwiesenen Unanwendbarkeit und Unzulänglichkeit der Wertungskategorien, deren Reversibilität in ihrer aktiven Abtragung eigens kenntlich gemacht wird, folgert Nietzsche die Unmöglichkeit einer negativen wie positiven Gesamtbewertung des Alls. Für Nietzsche wird am Ende der Metaphysik der Gedanke unabweisbar, dass eine endogene Bewertung eines holistischen Systems einen Akt der Selbstvergessenheit ausbuchstabiert. Diese Beurteilung muss notwendigerweise aus der Warte eines mosaiksteinhaften Einblicks erfolgen, der selbst nur aufgrund und innerhalb des Ganzen ist. Deswegen deckt Nietzsche im zweiten, mit „Resultat“ überschriebenen Abschnitt B den „Glauben an die Vernunftkategorien als Ursache des Nihilismus“¹⁵⁶⁷ auf. Die hiesige Wirklichkeit wurde durch die Anwendung der drei Kategorien Zweck, Einheit und Wahrheit an einer versprochenen, jedoch nicht existenten Welt gemessen. Aufgrund der immensen Wichtigkeit, die Heidegger dem Abschnitt B im Allgemeinen einräumt, soll der zweite Abschnitt mitsamt dem „Schluß-Resultat“¹⁵⁶⁸ im Ganzen zitiert werden: Gesetzt, wir haben erkannt, inwiefern mit diesen drei Kategorien die Welt nicht mehr ausgelegt werden darf und daß nach dieser Einsicht die Welt für uns wertlos zu werden anfängt: so müssen wir fragen, woher unser Glaube an diese drei Kategorien stammt, – versuchen wir, ob es nicht möglich ist, ihnen den Glauben zu kündigen! Haben wir diese drei Kategorien entwertet, so ist der Nachweis ihrer Unanwendbarkeit auf das All kein Grund mehr, das All zu entwerten. Resultat: Der Glaube an die Vernunft-Kategorien ist die Ursache des Nihilismus, – wir haben den Wert der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen. Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich damit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – all diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der

 Heidegger, N II, S. 72. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 15.  Heidegger, N II, S. 72. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 15.  Heidegger, N II, S. 72– 73.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen, sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.¹⁵⁶⁹

Auffällig ist der Wechsel von der distanzierten, in Abschnitt A vorherrschenden Schilderung einer geschichtlichen Abfolge in einen die direkte, ja existenzielle Betroffenheit und die Aktualität der Problemlage anzeigenden Sprachduktus aus der Perspektive des „Wir“.¹⁵⁷⁰ Des Weiteren ragt die nahezu definitionsartige Charakterisierung der Werte heraus. Heidegger hebt diesen gewandelten Tenor markant hervor und unterzieht den Abschnitt einer ausführlichen Würdigung.¹⁵⁷¹ In Heideggers weiterem Auslegungsgang wird deutlich, dass er in Nr. 12 B in maximaler, brennglasartiger Verdichtung nahezu alle signifikanten Ansatzpunkte für seine Kritik am Wertdenken wiedererkennt. Demgemäß drückt sich in Heideggers Auswahl, Besprechung und Priorisierung von Nr. 12 B die gewandelte Einstellung gegenüber Nietzsche aus. Zunächst legt Heidegger ein besonderes Augenmerk auf das Wortfeld der Quantität und Berechnung, das innerhalb von Nr. 12 B im Topos der psychologischen Nachrechnung und in den Begriffen des Resultats, der Nützlichkeit und der Steigerung zum Vorschein kommt. In diesem Kontext ist Heideggers Klassifizierung des Willens zur Macht als „Grundwert“¹⁵⁷², an dem die Beschaffenheit aller anderen Werte abgelesen werden solle, durchaus erläuterungsbedürftig. Heidegger verwendet diese Benennung explizit nur in der Vorlesung Der europäische Nihilismus aus dem Jahre 1940. In den anderen Nietzsche-Vorlesungen fasst Heidegger den Willen zur Macht stets als Prinzip der Wertsetzung, das als Unbedingtes nicht in vergleichender Absicht neben das durch es Bedingte gestellt werden kann. In seiner Interpretation des „Schluß-Resultats“¹⁵⁷³ verfolgt Heidegger zwei Intentionen: Zum einen sucht er Nietzsches Auffassung zu untermauern, dass durch die Entwertung der obersten Werte zugleich deren bisherige Aufnahmestätte, das Jenseits, einstürzt. Nach der Aufkündigung des Glaubens an die Vernunft-Kategorien regiert ein Zwischenzustand, in dem die hiesige Welt sinnlos erscheint. Heidegger restringiert Nietzsche in problematischer Weise auf ein Umbruchstheorem, wonach der Aufkündigungsvorgang unweigerlich eine neue Art der Wertsetzung erzwinge. Diese Umwertung könne allein durch das bewusste

    

Heidegger, N II, S. 72-S. 73. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 15 – 16. Heidegger, N II, S. 73. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 15 f. Vgl. Heidegger, N II, S. 73 ff. Heidegger, N II, S. 73. Vgl. Heidegger, N II, S. 72– 77.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

463

Bekenntnis zu einem der Wertsetzung zugrunde liegenden Prinzip initiiert werden: Der grundstürzende Wandel, der hinter der ‚Entwertung‘ der bisherigen obersten Werte steht, zeigt sich darin, daß ein neues Prinzip der Wertsetzung nötig wird. Weil jedoch die Entwertung der obersten Werte ein aus eindeutig gewußten Erscheinungen entspringendes, dementsprechend bewußtes Absetzen der bisherigen Werte ist, muß die neue Wertsetzung ihren Ursprung in einer neuen und gesteigerten Bewußtheit (Rechnung) haben. Das Prinzip einer neuen Wertsetzung kann also nur so zur Geltung kommen, daß ein neues Wissen über das Wesen der Werte und die Bedingungen des Wertschätzens erwacht und sich ausbreitet. Aus der höchsten Bewußtheit eines eigenen Bewußtseins von Wertwesen und Wertsetzung muß die Umwertung aller bisherigen Werte vollzogen und eingerichtet werden. In der so verstandenen neuen Wertsetzung vollendet sich erst der Hinfall der bisherigen Werte.¹⁵⁷⁴

Zum anderen sucht Heidegger die Unausweichlichkeit quantitativer Wertermittlung zu forcieren und sie mit der Metaphysik des Willens zur Macht zusammenzuschließen. Den Willen zur Macht etabliert Heidegger als gefordertes Prinzip der Wertsetzung. So insistiert Heidegger darauf, dass die neue Wertsetzung nur durch einen Grund ermöglicht werden könne, der das bewusste Rechnenkönnen mit sich eröffnet. Dies wird durch die Metaphysik des Willens zur Macht gewährleistet, in der sich der genitivus subjectivus und der objectivus verbinden.¹⁵⁷⁵ Einerseits ist Nietzsche nach Heidegger derjenige, der den Willen zur Macht als Deutungsschlüssel, ja als Bezeichnung für das Werdend-Seiende exponiert. Aus dieser Perspektive scheint er sich den Willen zur Macht als Objekt entgegenhalten zu können. Andererseits muss sein Denken gleichzeitig einwilligen, selbst nur Manifestation des Willens zur Macht zu sein. Als höchstes Prinzip und als Subiectum leitet und durchdringt der Wille zur Macht die Gedanken und die Willensrichtung jedes Einzelnen. Dergestalt ist es der Wille zur Macht, der den Philosophen Friedrich Nietzsche zum Sprachrohr seiner Herrschaftsausübung macht.¹⁵⁷⁶ Es kristallisiert sich allerdings die Frage heraus, warum ein Einblick in

 Heidegger, N II, S. 75.  Vgl. Heidegger, N II, S. 78.  Nietzsche berücksichtigt diesen Sachverhalt in einer Selbstrelativierung des Wahrheitsanspruches, der sich jedoch gerade auf diese Weise bewahrheitet. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, Nr. 22, S. 37: „…und es könnte Jemand kommen, […] ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem ‚Willen zur Macht‘ dermaßen vor Augen stellte [ …] und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass sie einen ‚notwendigen‘ und ‚berechenbaren‘ Verlauf habe, aber nicht, weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze fehlen, und jede Macht in jedem Augenblicke ihr letzte Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden? – nun, um so besser.“ Dennoch lässt sich bei Nietzsche die

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

den Grund der Wertentstehung für die Kultivierung der Wertaufrichtung relevant ist. Dessen Notwendigkeit ergibt sich nach Heidegger aus der hochgestochenen Bewusstheit, mit der die Kritik und Absetzung der obersten Werte vorging. Um diese nicht wieder einzubüßen, ist es unumgänglich, dass ein beständiges Wissen um den Ursprung der Werte bewahrt wird. Garant dieser Sicherheit kann nach Heidegger nur eine Synthese aus instinktiver Triebkraft und rechnender Rationalität sein. Entscheidend ist, dass Heidegger diese Zusammenfügung nicht als Koinzidenz des Entgegengesetzten beschreibt. Er gibt die wegweisende Bestimmung: Was wir mit dem vieldeutigen Name ‚Instinkt‘ bezeichnen, wird jetzt nicht nur als ein vormals Unbewußtes auch noch bewußt, die Bewußtheit, die ‚psychologische Nachrechnung‘ und Rechnung wird zum eigentlichen ‚Instinkt‘.¹⁵⁷⁷

Die Rede vom Instinkt meint bei Tieren den ungebrochenen, oftmals in zahlreichen Wiederholungen oder zyklischen Mustern erscheinenden Nachvollzug eines lenkenden Strebevermögens, das üblicherweise einen die Spezies übergreifenden Charakter besitzt. Wenn die Rechnung zum Instinkt wird, geschieht nicht nur die vereinheitlichende Erfüllung der polaren Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale und die Verschmelzung von perceptio und appetitus.Vielmehr ist signifikant, dass der Geist der Rechnung und Sicherstellung in diesem Fall nahezu ungehindert in das menschliche Wollen, Denken und Triebleben einwandert und zum Automatismus wird. Weil sich der Instinkt die Fähigkeit der Reflexivität einverleibt und sie zur Finalität umgeformt hat, kann er nicht einmal als solcher registriert werden.¹⁵⁷⁸ Wie bereits kurz erwähnt, unterstreicht Heidegger den imperativisch-herausfordernden Gestus von Abschnitt B und apostrophiert, dass Nietzsche den Zwischenzustand aktiv evoziere. In diesem Interregnum sollen die tradierten Triebfedern menschlicher Selbstsicherheit demaskiert und zurückgelassen werden, um in dieser Leere die unhintergehbare Notwendigkeit der Wertsetzung

Tendenz registrieren, die Ablösung einer absoluten Wahrheit zugunsten eines interpretativen Vielfaltsgeschehens selbst als Manifestation des Willens zur Macht zu fassen und diesem zuzuschlagen. In diesem Fall müsste konstatiert werden, dass Heideggers Deutung einen wesentlichen Punkt getroffen hat. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1886, KGW VIII, 1, 2 [151], S. 138: „Man darf nicht fragen: ‚wer interpretiert denn?‘ sondern das Interpretiren selbst, als eine Form des Willens zur Macht, hat Dasein (aber nicht als ein ‚Sein‘, sondern als ein Prozeß, ein Werden) als ein Affekt.“  Heidegger, N II, S. 75.  Vgl. Heidegger, N II, S. 75.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

465

umso heller aufleuchten zu lassen.¹⁵⁷⁹ Wenn innerhalb der Geschichte der Punkt erreicht ist, an dem die Werte als „Perspektiven der Nützlichkeit“¹⁵⁸⁰ begriffen werden, die „menschlichen Herrschafts-Gebilden“¹⁵⁸¹ sekundieren, kann das Kriterium für die Beurteilung der Werte nicht mehr aus dem Spannungsfeld einer überzeitlichen Wahrheit und der ihr zugehörigen Unwahrheit gewonnen werden. Dies bedeutet einerseits eine Entdogmatisierung der Begriffe Zweck, Einheit und Sein. Andererseits – und dies ist aus Heideggers Sicht ein Ereignis von unergründlicher Tragweite – wird auf diese Weise die Verbindung von Sinn und Sein, die in Nietzsches Darlegung der drei Stadien gestreift wird, verschüttet und als verfälschende Projektion abgelehnt. Zudem wird der Sinn des Seins an die herrschaftsbezogenen Wechselstufen von Niedergang, Erhaltung und Machtvergrößerung des Willens zur Macht angebunden. Wie in seiner an Heraklits Fragment 28 anknüpfenden Exposition der Gerechtigkeit und in seinem Aufsatz Der Spruch des Anaximander ¹⁵⁸² deutlich wird, vertritt Heidegger die Auffassung, dass die Aufrichtung an sich seiender Entitäten das wechselseitige Gewährenlassen des Seienden aus der Wahrheit des Seins konterkariert und als anmaßende Ungerechtigkeit zu beurteilen ist. Deswegen kann er nichtsdestotrotz mit Nietzsche die geschichtliche Tatsache einer Verabsolutierung der bislang maßgebenden, jenseitigen Werte als Unwahrheit ausweisen.

 Vgl. Heidegger, N II, S. 74. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII, 2, 9 [48], S. 23: „Einen Sinn hineinlegen – diese Aufgabe bleibt unbedingt immer noch übrig, gesetzt daß kein Sinn darinliegt. Die noch höhere Stufe ist ein Zielsetzen und darauf hin das Tatsächliche einformen, also die Ausdeutung der Tat und nicht bloß die begriffliche Umdichtung.“ Daraus erwächst die Frage, wem die Zuständigkeit für diese Zielsetzung, Einformung und Ausdeutung zufallen soll. Nietzsche scheint darauf eine klare Antwort zu geben. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 211, KSA 5, S. 145: „Die eigentlichen Philosophen aber sind Befehlende und Gesetzgeber: sie sagen ‚so soll es sein!‘, sie bestimmen erst das Wohin? und Wozu? des Menschen.“  Heidegger, N II, S. 76. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S.16.  Heidegger, N II, S. 76. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 16.  Der Spruch des Anaximander lautet in Nietzsches Übersetzung: „Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Notwendigkeit, denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeit gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit.“ Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 818. Heidegger gelangt zu der folgenden Übersetzung: „…entlang dem Brauch; gehören nämlich lassen sie Fug und somit auch Ruch eines dem anderen (im Verwinden) des Un-Fugs.“ Vgl. Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Heidegger, Holzwege, S. 372.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.9.4 Vom unvollständigen zum ekstatischen Nihilismus: Heideggers Entfaltung der Erscheinungsformen Wenn die Erfahrung, dass mit den erwarteten Zwecken nichts erreicht wird, nach Nietzsche bereits bei den Vorplatonikern aufleuchtet, kann der Pessimismus kein allein neuzeitliches Phänomen symbolisieren. Diese Einsicht zeigt sich schon beim frühen Nietzsche der Tragödienschrift ¹⁵⁸³ (1872) und des Philosophenbuches ¹⁵⁸⁴ (1873) in zahlreichen Reflexionen über das Verhältnis von Wahrheit und Kunst, Apollinischem und Dionysischem, abgründigem Leiden und daraus geschöpfter Apotheose des Lebens bei den Griechen. Dass Heidegger den Pessimismus trotz der in den drei Formen aufgespürten Entwicklungslogik in der Folge auf seine neuzeitliche Erscheinungsweise beschränkt, steht allerdings durchaus im Einklang mit der im Abschnitt B aufgedeckten, akuten Entscheidungserfordernis. Die Schopenhauersche Einschätzung der Welt als „schlechtester aller möglichen“¹⁵⁸⁵ kann sich nach Heidegger erst konsolidieren, wenn die Akzeptanz der Ideale und des christlichen Gottes gebrochen ist und die obersten Werte ihrer gänzlichen, endgültig durch Nietzsche besiegelten Entwertung bereits entgegengehen.¹⁵⁸⁶ Betrachtet man den Pessimismus innerhalb der Konstellation Schopenhauer – Nietzsche, so offenbart er sich als „Vorform“¹⁵⁸⁷ des Nihilismus. Dieser Pessimismus differenziert sich in zwei Aspekte. Während Schopenhauer aus der Sichtweise Nietzsches und auch Heideggers als der unüberbietbare Repräsentant des Pessimismus aus Schwäche figuriert, so nimmt Nietzsche für sich in Anspruch, diesen in einen Pessimismus aus Stärke umgebogen zu haben. Der lebensvernei Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 40 – 41.  Vgl. Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 824– 826.  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 683.  Vgl. allerdings zur Verortung willensverneinender Stimmungslagen und der negativ-pessimistischen Gesamtbewertung des Weltgeschehens in der griechischen Antike: Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 56: „Mit diesem Chore tröstet sich der […] zum schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, ebenso wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist, sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben. Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein lethargisches Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden; eine asketische, willensverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände.“  Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII, 2, 10 [58], S. 157.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

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nende Pessimismus der Schwäche hypostasiert seine einmal gewonnene Auslegungsperspektive und erblickt überall das Scheiternde, Misslingende, Trübselige und Leidstiftende.¹⁵⁸⁸ Heidegger deutet an, dass darin zwar keine versöhnliche, aber doch ungewollt unkritische, indifferente Rechtfertigung der Welt zum Ausdruck kommt, weil das Leiden Einzelner in die Bestätigung der metaphysischen Elementarform eingespannt wird. Nietzsche und Heidegger bringen diesen Pessimismus aus Schwäche mit dem eine universelle Erklärbarkeit beanspruchenden „Historismus“¹⁵⁸⁹ in einen Zusammenhang. Der Pessimismus aus Schwäche lässt sich mit der Verfallsform der monumentalischen Historie vergleichen. Der Pessimismus aus Schwäche erstickt alles Neue und Vielversprechende, indem er diesem seine überlegenen Vorgänger und die unheilvollen Konsequenzen vor Augen führt.¹⁵⁹⁰ Der Pessimismus aus Stärke wird von Heidegger als „Position in der Analytik“¹⁵⁹¹ expliziert. Er reüssiert in der Entschlüsselung der bedrohlichen Kräfte bei si-

 Vgl. Heidegger, N II, S. 79 – 80. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 10, S. 12: „ Der Pessimismus als Stärke – worin? in der Energie seiner Logik, als Anarchismus und Nihilismus, als Analytik. Pessimismus als Niedergang – worin? als Verzärtlichung, als kosmopolitische Anfühlerei, als ‚tout comprendre‘ und Historismus. – Die kritische Spannung: die Extreme kommen zum Vorschein und Übergewicht.“ Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII 2, 9 [126], S. 74. Vgl. zu der sich im Phänomen des Pessimismus ereignenden Verbindung von Geschichtsphilosophie und kultureller Selbstverortung: Michael Pauen, Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, 1. Aufl., Berlin 1997.  Heidegger, N II, S. 80.  Vgl. Heidegger, N II, S. 80. Zur Einordnung des Pessimismus aus Schwäche als Übergang oder als Entscheidungsverzögerung vgl. den von Elisabeth Kuhn verfassten Artikel zum Stichwort „Nihilismus“, in: Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, S. 293 – 298; bes. S. 294– 295. Auch wenn die von Kuhn umrissene und mit zahlreichen Aufzeichnungen Nietzsches begründete Verlaufskurve des Nihilismus und die Darlegung der Erscheinungsweisen (Kuhn unterscheidet unvollständigen, vollkommenen, passiven, aktiven, radikalen und extremsten Nihilismus) einerseits eine große Ähnlichkeit zu derjenigen Heideggers besitzt, so legt sie andererseits mehr Gewicht auf die Rekursivität der Formen und betont die Ambivalenzen im Herleitungsverfahren.Vgl. Elisabeth Kuhn, Artikel „Nihilismus“, S. 297: „N.s Bewegung der Auseinandersetzung mit dem NihilismusProblem ist diejenige eines perspektivischen Kreisens, in dessen Verlauf sich der NihilismusBegriff verschiebt, auffächert, ausdifferenziert und anreichert. So denkt N. beispielsweise in Bezug auf die Heraufkunft des Nihilismus im Abschnitt 27 der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral in dieser Aufeinanderfolge den Willen zur Wahrheit und die Wahrhaftigkeit als Auslöser des Nihilismus zusammen. Im Nachlaß unterscheidet N. in der umgekehrten Anordnung zwischen der Kraft der Wahrhaftigkeit als durch die Moral herausgebildeter Verursachung des Nihilismus und dem Willen zur Wahrheit als durch die Philosophie hervorgebrachter Veranlassung des Nihilismus.“ Vgl. zur detaillierten Einordnung besonders: Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin / New York 1992, S. 241– 245.  Heidegger, N II, S. 80.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

multaner Ausschau auf ein mögliches Antidot. Sein Ziel ist es, die Krise durch die Konturierung einer verlässlichen Quelle, aus der sich eine neue Zuversicht speisen könnte, zu bewältigen. Der Pessimismus aus Schwäche bezieht die Rechtfertigung für seine negative Beurteilung der Welt noch aus der Gegenüberstellung von Gut und Böse, Erlösung und Strafe, Gerechtigkeit und Schuld, die der alten Werteordnung entlehnt ist. Weil der Pessimismus aus Stärke über diese hinausdrängt und deren lebensfeindlichen Implikationen eine Absage erteilen möchte, kann die Verzweigung des Pessimismus in eine starke und schwache Variante nicht aufrechterhalten werden. Der Pessimismus aus Stärke erzwingt aus sich selbst einen Übergang in den Nihilismus. Der unvollständige Nihilismus wird von Nietzsche als Kernbefund seiner Zeit diagnostiziert. Der unvollständige Nihilismus hängt der Überzeugung an, dem Ereignis des gestorbenen Gottes und der pessimistischen Einsicht in die Unerklärlichkeit des Leidens, in die leere Iteration der Willensregungen und in die Absenz einer zusammenhaltenden Positivität mit der Apotheose neuer Ideale begegnen zu können. Neben der Sinnvorstellung des allgemeinen Fortschritts sollen beispielsweise der Sozialismus oder der Staat diese Ordnungsfunktion erfüllen können. Gleichwohl kann sich der unvollständige Nihilismus auch in dem Versuch einer Resuszitation altbekannter Institutionen wie dem Christentum ausdrücken. Weil der unvollständige Nihilismus in der Verankerung dieser Surrogate auf den transzendenten, weltabgewandten Horizont angewiesen bleibt, fällt er noch hinter den Erkenntnisstandpunkt des Pessimismus aus Schwäche zurück, den er zu überwinden trachtet. Während der sich als atheistisch begreifende Pessimismus aufrichtig und desillusioniert die bisherigen Ideale als trügerische Gegenmittel demaskiert, perpetuiert der unvollständige Nihilismus jenen Dualismus, aus dessen Einsturz die ihn selbst hervorbringende und nährende, weitreichende Enttäuschung entspringen konnte. Er füllt diesen mit abgelebten und kraftlos gewordenen Sinnstützen. Folgerichtig schreibt Nietzsche: Der unvollständige Nihilismus, seine Formen: wir leben mitten drin. Die Versuche, dem Nihilismus zu entgehn, ohne die bisherigen Werte umzuwerten: bringen das Gegenteil hervor, verschärfen das Problem.¹⁵⁹²

 Heidegger, N II, S. 81. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 28, S. 23. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887, 10 [42], KSA 12, S. 476. Hinsichtlich des unvollständigen Nihilismus und der Art seiner möglichen Überwindung gelangt Gilles Deleuze zu einer trefflichen, sich mit Heideggers Interpretation überschneidenden Schilderung. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 2013, S. 186: „Man weiß, was Nietzsche mit Umwertung aller Werte meint: keinen Austausch von Werten, vielmehr einen Austausch des Elements, aus dem der Wert der Werte hervorgeht. Wertschätzung statt Wertminderung, die Bejahung als Wille zur Macht, der Wille als

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Heidegger beruft sich auf dieses Zitat, um seine These zu bekräftigen, dass die eigentliche Umwertung aller Werte sich keineswegs in der Orientierung an elitären oder das Griechentum reaktualisierenden, agonalen Zielen kultivieren muss, die eine christliche und lebensverleugnende Fixierung zu revidieren versprechen.¹⁵⁹³ Vielmehr ist die sich erst im aktiven Nihilismus abzeichnende Umwertung nach Heidegger identisch mit der Rückgründung des vormals eine unanfechtbare Richtigkeit beanspruchenden Willens zur Wahrheit, der den Glauben an eine absolute Wesenheit dekretierte, in ein plurales, verflüssigtes Wahrheitsgeschehen. Dieses bestimmt sich aus dem auch den Wahrheitswillen koordinierenden Willen zur Macht.¹⁵⁹⁴ Dass die von Heidegger als anagogische Stufenfolge präsentierte Klassifikation des Nihilismus durchaus als rekursive Verflechtung verstanden werden kann, äußert sich darin, dass der unvollständige Nihilismus einerseits durch den extremen Nihilismus abgelöst werden kann. Andererseits kann der unvollständige Nihilismus aber auch dem Geiste einer abmildernden Kompensation entstammen,

affirmativer. Solange im Element des Negativen ausgeharrt wird, mögen die Werte noch so sehr ausgetauscht oder selbst abgeschafft, Gott noch so oft getötet werden: deren Platz und Attribut als Heiliges und Göttliches bleiben allemal erhalten, wenn auch der Platz nicht besetzt und das Prädikat nicht zugeschrieben wird. Wechselt man dagegen das Element aus, dann und nur dann kann man legitim erklären, alle seither bekannten oder erkennbaren Werte umgekehrt, umgestürzt zu haben; den Nihilismus enttrohnt und die Aktivität wieder in ihre Rechte eingesetzt zu haben, freilich nur in Beziehung mit und in Affinität zu einer tieferliegenden Instanz, der jene Werte entspringen. Dann erst feierte, gleich der Bejahung als Wille zur Macht, das Aktiv-werden seine Auferstehung im Universum.“ Im Gegensatz zu Heidegger, positioniert sich Deleuze erkennbar affirmativ zu der geforderten Akzeptanz des Willens zur Macht als wertschöpfendem Element. Er begreift das Geschehen einer Umwertung der Werte als befreienden und lebensbejahenden „Qualitätswechsel“ (Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 190) und heißt die negierende Kritik der bisherigen Werte als „Konversion des Schweren in Leichtes, des Niedrigen in Hohes, des Leidens in Lust“ (Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 191) gut.  In seinem Artikel „Die Umwerthung der Werte“ im Nietzsche-Handbuch benennt Andreas Urs Sommer das grundlegende Dilemma der von Nietzsche inaugurierten Revision der dominierenden Einflusskräfte. Einerseits „…kann N. seinen starken Individuen keine Vorschrift mehr machen, wie sie ihr Leben und das Leben anderer zu gestalten hätten, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Damit fiele er in eine moralische Bevormundungsmanier, eine heteronome Ethik zurück, die sein Immoralismus gerade überwinden will.“ Vgl. Andreas Urs Sommer, Artikel „Umwerthung der Werte“, in: Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, S. 345 – 346, hier S. 346. Wenn Nietzsche aus diesem Grund die Formalität wahrt und mit ihr die individuelle Ausfüllbarkeit der Umwertung der Werte, dann droht diese andererseits „zu einem bloßen Abbruchunternehmen (der jüdisch-platonisch-christlichen Tradition) zu versanden, das allenfalls von Ferne zeigt, worin neue Moralen bestehen mögen“ (Andreas Urs Sommer, Artikel „Umwerthung der Werte“, S. 346).  Vgl. Heidegger, N II, S. 81.

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der die erlebte Radikalität des extremen Nihilismus zurückzunehmen sucht. Der extreme Nihilismus teilt mit dem Pessimismus der Schwäche und demjenigen der Stärke die unbestechliche Sicht auf das Ganze. Der extreme Nihilismus radikalisiert diese Erkenntnis jedoch zu einer Negation der Wahrheit, die deswegen neu ausgelotet werden muss. Dass Heidegger die endgültige Preisgabe einer an sich seienden Wahrheit nicht dem Pessimismus oder dem unvollständigen Nihilismus konzediert, sondern erst dem extremen Nihilismus vorbehält, ist durchaus schlüssig. Hatte Heidegger doch mit Nietzsche beispielsweise den „Grundirrtum Schopenhauers“¹⁵⁹⁵ darin gesehen, den Willen als jedermann zugängliche und bekannte Tatsache zu fassen, ihn in einem Analogieschluss ¹⁵⁹⁶ zu universalisieren und in einer Kehrtwendung die Welt als eine unter den Satz vom Grunde gebrachte Sichtbarwerdung des Willens zu betrachten.¹⁵⁹⁷ In diesem Sinne gelangt der Schopenhauersche Pessimismus nur zur jeweiligen Konversion der ersten beiden Glieder der ontotheologischen Gleichung, wonach das Gute mit Gott und der Wahrheit gleichgesetzt werden kann. Auch der extreme Nihilismus lässt sich in zwei Formen ausdifferenzieren. Die erste, der passive Nihilismus, resigniert auf Grund des sich auf der vorherigen Stufe ankündigenden und des sich nun in der eigenen, unerbittlichen Konsequenz vollendenden Niederganges überzeitlicher Allgemeingültigkeit.¹⁵⁹⁸ Die zweite, der aktive Nihilismus, gewinnt aus dieser Destruktion die unaufhaltsame Motivation und unwiderlegliche Legitimation für die kompromisslos ausgeweitete Kritik an allen widerständigen Essentialismen. Hinsichtlich des passiven Nihilismus kann eine Ambivalenz aufgespürt werden. Nietzsche und Heidegger assoziieren ihn mit einer unproduktiven, ja zynischen Haltung des „Es lohnt sich nichts“. Durch diese Haltung droht die Wertlosigkeit des Alls zum unbestrittenen Faktum zu werden, weil – Hegelisch gesprochen – kein „Misstrauen in dies Misstrauen“¹⁵⁹⁹ mehr gesetzt wird. Gegen Heideggers negative Deskription des passiven Nihilismus lässt sich insgleichen darauf hinweisen, dass sich in ihm ein selbstgenügsam-weltbejahendes Potenzial bergen könnte. Die Akzeptanz der Vergeblichkeit aller Be Vgl. Heidegger N I, S. 37.  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, §19, S. 148 – 149.  Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, §70, S. 109: „Die Natur ist der Wille, sofern er sich außer sich selbst erblickt; wozu sein Standpunkt ein individueller Intellekt seyn muss. Dieser ist ebenfalls sein Produkt.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 81– 82.  Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 69. Charakteristisch für Nietzsche ist hingegen gerade das Hinterfragen des eigenen Hinterfragens. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1885–Frühjahr 1886, KGW VIII,1, 1 [19], S. 11: „ – Endlich wendet sich der Zweifel auch gegen sich selber: Zweifel am Zweifel. Und die Frage nach der Berechtigung der Wahrhaftigkeit und ihrem Umfange steht da –.“

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mühungen der Sinnstiftung, die durch die ersatzlose Verabschiedung der Wahrheit ihren Gipfelpunkt erreicht, könnte jedwede – stets unwahre – Beurteilung der Welt im Ganzen dulden, ohne die Apologeten der Konservierung und die Agenten der Zerstörung anklagen zu müssen. Im Lenzer Heide-Fragment (datiert auf den 10. Juni 1887) verkündigt Nietzsche die Aussicht, dass die besänftigte Lebensnot in der Moderne die Gefahr des aufkeimenden Nihilismus aufzufangen imstande sein könnte, weil die erreichte Grundsicherheit die Herausbildung gemäßigter Positionen beförderte: Thätsächlich haben wir ein Gegenmittel gegen den ersten Nihilismus nicht mehr so nöthig: das Leben ist nicht mehr dermaaßen ungewiß, zufällig, unsinnig, in unserem Europa. Eine solch ungeheure Potenzirung vom Werth des Menschen, vom Werth des Übels usw. ist jetzt nicht so nöthig, wir ertragen eine bedeutende Ermäßigung dieses Werthes, wir dürfen viel Unsinn und Zufall einräumen: die erreichte Macht des Menschen erlaubt jetzt eine Herabsetzung der Zuchtmittel, von denen die moralische Interpretation das stärkste war. ‚Gott‘ ist eine viel zu extreme Hypothese.¹⁶⁰⁰

In einer weiteren Überlegung aus dem Lenzer Heide-Fragment konfrontiert Nietzsche die selbstauferlegte Bedeutungshaftigkeit eines sich selbst aufreibenden Ikonoklasmus mit der in der ewigen Wiederkehr des Gleichen geborgenen Pluralisierung von Zeitwiederholungsfeldern. Die prätendierte Einmaligkeit des Nihilismus, dessen Begrenzung auf eine bestimmte Entfaltungszeit und Verlaufskurve das Inzitamentum entfacht, das zur Positionierung oder gar Partizipation verpflichtet, wird gebrochen und nivelliert, wenn auch dieses Ereignis sich aus Myriaden ununterscheidbarer Vorgänger speist: Die ungesundeste Art Mensch in Europa (in allen Ständen) ist der Boden des Nihilismus: sie wird den Glauben an die ewige Wiederkunft als einen Fluch empfinden, von dem getroffen man vor keiner Handlung mehr zurückscheut: nicht passiv auslöschen, sondern Alles auslöschen machen, was in diesem Grade sinn-und-ziellos ist: obwohl es nur ein Krampf, ein blindes Wüthen ist bei der Einsicht, daß Alles seit Ewigkeiten da war – auch dieser Moment von Nihilismus und Zerstörungslust. ¹⁶⁰¹

Darüber hinaus untergräbt Nietzsche die sowohl dem passiven als auch dem aktiven Nihilismus eignende Kompromisslosigkeit und ironisiert die beanspruchte Unversöhnlichkeit, indem er den Nihilismus als willkommenes Mittel

 Nietzsche, NF Sommer 1886–Herbst 1887 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 3, KSA 13, S. 212.  Nietzsche, NF Sommer 1886–Herbst 1887 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 3, KSA 13, Nr. 14, S. 216 – 217 [von mir kursiv gesetzt, J.K.].

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der Erholung und der Selbstberuhigung des Philosophen im Angesicht weit gefährlicherer Herausforderungen und Wahrheiten dechiffriert: Ein Philosoph erholt sich anders und in Anderem: er erholt sich z. B. im Nihilismus. Der Glaube, daß es gar keine Wahrheit giebt, der Nihilisten-Glaube ist ein großes Gliederstrecken für einen, der als Kriegsmann der Erkenntnis unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich.¹⁶⁰²

Um den passiven vom aktiven Nihilismus zu unterscheiden, greift Nietzsche zum ersten Mal in der von Heidegger arrangierten Ebenengliederung auf die Macht als Differenzkriterium zurück: A. Nihilismus als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: der aktive Nihilismus. B. Nihilismus als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilismus. ¹⁶⁰³

Der aktive Nihilismus kann seine Kraft nicht mehr aus einem begründeten Hinausgang über seine passive Verschwisterungsform generieren. Er gewinnt seinen Wirkradius durch den Akt einer produktiven Subversion, welche die epistemische und ideelle Wahrheit in der Anerkenntnis der Ur-Wahrheit des Willens zur Macht torpediert und aushebelt. In diesem Kontext ist zu bemerken, dass diese (freilich von Heidegger vorgetragene) Rückverankerung Nietzsche von Stirner unterscheidet, der bei der Fiktion eines selbstherrlichen Ichs verharrt. Der klassische Nihilismus adaptiert die vom aktiven Nihilismus vorgegebene, generelle Bewertung der Sachlage, verlängert diese aber in eine geschichtliche Handlungswirksamkeit. Der klassische Nihilismus setzt negierend und „Hand anlegend“¹⁶⁰⁴ in die Tat um, was der aktive Nihilismus noch erkennend abzustreifen und aufzufinden gedachte. Der aktive Nihilismus wird zum klassischen Nihilismus, sobald er die äußere Betrachtungsweise und die bloß konstatierte Erschließung vermeintlich an sich seiender Wahrheiten aus dem Willen zur Macht

 Nietzsche, KSA 13, S. 51. Vgl. dazu die Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft, KSA 3, S. 352: „Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben.“  Heidegger, N II, S. 81. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 22, S. 20.  Vgl. Heidegger, N II, S. 82. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 24, S. 21– 22: „Der Nihilismus ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das ‚Umsonst‘! und nicht nur der Glaube, daß alles wert ist, zugrunde zu gehen: man legt Hand an, man richtet zugrunde. Das ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nötigung, logisch zu sein… Es ist der Zustand starker Geister und Willen: und solchen ist es nicht möglich, bei dem ‚Nein‘ des Urteils stehen zu bleiben: – das Nein der Tat kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundiert die Ver-Nichtung durch die Hand.“ Vgl. Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII,2, 11 [123], S. 301. Vgl. Nietzsche, NF 1887– 88, 11 [123], KSA 13, S. 59 f.

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transzendiert. Der klassische Nihilismus fügt sich eigens in den Grund der Wertsetzung ein, um sich aus diesem selbst als aktiven und bewussten Teilhaber zu erfahren: Der aktive Nihilismus erkennt die Wahrheit als eine Gestalt des Willens zur Macht und als einen Wert von bestimmtem Rang. Wird vollends der Wille zur Macht ausdrücklich als der Grund der Möglichkeit von Wahrheit erfahren, wird die Wahrheit als eine Funktion des Willens zur Macht (als Gerechtigkeit) begriffen und gestaltet, dann wandelt sich der extreme Nihilismus als aktiver zum klassischen Nihilismus.¹⁶⁰⁵

Der klassische Nihilismus versinnbildlicht die erste Form des Nihilismus, die wieder handelnd in die Welt hineintritt, das „Verlangen zum Ende“¹⁶⁰⁶ aufhebt und eine neue Ordnung schafft. Der klassische Nihilismus verleibt sich den extremen Nihilismus in der aktiven Gestalt ein und formt dessen wirklichkeitserfassendes Urteil zu einem Bekenntnis um, das zur Grundlage der eigenen Verhaltensweise wird. Nietzsche umrandet diese als „Ver-Nichtung durch die Hand“¹⁶⁰⁷ und betont damit die Nähe zum Nichts, dessen ontologischer Status als Rückhalte- und Rechtfertigungsgrund des klassischen Nihilismus fungiert. Aufgrund der Herausschälung der Nichtigkeit der bisherigen Werte können weder die zerstörende und schaffende Tatabfolge des klassischen Nihilismus noch die nunmehr sinnentblößte Welt diskreditiert werden. Camus fasst dies prägnant zusammen: Des göttlichen Willens beraubt, ist die Welt gleicherweise ihrer Einheit und Finalität beraubt. Aus diesem Grund kann die Welt nicht gerichtet werden. Jedes über sie abgegebene Werturteil führt letztlich zur Verleumdung des Lebens. Denn man urteilt dann über das, was ist, im Hinblick auf das, was sein sollte, auf das Himmelreich, die ewigen Ideen oder den moralischen Imperativ. Aber was sein sollte, ist nicht: Die Welt kann nicht im Namen von nichts abgeurteilt werden.¹⁶⁰⁸

Der klassische Nihilismus ist aufgrund seiner Handlungswirksamkeit in der Lage, sich gegen Relikte und Residuen seiner Vorformen zu wenden und diese zu negieren. Deren Angriff auf diejenigen Ideale, die das Leben bislang bejahenswert

 Heidegger, N II, S. 82.  Heidegger, N II, S. 82. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1055, S. 689.  Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [123], S. 301; Nietzsche, NF 1887– 1888, 11 [123], KSA 13, S. 59 f.  Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 97. Vgl. zur Unmöglichkeit einer richtenden Gesamtbeurteilung der Welt auch: Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Leben und Denken. Interpretationen zur Philosophie Nietzsches, Frankfurt a. M. 1968, S. 113 – 114.

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erschienen ließen, operiert partiell (etwa im Falle des unvollständigen Nihilismus) immer noch mit Vorstellungen des Sein-Sollenden. Diese normativen Konzeptionen hebt der klassische Nihilismus in der Anzeige der Unüberbietbarkeit des abgründigen Nichts auf. Als „Ideal der höchsten Mächtigkeit“¹⁶⁰⁹ ist er nicht mehr auf die eigene Wissbegierde oder auf einen äußeren Befehlsimpuls angewiesen. Der klassische Nihilismus befiehlt sich in Strukturanalogie zum Willen zur Macht selbst und ermächtigt sich zur Beseitigung der Hemmnisfaktoren. Im Ausgang von der damit einhergehenden Ausweitung freigeräumter Sichtfelder windet sich der klassische Nihilismus selbst aus dem Modus der begrenzt-horizontalen Erfahrbarkeit des Abgelehnten und Bekämpften heraus. Er wird zum „ekstatischen Nihilismus“¹⁶¹⁰, wobei das Motiv der Ektase im wörtlichen Sinne des Hinaus-Stehens zu verstehen ist. Dass in dieser Auslegung eine gewisse Überformung durch Heideggers Gedanken der Ek-sistenz stattfindet, lässt sich nicht abstreiten. Indes kann auf diese Weise die Position der erinnernden Überschau und Lenkungsgewalt, die der ekstatische Nihilismus erreicht, adäquat unterstrichen werden.¹⁶¹¹ Zudem muss bekräftigend berücksichtigt werden, dass Nietzsche sich selbst als „Wahrsage-Vogelgeist“¹⁶¹² porträtiert, der den Nihilismus in sich, unter sich und außer sich habe.¹⁶¹³

1.9.5 Die „hyperbolische Naivität“ und die Angewiesenheit des Willens zur Macht auf die Wertsetzung Die große Kohärenz, mit der Heidegger die Exposition des Nihilismus als innerer Logik der Geschichte mitsamt den neuzeitlich-modernen Erscheinungsformen rekapituliert, wirft die Frage auf, inwiefern er mit dem geschilderten Hergang übereinzustimmen bereit ist. Er offeriert eine Lesart, die es gestattet, Nietzsches Betrachtung der Metaphysikgeschichte unter dem Wertaspekt von dem Vorwurf der Willkür und demjenigen der Standpunktphilosophie freizusprechen. Einerseits vertritt Heidegger die These, dass die tradierten Begründungsprinzipien durch Nietzsche erst in ihr eigentliches Wesen gehoben werden, indem sie sich als

 Heidegger, N II, S. 82. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 14, S. 17.  Heidegger, N II, S. 82. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1055, S. 689.  Vgl. Heidegger, N II, S. 82. Vgl. zum Motiv der Ek-sistenz: Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Heidegger, Wegmarken, S. 342. Vgl. zur Bedeutung des Humanismus-Briefes im Gesamtwerk Heideggers: Dirk Mende, Brief über den Humanismus. Zu den Metaphern der späten Seinsphilosophie, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 216 – 226.  Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2,11 [411].  Vgl. Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2,11 [411].

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

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fragil und aus dem Seienden gewonnen enthüllen.¹⁶¹⁴ Auch in Nietzsche keimte demnach die Ahnung auf, dass die Prinzipienfundierung privilegierter Entitäten auf einer konstitutiven Unterschlagungsleistung beruhte. Andererseits kann Heidegger den Primat der analeptischen Wertbetrachtung nur anfechten, wenn der Nachweis gelingt, dass der Wille zur Macht selbst in einer elementaren Abhängigkeitsbeziehung zur bisherigen Metaphysik situiert ist, nur in dieser wachsen konnte und ein Produkt neuzeitlicher Provenienz bleibt. Die sich an die Systematisierung des Nihilismus anschließenden Erläuterungen erfüllen die Funktion, den Willen zur Macht – gestützt auf Zitate Nietzsches – mit der Wertsetzung zu identifizieren. Außerdem soll der Wille zur Macht mit dem in den Perspektiven artikulierten Kraftmaß zusammengeführt werden, das nach Heidegger allein der Auffindung und Bemessung der Werte dient. Im weiteren Verlauf ist zu demonstrieren, wie Heidegger die zwiespältige Anerkennung Nietzsches als Enthüller und Vollender der Metaphysik in der Gestalt der unausweichlich gewordenen Wertsetzung in einem Strang verbindet und kritisiert. Der in Nr. 12 angeführte Topos der „hyperbolischen Naivität“¹⁶¹⁵ bildet die größte Herausforderung für Heideggers Auslegung. Nietzsche scheint hier die distanzierte Sichtweise des Verdachts einzunehmen. Er markiert die einstmalige Zentralposition des Menschen im Kosmos als Ergebnis und Ausdruck eines sich selbst verkennenden Anthropomorphismus. Entsprechend könnte diese Aufzeichnung auch als Gestus der reflektierten Selbstbescheidung und als Monitum der Vorsicht verstanden werden. Das „Schluß-Resultat“ von Abschnitt B legt eine solche Exegese förmlich nahe: Weil die Menschen nach Nietzsche ihren eigenen Anteil in der Ansetzung (der in das Jenseits verlegten) Kategorien Zweck, Einheit und Sein verkannten, vermochten sie nicht zu durchschauen, dass sie selbst als das unbewusste Wertmaß fungierten. In diesem Sinne lässt sich die Aufzeichnung dahingehend interpretieren, dass mit dem bewussten Verzicht auf eine allumgreifende, letztlich allein der Erhaltung und Steigerung des Willens zur Macht dienenden Wertsetzung auch die einsichtige Zurücknahme der Naivität verbunden ist: Schluß-Resultat: Alle Werte, mit denen wir bis jetzt die Welt zuerst uns schätzbar zu machen gesucht haben und endlich damit entwertet haben, als sie sich als unanlegbar erwiesen – all diese Werte sind, psychologisch nachgerechnet, Resultate bestimmter Perspektiven der Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung und Steigerung menschlicher Herrschafts-Gebilde: und

 Vgl. Heidegger, N II, S. 98.  Vgl. Heidegger, N II, S. 105. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 16.

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nur fälschlich projiziert in das Wesen der Dinge. Es ist immer noch die hyperbolische Naivität des Menschen, sich selbst als Sinn und Wertmaß der Dinge anzusetzen.¹⁶¹⁶

Tatsächlich statuiert Nietzsche (im Einklang mit der hier vorgeschlagenen Deutung des „Schluß-Resultats“) in einer weiteren Nachlassaufzeichnung aus dem Jahre 1887 die Forderung, die Unhaltbarkeit der aus dem (christlichen) Anthropozentrismus entsprungenen und diesen stützenden Werte einzusehen und sie als Ausdruck menschlicher Hybris zu korrigieren: Daß man endlich die menschlichen Werthe wieder hübsch in die Ecke zurücksetze, in der sie allein ein Recht haben: als Eckensteher-Werthe. Es sind schon viele Thierarten verschwunden; gesetzt, daß auch der Mensch verschwände, so würde nichts in dieser Welt fehlen. Man muß Philosoph genug sein, um auch dies Nichts zu bewundern ( – Nil admirari – ).¹⁶¹⁷

Heideggers Umgang mit dem „Schluß-Resultat“ bildet ein paradigmatisches Lehrstück, insofern er zu demonstrieren sucht, dass es Nietzsche nach der Rekognoszierung der bisherigen Naivität gerade darauf ankomme, die Wertsetzung aktiv anzuvisieren. Diese Interpretationslinie baut sich bereits in Heideggers Urteil auf, die hyperbolische Naivität sei durch das „Nichtahnen des Wertursprungs“¹⁶¹⁸ gekennzeichnet. Dieses nicht vorhandene Gespür für die Wurzel der Wertstabilisierung konstituiert die Geschichte der Moral als „System von Wertschätzungen“.¹⁶¹⁹ Im Rahmen dieser Geschichte okkupieren die Ideale als eingefordertes Sollen oder als Erwünschtes einen substantiellen Status der Unbedingtheit, denen sich der tugendhafte, heteronome, „gute Mensch“¹⁶²⁰ unterwirft. Der gute Mensch befolgt einen moralischen Willen, der die Scheidung von Ideal und Wirklichkeit in der scharfen Entgegensetzung von Gut und Böse reproduziert. Indem Heidegger diesen Willen als „Willen zur Macht der Ideale“¹⁶²¹ begreift,

 Heidegger, N II, S. 72– 73. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 16.  Nietzsche, NF 1887– 1888, 11 [103], KSA 13, S. 50.  Heidegger, N II, S. 105.  Heidegger, N II, S. 104. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 256, S. 185: „Ich verstehe unter ‚Moral‘ ein System von Wertschätzungen, welches mit den Lebensbedingungen eines Wesens sich berührt.“  Heidegger, N II, S. 103.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 358, S. 247: „Der ideale Sklave (der ‚gute Mensch‘). Wer sich nicht als ‚Zweck‘ ansetzen kann, noch überhaupt von sich aus Zwecke ansetzen kann, der gibt der Moral der Entselbstung die Ehre – instinktiv. Zu ihr überredet ihn alles: seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Und auch der Glaube ist eine Entselbstung.“  Heidegger, N II, S. 102.

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kann er ihn im gegenläufigen Bezug auf die menschliche Machtentenfaltung als selbstnivellierenden „Willen zur Ohnmacht des Menschen“¹⁶²² titulieren. Während Nietzsche (in Heideggers Darstellung) die Metaphysik aus der Moral der „Entselbstung“¹⁶²³ entspringen lässt, muss der im Hintergrund stehende, kritische Haupteinwand Heideggers berücksichtigt werden. Nach Heidegger kann ebenjene Ursprungshypothese abermals nur durch die Unverbrüchlichkeit des in divergierenden Herrschaftsverhältnissen erscheinenden Willens zur Macht fundiert werden. Deswegen falle Nietzsches voluntaristische Ursprungsauffassung der Wertkonstitution ihrerseits in das Feld der (neuzeitlichen) Metaphysik. Heidegger referiert zur Untermauerung auf Nietzsches Diktum: Die bisherigen obersten Werte sind ein Spezialfall des Willens zur Macht.¹⁶²⁴

Weil Heidegger die Naivität in ein Verhältnis zu den Begriffen der Unschuld und der Unwissenheit bringt, kann er sie als fraglose und selbstverständliche Akzeptanz der obersten Werte – der Finalität, der Unität und des Verifikationskorrelats – fassen. Heidegger muss die Naivität also nicht unmittelbar auf die womöglich zu vermeidende Selbstzentralisierung des Menschen im Sinngeschehen beziehen. Dabei macht er sich die griechische Bedeutung des Wortes „hyperbolisch“ zunutze, das nach Heidegger nicht die Anzeige einer Übertreibung signalisiert. Insofern es wörtlich auf „ὑπερ-βάλλειν“¹⁶²⁵ zurückgeführt werden könne, indiziere es den vergessenen Akt des Über-sich-hinauswerfens der Werte. Daraus leitet Heidegger ab, dass die Naivität für Nietzsche in der geschichtlich verdeckten Durchsicht in die unumgängliche Vermenschlichung besteht. Die passive Hinnahme einer sich vermeintlich aus dem Sich-Zeigen der Dinge ergebenden Maßstabsvergabe korrespondiert nach Heidegger mit der sich selbst verborgen bleibenden Macht. In einer eigentümlichen Verkehrung des Nietzscheschen Textgehalts sieht Heidegger die Naivität nicht darin, dass der Mensch sich überhaupt als „Sinn und Wertmaß der Dinge“¹⁶²⁶ ansetzte. Heidegger entdeckt den Wesenszug der Naivität

 Heidegger, N II, S. 102; S. 107.  Heidegger, N II, S. 103. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 358, S. 247.  Heidegger, N II, S. 103 – 104. Vgl. Nietzsche NF Frühjahr 1888, 14 [137], KSA 13, S. 321.  Heidegger, N II, S. 106.  Heidegger, N II, S. 107. Vgl. dagegen Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 346, S. 580: „Die ganze Attitüde ‚Mensch gegen Welt‘, der Mensch als ‚Welt verneinendes‘ Prinzip, der Mensch als Werthmass der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Waagschalen legt und zu leicht befindet – die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein gekommen und verleidet…“ Nietzsche bleibt bei dieser Kritik

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vielmehr in dem Sachverhalt, in diese Ansetzung nicht einzuwilligen, sie nicht aktiv voranzutreiben und dergestalt nicht in Übereinstimmung mit dem durch den Willen zur Macht prädisponierten Wesen des Menschen zu handeln. Um die Naivität aufzuheben, müsste demnach allein der in der Geschichte der Moral vorherrschende Glaube an das eigenmächtige Hervortreten der Werte höchster Dignität negiert werden. Davon ausgehend, statuiert Heidegger stillschweigend eine unüberbrückbare Dissonanz. Für Heidegger ist es gerade jenes waltende Hervorgehenlassen des Seienden, das Eingehen in die eröffnete Lichtung, das jenseits einer menschlichen Einflussnahme¹⁶²⁷ angesiedelt ist. Diese aneignende Einflussnahme legitimiert Nietzsche in Heideggers Auslegung, ja er fordert sie unmissverständlich ein. Obwohl der an Heidegger gerichtete Vorwurf einer zuspitzenden und tendenziösen Interpretationsmaxime hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit Nr. 12 B durchaus berechtigt erscheint, darf nicht verschwiegen werden, dass ein für ihn entscheidendes Zitat die selbstbewusste Aufhellung, Fortführung und herrschaftliche Inbesitznahme des anthropologischen Ursprungs der Werte im Geiste der Religionskritik Feuerbachs untermauert. Heidegger zitiert das folgende Stück aus dem Jahre 1888, das er zu den „klarsten und in ihrer Art schönsten“¹⁶²⁸ Aufzeichnungen Nietzsches zählt: All die Schönheit und Erhabenheit, die wir den wirklichen und eingebildeten Dingen geliehen haben, will ich zurückfordern als Eigentum und Erzeugnis des Menschen: als seine schönste Apologie. Der Mensch als Dichter, als Denker, als Gott, als Liebe, als Macht – : oh über seine königliche Freigebigkeit, mit der er die Dinge beschenkt hat, um sich zu verarmen und sich elend zu fühlen! Das war bisher seine größte Selbstlosigkeit, daß er bewunderte

am Anthropozentrismus jedoch nicht stehen. So heißt es am Ende des Aphorismus Nr. 346: „Sind wir nicht eben damit dem Argwohn eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren – um deren willen wir vielleicht zu leben aushielten –, und einer anderen Welt, die wir selber sind –…der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte: ‚entweder schafft eure Verehrungen ab oder – euch selbst!‘ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das Erstere – der Nihilismus? – Dies ist unser Fragezeichen.“ Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 346, S. 581.  Vgl. Heidegger, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, S. 81: „Das Licht kann nämlich in die Lichtung, in ihr Offenes, einfallen und in ihr die Helle mit dem Dunkel spielen lassen. Aber niemals schafft das Licht erst die Lichtung, sondern jenes, das Licht, setzt diese, die Lichtung voraus. […] Die Lichtung ist das Offene für alles An-und-Abwesende.“  Heidegger, N II, S. 110.

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und anbetete und sich zu verbergen wußte, daß er es war, der Das geschaffen hat, was er bewunderte.¹⁶²⁹

Die nach Heidegger mit dieser Rückforderung des „Eigentums“ koinzidierende „unbedingte Machtvollstreckung“¹⁶³⁰ besiegelt den Übergang des „guten“, idealorientierten Menschen in die Gestalt des Übermenschen. Der Übermensch streicht das „Über“ der Transzendenz durch, um es als Vehikel des nunmehr ziellosen, sich permanent übertreffen müssenden und nach tauglichen Mitteln suchenden Selbstwollens beizubehalten. Der Übermensch wird von Heidegger nicht mehr an das amor fati und an das sich selbst überwindende Für-wahr-halten der ewigen Wiederkehr geknüpft. 1940 wird der Übermensch als Synthese der anerkannten Pleonexie des Willens mit dem nun sowohl rückwärts als auch vorwärts blickenden Bewusstsein der Wertkonfiguration etabliert. Den Kulminationspunkt der ab 1940 zunehmend kritischen Stellungnahme zu Nietzsche bildet die Angleichung von Willen zur Macht und Wertsetzung. Nach Heidegger vollzieht sich in Nietzsches Philosophie eine fundamentale Relevanzerweiterung der Werte, die ursprünglich der ökonomischen Sphäre entstammen und auf eine quantitative Vergleichbarkeit verweisen. Nunmehr werden die Werte zum Entschlüsselungsbegriff der tradierten metaphysischen Prinzipienordnung und zum Fundament der menschlichen Erfahrungsweise aufgerichtet. Diese Hypostasierung findet einen philosophischen Widerhall in dem von Windelband und Rickert vertretenen Neukantianismus.¹⁶³¹ Heidegger führt die Genese des Wertgedankens hingegen auf das Agathon, das Tauglichmachende der Idee des Guten zurück.¹⁶³² In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass Heidegger – bei

 Heidegger, N II, S. 108. Vgl. Nietzsche, NF-1887,11[87]. Eine bemerkenswert ähnliche Urfassung dieser Aufzeichnung findet sich bereits im Nachlass des Jahres 1881. Vgl. Nietzsche, NF1881,12[34]. Karl Löwith setzt Heideggers Priorisierung des Wertdenkens bei Nietzsche (auch im Rekurs auf die hier besprochene Aufzeichnung) das Schöpferische, Ungewisse und Mittägliche entgegen:Vgl. Löwith, Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1953, S. 103 – 108.  Heidegger, N II, S. 110.  Heidegger, N II, S. 85.  Dass Heideggers zunächst befremdlich anmutende Interpretation der Idee des Guten als Vorstufe des Nietzscheschen Wertdenkens sowie als erstes Aufscheinen des korrespondenztheoretischen Wahrheitswandels durchaus einen gewissen Grad an Plausibilität beanspruchen kann, lässt sich im Rekurs auf Hans Krämers Deutung der Idee des Guten hervorheben. In der Akzentuierung des Wertaspekts der Idee des Guten orientiert sich Krämer nicht an Heideggers Auseinandersetzung mit Platon. Dass Krämer in seiner Profilierung der werthaften und einheitsstiftenden Funktion der Idee des Guten gänzlich von Heideggers Platon-Deutung unabhängig ist, bezeugt sich vornehmlich anhand der Zugehörigkeit Krämers zur Tübinger Schule. Entsprechend überrascht es nicht, dass Krämer die Idee des Guten im weiteren Fortgang im Rückgriff auf

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allem Vorbehalt gegen die Wertphilosophie – im Gegensatz zu Carl Schmitt nicht einfach eine menschengemachte „Tyrannei der Werte“¹⁶³³ beklagt, in der sich eine Immunisierung desjenigen bekunde, der einer persönlichen, internalisierten oder übergreifend-konventionellen Wertung Geltung verschaffe. Stattdessen konkretisiert Heidegger mit Nietzsche die Bedeutung der Werte im Rahmen einer Ermittlung ihres Hauptreferenzpunktes. Dabei gerät der erste Satz der Aufzeichnung Nr. 14 von Der Wille zur Macht in den Fokus: Die Werte und deren Veränderung stehen im Verhältnis zu dem Macht-Wachstum des Wertsetzenden. ¹⁶³⁴

Das erste Arkanum dieses Abschnittes exemplifiziert sich in der Disposition des Wertsetzenden. Die konstitutive Bezogenheit der Wertveränderung auf das MachtWachstum kann allein durch die beständige Erhaltung der Wachstumsmöglichkeit garantiert werden. Weil diese aber ausschließlich und stets durch den Willen zur Macht angetrieben wird, grundiert dieser die Präferenzen des wertsetzenden

Platons ‚ungeschriebene Lehre‘ interpretiert. Vgl. Hans Krämer, Die Idee des Guten. Sonnen- und Liniengleichnis (Buch VI 504a–511e), in: Otfried Höffe (Hrsg.), Platon. Politeia, Reihe Klassiker auslegen, Bd. 7, 3. Aufl., Berlin 2011, S. 135– 153, hier S. 142 f.: „Für das richtige Verständnis des Guten ist es nun vorentscheidend, daß bereits die werthafte Funktion des Guten Hinweise auf seine nähere Qualifikation gibt. Die Philosophen des Idealstaats sind gehalten zu wissen, inwiefern das Gerechte und Richtige gut ist, dann werde der Staat geordnet (506a9) und einheitlich sein, eine Formel, die – auch in der Anwendung auf die Seele des einzelnen – vom IV. bis zum IX. Buch immer wiederkehrt. Das Gute wirkt demzufolge als Grund und Ursprung von Einheitlichkeit ebenso wie von Ordnung (= Einheit in der Vielheit). Man kann also bis zu einem gewissen Grade schon aus dem Gedankengang der Staatsschrift erschließen, daß das zurückgehaltene Wesen des Guten die Einheit selbst ist. Vom Text her bleibt dies zwar eine bloße Mutmaßung, die jedoch durch die Einbeziehung der indirekten Überlieferung ihren hypothetischen Status weitgehend verliert. Dem Befund der Politeia entspricht nämlich in der Ungeschriebenen Lehre (‚Über das Gute‘) die Bestimmung des Guten als Einheit und darüber hinaus die damit verbundene Wert- und Tugendlehre, der zufolge das Eine-Gute überall Ordnung und Beständigkeit, etwa als Gerechtigkeit und Besonnenheit, bewirkt. Trifft diese Wesensbestimmung des Guten schon in werthaftem Aspekt zu, so erst recht in seins- und erkenntnistheoretischer Hinsicht. Die Ideen sind in der Politeia (wie in den Nachbardialogen) in ausgezeichnetem Maße ‚eingestaltige‘ und einzigartige Einheiten (z. B. 476a, 478b, 479a, rekapituliert im Sonnengleichnis 507b6 f.). Platon deutet außerdem an (im Wortspiel 478b10 ff.), daß alles Seiende entweder ‚Eins oder Keins‘ ist, d. h., was nicht Nichts ist, muß Eines, nämlich ein Einheitliches sein. Platon rechnet offenbar mit verschiedenen Seinsgraden: die Ideen sind einheitlicher und einzigartiger als die Dinge, aber nicht so einheitlich wie die reine Einheit selbst.“  Vgl. Carl Schmitt, Die Tyrannei der Werte, 3. Aufl., Berlin 2011.  Heidegger, N II, S. 87. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 14, S. 16.

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Subjekts. Dieses kann durchaus als ein in einem spezifischen Zeitalter dominierendes Kollektiv erscheinen: Der Satz bedeutet demnach: Die Werte und deren Veränderung, also die Wertsetzung – sei es als Entwertung oder die Umwertung oder die Neusetzung der Werte – bestimmen sich jedesmal aus der jeweiligen Art des Willens zur Macht, der seinerseits den Wertsetzenden, d. h. den Menschen, in der Art seines Menschseins bestimmt. Die Werte entstammen der Wertsetzung, diese entspricht dem Willen zur Macht.¹⁶³⁵

Es bleiben allerdings zwei Fragen offen: Zum einen ist zu klären, wie und woran das Macht-Wachstum skaliert werden kann. Zum anderen setzt die Anmerkung Nr. 14 bei der Relationsangabe der Werte im bereits konstituierten Zustand an. Daher ist zu ergründen, welche Auswahlrichtlinien bei der Hervorbringung der Werte zentral sind. Die maßgebende Aufzeichnung für die Erörterung dieser Problematik repräsentiert Nr. 715 aus Der Wille zur Macht. In Bezug auf die Untersuchung der Wertthematik kommt ihr in Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche eine ähnliche Schlüsselrolle zu wie Nr. 617 für den Zusammenhang zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr: Der Gesichtspunkt des ‚Werts‘ ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens.¹⁶³⁶

Zwei Aspekte müssen in Heideggers Behandlung dieses Abschnittes besonders beachtet werden: Erstens ist sie durch eine Schwerpunktsetzung auf die Visualisierung und Quantifizierung gekennzeichnet. Aufgrund dieses Fokus wird das in der zweifachen Erwähnung des Wortes „Gesichtspunkt“ anklingende Assoziationsfeld des Sehens in einen Bezug zum Perspektivismus gerückt. Zweitens identifiziert Heidegger den Willen zur Macht deutlicher als je zuvor mit dem am Ende des Satzes angeführten Werden. In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass die erste Nennung des Wortes „Gesichtspunkt“ nicht allein als einleitende Definitionseröffnung fungieren muss. Die erste Thematisierung des ‚Gesichtspunktes‘ könnte auch die Art und Weise umgrenzen, unter der die Werte einer philosophischen Betrachtung überhaupt zugänglich werden. Der Gesichtspunkt in der zweiten Exposition wird mit dem Kriterium der in ihn eingegangenen und von ihm ermöglichten Hinblicknahme synthetisiert. Diese rückt für Heidegger in den Vordergrund. Daraus resultiert der Anspruch, die Bedeutung der Komplexität

 Heidegger, N II, S. 87.  Heidegger, N II, S. 87. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 715, S. 482.

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der Gebilde und der Relativität ihrer Aufrechterhaltung zu erschließen und die Scharnierposition der „Hinsicht“ zu erläutern. Bereits an der Semantik des Begriffes „Gesichtspunkt“ kann illustriert werden, dass er ein für und von einem Sehen gesetzter Punkt ist. Diese eingängig wirkende Definition birgt in sich einen intrikaten Doppelsinn. Zum einen konstituiert der Gesichtspunkt das Richtmaß, die Begrenzung und den Widerstand, durch den das Sehen eingehegt und als zielgerichtetes ermöglicht wird. Zum anderen ist der Gesichtspunkt aber auch als Resultat einer vorgängigen Aussicht zu beurteilen. Dieses Resultat wird von einer darüber hinaus zielenden Gesamtsicht hervorgebracht und in sie eingezogen. Die Extension des Sehens wird daher nicht durch die Gesichtspunkte selbst zugestellt und beschränkt. Sie erwächst erst durch den selbsteinschränkenden Impetus eines Absehens auf…, das Heidegger auf die Intentionalität des Rechnens verpflichtet: Dieses Absehen auf etwas ist ein Rechnen auf solches, das mit anderem rechnen muß. Wir bringen deshalb auch ‚Wert‘ sogleich in bezug zu einem Wieviel und Soviel, zu Quantum und Zahl. Werte sind daher (n. 710) auf eine ‚Zahl-und Maß-Skala‘ bezogen.¹⁶³⁷

Die Werte werden von der Spontaneität des aktiv „punktierenden“¹⁶³⁸ Sehens gesetzt, was ein weiteres Rechnen mit ihnen erlaubt. Darauf aufbauend, kann Heidegger die Nietzsche zugeschriebene Kritik der passiv hingenommenen Vorhandenheitssuggestion scheinbar an sich seiender Werte in die Trias von Sehen, Setzung und Absehen auf… einbetten: Als Gesichtspunkt ist der Wert je vom Sehen gesetzt; durch die Setzung wird er für das Absehen auf etwas erst zu einem in die Sehbahn dieses Absehens auf etwas gehörigen ‚Punkt‘.¹⁶³⁹

Ob diese Dreiheit als Sukzessionsfolge betrachtet werden kann, ist allerdings fraglich. Heidegger ist nämlich durchaus bereit, die Wirksamkeit des rechnerischen Absehens bereits in die erste Sichtausweitung einzutragen. Dies zeigt sich besonders in dem folgenden Zitat, in dem Heidegger sogar die Empfängnis der Wertgeltung aus dem Absehen auf etwas entspringen lässt:

 Heidegger, N II, S. 88.Vgl. Heidegger, N II, S. 111: „Jede Auslegung der Welt, sei sie naiv oder aus Berechnung vollzogen, ist ein Setzen von Werten und damit ein Bilden und Gestalten der Welt nach dem Bilde des Menschen.“  Heidegger, N II, S. 88.  Heidegger, N II, S. 88.

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Das Geltende gilt nicht, weil es ein Wert an sich ist, sondern der Wert ist Wert, weil er gilt. Er gilt, weil er als geltend gesetzt wird. Er ist so gesetzt durch ein Absehen auf etwas, was durch dieses Absehen erst den Charakter von solchem empfängt, womit gerechnet werden soll und was deshalb gilt.¹⁶⁴⁰

Heidegger engt die Setzung der Werte eindeutig auf das Rechnen ein. Er belässt das rechnende Absehen nicht in der Position eines nach der Wertkonstitution aufkeimenden, gewissermaßen aposteriorischen Einordnungsrasters. Heidegger formt das Rechnen zur Ausgangsstelle der Wertermittlung um. Die Berechnung erhält eine materiale Füllung und einen Richtungssinn durch die in sich verflochtenen „Erhaltungs,-Steigerungsbedingungen“, die den Konfigurationsreichtum des Rechnens von vornherein limitieren. Die Wertgewinnung ist durch ein in sich zwiespältiges, verwickeltes Rechnen auf…und ein Rechnen mit… charakterisiert. Das Rechnen rechnet auf die Bedingungen, d. h. es hinterlegt und sichert im Vertrauen auf sie die eigene Zuverlässigkeit. Zugleich verrechnet es alles Begegnende auf sie hin, d. h. es liest dessen Wert an ihnen ab.¹⁶⁴¹ Weil diese Einschätzung ein Wissen um die Beförderung der Erhaltung (und, im Sinne der Macht-Steigerung, um die Erhaltung der Beförderung) und die Kontinuität der Steigerung (und, im Sinne der Macht-Erhaltung, um die Steigerung der Kontinuität) impliziert, rechnet es zwecks einer permanenten Integration der durch diese Duplizität bedingten Macht in den jeweiligen Geltungsraum mit Hilfe der Bedingungen. Die Macht rechnet im Sinne der Voraussicht damit, dass sie jede andersartige Welthaltung intervenierend durchbrechen. Die Macht, deren Wesen der Wille ist, entpuppt sich als auf den Erfolg der im Rechnen präsenten Bedingungen angewiesen und ist demzufolge etwas Bedingtes:  Heidegger, N II, S. 88. Vgl. zur Frage nach der Geltung, der Konstitution und der Referenz der Werte besonders: Andreas Urs Sommer, Werte. Warum man sie braucht, auch wenn es sie nicht gibt, Stuttgart 2016. Andreas Urs Sommer argumentiert schlüssig gegen die Imagination „absoluter“ Werte, indem er diese Annahme als contradictio in adjecto sichtbar macht und die relationale Bedingtheit der Wertbildung prononciert. Vgl. Sommer, Werte, S. 73 – 74: „Etwas ist ein Wert im Vergleich zu anderen Werten. Ein ‚absoluter Wert‘, der sich mit anderen Werten nicht vergleichen lässt, wäre ein Ding, mit dem (wie überhaupt mit Absolutem) ein Mensch nichts anzufangen wüsste. Er könnte diesen ‚absoluten Wert‘ nicht operationalisieren, weder zu seinen nicht-absoluten Handlungen, seinem nicht-absoluten Leben noch zu nicht-absoluten Werten irgendwie in Beziehung setzen. Ein ‚absoluter Wert‘ aus der Welt des Unbedingten wäre ein ‚UnDing‘, das Menschen nichts angeht, weil Absolutheit in einer Welt des Bedingten nichts gilt und nichts ausrichtet. Werte bewähren sich im Vergleich zu anderen Werten. Sie stehen zu ihnen in Beziehung – selbst dann, wenn die Beziehung die der gegenseitigen Ausschließung ist.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 89.

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Die Macht ist das ‚Etwas‘, gleichsam das ‚Ding‘, worauf es ankommt, das Ding, dessen Erhaltung und Steigerung unter Bedingungen stehen.¹⁶⁴²

Da es ohne sie allerdings keinerlei Notwendigkeit und Berechtigung für derlei Kategorien gäbe, fungiert sie andererseits als Akteurin. Daraus erwächst die Paradoxie, dass sie das bedingte Unbedingte ist. Der Anschein ihrer Unabhängigkeit und Aseität wird durch die Abhängigkeit von selektiven Exklusionsmechanismen¹⁶⁴³ und ausgeblendeten Differenzen¹⁶⁴⁴ gesichert. In genauer Entsprechung zu Nietzsche verortet Heidegger den Raum für den Entwurf und die Verfestigung der Gesichtspunkte „innerhalb des Werdens“.¹⁶⁴⁵ Heidegger fasst das Werden als „abgegriffenen und leeren Titel“.¹⁶⁴⁶ An dessen Stelle trete in Nietzsches Denken der Wille zur Macht. Dieser scheint sich als Name für die Allheit des Wirklichen von der berechnenden Macht zu dissoziieren, durch die etwas den Charakter des Wirklichen allererst erhält. In einer unangekündigten Wendung dementiert Heidegger die Substanzialisierung der Macht. Er identifiziert die Macht wieder mit dem Willen, wenn er schreibt: „Doch was die Werte bedingen, ist der Wille zur Macht“.¹⁶⁴⁷ Die mit dem Wertdenken konvergierende Totalisierung und Verarmung wird darin ostensibel, dass jegliches Bedingte gar nicht mehr anders denn als Wert klassifiziert werden kann. Als das einzige Unbedingte wird nur noch die jeglicher Fremdbewertung entzogene Quelle anerkannt, die jenes Bedingte gebiert. Aufgrund der Entgegensetzung Unbedingtes-Bedingtes, die – wie unschwer zu erkennen ist – die ontologische Fundamentaldifferenz imitiert und unter dem Gesichtspunkt des Wertes fortführt, wird die Trennschärfe der Wertniveaus verwischt. Die Werte sind sowohl die Bedingungen als auch das in diesen Gesetzte, Maß und Manifestation einer vorhergehenden Wertung. Es ist dem Willen zur Macht nur auf der Basis der Erhaltungs-,Steigerungsbedingungen, die das erste Wertniveau konturieren, gestattet, auf das aus ihnen hervorgehende zweite Wertniveau zu blicken, das die vielfältigen lebensweltli Heidegger, N II, S. 89.  Dieses Motiv der Kontrollgewinnung hat Michel Foucault in seiner Analyse der Macht herausgearbeitet. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 1994.  Vgl. Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, 2. Aufl., Wien 1999, S. 37: „Nach den Forderungen einer klassischen Begrifflichkeit würde man sagen, daß différance die konstituierende, produzierende und originäre Kausalität bezeichnet, den Prozeß von Spaltung und Teilung, dessen konstituierte Produkte oder Wirkungen die Verschiedenheiten oder Differenzen wären.“  Heidegger, N II, S. 93. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 715, S. 482.  Heidegger, N II, S. 89.  Heidegger, N II, S. 89.

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chen Erscheinungsformen der Werte abdeckt. Die Verknüpfung dieser beiden Ebenen wird durch Sichtbahnen gewährleistet, die nichts anderes sind als die Perspektiven. Die Werte zweiter Ordnung werden von Nietzsche folgerichtig als „Resultate bestimmter Perspektiven“¹⁶⁴⁸ markiert.Weil der Wille zur Macht jedoch alles Seiende umfasst, sind ihm die Perspektiven und das aus ihnen Entsprungene nichts Äußerliches. Betrachtet man Heideggers gewandelte Einschätzung des Perspektivischen, eingespannt zwischen Kant und Nietzsche, wird deutlich, dass die reinen Verstandesbegriffe vollständig auf das Rechnen eingeschworen werden. Der sich in jedem Lebewesen manifestierende Wille zur Macht verfügt dessen perspektivische, bipolar strukturierte, d. h. auf (Selbst‐)Erhaltung und (Selbst‐)Steigerung absehende Wahrnehmung: Alle diese Werte sind als Werte bestimmte Blickpunkte bestimmter Sehbahnen eines bestimmten Willens zur Macht.¹⁶⁴⁹

Der spezifizierende Genitiv „eines bestimmten Willens“ erweckt den Eindruck, Heidegger unterstelle eine Vielheit mehrerer Willen zur Macht, die sich in der Mannigfaltigkeit der Blickpunkte äußert.¹⁶⁵⁰ Dies scheint sich zu bestätigen, wenn er die Parallele zu Leibniz erneut aufwirft, obgleich er den Verfasser der Monadologie aus dem Wertdenken heraushält.¹⁶⁵¹ Um demgegenüber die Auffassung des holistischen Charakters des Willens zur Macht zu untermauern, greift Heidegger auf die Gewichtung von perceptio und appetitus zurück. Er charakterisiert deren Einheit weiterhin als „vorstellenden Drang“.¹⁶⁵² Dieser Drang motiviert jedes einzelne Lebewesen dazu, in sich das Ganze des Seienden, das Universum aufscheinen zu lassen und sich zur Herbeiführung dieser Vorstellung eines „point de vue“¹⁶⁵³ zu bedienen. Diese Überlegung wendet Heidegger auf Nietzsche an. So  Heidegger, N II, S. 90. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 12, S. 16.  Heidegger, N II, S. 90.  Bezeichnenderweise bringt Nietzsche eine solche Deutungsmöglichkeit einer allein aus ihren Abspaltungen bestehenden, desorganisierten Willenspluralität gerade am Ende der für Heidegger zentralen Aufzeichnung Nr. 715 von Der Wille zur Macht zum Ausdruck: Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 715, S. 483: „ – es gibt keinen Willen: es gibt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren.“ Zur Thematik einer Vielheit der Willen vgl. Werner Stegmaier, Friedrich Nietzsche zur Einführung, S. 168 – 170; Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen und die ewige Wiederkehr, S. 82– 85.  Vgl. Heidegger, N II, S. 91: „Aber Leibniz denkt diese Gesichtspunkte noch nicht als Werte. Das Wertdenken ist noch nicht so wesentlich und nachdrücklich, daß die Werte als Gesichtspunkte von Perspektiven gedacht werden könnten.“  Heidegger, N II, S. 91.  Heidegger, N II, S. 91. Vgl. Leibniz, Monadologie, §57, S. 135: „Und wie dieselbe Stadt von unterschiedlichen Seiten betrachtet als eine andere erscheint und wie perspektivisch vervielfäl-

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kann er postulieren, dass jegliches Seiende in seinen Repräsentationen unausweichlich die Performativität des einen Willens zur Macht vollstreckt. Die perspektivischen Gestaltungsweisen sind gezwungen, zur Beherrschung des Chaos die grundsätzliche Struktur des Willens nachzubilden. Daher kann sogar das folgende Nietzsche-Zitat Heideggers Willensdeutung validieren, obgleich es die „komplexe Einheit seines Wesens“¹⁶⁵⁴ durch einen vitalen Konstruktivismus aufzusprengen scheint. In der Klammer ergänzt Heidegger seine wesensbezogene Auslegung des Perspektivismus: Der Perspektivismus (die perspektivische Verfassung des Seienden) ist es, vermöge dessen jedes Kraftzentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt konstruiert, d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet.¹⁶⁵⁵

Vergleichend zieht Heidegger eine thematisch verwandte Notiz Nietzsches herbei: Wollte man heraus aus der Welt der Perspektiven, so ginge man zu Grunde.¹⁶⁵⁶

Dieses Zitat unterstreicht aus Heideggers Sicht nicht die unweigerliche Vielfalt unverbundener Ganzheitsvorstellungen- und Konstruktionen. Indem der Wille die Perspektiven kontinuierlich auf die Macht zurückbezieht, drückt er sich als Einheitsgrund der Perspektiven in ihnen aus. Folglich ergibt sich die Relativität der Perspektiven nicht aus der Divergenz gegenüber dem Absoluten oder aus einer naturgegebenen, begrenzten Dauer der Wirksamkeit. Die Machtbedingungen übertragen die Verflochtenheit des komplexen Willens, der in sich beständig und unbeständig, aktiv überwindend und das Überwindende festhaltend, unbegrenzte und beschränkende Tätigkeit ist, auf das ebenfalls perspektivisch verfasste Seiende. Deshalb spricht Nietzsche nach Heidegger auch von der „Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer“.¹⁶⁵⁷ Die doppelte Natur der Werte ragt abermals heraus, wenn Nietzsche sie im weiteren Fortgang der Aufzeichnung Nr. 715 als „Gesichtspunkt[e] für das Zunehmen oder Abnehmen dieser herrschaftlichen Zentren“¹⁶⁵⁸ begreift. Nietzsche zeichnet die Werte sowohl als Ga-

tigt ist, so geschieht es auch durch die unendliche Vielheit der einfachen Substanzen, daß es ebenso viele unterschiedliche Universen gibt, die gleichwohl nur die Perspektiven eines einzigen sind, je nach den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade.“  Heidegger, N II, S. 91.  Heidegger, N II, S. 91. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 636, S. 430.  Heidegger, N II, S. 91. Vgl. Nietzsche, KGW VII, 2, 27 [41], S. 285.  Heidegger, N II, S. 92. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 715, S. 482.  Heidegger, N II, S. 92. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 715, S. 483.

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

487

ranten der machtproportionalen Verhältnismäßigkeit als auch als Erkenntnismittel quantitativer Differenzen aus. Die Bedingungen werden zu Mittelbegriffen, die jedes Stadium der Wertsetzung übergreifen. Auf den Willen zurückbezogen, fungieren sie erstens als Leitbahnen, die dessen Perpetuierung gewährleisten („sie sind, was sie sind, nämlich Bedingungen, nur als bedingende und so vom Willen zur Macht selbst gesetzte Ermöglichungen seiner selbst“.¹⁶⁵⁹). Zweitens halten sie die Aussicht auf hervorzubringende und wachsende Herrschaftsgebilde offen. Drittens besiegeln sie deren Auflösung, wenn unter Zuhilfenahme ihrer Skala die Abnahme eines herrschaftlichen Zentrums aufleuchtet („so geben sie ein Maß für die Abschätzung des Machtquantums eines Herrschaftsgebildes und für die Richtung seiner Zu-und Abnahme“.¹⁶⁶⁰). Viertens gehen sie in die lebensweltlichen Formationen ein, die Nietzsche ebenfalls als Werte bestimmt („Die Herrschaftsgebilde sind Gestalten des Willens zur Macht“.¹⁶⁶¹). Erst auf dieser Ebene entspricht die Semantik des Wertes dem Alltagsgebrauch des Wortes. Heidegger führt an dieser Stelle Wissenschaft, Kunst, Staat, Religion und Kultur an.¹⁶⁶² Während Nietzsches philosophische Hauptklassifikation des Wertbegriffs als „Gesichtspunkt von Erhaltungs-,Steigerungsbedingungen“ durchaus abstrakt anmutet, erscheint die Frage nach dem Wert der Kultur und nach dem Wert des Staates, wie auch die nach dem Nutzen der Philosophie und der Kultur, sehr vertraut und geläufig. Die von Heidegger konstatierte Kopplung des Wertes an die Kategorie der Quantität bezeugt sich in der Unausweichlichkeit eines Mitbedenkens des jeweiligen Nutzens eines Wertgebildes. Der verschachtelte Charakter der Bedingungen objektiviert sich in einer deszendierenden Proliferation, die sich zu einem myzelartigen Geflecht ausweitet. Den als Werten verstandenen Herrschaftsgebilden inhärieren untergliederte Bereichseinteilungen und Bedeutungseinheiten, die ihre Statuserhaltung bedingen und garantieren.¹⁶⁶³ Wenn die

 Heidegger, N II, S. 92.  Heidegger, N II, S. 92.  Heidegger, N II, S. 92.  Vgl. Heidegger, N II, S. 93.  Diese im Wesen der Werte angelegte, durchaus fruchtbringende und befreiende Vervielfältigungstendenz zeigt Andreas Urs Sommer in differenzierten Überlegungen auf. Vgl. Sommer, Werte, S. 31– 45, bes. S. 31– 32: „Das große Versprechen, die große Suggestion von Werten ist zweitens ihre Vielfalt. Werte kommen in der Mehrzahl vor. Daran ändern auch manche verzweifelten Bemühungen um einen Wert-Monismus und Wert-Monotheismus, einen Monovalorismus etwa derjenigen nichts, die alle Werte unter einem Überwert namens Wohl subsummieren wollen: Die Gegenwart wird nicht beherrscht vom Glauben an einen einzigen Wert, sondern von Werten im Plural oder wenigstens vom Reden über Werte im Plural. Aber wie viele Werte gibt es?“

488

1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Inständigkeit in einer bedingten und selbst nach vorgegebenen Grundbedingungen richtenden Perspektive niemals abzustreifen ist, diese aber wie alle anderen Perspektiven in das Ganze gehört, entzieht sich die Welt einem beurteilenden Zugriff: Der Gesamtwert der Welt ist unabwertbar, folglich gehört der philosophische Pessimismus unter die komischen Dinge.¹⁶⁶⁴

Für das als allumfassendes Sein begriffene Werden kann kein äußerer Maßstab aufgewiesen werden. Die Welt im Ganzen weist jegliche objektive Bewertbarkeit von sich ab und ist in diesem Sinne wert-los: „Die werdende Welt ist als Wille zur Macht das Un-bedingte“.¹⁶⁶⁵ Die Möglichkeit einer Bewertung eröffnet sich allein innerhalb des Werdens, d. h. in den segmentierten, relativen, transitorischen Ausschnitten. Auf diese Weise untermalt Heidegger die durchaus im Einklang mit Nietzsche artikulierte These, dass die Unmöglichkeit einer Universalbewertung der Welt nur deswegen konstatiert werden kann, weil das ihr inhärierende Werden nun mit dem unentwegten Hervorgehenlassen miteinander ringender Machtquanten zu identifizieren ist. Diese agieren allesamt unter der Herrschaftsform des Wertgesichtspunktes. Für Heideggers Kritik ist es ein entscheidender und fruchtbringender Ansatzpunkt, dass die vermeintliche Befreiung der Welt von einer moralisch-philosophischen Missbilligung durch einen differenzierten Holismus des Axiologischen teuer erkauft ist. Nur die längst als Fiktion entlarvte, monistische Ganzheit und Einheit der Welt könnte von der Verflechtungsdynamik der Werte dispensiert werden. Nietzsches scheinbar unwiderlegliche Überwindung des Pessimismus, mit der eine Abfederung der tragischen Grundeinsicht und eine Abschwächung der mit dem Wertgedanken kaum kompatiblen Wiederkunftslehre¹⁶⁶⁶ einherginge, beruht nach Heidegger auf der weltimmanenten Allausdehnung der Werte. In der Leugnung eines privilegierten internen oder externen Standpunktes unterläuft die intramundane Wertuniversalisierung die Möglichkeit der Kritik. Jegliche Kritik wird als Folge einer Wertschätzung etiket-

 Heidegger, N II, S. 93.Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 708, S. 480.Vgl. Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [71– 72], S. 277.  Heidegger, N II, S. 93.  Vgl. Nietzsche NF Sommer 1886–Herbst 1887, 5 [71], Lenzer Heide, Nr. 5, KSA 13, S. 213: „Daß dies ‚Umsonst!‘ der Charakter unseres gegenwärtigen Nihilismus ist, bleibt nachzuweisen. Das Mißtrauen gegen unsere früheren Wertschätzungen steigert sich bis zu der Frage: ‚sind nicht alle ‚Werthe‘ Lockmittel, mit denen die Komödie sich in die Länge zieht, aber durchaus nicht einer Lösung näher kommt?‘ Die Dauer, mit einem ‚Umsonst‘, ohne Ziel und Zweck, ist der lähmendste Gedanke, namentlich noch wenn man begreift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht [ist], sich nicht foppen zu lassen.“

1.9 Der europäische Nihilismus (1940)

489

tiert oder als Individualansicht einer einzigen Perspektive unter vielen relativiert. Vor diesem Hintergrund legt Heidegger zu Beginn des Abschnitts Die Subjektivität in Nietzsches Deutung der Geschichte dar: Die Herrschaft des Wertgedankens unterstellt zugleich, ohne weitere Erörterung und Begründung, als selbstverständlich, daß nun auch, wenngleich unausgesprochen, alle bisherige Metaphysik, die geschichtlich der Metaphysik des Willens zur Macht voraufgeht, eine solche des Willens zur Macht gewesen sei. Nietzsche begreift die gesamte abendländische Philosophie als ein Denken in Werten und ein Rechnen mit Werten, als Werte-setzend. Das Sein, die Seiendheit des Seienden wird als Wille zur Macht ausgelegt. Unversehens und für jedermann einleuchtend, erscheint in allen Schriften und Aufzeichnungen Nietzsches die Geschichte der Metaphysik im Lichte des Wertgedankens.¹⁶⁶⁷

Indem Nietzsche die Perspektiven als inneres Auge des Willens zur Macht exponiert, entspringt jeder Akt der Ablehnung der quantitierenden Bewertungslogik zwangsläufig einer partikularen, eingegrenzten Bewertung. Jede Distanzierung vom Wertdenken resultiert demnach selbst aus einer bestimmten ErhaltungsSteigerungsbedingung des Willens zur Macht. Um die Weiträumigkeit, ja Ubiquität der Werte zu veranschaulichen, wählt Heidegger die Aufzeichnung Nr. 713: Wert ist das höchste Quantum Macht, das der Mensch sich einzuverleiben vermag – der Mensch, nicht die Menschheit.¹⁶⁶⁸

Analog zur Vervielfältigung der Perspektiven werden Verallgemeinerungen wie „die Menschheit“ abgelehnt. Das Individuum interagiert indes unausweichlich mit Werten, sobald es mit dem Phänomen der Macht konfrontiert ist – und diese Konfrontation geschieht immer und überall. In der resümierenden Überschau über Heideggers Überlegungen zum Wertgedanken lässt sich sagen, dass Heidegger die Werte ihrer kulturkritischen Funktion bei Nietzsche weitgehend entkleidet. Heidegger begreift die Werte vornehmlich als Vollzugsform der Macht. In diesem Zusammenhang hält er zwar einerseits an der facettenreichen, doppelseitigen Komplexität des Willens zur Macht fest. Andererseits etabliert er diese Polarität immer stärker als in alle Perspektiven ausstrahlende, anonym-zwiefältige Struktur. Da der Wille zur Macht 1940 als perspektivische Instanz der Wertberechnung persistiert, wird er nicht mehr vital oder affektiv verstanden. In einem letzten Schritt dechiffriert Heidegger den Willen zur Macht als nur scheinbar souveräne Unbedingtheit. Zur Statuserhaltung benötigt der unbedingte Wille eine immer wieder neu beginnende

 Heidegger, N II, S. 95.  Heidegger, N II, S. 94. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 713, S. 482.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Wertsetzung, um sich in dieser selbst zu bedingen. Aus diesem Grund ist es nur konsequent, dass Heidegger den Willen zur Macht mit der Wertsetzung vereinigt: Wille zur Macht und Wert-setzung sind dasselbe, sofern der Wille zur Macht auf Blickpunkte der Erhaltung und Steigerung ausblickt. Daher läßt sich die Wertsetzung nicht als etwas vom Willen zur Macht Verschiedenes auf diesen zurückführen.¹⁶⁶⁹

Auch wenn diese Angleichung eine Zuspitzung und Verengung des labyrinthischen Charakters des Willens zur Macht zu evozieren scheint, handelt es sich nicht um eine willkürliche Behauptung. In Nietzsches Nachlass lässt sich eine Aufzeichnung finden, die als Pendant zu Heideggers Identifikation und als zusammenfassender Sinngehalt der Vorlesung Der Europäische Nihilismus betrachtet werden kann: …daß man das Etwas-thun, das Ziel, die Absicht, den Zweck wieder in das Tun zurücknimmt, nachdem man ihn künstlich aus ihm herausgezogen und damit das Thun entleert hat; daß alle ‚Zwecke‘, ‚Ziele‘, ‚Sinne‘ nur Ausdrucksweisen und Metamorphosen des Einen Willens sind, der allem Geschehen inhäriert, der Wille zur Macht … Alle Wertschätzungen sind nur Folgen und engere Perspektiven im Dienste dieses Einen Willens: Das Wertschätzen selbst ist nur dieser Wille zur Macht.¹⁶⁷⁰

1.10 Der Wille und die Zeit: Die ewige Wiederkehr als „vergeistigte Form der Rache“ an der Vergänglichkeit in Heideggers Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) 1.10.1 Zur Einordnung des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? in das Gefüge der Heideggerschen Auseinandersetzung mit Nietzsche In dem 1953 verfassten Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? ¹⁶⁷¹ richtet Heidegger den Fokus auf das adäquate Verständnis der Figur des Zarathustra und auf den Zusammenhang der Lehren der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen. Dementsprechend konzentriert sich Heidegger nahezu ausschließlich auf das Werk Also sprach Zarathustra. Der Aufsatz ist als Abschluss eines Denkweges und

 Heidegger, N II, S. 94.  Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [96], S. 286.  Vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, S. 99 – 127.

1.10 Der Wille und die Zeit

491

als „verhaltenes Ende“¹⁶⁷² von generellem Interesse, insofern er die letzte Publikation darstellt, die Heidegger explizit Nietzsche widmet. Darüber hinaus verdient der Aufsatz eine ausführliche, detailgenaue Würdigung, wenn man sich die vorhergehenden, zentralen Deutungsstufen des Verhältnisses zwischen dem Gedanken des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr vergegenwärtigt. Im Rahmen der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst wurde die ewige Wiederkehr als Wesen des Seins gegenüber dem Willen zur Macht als Grundcharakter des Seienden privilegiert. 1937 (in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen) bildeten beide Lehren gemeinsam die zwei Elemente von Verfassung und Seinsweise innerhalb des Seins des Seienden. Zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis 1939 wurde dieses symmetrische Gefüge zugunsten des Willens zur Macht gesprengt, der als „erster, d. h. der dem Range nach höchster Gedanke der Nietzscheschen und damit der abendländischen Metaphysik überhaupt“¹⁶⁷³ etabliert wurde und die ewige Wiederkehr in sich einschloss. Diese Linie setzte sich in der nicht gehaltenen Vorlesung Nietzsches Metaphysik (1941/ 42) fort, in welcher die ewige Wiederkehr von Seiten des Willens zur Macht als bestandsicherndes Hindernis und als notwendiger Widerstand entworfen wurde. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) wurde hingegen – noch über den 1937 verfochtenen Paritätsansatz hinausgehend – die Selbigkeit beider Lehren in der Funktion einer „Beständigung des Werdens“¹⁶⁷⁴, in der Gehaltsüberschneidung der neuzeitvollendenden (Wille zur Macht) beziehungsweise endgeschichtlichen (ewige Wiederkehr) Ausrichtung, sowie in der gemeinsam ausagierten Deformation der anfänglichen Erfahrung der Physis betont.¹⁶⁷⁵ In dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? scheint die Klärung des Zusammenhanges von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr prima facie gänzlich zurückzutreten, indem sie durch die Beziehung zwischen dem Übermenschen und dem „abgründlichen Gedanken“¹⁶⁷⁶ verdrängt wird. Die hier auszuführende und zu belegende, zunächst kontrafaktisch wirkende These lautet, dass Heidegger zum Abschluss seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche im Jahre 1953 trotz des vermeintlichen Verschwindens des Titels des Willens zur Macht in der zweiten Hälfte des Aufsatzes implizit dessen Präeminenz über die ewige Wiederkehr des Gleichen vollendet. Es soll gezeigt werden, dass er sich dabei zum einen an dem Erschaffungsszenario aus der Vorlesung Nietzsches

    

Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 222. Heidegger, N I, S. 443. Heidegger, N II, S. 7. Vgl. Heidegger, N II, S. 10 – 11. Vgl. hierzu das Kapitel 1.8 dieser Arbeit. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 270.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Metaphysik orientiert – das Leben erschafft sich den für es schwersten Gedanken.¹⁶⁷⁷ Zum anderen legt Heidegger die bereits 1936/37 inaugurierte, durch den Aphorismus Nr. 617 gestützte und in allen Phasen des Zwiegesprächs mit Nietzsche beibehaltene Lesart zugrunde, wonach das Werden in und mit Hilfe der ewigen Wiederkehr den Charakter des Seins (des Seienden) erhält. Darauf aufbauend, soll veranschaulicht werden, dass Heidegger 1953 im Unterschied zu seiner Nietzsche-Deutung der Jahre 1939 – 1946 (d. h. von der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis bis zu der Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus) nicht vorrangig innerhalb des Gesichtskreises der Seinsgeschichte argumentiert. Mit der Verteidigung der Vergänglichkeit und der menschlichen Endlichkeit vor der metaphysischen Protektion rekurriert er ostentativ auf angestammte Themenkomplexe und ruft jene prominenten Motive auf, die spätestens seit Sein und Zeit das konstante Gravitationszentrum seines gesamten Werkes bilden.

1.10.2 Zarathustra als Fürsprecher und Lehrer des Übermenschen und der ewigen Wiederkunft Um das vordergründige Erkenntnisziel des Aufsatzes zu erfüllen, das gemäß der titelgebenden Fragestellung in der Erfassung der Wesensgestalt Zarathustra liegt, bezieht sich Heidegger zuerst auf die einprägsame Selbstdeutung Zarathustras aus dem Abschnitt Der Genesende. In dieser bezeichnet sich Zarathustra als Fürsprecher des Lebens, des Leidens und des Kreises. ¹⁶⁷⁸ Heidegger unterstreicht mit Nachdruck, dass Zarathustra durch das Charakteristikum des Fürsprechers weder als Prediger noch als Volksredner identifiziert werden dürfe. Zarathustra trete als Rechtfertiger der Trias auf, für die er sich ausspreche und in der er seine Bestimmung finde; sein Wesen gewinne und somit der werde, der er ist.¹⁶⁷⁹ Leben, Leiden und Kreis sind in einer Einheit verbunden, in der das Leiden als unauslöschliche Bestimmung des Lebens exponiert wird. Die Leiden schaffenden Wirkkräfte des Lebens stoßen sich voneinander ab und kehren sich einander zu,

 Vgl. Heidegger, N II, S. 261: „Der Wille zur Macht selbst, der Grundcharakter des Seienden als solchen, und nicht ein ‚Herr Nietzsche‘ setzt diesen Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Die höchste Beständigung des Bestandlosen ist das größte Hindernis für das Werden. Durch dieses Hindernis bejaht der Wille zur Macht die innerste Notwendigkeit seines Wesens.“  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 271.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 101.

1.10 Der Wille und die Zeit

493

wobei sie sich in einer kreisförmigen Bewegung wiedererringen. Heidegger verdichtet diese Bestandstücke zu einer ersten Definition des Inhalts der Fürsprache: Wenn wir dieses Dreifache als Eines und das Selbe recht zu denken vermöchten, wären wir imstande zu ahnen, wessen Fürsprecher Zarathustra ist und wer er wohl selbst als dieser Fürsprecher sein möchte. Zwar könnten wir jetzt durch eine grobschlächtige Erklärung eingreifen und mit unbestreitbarer Richtigkeit sagen: ‚Leben‘ bedeutet in Nietzsches Sprache: der Wille zur Macht als der Grundzug alles Seienden, nicht nur des Menschen. Was ‚Leiden‘ bedeutet, sagt Nietzsche in folgenden Worten: ‚Alles, was leidet, will leben…‘ (XVI, 151), d. h. alles, was in der Weise des Willens zur Macht ist. Dies besagt: ‚Die gestaltenden Kräfte stoßen sich.‘ (XVI, 151). ‚Kreis‘ ist das Zeichen des Ringes, dessen Ringen in sich selbst zurückläuft und so immer das wiederkehrende Gleiche erringt. Demnach stellt sich Zarathustra als der Fürsprecher dessen vor, daß alles Seiende Wille zur Macht ist, der als schaffender, sich stoßender Wille leidet und so sich selber in der ewigen Wiederkehr des Gleichen will.¹⁶⁸⁰

Auffällig ist an diesem Passus nicht die naheliegende Entschlüsselung des Topos des Lebens als Wille zur Macht, die hermeneutisch unproblematische Engführung des „Kreises“ mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen und die durch einen Textnachweis untermauerte Hervorhebung des Leidens als Seinsmodus inmitten des willensförmigen Lebensganzen. Vielmehr ist im vergleichenden Hinblick auf das Grundgepräge der Auseinandersetzung mit Nietzsche bis 1946 signifikant und ungewöhnlich, dass Heidegger derlei eindeutige Kennzeichnungen skeptisch behandelt, indem er sie als „grobschlächtige Erklärung“ und als „schulmäßige“¹⁶⁸¹, d. h. einzuprägende und beliebig wiederholbare Definition von einem sachhaltigen und wendungsreichen Verstehensprozess abgrenzt. Diese erhöhte Vorsicht und Behutsamkeit spiegelt sich in der interpretatorischen Maxime wider, wonach ein vertieftes Begreifen des Lehrers Zarathustras und seiner Lehren nicht über die Zusammenstellung festgefügter Sätze mit metaphysischer Strahlkraft erfolgen könne. Stattdessen habe eine differenzierte Deutung die kontextuelle Bedingtheit, die Intention und Zarathustras Aussageweise (das „wie er es sagt“¹⁶⁸²) zu berücksichtigen. Nichtsdestotrotz ergänzt Heidegger zwei für den gesamten Fortgang seines Aufsatzes entscheidende, satzmäßige Wesensbestimmungen des Lehrers Zarathustra. So wird dieser in dem Stück Der Genesende von seinen Tieren wie folgt angesprochen:

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 102– 103.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 103.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 103.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Du (nämlich Zarathustra) bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft…!¹⁶⁸³

In der Vorrede tituliert sich Zarathustra hingegen demonstrativ selbst als Lehrer des Übermenschen: Ich (nämlich Zarathustra) lehre euch den Übermenschen. ¹⁶⁸⁴

Der Sachverhalt, dass es Zarathustras Tiere sind, die ihn als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“¹⁶⁸⁵ bezeichnen und auf diese Weise das Tremendum Zarathustras enthüllen, verlangt eine Verortung ihres Ranges sowie eine Auslotung ihrer Glaubwürdigkeit und der Tragweite ihres Einblickes in Zarathustras Seele. Heidegger deutet Zarathustras Zurückhaltung hinsichtlich einer Verkündigung der Lehre der ewigen Wiederkehr, die von seinen Tieren nicht nur auf ihren Lehrer bezogen, sondern als solche auch zuerst explizit geschildert wird¹⁶⁸⁶, keineswegs als Dokumentation einer Selbsteinklammerung dieses Gedankens durch Nietzsche selbst. Das langanhaltende Ringen und die zermürbenden Bedenken Zarathustras angesichts der vexatorischen Tragik einer ewigen Wiederkehr versinnbildlichen nach Heidegger Zarathustras Hineinwachsen in das ihm (und Nietzsche) geschichtlich Zugemessene und flankieren seinen Werdegang im Ganzen. Die ewige Wiederkehr des Gleichen manifestiert sich als die Zarathustra stets begleitende, vorausgreifende Aufgabe symbolhaft in der emporfliegenden Freundschaft zwischen dem in Kreisen schwingenden Adler und der um ihn geringelten Schlange.¹⁶⁸⁷ Daraus leitet Heidegger ab, dass die Äußerungen der Tiere in ihrer Wahrhaftigkeit hoch zu veranschlagen sind und ihnen in der Beurteilung von Zarathustras Gemütsverfassung Vertrauen zu schenken ist. In diesem Sinne legt Heidegger die Nachlassaufzeichnung aus der Zarathustra-Zeit (1883) „Wenn es meine Tiere sind, so werden sie mich zu finden wissen“¹⁶⁸⁸ als Bekenntnis Zarathustras aus, dass jene Worte, die die Tiere über ihn verlauten lassen, als Wesenseinsichten verstanden werden können. Sie wissen, wer Zarathustra werden muss, weil sich in ihrem Anblick, in dem Bündnis des stolzesten und des klügsten

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 103. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 275.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 103. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Zarathustra‘s Vorrede, KSA 4, S. 14.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 275.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 272 ff.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 103 f.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 104. Vgl. Nietzsche, NF-1883,18[57].

1.10 Der Wille und die Zeit

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Tieres bekundet, „was den fragend in die Höhe blickenden Zarathustra angeht“.¹⁶⁸⁹ Die entsprechende Bezugsstelle aus Also sprach Zarathustra lautet: …als die Sonne im Mittag stand: da blickte er (Zarathustra) fragend in die Höhe – denn er hörte über sich den scharfen Ruf eines Vogels. Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt. Es sind meine Tiere! sagte Zarathustra und freute sich von Herzen. Das stolzeste Tier unter der Sonne und das klügste Tier unter der Sonne – sie sind ausgezogen auf Kundschaft. Erkunden wollen sie, ob Zarathustra noch lebe. Wahrlich, lebe ich noch?¹⁶⁹⁰

Um die eingangs erwähnte These zu erhärten, dass Heidegger das Verhältnis zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr implizit noch 1953 austariert, eignet sich Heideggers durchaus subtile Auslegung der vermeintlich rein existenziell-selbstbezüglichen Frage Zarathustras „Wahrlich, lebe ich noch?“ Im Rekurs auf die Gleichsetzung des Lebens mit dem Willen zur Macht interpretiert Heidegger Zarathustras Selbstbefragung als überprüfende Reflexion, ob sein individueller Wille noch dem übergreifenden, das Seiende im Ganzen durchdringenden Willen zur Macht entspreche.¹⁶⁹¹ Schon hier zeichnet sich ein entscheidender Grundpfeiler der Nietzsche-Deutung von 1953 ab: Zarathustra wird nur dann „leben“, d. h. seinen Willen in den Gesamtwillen hineinnehmen können, wenn es ihm gelingt, die ewige Wiederkehr des Gleichen zu lehren. Dies ist sein „Schicksal“, wie die Tiere in der von Heidegger weiter zitierten Stelle aus Der Genesende hervorheben: Denn deine Tiere wissen es wohl, o Zarathustra, wer du bist und werden mußt: siehe, du bist der Lehrer der ewigen Wiederkunft –, das ist nun dein Schicksal!¹⁶⁹²

Der Begriff des Schicksals ist doppeldeutig: In der Rede der Tiere kann das Schicksal das Schwergewicht einer prospektiven, monumentalen und individuell auszufüllenden, wesensverändernden Berufung bezeichnen. Dieser Herausforderung ist Zarathustra noch nicht gewachsen, weswegen er ihr auf verschiedenen Wegen auszuweichen sucht. Diese werkarchitektonisch aufschlussreiche Interpretationsoption wird auch von Heidegger vermerkt:

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 104.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 103 – 104. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Zarathustra‘s Vorrede, KSA 4, S. 27.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 104.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 104. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 275.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

So kommt es ans Licht: Zarathustra muß allererst derjenige werden, der er ist. Vor solchem Werden schreckt Zarathustra zurück. Der Schrecken zieht durch das ganze Werk, das ihn darstellt. Dieser Schrecken bestimmt den Stil, den zögernden und immer wieder verzögerten Gang des ganzen Werkes. Dieser Schrecken erstickt alle Selbstsicherheit und Anmaßung Zarathustras schon am Beginn seines Weges. Wer diesen Schrecken nicht aus allen oft anmaßend klingenden und oft nur rauschhaft sich gebärdenden Reden zuvor vernommen hat und stets vernimmt, wird nie wissen können, wer Zarathustra ist.¹⁶⁹³

Aus Heideggers Perspektive ist Nietzsche-Zarathustra ein Schicksal im seinsgeschichtlichen Sinne. Die mit dem Willen zur Macht im Einklang stehende Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen markiert die Vollendung der Metaphysik. Für die Gewichtung der beiden Hauptlehren Zarathustras – erstens der Übermensch und zweitens die ewige Wiederkehr des Gleichen – ist zunächst von Bedeutung, dass Zarathustra die erste selbstbewusst in Anspruch nimmt. Hingegen zögert er die Bekundung der letzteren hinaus, sodass ihn seine Tiere in ihrer symbolischen Vereinigungsform und in ihren Aussagen immer wieder an die Unumgänglichkeit der Exposition erinnern müssen. Wichtig ist auch, dass die Lehre des Übermenschen bereits in der Vorrede genannt wird. Die Lehre der ewigen Wiederkehr kommt erst im dritten Teil zum Vorschein und bildet dort den Gipfelpunkt des Werkes.¹⁶⁹⁴ Wenn der Zusammenhang beider Lehren Berücksichtigung finden soll, bedeutet dies: Der Übermensch ist die von Anfang an in ihren Konturen bekannte, in ihrer Notwendigkeit erkannte und deswegen von Zarathustra früh als Ziel beschworene Figuration des künftigen Menschen. Die Frage, wie (d. h. durch welche Seinsweise) der Übermensch er selbst werden kann, ist jedoch nur zu beantworten, wenn sich jene Lehre herauskristallisiert, die ihm die uneingeschränkte Freiheit verleiht und alle Hemmnisfaktoren abbaut. Wie bereits in dieser Textphase unschwer zu sehen ist, wird Heidegger darauf dringen, diese Lehre als ewige Wiederkehr des Gleichen zu erweisen. Anders ausgedrückt: Obwohl sich Zarathustra selbst als Lehrer des Übermenschen tituliert, wird er diese Funktion nur erfüllen können, sofern das Seiende in der kreisenden Wiederkehr bewahrt wird.

1.10.3 Heideggers späte Wesensbestimmung des Übermenschen Durch die Skizzierung der Wesenszüge des Übermenschen sucht Heidegger einem Fehlverständnis dieses Begriffs vorzubeugen. In diesem Zuge wird transparent,

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 104– 105.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 270 – 277.

1.10 Der Wille und die Zeit

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dass Heidegger die Drastik seiner 1939 in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht vorgetragenen Klassifikation des Übermenschen als „äußerste rationalitas in der Ermächtigung der animalitas, […] das animal rationale, das sich in der brutalitas vollendet“¹⁶⁹⁵, merklich abfedert, obschon er die Grundmerkmale seiner Deutung beibehält. 1939 hatte er den Übermenschen noch mit der Nietzscheschen Negativvision des letzten Menschen und dem Typus des Arbeiters ¹⁶⁹⁶ im Jüngerschen Sinne identifiziert. Heidegger hatte in diesem Kontext betont, dass der Übermensch als höchste Verkörperung des Willens zur Macht die vor-stellende Schematisierung des auf die Bestandsicherung verpflichteten Seienden vollzieht. 1953 vertritt Heidegger eine wörtliche und bemerkenswert nüchterne Begriffsauslegung, die den transitorischen Zug des „Über“ in das Blickfeld rückt. Anders als in der Seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus eignet dem Übermenschen weder ein „unbedingter Gewaltvollzug“¹⁶⁹⁷ noch darf der Übermensch als Menschenart begriffen werden, die eine zum Gesetz ausgeformte „nackte Willkür“¹⁶⁹⁸ oder eine „titanische Raserei“¹⁶⁹⁹ betreibt. Neben diesen martialisch-irrationalen Konnotationen des Ungezügelten, die an Kallikles’ Schilderungen des Löwenmenschen¹⁷⁰⁰ gemahnen, verdankt sich auch die Auslegung des Übermenschen als eines „überdimensionalen bisherigen Menschen“¹⁷⁰¹ (d. h. eines inkommensurablen Machtsubjekts) einer durch Nietzsches pathetisch-antiintellektualistische Übersteigerungen selbst beförderten Heroisierung dieses Terminus. Zweifelsohne neigt Heidegger der gegenwendigen, durch Ernst Jünger maßgeblich befeuerten Interpretationslinie, wonach der Übermensch als perfektionierter Vertreter des Geistes rationaler Planung zu benennen ist, beginnend mit dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) bis hin zum Aufsatz Überwindung der Metaphysik (1936 – 1946) eher zu als dem biologistischen oder hyperindividualistischen Deutungsstrang. Nichtsdestotrotz lehnt er es 1953 ab, den Übermenschen in den personalen Funktionsträgern eines „vordergründigen und mißdeuteten Willens zur Macht“¹⁷⁰² repräsentiert zu sehen. Stattdessen hebt Heidegger hervor, dass der

       

Heidegger, N II, S. 16. Vgl. Heidegger, N II, S. 19. Heidegger, N II, S. 356. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105. Vgl. Platon, Gorgias 484a-484b. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 106.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Übermensch schlichtweg derjenige Mensch (im allgemeinen, nicht im individuellen Sinne) ist, „der über den bisherigen Menschen hinausgeht“.¹⁷⁰³ Für den weiteren Argumentationsfortgang ist von eminenter Wichtigkeit, dass Heidegger in seiner neuen Konzeption des Übermenschen das bekannte, schon 1939 etablierte Charakteristikum der endgültigen Fest-Stellung des durch die Metaphysik geprägten Wesens des Menschen mit der nun profilierten Bewegtheit des Überganges subtil zusammenführt. Nach Heidegger überwindet der Übermensch den bisherigen Menschen gerade deshalb mitnehmend-absorbierend, um ihn in das präfigurierte, noch nicht erreichte Telos hineinzuwenden.¹⁷⁰⁴ Um diese in der Gestalt des Übermenschen kulminierende Verschleifung zwischen der aufhebend-konservierenden Abrundung der bisherigen Errungenschaften, Gedanken und Wesenseigenschaften der Menschheit, dem transzendierenden Übergang und dem Fortgang in das Ziel einer Fest-Stellung zu veranschaulichen, greift Heidegger auf eine Nachlassnotiz zu Also sprach Zarathustra zurück: Zarathustra will keine Vergangenheit der Menschheit verlieren, Alles in den Guß werfen.¹⁷⁰⁵

Wenngleich sich diese Integration des Kollektivsubjekts der Menschheit in den Horizont einer zeitlichen Gesamtsicht prima facie auf die ontische Ebene der hiesigen Welt zu beziehen scheint und (in der Gestalt der monumentalischen als auch der antiquarischen Historie) auf das versammelnde Andenken herausragender Ereignisse und Figuren abzielt, so birgt das von Heidegger ausgewählte Zitat einen tieferen Sinn. Ist es doch die von Zarathustra gelehrte Lehre der ewigen Wiederkehr, in der sichergestellt ist, dass „keine Vergangenheit der Menschheit“ verloren geht und der künftige Mensch sich aus dem Fundament des Bewahrten herausschälen kann. An dieser Weggabelung eröffnen sich zwei Fragerichtungen: Zum einen ist das Telos näher zu umreißen, in das der Übermensch den bisherigen Menschen einfügt. Zum anderen ist es behufs einer abgrenzenden Erörterung des Übermenschen unvermeidlich, die Verfasstheit des bisherigen Menschen ansatzweise zu thematisieren. Es ist zu ergründen, weswegen dieser der weltgeschichtlichen Situation nicht mehr zu entsprechen vermag. In Heideggers 1953 explizierter Bestimmung des Telos zeigt sich die grundlegende Kontinuität gegenüber der zwi-

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105: „Der Übermensch ist vielmehr, das Wort ganz wörtlich genommen, derjenige Mensch, der über den bisherigen Menschen hinausgeht, einzig um den bisherigen Menschen allererst in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin fest zu stellen.“ [Kursivsetzung von mir, J.K.].  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 105. Vgl. Nietzsche, NF-1883,15[6].

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schen 1939 und 1946 gegebenen Auslegung des Übermenschen. Der bisherige Mensch war – wie sich im Rückgang auf die Nietzsche-Vorlesungen der Jahre 1936 und 1937 sowie besonders unter Berücksichtigung der Nihilismus-Vorlesung von 1940 sagen lässt – durch das platonisch-christliche Paradigma geprägt und der Sicherheit extramundaner Ideale unterworfen. Nach dem Bedeutungsverlust und dem Niedergang dieser Autoritäten – deren Genese von Seiten Nietzsches auf psychologische Bedürfnisse der lebensdienlichen Wertsetzung zurückgeführt wird – wird die an den Menschen adressierte Aufgabe einer Übernahme der Erdherrschaft virulent und unabweislich. Um dieser Sachlage gewappnet zu sein, ist ein Über-sich-hinausgehen des Tradierten erforderlich. Also korrespondiert dem Untergang der zwei Welten unterscheidenden Metaphysik die Notwendigkeit einer Wesensveränderung des Menschen. Heideggers Kernthese lautet (ab 1939) bekanntlich, dass die Ausübung der Erdherrschaft sich nur von dieser bestimmten Ausgestaltung der Metaphysik (dem Vorrang des Übersinnlichen) befreit hat, ansonsten jedoch weiterhin unter einer forciert metaphysischen Signatur geschieht. Paradoxerweise kann der Mensch erst nach der Verbindlichkeitsnegation Gottes dem biblisch-alttestamentarischen Imperativ einer namensvergebenden Unterwerfung der Erde gehorchen, die er sich „untertan“¹⁷⁰⁶ zu machen hat. Diese geschichtliche Wende signalisiert nach Heidegger eine Krisis. Deren Heraufkunft habe Nietzsche mitsamt der ihr innewohnenden Deszendenzgefahr als erster Denker und als Seismograph des Geschichtsganges erfahren. In der Beurteilung der Philosophie Nietzsches im Allgemeinen und der Lehren des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen bleibt Heidegger der Auffassung treu, dass Nietzsche gerade im Hinblick auf diese beiden Gedanken (die sich für eine solche Auslegung ja durchaus eignen) keineswegs als Schöpfer diffuser Visionen oder als sich selbst missverstehender Prophet begriffen werden dürfe. Nietzsche antizipiert nach Heidegger die irreversible Beschaffenheit des Zeitalters. Damit begründe Nietzsche die Art des sowohl erkennenden wie handelnden, theoretischen wie praktischen Bezuges des (zum Übermenschen avancierten) Menschenwesens zu dem in einer spezifischen Seinsweise (die sich in der technischen Neuzeit als ewige Wiederkehr enthüllen wird) habitualisierten Seienden: Eines freilich sollten wir bald merken: dieses Denken, das auf die Gestalt eines Lehrers zudenkt, der den Über-menschen lehrt, geht uns, geht Europa, geht die ganze Erde an, nicht nur heute noch, sondern erst morgen. Das ist so, ganz unabhängig davon, ob wir dieses Denken bejahen oder bekämpfen, ob man es übergeht oder in falschen Tönen nachmacht. Jedes wesentliche Denken geht unantastbar durch alle Anhängerschaft und Gegnerschaft

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 106.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

hindurch. So gilt es denn, daß wir erst lernen, von dem Lehrer zu lernen, und sei es auch nur dies, über ihn hinauszufragen. Nur so erfahren wir eines Tages, wer Nietzsches Zarathustra ist, oder wir erfahren es nie. Zu bedenken bleibt allerdings, ob das Hinausfragen über Nietzsches Denken eine Fortsetzung desselben sein kann oder ein Schritt zurück werden muß. Zu bedenken bleibt vordem, ob dieses ‚Zurück‘ nur eine historisch feststellbare Vergangenheit meint, die man erneuern möchte (z. B. die Welt Goethes), oder ob das ‚Zurück‘ in ein Gewesen weist, dessen Anfang immer noch auf ein Andenken wartet, um ein Beginn zu werden, den die Frühe aufgehen läßt.¹⁷⁰⁷

Die von Heidegger nicht weiter vertiefte Alternative zwischen der hinausfragenden Fortsetzung und dem in sich noch einmal verzweigten Schritt zurück verdient eine gesonderte Beachtung. In gewissem Sinne kann der Topos der „Fortsetzung“ zum einen in Heideggers Radikalisierung der in Nietzsches Metaphysik entdeckten Tendenzen und in der Zuspitzung auf fünf Grundworte gesehen werden. Dadurch wird die Metaphysik Nietzsches von Seiten Heideggers zur prinzipiellen Basis der künftigen, lebensweltlichen Erscheinungen aufgebaut. In dieser Formation sind die Gestalten der Wahrheit, des Menschen, der Seiendheit, der dominierenden Zeiterfahrung und die jenes Quartett stützende, geschichtstheoretische Selbstrechtfertigung (d. h. die Legitimation, die notwendige und einzige Antwort auf die Bedrohung des Nihilismus zu sein) zusammengefügt. Zum anderen bekundet sich die „Fortsetzung“ in Heideggers über Nietzsche hinausgehender Konzeption des Willens zum Willen. Die konkrete Manifestation dieser ‚Fortsetzung‘ lässt sich in Heideggers ostentativer Stiftung eines Bezuges zwischen dem Zusammenhang von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr auf der einen Seite und der modernen Technik auf der anderen Seite aufsuchen. In beiden Varianten der Fortsetzung verabsolutiert Heidegger die Grundgedanken Nietzsches und führt ihr Gefüge an eine Grenze, an der selbst die Möglichkeit eines anderen Anfangs verschüttet zu werden scheint. Dennoch müssen sich die Fortsetzung und der Schritt zurück nicht ausschließen.Vielmehr gehen sie in Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche als einander bedingende Deutungsprinzipien (zumindest ab 1939) Hand in Hand. So wird auch im Schritt zurück auf das seinsgeschichtliche Narrativ und die Einordnung des Nietzscheschen Denkens in dieses zurückgegriffen. Durch die in der Fortsetzung erreichte Sichtbarmachung der sich in Nietzsches Metaphysik ankündigenden, veränderungslosen Selbstperpetuierung der Lebendigkeit des Lebens und durch die Fixierung als letztes Wort der Metaphysik wird es zum ersten Mal möglich, aus dieser Geschichte herauszutreten. In einem Schritt zurück kann die Metaphysik zunächst in

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 106.

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ihrer Gesamtheit in den Blick genommen und daraufhin bezüglich der Entwicklung ihres anfänglichen Versprechens hinterfragt werden. Wenn es Zarathustra ist, der das Gepräge des künftigen Weltgeschehens in seinen Lehren bedenkt, wird die Frage virulent, wie er sich zum Übermenschen einerseits und zu Nietzsche andererseits verhält. Zarathustra – so unterstreicht Heidegger mit Nachdruck – ist weder selbst der Übermensch (d. h. derjenige, der den bisherigen Menschen überschreitet) noch kann er als Sprachrohr Nietzsches identifiziert werden.¹⁷⁰⁸ Wie der delphische Gott bei Heraklit gibt Zarathustra „Winke“¹⁷⁰⁹, indem er in die Wesensschau des Übermenschen vorauszeigt und diesem eine „sichtbare Gestalt“¹⁷¹⁰ verleiht. Genauso wie Heidegger hinsichtlich des Verhältnisses von Übermensch und Zarathustra die naheliegende Hierarchie umkehrt – der Übermensch ist nicht der souverän kontrollierte Entwurf Zarathustras, sondern jene aus der Zukunft herkommende Gestalt, die Zarathustras Denken herausfordert – verfährt er auch in der Konstellation Nietzsche – Zarathustra. Die Autorintention wird entsubjektiviert: Als Deuter des Künftigen ist Zarathustra eine in der Geschichte der Metaphysik unumgängliche und unabhängige Schicksalsinkarnation. Demzufolge muss sich Nietzsche als letzter Denker der Metaphysik um das Verständnis dieser Figur bemühen. Nietzsche erscheint hier nicht als apodiktischer Visionär. Heidegger inszeniert Nietzsche als „Fragenden“¹⁷¹¹, der den Versuch unternimmt, das „Wesen Zarathustras zu erdenken“¹⁷¹², um von dort zum Übermenschen vorstoßen zu können.

1.10.4 Die Bedeutung des Überganges und die Versammlung von „Einst“ und „Ehemals“ im „Heute“ In der Folge ist augenfällig, dass Heidegger Termini einführt und mit eigenständigen Erläuterungen versieht, die er daraufhin im Rekurs auf Zitate und Kapitelüberschriften aus Also sprach Zarathustra einholt und sie in ihrer vorgeprägten Bedeutung im Argumentationsgang verankert. Vier aufeinander verweisende, bei Nietzsche zentrale Begriffe bilden das Grundgerüst des Aufsatzes Wer ist Nietz-

 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.  Vgl. das Heraklit-Fragment DK 22 B 93, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 258 : „ὁ ἄναξ, οὗ τὸ μαντεῖόν ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς, οὔτε λέγει οὔτε κρύπτει ἀλλὰ σημαίνει.“ Mansfeld und Primavesi übersetzen das berühmte Fragment in der folgenden Weise: „Der Fürst, dem das Orakel von Delphi gehört, erklärt nicht, verbirgt nicht, sondern deutet an.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sches Zarathustra? und werden sukzessive entfaltet: die Brücke, die Sehnsucht, die Hoffnung und die Rache. Die Brücke entspricht offenkundig dem Topos des Überganges, durch und in dem der Übermensch über den bisherigen Menschen hinausgeht. Der Übergang wird von Heidegger in drei Elemente differenziert: 1. Das, von wo der Hinübergehende weggeht. 2. Den Übergang selbst. 3. Das, wohin der Übergehende hinübergeht.¹⁷¹³

In der Diskussion der Zielrichtung des Überganges – des „Wohin“¹⁷¹⁴ – legt Heidegger den Grundstein für die Verbindung der Lehre des Übermenschen mit der Lehre der ewigen Wiederkunft Simultan erschließt er die Beziehung zwischen den drei Leitbegriffen Brücke, Sehnsucht und Hoffnung. Um das Kriterium der Sehnsucht zu etablieren, hebt Heidegger hervor, dass das Wohin die lenkende Richtmarke und den stets im Auge zu behaltenden Vorblicksbereich für den Hinübergehenden und den weisenden Lehrer bezeichnet. Solange der Übergang dauert, „bleibt das Wohin stets in einer Ferne“.¹⁷¹⁵ Weil der Lehrer sich dieses in der Ferne beharrenden Wohin jedoch in der Steuerung des Überganges permanent gewiss sein muss, ergibt sich eine vereinigende Dialektik, in der das Ferne zugleich in die Nähe gerückt wird. Die nicht gegen die Ferne vorgehende, sondern sie als solche würdigende und sie dergestalt in den Horizont der nahegebrachten Wesensachtung freigebende, austragende Bewahrung wird von Heidegger – ähnlich wie in der Hölderlin-Vorlesung aus dem Wintersemester 1934/35¹⁷¹⁶ – als Sehnsucht beschrieben: Die andenkende Nähe zum Fernen ist das, was unsere Sprache die Sehnsucht nennt. Irrigerweise bringen wir die Sucht mit ‚suchen‘ und ‚getriebensein‘ zusammen. Aber das alte Wort ‚Sucht‘ (Gelbsucht, Schwindsucht) bedeutet: Krankheit, Leiden, Schmerz. Die Sehnsucht ist der Schmerz der Nähe des Fernen. Wohin der Hinübergehende geht, dem gehört seine Sehnsucht.¹⁷¹⁷

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.  Vgl. Heidegger, Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“, GA 39, hrsg. von Susanne Ziegler, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1999, S. 97: „Mithin steigert sich hier die Grundstimmung der heiligen Trauer zu ihrer innersten Überlegenheit. Die Trauer wird zu einem Wissen darum, daß das wahrhafte Ernstmachen mit den entflohenen Göttern als Entflohenen in sich gerade ein Ausharren bei den Göttern, nämlich ihrer Göttlichkeit als einer nicht mehr erfüllten, ist.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 107.

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Um zu erfahren, wie Nietzsche diese Sehnsucht charakterisiert – es ist bereits der Anlage und der Absicht des Heideggerschen Aufsatzes zu entnehmen, dass das Motiv der Sehnsucht in einen Zusammenhang mit dem Übermenschen und der ewigen Wiederkehr eingebettet werden wird – zieht Heidegger das Stück Von der großen Sehnsucht heran, das er als „Gipfelhöhe“¹⁷¹⁸ des Werkes Also sprach Zarathustra beurteilt. Dass Nietzsche in diesem Kapitel zu wesentlichen Einsichten gelangt, wird von Heidegger bereits auf der formalen Ebene validiert. Der Sachverhalt, dass Zarathustra in diesem Stück seine Seele anspricht, wird von Heidegger auf das Phänomen des Selbstgespräches mit der Seele bezogen, das Platon in Theaitetos 189e als Proprium der denkerischen Begutachtung des Geschauten markiert. Nach Heidegger wird die „Gipfelhöhe“ des Denkens von Zarathustra erreicht, indem er im Zwiegespräch mit seiner Seele den „abgründlichen Gedanken“¹⁷¹⁹ hervorruft. Heidegger rückt Zarathustras Worte zu Beginn des Stückes in den Vordergrund, in denen die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen in einem poetischen Bild beleuchtet wird: Oh meine Seele, ich lehrte dich ‚Heute‘ sagen wie ‚Einst‘ und ‚Ehemals‘ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen.¹⁷²⁰

„Heute“, „Einst“ und „Ehemals“ versinnbildlichen die drei Dimensionen der Zeit. Heideggers Deutung dieses Zitats wirft ein verständnisbeförderndes Licht auf die (ab) 1939 privilegierte Charakterisierung der ewigen Wiederkehr des Gleichen als „ständigste Beständigung des Werdens“¹⁷²¹ und indiziert zugleich eine Modifikation innerhalb der priorisierten Betrachtungsweise. 1953 analysiert Heidegger die Beständigung nicht allein in ihrem Bezugsverhältnis zu dem zur Verfassung der Wirklichkeit avancierenden, metaphysischen Titel des Werdens. Dessen Sinnrichtung nähert Heidegger an das zeitliche Vergehen an, das freilich ebenfalls als „Werden“ gefasst werden kann. Heideggers Kerneinwand, dass die Lehre der ewigen Wiederkehr die Präsenzzentrierung der Metaphysik nicht überwinde, wird in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? folglich nicht primär über die Befestigung der willenshaften Seiendheit plausibilisiert. Stattdessen begründet Heidegger diese Einrede nun in einer zeittheoretischen Vertiefung über den in der ewigen Wiederkehr vermeintlich beibehaltenen Kern der metaphysischen Ewigkeitsauslegung als nunc stans. In der Nietzsche-Vorlesung aus dem Sommerse-

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 108.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, KSA 4, S. 270.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 108. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, S. 278.  Heidegger, N II, S. 7.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

mester 1937 hatte Heidegger die ewige Wiederkehr in einer Weise ausgelegt, in der aus dem Hineinhandeln in den offenen Möglichkeitshorizont (durch die Hervorbringung dessen, was sein wird) das gewesene Gleiche seinerseits erst generiert wird. 1953 akzentuiert Heidegger im Rückbezug auf das obige Zitat, dass die Lehre der ewigen Wiederkehr jegliche Unterscheidung der drei Ekstasen der Zeit einebne: Das Heute aber ist wie das Vergangene und das Kommende. Alle drei Phasen der Zeit rücken zum Gleichen als das Gleiche zusammen, in ein ständiges Jetzt. Die Metaphysik nennt das stete Jetzt: die Ewigkeit. Auch Nietzsche denkt die drei Phasen der Zeit aus der Ewigkeit als stetem Jetzt. Aber die Stete beruht für ihn nicht in einem Stehen, sondern in einem Wiederkehren des Gleichen.¹⁷²²

Heideggers Überlegung ist durchaus konsequent: Wenn sich alles unendliche Male wiederholt hat, ist jedes Geschehnis nicht nur als ein vergangener Moment zugleich zukünftig. Es enthüllt sich bei vertiefter Betrachtung als weder zurückliegend noch ausstehend, da solche Angaben nur unter der Voraussetzung einer linearen Zeitauffassung sinnvoll sind. Dennoch wirkt es nicht gänzlich überzeugend, dass Heidegger Vergangenheit („Ehemals“) und Zukunft („Einst“) unter Zugrundelegung der ewigen Wiederkehr und trotz ihrer zyklischen Verfasstheit in einem ständigen Jetzt zusammenzieht. Zum einen deutet Heidegger das Gefüge von Heute, Einst und Ehemals vollkommen zugunsten eines Primats des Heute, der Gegenwart, aus. Hingegen möchte Nietzsche zumindest die begriffliche Eigenständigkeit der drei Dimensionen beibehalten, um gegenüber der konventionell-linearen Zeitauffassung gerade die Vergleichbarkeit der drei Sphären proponieren zu können und ihre Parität zu gewährleisten. Heidegger konzediert, dass Nietzsche die Ewigkeit nicht im Stehen, sondern im Wiederkehren des Gleichen erkennt. Nichtsdestotrotz wird die Essenz der Lehre durch die von Heidegger applizierte Bedeutung des „ständigen Jetzt“ mit einem veränderungsindifferenten, ausdehnungslosen Punkt assoziierbar. Im Kontrast dazu, sucht Nietzsche im Gedanken der ewigen Wiederkehr das vormals Unvereinbare – die Sukzession der Zeit und die Ewigkeit – zu versöhnen. Die Notwendigkeit der Vereinigung von Entwicklung und Selbigkeit bezeugt sich in der Immanenz des Lehrgehaltes darin, dass die Wiederholungen einzelner Ereignisse zeitlich versetzt zu den anderen, ebenfalls iterierenden Geschehnissen stattfinden müssen. Da ansonsten jedwede Bewegung verhindert würde, wäre auch die promulgierte Wiederkunft des Identischen als solche ausgeschlossen. In diesem Falle könnte allein eine veränderungslose Gleichzeitigkeit existieren.

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 108.

1.10 Der Wille und die Zeit

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Heideggers einseitige Zusammenziehung von Vergangenheit und Zukunft in der Stete der Präsenz wäre nur plausibel, wenn (auf der Grundlage der Lehre der ewigen Wiederkehr) erstens jeder der in der aktuellen Gegenwart versammelten Inhalte auch gleichzeitig mit allen anderen Ingredienzen eines beliebigen, vormals bestehenden oder weit zurückliegenden Gegenwärtigen wäre. Zweitens müssten dazu zwei wahllos herausgegriffene, in verschiedenen Schleifen der Wiederkehr verankerte Konstellationszusammenhänge in jedem Zeitpunkt ununterscheidbar zusammenfallen, was offensichtlich nicht der Fall sein kann. Dass es zu einer lückenlosen Verschleifung von Heute, Einst und Ehemals kommt, gilt allein für die Binnensphäre des einen Kombinationsnexus, der in einem bestimmten Augenblick waltet. Darüber hinaus kann Heideggers präsenzfokussierter Interpretation der Eingangszeilen des Stückes Von der großen Sehnsucht mit dem Hinweis auf zwei prominente Exempel widersprochen werden, in denen der (sich nach der Auflösung ihrer Unterscheidbarkeit ereignende) Zusammenfall der Zeitekstasen in den bisher als Vergangenheit beziehungsweise als Zukunft titulierten Zeitdimensionen arrangiert wird. Wie in dem Kapitel zu Heideggers Vorlesung des Sommersemesters 1937 gezeigt werden konnte, wählt Nietzsche in dem TorwegGleichnis diese Option, wenn er die Unendlichkeit der Zeit – und damit die bereits unendlich oft durchlaufene Erschöpfung möglicher Konstellationen – in der zurückweisenden Gasse der Vergangenheit manifestiert sieht.¹⁷²³ Umgekehrt ist es Schelling, der in der Fassung der Weltalter von 1811 postuliert, dass die Zeit als Ganze in der Zukunft enthalten sei.¹⁷²⁴

 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Rätsel, KSA 4, S. 200: „Siehe, sprach ich weiter, diesen Augenblick! Von diesem Thorwege Augenblick läuft eine lange ewige Gasse rückwärts: hinter uns liegt eine Ewigkeit. Muss nicht, was laufen kann von allen Dingen, schon einmal diese Gasse gelaufen sein? Muss nicht, was geschehn kann von allen Dingen, schon einmal geschehn, gethan, vorübergelaufen sein? Und wenn Alles schon dagewesen ist: was hältst du Zwerg von diesem Augenblick? Muss auch dieser Thorweg nicht schon – dagewesen sein?“  Vgl. Schelling, WA I, S. 149: „Jene Zeiteinheiten sind Perioden. Eine jede Periode stellt in sich die ganze Zeit dar; denn auch sie fängt immer wieder von einem Zustand größerer oder geringerer Ungeschiedenheit an, so daß sie beziehungsweise auf die letzten Zeiten der vorhergegangenen Periode zurückzugehen scheint, indeß sie im Ganzen wirklich fortgeschritten ist. Aber was ist denn nun das organisirende Princip dieser Perioden? Ohne Zweifel dasjenige, was die Zeit als Ganzes enthält. Die ganze Zeit aber ist die Zukunft. Also ist nur der Geist das organische Princip der Zeiten. Der Geist ist frey von der contrahirenden Kraft des Vaters und der expandirenden des Sohns.“ [von mir kursiv, J.K.]

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.10.5 Die Erlösung von der Rache und ihr Verhältnis zur Gerechtigkeit In gewisser Weise liefert Heidegger selbst ein Gegengewicht gegen die präsentische Verdünnung der Lehre auf ein ständiges Jetzt, wenn er die ewige Wiederkehr im unmittelbaren Anschluss als „unerschöpfliche Fülle des freudig schmerzlichen Lebens“¹⁷²⁵ beurteilt. Diese Einschätzung ragt aus dem im Jahre 1944 abgerissenen Deutungsverlauf heraus und scheint die positive Lesart des Jahres 1937 wieder aufzunehmen. Offensichtlich rehabilitiert Heidegger in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? die in der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen hervorstechenden Elemente des Chaotischen („unerschöpfliche Fülle“) sowie des Tragischen („freudig schmerzlichen Lebens“). Die Kultivierung und Wiederbelebung dieser in der ewigen Wiederkehr des Gleichen florierenden Unerschöpflichkeit des irdischen Lebens enthüllt sich als Hauptstreben der Sehnsucht. Dies untermalt Heidegger im Rückgriff auf Nietzsches Umschreibung der „großen Sehnsucht“ als „Sehnsucht der Über-Fülle“.¹⁷²⁶ Der Gegenstand beziehungsweise das versprochene Ziel der großen Sehnsucht schenkt dem sich Sehnenden während des Hinübergehens „Zuversicht“¹⁷²⁷ und spendet dadurch den „einzigen Trost“.¹⁷²⁸ Das Wort Trost besaß nach Heidegger ursprünglich die gleiche Bedeutung wie „Hoffnung“. Auf dieser Grundlage kann Heidegger den dritten Leitbegriff integrieren: „Die große Sehnsucht stimmt und bestimmt den von ihr beseelten Zarathustra in seine größte Hoffnung“.¹⁷²⁹ Die Sehnsucht Zarathustras sehnt neben dem erwartenden Ausgreifen auf die „Über-Fülle“ des Lebens die Ablösung des bisherigen Menschen und die Heraufkunft des Übermenschen herbei. Es ist der Übermensch, der als Träger der „größten Hoffnung“ reüssiert. An diesem Punkt keimt ein abgrenzender Klärungsbedarf auf. Es ist zu erhellen, wodurch der bisherige Mensch belastet wird – sodass ihm die Bejahung der sprudelnden Lebensvielfalt versagt ist – und durch welche Weise des Übergangs (d. h. auf welcher Brücke) die auf die Befreiung von dieser Last dringende Hoffnung realisiert werden kann. In einem für Heidegger entscheidenden Ausspruch aus dem Stück Von den Taranteln wird die „höchste Hoffnung“ nicht nur mit dem übergangsindizierenden Terminus der Brücke zusammengedacht. Vielmehr erhält die „Brücke“, die bislang als Binnenstadium

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 109.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 109. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, S. 279: „Deine Fülle blickt über brausende Meere hin und sucht und wartet; die Sehnsucht der Über-Fülle blickt aus deinem lächelnden Augen-Himmel!“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 109.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 109.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 109.

1.10 Der Wille und die Zeit

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und formales Bindeglied zwischen dem Menschen und dem Übermenschen fungierte, ihre erste inhaltliche Bestimmung. Mit diesem Zitat beginnt – nach der vorbereitenden Exposition der beiden Grundlehren Zarathustras und den damit verbundenen Leitbegriffen – die Auseinandersetzung mit dem zentralen Thema des Aufsatzes, das in der Markierung der sukzessiven Zeit als Grund und Bestätigung des Geistes der Rache liegt: Denn daß der Mensch erlöst werde von der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern.¹⁷³⁰

In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis hatte Heidegger versichert, dass Nietzsches Begriff des Lebens nicht im vulgären Sinne biologistisch verfasst

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 109.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von den Taranteln, KSA 4, S. 128. Sehr aufschlussreich ist die unmittelbare Antwort der Taranteln: „Aber anders wollen es freilich die Taranteln. ‚Das gerade heisse uns Gerechtigkeit, dass die Welt voll werde von den Unwettern unsrer Rache‘ – also reden sie mit einander. ‚Rache wollen wir üben und Beschimpfung an Allen, die uns nicht gleich sind‘ – so geloben sich die Taranteln.“ Demnach nehmen sie für sich in Anspruch, in der Ausübung der Rache Gerechtigkeit walten zu lassen. Wenngleich ihr Verhalten an die Erinnyen aus der Orestie des Aischylos erinnert, ist ihre Motivation eine gänzlich andere. Als „Prediger der Gleichheit“ (Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von den Taranteln, KSA 4, S. 130) attackieren sie all jene, die ein Pathos der Distanz kultivieren. Während die Dike des Heraklit in der Einebnung absoluter Setzungen die Vielfalt eines unaufhaltsamen Ringens gewährt, das die Fülle und die Entbehrung durchdringt, verteidigen die Taranteln die Aufrechterhaltung der Gleichheit als singuläre Perspektive. Diese Gleichheitsperspektive konstituiert sich durch den Ausschluss aller anderen Standpunkte. Weil im Willen zur Macht – bei aller scheinbaren Pluralität der Perspektiven – die privilegierte Aussicht auf die Machtsteigerung hinterlegt ist, erscheint die These vertretbar, dass Heideggers Einschätzung der Gerechtigkeit bei Nietzsche zwischen zwei Optionen schwankt. Einerseits rehabilitiert Heidegger Nietzsches Gedanken der Gerechtigkeit im Rückbezug auf Heraklit. Andererseits manövriert Heidegger die Gerechtigkeit in eine Strukturanalogie zu dem alle anderen Sichtweisen und Ansichten ausschließenden Einheitsvollzug, indem er sie im Gesichtskreis des Willens zur Macht unterbringt. Dass die Parallele zu Heraklit keine Imagination eines spekulativen Vergleiches ist, wird durch den Text selbst bezeugt. So lässt Nietzsche seine Figur Zarathustra am Ende des Kapitels Von den Taranteln auf einen verwitterten (Artemis‐)Tempel nahe der Höhle der Taranteln hinweisen und baut eine philosophisch eindeutige Heraklit-Reminiszenz ein, die sich auf seinen eigenen Gedanken des Willens zur Macht bezieht. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von den Taranteln, KSA 4, S. 130 – 131: „Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimniss alles Lebens wusste er gleich dem Weissesten! Dass Kampf und Ungleiches auch noch in der Schönheit sei und Krieg um Macht und Übermacht: das lehrt er uns hier im deutlichsten Gleichniss. Wie sich göttlich hier Gewölbe und Bogen brechen, im Ringkampfe: wie mit Licht und Schatten sie wider einander streben, die göttlich-Strebenden – Also sicher und schön lasst uns auch Feinde sein, meine Freunde! Göttlich wollen wir wider einander streben…“

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sei. Nietzsches Gebrauchsweise des Terminus „Leben“ müsse metaphysisch verstanden werden. Damit korrespondiert, dass Nietzsches Anbindung der Wahrheit an die Nützlichkeit nach Heidegger nicht voreilig auf das Theoriegebilde des Pragmatismus bezogen werden darf. Auch 1953 wird Nietzsche von Seiten Heideggers gegen einen weiteren, naheliegenden Assoziationsstrang verteidigt. Anerkennend entfaltet Heidegger, dass die in Aussicht gestellte Befreiung von der Ranküne dem (besonders nach dem Zweiten Weltkrieg und der Instrumentalisierung der Nietzscheschen Philosophie durch die Nationalsozialisten) verbreiteten Nietzsche-Bild als Apologet des expansiv-schrankenlosen Bellizismus diametral entgegenstehe. Im Gegensatz dazu, findet Nietzsches Absage an die Rache laut Heidegger ihre Entsprechung in dem Ideologeme, öffentliche Sanktionsakte und dogmatische Urteile verflüssigenden Freigeist: Wie seltsam und wie befremdlich für die gängige Meinung, die man sich über die Philosophie Nietzsches zurecht gemacht hat. Gilt Nietzsche nicht als der Antreiber zum Willen zur Macht, zu Gewaltpolitik und Krieg, zur Raserei der ‚blonden Bestie‘? Die Worte ‚daß der Mensch erlöst werde von der Rache‘ sind im Text sogar gesperrt gedruckt. Nietzsches Denken denkt auf die Erlösung vom Geist der Rache. Sein Denken möchte einem Geist dienen, der als Freiheit von der Rachsucht jeder bloßen Verbrüderung voraufgeht, aber auch allem Nurbestrafen-wollen, einem Geist, der vor aller Friedensbemühung und vor jedem Betreiben des Krieges liegt, außerhalb eines Geistes, der die Pax, den Frieden, durch Pakte begründen und sichern will. Der Raum dieser Freiheit von der Rache liegt in gleicher Weise außerhalb von Pazifismus und Gewaltpolitik und berechnender Neutralität. Er liegt ebenso außerhalb eines schwächlichen Gleitenlassens der Dinge und des Sichdrückens um das Opfer, wie außerhalb der blinden Zugriffe und des Handelns um jeden Preis. Dem Geist der Freiheit von der Rache gehört Nietzsches angebliche Freigeisterei.¹⁷³¹

Angesichts dieser emphatischen Schilderung der „Freiheit von der Rachsucht“ hätte es sich angeboten, den Verzicht auf die Rache und die Erlösung von ihrem Geist von Nietzsches Begriff der Gerechtigkeit her zu interpretieren. Diese Option wird von Heidegger in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? nicht gewählt. Die Affinität zwischen der von Heidegger attributreich charakterisierten Freiheit von der Rache und Nietzsches Entwurf der Gerechtigkeit zeigt sich exemplarisch in Heideggers Abgrenzung von einer strafenden Restitution des vorherigen Zustandes. Die frappierende Nähe schält sich auch in Heideggers Distanzierung der Erlösung von der Rache gegenüber einer bloßen Neutralisierung von Gegensätzen heraus. Der Eindruck einer Wesensverwandtschaft beider Konzeptionen verstärkt sich, wenn Heidegger die wahre Befreiung von einer strategischen Vereinbarung des Friedens unterscheidet, der nicht durch eine wahrhaft empfundene Freund-

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 110.

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schaft gestützt wird und deshalb durch Verträge besiegelt werden soll. Auch in Heideggers kategorischer Abstandnahme von einer gewaltsamen Angriffspolitik spiegelt sich das Korrespondenzverhältnis wider. Des Weiteren sind es die Abhebungen des Racheverzichts von einer ausweichenden Duldung („schwächliches Gleitenlassen der Dinge) oder eines besinnungslos-selbstzweckhaften Dezisionismus („Handelns um jeden Preis“), die auf die bedenkenswerte Ähnlichkeit zwischen der Heideggerschen Interpretation der Freiheit von der Rache und der von Nietzsche profilierten Gerechtigkeit indizieren. Heideggers in distinguierender Absicht vorgebrachte Wendung „schwächliches Gleitenlassen der Dinge“, ist offenkundig an Nietzsches Formulierung eines „Geltenlassens des einmal nicht Wegzuläugnenden“¹⁷³² angelehnt. Nietzsche verwendet diese Charakterisierung in der II. Unzeitgemäßen Betrachtung, um die sich den Schein wissenschaftlicher Objektivität gebende, allein zur unverbindlichen Toleranz imstande seiende Verschattungsform von der vollgültigen, wahren Gerechtigkeit zu unterscheiden. Auch das von Heidegger exponierte Begriffsgepräge des „Handelns um jeden Preis“ kennt ein Pendant in Nietzsches Katalogisierung der Verfremdungsformen der Gerechtigkeit. Nietzsche insistiert in der Historienschrift darauf, dass eine ausgewogene und umsichtige Ausübung der Gerechtigkeit von einem tiefen Wissen und der Einsicht in die Wahrheit begleitet sein muss. Wird diese Voraussetzung von Seiten des Richtenden nicht erfüllt, werden die weiterhin in unbeugsamer Entschiedenheit gefällten Urteile des Richtenden und die aus ihnen entspringenden Handlungen in einer an Willkürlichkeit grenzenden Weise irrtümlich. Zwangsläufig werden die Urteile auch ungerecht, illegitim und gewaltsam sein.¹⁷³³ In genereller Hinsicht ist anzumerken, dass der Begriff der Rache – zumal wenn die semantisch verwandten Begriffe Schuld, Sühne, Strafe und Vergeltung hinzugezogen werden – in einem nahezu untrennbaren Verweisungszusammenhang mit dem Topos der Gerechtigkeit angesiedelt ist. Dieser Zusammenhang ist

 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 288 – 289.Vgl. dazu Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung, GA 46, S. 172: „Das ‚Ausweichen‘ vor jeder Entscheidung als gleichzeitiges Bejahen von Allem und zumal des gerade Gültigen ist das Unwesen, der äußerste Gegensatz zur eigentlichen Gerechtigkeit…“ Zum Nexus von Geschichte, Richtkraft, gerechtfertigtem Wissen und Gerechtigkeit vgl. Ludwig Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches, 1. Aufl., Berlin 1997.  Vgl. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 289: „Nun ist sogar noch eine fürchterliche Species von Historikern übrig, tüchtige, strenge und ehrliche Charaktere – aber enge Köpfe; hier ist der gute Wille gerecht zu sein eben so vorhanden wie das Pathos des Richterthums: aber alle Richtersprüche sind falsch, ungefähr aus dem gleichen Grunde, aus dem die Urtheilssprüche der gewöhnlichen Geschworenen-Collegien falsch sind.“

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in der abendländischen Ideengeschichte jedoch nicht – wie zunächst vermutet werden könnte – durch ein reines Gegensatzverhältnis von Rache und Gerechtigkeit geprägt. Deswegen ist es ein Kernanliegen Nietzsches innerhalb der mittleren Phase seines Gerechtigkeitsdenkens (v. a. in Menschliches, Allzumenschliches), die tradierte Verbindung zwischen der schon in der Antike als ausgleichend und vergeltend (man denke an Maat und Nemesis) begriffenen Gerechtigkeit und der aufgrund einer vorausgehenden Verschuldung gerechtfertigten Rache aufzulösen und „Gerechtigkeit“ und „Rache“ als Antonyme zu stabilisieren.¹⁷³⁴ Heidegger schlägt den Weg einer Relationsstiftung zwischen der Freiheit von der Rachsucht und der Gerechtigkeit nicht ein. Nichtsdestotrotz besitzen seine folgenden, gemäß der programmatischen Überschrift des Aufsatzes im Gesichtskreis der Zarathustra-Dichtung verbleibenden Deutungsschritte eine nachvollziehbare Plausibilität, weil er sie auf stichhaltige Textbelege gründet. Aus diesem Grund diskutiert Heidegger das Phänomen der Rache weder in einem moralischen oder psychologischen Horizont noch kontextualisiert er die Rache unmittelbar mit einem möglichen Antidot. Gegenüber den verdunkelnden, geläufigen Erfassungsmustern und Ansichten der Rache such Heidegger vornehmlich zu einem tieferen Verständnis der Bedeutung dieses Terminus in Also sprach Zarathustra selbst vorzudringen. In erster Linie ist ihm daran gelegen, die sich bei Nietzsche ankündigende Erhebung der Rache auf eine metaphysische Stufe noch deutlicher zu profilieren. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass die Erlösung von der (den bisherigen Menschen leitenden) Rache die notwendige Bedingung für den gelingenden Übergang zum Übermenschen exemplifiziert, weswegen eine Spezifikation der Rache erforderlich ist. Um das Wesen der Rache – ihren „Geist“ – in seiner ursprünglichen Herkunft, seiner Wirkungsweise und seinem Geltungsgebiet sichtbar zu machen (und es innerhalb der Metaphysikgeschichte verankern

 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, KSA 2, Nr. 238, S. 200: „Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott. – Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick dieses Wellenschlages fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser enthüllt sich immer mehr in den Verwandlungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick – gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab –, an welchem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; darüber darf man nicht böse werden, so irrthümlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss, Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen.“

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zu können), rekurriert Heidegger auf eine Textstelle des für die Auseinandersetzung mit dem Motiv der Rache wichtigsten Stückes Von der Erlösung: Der Geist der Rache: meine Freunde, das war bisher der Menschen bestes Nachdenken; und wo Leid war, da sollte immer Strafe sein.¹⁷³⁵

Das „bisherige Nachdenken der Menschen“¹⁷³⁶ – hierin geht er über den durchaus moraltheoretisch-genealogisch (vgl. die ostentative Folgerelation von „Leid“ und „Strafe“) deutbaren Inhalt der Aufzeichnung Nietzsches hinaus – repräsentiert für Heidegger paradigmatisch das den Bezug von Mensch, Welt und Seiendem bestimmende Denken der Metaphysik: Durch diesen Satz wird die Rache im vorhinein auf das ganze bisherige Nachdenken der Menschen bezogen. Das hier genannte Nachdenken meint nicht irgendein Überlegen, sondern jenes Denken, worin das Verhältnis des Menschen zu dem beruht und schwingt, was ist, zum Seienden. Insofern der Mensch sich zum Seienden verhält, stellt er das Seiende hinsichtlich dessen vor, daß es ist, was es und wie es ist, wie es sein möchte und sein soll, kurz gesagt: das Seiende hinsichtlich seines Seins. Dieses Vor-stellen ist das Denken. Nach dem Satz Nietzsches wird dieses Vorstellen bisher durch den Geist der Rache bestimmt. Die Menschen halten ihr so bestimmtes Verhältnis zu dem, was ist, für das Beste.¹⁷³⁷

Folgerichtig gelangt Heidegger zu dem Schluss: „Wenn Nietzsche die Rache als den Geist versteht, der den Bezug des Menschen zum Seienden durchstimmt und bestimmt, dann denkt er die Rache im vorhinein metaphysisch“.¹⁷³⁸ Mit diesem Befund ist eine erste Annäherung an den Begriff der Rache zu konstatieren. Die Metaphysik wird als Legitimationsinstanz und als Ort der Rache aufgedeckt. Darauf aufbauend, ließe sich ergänzend mit Heidegger als auch mit Nietzsche

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 110.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 180.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 110.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 110 – 111. Zu Beginn des Zarathustra-Aufsatzes lässt Heidegger die Entfaltung der (antimetaphysischen) Stoßrichtung Nietzsches zu, die sich gegen summierende Identifikationen, unangreifbare Essentialismen und die daraus erwachsenden Wertungen wendet. Vgl. dazu Nietzsche, NF Herbst 1885–Herbst 1886, KGW VIII, 1, 2 [149], S. 138: „Es giebt keinen ‚Thatbestand an sich‘, sondern ein Sinn muß immer erst hineingelegt werden, damit es einen Thatbestand geben könne. Das ‚was ist das?‘ ist eine Sinn-Setzung von etwas Anderem aus gesehen. Die ‚Essenz‘, die ‚Wesenheit‘ ist etwas Perspektivisches und setzt eine Vielheit schon voraus. Zu Grunde liegt immer ‚was ist das für mich?‘ (für uns, für alles, was lebt usw.) Ein Ding wäre bezeichnet, wenn an ihm erst alle Wesen ihr ‚was ist das‘ gefragt und beantwortet hätten. Gesetzt, ein einziges Wesen, mit seinen eigenen Relationen und Perspektiven zu allen Dingen, fehlte: und das Ding ist immer noch nicht ‚definiert.‘“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 111.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

sagen, dass sich das Versäumnis des bisherigen „besten Nachdenkens“¹⁷³⁹ (d.i. die Metaphysik, die in ihrer Strahlkraft das Verhältnis des Menschen zum Seienden im Ganzen entwirft), darin manifestiert, dass es niemals auf eine selbstreflexive Ergründung und Erklärung des Geistes der Rache abzielte. Diese Absenz des Verdachtes bewirkt und unterschlägt, dass alle philosophischen Abgrenzungen und affirmierten Paradigmen in den Geist der Rache eingelassen sind. Sie sprechen aus diesem Geist, ohne ihrer Herkunft gewahr zu werden. Dies mündet in eine Drehbestimmung der Rache ein, die in der Gestalt eines Rückstoßes auf die Metaphysik zurückwirkt: Das sich eigenständig dünkende Denken wird von derjenigen Instanz, die es in einem freien Entwurf als Weltgrund, als Sein des Seienden festzulegen glaubt, auf den Duktus der Rache eingeschworen. Dies prolongiert sich im menschlichen Verhältnis zum Seienden.

1.10.6 Die Rückgründung der Rache in der neuzeitlichen Willensmetaphysik und die Zeit als „Stein des Anstoßes“ Um die Rache nun auch inhaltlich anzureichern und ihre Vollzugsweisen zu ermitteln – sodass daraufhin geklärt werden kann, wogegen sich der metaphysisch fundierte Geist der Rache konkret wendet – wählt Heidegger zunächst eine etymologische Verfahrungsweise. In diesem Zuge ergibt sich: „Rache, rächen, wreken, urgere heißt: stoßen, treiben, vor sich hertreiben, verfolgen, nachstellen“.¹⁷⁴⁰ Wichtig ist, dass das Motiv des Nachstellens im Bedeutungsfeld der Rache nicht allein als verfolgendes Erjagen oder als einfangende Inbesitznahme¹⁷⁴¹ firmiert. Es ist die Eigenschaft der vorausgreifenden Herabsetzung des Gegenstandes ihrer Vergeltung, welche die nachstellende Rache vorrangig auszeichnet. Ihr rein reaktiv-ressentimenterfüllter Vollzugshabitus bekundet sich darin, dass der Akteur der Rache die erlittene Beschränkung des eigenen Wesens durch denjenigen, der ihm Schaden bereitete oder ihn besiegte, rückgängig zu machen sucht. Um sich für den dafür unumgänglichen Konflikt zu wappnen, widersetzt sich die Rache dem Objekt ihrer Intransigenz, indem sie diesem von vornherein die Anerkennung entzieht, es desavouiert und in Misskredit bringt. Der auszutragende Dissens wird mit der präkompetitiven Sicherung der eigenen Überlegenheit und moralischen Deutungshoheit infiltriert. Definitorisch begreift Heidegger die Rache daher als „widersetzliches, herabsetzendes Nachstellen“.¹⁷⁴²    

Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 110. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 111. Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 111. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 112.

1.10 Der Wille und die Zeit

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Die Metaphysik stellt als grund-legendes Denken das Seiende auf das Sein hin vor. Das „bisherige Nachdenken“ wird von dem Geist der Rache geleitet und durchzogen. Dieser Geist kristallisiert sich als eine sich gegen das Missliebige widersetzende und sich selbst schützend überhöhende Ranküne heraus. Nach Heidegger muss sich das Wesen der Rache „aus der Verfassung der Metaphysik ersehen lassen“.¹⁷⁴³ Mit dieser hermeneutischen Vertiefung öffnet Heidegger die seinsgeschichtliche Blickbahn. Entscheidend ist, dass Heidegger die das Wesen der Rache anzeigende Leitprägung nicht – wie es Nietzsche in seiner umgreifenden Formulierung des bisherigen „besten Nachdenkens“ durchaus suggeriert hatte – auf die Metaphysik als Ganze bezieht. Heidegger schränkt die Gültigkeitsdimension der Rache zunächst auf die in ihr zum Vorschein kommende, neuzeitliche Erscheinungsform des Seins des Seienden ein.¹⁷⁴⁴ Dergestalt wird der Geist der Rache, welcher die Metaphysik und damit das Sein des Seienden durchzieht, an den Topos des Willens angebunden. Es ist der Wille, durch den sich in der Neuzeit das Sein als Seiendheit bestimmt: Das Sein des Seienden erscheint für die neuzeitliche Metaphysik und durch sie eigens ausgesprochen als Wille. Der Mensch aber ist Mensch, insofern er sich denkend zum Seienden verhält und so im Sein gehalten wird. Das Denken muß mit in seinem eigenen Wesen dem entsprechen, wozu es sich verhält, zum Sein als Wille.¹⁷⁴⁵

Wie gleich zu zeigen sein wird, spannt Heidegger die Nietzschesche Charakterisierung des Trägers der Rache nicht vereinnahmend und gewaltsam in das eigene willensmetaphysische Narrativ ein. Heidegger gibt dieser Einordnung zunächst nur eine nachdrückliche Lineatur, insofern auch Nietzsche den Willen in dem Stück Von der Erlösung als Subjekt der Rache identifiziert. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass er Nietzsche keine Position des externen, deutenden Beobachters des Geistes der willensförmigen Rache zugesteht. Heidegger bettet Nietzsche auch 1953 in die (neuzeitliche) Metaphysik ein: „Nun ist nach Nietzsches Wort das bisherige Denken durch den Geist der Rache bestimmt. Wie denkt also Nietzsche das Wesen der Rache, gesetzt, daß er es metaphysisch denkt?“¹⁷⁴⁶ Um die neuzeitliche Gestaltwerdung des Seins als Wille mit den metaphysischen Begriffen höchster Dignität zusammenzubringen, rekurriert Heidegger wie

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 112.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 112: „Damit uns diese Sicht einigermaßen gelingt, achten wir darauf, in welcher Wesensprägung das Sein des Seienden innerhalb der neuzeitlichen Metaphysik erscheint.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 113.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 113.

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1941 auf Schellings epochemachende Sätze aus der Freiheitsschrift, die dieser im Kontext der gewichtenden Einschätzung des idealistischen Freiheitsbegriffes schrieb: – Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein andres Seyn als Wollen. Wollen ist Urseyn und auf dieses (das Wollen) allein passen alle Prädikate desselben (des Urseyns): Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.¹⁷⁴⁷

Die verschiedenartig nuancierte, neuzeitliche Kernprägung des Seins als Wille fällt nicht der Willkür namhafter Denker anheim. Heidegger bekräftigt die Ansicht, dass die voluntaristische Urseinsprädikation in einer Entsprechung wurzelt, die das wesentliche Denken des Zeitalters aufgreift und weiterträgt. Heidegger nennt zuvorderst die von Seiten Leibniz’ inaugurierte Vereinigung von perceptio und appetitus. Im Anschluss hebt Heidegger den von Kant und Fichte auf den Begriff gebrachten und von Hegel und Schelling vertiefend untersuchten „Vernunftwillen“¹⁷⁴⁸ hervor. Des Weiteren führt er Schopenhauers Werktitel Die Welt als Wille und Vorstellung an, in dem die Verbindung der beiden neuzeitlichen Paradigmen (das Vor-stellen und die drängende Subjektivität) mustergültig verdichtet wird. Schließlich kommt Heidegger auf Nietzsches Kennzeichnung des „Urseins des Seienden als Wille zur Macht“¹⁷⁴⁹ zu sprechen. Die Verwendung des Wortes „Ursein“ illustriert, dass Heidegger offenkundig die Schellingsche Gleichung Wollen=Urseyn auf Nietzsches Entwurf des Willens zur Macht bezieht, um die Kontinuität der Willenszentralität zu unterstreichen. In der Ausfächerung dieser Korrespondenz zwischen dem Denker und dem zuDenkenden, die Heidegger andernorts als Geschick oder Zuspruch begreift, spiegelt sich zum einen die in den 1950er-Jahren intensivierte, identitätsphilosophisch geprägte Auseinandersetzung mit dem bekannten Fragment 8 des Parmenides wider. Gemäß dem Fragment 8 gehören das Sein und das Denken, worin das Sein seine Vernehmung findet, unauflöslich zusammen.¹⁷⁵⁰ Zum anderen ist

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 112. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. Hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Schellings sich offenbarendem Wille der Liebe und Nietzsches sich selbst befehlendem Willen zur Macht ist heranzuziehen: Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, GA 49, S. 101– 102. Vgl. hierzu das Kapitel 2.2.9 im 2. Teil dieser Arbeit.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 113.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 113.  Vgl. Parmenides, DK 28 B 8, V. 34– 41, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 328: „οὐ γὰρ ἄνευ τοῦ ἐόντος, ἐν ὧ πεφατισμένον ἐστίν, εὑρήσεις τὸ νοεῖν· οὐδὲν γὰρ ‹ἢ› ἔστιν ἢ ἔσται ἄλλο πάρεξ τοῦ ἐόντος, ἐπεὶ τό γε Μοῖρ’ ἐπέδησεν οὖλον ἀκίνητόν τ’ ἔμεναι.“ Mansfeld

1.10 Der Wille und die Zeit

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hier der Nachhall des seinsgeschichtlichen Beschreibungskerns zu spüren. Demnach ist es das ungedacht bleibende, geschichtliche Sein, das in seinem Entzug die entscheidenden metaphysischen Grundstellungen in das Offene der Beständigkeit freigibt: Was dieses Erscheinen des Seins als Wille heißt, wird keine Gelehrsamkeit je ausfindig machen können; es läßt sich nur im Denken erfragen, als zu-Denkendes in seiner Fragwürdigkeit würdigen und so als Gedachtes im Gedächtnis bewahren.¹⁷⁵¹

Im Willen findet jenes als ewig, unabhängig, grundlos und selbstbejahend verstandene Sein seinen Ausdruck, dessen Endlichkeit und Geschichtlichkeit Heidegger gegen die Metaphysik in Stellung bringt. Auf dieser Grundlage lässt sich nun weiter folgern, dass die neuzeitliche Metaphysik den Geist der Rache auf das als Willen erfahrene Prinzip projiziert, ohne zu erkennen, dass sie damit nur der vorgängigen Direktive des in der Gestalt des Willens erscheinenden Seins gehorcht. Hinsichtlich des Gegenstandes der Rache ergibt sich jedoch auf den ersten Blick das Dilemma, als müsste der durch das „beste Nachdenken“ erfahrene und hypostasierte Wille in Ermangelung einer Gegnerschaft sich selbst opponieren, insofern er als Sein das Seiende im Ganzen übergreift und durchwaltet. Mit Nietzsches erhellender Definition und Lokalisierung der Rache, die Heidegger erneut dem Stück Von der Erlösung entnimmt, wird diese dilemmatische Konstellation entschärft. Im Kapitel Von der Erlösung wird der die Omnipräsenz des Willens anfechtende Widerpart ermittelt und als Zeit durchsichtig gemacht. Damit wird das Element der Zeit wieder aufgerufen. Das Thema der Zeit geriet nach Heideggers Erläuterung der Nietzscheschen Sentenz „Oh meine Seele, ich lehrte dich ‚Heute‚ sagen wie ‚Einst‘ und ‚Ehemals‘ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen“ zugunsten der Motivik der „höchsten Hoffnung“ vorübergehend aus dem Blickfeld. Heidegger konzentrierte sich in diesem Stadium seines Aufsatzes vorrangig auf die Erörterung der Freiheit von der Rachsucht und auf die Verflechtung des Geistes der Rache mit dem neuzeitlichen Sein des Seienden. In Von der Erlösung deckt Nietzsche einen im Willen aufkei-

und Primavesi geben diese berühmten Zeilen wie folgt wieder: „Dasselbe ist das Erkennen und dasjenige, weshalb es die Erkenntnis gibt. Denn nicht ohne das Seiende, bezüglich dessen es als Ausgesagtes Bestand hat, wirst du das Erkennen finden. Denn es gibt sonst nichts und wird auch nichts geben außer dem Seienden, weil das Geschick verfügt hat, dass es ganz und unbeweglich/ unveränderlich ist.“ Vgl. zum Motiv des von Parmenides erwähnten, die Ganzheit und Unveränderlichkeit des Seienden verfügenden Geschicks, das Heidegger in dem Parmenides-Aufsatz aus dem Jahre 1952 in Richtung des Seinsgeschicks auslegt: Heidegger, Moira (Parmenides VIII 34 – 41), in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 235 – 263; bes. S. 254– 256.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 113.

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menden Widerwillen, der sich an der Begrenztheit seines Aktionsradius stößt, als Grund der Rache auf: Dies, ja dies allein ist Rache selber: des Willens Widerwille gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘.¹⁷⁵²

Heidegger kann die Triftigkeit der These durchaus zugestanden werden, dass das Subjekt des zweiten Satzes – der „Widerwille“ gegen… – der von ihm entwickelten Klassifikation der Rache als sich widersetzendes Nachstellen korrespondiert. Allerdings geht Heidegger in einer (durchaus mit Nietzsches Darlegung verträglichen Weise) darüber hinaus. Heidegger löst den von Nietzsche zuerst genannten „Willen“ von jedweder möglichen Restriktion auf das „menschliche Wollen“.¹⁷⁵³ Heidegger exponiert den Willen erneut als Titel für das „Sein des Seienden im Ganzen“.¹⁷⁵⁴ Dergestalt wird Nietzsches Auffassung, dass der Geist der Rache das bisherige Nachdenken präge, nicht mehr nur in die Metaphysikgeschichte verlagert und in dieser auf die neuzeitliche Verfassung der Seiendheit zugespitzt. Vielmehr wird die „Rache“ als Mittelbegriff sichtbar, der das Verhältnis zwischen Sein (Willen) und Zeit bestimmt. Insofern auch bei Nietzsche – in der Vermittlung über das Rachemotiv – eine Zusammenschau von Sein und (der gerade nicht im metaphysischen Sinne als reine Beständigkeit begriffenen) Zeit anklingt, bekundet sich eine signifikante Übereinstimmung beider Denker. Diese Gemeinsamkeit entfaltet sich in der Verteidigung des Werdens im Allgemeinen und der Endlichkeit im Besonderen gegenüber der vorhandenheitszentrierten, jeder Veränderung abholden Seiendheit. Es wird sich zeigen, dass Heidegger mit Nietzsches Diagnose einverstanden ist, weswegen die Zeit dem bisherigen Nachdenken des Menschen – der anwesenheitsorientierten Metaphysik – Anlass zum Widerwillen und zur Rache bot. Nietzsches Konzeption einer Erlösung des Willens von seinem Widerwillen wird Heidegger jedoch nicht teilen. In einer für Heidegger typischen Deutungsstrategie wird er Nietzsches Lösungsvorschlag als Gipfel jener Tradition markieren, die Nietzsche gerade zu überwinden gedachte. Die von Nietzsche entwickelte Verknüpfung des Willens und der Rache mit der Zeit als solcher wirkt prima facie „unverständlich“¹⁷⁵⁵ oder gar „willkürlich“.¹⁷⁵⁶ Dass Nietzsche nicht nur einen „besonderen Charakter der Zeit“¹⁷⁵⁷ oder

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 113.Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 180.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 114.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 114.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 114.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 114.

1.10 Der Wille und die Zeit

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eine ihrer Dimensionen – nämlich die Vergangenheit – im Auge hat, tritt hervor, wenn die vermeintlich erläuternde Beigabe des „Es war“ näher untersucht wird. Zu Recht weist Heidegger darauf hin, dass sich der Sachgehalt des „Es war“ keineswegs in der Vergangenheitsangabe des „Ehemals“ aus dem Kapitel Von der großen Sehnsucht erschöpft. Das „Es war“ ist das Wesen der Zeit. Im „Es war“ versammelt sich die primäre Verlaufsform der verrinnenden, kronischen Zeit. Innerhalb der Sukzessionszeit kann die Zukunft nur durch ein herausdrängendes Vergehen der Augenblicke hervorgebracht werden. Weil auch die zur Gegenwart gewordene Zukunft diesem Gesetz im Moment ihres Eintretens¹⁷⁵⁸ sofort unterworfen ist, wird jegliches Bleiben exkludiert: Doch wie steht es denn mit ‚der‘ Zeit? Es steht so mit ihr, daß sie geht. Und sie geht, indem sie vergeht. Das Kommende der Zeit kommt nie, um zu bleiben, sondern um zu gehen. Wohin? Ins Vergehen. Wenn ein Mensch gestorben ist, sagen wir, er habe das Zeitliche gesegnet. Das Zeitliche gilt als das Vergängliche.¹⁷⁵⁹

Anhand dieses permanenten Verschwindens wird sichtbar, dass in Nietzsches Formulierung des „Es war“ nicht nur ein Verständnis der Zeit als Vergänglichkeit mitschwingt. Wie Heidegger in dem Text Was heisst Denken (1952) in kritischer Absicht herausarbeitet, bewege sich Nietzsche in der Beschreibungsart des Vergehens im Einklang mit der aristotelisch geprägten Überlieferungslage jener Zeittheorien¹⁷⁶⁰, die die Zeit als unendliche Aneinanderreihung von vergehenden Jetztpunkten vorstellen. Dabei wird allein die jeweilige Gegenwart als das Seiende

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 114.  Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, §57, S. 389: „Sein eigentliches Daseyn ist nur in der Gegenwart, deren ungehemmte Flucht in die Vergangenheit ein steter Übergang in den Tod, ein stetes Sterben ist; da sein vergangenes Leben, abgesehn von dessen etwanigen Folgen für die Gegenwart, wie auch von dem Zeugniß über seinen Willen, das darin abgedrückt ist, schon völlig abgethan, gestorben und nichts mehr ist: daher es ihm auch vernünftigerweise gleichgültig seyn müsse, ob der Inhalt jener Vergangenheit Quaalen oder Genüsse waren.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 114.  Vgl. Heidegger, Was heisst Denken?, 4. Aufl., Tübingen 1984, S. 40 – 41: „Die Antwort, die Aristoteles auf die von ihm gestellte Frage nach dem Wesen der Zeit gibt, bestimmt auch noch Nietzsches Zeitvorstellung. […] Wie verhält sich die Sache der Zeit? Was ist an der Zeit seiend? Sobald das metaphysische Denken diese Frage stellt, hat sich für dieses Denken bereits entschieden, was es unter ‚seiend‘ versteht, in welchem Sinn es das Wort ‚sein‘ denkt. ‚Seiend‘ heißt: anwesend. Seiendes ist umso seiender, je anwesender es ist. Es wird je und je anwesender, je bleibender es bleibt, je währender das Bleiben ist.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

an der Zeit begriffen, während die Vergangenheit und die Zukunft als „NichtAnwesendes“¹⁷⁶¹ marginalisiert werden. Durch die Dechiffrierung des Wesenszuges der Zeit als Vergänglichkeit eröffnet sich – wie Nietzsche in dem Stück Von der Erlösung nachdrücklich schildert – eine bemerkenswerte Einsichtsmöglichkeit in die Verfasstheit und Bedürfnishaftigkeit des an seiner lückenlosen Herrschaftsausübung gehinderten Willens: Solange alles Seiende der sukzessiven Struktur der Zeit unterworfen ist, stößt sich der Wille überall an dem erlittenen Gegenbild seiner permanent verzögerten Vervollkommnung. Solange der Wille sich unweigerlich dem Unverfügbaren und nicht mehr zu Ändernden widersetzen muss, das ihm im Fluss der Zeit entflieht, bleibt der „großen Sehnsucht“ zum einen die ersehnte Versammlung der Fülle des Werdens verschlossen. Zum anderen (und damit zusammenhängend) kann sich Zarathustras größte Hoffnung nicht erfüllen, dass der Mensch die Brücke hin zum Übermenschen beschreite. Darüber hinaus impliziert das von Nietzsche in Aussicht gestellte Versprechen eines befreiten Willens¹⁷⁶², dass mit der Befreiung des Seins des Seienden vom Geist der Rache zugleich alles Seiende von der Rache erlöst und freigesprochen werde. Aus diesem Grunde darf der Wille sich nicht gegen sich selbst kehren, sondern muss sich rückhaltlos bejahen. Die vergehende Zeit ist im Gegensatz dazu der Hindernisgrund¹⁷⁶³ der absoluten Selbstbejahung des Willens und animiert ebenjene widerwillige Wendung des Willens gegen sich selbst:

 Heidegger, Was heisst Denken?, S. 41.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 179 – 180: „Die Vergangnen zu erlösen und alles ‚Es war‘ umzuschaffen in ein ‚So wollte ich es‘! – das hiesse mir erst Erlösung! Wille – so heisst der Befreier und Freudebringer: also lehrte ich euch, meine Freunde! Und nun lernt diess hinzu: der Wille selber ist noch ein Gefangener.Wollen befreit: aber wie heisst Das, was auch noch den Befreier in Ketten schlägt? ‚Es war‘: also heisst des Willens Zähneknirschen und einsamste Trübsal. Ohnmächtig gegen Das, was gethan ist – ist er allem Vergangenen ein böser Zuschauer. Nicht zurück kann der Wille wollen; dass er die Zeit nicht brechen kann und der Zeit Begierde, – das ist des Willens einsamste Trübsal.“  Vgl. dazu Heidegger, Was heisst Denken?, S. 37: „Insofern der Wille am Vergehen leidet, als dieses Leiden jedoch gerade er selbst, nämlich der Wille ist, bleibt der Wille in seinem Wollen dem Vergehen überantwortet. Der Wille will so das Vergehen selbst. […] Der im Willen erstehende Widerwille ist so der Wille gegen alles, was vergeht, d. h. was entsteht, was aus Entstehen zu einem Stand kommt und besteht. Der Wille ist so ein Vorstellen, das allem, was geht und steht und kommt, im Grunde nachstellt, um es in seinem Stand herabzusetzen und schließlich zu zersetzen. Dieser Widerwille im Willen selber ist nach Nietzsche das Wesen der Rache.“ Zu den Abweichungen zwischen dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? und dem Text Was heisst Denken? vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr. Zu Heideggers später Nietzsche-Interpretation, in: F.W. Korff (Hrsg.), Redliches Denken. Festschrift für Gerd-Günther Grau, S. 92– 114.

1.10 Der Wille und die Zeit

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Die Zeit und ihr ‚Es war‘ ist der Stein des Anstoßes, den der Wille nicht wälzen kann. Die Zeit als Vergehen ist das Widrige, an dem der Wille leidet. Als so leidender Wille wird er selbst zum Leiden am Vergehen, welches Leiden dann sein eigenes Vergehen will und damit will, daß überhaupt alles wert sei, zu vergehen.¹⁷⁶⁴

Heidegger gibt in diesem Textabschnitt – in dem er einen Leitgedanken aus dem Stück Von der Erlösung ¹⁷⁶⁵ paraphrasiert – einen wichtigen Fingerzeig, in welcher Weise Nietzsche die Genese des mephistophelisch-schopenhauerschen Geistes rekonstruiert.¹⁷⁶⁶ Der in der Vervielfältigung des principii individuationis ge-

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 115.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 180: „Dass die Zeit nicht zurückläuft, das ist sein Ingrimm; ‚Das, was war‘ – so heisst der Stein, den er nicht wälzen kann. Und so wälzt er Steine aus Ingrimm und Unmuth und übt Rache an dem, was nicht gleich ihm Grimm und Unmuth fühlt. Also wurde der Wille, der Befreier, ein Wehetäter: und an Allem, was leiden kann, nimmt er Rache dafür, dass er nicht zurück kann.“  Schopenhauer stützt seine Bestimmung des Weltganzen als das Nichtseinsollende explizit auf das Sein zum Tode, auf das Faktum, dass der Geborene sofort zu sterben beginnt. Dabei ist der motivgeleitete, menschliche Wille auf die in der Vorstellungswelt niemals stillstehende Zeit angewiesen. Aufgrund der Tilgung jedes Augenblickes durch den darauffolgenden Moment sichert sich der kontinuierliche Fluss der Zeit, die trotzdem in der Gegenwart gehalten wird. Die Bewegtheit der Zeit eröffnet die Ausrichtung des Bedürfnisses und des Strebens auf das gewählte Erfüllungsziel, dessen Verfolgung oft mit Leiden, zumindest aber mit Entbehrungen einhergeht. Nach der Befriedigung seines Wunsches sieht sich der Wille mit der Langeweile konfrontiert, d. h. mit einer Indifferenzerfahrung, in der der Fortgang der Zeit suspendiert wird. Die von Seiten des Intellekts dargebotenen Handlungsoptionen erschließen die Zukunftsoffenheit, die dem Willen die Bestätigung seiner Intentionalität nur zu gewähren vermag, indem sie jedes Residuum dauerhafter Zufriedenheit auflöst. Der sich darin bereits ankündigende Antagonismus der Zeit gegen den individuierten Willen zum Leben vollendet sich im Tod. Der Tod bricht die prinzipielle Unabschließbarkeit der Willensregungen radikal ab. Somit bringt der Tod die Grundparadoxie des menschlichen Lebensvollzuges – niemals das erlangen zu können, was der innerste Antrieb des Willens ist – zum Vorschein. Aufgrund der beständigen Vereitelung des scheinbar Identitätsstiftenden wird das durch die Zeit perpetuierte Nichts im Sinne des Nichtigen zum Konstituens der menschlichen Existenz und des Lebens überhaupt. Erst in der Zeit kann sich die Entzweiung des Willens stabilisieren, der im Modus dieser Täuschung mit sich selbst kämpft und ein ubiquitäres Leiden bewirkt. Daraus zieht Schopenhauer mit Goethes Mephistopheles die Konsequenz, dass das Nichtsein dem Dasein vorzuziehen wäre. In großer Übereinstimmung mit Anaximander wird für Schopenhauer der Schuldcharakter des Daseins in der Zeugung, im Hervorgang aus dem Ursprung, initiiert. Zu Schopenhauers Bezugnahme auf Mephistopheles vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 46, S. 672: „Denn zuletzt verkündigt die Zeit den Urteilsspruch der Natur über den Wert aller in ihr erscheinenden Wesen, indem sie sie vernichtet: Und das mit Recht: denn ‚Alles, was entsteht, / ist werth, daß es zu Grunde geht / Drum besser wär‚s, daß nichts entstünde.‘ [Goethe, Faust I, 1339.] … Also die Belehrung, welche Jedem sein Leben giebt, besteht im Ganzen darin, daß die Gegenstände seiner Wünsche beständig täuschen, wanken und fallen, sonach mehr Quaal als Freude bringen, bis endlich sogar der ganze Grund

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

täuschte Wille resigniert und zehrt an sich selbst (und damit, gemäß der metaphysischen Fundierung, an dem Seienden überhaupt), weil er zuvor mit der Flüchtigkeit der Zeit konfrontiert ist. Als Medium der (Selbst‐) Zerspaltung führt ihm die Zeit seine Ohnmacht vor Augen. Die Zeit lässt den leidenden Willen nicht zu einem Willen der Macht werden. Der transitorische Charakter der Zeit untergräbt die kontinuierliche Einwirkung auf ausgewählte Ziele und deren dauerhafte Aneignung. Es ist die Zeit, die das zu Erreichende innerhalb des Szenarios eines unüberwindbaren Zerfalls präsentiert, der sich in der beständigen Herbeiführung der Vergangenheit äußert.¹⁷⁶⁷ Deswegen schreitet der Wille dazu fort, nicht nur sich selbst, sondern jegliches Entstehende und Vergehende zu missbilligen. Der Wille befindet die Welt im Ganzen schließlich für sinnlos. Dieser Entwertungsvorgang kulminiert im neuzeitlichen Pessimismus. Indem der Pessimismus die Nichtigkeit des Weltlaufs illusionslos darlegt, bringt er das Besiegtsein und Scheitern des Willens an der Zeit zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu, schloss die erste, platonische Scheidung zwischen einer zeitunterworfenen Welt des Scheins und der ewigen Welt des Seins jegliche Möglichkeit eines Aufbegehrens der Zeit von vornherein aus. Obgleich auch Schopenhauer das Vergänglich-Irdische als Nichtseinsollendes kennzeichnet und dergestalt in der Traditionslinie der Desavouierung des Zeithaften als μὴ ὃν anzusiedeln ist, kann ihm hinsichtlich des Zulassens der Vergänglichkeit ein höherer Grad der Redlichkeit zugesprochen werden als Platon. Schopenhauer leugnet die Verlaufsform der Zeit nicht zugunsten einer besseren Welt. Er erhebt die Zeit zum Gradmesser des negativ taxierten Wertes der Realität überhaupt. Der erste und maßstäbliche, allerdings nicht vom Willen im Sinne des neuzeitlichen Seins des Seienden instruierte Akt des Widerwillens nimmt Rache an der Zeit und hat immer schon über sie gesiegt. Bei Platon wird die Zeitlichkeit ostentativ mit dem Bereich des Irdischen identifiziert. Das Irdische

und Boden, auf dem sie sämmtlich stehn, einstürzt, indem sein Leben selbst vernichtet wird und er so die letzte Bekräftigung erhält, daß all sein Streben und Wollen eine Verkehrtheit, ein Irrweg war.“  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 181: „Alles ‚Es war‘ ist ein Bruchstück, ein Räthsel, ein grauser Zufall – bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚aber so wollte ich es!‘ – Bis der schaffende Wille dazu sagt: ‚Aber so will ich es! So werde ich‘s wollen!‘“ Vgl. zum Topos des Übergangs des Widerwillens gegen die Zeit zum Wollen der ewigen Wiederkehr, die selbst das Furchtbarste ist, weil sie mit dem „Es war“ auch das vergangene Verächtliche und Nichtseinsollende zurückbringt: Manfred Riedel, Heimisch werden im Denken. Heideggers Dialog mit Nietzsche, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, S. 40 – 42.

1.10 Der Wille und die Zeit

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kann an dem normativ verwendeten Seinsprädikat der „Ewigkeit“¹⁷⁶⁸ nur schattenhaft teilhaben. Durch diese Ausübungsart der Rache wird der Wille zwar besänftigt. Der Wille sichert seine „Unabhängigkeit von der Zeit“¹⁷⁶⁹, indem diese als Gewalt, die ihn herausfordert, ihrer Geltungskraft beraubt wird. Gleichwohl wird der allgemeine Widerwille gegen die verfließende Zeit nicht definitiv behoben. Der Widerwille wird bestenfalls auf Dauer gestellt und mit metaphysischen Weihen ausgestattet. Die platonische Zwei-Welten-Lehre wird als Überdeckungsversuch der Missgunst gegen die in das Unbeeinflussbare einkehrenden Machtvakuen sichtbar. Deswegen schreibt Heidegger: Der tiefste Widerwille gegen die Zeit besteht aber nicht in der bloßen Herabsetzung des Irdischen. Die tiefste Rache besteht für Nietzsche in jenem Nachdenken, das überzeitliche Ideale als die absoluten ansetzt, an denen gemessen das Zeitliche sich selber zum eigentlich Nicht-Seienden herabsetzen muß. Wie aber soll der Mensch die Erdherrschaft antreten können, wie kann er die Erde als Erde in seine Obhut nehmen, wenn er und solange er das Irdische herabsetzt, insofern der Geist der Rache sein Nachdenken bestimmt? Gilt es, die Erde als Erde zu retten, dann muß zuvor der Geist der Rache verschwinden. Darum ist für Zarathustra die Erlösung von der Rache die Brücke zur höchsten Hoffnung.¹⁷⁷⁰

Die im Rahmen der entscheidenden Frage nach der menschlichen Übernahmebereitschaft der „Erdherrschaft“ vorgetragene Würdigung jener Nietzscheschen Rettung der vormals als Bereich der Vergänglichkeit abgewerteten Erde weist einen zwiespältigen Charakter auf. Einerseits honoriert Heidegger, dass Nietzsche metaphysikkritisch nach einem Weg sucht, die Zeit in der ihr eignenden Bewegtheit, d. h. in ihrem Vergehen gewähren zu lassen. Parallel dazu, soll der Wille zur Akzeptanz dieses Geschehens sowie zur Dementierung seines in einem Rachedenken und in der Priorisierung des Ewigen mündenden Verdrusses bewegt werden. Damit soll der „Geist der Rache“ endgültig verschwinden können. Andererseits deutet sich bereits in Heideggers Wahl des Wortes „Obhut“ an, dass die Befreiung der Zeit aus der von Seiten des Willens oder der Ideen verübten Oppression sich als ein Durchgangsstadium enthüllen könnte. So wird die Zeit nach Heidegger als Bewegungsmaß der einzigen, vormals sinnlichen Welt rehabilitiert, um daraufhin in einer Machtinstanz eingehegt zu werden, die ungeteilt die eine Erde durchwaltet. Heideggers Übergang von der ersten zur zweiten Interpretati-

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 115.Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra, S. 115. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 115.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

onsoption korrespondiert mit der internen Zäsur des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra?.

1.10.7 Die Befreiung des widerwilligen Willens durch die ewige Wiederkehr des Gleichen Der Problemfokus kulminiert in dem Fragekomplex, wie der Wille aus seiner unversöhnlichen Frontstellung gegen das Vergehen befreit werden kann. In diesem Zusammenhang ist zuvorderst zu beachten, dass der Wille sich nicht allein gegen jede Faktizität richtet, die sich in das Nichtseiende entzieht. Der Wille wendet sich auch gegen die aus dieser Instabilität erwachsende Unauslotbarkeit der Selbstverortung. Heidegger opponiert noch einmal in aller Schärfe die im Zwiegespräch zwischen Schopenhauer und Nietzsche ausgetragenen zwei Grundvarianten, wie der Widerwille gegen das „Es war“ suspendiert werden kann. Der radikalste, von Nietzsche in dem Stück Von der Erlösung energisch verworfene Weg äußert sich darin, die Erlösung vom Widrigen in der Verneinung des Willens zu suchen.¹⁷⁷¹ Die fundierende Gleichung ist simpel: Wenn es überhaupt keinen Willen mehr gibt, kann auch der im Willen aufkeimende Widerwille gegen die Zeit und das daraus generierte Leiden keinen Bestand mehr haben. Um diese Schopenhauer und dem Buddhismus zugesprochene „Befreiung vom Willen überhaupt“¹⁷⁷² zu delegitimieren, integriert Heidegger eine jede Umkehr des Willens verhindernde Prämisse. Auf diese Weise stützt Heidegger Nietzsches Kritik an einer Möglichkeit der Willensverneinung aus seinsgeschichtlicher Sicht. Die Destruktion des mit dem Sein des Seienden identifizierten Willens käme nach Heidegger einer Aufhebung der Welt und dem Abfall ins „leere Nichts“¹⁷⁷³ gleich. Hierin spiegelt sich erneut die grundlegende Paradoxie in Heideggers Theorie-

 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 116. Nietzsche polemisiert im Kapitel Von der Erlösung vehement gegen Schopenhauers Figuration der Willensverneinung und gegen Anaximanders Parallelisierung des Gewordenen mit einer abzubüßenden Schuld: Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Erlösung, KSA 4, S. 181: „Diess, diess ist das Ewige an der Strafe ‚Dasein‘, dass das Dasein auch ewig wieder That und Schuld sein muss. ‚Es sei denn, dass der Wille endlich sich selber erlöste und Wollen zu Nicht-Wollen würde‘ –: doch ihr kennt, meine Brüder, diess Fabellied des Wahnsinns! Weg führte ich euch von diesen Fabelliedern, als ich euch lehrte: ‚der Wille ist ein Schaffender‘.“ Zu Nietzsches Rezeption der Lehre von der Willensverneinung ist besonders zu beachten: Lore Hühn, Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Lichte der Kritik Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos, in: Günter Figal (Hrsg.), Interpretationen der Wahrheit, Tübingen 2002, S. 143 – 181.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 116.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 116.

1.10 Der Wille und die Zeit

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formation wider. Obwohl Heidegger den Willen und die neuzeitliche Subjektivität vehement kritisiert, zementiert er zugleich die Unabweisbarkeit und Alternativlosigkeit der Erscheinung des Seins als Wille. Nietzsches Konzeption einer Befreiung des Willens von der Rachsucht setzt nicht am sich selbst negierenden Weltgrund an. Nietzsche fokussiert auf das andere Bezugselement und sucht den Widerwillen demnach durch die Änderung des Verhältnisses zu der Zeit aufzuheben. In einer doppelten Herauswindung soll in der von Nietzsche initiierten Befreiung vom Geist der Rache erstens der innerhalb des Willens situierte Keim des Ungemachs – den Schopenhauer nach Nietzsche (und Heidegger) nicht anders denn über die voluntative Selbstdementierung zu tilgen wusste – beseitigt werden. Zweitens soll auch die Zeit ihre missliebige Rolle als „Stein des Anstoßes“ abgeben können. Der durch die Rache dominierte Konflikt zwischen dem Willen und der Zeit soll in einer Weise befriedet werden, in welcher der Wille in seiner Funktion, seinem Status und seinem Vollzug unverfälscht erhalten bleibt. Nichtsdestotrotz soll die Zeit als Vergänglichkeit bejaht werden: Die Erlösung löst den Widerwillen von seinem Nein und macht ihn frei für ein für ein Ja. Was bejaht dieses Ja? Genau das, was der Widerwille des Rachegeistes verneint: die Zeit, das Vergehen. Dieses Ja zur Zeit ist der Wille, daß das Vergehen bleibe und nicht in das Nichtige herabgesetzt werde. Aber wie kann das Vergehen bleiben? Nur so, daß das Vergehen nicht stets nur geht, sondern immer kommt. Nur so, daß das Vergehen und sein Vergangenes in seinem Kommen als das Gleiche wiederkehrt. Diese Wiederkehr selbst ist jedoch nur dann eine bleibende, wenn sie eine ewige ist. Das Prädikat ‚Ewigkeit‘ gehört nach der Lehre der Metaphysik zum Sein des Seienden. Die Erlösung von der Rache ist der Übergang vom Widerwillen gegen die Zeit zum Willen, der das Seiende in der ewigen Wiederkehr des Gleichen vorstellt, indem der Wille zum Fürsprecher des Kreises wird. Anders gewendet: erst wenn das Sein des Seienden als ewige Wiederkehr des Gleichen sich dem Menschen vorstellt, kann der Mensch über die Brücke hinübergehen und, erlöst vom Geist der Rache, der Hinübergehende, der Übermensch sein.¹⁷⁷⁴

Mit diesem wesentlichen Passus wird in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? der Gipfel der affirmativen Ausfaltung der nun in ihrem Zusammenhang geklärten Lehren des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen erreicht. Hätte Heidegger seinen Aufsatz an dieser Stelle beendet, wäre es gerechtfertigt, von einer in den fünfziger Jahren zu verortenden, positiven Wende in  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 116. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende, S. 276: „Ich komme wieder, mit dieser Sonne, mit dieser Erde, mit diesem Adler, mit dieser Schlage – nicht zu einem neuen Leben oder einem besseren Leben oder ähnlichen Leben: – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre…“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche zu sprechen.¹⁷⁷⁵ Die 1939/40 entwickelte Diagnose der Bestandsicherung, der ausweglosen Vollendung der Neuzeit und des durch Machtaufwendung und Lebensdienlichkeit gelenkten und korrumpierten Wesens der Wahrheit würde zugunsten einer Erlösung von derlei unter der präsenzontologischen Ägide des Geistes der Rache situierten Mechanismen der Verfestigung, Aneignung und Zurechtmachung zurückweichen.¹⁷⁷⁶ Durch die ewige Wiederkehr des Gleichen ist das „Es war“ und damit das in das Vergehen Eingegangene nichts mehr, was dem Willen eine Grenze setzt und einen Widerwillen in ihm erzeugt. Der Wille kann nun aktiv das Zurück und die unaufhörliche Erzeugung des „Es war“ wollen, weil er in der Rückkehr desselben zugleich zu sich selbst voranschreiten kann und dergestalt sich im Voraus will. In der Akzeptanz der Lehre der ewigen Wiederkehr kann der Übermensch zum Befreier von der Rache am „Es war“ avancieren. Der Übermensch kann sich als Überwinder des gesamten metaphysischen „Nachdenkens“ sowie der Spaltung divergierender Welten bewähren. Im Übermenschen gewinnt die für den bisherigen Menschen kennzeichnende Verachtung des Vergänglich-Irdischen und die Orientierung an den überzeitlichen Idealen keinen Anhalt mehr. Es ist auffällig, dass Heidegger den Willen (zur Macht) in dem oben zitierten Passus der Bedeutung der ewigen Wiederkehr tatsächlich weitgehend unterzuordnen scheint. Die ewige Wiederkehr des Gleichen wird mit dem Sein des Seienden gleichgesetzt. Im Kontrast dazu, könnte sich die Machtausübung des Willens in dem obigen Zitat darin erschöpfen, als „Fürsprecher des Kreises“ in sie einzuwilligen oder gar identisch in ihr aufzugehen. In einer beachtenswerten Revision der in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) stipulierten Gradierung des Willens zur Macht zum „ersten, dem Range nach höchsten Gedanken“¹⁷⁷⁷ wird 1953 die ewige Wiederkehr in einer

 Zu einer ähnlichen Beurteilung gelangt auch Sebastian Kaufmann in seiner differenzierten Einordnung des späten Zarathustra-Aufsatzes. Vgl. Sebastian Kaufmann: Der Wille zur Macht, die ewige Wiederkehr des Gleichen und das Sein des Seienden. Heideggers ‚Aus-einander-setzung‘ mit Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 47 (2018), S. 268 – 309.  Die Lesart einer in den 1950er-Jahren weitgehend affirmativen Nietzsche-Rezeption Heideggers vertritt beispielsweise Harald Seubert, wenn er – zweifelsohne zu Recht – betont, dass die von Nietzsche inaugurierte Befreiung von der Rache der Metaphysik an der Vergänglichkeit die Voraussetzung für den Übergang in den anderen Anfang bildet.Vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 224: „Heidegger versteht nun vielmehr die Verwindung des Geistes der Rache als die ‚Brücke‘ zwischen erstem und anderem Anfang, zwischen Untergang und vollzogenem Übergang. Und er verdeutlicht, dass Nietzsches Verständigung über den Rachegeist, die ihn als Grundzug der Metaphysik denkt, in das Offene am Grund aller gewesenen Metaphysik hinausweist.“  Heidegger, N I, S. 443.

1.10 Der Wille und die Zeit

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nahezu wortgleichen, doch bedeutungsinvertierten Wendung als „der dem Range nach erste, ‚abgründlichste Gedanke‘“¹⁷⁷⁸ begriffen. Mit der Exposition der ewigen Wiederkehr als Antidot des sich an der Vergänglichkeit abarbeitenden und sich gegen diese durch hemmend-diskreditierende Nachstellung sichernden Geistes der Rache sieht sich Heidegger in der Lage, die im Titel des Aufsatzes gebündelte Fragestellung zu beantworten: Wer ist Nietzsches Zarathustra? Er ist der Lehrer, dessen Lehre das bisherige Nachdenken vom Geist der Rache in das Ja zur ewigen Wiederkehr des Gleichen befreien möchte. Zarathustra lehrt als Lehrer der ewigen Wiederkehr den Übermenschen.¹⁷⁷⁹

Die Relation zwischen diesen beiden Lehren wird von Heidegger unter Verwendung der für die ewige Wiederkehr emblematischen Kreisfigur beschrieben. In diesem Sinne verdeutlicht Heidegger, dass sich beide Gedanken wechselseitig bedingen, wodurch sich keine rangmäßige Priorität zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Übermenschen ausmachen lässt: Beide Lehren gehören in einem Kreis zusammen. Durch ihr Kreisen entspricht die Lehre dem, was ist, dem Kreis, der als ewige Wiederkehr des Gleichen das Sein des Seienden, d. h. das Bleibende im Werden ausmacht.¹⁷⁸⁰

Im Rekurs auf eine Nachlassnotiz, bringt Heidegger die Liebe als Gegenbegriff zur metaphysischen Racheherrschaft ins Spiel. Obzwar diese privilegierte Form der Liebe nach Nietzsche die Richtkraft der Gerechtigkeit einschließt, wird Heidegger sie in der Folge mit dem besitzergreifenden Wunsch nach Verewigung assoziieren.¹⁷⁸¹ Heidegger charakterisiert den Inhalt dieses Zitats als „Kehrreim“.¹⁷⁸² Der

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 116.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 117.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 118. Dabei ist zu bedenken, dass Heidegger das „Bleibende im Werden“ explizit als die ewige Wiederkehr selbst fasst.Wenn es nicht der Wille zur Macht ist, der sich im Wechsel durchhält, dann kann er auch nicht derjenige sein, der sich in ihm unaufhörlich seines Wesens vergewissert. In diesem Fall eröffnet sich die Perspektive, den Willen zur Macht als diejenige Instanz auszulegen, durch die sich der Übermensch zur Bejahung des Kreises emporschwingt, um den Machtwillen in der Einwilligung in das amor fati zurückzulassen und in den Bezug zum Sein einzutreten.  Diese in Heideggers Argumentationsrichtung zielende Vermutung kann durch eine Nachlassaufzeichnung Nietzsches bestätigt werden, die sich vom Stoizismus und vom memento mori Marc Aurels abgrenzt. Vgl. Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [94], S. 285: „Jener Kaiser hielt sich beständig die Vergänglichkeit aller Dinge vor, um sie nicht wichtig zu nehmen und zwischen ihnen ruhig zu bleiben. Mir scheint umgekehrt Alles viel zu viel werth zu sein, als daß es so flüchtig sein dürfte: ich suche nach einer Ewigkeit für Jegliches: dürfte man die

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Refrain befestigt sich als essentielles und strukturverleihendes Element der aus den Topoi des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr des Gleichen zusammengesetzten Lehre: Refrain: ‚Nur die Liebe soll richten‘ – (die schaffende Liebe, die sich selber über ihren Werken vergißt).¹⁷⁸³

Insgesamt ist bereits in diesem Stadium des Textes zu registrieren, dass Heidegger die – zum Zweck der (Selbst‐) Erlösung des Willens von dem habitualisierten Widrigen notwendige – Bejahung der transitorischen Zeit nicht als vorbehaltlose Gelassenheit und als Gewährenlassen des Vergehens konzipiert. Das „Ja zur Zeit“ und ihre Rettung vor der Dispersion in das Nichtige besteht nach Heidegger nicht primär in der Änderung des eigenen Bewertungsstandpunktes. Anstatt das lebensweltliche Verhältnis zu der einerseits ruinösen und andererseits das Unverwechselbare und Einmalige schaffenden Zeit als solcher zu transformieren, geht der Wille umgekehrt dazu über, eine mutwillige Änderung des Wesens der Zeit zu initiieren. In diesem aktiven Eingriff wird das Vergehende in eine bleibende, d. h. ewige Verlaufsform eingepfercht. Diese äußert sich als Wiederhervorbringen des Gewesenen als des kommenden Gleichen. Im Vergleich zu seiner Exegese des Nietzsche-Wortes „Oh meine Seele, ich lehrte dich ‚Heute‘ sagen wie ‚Einst‘ und ‚Ehemals‘ und über alles Hier und Da und Dort deinen Reigen hinweg tanzen“¹⁷⁸⁴, hebt Heidegger hier zwar weniger auf die in der Lehre der ewigen Wiederkehr vermeintlich gewahrte Kontinuität gegenüber dem metaphysischen Begriffsverständnis der Ewigkeit als „ständiges Jetzt“¹⁷⁸⁵ ab. Stattdessen würdigt er das von

kostbarsten Salben und Weine ins Meer gießen – und mein Trost ist, daß Alles war war ewig ist – das Meer spült es wieder heraus.“ Die Vorsicht und der Respekt vor Nietzsches experimentellem Philosophieren fordern, diese Auffassung nicht als einzige Perspektive zu begreifen. In dem Kapitel I.7.4 dieser Arbeit wurde bereits eine Äußerung Nietzsches zitiert, die gerade das Kürzeste und Vergänglichste guthieß und es gegenüber dem Stabilen und Ruhenden privilegierte. In der Nachlassnotiz zu Marc Aurel klingt allerdings eine Versöhnung von Sein und Werden an, weil die gesuchte Ewigkeit der Dinge, die über die ewige Wiederkehr ihre Bestätigung findet, das freimütige Hinweggeben des Wertvollsten und Hochgeschätzten (das Gießen der „kostbarsten Salben und Weine ins Meer“) erlaubt. In dem Wissen, das sie wiederkehren werden, müssen die Dinge nicht über Gebühr festgehalten werden. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr könnte beide Intentionen und Bedürfnisse – dasjenige nach Verewigung und dasjenige nach Verflüssigung – vereinigen.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 117.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 117. Vgl. Nietzsche, NF-1884,25[493]  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 108. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Von der grossen Sehnsucht, KSA 4, S. 278.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 108.

1.10 Der Wille und die Zeit

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der ewigen Wiederkehr sekundierte Moment einer Ankunft, die sich im Medium des Vergehens ankündigt und bildet. Die Ankunft bleibt im Kommen und kommt im Vergehen. Daher ist es unausweichlich, dass jede scheinbar einmalige Gestaltwerdung auf eine unendliche Anzahl identischer Vorläufer verweist.¹⁷⁸⁶ Aufgrund dieses in der Wiederkehr waltenden Spiels des zwischen Hervorkommen und Verbergen oszillierenden Vergehens der Zeit wird es jedoch fraglich, inwiefern sie – wie es in der von Heidegger wenige Seiten zuvor gegebenen Auslegung der Konstellation von Einst, Ehemals und Heute geschieht – mit dem „steten Jetzt“¹⁷⁸⁷ parallelisiert werden kann. Das nunc stans ist durch eine sich veränderungslos durchhaltende Beständigkeit des Gleichen gekennzeichnet. Es verhindert die in der ewigen Wiederkehr ja gerade zugestandene Möglichkeit des vielfältigen Vergehens in das Vergangene und eines Wiederentstehens ebendieses Vergangenen in der Zukunft. Im steten Jetzt wird einzig die lückenlose Identität des Seienden in der bewegungslosen Gegenwart bewahrt. Deswegen bringt Heidegger den Ewigkeitsaspekt der Wiederkehr an dieser Stelle zunächst nur insofern ein, als die übergeordnete Gesetzmäßigkeit des zeitlich Seienden in ewiger Präsenz beharrt und demgemäß als das „Bleibende im Werden“¹⁷⁸⁸ markiert werden kann.¹⁷⁸⁹ Jedes Ereignis senkt sich aus der Zukunft in die Vergangenheit und wirft sich dergestalt selbst wieder und wieder nach vorne.

 Nietzsche sichert auf diese Weise die Bedeutsamkeit des Werdens: „Der Sinn des Werdens muß in jedem Augenblick erfüllt, erreicht, vollendet sein.“ Vgl. Nietzsche, NF November 1887– März 1888, KGW VIII, 2, 11 [82], S. 280.Vgl. auch Nietzsche, NF November 1882–Februar 1883, KGW VII, 1, 4 [76], S. 209: „Ich lehre euch die Erlösung vom ewigen Flusse: der Fluß fließt immer wieder in sich zurück, und immer wieder steigt ihr in den gleichen Fluss, als die Gleichen.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 108.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 118.  Es ist zu bedenken, dass sich Heideggers Intention in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? nicht darauf beschränkt, Nietzsche als ultimativen Repräsentanten in die metaphysische Formation des Rachegeistes einzubetten; etwa um die Inaugurierung eines anderen Anfangs für sein eigenes Denken zu reservieren. Ebenso zentral ist für Heidegger die kritische Stellungnahme zu einer unrechtmäßigen Vermengung der Ewigkeit mit der Zeitlichkeit des Menschen. Daher lässt sich Heideggers Vorwurf wie folgt exponieren und zusammenfassen: Nietzsche streicht das Absolute, um die Ewigkeit in den menschlichen Weltbezug hineinzuwenden. Die schutzlos gewordene Welt des Werdens wird in dieser Weise aber erstmals gänzlich und ausschließlich der Okkupationstendenz der Metaphysik ausgeliefert, ohne dass diese in der Person ihres letzten Denkers sich darin selbst erkennen könnte. Die Menschen werden zu einer Bestandsicherung herausgefordert, in der das Ewige zur Verlaufsform der Austauschbarkeit des Gleichen herabsinkt. Im Gegensatz dazu, untermauert Heidegger noch in seiner Vorlesung Einführung in die Metaphysik (1935) die Einschränkung der Zeitigung der Zeit auf das Dasein des Menschen. Auch in diesem Fall ist mit einem an Nietzsche geschulten Verdacht zu fragen, ob sich dahinter nicht eine Form der Rache, ein Widerwille gegen die Eigenständigkeit der Zeit verbirgt.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

1.10.8 Zu dem fundamentalen Bruch im Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? : Die „Protection“ des Werdens als Vollendung der präsenzontologischen Vereinnahmung Die überraschende, die Grundtendenzen der Nietzsche-Deutung der Jahre 1939/40 wiederbelebende Volte, die der Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra im Folgenden nimmt, wird von Heidegger durch die auch hier eine Schlüsselstellung besitzende Aufzeichnung Nr. 617 aus dem Werk Der Wille zur Macht eingeleitet. Dieses Werk wird von Heidegger 1953 als „aus dem Nachlaß Nietzsches zusammengestoppelt[e]“¹⁷⁹⁰ Sammlung charakterisiert. Hingegen bleibt Heideggers Einschätzung der Relevanz des Aphorismus Nr. 617 in den nahezu zwei Jahrzehnten seiner vertieften Auseinandersetzung mit Nietzsche (1936 – 1953) unverändert. Auch 1953 vertritt er die Auffassung, in dieser mit „Recapitulation“ überschriebenen Aufzeichnung sei die „Hauptsache seines [Nietzsches, J.K.] Denkens“¹⁷⁹¹ in einer „ungewöhnlichen Hellsicht“¹⁷⁹² verdichtet. In dem fundamentalen Bruch, der sich inmitten des Nietzsche-Aufsatzes von 1953 ereignet, spiegelt sich gewissermaßen brennglasartig der Übergang von der 1936/37 verfochtenen, Nietzsches antiplatonischen Grundimpetus würdigenden Auslegungslinie hin zu der von 1939 bis 1946 vorherrschenden Einordnung Nietzsches in das Gefüge der neuzeitlichen Subjektivität wider. Deshalb ist in einer detaillierten Analyse darauf zu achten, wie Heidegger den aus dem Jahre 1885 stammenden Aphorismus Nr. 617 im Zarathustra-Aufsatz versteht und in welcher Weise er die auserkorenen Haupttitel der Nietzscheschen Philosophie in diesem Kontext beschreibt. 1953 führt Heidegger allein den ersten Satz der Notiz an. Der in dieser Arbeit bereits mehrfach erwähnte Satz lautet: Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht. ¹⁷⁹³

Vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, GA 40, S. 90: „Aber streng genommen können wir nicht sagen: es gab eine Zeit, da der Mensch nicht war. Zu jeder Zeit war und ist der Mensch und wird sein, weil Zeit sich nur zeitigt, sofern der Mensch ist. Es gibt keine Zeit, da der Mensch nicht war, nicht weil der Mensch von Ewigkeit her und in alle Ewigkeit hin ist, sondern weil Zeit nicht Ewigkeit ist und Zeit sich je nur zu einer Zeit als menschlich-geschichtliches Dasein zeitigt.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 118.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119. Vgl. Nietzsche, NF Ende 1886–Frühjahr 1887, KGW VIII, 1, S. 320. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 617, S. 418.

1.10 Der Wille und die Zeit

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Wie oben bereits deutlich wurde, begreift Heidegger das Werden im Jahre 1953 – anders als in der Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis – weder als Grundvorgang des sich steigernden Willens noch als die wirkliche, auf Festmachung drängende Welt des Chaos. Obwohl er das Werden demgegenüber vorrangig in einem zeitlichen Sinne sowie als Leiden verursachende Vergänglichkeit fasst, fusioniert er das Bedeutungsgepräge dieses Begriffs nichtsdestotrotz mit dessen Position als metaphysischem Grundtitel.¹⁷⁹⁴ Dies erlaubt es ihm, bruchlos zu der seit 1939 immer wieder aufgerufenen Interpretationsfigur voranzuschreiten, der Wille zur Macht instrumentalisiere die ewige Wiederkehr, um sich innerhalb des ihm eignenden Werdens als Sein jedes einzelnen Seienden behaupten zu können. Zuvor hatte Heidegger den Eindruck erweckt, die Lehre der ihrerseits als Sein des Seienden nominierten ewigen Wiederkehr erlange (im Verbund mit der Lehre des Übermenschen) den ontologischen Status des nach der Erlösung von der Rache gebändigten und zum Affirmationsgaranten des Kreises herabgestuften Willens (zur Macht). In den unmittelbar an die zitierte Aufzeichnung Nr. 617 anschließenden, kommentierenden Überlegungen gesteht Heidegger dem Willen zur Macht indes eine herausragende Form der Herrschaft über die ewige Wiederkehr zu. Eine vergleichbare Tragweite der Souveränität konnte der Wille zur Macht zuletzt zu Beginn der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) sowie in dem entsprechenden, diesem Grundwort gewidmeten Kapitel des Textes Nietzsches Metaphysik (1941/42) prätendieren: Der höchste Wille zur Macht, d. h. das Lebendigste alles Lebens ist es, das Vergehen als ständiges Werden des Gleichen vorzustellen und es so ständig und beständig zu machen. Dieses Vorstellen ist ein Denken, das, wie Nietzsche in betonter Weise vermerkt, dem Seienden den Charakter seines Seins ‚aufprägt‘. Dieses Denken nimmt das Werden, zu dem ein ständiges Sichstoßen, das Leiden gehört, in seine Obhut, unter seine Protektion.¹⁷⁹⁵

Weil Heidegger Nietzsches Identifikation des Lebens im Ganzen mit dem Willen zur Macht nach wie vor zugrunde legt, ist es folgerichtig, dass er den in Nr. 617 genannten „höchsten“ Willen zur Macht in einer parallelen Konstruktion mit dem in superlativischer Reinform auftretenden Leben gleichsetzt. Heidegger apostrophiert den Willen zur Macht als das „Lebendigste alles Lebens“.¹⁷⁹⁶ Das „Ja zur Zeit“, das Heidegger zuvor noch als Befreiung vom Geist der (die Zeit zugunsten der Hochschätzung der übersinnlichen Ewigkeit diskreditierenden) Rache begrüßt hatte, schlägt nun selbst in die verewigende Beständigung des Vergehens

 Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 118.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

um. Wichtig ist, dass Heidegger mit dem Terminus „Vergehen“ nicht nur auf einzelne Geschehnisse innerhalb der Zeit und ihrer Wesensform des „Es war“ abzielt. Heidegger will das Vergehen aber auch nicht in dem banalen Sinne verstanden wissen, wonach zum Leben die Vergänglichkeit gehört, die deswegen als solche bleibt, als lebensimmanente „ständig und beständig“ ist und immer dann wird (d. h. aus der Latenz entborgen wird), wenn etwas Seiendes in das Abwesende übertritt. Vielmehr prägt der Wille zur Macht nach Heidegger das Vergehen als solches im Medium der ewigen Wiederkehr in ein immer schon und stets zukünftig bleibendes um. Der Wille zur Macht wandelt das Vergehen in diesem Sinne zu einem ständigen, da niemals aufzuhebenden Werden seiner selbst um. Der Wille zur Macht geht über die jeweilige Anwesenheit hinweg, um sie (und sich) als Gleiche(n) wieder zu empfangen. Wie schon in der (nicht gehaltenen) Vorlesung Nietzsches Metaphysik enthüllt sich die ewige Wiederkehr als aus dem Leben generierter Gedanken. Das Leben bezeugt den größtmöglichen Machtgewinn über sich selbst, indem es sein Proprium – die Vergänglichkeit – für die eigene Erhaltungslogik fruchtbar macht. Heidegger war Nietzsche zunächst darin gefolgt, den an der Zeit leidenden Willen als rächende Entität transparent zu machen, welche die gesamte Metaphysikgeschichte durchzieht. Mit Nietzsche hatte er dargelegt, dass die ewige Wiederkehr als rettender Gedanke zu qualifizieren ist, insofern sie den Willen in seiner aversiven Auflehnung gegen die Zeit besänftigt. Gerade deswegen hätte sich die hierarchieumkehrende Deutungsoption angeboten, dass es die ewige Wiederkehr ist, die den Willen zur Macht nach und aufgrund der durch sie erwirkten Tilgung des Widerwillens zu beherrschen imstande ist und diesen in ihre „Obhut“ nimmt. Heidegger schlägt hingegen einen diametral entgegengesetzten Weg ein. Er belässt es in dem soeben diskutierten Textstadium nicht mehr nur dabei, das Denken der ewigen Wiederkehr als Mittel zu desavouieren, das dem Willen zur Macht zur Aufhebung seines immanenten Gegenantriebes verhelfen soll. Insgesamt wird nämlich deutlich, dass Heidegger die Erlösung von dem Leiden am Vergehen (beziehungsweise von dem aus diesem Leiden erwachsenden Geist der Rache) als Zwischenstufe begreift. In der Vorstellung des Seienden in der Gestalt der ewigen Wiederkehr wird nach Heidegger nur vordergründig das vielversprechende und aussichtsreiche Ziel verfolgt, in metaphysikkritischer Wendung die bislang verdrängte Zeit und das Vergehen zu bejahen. Gemäß dieser Lesart würde Nietzsche das ewigkeitserstrebende Sein des Seienden von seinem Unterwerfungsdrang befreien, um es in der Zeit heimisch werden zu lassen. In Wahrheit – so Heideggers wesentliche These – drückt sich in der (für den Willen scheinbar unvergleichlich mühsamen und herausfordernden) Anerkennung der ewigen Wiederkehr und der damit verbundenen Verabschiedung des Widerwillens nichts anderes aus als der Urimpuls des Lebens, sich selbst in ewiger Ver-

1.10 Der Wille und die Zeit

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änderungsresistenz zu wollen. Um dies zu erreichen, ermächtigt sich das Leben dazu, die pfeilartig verlaufende Zeit zum Kreis zu biegen. In Was heisst Denken? erläutert Heidegger diesen Sachverhalt dezidiert in dem Gesichtskreis der Metaphysik des Willens, der sich in der Verfügung über die ewige Wiederkehr selbst begründet. Deutlicher als in Wer ist Nietzsches Zarathustra? hebt Heidegger dort hervor, dass die Befreiung von der metaphysischen Diskreditierung des Zeitlichen nur eine Begleiterscheinung und Vorbedingung des wahren Hintersinns der Erlösung von der Rache darstellt. Diese Erlösung vom Widerwillen soll die Suprematie des Willens als „Ursein alles Seienden“ garantieren: Der Wille ist erlöst vom Widerwillen, wenn er die ständige Wiederkehr des Gleichen will. So will der Wille die Ewigkeit des Gewollten. Der Wille will die Ewigkeit seiner selbst. Wille ist Ursein. Das höchste Produkt des Urseins ist die Ewigkeit. Das Ursein des Seienden ist der Wille als das ewig wiederkehrende Wollen der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die ewige Wiederkehr des Gleichen ist der höchste Triumph der Metaphysik des Willens, der ewig sein Wollen selbst will. Die Erlösung von der Rache ist der Übergang vom Widerwillen des Willens gegen die Zeit und ihr ‚Es war‘ zum Willen, der ewig die Wiederkehr des Gleichen will und in diesem Wollen sich selbst als den Grund seiner selbst. Die Erlösung von der Rache ist der Übergang zum Ursein alles Seienden.¹⁷⁹⁷

Im Gegensatz zu einer Hauptthese der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 repräsentiert die ewige Wiederkehr nicht die authentische, ungetrübte, ateleologische Seinsweise des Chaos. Stattdessen wird sie dem Werden von außen aufgestülpt. Die ewige Wiederkehr wird dem Werden in der Gestalt einer zu erfüllenden Vorstellung aufgezwungen, die sich das „Lebendigste alles Lebens“ über sich selbst gebildet hat. Hier wirkt eindeutig Heideggers (in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis vertiefte) Herausarbeitung des für die Lebensperpetuierung unumgänglichen Schematismus nach. Das Denken verwendet die sich „empirisch weder beweisen noch widerlegen“¹⁷⁹⁸ lassende Auslegungsfolie der ewigen Wiederkehr, um dem Seienden unverwechselbar-wiedererkennbare Charakteristika zu verleihen und sich selbst zu orientieren. Erneut ist hinsichtlich der „Protektion“ die Zwiespältigkeit zu bedenken, dass die Protektion einerseits mit der Bedeutung des Schutzes koinzidiert. Das Werden wird als solches gerettet, weil es nicht mehr an dem Maßstab eines ewigen Seins gemessen wird. Andererseits entspricht die Protektion dem Sachgehalt der einhegenden Unterwerfung. Das Werden wird in seinen Gestalten berechenbar und formbar gemacht. Dadurch wird das Werden als Rezeptakel für den sich in es eintragenden Grundcharakter des Seins des Seienden zugänglich. Darauf aufbauend, wirft Heidegger die für den  Heidegger, Was heisst Denken?, S. 43.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 118.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

gesamten Aufsatz und die abschließende Bewertung der Befreiung von der Rachsucht fundamentale Frage auf: Ist durch dieses Denken das bisherige Nachdenken, ist der Geist der Rache überwunden? Oder verbirgt sich in diesem Aufprägen, das alles Werden in die Obhut der ewigen Wiederkehr des Gleichen nimmt, nicht doch und auch noch ein Widerwille gegen das bloße Vergehen und somit ein höchst vergeistigter Geist der Rache? Sobald wir diese Frage stellen, macht sich der Anschein breit, als versuchten wir, Nietzsche dasjenige als sein Eigenstes vorzurechnen, was er gerade überwinden will, als hegten wir die Meinung, durch eine solche Rechnung sei das Denken dieses Denkers widerlegt.¹⁷⁹⁹

Heideggers Auffassung, der tradierte, metaphysische Widerwille gegen das Vergehen werde in der ewigen Wiederkehr des Gleichen sublimiert, kann auch auf die paradoxal-tragische Beschaffenheit der Lehre zurückgeführt werden. Sie muss das einzelne Vergängliche in dem Moment, in dem sie es – im Gegensatz zur an der Zeit verübten Rache des bisherigen, „besten Nachdenkens“– sein lässt, immer schon in seiner Singularität dementieren und es als solches aufheben. In der Folge möchte Heidegger zum einen den sich selbst vorgelegten Einwand konterkarieren, die Dechiffrierung der Aufprägung des Seinscharakters auf das Werden als einer sich subtil verbergenden und dergestalt „höchst vergeistigten Rache“ sei von der Motivation des pedantischen Widerlegenwollens getragen. Zum anderen sucht er das Argument zu untermauern, dass die Lehre der ewigen Wiederkehr aus einer ursprünglichen Rettungsabsicht und Protektion heraus die kontrollierende Einhegung des Werdens vollziehe und sich auf diese Weise an diesem räche. In einer vermeintlich autobiographischen Aussage Nietzsches, die sich in einem Entwurf zur Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft findet, entdeckt Heidegger den Gedanken einer potenzierten „Rache am Leben“. Die Rache erwächst daraus, dass ein „Schwer-Leidender das Leben unter seine Protection nimmt“¹⁸⁰⁰: Ein durch Kriege und Siege gekräftigter Geist, dem die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar, zum Bedürfnis geworden ist; eine Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne; eine Art sublimer Bosheit und

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 119. Günter Abel weist darauf hin, dass sich der Gedanke der ewigen Wiederkehr aus dem Zusammenhang von Schuld und Rache herauswindet, indem er die Bedingung für die Okkupation der Zeit in diese selbst einschreibt und somit aus ihr entspringen lässt. Auf diese Weise vergeht nichts mehr „weil es wohl wert ist zu vergehen, sondern um wiederkehren zu können.“ Vgl. Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, S. 345.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 120. Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[164].

1.10 Der Wille und die Zeit

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letzten Muthwillens der Rache, – denn es ist Rache darin, Rache am Leben selbst, wenn ein Schwer-Leidender das Leben unter seine Protection nimmt. ¹⁸⁰¹

Es ist zu erkennen, dass Heidegger das von Nietzsche pro domo Ausgesagte auf den Willen zur Macht überträgt. Dieser vermag als ein an der entschwindenden Natur alles Seienden Schwer-Leidender kein unschuldiges Spiel des unwiederbringliche Verluste zeitigenden Werdens zu bejahen. Deswegen lässt der Wille das Vergehende in einer „Art sublimer Bosheit“ immer wieder zu sich zurückkehren, um seiner selbst habhaft werden zu können. Als ein möglicher zweiter Kritikpunkt Heideggers ließe sich der folgende Gedanke imaginieren: Mit der Lehre der ewigen Wiederkehr möchte Nietzsche die theoretische und praktische Welterfassung nach Maßgabe einer festgefügten Kausalität überwinden. Doch gerade durch diese Lehre gelingt es der Metaphysik, die bislang noch in eine Linearität zerfallende Herrschaftsausübung über die verfließende Zeit zu vervollkommnen und in jedem Augenblick zu zementieren.¹⁸⁰² Bislang musste die Metaphysik – so ließe sich diese Kritik weiterführen – in ihrer Rache an der Zeit eine entgegengesetzte, ewige Welt entwerfen. Nur so ließ sich die alles auflösende Vergänglichkeit in

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 120. Vgl. Nietzsche, NF-1885,2[164]. Im Ausgang von diesem Zitat zur „Protection“ gelangt Harald Seubert zu der folgenden Einschätzung: „Von hier her erschließt sich jedoch ein anderes Verständnis der Grenze von Nietzsches Denkweg als in früheren Auslegungen Heideggers. Die Selbstgesetzgebung wird zur Einkehr in die Endlichkeit, nicht zum hybriden Ausgriff. Deshalb spürt Heidegger Nietzsches Denken einen Gestus der Gelassenheit ab, den er früher nicht gewahrte“ (Harald Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 120). Diesbezüglich ist anzumerken, dass Seubert die beiden konfligierenden Grundtendenzen des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? luzide klassifiziert, wenn er der „Einkehr in die Endlichkeit“ den „hybriden Ausgriff“ gegenüberstellt. Anders als Seubert suggeriert, wird der hybride Ausgriff jedoch keineswegs ausgeschlossen. Vielmehr geht Heidegger nach der Bezugnahme auf Nietzsches Eingeständnis einer „Rache am Leben selbst“ direkt dazu über, ebenjene hybride Transformation der Endlichkeit in eine wiederkehrende Gleichheit zu veranschaulichen.  Nietzsches Denken verweigert sich auch hier einer eindeutigen Zuordnung. Er unterläuft die in der ewigen Wiederkehr besiegelte Verkehrung des „Es war“ in ein „so wird es sein“, das mit der Selbsterschließung einer auch in Zukunft nicht abweichenden Willensprägung des „so werde ich es wieder wollen“ harmonieren soll. Nietzsche nobilitiert ein freischwebendes Zufallsgeschehen. Dieses entzieht sich einer Entwicklungsvorgabe, die aus dem vermeintlichen Ursprung gewonnen wird. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, S. 209: „Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ‚über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.‘ ‚Von Ohngefähr‘ – das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke.“

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

ihrer sich aufdrängenden Alternativlosigkeit gehaltvoll leugnen. Obwohl die Metaphysik das Vergehen als einen allein im Bereich des täuschenden Scheins situierten Vorgang disqualifizierte, ließ sie der Zeit dennoch ein gewisses Eigenrecht. Die Metaphysik wies der Sukzessionszeit eine klar umrissene Geltungssphäre zu, welche die Ewigkeit nicht tangierte. Durch die Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen wird es der sich vollendenden Metaphysik erlaubt, der „Ewigkeit“ den definitiven Triumph über die ekstatische Zeitlichkeit und die Endlichkeit zu verschaffen. Indem die Ewigkeit nun direkt in die Zeit eingetragen wird, wird jeder einmalige Akt für immer bewahrt. Der Möglichkeitsoffenheit des Künftigen word irreversibel verschlossen. Das Postulat einer iterierenden Selbsteinholung annihiliert auch die Einzigartigkeit desjenigen Kairos, in dem sich die Gedankenerfahrung der ewigen Wiederkehr eröffnete. Dessen Unverwechselbarkeit war es jedoch, welche die Unerträglichkeit der ewigen Wiederkehr für Nietzsche aufwog und rechtfertigte.¹⁸⁰³ Nach Heidegger kehrt Nietzsche als ein am Leben Leidender das empfundene Hierarchieverhältnis um. In einer Reaktion des Trotzes habe Nietzsche das herausfordernde, ihn gewaltsam unterwerfende und quälende Leben als bejahenswert umkodiert. Zugleich habe sich Nietzsche zu einem überlegenen Schutzpatron der Wirklichkeit aufgeschwungen. Bestärkt durch dieses vermeintliche Selbsteingeständnis Nietzsches, fügt Heidegger in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? die letzten beiden Interpretationsschritte an. Mit diesen wird Nietzsches Denken 1953 endgültig in der Metaphysik verankert. Es wird als unüberbietbarer Abschluss ihrer auf Präsenz und die Negation der Zeit dringenden Tendenz (diese Beurteilung der Metaphysik wird im Grunde sowohl von Nietzsche als auch von Heidegger geteilt) klassifiziert. Nietzsche wird auf die schematische Umkehrung des Platonismus verpflichtet. Zuvor hatte Heidegger in der Form einer Frage noch einen vorsichtigen Zweifel artikuliert, inwieweit sich hinter der Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen ein „Widerwille gegen das bloße Vergehen“ verstecke. Diese Hypothese spitzt Heidegger nun zu einer apodiktischen und vermeintlich unumgänglichen Aussage zu: Was bleibt uns anderes, als zu sagen: Zarathustras Lehre bringt nicht die Erlösung von der Rache? Wir sagen es. Allein, wir sagen es keineswegs als vermeintliche Widerlegung der Philosophie Nietzsches. Wir sagen es nicht einmal als Einwand gegen Nietzsches Denken. Aber wir sagen es, um unseren Blick darauf zu wenden, daß und inwiefern auch Nietzsches Denken sich im Geist des bisherigen Nachdenkens bewegt. Ob dieser Geist des bisherigen

 Vgl. Nietzsche, NF November 1882–Februar 1883, KGW VII, 1, 5 [1], Nr. 205, S. 214: „Unsterblich ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunft zeugte. Um dieses Augenblickes willen ertrage ich die ewige Wiederkunft.“

1.10 Der Wille und die Zeit

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Denkens überhaupt in seinem maßgebenden Wesen getroffen ist, wenn er als Geist der Rache gedeutet wird, lassen wir offen. In jedem Falle ist das bisherige Denken Metaphysik, und Nietzsche Denken vollzieht vermutlich ihre Vollendung. Dadurch kommt in Nietzsches Denken etwas zum Vorschein, was dieses Denken selber nicht mehr zu denken vermag. Solches Zurückbleiben hinter dem Gedachten kennzeichnet das Schöpferische eines Denkens. Wo gar ein Denken die Metaphysik zur Vollendung bringt, zeigt es in einem ausnehmenden Sinne auf Ungedachtes, deutlich und verworren zugleich. Aber wo sind die Augen, dies zu sehen?¹⁸⁰⁴

1.10.9 Die nicht überwundene Zerklüftung der Metaphysik: „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ Dass Nietzsches Denken sich nicht nur „im Geist des bisherigen Nachdenkens bewegt“, sondern auch dessen „Vollendung“ grundiere, veranschaulicht Heidegger erstens durch das an die Auseinandersetzung mit der Umdrehung des Platonismus gemahnende Argument, Nietzsche verstricke sich in dem für die Metaphysik konstitutiven Unterschied (im „Sinne einer Zerklüftung“¹⁸⁰⁵). Zweitens forciert er die Position, Nietzsche habe das „wesenhaft Metaphysische seines Denkens auf die äußerste Form des Widerwillens gebracht“.¹⁸⁰⁶ (1) Heidegger hebt zunächst hervor, dass das metaphysische Denken seine Grundsicherheit aus dem „Unterschied zwischen dem, was wahrhaft ist, und dem, was, daran gemessen, das nicht wahrhaft Seiende ausmacht“¹⁸⁰⁷ empfange. Der „Gegensatz des Übersinnlichen zum Sinnlichen“¹⁸⁰⁸ enthüllt sich demnach als die in der abendländischen Ideengeschichte privilegierte Weise, diesen Unterschied zwischen dem wahren Seienden und dem scheinhaft Nichtseienden zu reformulieren, vorzustellen und auszufüllen. Bei einer vertieften Prüfung zeigt sich nach Heidegger allerdings, dass auch der ernstgenannte Unterschied zwischen Sein und Schein nicht hinreichend ist, um das „Wesen der Metaphysik“¹⁸⁰⁹ (d. h. ihren Ursprung und die Art ihres Fortganges) zu fassen. Vielmehr sieht Heidegger das Proprium der Metaphysik darin, dass „das Erste und Tragende“¹⁸¹⁰ in ihr eine allen derivierten Unterscheidungsarten vorausgehende „Zerklüftung“¹⁸¹¹ bildet. Heidegger benennt an dieser Stelle nicht, wie der Begriff der Zerklüftung zu ver       

Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 120. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 120. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

stehen ist, d. h. woran und wie sich ebenjene Zerklüftung vollzieht. Allerdings fand sich dazu in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und Der Wille zur Macht (1939) ein wertvoller Hinweis. Demnach habe Platon die Metaphysik initiiert, indem er die ursprünglich in der Physis gewahrte Einheit von Sein und Werden zertrennt habe. Die entspringende Zweiheit habe Platon alsdann auf dichotome Gegenwelten verteilt.¹⁸¹² Die Urzerklüftung generiert sich folglich in der Isolierung der Wesenselemente der Physis, während die Verteilung und die Hierarchisierung der beiden nunmehr unterschiedenen Pole als Folgen ostensibel werden. Bekanntlich hatte Heidegger in demselben Text mit Nachdruck unterstrichen, dass Nietzsche eine den Anfang restituierende Vereinigung von Sein und Werden nicht gelinge und er sich daher der von Platon vorgegebenen Tradition nicht habe entwinden können. In einer zu dem Verhältnis von Sein und Werden analogen Konstruktion ließe sich die Bestimmung der Zerklüftung im Rekurs auf den Inhalt des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra wie folgt ausweiten: In seiner Entschlüsselung des Wesens der Metaphysik als Geist der Rache legt Nietzsche die tradierte Zerklüftung von Ewigkeit und Zeit zugrunde. Der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen ist von der verdienstvollen Intention geleitet, die verschollene Einheit von Ewigkeit und Zeit wiederherzustellen. Doch wie Nietzsches Zusammenfügung von Sein und Werden nach Heidegger zugunsten des Seins (der Seiendheit) ausfällt, welches das Werden mit den eigenen Prädikaten überformt, so wird in Nietzsches Wiedervereinigungsversuch von Ewigkeit und Zeit der Supremat der Ewigkeit untermauert. Die Ewigkeit tritt am Ende der Metaphysik in einer Allianz mit der Anwesenheit und der Beständigkeit auf. Vor diesem Hintergrund kann Heidegger dafür plädieren, dass Nietzsche an den metaphysischen Urunterschied, d. h. an die Zerklüftung(en) der Physis sowie der Zeit, gebunden bleibe, obwohl Nietzsche – wie Heidegger in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst akribisch nachvollzogen hatte – den abgeleiteten Unterschied¹⁸¹³ zwischen Sein und Schein, Wahrheit und Irrtum aufhebt:  Vgl. Heidegger, N II, S. 11.  Heideggers Beibehaltung der Leitthese, wonach Nietzsche die für die Metaphysik charakteristische, 1953 in der Gestalt der Zerklüftung auftretende Unterscheidung nicht überwinde, unterschlägt Seubert, wenn er schreibt: „Heidegger erkennt in diesem letzten Stadium der Zwiesprache mit Nietzsche, dass dieser, indem er in seinem schwersten Gedanken dem Seienden die Bejahung selbst des Vergehens und der Vergeudung abringt, die metaphysische Unterscheidung zwischen wahrer Welt und Welt des Scheins hinter sich lässt“ (vgl. Seubert, Zwischen erstem und anderem Anfang, S. 223). Bezüglich dieser Beurteilung Seuberts ist zweierlei zu bemerken: Zum einen liegt die wesentliche Aussage und Pointe des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? gerade in dem Nachweis, dass die ewige Wiederkehr des Gleichen nur prima facie eine „Bejahung selbst des Vergehens und der Vergeudung“ erbringt, während sie in Wirklichkeit dafür einsteht,

1.10 Der Wille und die Zeit

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Sie [die Zerklüftung, J.K.] besteht auch dann fort, wenn die platonische Rangordnung zwischen dem Übersinnlichen und Sinnlichen umgekehrt und das Sinnliche wesentlicher und weiter in einem Sinne erfahren wird, den Nietzsche mit dem Namen Dionysos benennt. Denn die Überfülle, wonach die ‚große Sehnsucht‘ Zarathustras geht, ist die unerschöpfliche Beständigkeit des Werdens, als welche der Wille zur Macht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen sich selber will.¹⁸¹⁴

Es ist interessant, dass Heidegger Nietzsche im Jahre 1953 (wieder) auf die unausgereifte Variante der Umkehrung des Platonismus festlegt. In dieser Version wird das Ranggefüge invertiert, indem das Sinnliche und das Übersinnliche ihre jeweiligen Plätze vertauschen. Gleichwohl räumt Heidegger (wie in dem Abschnitt Die neue Auslegung der Sinnlichkeit aus der Vorlesung von 1936/37) ein, dass der Begriff des Sinnlichen in diesem Zuge einer Verwandlung unterzogen und „weiter und wesentlicher“ erfahren wird. Durch diese Transformation wird inmitten der Sinnlichkeit jedoch nicht (wie noch 1936/37) die Überfülle der Unbestimmtheit und der Perspektivenvielfalt freigegeben. 1953 handelt es sich um eine Überfülle, die allein der Perpetuierung des sich in der ewigen Wiederkehr einrichtenden Willens zur Macht dienstbar sein soll. Aus diesem Grunde ist die Überfülle unbedingt zu beständigen. Sie darf sich nicht in die Pluralität von schillernden Blickweisen ausdifferenzieren oder in die Reichhaltigkeit neukombinierter Gegensätze und Auslegungsmöglichkeiten zerfallen. (2) Heidegger möchte erhellen, warum sich Nietzsches Denken nicht einfach als ein Exempel unter vielen in die Metaphysik des Rachegeistes einreiht. Als „äußerste Form des Widerwillens“ repräsentiert Nietzsches Philosophem des Willens zur Macht nach Heidegger die tiefste und subtilste Rache am „Es war“.¹⁸¹⁵

nichts unwiederbringlich vergehen zu lassen und das Werden in seiner Freiheit und Kontingenz einzuhegen. Zum zweiten konzediert Heidegger Nietzsche die – 1953 eher in den Hintergrund rückende Auflösung der Sein-Schein-Dichotomie – bereits in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) und damit nicht in dem letzten, sondern bereits in dem ersten Stadium der „Zwiesprache mit Nietzsche“. Diese Aufhebung des Dualismus von Sein und Schein ist nach Heideggers Ansicht (spätestens ab der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis) jedoch weit davon entfernt, die Metaphysik als solche hinter sich zu lassen. Es ist für Heidegger ab 1939 entscheidend, dass die letzte Metaphysik mit ihrer Trias von Gerechtigkeit, Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr die lebensdienliche Bestandsicherung nur dann organisieren kann, wenn das jeweils Wahre aktiv fingiert werden kann.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121.  Dass dieser Bestandteil der 1953 vorgetragenen Interpretation nicht einfach als willkürliche Lesart Heideggers und als Überführung der Philosophie Nietzsches in einen dieser vollkommen zuwiderlaufenden Auffassungskreis abgetan werden kann, lässt sich durch ein Zitat Nietzsches bezeugen, in dem dieser die Unmöglichkeit eines Vergehenlassens des Entstandenen prononciert. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1058, S. 690: „Alles wird und kehrt ewig wieder, – ent-

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Diesbezüglich ist die bemerkenswerte Einführung des Dionysos im Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? zu berücksichtigen. Anders als in seiner Besprechung der dritten Mitteilung¹⁸¹⁶ der ewigen Wiederkunft in Jenseits von Gut und Böse versteht Heidegger Dionysos an dieser Stelle weder als äußersten, kommenden Gott noch als personale Bezeichnung für das (als Gegensatz des Apollinischen figurierende) Dionysische. Heideggers Herausstellung des Dionysos als Chiffre für die unerschöpfliche Fülle des Werdens erscheint noch nachvollziehbar und steht durchaus im Einklang mit Nietzsches Dionysos-Symbolik. Indes wirkt die Heideggersche Identifizierung des griechischen Gottes mit der durch den Willen zur Macht dirigierten, in ihrem Werden perennierenden Sinnlichkeit zunächst willkürlich. Diese Auslegung des Mythologems des Dionysos scheint auf die Intention zurückzugehen, noch den verheißungsvollsten und am wenigsten metaphysisch konnotierten Begriff Nietzsches in dem Verständnishorizont des sinnlos in sich kreisenden Willens zur Macht¹⁸¹⁷ zu verankern. Auf diese Weise soll „Dionysos“ offenkundig in das Narrativ der neuzeitlichen Subjektivität hineingedrängt werden.¹⁸¹⁸ Den textuellen Anhaltspunkt für die Postulierung eines maximierten und

schlüpfen ist nicht möglich!“ Vgl. Nietzsche, NF-1883,24[7]. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, dass Nietzsche auch eine vermeintlich konträre Positionierung zu den Folgen der Lehre der ewigen Wiederkehr vertritt, in welcher er die unberechenbare Unerschöpflichkeit des Werdens apostrophiert. Allerdings lässt Nietzsche dabei zugleich Heideggers Kritik wieder berechtigt erscheinen, indem er die Unverzichtbarkeit der Subjektivität und ihre konstitutive Rolle für die Weltgestaltung exponiert. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 1059, S. 691: „Mittel, ihn [den Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen, J.K.] zu ertragen: die Umwertung aller Werte: nicht mehr die Lust an der Gewißheit, sondern an der Ungewißheit; nicht mehr ‚Ursache und Wirkung‘, sondern das beständig Schöpferische; nicht mehr Wille der Erhaltung, sondern der Macht usw. nicht mehr die demütige Wendung ‚es ist alles nur subjektiv‘, sondern ‚es ist auch unser Werk!‘ seien wir stolz darauf!“ Vgl. Nietzsche, NF-1884,26[284].  Vgl. Heidegger, N I, S. 284– 290.  Trotz des 1953 kaum zu bestreitenden Vorranges des Willens zur Macht zeichnet sich auch hier eine doppelte zirkuläre Struktur im Verhältnis zur ewigen Wiederkehr ab: Der Wille benötigt die ewige Wiederkehr als Sedativum seiner Rache, wobei er sie zugleich instrumentalisiert, um die Zeit zum Kreis zu biegen. Andererseits kann sich die ewige Wiederkehr nur dann in ihrer dionysischen, die (platonisch-metaphysische) Rache überwindenden Fülle zeigen, wenn der Wille vorher das Werden unter Zuhilfenahme der ewigen Wiederkehr in markante Gestalten gezwungen hat.  Diesen Vorwurf hat Karl Löwith in ähnlicher Form bereits 1962 artikuliert. Vgl. Löwith, „Heideggers Vorlesungen über Nietzsche“, in: Karl Löwith, Sämtliche Schriften 8, Stuttgart 1984, S. 242– 257, hier S. 253: „Nietzsche nennt das Ganze des Seienden ‚Welt‘ und er spricht vom ‚Gesamtcharakter des Lebens‘, dessen schöpferische Lebendigkeit sich vor allem in der Zeugungskraft offenbart; der Gott, der dieses lebendige Ganze nennt, heißt Dionysos, von dem Heidegger nur sagt, daß auch er aus dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr gedacht werden müsse.“ Löwiths Text wurde erstmals veröffentlicht in: Merkur 16 [1962], S. 72– 83.

1.10 Der Wille und die Zeit

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mit dem Namen Dionysos verknüpften Widerwillens gegen das Vergehende (und somit auch gegen das künftig Entstehende) findet Heidegger in den letzten Zeilen der im Oktober 1888 verfassten Schrift Ecce homo. Dort schreibt Nietzsche: – Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten. ¹⁸¹⁹

Wenngleich Heidegger unkommentiert und offen lässt, weswegen die Opposition von Dionysos und Christus die äußerste Rache indiziert, gibt der Hergang des Aufsatzes genügend Hinweise an die Hand, um dieses Motiv zu verstehen. Zudem ist in diesem Kontext Heideggers Konkretisierung der Lehrergestalt Zarathustras aufschlussreich, der als „Fürsprecher des Dionysos“¹⁸²⁰ benannt wird. „Dionysos“ versinnbildlicht die Überfülle des Werdens. Zarathustra intendiert, den bisherigen, von der Missbilligung der Vergänglichkeit und der Intransigenz gegen das Irdische geleiteten Menschen mit Hilfe der Lehre der ewigen Wiederkehr zu befreien und ihn zum Übermenschen werden zu lassen. Der Übermensch vermag die Aufgabe der Erdherrschaft zu übernehmen, weil er es geschafft hat, sich durch die Bejahung des wiederkehrenden Vergehenden in ebenjener Überfülle einzurichten. Somit kann Heidegger „Dionysos“ als Fusionstitel für die Verschleifung und Zusammengehörigkeit der Lehren des Übermenschen und der für diesen (beziehungsweise für den Übergang von der rächenden Negation zur rückhaltlosen Affirmation des Verfließenden) konzipierten Lehre der ewigen Wiederkehr des Gleichen statuieren: Wer ist Nietzsches Zarathustra? Er ist der Fürsprecher des Dionysos. Das will sagen: Zarathustra ist der Lehrer, der in seiner Lehre vom Übermenschen und für diese die ewige Wiederkunft des Gleichen lehrt.¹⁸²¹

Es wird deutlich, dass Zarathustra als Fürsprecher des Dionysos (d.i. die Fülle des Werdens, die in der ewigen Wiederkehr gewährt und durch den sich als „Sinn der Erde“¹⁸²², begreifenden Übermenschen begrüßt und gesichert wird) gegen den

 Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 374. Vgl. zu diesem Motiv besonders: Andreas Urs Sommer, Nietzsche-Kommentar. „Der Antichrist“, „Ecce homo“, „Dionysos-Dithyramben“, Berlin / New York 2013, S. 636 ff.Vgl. auch Jörg Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten: Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte, Vol. 26, No. 2 (1974), S. 97– 124. Vgl. ferner Hans Gerald Hödl, Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Gegenentwurf zur christlichen Weltinterpretation, in: Religion in der globalen Moderne (2014), S. 161– 180.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121.  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Hinterweltlern, KSA 4, S. 38.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Gekreuzigten sprechen muss. Zarathustra muss sich gegen die platonischchristliche Weltauffassung positionieren, weil diese das „Es war“ der Zeit am Maßstab einer diesseitsentfremdeten Ewigkeit (in Gestalt der übersinnlichen Ideen beziehungsweise des paradiesischen Jenseits) misst. Da jedoch gerade diese in dem Namen des Dionysos verdichtete Fürsprache für das Werden, die für eine Erlösung von der Rache optiert, von Nietzsche durch die unwiderrufliche, absolute Eindrehung des Werdens in die Beständigkeit gelöst wird, entfaltet sich unter der Signatur des Dionysos die tiefste und subtilste Form der Rache. Dergestalt wird der „äußerste Widerwille“¹⁸²³ gegen die Zeit besiegelt, der sich – dieser Schluss erscheint folgerichtig – in den Handlungen und der Weltwahrnehmung des Übermenschen widerspiegelt und prolongiert. Hier hallt Heideggers Parallelisierung des Jüngerschen Arbeiters mit dem Übermenschen nach. Über die Klassifizierung der Philosophie Nietzsches als „äußerster Form des Widerwillens“ hinausgehend, öffnet Heidegger die von Zarathustra gelehrte Zusammengehörigkeit zwischen der ewigen Wiederkehr und dem Übermenschen am Ende des Aufsatzes. Heidegger erschließt einen verheißungsvollen Bezug zu seinem eigenen Denken des Seins: ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‘ ist der Name für das Sein des Seienden. Übermensch ist der Name für das Menschenwesen, das diesem Sein entspricht. Von woher gehören Sein und Menschenwesen zusammen? Wie gehören sie zusammen, wenn das Sein weder ein Gemächte des Menschen, noch der Mensch nur ein Sonderfall innerhalb des Seienden ist? Läßt sich die Zusammengehörigkeit von Sein und Menschenwesen überhaupt erörtern, solange das Denken am bisherigen Begriff des Menschen hängenbleibt? Darnach ist er das animal rationale, das vernünftige Tier.¹⁸²⁴

Dass Heidegger im Übermenschen das sich auf der Spitze der Moderne entscheidungsträchtig wandelnde Wesen des Menschen entdeckt, vermag kaum zu überraschen. Im Rückblick auf die in Heideggers Nietzsche-Deutung ab 1939 vorherrschenden Positionierungen der Wiederkunftslehre lässt sich in dem obigen Zitat eine überraschende Wendung wahrnehmen. Am Ende seiner publizierten Auseinandersetzung mit Nietzsche (dieses Ende fällt mit dem Schluss des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? zusammen) befreit Heidegger die als „rätselhaft“¹⁸²⁵ benannte ewige Wiederkehr aus der – nach der immanenten Zäsur des Aufsatzes als irreversibel erscheinenden – Unterordnung unter den am „Es war“ verzweifelnden Willen. Als „Name für das Sein des Seienden“¹⁸²⁶ reüssie   

Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 121. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 122. Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 118. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 122.

1.10 Der Wille und die Zeit

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rend, wird sie mit dem Übermenschen verknüpft. Soll dieser Bezug zugleich auf denjenigen von Seyn und Da-Sein vorausweisen, so gewinnt die Erschließung der ewigen Wiederkehr als Sein des Seienden das Potenzial, die metaphysisch grundierte Seiendheit hinter sich zu lassen. Heidegger eröffnet die Möglichkeit, Nietzsches Philosophie als eine wesentliche Auslotung des Verhältnisses von Sein und Mensch zu begreifen. Diese Konstellation könnte sich jenseits der Subjektivität des Willens zur Macht bewegen. In der den Aufsatz beschließenden Anmerkung über die ewige Wiederkehr des Gleichen kritisiert Heidegger zwei (die Wichtigkeit des Wiederkunftsgedanken verkennende und schmälernde) Interpretationen „dieses letzten Gedankens der abendländischen Metaphysik“¹⁸²⁷, die er als Eskapismen beurteilt und verwirft. Den Mystik-Vorwurf hatte Heidegger bereits 1936 abgelehnt. Die zweite Marginalisierungstendenz bekundet sich nach Heidegger in dem Einwand, der Lehre der ewigen Wiederkehr mangele es an Originalität. Dieser Bedeutungsabschwächung entgegnet Heidegger, dass die Vorrechnung von Einflussfaktoren und eklatanten Übereinstimmungen nur dann konstruktiv sein kann, wenn sie erhellend auf den ursprünglichen Gedanken zurückwirkt. In diesem Zusammenhang bleibt allerdings offen, ob Heidegger die von Nietzsche selbst inaugurierte Mutmaßung, bereits Heraklit könnte der Theorieurheber des Kreislaufes eines in sich zurückflutenden Werdens¹⁸²⁸ sein, tatsächlich für angemessen hält oder dies als Ansicht der Nietzsche-Kritiker referiert. Wenngleich Heraklit das periodische Changieren des Feuers zwischen Sättigung und Entbehrung¹⁸²⁹ kennt, geht die Ekpyrosis-Lehre des wiederkehrenden Weltenbrandes auf die Stoa zurück. Zudem ist die Konzeption des großen Jahres bei  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 123.  Vgl. Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 123 – 124: „Oder man sagt: dieser Gedanke ist schon uralt. Er läuft auf die längst bekannte zyklische Vorstellung vom Weltgeschehen hinaus. Sie läßt sich innerhalb der abendländischen Philosophie zuerst bei Heraklit nachweisen.“ Nietzsche selbst beruft sich demonstrativ auf Heraklits Autorität, den er (freilich in hypothetischer Brechung) als möglichen ersten Lehrer der ewigen Wiederkunft des Gleichen präsentiert. Vgl. Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 313: „Die Lehre von der ‚ewigen Wiederkunft‘, das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge – diese Lehre Zarathustra‘s könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein.“ Wenn man nach einer textuellen Grundlage für dieses Urteil Nietzsches sucht, könnten die Heraklit-Fragmente 103 und 60 einen Wink erteilen. Vgl. Heraklit, DK 22 B 103, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 267: „ξυνὸν γὰρ ἀρχὴ καὶ πέρας ἐπὶ κύκλου περιφερείας.“ Mansfeld und Primavesi übertragen das Fragment mit dem Satz: „Auf der Peripherie des Kreises fallen Anfang und Ende zusammen.“ Vgl. Heraklit, DK B 22 B 60: „ὁδὸς ἄνω κάτω μία καὶ ὡυτή.“ Dieses Fragment lässt sich wie folgt übersetzen: „Der Weg hinauf und hinab: ein und derselbe.“  Vgl. zu der Thematik eines ewigen Wandels im Weltgeschehen die frühe Heraklit-Auslegung Nietzsches: Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, S. 829 ff.

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1. Teil: Entwicklungsgeschichtliche Studie zu Heideggers Nietzsche-Rezeption

Empedokles deutlicher ausgeprägt.¹⁸³⁰ Der Diskreditierung als Orphismus und Mystik widersprechend, appliziert Heidegger die ewige Wiederkehr auf die moderne Technik und unterstreicht dergestalt ihre zeitdiagnostische Relevanz. Diese offenbart sich in lebensweltlicher Konkretion und in anschaulicher Vergleichsfülle. Dabei ist besonders der folgende Passus signifikant: Was ist das Wesen der modernen Kraftmaschine anderes als eine Ausformung der ewigen Wiederkehr des Gleichen? Aber das Wesen dieser Maschine ist weder etwas Maschinelles noch gar etwas Mechanisches. Ebensowenig läßt sich Nietzsches Gedanke von der ewigen Wiederkehr des Gleichen in einem mechanischen Sinne auslegen.¹⁸³¹

Es ist zu beachten, dass Heidegger das „Wesen der modernen Kraftmaschine“ selbst noch in einer tieferen Dimension gründet, aus der es die Möglichkeit seiner Konfiguration empfängt. In den vier Jahre vor dem Aufsatz angesiedelten Bremer Vorträgen von 1949 hatte Heidegger das Wesen der Technik als Ge-stell bestimmt, das – im Kern weder menschlicher noch technischer Provenienz – den Menschen zur Entbergung des Seienden herausfordert.¹⁸³² Dort hatte er allerdings nicht die These vertreten, das Ge-Stell entspringe der ewigen Wiederkehr des Gleichen oder sei deren Nachfolger. Heideggers Relationsstiftung zwischen der „Kraftmaschine“ und der ewigen Wiederkehr könnte eher dadurch erklärt werden, dass die Maschine rotierend kalkulierte Bewegungen bei größtmöglicher Energieeffizienz ausführt. Auf dieser Basis kristallisiert sich ein Ansatzpunkt der Verbindung heraus: Demnach spiegelt die Maschine für Heidegger mikrokosmisch wider, wie die ewige Wiederkehr als endgeschichtliche Seinsweise des Zeitalters der Moderne alles Seiende übergreifend in die monolithische Endlosigkeit des Immergleichen hievt. In den Schwarzen Heften spricht Heidegger in unmissverständlicher Deutlichkeit aus, dass die zum Bewegungsgesetz der Technik sowie der menschlichen Lebenswelt aufsteigende ewige Wiederkehr jedwede Suche nach einem Neuanfang, nach einer Befreiung aus der Tragik einer endlosen Drehbewegung zum Scheitern verurteilt:

 Vgl. Empedokles, Physika I, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 467: „Doch stets wenn der Streit angelangt ist bei den unüberschreitbaren Tiefen des Wirbels, und die Liebe sich im Zentrum des Strudels eingestellt hat, kommt in ihr all dies zusammen, um ein Einziges zu sein.“  Heidegger, Wer ist Nietzsches Zarathustra?, S. 124.  Vgl. Heidegger, Die Technik und die Kehre, S. 31– 32: „Als dieses Geschick läßt das Wesende der Technik den Menschen in Solches ein, was er von sich aus weder erfinden, noch gar machen kann; denn so etwas wie einen Menschen, der einzig von sich aus nur Mensch ist, gibt es nicht.“

1.10 Der Wille und die Zeit

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Die Entschiedenheit zur völligen Entscheidungsunmöglichkeit liegt in der Lehre von der ewigen Wiederkehr; deshalb ist sie das Endhafteste im Ende der abendländischen Metaphysik – das letzte Metaphysische, was im Abendland gedacht werden konnte und mußte – der Gedanke aller Gedanken Nietzsches…¹⁸³³

 Heidegger, Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939 – 1941), GA 96, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 2014, S. 14. Vgl. zu der Verbindung zwischen der Vollendung der Subjektivität und der technischen Iterationsbewegung: Harald Seubert, Nietzsche, Heidegger und das Ende der Metaphysik, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, Freiburg / München 2005, S. 297– 321, bes. S. 316 – 317.

2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs in den Schelling-Vorlesungen von 1936 und 1941 2.0 Zur Gliederung des 2. Teils Während der 1. Teil dieser Arbeit einer entwicklungsgeschichtlichen Methodik folgt, rückt im zweiten, der Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling gewidmeten Teil eine systematische Darlegungsabsicht und Themenwahl in das Zentrum der Überlegungen. Aus diesem Grund zielt der 2. Teil primär nicht darauf ab, die Bewertungsverschiebungen und Akzentverlagerungen in Heideggers Schelling-Rezeption zu entfalten. Vielmehr soll demonstriert werden, in welcher Weise Heidegger den Willen zwischen 1936 und 1941 zum Hermeneutikum der Neuzeit aufrichtet. Dies soll im zweiten Kapitel (2.1.2: Der Begriff der Ontotheologie: Zum Verhältnis zwischen dem Seienden im Ganzen und dem Seienden als solchem in der Schelling-Vorlesung von 1936) des Abschnittes zur ersten Schelling-Vorlesung anhand der von Seiten Heideggers 1936 entwickelten, ontotheologischen Unterscheidung zwischen dem Seienden als solchem und dem Seiendem im Ganzen veranschaulicht werden. Diese Distinktion lässt sich mit der Verhältnisbestimmung des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr des Gleichen in einen Zusammenhang setzen. Daraufhin wird – ebenfalls im Rekurs auf die SchellingVorlesung von 1936 – im dritten Kapitel (2.1.3: Ontotheologie und System im Hinblick auf das Zwiegespräch mit Nietzsche) Heideggers Beurteilung der Bedeutung der Systemfrage bei Schelling und Nietzsche dargelegt. Im vierten Kapitel (2.1.4: Die Hinführung zum Diktum „Wollen ist Urseyn“: Der formelle Freiheitsbegriff des Idealismus) wird Heideggers Parallelisierung des Wollens mit dem als unzureichend titulierten, formellen Freiheitsbegriff des Idealismus erörtert. Im fünften und letzten Kapitel (2.1.5: Die Seynsfuge als Erfordernis einer Metaphysik des Bösen) des ersten Abschnittes soll die Einführung der Seynsfuge – d.i. Heideggers Terminus für die Unterscheidung des Wesens in Grund und Existierendes – im Hinblick auf das nach Schelling in dieser Figuration implizierte, adäquate Verständnis des menschlichen Freiheitsvollzuges besprochen werden. Anders als in der Vorlesung aus dem Jahre 1936, in der die Themen der Freiheit, des Systems und der Metaphysik des Bösen zentral sind, konzentriert sich Heidegger 1941 nahezu ausschließlich auf die Motive des Willens und der Unterscheidung. 1936 begleitet Heidegger den Grundtext der Freiheitsschrift

https://doi.org/10.1515/9783110694253-004

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kommentierend und schenkt der Einleitung ¹ des Werkes mitsamt der Frage nach der Möglichkeit eines Systems der Freiheit eine besondere Aufmerksamkeit. Die methodische Verfahrungsweise und die inhaltliche Schwerpunktsetzung wandelt sich 1941 eklatant, insofern zum einen die Wesensbestimmung des Seins als Wollen in mannigfaltigen Ansätzen umkreist wird. Zum anderen beschränken sich Heideggers Darlegungen zumeist auf punktuelle Verweise, knappe Stichworte, dichte Zusammenfassungen und zugespitzte Thesen. Nichtsdestotrotz gewährt die Schelling-Vorlesung von 1941 wie kaum ein anderer Text Heideggers einen reichhaltigen Einblick in dessen eklektische, die Theorien von Leibniz, Schelling, Hegel und Nietzsche verbindende Systematisierung des Willens. Diese tritt mit dem Anspruch der philosophischen Neuzeitabrundung auf. Zudem wartet die Vorlesung von 1941 mit einer immensen Fülle von Definitionen, Synthesebildungen und Bezugsstiftungen zwischen den einzelnen Willensgestalten auf. In einem ersten Schritt gilt es zu Beginn des zweiten Abschnittes des 2. Teils (in dem Kapitel 2.2.1: Die Verdopplung der Subjektivität: Zu Heideggers geschichtlicher Rekonstruktion der Begriffe „Existenz“ und „Grund“) nachzuzeichnen, wie Heidegger die beiden Pole der Unterscheidung – den Grund und die Existenz / das Existierende – in der Begriffsgeschichtlichen Erörterung aus der Fragestellung nach der menschlichen Freiheit herausdreht. Dadurch verschwindet auch die Problematik der Versöhnbarkeit des notwendigen Werdens der Dinge in Gott mit der prätendierten Unabhängigkeit des einzelnen Seienden. Heidegger sucht beide Elemente aus der (sowohl durch die Reflexivität als durch auch das Vermögen der Selbstbegründung gekennzeichneten) Subjektivität zu erschließen. Im Hinblick auf den Aufbau des willensmetaphysischen Narrativs ist Heideggers Rezeption des berühmten Diktums „Wollen ist Urseyn“² von grundlegender Relevanz, weil Schellings Formel – anders als 1936 – nicht mehr als Indikator für die Selbständigkeit eines Seienden im eigenen Wesensgesetz begriffen wird. 1941 wird sie als Belegdokument für die Aufgipfelung des Willens zur quasigöttlichen Entität etabliert, in der sich die gesamte Zielrichtung der Metaphysik bündle und der geschichtliche Vorgang der Seinsvergessenheit widerspiegele.

 Die hermeneutische und problemorientierte Sorgfalt, die sich in Heideggers detailgetreuem Nachvollzug der Einleitung bezeugt, würdigt beispielswiese Hans Michael Baumgartner in seiner Übersicht zur Einleitung der Freiheitsschrift. Vgl. Hans Michael Baumgartner, Zur Einleitung: Übersicht, Aufbau und Problemanzeigen (336 – 350), in: Otfried Höffe / Annemarie Pieper (Hrsg.), F. W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, [= Klassiker auslegen, Bd. 3], Berlin 1995, S. 35 – 53, S. 50: „Eine Interpretation von Schellings Einleitung zur Freiheitsschrift kann die bisher beste Darstellung und gründlichste Interpretation des Werkes insgesamt nicht übergehen; diese stammt von Martin Heidegger.“  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Akzentuiert Heidegger schon in der Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) den neuzeitvollendenden Charakter des Willens zur Macht, so erhält diese These in der Schelling-Vorlesung von 1941 ihre rückwirkende, metaphysische Rechtfertigung. Heidegger möchte veranschaulichen, weswegen die Performativität des Willens dazu disponiert ist, die von Schelling aufgezählten Wesensprädikate des Urseins – die Grundlosigkeit, die Ewigkeit, die Unabhängigkeit von der Zeit und die Selbstbejahung – in sich aufzunehmen und sich zugleich durch diese zu konstituieren. Heideggers Auslegung der Wesensprädikate wird im zweiten Kapitel (2.2.2: Die Fundierung des Seins als Wille: Die Vereinigung der metaphysischen Wesensprädikate im Willen) diskutiert. Dass Schellings Exposition der Seinsprädikate einen bis in die 1950er-Jahre hineinreichenden Rückstrahlungseffekt auf Heideggers Nietzsche-Deutung besitzt, konnte im Rahmen der entwicklungsgeschichtlichen Studie bereits anhand des Aufsatzes Wer ist Nietzsches Zarathustra? bekräftigt werden. Heidegger geht in dem Aufsatz gewissermaßen einen Schritt hinter Schellings thetische Prädikationen der Ewigkeit und der Unabhängigkeit von der Zeit zurück. Im Jahre 1953 entfaltet Heidegger, wie sich der Wille im Wollen der ewigen Wiederkehr verewigt, sich von der Gewalt des „Es war“ befreit und dergestalt seinen Widerwillen gegen die Sukzessionszeit aufhebt. Angesichts dieses Verbindungsstranges zwischen der Schellingschen Willensklassifikation und Heideggers später Auseinandersetzung mit Nietzsche ist in der Besprechung der Schelling-Vorlesung von 1941 der Nachweis zu erbringen, dass sich die Selbstbejahung des Willens maßgeblich auf die Unabhängigkeit von der Zeit sowie auf die Ausübung einer sich entsprechend durchhaltenden Verlaufsform stützt. Nachdem der Wille dergestalt eine inhaltliche Bestimmung als perennierendes Selbsterstreben und als sich in jedem Seienden als Grund setzendes und artikulierendes subjectum erfahren hat, kann im dritten Kapitel Heideggers Explikation des Willens als Wurzel der Unterscheidung in den Blick genommen werden. In diesem Zusammenhang ist darzulegen, dass der Wille in der Gestalt der Seiendheit seine Aufspaltung und damit die Möglichkeit der einheitserweisenden Zusammenfügung generiert, weil die Unterscheidung nach Heidegger die vorgängige, sich geschichtlich entfaltende Wesenskomponente des Seins bildet. Bereits in dem Kapitel 2.2.3: Der Wille als Wurzel der Unterscheidung soll der Wille der Liebe in seinem elementaren Status gewürdigt und analysiert werden. Der sowohl in der Freiheitsschrift als auch in den Weltaltern zentrale Wille der Liebe fungiert als Leitmotiv der Vorlesung Heideggers. Der Wille der Liebe wird als Kern der Schellingschen Willenstheorie benannt. Als Agens der Unterscheidung evoziert der Wille der Liebe das schöpfungsteleologische Zusammenwirken des sich verschließenden Willens des Grundes und des lichtenden Willens des Verstandes. Die hier zu vertretende These lautet, dass Heidegger den Willen der Liebe – trotz

2.0 Zur Gliederung des 2. Teils

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der vermeintlichen Selbstlosigkeit der Liebe, in der die Befähigung zum Geltenlassen der Alterität mit der Freigabe jedes Seienden in die ihm zugemessenen Möglichkeiten konvergiert – in das Zeitalter eines auf Weltbeherrschung abhebenden Voluntarismus einzugliedern vermag. Heidegger entschlüsselt den Willen der Liebe als Vollzugsorgan einer unwiderlegbaren Teleologie. Der Wille der Liebe konsolidiert sich als Bewegungsprinzip einer göttlichen, auf Überwindung des Bösen und Widerwendigen zielenden Eschatologie, der sich das endliche Individuum nicht zu widersetzen vermag. Es soll veranschaulicht werden, dass Heidegger in einer sensiblen Lektüre die verborgenen Schattenseiten des scheinbar rein positiven, uneigennützigen und gelassenen Willens der Liebe aufspürt, der sich prima facie in der Gewährleistung der Verbindung und Zuneigung zweier vormals Getrennter erschöpft. Als ein von Heidegger konstatierter, problematischer Aspekt des Willens der Liebe soll der in diesem waltende Selbstenthüllungs- und Universalisierungsdrang Gottes herausgearbeitet werden, der sich in seinem Gegensatz – dem Menschen – offenbar zu werden strebt. Deswegen treibt der göttliche Wille die stufenartige Verwirklichung des Schöpfungsgeschehens mit aller Kraft voran. Daran schließt sich als weitere Problemkomponente die Funktionalisierung des Willens des Grundes und die damit zusammenhängende, instrumentelle Evokation des Widerspruches und der Differenz an. So optiert Heidegger in einigen episodisch-knappen Aufzeichnungen, die über die gesamte Vorlesung verteilt sind, für die am Schellingschen Primärtext zweifelsohne validierbare Auffassung, dass das Wirkenlassen des Grundes in Wirklichkeit unter der Ägide einer Identitätsbildung des Sich-selbstWollens der Liebe steht. Diese will sich freilich nicht als dieser bestimmte Wille selbst, sondern als in der Natur und in der Geschichte geoffenbarte Güte Gottes. Der freigesetzte Antagonismus erweist sich dergestalt als Vehikel und Durchgangsstadium, das der sukzessiven Herbeiführung einer prädeterminierten Einheit und Ganzheit dient. Dass eine derartige, eschatologisch-willenszentrierte Lesart der Anfang und Ende übergreifenden, sich schrittweise vergeistigenden Liebe zwar plausibel, aber nicht alternativlos ist, soll in zwei methodischen Hinsichten transparent gemacht werden. Einerseits soll in der Immanenz der Vorlesung von 1941 selbst demonstriert werden, dass Heidegger die Liebe auch in dem soeben benannten, positiven Sinne als schenkenden Willen zur bedingungslosen Befreiung des Geliebten markiert. Heidegger verweigert sich der definiten Beantwortung der Frage, inwieweit die Liebe als reiner Verhältnisbegriff und als Band gänzlich in der Beziehung zwischen dem Geliebtem und dem Liebendem aufgeht oder ob sie – dies bezeichnet die kritische Perspektive – als dritte, eigenständige Entität den Nexus der zwei Elemente strukturiert und leitet. Um die konkreten Bestandteile der Heidegger-

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

schen Interpretation sowohl stützen als auch abgrenzend gewichten zu können, werden in den Fußnoten mögliche Belegstellen Schellings herangezogen. Andererseits sollen (wie schon im entwicklungsgeschichtlichen Teil zu Heideggers Nietzsche-Rezeption) auch solche Passagen aus den Originaltexten erwähnt und diskutiert werden, die bestimmten Beurteilungen Heideggers diametral entgegengesetzt sind. Diese Partien können dazu verhelfen, Schellings Freiheitsschrift der (freilich in sich zwiespältigen und uneinheitlichen) Zugriffsweise Heideggers partiell zu entziehen, ohne dessen nachvollziehbare und vielfach zutreffende Deutung als haltlose Vereinnahmung deklassieren zu müssen. Schellings Weltalter-Philosophie wird in dieser Kontextualisierung ein exzeptioneller Rang beigemessen. Heidegger selbst betrachtet die Weltalter zumeist unter Gesichtspunkten, die er der zur Gipfelhöhe des Schellingschen Gesamtwerkes sowie der abendländischen Metaphysik im Ganzen stilisierten Freiheitsschrift entlehnt.³ Signifikante und aussagekräftige Schelling-Zitate sollen in den Fußnoten kommentiert und auf den Gehalt der Interpretation Heideggers zurückbezogen werden. In den Weltaltern – so die leitende Ansicht – tritt die Ambiguität des Schellingschen Liebesbegriffes sichtbar zutage. In der Gestalt der ewigen Lauterkeit versteht Schelling die anfängliche Liebe im Sinne des plotinischen Einen als einen rein ausquellenden, wirkungslosen, überseienden und seligen, nichts wollenden Willen. Zugleich wird die Liebe jedoch auch als eine auf die Scheidung von dem (sich selbst erzeugenden) Willen zur Existenz abhebende, verzehrende Kraft gefasst, die den Ansporn und das Gesetz jeglicher Entwicklung

 Zu Heideggers Rezeption der Weltalter vgl. Philipp Höfele, ‚Scheidung von sich selbst‘ und ‚Ekstase‘. Zur Rezeption von Schellings ‚Weltaltern‘ bei Rosenzweig und Heidegger, in: Lore Hühn / Paul Ziche / Philipp Schwab (Hrsg.), Schelling-Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie, Bd. 3, Freiburg / München 2015, S. 51– 77. Im Rekurs auf die Protokolle des Schelling-Seminars von 1927 weist Höfele darauf hin, dass Heidegger den Weltalter-Abdruck im Band VIII der Sämtlichen Werke (1861) wahrscheinlich bereits 1927/28 (und damit in zeitlicher Simultaneität zu seiner ersten Lektüre der Freiheitsschrift) rezipierte. Eine Rezeption ab 1936 ist hingegen mit Sicherheit belegt, da Heidegger sich sowohl in der Vorlesung von 1936 als auch in derjenigen von 1941 wiederholt auf die Weltalter bezieht. Höfele gibt die folgenden Stellen an: Heidegger, GA 42, S. 166 u. S. 188; GA 49, S. 84 f., S. 88 u. S. 93 (vgl. Höfele, ‚Scheidung von sich selbst‘ und ‚Ekstase‘, S. 54, Anm. 10). Zudem zitiert Höfele aus einem am 21. Dezember 1943 verfassten Brief von Manfred Schröter an den Direktor der Preußischen Akademie der Wissenschaften, in welchem Schröter von dem vertraulich zu behandelnden Plan einer gemeinsamen Herausgabe der edierten Weltalter-Fragmente von 1811 und 1813 mit Heidegger berichtet. Dies legt nach Höfele den Schluss nahe, dass Heidegger die schließlich 1946 von Schröter herausgegebene Edition der Weltalter bereits 1943 gekannt haben könnte (vgl. Höfele, ‚Scheidung von sich selbst‘ und ‚Ekstase‘, S. 52). Die Weltalter werden in der Folge unter der Sigle WA nach ebendieser Ausgabe von Schröter zitiert: F. W. J. Schelling, Die Weltalter. Fragmente. In den Urfassungen von 1811 und 1813 hrsg. von Manfred Schröter, München 1946.

2.0 Zur Gliederung des 2. Teils

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repräsentiert. Wie in der Freiheitsschrift ist sie auf das Sich-empfindlich-werden und zudem auf die trinitarische Selbstexplikation Gottes ausgerichtet. Um die Vielschichtigkeit der Forschungsdebatten abbilden zu können, in denen ebenjene Zwiespältigkeit des Willens der Liebe zwischen der universalistisch-irreversibel fortschreitenden Verwirklichungsabsicht und der seinstranszendent-gelassenen Selbstzurückhaltung (und die Möglichkeit des genetischen Überganges zwischen den beiden Wesensformen) hellsichtig reflektiert wird, ist in diesem Zusammenhang eine verstärkte Bezugnahme auf die Sekundärliteratur erforderlich. Im vierten Kapitel des zweiten Abschnittes (2.2.4: Exkurs zum Schelling-Seminar von 1927/28: Heideggers Auslegung der Liebe als „Sinn des Seins“ sowie als „Wesen des Personseins“ und die Bedeutung der Ichheit) wird ein themenverwandter Exkurs eingeflochten, der die Spuren der subversiven und zunächst kontraintuitiv anmutenden Heideggerschen Interpretation der Liebe bis in das Marburger Schelling-Seminar aus dem Wintersemester 1927/28 zurückverfolgt. Neben den wenige Seiten umfassenden Seminarnotizen Heideggers ist ein Protokollheft überliefert, in dem drei dezidiert der Freiheitsschrift gewidmete Sitzungen (07.12.1927, Protokoll: W. Bohlsen; 21.12.1927, Protokoll: W. Friedrich; 11.01.1928, Protokoll: E. Krumsiek ⁴) versammelt sind. Die darauffolgenden Sitzungen wurden durch Referate von Heidegger-Schülern (u. a. Käte Oltmanns, Hans Jonas und Walter Bröcker) ausgefüllt. Angesichts der Darlegungsart der Protokolle optieren Philipp Schwab und Sebastian Schwenzfeuer, die Editoren des Seminars, für eine vorlesungsartige Anlage der Veranstaltung. Aus diesem Grunde können die Protokolle durchaus als originäre Quellen und als „Extemporalia des Seminarleiters“⁵ beurteilt werden. Im Rahmen des Exkurses ist es selbstverständlich nicht möglich, den gesamten Inhalt des Seminars zu rekapitulieren.⁶ In der Konzentration auf das Motiv der Liebe und die systematische Stellung des Ungrundes soll allerdings die bemerkenswerte Nähe zwischen dem Seminar von 1927 und der Vorlesung von 1941 ostensibel werden. So ist zu entfalten, dass Heidegger die Liebe bereits 1927 zum ersten als rangmäßig höchsten Begriff der Freiheitsschrift profiliert. Zum zweiten erfasst Heidegger die Liebe in einer ontologischen wie anthropologischen Sicht-

 Vgl. hierzu die Übersicht über den Gang, die Daten und die Referenten des Seminars, in: Lore Hühn / Jörg Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings ‚Freiheitsschrift‘ (1927/28) und die Akten des Internationalen Schelling-Tags 2006, Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, S. 279.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 309.  Vgl. dazu die sehr prägnante Zusammenfassung des Inhalts der einzelnen Sitzungen, in: Hühn/ Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 308 – 317.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

bahn als „Sinn des Seins“⁷ und als Wesen der Person. Zum dritten schließt Heidegger die Liebe mit den Topoi der Ichheit, der Reflexivität und dem Selbstwerden zusammen. Gerade der dritte Punkt ist angesichts der 1941 vollzogenen Einbettung der Liebe in das Gefüge der neuzeitlichen Subjektivität von wesentlicher Bedeutung. Der dritte Aspekt bezeugt die thematische, über die Vorlesung von 1936 hinausgreifende Kontinuität der 1927 und 1941 gegebenen Auslegungen Heideggers. Im fünften Kapitel (2.2.5: Heideggers willenszentrische Relektüre der Systemprätention Schellings) wird der einschneidende Wandel in Heideggers Beurteilung der Metaphysik des Bösen dokumentiert. Würdigte Heidegger 1936 noch das die bisherigen Systementwürfe der Philosophie herausfordernde Potenzial der Metaphysik des Bösen, wirft er Schelling 1941 eine Desavouierung des Bösen zum Mittel vor. Das Böse (und mit diesem die menschliche Freiheit) sei von Schelling nur deswegen gedacht und zur wesentlichen Fragestellung aufgestuft worden, um eine äußerste Zwietracht zu generieren, die der unbedingte, neuzeitlich-cartesische Vergewisserungswille im System bewältigen und zusammenfügen könne. Im sechsten wie im siebten Kapitel steht weiterhin der Vorlesungstext von 1941 im Vordergrund. In diesen Kapiteln wird die tiefschürfende Konturierung des Willens untersucht und Heideggers paradigmatische Verfahrungsweise freigelegt. Indem Heidegger die Vorstellung (2.2.6: Die Verfasstheit des Willens als immanente Selbstzerspaltung des Wider-willens und als sich offenbarendes Vor-stellen) und die Negativität (2.2.7: Negativität und Anerkennung: Zum Einbezug Hegelscher Motive in Heideggers Willensbegriff) zu den maßgeblichen Formen der Selbstvermittlung, Ausweitung und Bejahung des Willens erhebt, avanciert der Wille endgültig zum Subsummationsbegriff. In der mit Leibniz und Schopenhauer assoziierten Form der Vorstellung wird er sich seiner selbst bewusst. Mit Hilfe der Hegelschen Negativität entfaltet er sich in den Gegenwillen seiner selbst, um sich in einem ausdifferenzierten Selbstverhältnis wiederzuerlangen. In diesem Kontext ist Heideggers Gewichtung des willensimmanenten, strukturellen Wesenszuges einer systemischen Zirkularität zu beachten. Diese kann als Parallelkonstruktion zu der Indienstnahme der ewigen Wiederkehr durch den in sich kreisenden, sich über das Weltganze erstreckenden Willen zur Macht gelesen werden. Wie schon (bei Schelling) im Falle des Phänomens der Lauterkeit, sollen im siebten Kapitel in den Fußnoten Aufzeichnungen Hegels (besonders aus der Phänomenologie des Geistes) zitiert werden, um Heideggers Auseinandersetzung mit der Negativität verorten zu können. Insgesamt soll auf der Grundlage dieser beiden Kapitel der Nachweis erbracht werden, dass die generelle metaphysische Definition des

 Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 352.

2.0 Zur Gliederung des 2. Teils

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Willens als eines sich in ewiger Werdebewegtheit bejahenden Subjektes, die Heidegger mit Hilfe einer Adaption der Schellingschen Schematisierung der Seinsprädikate gewonnen hatte, durch die Integration von Schlüsselfiguren der neuzeitlichen Philosophie eine genuin geschichtliche und traditionsdestruierende Anreicherung erfährt. Das achte Kapitel des 2. Teils (2.2.8: Der Evidenzcharakter der Unterscheidung als aus der Selbstbejahung des Willens erwachsender Ausschluss des Nichts) nimmt einen bereits aus Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Begriff des Nihilismus vertrauten Einwand auf, den Heidegger 1941 in modifizierter Prägung gegen Schelling wendet. Im Hinblick auf Nietzsche kritisiert Heidegger, dass dieser in der Reduktion aller metaphysischen Theoreme auf verborgene Wertsetzungen des Willens zur Macht und in der dadurch erfolgenden Legitimation der unverzichtbar erscheinenden Generierung lebensbejahender Werte die Frage nach dem Wesen des Nichts ausgeblendet habe. In ähnlicher Weise wirft Heidegger auch Schelling eine Vergessenheit des Nichts vor, die in Schellings Fall aus der apodiktischen Voraussetzung eines mit Gott identifizierten Absoluten resultiere. Zum Abschluss des zweiten Teils dieser Arbeit erscheint es im neunten Kapitel (2.2.9: Der Wille der Liebe und der Wille zur Macht – zu Heideggers Synthese der willensmetaphysischen Ansätze Schellings und Nietzsches) immens lohnenswert, einen Blick auf Heideggers Verhältnisgewichtung zwischen dem Willen zur Macht und dem als unmittelbare Vorgestalt explizierten Willen der Liebe zu werfen. Es gilt, deren spezifische Arten der Selbstgewinnung- und Begründung, der lebensweltlichen Manifestation und der jeweils dominierenden Zielrichtung zu eruieren. Durch die Analyse der Beziehung der beiden Willensfigurationen wird es möglich, Heideggers Positionierung der beiden Denker zueinander und die innerhalb der seinsgeschichtlichen Einordnung stipulierten Unterschiede und Überschneidungen Schellings und Nietzsches klarer zu fassen. Daher ist es von maßgeblichem Interesse, in welcher Weise Heidegger 1941 Nietzsches Philosophem des Willens zur Macht als letztmöglichen Gegenentwurf und als Umkehrung des Urseins als Wille (der Liebe) akzentuiert, der als Vermittlungsinstanz zwischen dem Grund und dem Existierenden die Stellung des Ungrundes okkupiert.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens in der Schelling-Vorlesung von 1936 Schelling aber mußte – wenn das gesagt werden darf – am Werk scheitern, weil die Fragestellung bei dem damaligen Standort der Philosophie keinen inneren Mittelpunkt zuließ. Auch der einzige wesentliche Denker nach Schelling, Nietzsche, ist an seinem eigentlichen Werk, dem ‚Willen zur Macht‘, zerbrochen, und das aus dem gleichen Grunde. Aber dieses zweimalige große Scheitern größter Denker ist kein Versagen und nichts Negatives, im Gegenteil. Das ist das Anzeichen eines ganz Anderen, das Wetterleuchten eines neuen Anfangs. Wer den Grund dieses Scheiterns wahrhaft wüßte und wissend bewältigte, müßte zum Gründer des neuen Anfangs der abendländischen Philosophie werden.⁸

2.1.1 Zu den Erkenntniszielen der Vorlesung von 1936 und zu der denkerischen Verwandtschaft zwischen Heidegger und Schelling Im Jahre 1926 erhielt Heidegger ein Exemplar der Freiheitsschrift von Karl Jaspers.⁹ Im Wintersemester 1927/1928 gab er – noch in der Marburger Zeit – ein Seminar zu ebenjenem Werk.¹⁰ Das große Interesse Heideggers für die Freiheitsschrift schlägt sich jedoch besonders in zwei wegweisenden Vorlesungen nieder: 1936 trug Heidegger die Vorlesung Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809) vor. 1941 folgte die Vorlesung Die Metaphysik des deutschen Idealismus. Zur erneuten Auslegung von Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809). Der erste Abschnitt des 2. Teils dieser Arbeit dient vornehmlich der Vorbereitung des umfangreicheren und angesichts der gewählten Fragestellung wichtigeren zweiten Abschnittes. Dort soll Heideggers Profilierung des Willens in der (in dieser Hinsicht überaus ergiebigen) Schelling-Vorlesung von 1941 diskutiert werden. Insgesamt soll im vorliegenden 2. Teil der Untersuchung die Prämisse verfolgt werden, Heideggers Doppel-Rezeption Nietzsches und Schellings größtenteils in der Immanenz der Schelling-Vorlesungen in einem wechselseitigen Beleuchtungsverhältnis darzustellen. Um die ausführliche Auseinandersetzung

 Martin Heidegger, Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1809), GA 42, hrsg. von Ingrid Schüßler, Frankfurt a. M. 1988, S. 5. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit „GA 42“ abgekürzt.  Vgl. den dankenden Brief Heideggers an Karl Jaspers vom 24.04.1926, in: M. Heidegger / K. Jaspers, Briefwechsel 1920 – 1963, hrsg. von Walter Biemel / Hans Saner, Frankfurt a. M. 1990, S. 62.  Vgl. Lore Hühn / Jörg Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Die Protokolle von Martin Heideggers Seminar zu Schellings ‚Freiheitsschrift‘ (1927/28). Vgl. auch Heidegger, Seminare: Hegel-Schelling, GA 86, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a. M. 2011 [im Folgenden = GA 86].

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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mit Heideggers Systematisierung der neuzeitlichen Willensmetaphysik einzuleiten, soll in der Besprechung der Schelling-Vorlesung von 1936 besonders der philosophiegeschichtlichen Rekonstruktion der Entstehung des formellen Freiheitsbegriffes nachgegangen werden. Außerdem sollen die Bestimmung des Wollens als Urseyn und die Bedeutung der Seynsfuge thematisiert werden. Heidegger präsentiert zu Beginn seiner Schelling-Vorlesung des Jahres 1936 drei Erkenntnisziele: Erstens möchte er das Wesen der menschlichen Freiheit als „innerste Mitte der Philosophie“¹¹ ins Wissen heben. Zweitens intendiert er, ausgehend von der Erläuterung der Freiheitsfrage, ein Verständnis der Grundzüge der Schellingschen Philosophie. Drittens soll Schelling darauf aufbauend als der „eigentlich schöpferische und am weitesten ausgreifende Denker“¹² des deutschen Idealismus markiert werden. Nach Heidegger ist es Schelling, der den deutschen Idealismus „von innen her über seine eigene Grundstellung hinaustreibt“¹³, freilich ohne dabei an Hölderlins entwerfendes Stiften des anderen Anfanges heranzureichen. Im Rahmen dieses Abschnittes kann Heideggers Diskussion der Genese des neuzeitlichen Systembegriffs mitsamt seiner Beurteilung der Spinozismus-Kritik Schellings nicht hinreichend berücksichtigt werden.¹⁴ Ebenso wenig kann eine ausführliche Darstellung der Selbstoffenbarung Gottes im Menschen sowie die erschöpfende Explikation der wegweisenden Metaphysik des Bösen erfolgen. Eine solche Auseinandersetzung könnte aufgrund des begrenzten Umfanges nur eine kursorische Reproduktion des Textes erbringen. Ausgespart werden müssen zudem Heideggers Kommentare und Überlegungen zur Erläuterung der Seynsfuge im Hinblick auf Gott und auf die Dinge. Auch die immens komplexen Ausführungen zur metaphysischen Ableitung des Wesens des Menschen, zum Sicherblicken Gottes im dunklen Grunde und zur anagogischen Gestaltung des Bandes können nicht erörtert werden. Es ist vorausschickend anzumerken, dass sich die Konstellation HeideggerSchelling keineswegs in der einseitigen Relation des denkerischen Zugriffes Heideggers auf den Verfasser der Freiheitsschrift erschöpft. Vielmehr lassen sich bemerkenswerte thematische Überschneidungen zwischen beiden Denkern konstatieren. Eine markante Forschungsposition nimmt in diesem Zusammenhang Günther Anders ein. Durchaus polemisch wirft er Heidegger selbst eine Vergessenheit der ontologischen Differenz vor. Heidegger lasse unberücksichtigt, dass

 Heidegger, GA 42, S. 6.  Heidegger, GA 42, S. 6.  Heidegger, GA 42, S. 6.  In Bezug auf dieses Thema sei verwiesen auf die detaillierte Untersuchung in der Dissertationsschrift von Konstanze Sommer. Vgl. Konstanze Sommer, Zwischen Metaphysik und Metaphysikkritik. Heidegger, Schelling und Jacobi, Hamburg 2015, bes. S. 85 – 133.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

der Unterschied von Sein und Seiendem von Schelling unter wechselnder Priorisierung eines der beiden Pole stets bedacht worden sei, ohne die Elemente der Vergleichsstruktur durch geschichtlich gewachsene Kandidaten konkretisieren oder ersetzen zu müssen: Diese Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem, die der Ausgangspunkt der Heideggerschen Philosophie ist und von der er behauptet, dass sie im Laufe der zweieinhalbtausend Jahre von der Philosophie versäumt worden sei – ist in der Tat nicht einfach mit formallogischen Tricks abzutun. Aber man hat zu fragen, in welcher Situation diese Unterscheidung auftaucht – und ‚in welcher Situation‘ bedeutet hier ein doppeltes: 1. In welcher Situation des Menschen taucht ‚Sein‘ (sowohl als bloßes erschreckendes Vorhanden-Sein der Welt, wie als eigenes Da-Sein auf?) 2. In welcher historischen Situation taucht diese Unterscheidung auf? Ad 1. In Nichtstun. In der Angst, In der Vereinsamung. Ad. 2. Siehe Schelling. ¹⁵

Um die These Günther Anders’ zu unterstreichen, kann erstens auf die Weltalter zurückgegriffen werden. Im ersten Weltalter-Druck (1811) hebt Schelling in genauer Kennerschaft der neuplatonischen Tradition die ewige Lauterkeit als eigenschaftslos-gelassenen und doch allermöglichenden, über-seienden Willen hervor: Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die lautre Freyheit ein Nichts ist; wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freiheit alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.¹⁶

In der ersten Fassung der Weltalter findet sich auch der Ausspruch: „Das Seyn kann als solches allerdings nie das Seyende seyn“.¹⁷ Zweitens insistiert Schelling  Vgl. Günther Anders, Über Heidegger, hrsg. von Gerhard Oberschlick, München 2001, S. 217. Hier zitiert nach: Konstanze Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 18. Vgl. Lore Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch. Der Versuch einer Einleitung, in: Lore Hühn / Jörg Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 35: „Dass die Philosophie Schellings mehr als die jedes anderen idealistischen Denkers zur unmittelbaren Vorgeschichte des heideggerschen Denkens gehört, ist […] seit der Habilitationsschrift des Heidegger-Schülers Walter Schulz ein offenes Geheimnis.“  Schelling WA I, S. 27.  Schelling, WA I, S. 36. Im Gegensatz zu Günther Anders, der Heideggers ontologische Differenz als eine epigonale Wiederaufnahme einer Schellingschen Entdeckung dekuvriert, folgt Pascal David weitgehend der Auffassung Heideggers, wonach der Unterschied von Sein und Seiendem bei Schelling eine andere Semantik besitze. Vgl. Pascal David, Heideggers Deutung von Schellings Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 125 – 140. David ist

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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– unter umgekehrten Vorzeichen – auch in Der Begriff des Monotheismus darauf, dass das Seiende selbst, d. h. Gott, in seiner Einzigartigkeit als seinslos begriffen werden muss.¹⁸ Da Gott nicht unter ontischen Kategorien von einzelnem Seiendem zu subsummieren ist, aber auch nicht als ein Nichtseiendes gefasst werden kann, verbleibt als einzige plausible Schlussfolgerung, dass er nichts anderes ist als das Seiende selbst. In dieser Attributvergabe erschöpft sich der Begriff Gottes nicht, durch sie wird nur dem Aspekt des notwendigerweise Gott Vorauszudenkenden Rechnung getragen. Darüber hinaus kann im Hinblick auf die Spätphilosophie ergänzt werden, dass Schelling in der Potenzenlehre der negativen Philosophie – abermals in einer gegenüber Heidegger modifizierten Verwendung der ontologischen Differenzbegriffe Sein und Seiendes – die Seinslosigkeit des SeinKönnenden, des Seyenden in der ersten Potenz, von dem wirklichgewordenen Seyn der zweiten Potenz unterscheidet. In Anbetracht der von Seiten Heideggers 1941 vorgenommenen Verortung der Schellingschen Freiheitsschrift innerhalb des Gefüges der neuzeitlichen Willensmetaphysik ist von Bedeutung, dass Schelling noch in seiner Berliner Phase den Titel des Willens als Vermittlungsbegriff verwendet. Diesen Terminus zeichnet Schelling in die Konstellation von unendlichem Seinkönnenden und verwirklichtem Sein ein. Zentral ist dabei die Differenzierung im Willen: Das Können lässt den Willen in sich ruhen¹⁹, weswegen Schelling darlegen kann, dass der Wille dem Wollen als seine Potenz zuvorkommt. Das Wollen stellt wiederum die Realisation des Willens dar. Da das Seiende, die potentia pura, als ruhender, nichtwollender Wille charakterisiert wird, äußert sich das Sein als willenloses Wollen. durchaus zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass das Sein bei Schelling den Vorrang des Objektiven und Naturhaften bedeute, während das Seiende den Gehalt des Subjektiven und Geistigen verkörpere. In diesem Sinne müsse das Seiende als „höhere Potenz des Seins“ (David, Heideggers Deutung von Schellings Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 138) begriffen werden. David ist allerdings zu widersprechen, wenn er Heideggers interpretatorischen Vorgaben auch noch in der Betrachtung der Spätphilosophie Schellings treu bleibt, indem er die Figur des Überseyenden bruchlos in die „Metaphysik der Subjektivität“ (David, Heideggers Deutung von Schellings Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 139) integriert und das Überseyende mit dem Urseyn (das ein Wollen ist) gleichsetzt. Die Problematik und das Missverständnis dieser Identifikation liegt darin, dass David auch das voluntativ bestimmte Urseyn genau wie das Überseyende als dem Sein vorgelagerte Instanz apostrophiert. Deswegen kann David das „ewige Sich-selber-wollen“ noch in der Spätphilosophie als „Wesen des Absoluten“ (David, Heideggers Deutung von Schellings Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 139) ausgeben.  Vgl. Schelling, Der Begriff des Monotheismus, in: F.W.J. Schelling, Ausgewählte Schriften Bd. 6.2, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1985, S. 37 (II/2, S. 25).  Schelling, Der Begriff des Monotheismus, S. 48: „Der Wille ist die Potenz, die Möglichkeit des Wollens, das Wollen selbst ist Actus.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Indem Schelling das Wollen als „ursprüngliche Seyns-Erzeugung“ etabliert, fungiert es nicht nur als Vehikel des Überganges. Das Wollen kann zugleich mit dem Actus und damit der Wirklichkeit überhaupt identifiziert werden: Auch jener ruhende Wille, der in der absoluten potentia existendi angenommen wird, bedarf also, um zum Seyn überzugehen, nichts weiter, als zu wollen, und zwar nicht Etwas zu wollen (denn er hat nichts vor sich, das er wollen könnte, er ist der absolut gegenstandslose Wille), sondern nur überhaupt zu wollen. Nichts ist schwieriger, als ursprüngliche SeynsEntstehung oder- Erzeugung zu begreifen. Allein viele Dinge sind nur darum schwer, weil sie uns so nahe liegen. In der That jedes Seyn ist Actus, wie ja im allgemeinen philosophischen Sprachgebrauch anerkannt ist. Jeder nicht ursprüngliche Actus aber, d. h. jeder Actus, der eine Potenz zur Voraussetzung hat, kann nur Wollen seyn, alle ursprüngliche Seyns-Erzeugung findet daher nur im Wollen statt. Jeder Wille, der in meinem zuvor ruhenden Gemüth entsteht, ist ein Seyn, das zuvor nicht da war und das eben im bloßen Wollen besteht.²⁰

Beide Willen weisen eine Struktur der Uneigennützigkeit auf. Während sich der erste Wille als bloß potentiell selbstisch Seinkönnendes bezeugt, bildet der zweite Wille das sich nicht mehr versagen könnende und offenbar gewordene Sein. Zudem kann das Wollen als Inbegriff der Wirklichkeit nichts anderes anstreben als das Faktum des bloßen Sich-Wollens. Aufgrund seiner Gegenstandslosigkeit ist es nicht mit äußeren Motiven konfrontiert und erzeugt sich konstant in überdauernder, unersättlich kreisender Bewegung. Das Verhältnis zwischen dem Willen und dem Wollen ist durch eine quantitative Relation bestimmt. Diese darf nicht proportional gedacht werden dergestalt, dass ein Anstieg der Selbstheit in der einen Potenz die Selbstlosigkeit der anderen erhöhte. Da sie vielmehr beide durch ihre unselbstische Ablehnung der Pleonexie gekennzeichnet sind, wirkt sich die Tiefe des Annihilationsgrades in einer von ihnen beflügelnd auf die andere aus, welche umso stärker der Selbstheit entrückt wird und diese transzendiert.²¹ Neben der ontologischen Differenzierung von Seiendem und Sein wird in Schellings Gedanken des unvordenklichen Seins eine bemerkenswerte Verwandtschaft zu Heidegger ostensibel. So wird die entscheidende Wendung Schellings in

 Schelling, Philosophie der Mythologie, Zweite Vorlesung, in: Schelling, Ausgewählte Schriften Bd. 6.2, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1985, S. 48 – 49 ( II/2, 36 – 37).  Vgl. Schelling, Philosophie der Mythologie, S. 63: „Das Erste muß Nichts seyn (nämlich nichts selbst seyn), damit das überschwenglich Seyende ihm Etwas werde, und umgekehrt, das Zweite muß das unendlich Seyende seyn, damit es das Erste in seinem nicht-selbst-Seyn erhalte. In beiden ist also eine gleiche Selbstlosigkeit oder, um einen veralteten aber trefflichen Ausdruck zurückzurufen, völlig gleiche Selbstunannehmlichkeit, also eben damit die größte gegenseitige Annehmlichkeit, indem das erste absolute Negation des außer-sich Seyns, das Zweite eine ebenso vollkommene Negation des in-sich-Seyns ist.“

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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die positive Philosophie durch den Gedankengang eingeläutet, dass die Potenzen als unveränderliche Stufenfolge des Denkens zuvorderst sein müssen; d. h. auf ein gründendes Prius angewiesen sind, das nicht apriorisch erschlossen, sondern erst im Nachhinein reflektiert werden kann.²² Daher wird das gesamte Potenzengefüge als primärer Weltzugang in der positiven Philosophie zuerst ausgeblendet. Darauf aufbauend, vollzieht Schelling die Inversion in das „umgekehrte Seinkönnen“²³, dessen Wirklich-Werden das Resultat der positiven Philosophie sein wird. Als „Empirismus des Apriorischen“ bzw. „apriorischer Empirismus“²⁴, nimmt die positive Philosophie ihren Ausgang vom Sein als unvordenklichem, ungewordenem Actus. Das notwendig Existierende geht als potentia potentiae seinem Wesen und selbst Gott voraus, ist aber, solange es nicht begriffen wird, ein blindes Sein. Hinsichtlich der vertiefenden Auslotung des Verhältnisses von Heidegger und Schelling ist neben den Arbeiten von Wolfgang Wieland ²⁵ und Walter Schulz ²⁶ besonders der von Lore Hühn und Jörg Jantzen anlässlich des Schelling-Tages 2006 herausgegebene Sammelband von herausragender Relevanz. Er trägt den Titel Heideggers Schelling-Seminar 1927/28 und veröffentlicht die entsprechenden Protokolle und Seminare Heideggers. In ausgezeichneten Beiträgen erörtern Jens Halfwassen, Markus Gabriel und Sebastian Schwenzfeuer frappierende Gemeinsamkeiten der beiden Denker hinsichtlich einer in der neuplatonischen Tradition wurzelnden Markierung der Freiheit als Transzendenz (Halfwassen)²⁷, bezüglich der geteilten Emphase für einen geschichtlichen Seinsbegriff, der den logischen universaler Bestimmtheit ablöse und fundiere (Gabriel)²⁸ sowie im Hinblick auf die Kritik an dem subjektivitätstheoretischen Primat. Dieser werde sowohl in Schellings Naturphilosophie als auch in Heideggers Daseinsanalytik bestritten

 Vgl. Schelling, Philosophie der Offenbarung, hrsg. von Manfred Frank, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1977, S. 161: „Aber es gibt auch Dinge, deren Möglichkeit erst durch ihre Wirklichkeit eingesehen wird. Nur solche nennen wir originale, ursprüngliche Hervorbringungen. Was nach einem vorhandenen Begriff hervorgebracht wird, nennt Niemand original.“  Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 154.  Schelling, Philosophie der Offenbarung, S. 147.  Vgl. Wolfgang Wieland, Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie, Heidelberg 1956.  Vgl.Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, Stuttgart 1955.  Vgl. Jens Halfwassen, Freiheit als Transzendenz. Schellings Bestimmung der absoluten Freiheit in den Weltaltern und in der Philosophie der Offenbarung, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 59 – 80.  Vgl. Markus Gabriel, Unvordenkliches Sein und Ereignis. Der Seinsbegriff beim späten Schelling und beim späten Heidegger, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 81– 112.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

(Schwenzfeuer).²⁹ Sebastian Kaufmann thematisiert in seinem luziden Aufsatz den ambivalenten Status der Metaphysik des Bösen. Er arbeitet heraus, weswegen die Exklusion des als Leben begriffenen Gottes aus dem System nach Heidegger den gescheiterten Versuch Schellings repräsentiert, das Böse in das Gefüge des Seyns einzugliedern. Der Grund bleibe als Bedingung der Möglichkeit des Bösen außen vor, während das System allein dem göttlichen Verstand vorbehalten werde.³⁰ Für das Erkenntnisziel des vorliegenden 2. Teils sind zwei Aufsätze explizit hervorzuheben. Zum einen ist Dietmar Köhlers Text Kontinuität und Wandel. Heideggers Schelling-Interpretationen von 1936 und 1941 zu berücksichtigen.³¹ Zum zweiten veranschaulicht Lore Hühn in ihrem Aufsatz Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch. Der Versuch einer Einleitung mannigfaltige Ansatzpunkte für eine Parallelisierung beider Denker. Dabei widmet sie sich vornehmlich der Kritik Schellings an der Willensmetaphysik und an der Selbstsetzung der Subjektivität. Die wissen-wollende Subjektivität beschreibe Schelling nach Maßgabe eines Modells der Sucht. Zudem entwickle Schelling sowohl in seiner Philosophie der Weltalter, in den Erlanger Vorlesungen als auch in der Freiheitsschrift konstruktive, auf Heidegger vorausweisende Gegenkonzepte der Gelassenheit.³² Aus diesem Blickwinkel erscheint Heideggers Subsummation Schellings als Vollendungsgestalt des mit den Charakteristika des Vor-stellens koinzidierenden Voluntarismus höchst fragwürdig. Ausgesprochen aufschlussreich sind auch die Überlegungen Hühns zum normativen Potenzial der Binnenspannung zweier Anfänge. Bereits im Moment seiner Initiierung sei der erste Anfang auf einen latenten Ermöglichungshorizont zu befragen, der gerade im anderen Anfang zum Vorschein gebracht werden könnte.³³

 Vgl. Sebastian Schwenzfeuer, Natur und Sein. Affinitäten zwischen Schelling und Heidegger, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 227– 261.  Vgl. Sebastian Kaufmann, Metaphysik des Bösen. Zu Heideggers Auslegung von Schellings „Freiheitsschrift“, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 193 – 226, bes. S. 204– 210.  Vgl. Dietmar Köhler, Kontinuität und Wandel. Heideggers Schelling-Interpretationen von 1936 und 1941, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 163 – 191.  Vgl. Lore Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch. Der Versuch einer Einleitung, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 3 – 44, bes. S. 12– 14; S. 19 – 25.  Vgl. Lore Hühn, Die Unvordenklichkeit des Anfangs. Zu einer Schlüsselfigur bei Schelling und Heidegger, in: Reinhard Hiltscher / Stefan Klingner (Hrsg.), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Neue Wege der Forschung, Darmstadt 2012, S. 157– 174.

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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2.1.2 Der Begriff der Ontotheologie: Zum Verhältnis zwischen dem Seienden im Ganzen und dem Seienden als solchem in der Schelling-Vorlesung von 1936 Im ersten Teil seiner Auslegung der Freiheitsschrift, der mit Zur Möglichkeit eines Systems der Freiheit. Die Einleitung von Schellings Abhandlung (I. Abt., VII, 336 – 357)³⁴ überschrieben ist, diskutiert Heidegger im §6 die Thematik einer „Selbigkeit von Seyn und Gefüge“.³⁵ In diesem Paragraphen soll die Freiheitsschrift als „ursprüngliche Theologie des Seyns“³⁶ erschlossen werden. Das Verhältnis von Seyn und Gefüge ist im Hinblick auf die zeitgleich verfassten Beiträge zur Philosophie ³⁷ von grundlegender Relevanz. Heidegger erläutert die ontotheologische Verfassung der Metaphysik im Jahre 1936 vor dem Hintergrund der Schellingschen Frage nach der möglichen Vereinbarkeit der Freiheit mit dem System. Das System firmiert nach Heidegger im Deutschen Idealismus nicht als Ausdruck einer gestuften Prinzipienordnung zur Erfassung und Durchdringung des menschlichen Wissens. Ebenso wenig dürfe das System als Chiffre einer persönlich-denkerischen Aufgabe angesehen werden, die Kantischen Resultate durch eine Nachlieferung der Prämissen einzuholen und zu validieren. Vielmehr kommt laut Heidegger im System das „Ganze des Seyns im Ganzen seiner Wahrheit und deren Geschichte“³⁸ zum Austrag und zu sich selbst. Die Freiheit wird zur Herausforderung und zur Gefährdung des systematischen Allheitsanspruches. Wegen ihrer Grundlosigkeit, ihrer Faktizität und der Unvertretbarkeit ihrer Vollzugsform steht sie auf den ersten Blick in einer grundsätzlichen Diskrepanz zum systematisch-begrifflichen Ordnungszusammenhang.Weil Schelling diesen Nexus mit der Notwendigkeit konnotiert, kann er die Disjunktion von System und Freiheit als Grundwiderspruch der Philosophie apostrophieren.³⁹

 Heidegger, GA 42, S. 23 – 180.  Heidegger, GA 42, S. 84.  Heidegger, GA 42, S. 84.  Vgl. hierzu Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA 65, S. 5 – 6.  Heidegger, GA 42, S. 91.  Heidegger reformuliert die Spannung von Freiheit und Notwendigkeit als Widerspruch zwischen der in der Anbringung der Seinsfrage über sich hinauswollenden Philosophie (= Freiheit), die im Überstieg in die Notwendigkeit des Seienden eingebunden bleibt. Ein bemerkenswerter Beleg für Heideggers affirmative Willensauslegung in den Jahren 1936/37 ist, dass er das Phänomen des Wollens mit dem Vollzug des Philosophierens und mit der Entdeckung der Seinsfrage parallelisiert. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 100: „Die Philosophie ist als ein höchstes Wollen des Geistes in sich ein Übersichhinauswollen, ein Sichstoßen an den Schranken des Seienden, die sie übersteigt, indem sie das Seiende überfragt durch die Frage nach dem Seyn selbst.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Um diese Divergenz zu überwinden, macht sich Schelling die etymologische Herleitung des Wortes „Systems“ aus dem griechischen „Systasis“ zunutze. Hieraus ergibt sich die Bedeutung eines unausweichlichen Zusammenbestehens der Dinge in dem Weltganzen.⁴⁰ Die Pointe liegt darin, dass der in der individuellen Freiheit angestoßene Wirklichkeitsanspruch auf ein abgrenzendes Bestimmungsgeflecht und ein universalisiertes Ausübungsfeld angewiesen ist. Also muss die im lebendigen Gefühl präsente Freiheit unumgänglich im Ganzen aufbewahrt sein und mit diesem interagieren können. Die recht verstandene, nicht monadisch zu isolierende Freiheit erfordert ein System, das zumindest im „göttlichen Verstande“⁴¹ bestehen muss. Bereits aus dem platonischen Parmenides ⁴² ist der skeptische Einwand bekannt, die Verortung der Ideen respektive der eidetischen Strukturen des Beziehungszusammenhanges der Wirklichkeit in einer göttlichen Intelligenz verwehre eine menschliche Einsicht in das Intelligible. Folglich existiere das System „für uns“⁴³ gerade nicht und könne allein in seiner Denkmöglichkeit behauptet werden. Diesem Vorwurf begegnet Schelling mit einer Beweislastverteilung. Schelling fordert zunächst eine trennscharfe Bestimmung des Prinzips menschlichen Erkennens überhaupt. Er selbst löst die Problematik – im Rekurs auf Empedokles’ epistemischen Homogenitätssatz – mit der Konzeption einer Erkenntnis des Gottes außer uns mit dem Gott in uns. ⁴⁴ Heidegger wendet diese Gedanken „ins Grundsätzliche“.⁴⁵ Er konstatiert, dass das System bereits diesseits seiner philosophischen Begründung und Artikulation unleugbar existent sein muss, „sofern überhaupt Seiendes gesetzt ist“.⁴⁶ Daher kommt Heidegger zu der Schlussfolgerung: „Wo Seiendes, da Gefüge und Fügung“.⁴⁷ Im Rückgriff auf den Spruch des Anaximander – den er als Vernehmung der sich weilend und einander achtend in den Fug einfügenden Dinge auslegt⁴⁸ – akzentuiert Heidegger die Zusammengehörigkeit des geschichtlichen Seinsverständnisses und dessen Erfassung in einer differenzierten Ganzheit. Deren inhaltliche Charakterisierung wird über die ontologische Bestimmung des „Wesen des Seienden“⁴⁹ gewonnen, zu dem das System gehört. Ontologie und

         

Vgl. Heidegger, GA 42, S. 86. Heidegger, GA 42, S. 85. Vgl. Platon, Parmenides 134b-135a. Heidegger, GA 42, S. 89. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 337. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 90 f. Heidegger, GA 42, S. 86. Heidegger, GA 42, S. 86. Heidegger, GA 42, S. 86. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 86. Heidegger, GA 42, S. 86.

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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Theologie verflechten sich, da sich die primäre Manifestation und Entfaltungsweise des Systems im „Grunde alles Seyns“⁵⁰ vorfinden lassen muss, im „Urwesen“, d. h. in Gott. Der keineswegs auf die christlich-dogmatische Verengungslinie zu restringierende Begriff der Theologie bedeutet demnach seit der ersten Erwähnung des Wortes theologia bei Platon (Politeia 379a⁵¹): Das fundierende Begreifen des Seienden im Ganzen im ausgehenden Rückbezug auf den unabänderlich-festen Grund, dessen Seyn Gott in seiner und als Wahrheit ist. Schon 1936 siedelt Heidegger Nietzsches Philosophie in dieser Form der Theologie an, die in dem Satz „Gott ist todt“ die zäsurbildende Absenz jenes tradierten Grundes bekundet.⁵² An die Seite der „ursprünglichen Theologie des Seyns“⁵³, die den Grund des Systems und damit das von diesem abhängige Seiende im Ganzen in den Blick nimmt, muss nach Heidegger stets die Frage nach dem „Wesen des Seins“⁵⁴ treten. Nur so könne das Ganze auf die Grundverfassung seines Seiendseins durchsichtig gemacht werden. Philosophie fragt als Ontologie nach dem Seienden als Seiendem und bestimmt das Seiende im Ganzen auf sein grundlegendes Charakteristikum.⁵⁵

 Heidegger, GA 42, S. 87.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 87.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 87: „Jede Philosophie als Metaphysik ist Theologie in dem ursprünglichen und wesentlichen Sinne, daß das Begreifen (λόγος) des Seienden im Ganzen nach dem Grunde (d. h. der Ur-sache) des Seyns fragt und dieser Grund θεός, Gott, genannt wird. Auch Nietzsches Philosophie z. B., darin ein wesentlicher Satz lautet ‚Gott ist todt‘, ist eben gemäß diesem Satz ‚Theologie‘.“  Heidegger, GA 42, S. 84.  Heidegger, GA 42, S. 88.  In der Schelling-Vorlesung von 1936 repräsentiert die Ontotheologie für Heidegger das bisherige Hauptziel der Philosophie. Die Ontotheologie soll in Anspruch nehmen dürfen, das Gefüge des Seyns in der Rückbeziehung des Seienden als solchen (Ontologie) auf das Seyn des Grundes (Theologie) zu stiften. Daher kann von einer dezidiert negativen Verständnisweise dieses Titels zumindest 1936 nicht gesprochen werden. Zwar hebt Heidegger hervor, dass die tradierte Ontologie die Frage nach der „Wahrheit des Seyns“ (Heidegger, GA 42, S. 110) nicht hinreichend berücksichtigt habe. Dennoch demonstriert sich Heideggers durchaus affirmative Positionierung zum Begriff der Ontotheologie, wenn er die Synthese von ontologischer und theologischer Fragerichtung als Anhalt und Horizont für die Eröffnung der Seinsfrage beschreibt: „Durch die Erörterungen der Pantheismusfrage hindurchsehen, das meint, hindurchsehen in den Fragebereich der Grundfrage der Philosophie, in die Frage nach der Wahrheit des Seyns. Aber auch diese Frage kann nicht für sich bleiben, sie kehrt sich um in die Frage nach dem Seyn der Wahrheit und des Grundes, und das ist wieder die theologische Frage“ (Heidegger, GA 42, S 112– 113). Ebendiese ausgezeichnete Funktion der Ontotheologie in der Schelling-Vorlesung von 1936 verkennt Pascal David, indem er Heideggers spätere, negative Charakterisierung der Ontotheologie als Grundgepräge und Verfassung der Metaphysik schlichtweg zurückprojiziert.Vgl. Pascal David, Heideggers Deutung von Schellings Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus, in:

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

2.1.3 Ontotheologie und System im Hinblick auf das Zwiegespräch mit Nietzsche Hinsichtlich der Einschätzung der Systemfrage bei dem erklärten Anti-Systematiker Nietzsche ist neben Heideggers Reflexionen über die Planung, die Entstehung und das Scheitern des Hauptwerkes Der Wille zur Macht eine Passage aus der Schelling-Vorlesung von 1936 besonders zu berücksichtigen. In dem propädeutischen §3 Allgemeine Erörterung der Schwierigkeiten eines Systems der Freiheit ⁵⁶ beschäftigt sich Heidegger im Rahmen einer „Vorbetrachtung über die heutige Gleichgültigkeit gegenüber dem System“ mit der Zurückweisung des Systemgedankens bei Kierkegaard und Nietzsche.⁵⁷ In der Einzeichnung einer scharfen Diskrepanz zwischen beiden Denkern tritt die nach 1927 vorherrschende Tendenz Heideggers paradigmatisch zutage, den als christlichen Schriftsteller etikettierten Kierkegaard aus der unter dem Gesichtspunkt der Seinsgeschichte betrachteten Philosophie zu exkludieren. Kierkegaard polemisiere einzig geistreich-amüsant gegen das auf Hegel eingeschränkte und zudem missverstandene System, dem er hörig bleibe. Erst bei Nietzsche verbinde sich der Verzicht auf das System mit einem seismographischen und untrüglichen Gespür für das Heraufziehen des Nihilismus. Als Beleg führt Heidegger ein Zitat aus der im Herbst 1888 verfassten Götzen-Dämmerung an: Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit.⁵⁸

Im Nachlass aus dem Jahre 1884 vertritt Nietzsche die Auffassung, der Wille zum System entlarve die Absicht des Philosophen, sich „dümmer zu stellen als er ist, dümmer, das heißt: stärker, einfacher, gebietender, ungebildeter, commandiren-

Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 125 – 140, bes. S. 135– 137. Dies wird besonders deutlich, wenn David im Hinblick auf die Schelling-Vorlesung von 1936 behauptet, diese „Struktur [die ontotheologische Ausrichtung der Metaphysik, J.K.] wird dem Denken Schellings niemals fragwürdig, sondern bleibt ihm als solche unzugänglich“ (David, Heideggers Deutung von Schellings Freiheitsschrift als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus, S. 136). Im Kontrast dazu ist zu akzentuieren, dass Heidegger das inkommensurable Verdienst und den großen philosophischen Erkenntnisgewinn Schellings 1936 gerade in der Neufassung der Frage nach dem ontotheologischen Systemprinzip sieht, das Schelling im Angesicht des Abgrundes der menschlichen Freiheit und der Existenz des Bösen „fragwürdig“ geworden sei.  Heidegger, GA 42, S. 38 ff.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 38 – 44.  Heidegger, GA 42, S. 41. Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 63.

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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der, tyrannischer“.⁵⁹ Heidegger leitet den Beweggrund für diese ablehnenden Äußerungen nicht aus einer pauschalen Missbilligung des Systemgedankens ab. Als Motivationsgrundlage entziffert Heidegger umgekehrt eine ehrliche und tiefempfundene Hochschätzung für das System. Weil jedoch die erschütternde Wirkungsgewalt des Nihilismus den haltgebenden Grund und mit ihm die tradierten Verbindlichkeiten radikal in Frage stellt, erweise sich die holistische und prinzipielle Erfassung des Seienden für Nietzsche als Sedativum. Das System überdeckt und forciert die schleichende Gefahr des Nihilismus, indem es diesen in der Suggestion der ruhigen, gestuften, kohärenten Erklärbarkeit indirekt leugnet.

2.1.4 Die Hinführung zum Diktum „Wollen ist Urseyn“: Der formelle Freiheitsbegriff des Idealismus Im zweiten Kapitel des ersten Teils, das den Titel: Die Pantheismusfrage als Frage nach dem Prinzip der Systembildung trägt, widmet sich Heidegger im §13 (Die Grundstellung des Idealismus)⁶⁰ unter Ermittlung des einenden Grundzuges der Entwicklung des idealistischen Denkens von Platon über Descartes bis hin zu Schelling. Im Idealismus wird das als Idea umrandete, in die Aussicht freigegebene Sein von der im Denken anwesenden Vorgestelltheit erschlossen. Das cartesische ego cogito inauguriert den Primat des „Ich denke“, das zum Fundament der unbezweifelbaren Wahrheitserfassung aufsteigt. Leibniz – dessen Nähe zu Schelling Heidegger nachdrücklich unterstreicht – dehnt in einer Perspektivwendung die nach Descartes allein in der subjektiven Rückbeugung und im Medium der Vorstellung erfahrbare Offenbarkeit des Seienden auf das sich selbst in der Monade vorstellende Seiende aus. In einer graduellen Aufstufung begreift Leibniz das Seiende als Zusammenschluss von perceptio und appetitus. Leibniz ist der Initiator einer wegweisenden Zäsur, weil bei ihm das Vorstellen und das Wollen nicht – wie in der Tradition üblich – als zwei mithilfe des Dignitätsunterschiedes von Ratio und Begierde getrennte Bereiche in einem Einzelwesen im Nachhinein synthetisiert werden. Jedes Lebewesen bringt in sich die Identität des vorstellenden Strebens, bzw. des strebenden Vorstellens in der Monade zum Ausdruck. Den nächsten bedeutungsschweren Schritt unternimmt Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft. Kant verortet das Wesen des Ich nicht mehr (wie noch partiell bei Leibniz) im erkennenden Weltbezug. Im Gegensatz dazu, favorisiert

 Heidegger, GA 42, S. 41– 42. Vgl. Nietzsche, NF 1887, 9 [188], KSA 12, S. 450.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 151– 160.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Kant die Selbstbestimmung aus der mundus intelligibilis, die eine Autonomie im Sinne eines Handelns nach dem selbstgegebenen Gesetz gestattet.⁶¹ Im Rahmen dieser Präponderanz des Praktischen wird das Bei-sich-selbst-sein des Subjekts über die Befolgung der Pflicht gestiftet. Das Freisein steigt zum Ansichsein und wahren Wesen des Subjekts auf. Durch diese über das Sittengesetz koordinierte Internalisierung der Freiheit wird der kausalmechanisch explizierte Gesamtzusammenhang der Natur zum Inbegriff eines zu überwindenden Zwanges. Dieser Zwang objektiviert sich einerseits in der äußeren Notwendigkeit. Andererseits drückt er sich in der inneren Anfechtung durch die Sinnlichkeit und die Neigungen aus. Fichte adaptiert den Idealismus der Freiheit und bringt ihn in eine systematische Form. Er leitet die Allheit des Seienden aus der ursprünglichen Selbstsetzung, aus der Tathandlung des absoluten Ichs ab. Die Natur behält, anders als bei Kant, nicht mehr den Status einer entgegengesetzten, ebenbürtigen Sphäre. Im Rahmen der theoretischen Philosophie konzipiert Fichtes Wissenschaftslehre die Natur als Selbstbegrenzung des Ichs. Die zum Nicht-Ich und zur Schranke geronnene Natur soll in der praktischen Handlungsdimension wieder angeeignet werden.⁶² Schelling führt Leibnizens und Kants Grundeinsichten zusammen und gegen Fichte ins Feld. Jedes Lebewesen – so Leibniz – ist nicht nur in sich vorstellend und spiegelt perspektivisch das Ganze der Welt. Als wollendes Subjekt besitzt es ebenjenes Potenzial der Freiheit und der Selbsttranzendierung, das im voluntativ konturierten Übergang der Perzeptionen thematisch wird. Demzufolge kann auch die ursprüngliche Produktivität der Natur als Fall einer noch unbewussten Freiheit gefasst werden. Insofern die Freiheit aber laut des Idealismus in der Ichheit fundiert ist, muss Fichtes Satz: „Die Ichheit ist Alles“ ergänzt werden durch das Diktum: „Alles Seiende ist Ichheit“.⁶³ Aus diesem Blickwinkel moniert Schelling, dass Kant die bahnbrechende Einsicht in das Ansichsein der Freiheit nicht auf die Natur insgesamt ausgeweitet

 Vgl. Heidegger, GA 42, S. 159.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 160.  Heidegger, GA 42, S. 161. Vgl. Schelling, Darstellung meines Systems der Philosophie, Vorerinnerung, AA I, 10, S. 109: „[…] um diese Entgegensetzung aufs verständlichste auszudrücken, so müßte der Idealismus in der subjektiven Bedeutung behaupten, das Ich sey Alles, der in der objektiven Bedeutung umgekehrt Alles sey = Ich und es existire nichts als was = Ich sey, welches ohne Zweifel verschiedene Ansichten sind, obgleich man nicht leugnen wird, daß beide idealistisch sind.“

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

565

habe.⁶⁴ In der von Schelling angestoßenen Universalisierung verwandelt sich der bisherige mechanische, die Natur als Dingheit betrachtende Realismus in den höheren Realismus. Der höhere Realismus begreift die Natur als schaffende und lebendige Macht. Auf diese Weise wird das tätige Prinzip des Idealismus in das Andere seiner selbst eingetragen. Die Natur etabliert sich einerseits als „tragender Grund alles Seienden“.⁶⁵ Andererseits wird die sich ihr widmende Philosophie als reeller Teil gemeinsam mit dem Idealismus als ideellem Teil im Identitätssystem zusammengeschlossen. Seinen Gipfelpunkt findet der Fortgang des reinen Idealismus in der Gleichsetzung des Wissens und des Wollens in der Idee. Die Idee reflektiert sich im Durchgang durch das Vorstellen der Vorgestelltheit selbst. In der absoluten Vermittlung all ihrer Momente kehrt die Idee in die höchste Freiheit der ersten Unmittelbarkeit zurück. Sie weiß sich darin als Ansichsein des Seienden und will sich in diesem Fürsich gewordenen Ansichsein selbst. ⁶⁶ Diese Selbstwerdung des absoluten Geistes wird in Hegels Logik durchdacht. Die gewonnenen Resultate des Begründungsganges einschließlich der Apparition der Schellingschen Naturphilosophie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Alles an sich Seiende muss als frei verstanden werden. Diese Freiheit trägt aber unausweichlich das Gepräge des Ichhaften als Subjekt-Objekt. Weil sich das exhaustive Freisein des Seienden im Ganzen im Wollen manifestiert, kann das Sein (des in seinem Ansichsein so bestimmten Seienden) selbst nichts anderes als Wollen sein.⁶⁷ Schelling bringt den entsprechenden idealistischen Begriff der Freiheit in der Freiheitsschrift zum Ausdruck:

 Vgl. Heidegger, GA 42, S. 161. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 351: „Es wird aber immer merkwürdig bleiben, daß Kant, nachdem er zuerst Dinge an sich von Erscheinungen nur negativ, durch die Unabhängigkeit von der Zeit, unterschieden, nachher in den metaphysischen Erörterungen seiner Kritik der praktischen Vernunft Unabhängigkeit von der Zeit und Freiheit wirklich als korrelate Begriffe behandelt hatte, nicht zu dem Gedanken fortging, diesen einzig möglichen positiven Begriff des An sich auch auf die Dinge zu übertragen, wodurch er sich unmittelbar zu einem höheren Standpunkt der Betrachtung und über die Negativität erhoben hätte, die der Charakter seiner theoretischen Philosophie ist.“  Vgl. Heidegger GA 42, S. 163.  Zum seinsgeschichtlichen Wandel der Idee, die sich als das in der eigenen Gesichtetheit erblickte Aussehen dem sich in seiner Offenheit verschenkenden Sein verdankt, hin zu der Vorgestelltheit des präsentierenden, von der ermöglichenden Entbergung verlassenen Denkens vgl. Ingeborg Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 25 – 40, bes. S. 26 – 29.  Vgl. Heidegger, GA 86, S. 228: „Ziel: ‚ein System der Freiheit‘. Ein System des Seienden im Ganzen mit der Grundtatsache der Freiheit als dem beherrschenden Mittelpunkt. Subjektivität als Selbstheit – also Freiheit – des unbedingt wollenden Wissens – in welchem Sinne ‚System‘?“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein andres Sein als Wollen. Wollen ist Ursein.⁶⁸

Zentral ist Heideggers unmittelbar darauffolgende Kommentierung dieses Passus, die hier aufgrund ihrer eminenten, Weichen stellenden Aussagekraft wiedergegeben werden soll: Das heißt: Das ursprüngliche Seyn ist Wollen. Wollen ist einmal Streben nach etwas und Begehren, aber nicht als blinder Trieb und Drang, sondern geleitet und gestimmt durch die Vorstellung des Gewollten. Das Vorgestellte und das Vorstellen, die idea, ist so das eigentlich Wollende im Wollen. Seyn als Wollen begreifen heißt, es von der idea her, aber nicht nur als idea und so idealistisch beschreiben. Der Ansatz zu diesem idealistischen Begriff des Seyns ist bei Leibniz gemacht.⁶⁹

Zuvorderst fällt auf, dass Heidegger die Identitätsreihenfolge umkehrt, indem er ein als begründend, evolutiv, als je schon leitend oder auch als anfangsstiftendvernunftfundierend deutbares Sein als Wollen definiert. In diesem Kontext bezieht sich Heidegger jedoch nicht zwangsläufig auf das metaphysische Verhältnis zwischen dem Sein und dem Willen. Generell erscheint das Wollen hier in einer positiven Konnotation, insofern es als Real-Lebendiges und als Natur den abstrakt-geistigen Begriff der Freiheit vitalisiert. Dies zeigt sich auch in Heideggers resümierender Formulierung: „Das Seyn wird als Wollen, als Freiheit begriffen“.⁷⁰ Weil die Vorstellungsfähigkeit und mit ihr auch das vorstellend Angestrebte die Leitungsfunktion im Willen übernehmen, bleibt die in ihrer Dignität priorisierte Vollendungsform des Willens rationalistisch geprägt. Dennoch darf nicht unterschlagen werden, dass Heidegger – Schellings Argumentation in der Freiheitsschrift nachvollziehend – schon 1936 in der Sehnsucht des ahnenden Willens des Grundes nicht nur die Motive des Strebens, des Sehnens und des Begehrens erkennt. In ihrer Bewegungsform bezeugt sich jene ausbreitend in sich zurückkehrende Selbstvergegenwärtigung, die in vertikaler Ausrichtung den Willen zur Macht charakterisieren wird: Sucht ist ein Streben und Begehren, und zwar die Sucht des Sehnens, des Bekümmertseins um sich. In der Sehnsucht liegt so eine doppelte und zwar gegenwendige Bewegtheit: Das Streben von sich weg in die Ausbreitung und doch gerade zu sich zurück. Sehnsucht als die Wesensbestimmung des Grundes (Grundseins) in Gott kennzeichnet dieses Seyn als von sich fortdrängend in die unbestimmteste Weite der absoluten Wesensfülle und zugleich als

 Heidegger, GA 42, S. 164. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350.  Heidegger, GA 42, S. 164.  Heidegger, GA 42, S. 165.

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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Übergewalt des Sich-zu-sich-zusammenschließens. […] Sofern aber in diesem Wesen das Wollen gerade noch nicht bei sich selbst und sich zu eigen, noch nicht eigentlich es selbst ist, bleibt der Wille ein uneigentlicher. Der Wille im Willen ist der Verstand, das verstehende Wissen der einigenden Einheit dessen, was will und gewollt ist. Die Sehnsucht als der Wille des Grundes ist deshalb verstandloser Wille, der in seinem Streben aber gerade das Selbstsein ahndet.⁷¹

Obgleich Heidegger Schellings Extension der Freiheit honoriert, weist er auf die mit ihr einhergehenden Schwierigkeiten hin. Es wurde transparent, dass der nicht mehr als fatalistisch diskreditierte Pantheismus, der die derivierte Absolutheit der Freiheit aus einem Einbehaltensein in Gott und einer Abhängigkeit der Dinge von Gott – dem Werden, nicht dem Wesen nach – abzuleiten vermag, aufgrund der voluntaristischen Überformung des Alls mit dem Idealismus der Freiheit vereinbart werden kann. Statt der Dinge in der Substanz werden partikularisierte Willen in einem Urwillen zusammengefasst.⁷² Auf diese Weise droht das seit Kant hervorstechende und dominierende Erkenntnisziel des Idealismus aus dem Blick zu geraten: Die Besinnung auf die Bedeutung der genuin menschlichen Freiheit. Sowohl Schelling als auch Heidegger sind sich darin einig, dass es durch die Ausdehnung der als Wollen konzipierten Freiheit auf die ganze Natur unmöglich wird, die auszeichnende, bedrohliche und verantwortungsvolle Kraft der Freiheit in ihrer höchsten Erscheinung, im Menschen, zu denken: Das System der Freiheit ist möglich als Idealismus, auf Grund des idealistischen Seynsbegriffes: Ursein heißt Wollen. Aber jetzt meldet sich das eigentliche Aber: 1. Das Seyn wird als Wollen, als Freiheit begriffen. Damit wird aber der Begriff der Freiheit doch zur allgemeinsten Bestimmung alles Seienden erweitert. Also geht in diesem weiten Begriff der Freiheit eben das verloren, was die Freiheit von besonderem und vielleicht ausgezeichnetem Seienden kennzeichnet. Aus diesem weiten und allgemeinen Begriff der Freiheit ist jetzt gerade die menschliche Freiheit als menschliche nicht ohne weiteres zu begreifen.⁷³

 Heidegger, GA 42, S. 217– 218.  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 352.  Heidegger, GA 42, S. 165 – 166. Dass Heidegger die Seinsbestimmung als Wille zuvorderst aus der Gleichsetzung des Seins mit der Ichheit und der Freiheit erschließt und das Wollen erst auf dieser Grundlage zum ursprünglichen Sein aufwertet, geht aus der folgenden Textstelle hervor. Zu beachten ist erneut, dass Heidegger das als Freisein klassifizierte Wollen aufgrund seines Allgemeinheitscharakters zurückstuft. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 171: „Seyn wird als Ichheit, als Freiheit verstanden. Freisein ist Wille. Seyn ist daher ursprünglich: Wollen. ‚Wollen ist Ursein‘. Aber hier zeigt sich zugleich die Grenze; indem Freiheit zur allgemeinsten Bestimmung alles Seienden wird, wird sie zugleich unzureichend, das Eigenste der menschlichen Freiheit im Wesen zu fassen.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Aus diesem Grund ergibt sich auf dem Denkweg Schellings die Notwendigkeit einer Philosophischen Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit. Heidegger nivelliert die freiheitstheoretische (und mit ihr auch die ontologische) Tragweite der Explikation des Wollens als Ursein, indem er sie unter dem fünften Freiheitsbegriff seiner Typologie subsummiert. Dort wird sie in der Gestalt eines „eigenständigen Sichbestimmens aus dem Wesensgesetz“⁷⁴ eingefügt. An dieser Einteilung lässt sich exemplarisch veranschaulichen, dass Heideggers Deutung des Kernstücks der Schellingschen Willenskennzeichnung vor der großangelegten Auseinandersetzung mit Nietzsche (die darauf folgende Nennung der wichtigsten in der Metaphysik verhandelten Prädikate des Seins zitiert Heidegger 1936 in diesem Zusammenhang bemerkenswerterweise nicht) noch keinen eindeutigen Schwerpunkt besitzt. Heideggers Lesart der Urseins-Hypothese changiert 1936 zwischen der Einordnung in den auf der Folie der praktischen Vernunft exponierten Willensbegriff Kantischer Provenienz und der Beurteilung als Nachfolgefigur der Leibnizschen Monadologie, in der das Vorstellen den Rang einer Leitungsinstanz erhält. Zudem folgt Heidegger weitgehend Schellings Semantik der vertiefenden Duplikation des Willens des Verstandes, der als Wille im Willen erst die Bezeichnung als eigentlicher Wille verdient. Die Charakterisierung der Freiheit als Selbstbestimmung aus dem Wesensgesetz ist nach Heidegger insofern defizitär, als sie zum einen den Ursprung und die Richtung dieser Bestimmung außen vor lässt. Zum anderen kann die gesetzmäßige Autonomieformel die Freiheit nicht in ihrer Verwurzelung im Wesen des Menschen demonstrieren. Daraus schließt Heidegger: Der Idealismus kommt hier an eine Grenze, weil er selbst zu seiner eigenen Möglichkeit den Begriff des Menschen als das vernünftige Ich voraussetzt – den Begriff, der eine ursprünglichere Grunderfahrung des Wesens des Menschen im Hinblick auf seine Eingelassenheit in die Natur ausschließt. Nun ist aber nach der eigensten Forderung des Idealismus das Wesen des Menschen der Bestimmungsort für die Wesensbestimmung des Seyns überhaupt. Wenn also der Idealismus sich selbst von einer ursprünglicheren Wesensbestimmung des Menschen ausschließen muß, wird ihm auch durch ihn selbst versagt, die Frage nach dem Seyn überhaupt ursprünglich genug zu entfalten. Dann aber vermag der Idealismus auch nicht mehr das Prinzip der Systembildung festzulegen und zu begründen. Damit ist auch das System nicht mehr als idealistisches möglich.⁷⁵

In einem ersten Schritt lässt Schelling folglich die idealistische Systembegründung fragil werden, weil er das Wollen nicht mehr in der Wesensdefinition des Menschen als animal rationale lokalisiert. Schelling verwandelt das Wollen in die  Heidegger, GA 42, S. 166.  Heidegger, GA 42, S. 166.

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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Natur ein und hebt die spezifisch idealistische, systembildende Differenz zwischen der produktiven Subjektivität und der naturhaften Passivität auf. Mit dieser Entscheidung führt Schelling die Ontotheologie in ein Grenzgebiet, da diese zuletzt nur noch unter der Signatur des Idealismus ausgetragen werden konnte.⁷⁶ Der Idealismus nimmt in der Gestalt Schellings – der diesbezüglich für Heidegger 1936 sowohl eine Vollendungs- als auch eine Übergangsfigur bildet – die tradierten Freiheitsbegriffe in sich auf, negiert die bisherigen Begründungsoptionen für das Seiende im Ganzen und bindet den Pantheismus als privilegierte Systemform in freiheitsphilosophische Kerngedanken ein. Doch erst in einem zweiten Schritt gelingt es Schelling, die idealistische Grundstellung tatsächlich zu

 Zu den verschiedenen Stadien, methodischen Eigenheiten und den wechselnden philosophischen Intentionen in Heideggers Rezeption des deutschen Idealismus von der Habilitationsschrift (1916) über die im Kantbuch (1929) kulminierende Phase der Fundamentalontologie bis hin zur Vorlesung Der deutsche Idealismus und die philosophische Problemlage der Gegenwart (Sommersemester 1929) vgl. die ausgezeichnete Untersuchung von Claudius Strube. Vgl. Strube, Die ontologische Wiederentdeckung des Idealismus, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 93 – 123. Strube schildert detailliert die Konkurrenzlinien zwischen der von Seiten Heideggers verfochtenen Unhintergehbarkeit der Voraussetzung einer das Seiende überschreitenden Transzendenz des endlichen Seinsverständnisses und der von Fichte und Hegel stipulierten Voraussetzung einer Unendlichkeit des Subjektes beziehungsweise des Geistes. Vgl. zu Heideggers seinsgeschichtlicher Verortung des deutschen Idealismus auch die prägnante Übersicht von Christian Iber, der auf die Überbetonung bestimmter Motive (z. B. der Wirklichkeit des Bösen) in Heideggers Auslegung der Freiheitsschrift aufmerksam macht und eine kenntnisreiche Kritik an Heideggers Klassifikation der Wissenschaft der Logik als Dokument ultimativer Selbstvergewisserung der absoluten Subjektivität vorträgt. Vgl. Christian Iber, Interpretationen zum Deutschen Idealismus. Vernunftkritik im Namen des Seins, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 166 – 174. Hinsichtlich der Beweggründe Heideggers für die ab den Jahren 1928/1929 vertiefte Auseinandersetzung mit den Systemen Fichtes, Schellings und Hegels und zur Beziehung zwischen der Ausarbeitung der Seinsfrage als Problematisierungsweg der Endlichkeit des Menschen sowie der 1930/31 inaugurierten Ontochronie auf der einen Seite gegenüber der besonders Hegel zugeschriebenen Vollendung der Ontotheologie auf der anderen Seite vgl. Jean Grondin, Der deutsche Idealismus und Heideggers Verschärfung des Problems der Metaphysik nach „Sein und Zeit“, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 41– 57, bes. S. 51– 54. Grondin vertritt die kontrovers zu diskutierende These, dass sich der deutsche Idealismus für Heidegger bereits in den Jahren 1929 – 1931 als „letzte Konsequenz des metaphysischen Denkens“ (Jean Grondin, Der deutsche Idealismus und Heideggers Verschärfung des Problems der Metaphysik nach „Sein und Zeit“, S. 52– 53) formiere. Demgemäß spricht Grondin von einer „Opposition zwischen Heidegger und dem deutschen Idealismus“ (Jean Grondin, Der deutsche Idealismus und Heideggers Verschärfung des Problems der Metaphysik nach „Sein und Zeit“, S. 53), die sich in den folgenden Jahren weiter zuspitze und Heidegger schließlich dazu animiere, „den Titel Metaphysik für sich fallenzulassen“ (Jean Grondin, Der deutsche Idealismus und Heideggers Verschärfung des Problems der Metaphysik nach „Sein und Zeit“, S. 53).

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

überwinden. Schellingt fügt der Formalität des Freiheitsbegriffes „den realen und lebendigen“⁷⁷, sich aus dem höheren Realismus herschreibenden Begriff bei, sodass die menschliche Freiheit als Vermögen zum Guten und zum Bösen erkennbar wird.⁷⁸ Das Böse wird nicht mehr als Nichtseiendes, als Privation oder als aus einer fehlgeleiteten Erkenntnis entspringender, geringerer Grad des Guten betrachtet. Stattdessen wird das Böse in seiner Positivität anerkannt und aktiv auf seinen Entstehungshintergrund befragt.

2.1.5 Die Seynsfuge als Erfordernis einer Metaphysik des Bösen Für Heidegger ist zentral, dass Schelling mit seiner Ergründung des Bösen nicht einfach die überfällige Integration eines bislang theologisch und moralisch konnotierten, stets seinem Gegenbegriff (d. h. dem Guten) untergeordneten Motivs nachliefert. Die Frage nach dem Seinsstatus des Bösen erwirke eine „Verwandlung der Frage nach dem Seyn“⁷⁹, durch die in die „Grundfrage der Philosophie nach dem Seyn ein neuer wesentlicher Stoß“⁸⁰ komme. In Bezug auf die Konstellation Schelling-Nietzsche ist festzuhalten, dass Heidegger diese Konzession gegenüber Nietzsche niemals macht.⁸¹ Dagegen kann Heideggers Beurteilung der

 Schelling, SW VII, S. 352. Vgl. Heidegger GA 42, S. 166 – 167.  Vgl. zur Diskussion, ob es im Schellingschen Textarchetyp „Vermögen zum Guten und zum Bösen“ oder „Vermögen zum Guten oder zum Bösen“ heißt und Heidegger somit einer fehlerhaften Deutung unterliegt: Thomas Buchheim, „Metaphysische Notwendigkeit des Bösen“. Über eine Zweideutigkeit in Heideggers Auslegung der Freiheitsschrift, in: Istvan Feher / Wilhelm G. Jacobs (Hrsg.), Zeit und Freiheit. Schelling – Schopenhauer – Kierkegaard – Heidegger, Budapest 1999, S. 183 – 192, bes. S. 189 – 191.  Heidegger, GA 42, S. 168.  Heidegger, GA 42, S. 169. Vgl. zum Begriff des Stoßes: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 17: „Alle Anfänge sind in sich das unüberholbar Vollendete. Sie entziehen sich der Historie, nicht weil sie überzeitlich-ewig, sondern größer sind als die Ewigkeit: die Stöße der Zeit, die dem Sein die Offenheit seines Sichverbergens einräumen.“  Darüber hinaus hält Heidegger Schelling zugute, dass er den Begriff des Werdens als „Seynsbewahrung“ zu denken vermocht habe. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 214– 215: „Das Seyn der Dinge ist ein Werden, besagt: Die seienden Dinge erstreben je bestimmte Stufen des Wollens; es gibt in ihrem Bereich niemals die gleich-gültige Gleichmäßigkeit eines nur vorhandenen Vielerlei. Das Werden ist eine dem Seyn dienstbare Weise der Seinsbewahrung und nicht das einfache Gegenteil zum Seyn, wie es leicht den Anschein hat, wenn Seyn und Werden nur nach formalen Hinsichten unterschieden werden und Seyn als Vorhandensein verstanden ist. (Schelling kommt hier, ohne wirklich zuzugreifen, in die Nähe der wahrhaften metaphysischen Bezüge zwischen Seyn und Werden, die dem denkerischen Blick seit jeher leicht entschwinden, weil er sich an die formalen Begriffsverhältnisse der beiden Vorstellungen verliert; auch Nietzsche ist an dieser Stelle nicht aus

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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Metaphysik des Bösen als einschneidende Verwandlung der Frage nach dem Seyn wie folgt rekonstruiert werden: Da das System in der Bedeutung einer aus dem Seyn ergehenden Fügung des Seienden verstanden wird, indiziert die Art des geschichtlichen Systementwurfs auf die zugrundeliegende Wahrheit des Seyns und entbirgt die maßgebliche Bestimmung des Wesens des Menschen. Schelling dekuvriert, dass der im weitesten Sinne begriffene Pantheismus mitsamt seinen Subsystemen nicht imstande ist, die Wirklichkeit des Bösen mit der lauteren Güte Gottes zu vereinbaren – sowohl die Immanenzkonzeption als auch die Entwürfe eines Concursus und eines Emanationssystems scheitern an dieser Aufgabe.⁸² Auch der Lösungsansatz eines manichäischen Dualismus ist für Schelling nicht statthaft, da dieser zu einer „Selbstzerreißung und Verzweiflung der Vernunft“⁸³ führe. Daher erzwingt die Frage nach der Wirklichkeit des Bösen eine Revision des Prinzips der Systembildung, wodurch sich zugleich die ontologische Erhellung des Wesens des Seienden wandelt.⁸⁴ Es offenbart sich jedoch, dass das Prinzip nur gestützt werden kann im theologischen Rekurs auf das Seyn des Grundes des Seienden. Diese Wurzel wird durch den Satz: „Gott ist alles“ charakterisiert, an dem Schelling unbedingt festhält.⁸⁵ Obzwar Gott alles ist, soll er nicht für die Entstehung des Bösen verantwortlich gemacht werden. Also kann eine Theodizee und Entlastung Gottes nur erfolgreich sein, wenn das Böse in dem entsteht, was in Gott nicht er selbst ist. Diese Entität ist der Grund und die Natur Gottes, die sich von seiner personalen Existenz unterscheiden lässt:

den Netzen der formalen Dialektik herausgekommen).“ Auffällig ist neben der ostentativen Kritik an Nietzsche die deutliche Affirmation der Verknüpfung von Werden, Seyn und den verschiedenen Stufen des Wollens, in die sich das All des Seienden hineinstrebend verteilt.  Zu Schellings Kritik an den bisherigen Systemen der Philosophie und an den überlieferten Lösungsversuchen des Theodizeeproblems vgl. Jörg Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen (350 – 364), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 66 – 77.  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 354.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 170.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 112: „Schelling sucht das Prinzip der Systembildung am Leitfaden der Pantheismusfrage, diese aber ist die Frage nach dem Grund des Seienden im Ganzen, allgemeiner gekennzeichnet: die theologische Frage. Somit ist klar: Schelling wird aus der theologischen Frage durch diese selbst in die ontologische zurückgetrieben.“ In der Anmerkung zu dieser Textstelle bekennt Heidegger allerdings, dies sei „schon überdeutet“ (Heidegger, GA 42, S. 112).

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Die Naturphilosophie unsrer Zeit⁸⁶ hat zuerst in der Wissenschaft die Unterscheidung aufgestellt zwischen dem Wesen, sofern es existiert, und dem Wesen, sofern es bloß Grund von Existenz ist.⁸⁷

In Heideggers Erläuterung dieser wichtigen Textstelle ist auffällig, dass er Schellings Unterscheidung von Grund und Existenz zu Recht nicht in die naheliegende Strukturanalogie zur metaphysischen Differenz von essentia (Wesenheit) und existentia (Dasein, Wirklichkeit) setzt. In einer folgenschweren Interpretationsentscheidung markiert er die Seynsfuge als Unterscheidung, die innerhalb des Seienden im Ganzen stattfinde: „[…] die Unterscheidung wird innerhalb dessen vollzogen, was bisher unbestimmt ‚existentia‘ heißt: Wirklichkeit, Vorhandenheit, Dasein“.⁸⁸ Entsprechend muss jedes in sich stehende Seiende, jedes „Wesen“ sowohl als Grundgebendes als auch als Existierendes betrachtet werden.⁸⁹ So wie die Bedeutung des Grundes keineswegs mit der Ratio verwechselt werden dürfe, spricht Heidegger Schelling zu, das Verhältnisglied der Existenz nicht gemäß der üblichen Semantik als das bloße Vorhandensein begriffen zu haben. Stattdessen beschreibt Heidegger die aus ihrem Grunde herauswachsende und sich in diesen zurückwindende Existenz im Sinne des lateinischen ek-sistere als das „im Heraustreten sich Offenbarende“.⁹⁰ Nachdem Heideggers Auslegungsgang hinsichtlich der Bestimmung des Wollens als Ursein und der Exposition der Unumgänglichkeit der Seynsfuge rekapituliert wurde, sollen nun die entscheidenden Knotenpunkte im Vorgriff auf die Schelling-Vorlesung von 1941 sowie im Bezug auf Heideggers Gesamtbetrachtung der abendländischen Willensmetaphysik destilliert werden. Es ist festzuhalten, dass das mit dem Ursein identifizierte Wollen für Heidegger bis zu diesem Punkt fast gänzlich in der Konnotation mit dem Bedeutungsfeld der Freiheit, des Werdens und der Selbstständigkeit aufgeht. In diesem Sinne wird das Wollen von Seiten Heideggers gegen die vermeintliche Mechanik des Spinozischen Systems in Stellung gebracht. Der große Auftritt des Willens erfolgt 1936 erst in dem Moment, in dem die Frage nach dem Einheitsgrund der Seynsfuge virulent wird: Der Unterschied von Grund und Existenz betrifft das Seiende als solches in zwei verschiedenen, aber zusammengehörigen Hinsichten; einheitlich also betreffen diese Bestimmungen

 Schelling bezieht sich auf die Darstellung meines Systems der Philosophie von 1801. Das Werk fällt in die Phase der Identitätsphilosophie.  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 357. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 186.  Heidegger, GA 42, S. 187.  Vgl. Heidegger, GA 42, 187.  Heidegger, GA 42, S. 187.

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

573

das Seyn des Seienden. Wir hörten bereits: Das ursprüngliche Wesen des Seyns ist Wollen. Die genannte Unterscheidung muß demnach, wenn anders sie die Wesensbestimmtheit des Seyns angeben soll, im Wesen des Wollens beschlossen liegen. Durch eine hinreichend ursprüngliche Zergliederung des Wesens des Wollens müssen wir daher auf diese Unterscheidung stoßen. Schelling selbst freilich geht diesen Weg der Wesenszergliederung nicht, weder hier noch sonst im Verlauf der Abhandlung.⁹¹

 Heidegger, GA 42, S. 188 – 189. Folglich intendiert Heidegger, den Unterschied von Grund und Existenz auf die als Wollen charakterisierte Einheitswurzel zurückzuführen und ein monistisches Begründungsmodell zu etablieren. Demgegenüber argumentiert Jörg Jantzen überzeugend für die These, dass Schellings Unterscheidung zwischen dem „Wesen, sofern es existiert und sofern es bloß Grund von Existenz ist“ (Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 357) die klassischen, metaphysischen Fundierungsoptionen des Anfangsprinzips und die Disjunktion von Monismus und Dualismus hinter sich lasse.Vgl. Jörg Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen (350 – 364), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 77– 80. Aufgrund des wechselseitigen Sichvoraussetzens des Grundes und der Existenz in der Gestalt „gleichgültiger Prädikate“ (Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, S. 78) erschöpfe sich das Wesen im paritätischen Verhältnis beider Pole, sodass ebendieses Wesen nicht mehr als „vorausliegende oysia bzw. Substanz“ (Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, S. 78) gedacht werden könne. Die Termini von Grund und Existenz lassen sich dem Wesen nach Jantzen nicht als innewohnende Bestimmungen eines Substrats zuschreiben, sondern geben allein die „‚logischen‘ Bedingungen der Konstitution eines solchen Etwas“ (Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, S. 78) an. Entscheidend ist für Jantzen, dass Schelling in dem Gefüge von Grund und Existenz den Satz der Identität und den Satz vom Grunde in einer Weise synthetisiert, in der beide Sätze sowohl unbedingt sind als auch in einem reziproken Bedingungsverhältnis stehen. Zum einen ist der Grund von Existenz nicht das Andere des Existierenden, sondern mit diesem im Wesen vereinigt. Diesbezüglich gilt der Satz der Identität A=A. Zum anderen kann die Existenz auf ihren Grund befragt werden und ersteht aus diesem, um diesen in ihrem Herauswachsen seinerseits manifest werden zu lassen. Hier gilt der Satz A=B, „A hat einen Grund“ (Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, S. 79). Folglich kann in Schellings Fundamentalunterscheidung weder der Satz vom Grunde einen Dualismus verbürgen noch ist der Satz der Identität in der Lage, einen Monismus zu legitimieren. Schelling gelingt es somit, einen „radikal ungegenständlichen“ (Jantzen, Die Möglichkeit des Guten und des Bösen, S. 79) Anfang zu konzipieren. Während Jantzen den metaphysikkritischen Impetus in der Fundamentalunterscheidung des Wesens in den Vordergrund rückt, interpretiert Hermann Krings den Terminus des Grundes in einem transzendentalphilosophischen Sinne. Vgl. Hermann Krings, Von der Freiheit Gottes (394 – 403), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W.J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 180 f. Der Grund sei weder ein „logischer, noch ein ontologischer, noch ein metaphysischer Begriff“, sondern müsse als „Bedingung der Möglichkeit des Heraustretens“ (Krings, Von der Freiheit Gottes, S. 180) begriffen werden. Ausgesprochen bedenkenswert ist des Weiteren die von Wilhelm Vossenkuhl vorgeschlagene Lesart des Grundes in dessen Beziehung zum Willen der Liebe. Nach Vossenkuhl verknüpft Schelling in dieser Konstellation die ontotheologische Dimension mit einer gnostischen Geschichtsphilosophie. Vgl. Wilhelm Vossenkuhl, Zum Problem der Herkunft des Bösen II: Der Ursprung des Bösen in Gott, in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 117– 121. Der aus dem ersten Bezugsglied der Unterscheidung zwischen dem Grund und dem Existierendem entlehnte Wille des Grundes reprä-

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Diesem Passus lassen sich wichtige Aspekte entnehmen. Die nunmehr modifizierte Unterscheidung aktualisiert sich zwar in jedem einzelnen Seienden. Dies geschieht jedoch so, dass das Wesen, an dem Grundgebendes und Heraustretendes unterschieden werden, selbst nur als ein Fall, als eine Repräsentation der im „Seyn des Seienden“ generierten Generaldifferenz tituliert werden kann. Dadurch erhält die zirkuläre Unterscheidung der zwei sich gegenseitig voraussetzenden Elemente nun eine gewissermaßen apriorische, gründend-wesentliche Funktion. Entscheidend ist, dass Heidegger das Wesen des Wollens schon 1936 als Ursprungsort der Unterscheidung markiert. Jedes wirklich Seiende ist durch die Zweiheit in der Einheit gekennzeichnet, weil das vorauslaufende Wesen des Wollens sich als Ermöglichungsbedingung jedes Seienden je schon in sie geteilt hat. Im willenhaften Sein des Seienden wird die Seynsfuge in ihre ungetrennte Einheit zurückgenommen. Hier – so lautet die leitende These – lässt sich die Geburtsstunde und die bei Schelling gefundene textuelle Rechtfertigung für Heideggers Beurteilung des Willens als dominierende Seiendheit der Neuzeit verorten. Heidegger wies bereits im Vorhinein darauf hin, dass der Idealismus das „Wesen des Wollens“⁹² nicht mehr zu denken vermocht habe. Darauf aufbauend, ließe sich die These aufstellen, dass die Entfaltung dieses Wesens Nietzsche respektive Heideggers Auseinandersetzung mit dem Verfasser von Also sprach Zarathustra vorbehalten bleibt. Zudem manifestiert sich in dem oben zitierten Passus das für Heidegger typische Strategem einer prätendierten Tiefenhermeneutik. Diese sucht im Gesagten das Ungesagte – das sich an diesem Ort als im Wesen des Wollens verborgene, in ihm ausgetragene und zum Vorschein gebrachte Unterscheidung aufspüren lässt – zu lichten. Dieses Anliegen kollidiert indes mit der Problematik, dass Schelling selbst die Einheit zwischen dem Grund und dem Existierenden nicht unmittelbar aus einer Willenswurzel, sondern aus dem prädikationslosen Ungrund entspringen lässt. Die in der Forschung verfochtene Position erscheint zutreffend, dass sich im Hinblick auf das systemkritische Moment der Entzogenheit eine gewichtige Nähe zwischen dem Ungrund und dem in den Beiträgen

sentiere die ontologische Seite, wohingegen der Wille der Liebe die theologisch-christologische Bedeutungsschicht versinnbildliche. Im Willen des Grundes wird nach Vossenkuhl die Dynamik des Schöpfergottes ausgedrückt; im Willen der Liebe kommt die Sinnerwartung des Erlösers Christi zum Tragen: „Schelling verbindet so Ontologie und Theologie. Und diese Verbindung ist für die spekulative Bewältigung des Bösen am Ende entscheidend. Ohne den ‚Willen der Liebe‘ wäre es Schelling nicht möglich, die Überwindung des Bösen, und damit ein gutes Ende der Offenbarung, zu postulieren.“ Vgl. Vossenkuhl, Der Ursprung des Bösen in Gott, S. 118.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 171: „Sein ist Wollen; damit stoßen wir an die Grenze; zugleich wird der Übergang sichtbar in der Frage nach dem Wesen des Wollens!“

2.1 Die freiheitstheoretische und dynamische Auslegung des Wollens

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zur Philosophie als Abgrund gefassten Seyn konstatieren lässt. Hier ist gerade zu bedenken, dass das Seyn das Bezugsverhalten zwischen Dasein und Seiendem eröffnen soll.⁹³ Der Ungrund, der den Primat des Willens unterminieren könnte, spielt in Heideggers Schelling-Auslegung 1936 bemerkenswerterweise eine bestenfalls marginale Rolle. 1936 thematisiert Heidegger den Ungrund erst am Ende seiner Interpretation der Freiheitsschrift. Gemäß seiner Kernthese zur Textgliederung ist „das eigentliche Gewicht der Schellingschen Abhandlung, dem Gehalt und der Gestaltung nach, in der Einleitung und in den ersten vier Abschnitten“⁹⁴ konzentriert. In diesen Abschnitten entwickle Schelling die „Systemfrage“⁹⁵ und arbeite eine „Grundstellung der Philosophie“⁹⁶ aus. Auf dieser Einteilungsbasis widmet sich Heidegger dem Ungrund im §27 VII. Die höchste Einheit des Seienden im Ganzen und die menschliche Freiheit (406 – 416) in ausgesprochener Kürze.⁹⁷ Der Ungrund wird von Heidegger zwar als „ursprüngliche Einheit“⁹⁸ anerkannt, die angesichts des ewigen Werdens des Absoluten „als jene west, die alles entspringen läßt“.⁹⁹ Nichtsdestotrotz ist der Ungrund als prädualistische Indifferenz in der Interpretation Heideggers gänzlich im Schatten der Identität lokalisiert. Die Identität tritt in der Gestalt der „Einheit des Zusammengehörigen“¹⁰⁰ auf und offenbart sich als Seynsfuge von Grund und Existenz. Obgleich er Schellings privilegierende Terminologie beibehält, betrachtet Heidegger den Ungrund keineswegs als das Höchste. Er versteht den Ungrund als prädikationslose Verwahrungsinstanz der noch ununterscheidbaren, (logisch) späteren, wichtigeren Wesensmomente des Seienden im Ganzen und etikettiert ihn als Durchgangsstätte zur intendierten Differenz. Es ist kaum zu bestreiten, dass sich Heideggers zurückstufende Beurteilung des Ungrundes mit Schellings Darlegungsgang in einen vollständigen Einklang bringen lässt, wenn prozessontologische, offenbarungstheologische oder freiheitstheoretische Lesarten der Freiheitsschrift präferiert werden. Als entscheidende und aufschlussreiche Komponente in Heideggers Deutung der absoluten Indifferenz kristallisiert sich daher ein anderer Sachverhalt heraus.

 Vgl. etwa Joji Yorikawa, Vom Grund zum Ungrund – Zu Heidegger und Schelling, in: Journal of International Affairs (Aichi University), 123 (2004), S. 21– 41.  Heidegger, GA 42, S. 281.  Heidegger, GA 42, S. 281.  Heidegger, GA 42, S. 281.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 279 – 280.  Heidegger, GA 42, S. 279.  Heidegger, GA 42, S. 279 – 280.  Heidegger, GA 42, S. 280.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Dieser Tatbestand betrifft die ontologische Generalopposition zwischen der Endlichkeit des Seyns und der Un-endlichkeit des Absoluten und besitzt einen subversiv-dekonstruktiven Charakter. Indem Schelling dem Ungrund den Absolutheitsstatus konzediert und zugleich alle seinshaltigen Bestimmungen von ebendiesem Absoluten abweist, macht er nach Heidegger unfreiwillig und ex negativo sichtbar, dass das Seyn selbst seine Wahrheit niemals als eine zeitenthobene, prädikationslose, ungeschichtliche Entität lichtet. Vielmehr illustriere sich nachdrücklich, dass das Seyn in einem innig-unausweichlichen Zusammenhang mit der menschlichen Endlichkeit situiert ist: Das einzige Prädikat, das ihr zugesprochen werden kann, ist die Prädikatlosigkeit. Die absolute Indifferenz ist das Nichts in dem Sinn, daß ihr gegenüber jede Seinsaussage nichts ist; aber nicht in dem Sinne, daß das Absolute das Nichtige und reine Nichtsnutzige ist. Auch hier sieht Schelling nicht die Notwendigkeit eines wesentlichen Schrittes. Wenn das Seyn in Wahrheit vom Absoluten nicht gesagt werden kann, dann liegt darin, daß das Wesen alles Seyns die Endlichkeit ist und daß nur das endlich Existierende das Vorrecht und den Schmerz hat, im Seyn als solchem zu stehen und das Wahre als Seiendes zu erfahren.¹⁰¹

Insgesamt kann resümiert werden, dass die Einordnung Schellings in die Willensmetaphysik 1936 noch nicht direkt systematisch begründet wird. Die entsprechenden Hürden für eine solche Verankerung wurden von Heidegger aber bereits in der ersten Schelling-Vorlesung aus dem Weg geräumt. Diese These gilt es nun im zweiten Abschnitt dieses Kapitels in einer gründlichen Lektüre und Interpretation der Schelling-Vorlesung von 1941 zu plausibilisieren.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens als Gipfel der neuzeitlichen Subjektivität in der Schelling-Vorlesung von 1941 Im Nichtwollen, können wir sagen, besteht alle Übernatürlichkeit. So wie umgekehrt zu wollen natürlich ist u. alle Natürlichkeit eben durch das Wollen gesetzt wird. Das ist das Schwerste u. über alle Natur, bloßer Wille zu seyn ohne zu wollen, nicht zu wollen, in der Gleichgültigkeit zu bleiben. Es heißt: Des Menschen Wille ist sein Himmel, aber es könnte auch heißen: des Menschen Wille ist seine Hölle. Zuerst sollte man wohl sagen, der gestillte Wille, der Wille der nichts will sey der Himmel. Jeder Mensch sucht diesen Himmel, nicht nur, der es erträgt nichts zu wollen, um vom höchsten erfüllt zu werden (denn nur den Willen der nichts will kann Gott erfüllen) sondern auch der sich wild allen Begehrungen überläßt, denn was ist die Hölle selbst, als das ewige Suchen Müssen und nicht finden Können des Himmels. Es ist ein Gedanke, der sich wohl hören läßt, daß abgeschiedene Geister, die

 Heidegger, GA 42, S. 280.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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unfähig des Himmels in die Region desselben gerathen, sich von selbst von ihm wieder ausscheiden, weil ihnen jener erfüllte Zustand des ruhenden nichtwollenden Willens zur Pein zur verzehrenden Sucht wird, daß sie also freiwillig sich wieder hinabstürzen in den Umtrieb der nie ersättigten, ewig wieder hungernden Begierde.¹⁰²

2.2.1 Die Verdopplung der Subjektivität: Zu Heideggers geschichtlicher Rekonstruktion der Begriffe „Existenz“ und „Grund“ Das erste Kapitel der Vorlesung Die Metaphysik des deutschen Idealismus trägt den Titel Die begriffsgeschichtliche Erläuterung von Grund und Existenz. ¹⁰³ Es beinhaltet eine ausführliche Abgrenzung des in Sein und Zeit bedachten Begriffes der Existenz von den Kierkegaard und Jaspers zugesprochenen Verständnisweisen dieses Terminus.¹⁰⁴ In einer detaillierten Selbstauslegung seines Hauptwerkes argumentiert Heidegger zudem gegen eine Einordnung von Sein und Zeit in das Gebiet der Philosophischen Anthropologie ¹⁰⁵ und setzt seine Konzeption der Zeitlichkeit in ein antagonistisches Verhältnis zu dem tradierten Definitionskern der Zeit als Medium der Messung und Bestimmung von Anwesenheit.¹⁰⁶ Erst im §12 (Vordeutung auf Schellings Existenzbegriff) befasst sich Heidegger direkt mit Schellings Entwurf der Existenz. Bemerkenswert ist, dass Heideggers Klärung dieses Topos gegenüber der Besprechung des Wesens des Grundes im §13 einen deutlich verminderten Umfang aufweist. a) Existenz: Schellings Existenzbegriff bildet nach Heidegger den Übergang zwischen dem metaphysischen Begriffsgehalt der Existentia im Sinne der Wirklichkeit und der Kierkegaardischen Einschränkung der Existenz auf das menschliche Selbstsein.¹⁰⁷ Die Angleichung der Existenz an die Subjektivität bahnt sich bei Schelling an, insofern er sie als „Egoität“¹⁰⁸ auslegt. Zugleich wird die exklusive Anwendbarkeit dieses Titels auf den Menschen vermieden, indem Schelling die Gültigkeit der Selbstheit für jedes Seiende behauptet. Anders als in der Vorlesung von 1936, in der Heidegger Schellings Begriff der Existenz mit der Formulierung des „im Heraus-treten sich Offenbarenden“¹⁰⁹ beschrieben hatte, betont er nun,

       

Schelling, WA III 4, S. 217. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 17– 82. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 18 – 41. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 32– 35. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 52. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 75. Heidegger, GA 49, S. 75. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 187.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

dass Schellings Existenzkonzeption aufgrund der ontologischen Universalisierung „ganz innerhalb der abendländischen und zugleich neuzeitlichen Metaphysik“¹¹⁰ verbleibe. Deswegen weist sie nicht mehr – wie noch 1936 – auf den Existenzbegriff der „Inständigkeit in der ekstatischen Offenheit des Seins“¹¹¹ voraus, den Heidegger in seiner 1941 vorgetragenen Selbstdeutung Sein und Zeit vorbehält.¹¹² b) Grund: Zur Begriffsgeschichte des Grundes im §13 (Die das Wesen des Grundes bestimmenden anfänglichen Antriebe und deren geschichtlicher Wandel): Mit dem Wort „Grund“ sind zahlreiche Assoziationen verknüpft. In diesen erscheint er als feste Unterlage, als Wirkursache, als Erkenntnisgrund und als Legitimität im Sinne des berechtigten Rechtsanspruches. Dennoch lassen sich diese diversen Bedeutungen nach Heidegger auf einen gemeinsamen Wesenszug zurückführen: In der lebensweltlichen Verankerungsanzeige, in der erklärenden Hinblicknahme auf die Ermöglichung des Wirkenden und in der epistemischen Vergewisserung fungiert der Grund stets als das, „worauf eine Herstellung, Aufstellung, ein Stehen und Gehen, eine ‚Erklärung‘ (Durch-gehen) zurückgeht“.¹¹³ Hinsichtlich des Seinsprädikates der Grundlosigkeit und des Verhältnisses von Wille und Zeit ist von elementarer Signifikanz, dass Heidegger den Topos der Fundierung verschiedener Sachbereiche mit den Zeitdimensionen analogisiert. So ist der Grund als das „irgendwie Zurückliegende“¹¹⁴ gekennzeichnet, welches „zugleich voraufgeht und vorauswaltet und vorherwirkt“.¹¹⁵ Der Grund enthüllt sich in der Unumgänglichkeit eines rückschreitenden Begründens als der älteste Anfang. Als „Erstling“¹¹⁶ gibt er das aus ihm Entstehende nicht in die Ungebundenheit frei, sondern durchherrscht es weiterhin. Die Verbindung von Anfang und Herrschaft spricht sich in dem Terminus der ἀρχή aus. Die ἀρχή spaltet sich bei Aristoteles in die vier αἰτίαι auf, durch welche jedem

 Heidegger, GA 49, S. 75.  Heidegger, GA 49, S. 60.  Diesen eklatanten Wandel in Heideggers Beurteilung und Auslegung des Schellingschen Existenzbegriffes exponiert auch Dietmar Köhler.Vgl. Köhler, Kontinuität und Wandel – Heideggers Schelling-Interpretationen von 1936 und 1941, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 179 – 180. Vgl. zu der Heideggerschen Neubewertung des Schellingschen Existenzbegriffes auch: Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 190 – 191. Zur generellen Frage nach der Gradweite einer Perspektivenverschiebung Heideggers in den Schelling-Vorlesungen von 1936 und 1941 vgl. Konstanze Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 245 – 250.  Heidegger, GA 49, S. 77.  Heidegger, GA 49, S. 77.  Heidegger, GA 49, S. 77.  Heidegger, GA 49, S. 77.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Seienden eine „vollendete Fertigkeit“¹¹⁷ zukommt. Jedes Anwesende kann sich in der Mannigfaltigkeit seiner Eigenschaften nur zeigen, wenn es in die vom Grund gewährte „Anwesung“¹¹⁸ aufgeht. Im Zugrundeliegenden, im ὑποκείμενον, werden die Eigenschaften des jeweils Seienden versammelt. Gleichzeitig wird der beharrende Träger von ihnen unterschieden. Wenn der Grund vor allen Eigenschaften vorliegend beziehungsweise ihnen zugrundeliegend das Seiende prästrukturiert, kann er von diesem nicht getrennt werden. Der Grund ist dieses jeweilige Seiende selbst als ein „von sich her Anwesende[s]“.¹¹⁹ Jedes Seiende muss als „subjectum“¹²⁰ bezeichnet werden und existiert als dieses im Verbund mit

 Heidegger, GA 49, S. 79.  Heidegger, GA 49, S. 79.  Heidegger, GA 49, S. 80.  Heidegger, GA 49, S. 81. Konstanze Sommer vertritt die profunde These, dass Heideggers Systematisierung der neuzeitlichen Metaphysik eher auf dem Motiv des subjectum denn auf dem Willensparadigma beruhe. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 265: „Deutlich wird höchstens, dass es in Wahrheit einen bzw. zwei konkurrierende Begriffe gibt, die viel eher geeignet scheinen, das Zentrum des metaphysischen Denkens im Sinne Heideggers zu bilden. Gemeint sind die Begriffe ὑποκείμενον bzw. subjectum, von denen der Begriff subjectum mit der Assoziation von Subjektivität vielleicht noch zentraler ist als derjenige des ὑποκείμενον. In Wahrheit lassen sich die meisten der behandelten oder angerissenen Aspekte und Begriffe viel eher in Bezug auf das Problem von Subjektivität verstehen. Dazu gehören Begriffe wie Selbstheit, Egoität und Selbstbezüglichkeit, aber auch Bewusstsein, Vorrang des Verstandes oder der Begriff der Vorstellung.“ Zur Stützung ihrer These verweist K. Sommer auf Heideggers Seminaraufzeichnungen zur Schelling-Vorlesung von 1941.Vgl. Heidegger, Seminare: Hegel – Schelling, GA 86, S. 213: „Die Unvergleichbarkeit der Metaphysik und des seynsgeschichtlichen Denkens wird dort offenbar, wo der Schein ihrer Selbigkeit am stärksten und unmittelbarsten ist – in der Metaphysik der unbedingten Subjektivität. […] Woran liegt das? Daran daß die unbedingte Subjektivität alles in die Seiendheit auflöst und dies als das Seiendste selbst und als Bewegung und Wille entfaltet und so den Schein verstärkt und festmacht, als werde hier das Sein erfragt, während doch gerade das ‚Sein‘ längst entschwunden ist […].“ [Von Heidegger kursiv, J.K.]. In eine ähnliche Richtung weist eine Aufzeichnung aus dem Aufsatz Nietzsches Wort „Gott ist tot“, insofern auch dort die ontologische wie geschichtliche Priorität des subjectum vor dem Willen (zum Willen) stipuliert wird. Vgl. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 218: „Die οὐσία (Seiendheit) des subjectum wird zur Subjektivität des Selbstbewußtseins, das jetzt sein Wesen als Willen zum Willen ans Licht bringt. Der Wille ist als Wille zur Macht der Befehl zu Mehr-Macht.“ Im Hinblick auf Heideggers Begriffsgeschichtliche Erläuterung kritisiert Sommer, dass in dessen metaphysisch-anamnetischer Darlegung der Bedeutung von Grund und Existenz „am Ende der Begriff des Grundes auf denselben Ursprung, nämlich auf dasselbe Begriffsfeld aus Selbstheit und Subjektivität zu verweisen scheint wie der der Existenz, so dass die Unterscheidung zwischen Grund und Existenz auf Anhieb fast schon sinnlos erscheint“ (vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 255). Dadurch übergeht Sommer die entscheidende Pointe. Es kommt Heidegger nämlich gerade darauf an, die an Schellings philosophiegeschichtlichem Ort erreichte

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

seinen Eigenschaften. Folglich kann nach Heidegger bei den griechischen Denkern innerhalb des thematischen Seienden weder eine scharfe Dualisierung von Substanz und Akzidenz noch eine Dignitätsunterscheidung nach Graden der Selbstheit dominant werden. Das Kernmerkmal des Grundes als beständige und verlässliche Unterlage wird in der neuzeitlichen Metaphysik beibehalten und in einer umkehrenden Restriktion auf die Instanz bezogen, die sich des Grundes in ihren Erkenntnisvollzügen zu vergewissern vermag. In der dritten Meditation entdeckt Descartes die irreduzible und unbestreitbare Gewissheit im ego cogito, das sich im Prüfgang des radikalen Zweifels bewahrheitet. Die res cogitans bzw. das sich vorstellende ego wird zum „ausgezeichneten subjectum“.¹²¹ Leibniz nimmt dieser Bestimmung ihre Starrheit, indem er die Valenz des subjectum als wesentliche Prägung eines Seienden mit der auf der Energeia aufruhenden vis zur Subjektivität zusammenschließt.¹²² Bei Kant avanciert die Distinktion zwischen dem Subjekt, das die Formen der Anschauung und die Kategorien im Bewusstsein trägt, und dem Objekt, das sich als Gegenstand durch deren Anwendung konstituiert, einerseits zur epistemologischen Zentralkonstellation. Andererseits kennzeichnet Kant mit dem Terminus „Subjekt“ nach Heidegger jedes Seiende, das durch eine Selbstbezüglichkeit oder ein Selbstsein charakterisiert ist.¹²³ Im Rahmen der Inversionsgeschichte des ὑποκείμενον markiert Schellings Definitionsweise zum einen den letzten Akt einer Entwicklung, in der das Grundgebende zunehmend unter die Botmäßigkeit des Selbstseins und der mit dieser gleichgesetzten Subjektivität manövriert wurde. In Schellings Philosophie werden die neuzeitlichen Attribute des ὑποκείμενον laut Heidegger endgültig auf die Existenz übertragen. Heidegger stellt daher als Frage in den Raum, ob nicht „Schellings Kennzeichnung des Seienden als ‚Grund‘ aus der neuzeitlichen Auslegung der Seiendheit als Subjektivität entspringen“¹²⁴ könnte. Zum anderen scheint Schelling durch die Unterscheidung des Wesens, insofern es Grund von Existenz ist und insofern es existiert, dem Grund sein Eigenrecht, d. h. seinen ursprünglichen Bedeutungsbestand zurückgegeben zu haben. Indem Schelling jedoch jedes Seiende durch den Grund und die Existenz gefügt sieht, wird die Tragweite und Selbständigkeit des Grundes zugunsten der ihn gemeinsam mit der

Einebnung der Dualität zugunsten der Subjektivität sichtbar zu machen. Diese avanciert als bewusstseinsmäßige Selbstbezüglichkeit zugleich zum grundgebenden Element.  Heidegger, GA 49, S. 81.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 81.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 82.  Heidegger, GA 49, S. 82.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Existenz aufbewahrenden Einheit, der Wurzel der Unterscheidung, zurückbeordert. Die begriffsgeschichtliche Erläuterung der zunächst isoliert betrachteten Momente der Existenz und des Grundes konnte zeigen, dass sich das ὑποκείμενον/ subjectum schließlich in der Gewissheit des ego cogito stabilisierte. In Schellings Denken schlägt sich das subjectum in der Gestalt des Selbstseins in dem Moment der Existenz nieder. Die in Heideggers obiger Frage anklingende, umgekehrte Nachweisrichtung, wonach auf die Schellingsche Konzeption des Grundes Attribute der Subjektivität übergegangen sein könnten, leitet zum Zweiten Kapitel der Vorlesung von 1941 über. In diesem untersucht Heidegger die Wurzel der Unterscheidung, die den Grund und die Existenz zu verbinden vermag.

2.2.2 Die Fundierung des Seins als Wille: Die Vereinigung der metaphysischen Wesensprädikate im Willen Im Zweiten Kapitel (Die Wurzel der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz ¹²⁵) des Ersten Teils proponiert Heidegger, dass sich diese Wurzel in einer „einfachen Besinnung“¹²⁶ erschließen lasse. Darin manifestiert sich eine Kontinuität gegenüber der Vorlesung von 1936, in der Heidegger die Zergliederung der Unterscheidungswurzel als Weg beschrieben hatte, der zuletzt immer auf das Wollen als Urphänomen stoßen müsste.¹²⁷ 1936 apostrophierte Heidegger die Willenszentralität, die sich 1941 in der Identität der unterscheidenden mit der in die Unterschiedenen eingehenden Entität bekundet, nicht als Beleg für eine willensmetaphysische Fundierung des Seienden. In der ersten Schelling-Vorlesung wurde die Dynamik des Wollens als Anzeige einer Überwindung des freiheitstheoretischen Dualismus von Naturnotwendigkeit und menschlicher Selbstbestimmung gewürdigt. Diese Dichotomie konnte Schelling nach Heidegger durch eine willenhafte, stufenartige Selbsthabitualisierung jedes Geschöpfes im Ganzen des Seienden hinter sich lassen. Hingegen lautet die entscheidende Passage, mit der Schelling 1941 über die Vertiefung der Unterscheidung in die Willensmetaphysik eingerückt wird:

 Heidegger, GA 49, S. 83 – 90.  Heidegger, GA 49, S. 83.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 189: „Das ursprüngliche Wesen des Seyns ist Wollen. Die genannte Unterscheidung muß demnach, wenn anders sie die Wesensbestimmtheit des Seyns angeben soll, im Wesen des Wollens beschlossen liegen. Durch eine hinreichend ursprüngliche Zergliederung des Wesens des Wollens müssen wir daher auf diese Unterscheidung stoßen.“ Vgl. Nietzsche, KSA 11, S. 661: „Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Auf welchem Wege treffen wir die Wurzel der Unterscheidung? Durch eine einfache Besinnung. Wenn jedes Seiende, sofern es ein Seiendes ist, durch die genannte Unterscheidung bestimmt wird, dann muß diese Unterscheidung im Seienden als solchem, d. h. in dessen Sein ihre Wurzel haben. Also stellt sich die nächste Frage: Wie bestimmt Schelling das Wesen des Seins? Gesetzt, daß wir mit Recht die Freiheitsabhandlung als Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus anerkennen, dann dürfen wir auch vermuten, daß Schelling in dieser Abhandlung sich über das Wesen des Seins alles Seienden ausspricht und damit antwortet auf die aristotelische Frage: τί τὸ ὂν.¹²⁸

Heidegger hatte 1936 mit Schelling betont, dass jedes Seiende – Gott, der Mensch, die Lebewesen und sogar die Dinge – in der Unterscheidung situiert ist.¹²⁹ Heideggers Privilegierung der Freiheitsschrift als „Gipfel der Metaphysik des deutschen Idealismus“¹³⁰ fußt 1941 auf der vorgängigen Ausdeutung dieser Abhandlung als vorzügliches Dokument einer systematischen Selbstformierung des Willens, die Heidegger nun im Anschein eines zetetischen Gestus freizulegen intendiert. Heidegger sucht die Präponderanz der Wurzel und deren Status als metaphysisches Prinzip ausdrücklich zu bekräftigen. Daher votiert Heidegger für die These, dass die Unterscheidung dasjenige Element an jedem Wesen ist, das nicht erst in einer nachträglichen Reflexion oder in einer philosophischen Ergründung prägender Eigenschaften aposteriorisch herangetragen wird. Durch die

 Heidegger, GA 49, S. 83.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 187: „An jedem Seienden solcher Art muß unterschieden werden sein ‚Grund‘ und seine ‚Existenz‘. Das will sagen: Das Seiende muß begriffen werden als Existierendes und als Grundgebendes.“  Heidegger, GA 49, S. 83. Die Kontinuitätslinien zwischen den beiden Vorlesungen hebt Dietmar Köhler in anschaulicher und zutreffender Weise hervor. Vgl. Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 183 – 184: „Vergleicht man beide Auslegungen der Freiheitsschrift miteinander, so fallen allerdings zunächst eher einige konstante Grundthesen ins Auge, wie etwa die Interpretation des schellingschen Seinsbegriffes als Wollen, die Einstufung Schellings als Vollender der abendländischen Metaphysik oder die Festlegung der Unterscheidung von Grund und Existenz als ‚Kernstück‘ der ganzen Abhandlung, obgleich der Titel ‚Seynsfuge‘ in den Interpretationen von 1941 offenbar wieder preisgegeben wird.“ Im Hinblick auf die von Heidegger 1941 gegebene, voluntaristische Auslegung der Unterscheidung von Grund und Existenz konstatiert Köhler in kritischer Perspektivierung hingegen eine Unvereinbarkeit mit dem ursprünglichen, von Seiten Schellings intendierten, freiheitstheoretischen Richtungssinn des Dualgefüges. Vgl. Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 188: „Schließlich bleibt festzuhalten, dass Schellings interner Dualismus von Grund und Existenz gar nicht auf eine Explikation des ‚Seyns‘ im Sinne Heideggers bzw. des Menschseins im Sinne des Heideggerschen In-der-Welt-Seins abzielt, sondern die ‚Fuge‘ von Grund und Existenz wird bei Schelling nur im Hinblick auf das Wesen der menschlichen Freiheit sowie die Möglichkeit und Wirklichkeit des Bösen thematisiert. Dennoch wird man Heidegger darin Recht geben, dass hier zugleich ein grundsätzlich neuer ontologischer bzw. metaphysischer Ansatz ins Spiel gebracht wird.“

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Einführung der Unterscheidung soll nach Heidegger kein spezifisches Vermittlungsproblem gelöst werden, da der interne Dualismus vielmehr jedes Wesen überhaupt erst konstituiere. Diesen Sachverhalt konnte Schelling in seinem Entwurf einer Schöpfung als zunehmende Verklärung des Willens des Grundes, dessen Individuationsdrang sich unter der Führung des Verstandes auf verschiedenen Ebenen ausfächert, durchaus einholen. Dass das Seiendsein des Seienden durch die sich verschiedenartig gestaltende Einfügung jedes Seienden in die Unterscheidung erbracht wird, läuft jedoch nur auf einen metaphysischen Einheitsgrund hinaus, wenn erstens Schellings Aufhebung eines prinzipiierenden Dritten in der Theorie der Copula übergangen wird. Die Identität generiert sich als Zusammengehörigkeit Verschiedener im Medium eines nicht inhaltlich bestimmten Wesens, eines X, in dem die beiden Bezugsglieder gleichgesetzt und unterschieden werden.¹³¹ Zweitens muss das als Ursein definierte Wollen zur Grundlage, zum Substrat der Unterscheidung gemacht werden. Drittens wird die Behauptung eines permanenten Weiterwirkens des die Möglichkeit der Schöpfung verbürgenden Geflechts zwischen dem Willen des Grundes und dem Willen des Verstandes unausweichlich. Viertens muss Heidegger den Sachverhalt abmindern, dass Schelling der Willensdualität keinen gemeinsamen Willen, sondern einen prädikationslosen Ungrund vorausgehen lässt, an dem jede Vereinnahmung für die Willensmetaphysik scheitert.¹³² Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Heidegger den Willen der Liebe zum Hauptbegriff der Freiheitsschrift erhebt und ihn an die ontologische Stelle des Ungrundes treten lässt. Es ist fünftens erforderlich, das Band der Einigung als per se willenhaft zu begreifen, um den Übergang und die Grundbewegtheit als willensinfiltriert denken zu können.¹³³

 Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 342. Vgl. Schelling, WA I, S. 51– 52: „[…] der wahre Sinn eines jeden Urtheils, z. B. des einfachsten, A ist B, sey eigentlich der: das, was A ist, ist das, was auch B ist, wobey sich zeigt, wie das Band sowohl dem Subjekt als dem Prädikate zu Grunde liegt. Es ist hier keine einfache Einheit, sondern eine mit sich selbst verdoppelte oder eine Identität der Identität. In dem Satz, A ist B, ist enthalten, erstens der Satz A ist X, (jenes nicht immer genannte dasselbe, von dem Subjekt und Prädikat beyde Prädikate sind); zweytens der Satz, X ist B; und erst dadurch, daß diese beiden wieder verbunden werden, also durch Reduplikation des Bandes entsteht drittens der Satz, A ist B.“  Zu der Thematik des Ungrundes und dessen Unverfügbarkeit vgl. Hans-Joachim Friedrich, Der Ungrund der Freiheit im Denken von Böhme, Schelling und Heidegger, Stuttgart-Bad Cannstatt 2009, bes. S. 142– 171; S. 189 ff.; S. 209 – 214; sowie Ryosuke Ohashi, Ekstase und Gelassenheit. Zu Schelling und Heidegger, München 1975.  Diese Auslegung des Bandes findet sich bereits in der Schelling-Vorlesung von 1936. 1936 wendet sich Heidegger mit der Beschreibung des Bandes als willentlich-geistig verfasste Verbindungsinstanz sowie als Version freigebender Identität gegen eine Reduktion des Verhältnisses

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Alle diese Schritte, Interpretationseigenheiten und Entscheidungen lassen sich in Heideggers Auslegung von 1941 wiederfinden. Indem Heidegger die Wurzel der jedes Seiende als Seiendes freigebenden Unterscheidung mit dem „Wesen des Seins“¹³⁴ synthetisiert, ist er in der Lage, den ausgezeichneten Beleg anzuführen, in dem Schelling sich über ebenjenes Wesen des Seins im Sinne des Ur-Seins „ausspricht“.¹³⁵ Das „Herzstück der Willensmetaphysik“¹³⁶ lautet mitsamt den in eckigen Klammern gesetzten Ergänzungen Heideggers im Ganzen wie folgt: ‚Es gibt in der letzten und höchsten Instanz gar kein anderes Sein als das Wollen. Wollen ist Ursein und auf dieses [das Wollen] allein passen alle Prädikate desselben [des Urseins]: Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten Ausdruck zu finden.‘ (Sein als Wille).¹³⁷

zwischen Gott und dem Menschen auf eine entwicklungslose Kausalrelation und sucht dergestalt zu einem adäquaten Verständnis der derivierten Absolutheit vorzudringen.Vgl. Heidegger, GA 42, S. 154: „Dagegen wurde in der vorhin durchgeführten ‚Deduktion‘ der Möglichkeit der Freiheit im Pantheismus Gott als schöpferischer Grund, der Mensch als in sich stehendes freies Wesen begriffen, das Seyn überhaupt nicht als starre Beziehung von dinghafter Ursache und ebensolcher Wirkung, nicht als leblose Identität des Einerlei, sondern fortschreitend, als Band und Bindung, die zugleich zur Eigenständigkeit entläßt und damit in einem tieferen Sinne bindet, als abhängige Unabhängigkeit, unabhängige Abhängigkeit. Das Seyn und das ursprüngliche Band des Seyns ist nicht mechanisch, sondern als willentliches begriffen – nach der allgemeinen Ausdrucksweise: als geistig.“  Heidegger, GA 49, S. 83.  Heidegger, GA 49, S. 83.  Sebastian Schwenzfeuer, Natur und Sein – Affinitäten zwischen Schelling und Heidegger, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 245.  Heidegger, GA 49, S. 83. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. Im Hinblick auf die wirkungsgeschichtliche Stellung der Schellingschen Charakterisierung des Wollens als „letzte und höchste Instanz“ sieht Birgit Sandkaulen es als evidente Tatsache an, dass „Schopenhauers Willensmetaphysik in Schellings Freiheitsschrift ihre Wurzel hat“. Vgl. Birgit Sandkaulen, Dieser und kein anderer? Zur Individualität der Person in Schellings „Freiheitsschrift“, in: Thomas Buchheim / Friedrich Hermanni (Hrsg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“. Schellings Philosophie der Personalität, Berlin 2004, S. 48. Jörg Jantzen liest die oben zitierten Sätze – ähnlich wie Heidegger – als authentisch-metaphysische Realitätsauffassung Schellings, in der das Wollen als Verfassung des Seienden im Ganzen dechiffriert wird. Nach Jantzen verlagert Schelling den grundlos-grundgebenden Individualakt der voluntativen Selbstsetzung in das Weltgeschehen selbst, sodass der Wille die „Wirklichkeit schlechthin“ bezeichnen soll. Folgerichtig gelangt Jantzen zu dem Resultat: „Das Wollen durchzieht (wie das stoische pneyma) alle Wirklichkeit, und darum kann Schelling gelegentlich und mit genauem Sinn von einer ‚Reduktion der Naturgesetze auf Gemüth, Geist und Willen‘ sprechen.“ Vgl. Jörg Jantzen, Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person, in: Thomas Buchheim / Friedrich Hermanni (Hrsg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“, S. 220. Im Gegensatz dazu, interpretiert Lore Hühn Schellings Exposition des Wollens als Ursein vornehmlich nicht als bündige Definition des idealistischen Freiheitsbegriffes oder als eine affirmativ ausgerichtete Freilegung des wahren Seinsgrundes. Vielmehr beurteilt sie

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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In der Schelling-Vorlesung von 1936 hatte Heidegger das willensmetaphysische Narrativ noch nicht geformt. Gleichwohl kündigte es sich schon dort in der Ent-

die Verbindung der ausgezeichneten Seinsprädikate mit dem Willen als prägnanten Versuch Schellings, die Grundtendenz der abendländischen Metaphysik im Ganzen zu rekonstruieren. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich Schelling keineswegs als Gipfelhöhe eines voluntaristisch untermauerten Weltbeherrschungsimpetus. Schelling avanciert – sowohl aufgrund seiner auf einen Generalnenner gebrachten Willenskritik als auch wegen des zum Remedium auserkorenen Gelassenheitsdenkens – zu dem wesentlichen Vorläufer Heideggers. Vgl. Lore Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch. Der Versuch einer Einleitung, in: Hühn/ Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 13: „Zum gemeinsamen Kernbestand gehört insbesondere die von Schelling in der Freiheitsschrift vorgetragene Fundamentalthese vom ‚Wollen als Urseyn‘, mithin der Befund, dass die Entscheidung, die Auslegung alles Seienden durch das Interpretament des Willens zu leisten, die abendländische Metaphysik im Ganzen kennzeichnet: Entsprechendes gilt für die im Gegenzug hierzu entwickelte Ontologie, die das Sein als das Gelassene versteht. Diese Ontologie gipfelt in Schellings These von der Unvordenklichkeit des Seins, die insofern in direkter Vorläuferschaft zu Heidegger steht, als sie gegenüber der ‚Seinsvergessenheit‘ aller bisherigen Philosophie nach diesem Sein selbst zu fragen versucht.“ Während Lore Hühn somit eine eminente Verwandtschaft und ein gemeinsames Grundanliegen Schellings und Heideggers konstatiert, neigt Wolfgang Wieland in seiner Dissertationsschrift von 1956 der in der Vorlesung von 1941 forcierten These Heideggers zu, wonach Schelling als maßgeblicher Exponent der neuzeitlichen Willensmetaphysik benannt werden müsse. Schellings Charakterisierung des Wollens als „Ursein“ fungiert für Wieland nicht als Ausweisdokument einer kritischen Distanznahme und geschichtsbegreifenden Übersicht. Wieland bewertet die Wille-Ursein-Identifikation als augenfälligen Beleg für Schellings Verstrickung in die unhinterfragt übernommene Theorieformation der Willenssubjektivität. Freilich gesteht er Schelling nichtsdestotrotz ein Denken zu, das sich nicht in der Instantiierung des Willensprinzips erschöpft. Bemerkenswert ist jedoch, dass Wieland die markante Parallele in den Zeitkonzeptionen der Weltalter sowie von Sein und Zeit als Vehikel einer Verbindungsherstellung zwischen beiden Denkern negiert, obschon seine eigene Auslegung des Schellingschen Gedankens der Ekstasis und der Scheidung von der Vergangenheit zweifellos unter dem Einfluss der in Sein und Zeit geleisteten Existenzialanalyse steht. Insgesamt führt er Schellings vermeintliche Hypostasierung des Willens auf eine Verfälschung des Phänomens der Grunderfahrung zurück, die sich im Vollzug der Scheidung aktualisiert. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit. Grundlagen und Voraussetzungen der Weltalterphilosophie, Heidelberg 1956, S. 11: „So darf zwar Heideggers Ansatz zur Lösung des Zeitproblems nicht zum Maßstab genommen werden, an dem Schellings Versuch gemessen werden soll. Dagegen kann eine Berücksichtigung von Heideggers Interpretation der neuzeitlichen Philosophie auf Subjektivität und Willen hin für eine Schelling-Interpretation nur fruchtbar sein, um so mehr, als Heidegger diese seine Auslegung vornehmlich auf die Willensmetaphysik Schellings stützt. (Insbesondere auf die berühmte Stelle der Freiheitslehre 1 VII 350). Offen bleibt dabei nur die Frage, ob damit die Grenzen, innerhalb deren sich das Denken Schellings bewegt, bereits abgesteckt sind. Unsere Untersuchung wird noch versuchen, zu zeigen, daß der Begriff des Willens bei Schelling nicht nur Ausdruck einer ursprünglichen Erfahrung ist, sondern auch eine der Kategorien, mit denen Schelling andere Erfahrungen interpretiert. Wohl bleibt er als Systematiker der Metaphysik der Willenssubjektivität verhaftet.“

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schlüsselung des Willens als ursprüngliches Sein an. Auch die bereits 1936 verfochtene These Heideggers, die Unterscheidung müsse im Wesen des Wollens selbst beschlossen liegen, kann als erster Vorschein der voluntaristischen Modernediagnose beurteilt werden. Die Absenz des seinsgeschichtlich verankerten Willensparadigmas zeigt sich jedoch daran, dass Heidegger die Seinsprädikate in der Vorlesung von 1936 nicht ein einziges Mal (!) zitiert, obwohl sie den trefflichsten Beleg für die Hypostasierung des Willens zum Weltgrund darbieten. 1941 verbindet Heidegger die Bestimmung des Urseins als Wollen mit der Wurzel der Unterscheidung. Dies bezeugt sich anhand der beiden Aufgaben, die sich Heidegger stellt: Erstens intendiert er eine „Erläuterung dieser Wesensbestimmung des Seins (§14)“¹³⁸, um zweitens zu dem „Nachweis der Verwurzelung der Unterscheidung in dem also bestimmten Sein (§15)“¹³⁹ überzugehen. Durch die in die Immanenz des als Wille bestimmten Seins zielende Nachweisrichtung wird von Heidegger bereits impliziert, dass das Sein und somit der Wille selbst durch die Unterscheidung geprägt sein muss, die zugleich aus dem Wollen entspringt.¹⁴⁰ Diese Deutung der Unterscheidung als innere Verfassung und als Produkt des Willens kann als Heideggers entscheidender eigener Beitrag gesehen werden. Verblüffend ist, dass diese Auffassung im §15 durch das Theorem des Ungrundes gestützt wird.¹⁴¹ Der Ungrund muss als absolute Indifferenz gefasst werden. Da er sich im Übergang unmittelbar in die Differenz zwischen dem Willen des Grundes und demjenigen des Verstandes teilt, kann Heidegger die Gleichsetzung von Wille und Unterscheidung bekräftigen. Die Apparition der Unterscheidung geht stets mit dem simultanen Aufscheinen des gespaltenen Willens einher. Es ist allerdings zu fragen, ob Heidegger innerhalb der Unterscheidung nicht notwendigerweise einen sich in dieser zerteilenden, in logischer Vorausfolge aus dem Ungrund emanierenden Grundwillen ansetzen muss, um beide Willen überhaupt als Willen beschreiben zu können. Wie zu zeigen sein wird, umgeht Heidegger diese Schwierigkeit einerseits, indem er den Willen als generell in sich

 Heidegger, GA 49, S. 83.  Heidegger, GA 49, S. 83.  Auch diese Interpretationstendenz ist in der Vorlesung von 1936 präfiguriert. Dort sucht Heidegger sich mit Hilfe der voluntaristischen (d. h. werdeaffinen und bidirektionalen) Fundierung der Seynsfuge von einer Reifikation des Seienden und einer vorhandenheitsontologischen Klassifikation des Seins abzugrenzen.Vgl. Heidegger, GA 42, S. 235: „Dieses Werden ist das Wesen des Seyns. Das Seyn kann daher auch nicht als das Vorhandensein von Angefertigtem, sondern muß als Fuge von Grund und Existenz verstanden werden. Die Fuge ist nicht ein starres Gestänge von Bestimmungen, sondern – selbst in sich wesend im Wechselbezug – west als Wille.“  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 89 – 90.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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zwiespältig verfasst konzipiert. Andererseits weicht er dieser Problematik aus, weil er den Ungrund selbst nicht als Instanz einer sich entziehenden Unverfügbarkeit apostrophiert. Stattdessen rückt Heidegger den Ungrund als Keimort der Werdebewegtheit des Willens in den Blick. In dem der ersten Aufgabe gewidmeten §14 (Erläuterung der Wesensbestimmung des Seins als Wollen ¹⁴²) diskutiert Heidegger die obige Schelling-Passage in vier Schritten: Er erläutert zuerst die vier „Wesensprädikate des Seins“¹⁴³ (a) und erörtert daraufhin ihren Rechtfertigungsgrund (b). Drittens wirft er die Frage auf, inwiefern sich im Willen die Bedeutungsreichweite der vier Seinsprädikate in ausgezeichneter Weise niederschlägt und in ihm letztgültig und irreversibel kulminiert (c). Viertens bespricht er Schellings Gradierung des in seiner „letzten und höchsten“¹⁴⁴ Instanz dem Wollen gänzlich und ausschließlich genügenden Seins (d). Bevor diese vier Schritte entfaltet werden können, ist zuvorderst auf Heideggers Rückverortung Schellings in der Metaphysik einzugehen. Diese geschichtliche Einordnung wird zu Beginn des §14 expliziert und fundiert die Einpassung des Willens.¹⁴⁵ Dass Schelling ausgerechnet die Eigenschaften der Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit und der Selbstbejahung anführt, versteht Heidegger als „verkürzte und endgültige Umschreibung“¹⁴⁶ des berühmten Satzes aus dem VII. Buch der aristotelischen Metaphysik (Buch Z 1, 1028b 2– 4). Diesen Satz gibt Franz F. Schwarz in seiner Übersetzung der Metaphysik wie folgt wieder: Und die Frage, die bereits von alters her erhoben wurde, die auch heute erhoben wird und immer erhoben werden und Gegenstand der Ratlosigkeit sein wird, was nämlich das Seiende sei…¹⁴⁷

Dass das ἀεὶ ἀπορούμενον, d. h. Aristoteles’ Betonung der anhaltenden Ratlosigkeit, von Schelling nicht einbezogen wird, beruht nach Heidegger auf der Prätention des Deutschen Idealismus, das absolute Wissen erkannt und begründet zu haben.¹⁴⁸ Schelling übernimmt nach Heidegger die Erfüllungsmaß-

 Heidegger, GA 49, S. 84.  Heidegger, GA 49, S. 84 ff.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 89.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 84.  Heidegger, GA 49, S. 84.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 84. Vgl. zur Übersetzung: Aristoteles, Metaphysik, Schriften zur ersten Philosophie, übersetzt und herausgegeben von Franz F. Schwarz, Stuttgart 2000, S. 165.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 84: „Die Endgültigkeit besteht darin, daß das ἀεὶ ἀπορούμενον fehlt; es muß fehlen; denn der Beginn der Stelle erklärt das Wesen des Seienden als solchen für gefunden und zuhöchst bestimmt…“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

stäbe für den Begriff der höchsten ontologischen Dignität, die für die Metaphysik seit Platon und Aristoteles von tragender Bedeutung sind. Das jeweilige Prinzip, das in den verschiedenen Stadien der Metaphysik als Ursein (als Sein des Seienden) aufgerichtet werden sollte, konnte diese Rolle nur erfüllen, wenn es die jedwede Endlichkeit, Kontingenz, Wandelbarkeit und Ableitbarkeit ausschließenden Prädikate zu versammeln imstande war. Es ist zu hinterfragen, ob Schelling das Wollen in diese geschichtliche Vorgabefolie tatsächlich affirmativ im Sinne einer Metaphysikbegründung einzeichnet. Dagegen spricht der Kontext: In der besagten Stelle der Freiheitsschrift geht es um den idealistischen Freiheitsbegriff, der seine Überlegenheit gegenüber den bisherigen Entwürfen durch die Inaugurierung des Wollens bezeugt. Es ist also durchaus denkbar, dass sich für Schelling dieser Vorrang des Wollens auch und gerade in der Aufnahme der höchsten Seinsprädikate bewahrheitet. Der „höchste Ausdruck“, nach dem die Philosophie strebt, könnte darin fundiert sein, die wesentlichen Attribute der Freiheit auf alles Seiende auszudehnen und sie in einem „System der Freiheit“ zu verankern. Damit stimmt ex negativo überein, was Schelling Kant vorwirft: Kant habe zwar die Unabhängigkeit von der Zeit und die Grundlosigkeit zur Bestimmung des Dinges an sich herangezogen. Diese Charakteristika habe Kant aber unbegreiflicherweise nicht zu einem Begriff von Freiheit ausgeweitet, der sich über das Ganze des Seienden erstreckt.¹⁴⁹ Bezüglich der Hypostasierung des Diktums zum Zentrum der Metaphysik¹⁵⁰ ist außerdem zu bedenken, dass sowohl Schelling in der Frei-

 Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 351.  Untermauert von einer nachvollziehbaren Argumentation, bezweifelt Konstanze Sommer, dass die Exposition der Seinsprädikate im systematischen Gesamtzusammenhang der Freiheitschrift tatsächlich den eminenten Stellenwert besitzt, den Heidegger ihr 1941 zumisst. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 261: „Da Schelling eben nicht den Anspruch hat, mit den Seinsprädikaten seine Argumentation zu begründen, fehlt in diesem kurzen Abschnitt nicht nur eine ‚Rechtfertigung‘ der Seinsprädikate, also eine Begründung, warum gerade diese Prädikate zur Bestimmung des Seins ausgewählt werden, sondern vor allem auch eine Begründung dafür, dass ausgerechnet die Bestimmung des Seins als Wollen den genannten Prädikaten entsprechen soll. Da Schelling dies, wie Heidegger einräumt, ‚nicht eigens gezeigt‘ habe (VL 41, 88), fällt es auch der Darstellung Heideggers entsprechend schwer, einen überzeugenden Zusammenhang herzustellen, zumal eine genauere Klärung dessen, was mit ‚Wollen‘ überhaupt gemeint sein soll, ausbleibt.“ Allerdings lässt sich Sommer ihrerseits auf Heideggers willenstheoretische Erörterung der Seinsprädikate kaum ein. Ihre Explikation und Kritik bleibt daher äußerlich, weil sie von vornherein auf die Herausstellung der Unzulänglichkeiten, Unklarheiten und Begriffsvermengungen der Heideggerschen Willenssystematisierung abzielt. Demgemäß vertritt sie die die These, Heidegger kläre den Begriff des Willens nicht. Doch gerade die Abschnitte, in denen Heidegger dies ausdrücklich unternimmt – wie zum Beispiel in der Erläuterung der Wesensbestimmung des

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heitsschrift als auch Heidegger in seiner Auslegung von 1936 begründen, weswegen das – dergestalt in seiner Bedeutsamkeit zurückzustufende Wollen – ungenügend ist, um das ganze Phänomen menschlichen Freiseins (und somit den realen Begriff der Freiheit als Vermögen zum Guten und zum Bösen) zu erfassen.¹⁵¹ Heidegger löst sich 1941 von solchen Überlegungen und nimmt Schelling beim Wort: ‚Wollen ist Ursein‘, d. h. das Wollen entspricht dem ursprünglichen Wesen des Seins. Weshalb? Weil die Prädikate, die das Wesen des Seins aussagen, dem Wollen im ausgezeichneten Sinne zukommen; dieses allein genügt den genannten Prädikaten vollständig. (Sein? Das Seiende ab-solut begriffen, zugleich das Seiende als solches.)¹⁵²

Dies bedeutet, dass der Gehalt der Seinsprädikate einerseits auf den mit ihnen in Adäquanz stehenden Willen transferiert werden kann. Andererseits ist zu demonstrieren, warum die vorauslaufende Grundbeschaffenheit des Willens eine Anwendbarkeit dieser Qualitäten auf ihn gestattet. Hinsichtlich der vier von Seiten Heideggers skizzierten Schritte der Auslegung dieses Passus soll auf a) Die Wesensprädikate des Seins ein besonderes Augenmerk gerichtet werden. Signalträchtig und bedenkenswert ist die vor der eigentlichen Erläuterung angeordnete Klammer. In der Klammer notiert Heidegger, dass die Selbstbejahung als Richtmarke fungieren müsse, die anhand des letzten Stückes der Weltalter verdeutlicht werden könne: Welches sind die Wesensprädikate des Seins? Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung. [Von Selbstbejahung ausgehen. Aus dem letzten Stück von ‚Weltalter‘ zu erläutern.]¹⁵³

Er beginnt nichtsdestotrotz mit den Überlegungen zum Attribut der Grundlosigkeit und hält sich also an die von Schelling vorgegebene Reihenfolge der Aufzählung.

Seins als Wollen und in der Bedeutungsergründung der Unterscheidung – werden von Konstanze Sommer kaum berücksichtigt.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 172: „Der Idealismus verstand Freiheit als Bestimmung des reinen Ich, als Sichselbstbestimmen zum Gesetz, als Selbstgesetzgebung im guten Willen. Dieser ist allein gut. Freiheit wird dagegen bei Schelling verstanden als das Vermögen zum Guten und zum Bösen. (6. Freiheitsbegriff) Das Böse ist nicht Zusatz und Ergänzung; sondern die Freiheit wird dadurch von Grund aus anders. Die Frage nach der Freiheit muß als Frage neu gestellt werden.“  Heidegger, GA 49, S. 84.  Heidegger, GA 49, S. 84.

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1. Grund-losigkeit: Die Negation der Angewiesenheit auf einen Grund erhebt das als Wille umschriebene Sein in den Status der Unabhängigkeit von jedweder externen Verursachung oder Wesensgarantie. Darauf aufbauend, kann das Sein als der Grund gefasst werden, der in jedem Seienden west. Das, was als Sein des Grundes zugleich der Grund in jedem Seienden ist, darf selbst nicht von einem Grund gegründet werden: Es ist grund-los.¹⁵⁴ Angewendet auf den Willen, unterstreicht dies die energetische Suffizienz. Der Wille bedarf des Grundes nicht. Der Wille hat keinen Grund, weil er sich selbst als Grund hinter allem, als Fundamentgewährendes und als subjectum konstituiert. In dieser Vertiefung muss sich der Wille weder auf einen lösenden Abgrund freigeben noch ist er gezwungen, diesen selbst zu repräsentieren¹⁵⁵: Sein ist in sich grundhaft, das Grundgebende, als der Grund wesend, hat den Charakter von Grund; und gerade deshalb, weil es das Grundhafte, Grundgebende ist, kann es nicht eines Grundes bedürfen (Un-grund [406]).¹⁵⁶

Dass Heidegger das grund-lose Sein mit dem Motiv des Un-grundes parallelisiert, müsste die Stringenz der Darlegung konterkarieren, wenn der Ungrund hier im Sinne Schellings begriffen würde. In diesem Falle würde dem (ein Selbstsetzungsvermögen prätendierenden) Willen eine hochkarätigere Instanz vorgelagert. Diese wäre als wahrhaft abgründiger Grund nicht deswegen als grundlos zu be-

 Vgl. hierzu Lore Hühn, „Ur- und Grundwollen“. Heideggers Lektüre der schellingschen Freiheitsschrift, in: Diogo Ferrer / Teresa Pedro (Hrsg.), Schellings Philosophie der Freiheit. Studien zu den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Würzburg 2012, S. 237– 259.  Dass Heideggers These, der Wille werde von Schelling als begründungsunbedürftige, da ihrerseits fundierende Entität gedacht, durchaus in Übereinstimmung mit Aussagen des Leonbergers steht, lässt sich validieren, wenn die von Seiten Heideggers nicht erwähnte Schrift Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur von 1798 (!) zu Rate gezogen wird. In der Allgemeinen Übersicht deutet Schelling innerhalb der Immanenz des Bewusstseins eine Aufwertung des Wollens zum Prinzip an. Vgl. Schelling, Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur (1798), AA I 4, S. 127: „Denn als die Gränze alles unsers Wissens und Thuns ist es [das Wollen, J.K.] nothwenig auch das einzige Unbegreifliche, Unauflösliche – seiner Natur nach Grundloseste, Unbeweisbarste, ebendeswegen aber Unmittelbarste und Evidenteste in unserm Wissen“ [von Schelling kursiv, J.K.]. Angesichts dieser affirmativen Würdigung des Wollens als unzerstörbares Fundament und als ordnende Grenzmarke der Selbstevidenz des Bewusstseins gewinnt die Frage an Bedeutung, ob Heideggers Erörterung der Beziehung zwischen dem Willen und den Seinsprädikaten tatsächlich allein eine „eher rhetorische als argumentative Funktion“ (Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 262) erfüllt und als Verfehlung des „wahren Sachverhaltes“ (Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik,, S. 261) charakterisiert werden kann.  Heidegger, GA 49, S. 84– 85.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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nennen, weil sie sich selbstursächlich als metaphysisches Prius produzieren könnte. Vielmehr würde der Ungrund jedem Letztbegründungsanspruch eine veritable Absage erteilen. Im Gegensatz dazu, behauptet sich der Ungrund in Heideggers Semantik permanent als Erstes und Einziges. Der in diesem Sinne interpretierte Ungrund schließt jede Möglichkeit einer hinsichtlich ihres tatsächlichen Anfanges unbestimmbaren Vergangenheitsdimension aus. Dadurch kann sich die Präsenz des Grundes in allem zukünftig Seienden perpetuieren: Der Grund ist ohne solches, worauf zurück als etwas außerhalb seiner es gehen könnte; kein Zurück mehr, kein Hinter-Sich, sondern die reine Anwesung selbst: das Erste; (aber Sein und Zeit); das Grundhafte, d. h. subjectum…¹⁵⁷

2. Ewigkeit: Die Beleuchtung der Ewigkeit des Seins (als Seiendheit) – und somit, als letzte geschichtliche Prägung desselben, auch die des Willens – wird von Heidegger mit einer Frage eingeleitet: ἀεὶ; aeternitas als nunc stans? Sein heißt Ständigkeit in einer einzigen Anwesung. (Nicht bloßes ‚Fortdauern‘ in das Endlose nach jeder Richtung, sempiternitas; das endlose Dauern ist die längste Weile, die grenzenlose Langeweile; dagegen ‚Ewigkeit‘?)¹⁵⁸

Es ist für das Verständnis dieser in die Frage gestellten Annäherung von aeternitas und nunc stans unabdingbar, den Begriff der aeternitas in einem kurzen Exkurs zu umreißen. Die grundlegende Bedeutung der aeternitas geht auf die von Boethius gegebene Definition zurück, die sich auf die Kontrastfolie der aristotelischen Benennung der Zeit als Maß der Bewegung bezieht. Sie lautet: „Aeternitas est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio“.¹⁵⁹ („Ewigkeit also ist der vollständig und zugleich vollendete Besitz des unbegrenzbaren Lebens“.¹⁶⁰) Das der Zeit unterworfene Seiende ist nach Boethius hingegen dadurch gekennzeichnet, allein das begrenzte, gegenwärtige Leben zu besitzen. Dieses schiebt sich als flüchtiger Übergangsbereich zwischen den unaufhaltsamen Verlust des in die Vergangenheit Entgleitenden auf der einen Seite und das Nichthabenkönnen des in die Zukunft Hinausgeworfenen auf der anderen Seite.¹⁶¹ Thomas von Aquin,

 Heidegger, GA 49, S. 85.  Heidegger, GA 49, S. 85.  Vgl. Boethius, Der Trost der Philosophie, hrsg. von Kurt Flasch, 3. Auflage, München 2007. Hier zitiert nach: Delmas Lewis, Eternity, time and tenselessness, in: Faith and Philosophy 5 (1988) S. 72– 86, S. 72.  Boethius, Der Trost der Philosophie, V, 6, 4.  Werner Beierwaltes unterstreicht in seinem lehrreichen Kommentar zu Plotins Enneade III 7 (Über Ewigkeit und Zeit), dass Boethius entgegen der obigen Definition der Ewigkeit in seinem

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dessen Charakterisierung der aeternitas Heidegger wahrscheinlich vor Augen stand, konzipiert die Ewigkeit im Ausgang von Boethius als Zeitlosigkeit, die weder Anfang noch Ende hat. Weil die Negation von Anfang und Ende die Möglichkeit einer unendlichen „zeitlichen Fortdauer“¹⁶² keineswegs exkludiert, muss der Ewigkeit darüber hinaus das Attribut der Veränderungslosigkeit zugesprochen werden. Dabei muss die Ewigkeit Gottes zugleich das „unbegrenzbare Leben“¹⁶³ und damit notwendigerweise zeithafte Bestimmungen, ja die Gesamtheit des Zeitlaufs in sich einschließen. Andernfalls wäre nämlich die Allwissenheit Gottes nicht garantiert. Nikolaus Wandinger schreibt dazu: Für Thomas gilt, daß Gottes Ewigkeit die Zeit irgendwie enthält, und deshalb ist Gott alles, was in der Zeit geschieht, ‚präsent.‘ Hier zeichnet sich bereits eine sehr wichtige Funktion des Ewigkeitskonzeptes von Thomas ab: Es dient vor allem dazu, verständlich zu machen, wie Gott um Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges wissen kann, d. h. es dient dazu, die Allwissenheit Gottes so weit wie möglich zu fassen, so weit, daß sie keiner Einschränkung durch die zeitliche Struktur der Wirklichkeit unterliegt.¹⁶⁴

Es kann hier selbstverständlich nicht auf die beim Aquinaten vorfindlichen Nuancierungen des Verhältnisses zwischen den Punkten der Zeitreihe, dem Vorauswissen der göttlichen Ewigkeit und der Funktion der Simultaneität einge-

Spätwerk eine Trennung zwischen den vormals synonym verwendeten Begriffen von sempiternitas und aeternitas einzieht, um die unendliche Dauer der Welt von Gottes gänzlich zeitenthobener Ewigkeit abzugrenzen. Vgl. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III 7), übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Werner Beierwaltes, 5. Aufl., Frankfurt a. M. 2010, S. 158: „In der späteren Patristik aber wird der Unterschied aus dogmatischen Gründen sogar systematisch begründet: ‚Ewigkeit‘ der Welt = perpetuitas oder sempiternitas (αΐδιοτης); Ewigkeit Gottes = aeternitas (αἰών). Diese Unterscheidung bleibt auch terminologisch teilweise bestimmend für die Theologie des Mittelalters. Während Boethius noch in der Isagoge im Gefolge und im Sinne des Aristoteles perpetuitas und aeternitas als Synonyma gebraucht, unterscheidet er sie in den Trinitate 4, 69 sqq. in der Entfaltung seiner eigenen systematischen Theologie: sempiternitas ist die unendliche Dauer des ‚Himmels‘, und der Himmelskörper, aeternitas hingegen ist die zeitlose Ewigkeit Gottes, von der man ‚ewig-dauernd‘ nur in unangemessener Analogie sagt. Ihr Wesen ist das nunc permanens.“ Vgl. dazu auch Plotins Definition der Ewigkeit, die angesichts der Exposition der unaufhebbaren und vollendeten Gegenwart der Ganzheit innerhalb des Lebens (totum simul) eine große Gemeinsamkeit mit derjenigen des Boethius aufweist: „Leben, das im Selben verharrt, da es immer das Ganze gegenwärtig hat, nicht jetzt dieses, dann ein Anderes, sondern alles zugleich, und nicht jetzt ein Anderes und dann wieder Anderes, sondern teillose Vollendung.“ Vgl. Plotin, Über Ewigkeit und Zeit III 7. 3, S. 98 f.  Nikolaus Wandinger, Der Begriff der „Aeternitas“ bei Thomas von Aquin, in: Zeitschrift für katholische Theologie, 116 (1994), S. 301– 320, hier S. 302.  Wandinger, Der Begriff der „Aeternitas“ bei Thomas von Aquin, S. 302.  Wandinger, Der Begriff der „Aeternitas“ bei Thomas von Aquin, S. 303.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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gangen werden, die Wandinger in seinem Artikel luzide entfaltet. Heideggers Exposition des Seinsprädikates der Ewigkeit ist mit der von Thomas favorisierten Ergründung durchaus kompatibel. Dies kann anhand der Klassifikation der Ewigkeit als „allem zuvor – schon (Erstrebnis [von her – auf zu]“¹⁶⁵ validiert werden, die Heidegger unter c) („Inwiefern das Wollen den Seinsprädikaten genügt“¹⁶⁶) gibt. Demzufolge ist für den metaphysisch verstandenen Willen die Zusammenziehung aller vergangenen und künftigen Geschehnismöglichkeiten in dem stehenden Jetzt – d. h. hier: in einer sich permanenten aktualisierenden und dadurch den Anschein des Stillstandes erweckenden Gegenwart – konstitutiv. In dieser sich in der Erneuerung durchhaltenden Gegenwart ist der „vollendete Besitz des unbegrenzbaren Lebens“ und mit diesem die Reichhaltigkeit des vermeintlich Unvorhersehbaren, Einmaligen und Unwiederholbarem in einem vorauslaufenden apriorischen Perfekt („allem zuvor schon“) immer schon hinterlegt. Im Willen wird das lebensweltlich Zukünftige überholt, indem es als Vergangenheit gesetzt ist, die als sicherer Besitz in seiner Wesensform, der Präsenz, untrennbar aufgegangen ist. In der sich dadurch stabilisierenden „Ständigkeit in einer einzigen Anwesung“¹⁶⁷, umgreift der Wille alles Seiende, wobei er diesem die Suggestion unabhängiger Zeitlichkeit zugestehen kann. Der verfochtene Ewigkeitsbegriff dispensiert sowohl von einer Verwechslung mit der unaufhörlich fortwährenden Erstreckungskontinuität in eine rückwärtige wie prospektive Unendlichkeit (die Nietzsche in den Beweisgang der ewigen Wiederkehr inkludierte) als auch mit der sempiternitas als „endlosem Dauern“¹⁶⁸ der infinitisierten Linearität. Die hier vorgestellten, ablehnenden Kennzeichnungen der Ewigkeit dürfen genauso wenig wie Heideggers wiederholte, nachdrückliche Betonung der Endlichkeit und Einzigkeit des Seyns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heidegger durchaus einen in sich facettenreichen, positiven und gehaltvollen Begriff der Ewigkeit besitzt. Wie exponiert werden konnte, tritt dieser nicht nur in der gutwilligen Auslegung der ewigen Wiederkunft als im Augenblick versammelte Fülle hervor.¹⁶⁹ In der Schelling-Vorlesung 1936 manifestierte er sich in der Affirmation des Zumal der in Gott festgehaltenen, in ihrer jeweiligen Ewigkeit und Eigenständigkeit bewahrten Zeitdimensionen, die Gott in seinem ewigen Anfan-

 Heidegger, GA 49, S. 88.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 87– 88.  Heidegger, GA 49, S. 85.  Heidegger, GA 49, S. 85.  Vgl. Heidegger, N I, S. 401: „Die Ewigkeit denken, verlangt: den Augenblick denken, d. h. sichversetzen in den Augenblick des Selbstseins.“

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gen immerwährend durchschritten hat.¹⁷⁰ 1941 deutet Heidegger dieses Zumal innerhalb des Abschnitts zum Seinsprädikat der Ewigkeit in eine Präsenzzentierung um. Im unmittelbaren Anschluss an die oben wiedergegebene Stelle tätigt Heidegger einen Verweis auf die Weltalter: Vgl. Schelling, Die Weltalter (I, 8, S. 260 f.; auch nicht: nunc stans, sondern ‚Überwindung der Zeit‘, d. h. Einschluß). Inwiefern hier die überlieferten Prädikate, inwiefern Schellings Auslegung?¹⁷¹

 Vgl. Heidegger, GA 42, S. 196 – 197: „Das Werden Gottes läßt sich nicht nach einzelnen Abschnitten am Nacheinander der gewöhnlichen ‚Zeit‘ aufreihen, sondern in diesem Werden ‚ist‘ alles ‚gleichzeitig‘; gleichzeitig aber bedeutet hier nicht, daß die Vergangenheit und die Zukunft ihr Wesen aufgeben und zur Gegenwart ‚über‘-gehen, im Gegenteil: Die ursprüngliche GleichZeitigkeit besteht darin, daß Gewesensein und Künftigsein sich behaupten und gleichursprünglich mit dem Gegenwärtigsein als die Wesensfülle der Zeit selbst ineinander schlagen. Und dieser Schlag der eigentlichen Zeitlichkeit, dieser Augenblick ‚ist‘ das Wesen der Ewigkeit, nicht aber die bloß stehengebliebene und stehenbleibende Gegenwart, das nunc stans.“  Heidegger, GA 49, S. 85. Im Hinblick auf den von Heidegger monierten „Einschluß“ der Zeitdimensionen in der Gegenwart zitiert Philipp Höfele in seinem sehr instruktiven Aufsatz: ‚Scheidung von sich selbst‘ und ‚Ekstase‘. Zur Rezeption von Schellings „Weltaltern“ bei Rosenzweig und Heidegger den von Heidegger in den Blick gefassten, zeittheoretischen Passus aus dem Weltalter-Fragment von 1814/1815. Wie Höfele entgegen der Auffassung Heideggers illustriert, schließt Schelling in dem besagten Abschnitt das Vergangene weder als Nichtseiendes aus einer hegemonial verstandenen Gegenwart aus noch gliedert er die Vergangenheit schlichtweg in diese ein. Schelling bekräftigt die Eigenständigkeit und bleibende Wirkungskraft des Vergangenen gerade in der jeweiligen Anwesenheit. So ist sich Schelling darüber im Klaren, dass „das Vergangene […] freilich nicht als ein Gegenwärtiges, wohl aber muß es als ein Vergangenes mit dem Gegenwärtigen zumal seyn; das Zukünftige ist freilich nicht als ein jetzt Seyendes, wohl aber ist es mit dem Gegenwärtigen als ein zukünftig Seyendes zumal, und es ist gleich ungereimt, das Vergangen-seyn wie das Zukünftig-seyn als ein völliges Nichtseyn zu denken [SW VIII, S. 302; hier zitiert nach: Höfele, ‚Scheidung von sich selbst‘ und ‚Ekstase‘, in: Lore Hühn / Paul Ziche / Philipp Schwab (hrsg.), Schelling-Studien. Internationale Zeitschrift zur klassischen deutschen Philosophie, Bd. 3, Freiburg / München 2015, S. 51– 77, Zitat S. 71. ]. Höfele betont zu Recht, dass Heideggers Kritik an Schelling (so stellt Heidegger etwa die rhetorische Frage: „Wird hier nicht ganz eindeutig durch die Metaphysik selbst zum voraus gegen ‚Sein und Zeit‘ entschieden?‘“; vgl. Heidegger, GA 49, S. 85) und die Subsummation unter eine Metaphysik der Präsenz angesichts dieses Passus „keineswegs der Sache angemessen“ sei. Es gehe Schelling nämlich gerade darum, in dem Gedanken des Zumal „eine spezifische Präsenz der gegenüber der Gegenwart absenten Zeitdimensionen“ (Höfele, ‚Scheidung von sich selbst′ und ‚Ekstase‘, S. 71.) zu konturieren. Zudem ist beizufügen, dass Schellings Konzeption eines Zumal-Seins der in ihrem jeweiligen Wesen bewahrten Zeitdimensionen eine merkliche Nähe zu Heideggers Ewigkeitsbegriff des gleichursprünglichen Zusammenschlagens von Vergangenheit und Zukunft im Augenblick aufweist, der in der vorhergehenden Fußnote zitiert wurde. Beide Denker grenzen sich nachdrücklich von der Vorstellung des nunc stans ab.

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3. Unabhängigkeit von der Zeit: Das dritte Wesensprädikat, die Unabhängigkeit von der Zeit, bildet nicht nur eine spezifizierend-klärende Erläuterung oder ein prägendes Akzidenz der aeternitas, etwa als Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit. Sie fungiert vielmehr als abwehrend entäußerte, bestimmte Negation des Wandels. Der Wechsel könne gerade deswegen in die Seiendheit eingefügt werden, weil diese in ihm von ihm unberührt bleibt: ‚Unabhängigkeit von der Zeit‘ geht über eine Erläuterung von der Ewigkeit hinaus und begreift auch die sempiternitas ein. ‚Unabhängigkeit von der Zeit‘ will sagen: Das Seiende als solches wird nicht in den Fluß des Nacheinander fortgerissen, sondern das Seiende als solches bleibt von solchem Wechsel unberührt. Sein heißt: vom Nacheinander unberührte Beständigkeit (als Bewegung), vom Wechsel des Verschwindens und Ankommens unbetroffene Anwesung.¹⁷²

Die Apostrophierung einer Unabhängigkeit von jeglicher Fluidität kann mit Goethe als Dauer im Wechsel beschrieben werden. Dies ermöglicht die Integration der sempiternitas in den Wesensbegriff. Die Seiendheit ist der zeitlose Kern und bekundet sich als das Währende innerhalb der Sukzessionsendlosigkeit. Deren vergängliche Ingredienzen und Vorkommnisse kann die Seiendheit durch das aus dem Inneren der Zeit hervorstrahlende Zugriffsvermögen nach ihrer Maßgabe formen. Der entsprechenden Rechtfertigungsanmerkung zur Anwendung auf den Willen lässt sich entnehmen, dass Heidegger die Unabhängigkeit von der Zeit im

 Heidegger, GA 49, S. 85. Während Heidegger dergestalt den Eindruck erweckt, Schelling argumentiere für eine sich in der zeitlich grundierten Veränderung durchhaltende Substanz, insistiert Wieland im Rekurs auf Schellings Genealogie der Zeit auf der unverwechselbaren Zeitlichkeit jedes einzelnen Existierenden, die nicht von einer übergeordneten Instanz durchdrungen oder an diese delegiert werden kann. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 14– 15: „Das Genealogiekapitel kommt bei der Erörterung dieses Problems zu dem Ergebnis, daß die Frage nach der Zeit nicht von der Frage nach dem Sein der endlichen Dinge getrennt werden kann. So ist Zeit immer nur als Zeitlichkeit eines Zeitlichen gegeben. Die Rede von einer objektiv gegebenen Zeit als Medium, innerhalb dessen sich die Mannigfaltigkeit des zeitlich Seienden erstreckt, ist damit nicht sinnlos geworden, wenn sich diese Erscheinungsform der Zeit auch als ein nur abkünftiger Modus ursprünglicher Zeitlichkeit erweist.“ Dergestalt ist es nur konsequent, dass Wieland die „Selbsterfahrung als Basis der Weltalterphilosophie Schellings“ (Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 32) entfaltet. Zu Wielands Kernterminus der Ekstasis und zum Nexus von Zeitlichkeit und Selbstbewusstseinskonstitution vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 32: „Der Mensch kann nur auf sich selbst zurückkommen, wenn er immer schon über sich selbst hinausgetreten ist. Wir bezeichnen das so erfahrene Selbstverhältnis als Ekstasis. In ihr ist die Gleichursprünglichkeit der Diskursivitäts- und Reflexivitätsstrukturen dieses Selbstverhältnisses gedacht. So meint Ekstasis in eins die vom Menschen selbst gestiftete zeitliche Struktur, d. h. seine spezifische Zeitlichkeit und das durch diese zeitliche Stiftung ‚In-die Zeit-gesetzt-sein‘ des Menschen selber.“

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Willen als „nicht nach-einander, sondern ‚gleichzeitig‘ – gerade als Werden, unabhängig von der ‚Folge‘ und Abfolge“¹⁷³ verstanden wissen will. Weil der Wille keine statische Substanz darstellt, muss ihm eine Bewegung attestiert werden. Da der Wille zugleich zur Seiendheit avanciert ist, muss ihm die Beständigkeit zukommen.¹⁷⁴ Er bleibt sich als Werdender treu, wenn er den zeitlichen Nexus

 Heidegger, GA 49, S. 88.  Wie oben bereits angeschnitten, teilt Wieland Heideggers Diagnose, dass Schelling den Willen als höchstes metaphysisches Prinzip inthronisiere und ihn aus diesem Grund mit dem Attribut einer sich in der eigenen Bewegtheit perpetuierenden, je schon bei sich angekommenen Ständigkeit ausstatten müsse. Obwohl er einräumt, dass die Ergründung der Frage, weswegen Schelling seine „Fundamentalerfahrungen vom Willen aus“ (Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 70) interpretierte, einen „Ausgriff auf das Ganze der Geschichte der neuzeitlichen Metaphysik erforderlich machen würde“ (Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 70), leitet Wieland die konstatierte Willenszentrierung nicht direkt aus einer angeblichen Teilhaberschaft Schellings am metaphysisch fundierten Projekt neuzeitlicher Weltbemächtigung ab. Wieland erschließt die Willensfokussierung aus einer generalisierenden Umkodierung des in der Ekstasis situierten Akteurs. Schellings Deskription der menschlichen Fundamentalerfahrungen unter der Signatur des Willenstitels wird laut Wieland von der Intention getragen, die inhaltliche Vielgestaltigkeit und individuelle Gebundenheit der Ekstasis auf iterierende und bestimmende Wesenszüge zurückzuführen. Nach Wieland unterlegt Schelling dem jeweils in der Bewegung der Selbstüberschreitung befindlichen Individuum einen perennierenden Ermöglichungsgrund der endlichzeitlichen Scheidung, der sich als Unterscheidung von Grund und Existenz enthüllt. Indem Schelling diese Disjunktion durch die beiden Elemente des „Willens des Grundes“ und des „Willens des Verstandes“ erläutert, legitimiert sich ein einheitliches Willenssubtrat, das selbst zum Hauptantrieb jeder existenziellen, individuell-zeitlichen Scheidung aufsteigt. Vgl. zur Umprägung des endlichen Individuums zum Willenssubjekt: Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 69 – 70: „Schelling interpretiert die Grunderfahrungen vom Begriff des Willens aus. Dies läßt sich durch die Weltalter-Entwürfe ebenso wie durch den Gedankengang der Freiheitslehre hindurch verfolgen. Schelling spricht dabei vom Willen des Grundes, vom Willen der Liebe, vom Willen zur Existenz usw. Von hier aus erscheint der ekstatische Mensch nicht mehr wie in den Grunderfahrungen selbst als reine Scheidung, sondern als Subjekt, dessen Wille jene Scheidung vollzieht. So greift Schelling zum Mittel der Hypostasierung, sobald er die Erfahrungen systematisieren will. Das Sein des Menschen in seiner Eigentlichkeit ist nicht mehr das zeitlich-ekstatische Grund-stiften oder das in diesem Grund-stiften erfahrene Selbstverhältnis; die Scheidung wird vielmehr zum Willensakt eines Subjektes, das sich sich selbst als einem Objekt entgegensetzt. Freilich fällt Schelling nun nicht zurück in den Ansatz einer Bewußtseinsphilosophie, die das Subjekt primär vom Erkenntnisakt und seiner Beziehung zum Objekt verstehen will. Der Ansatz beim Willenssubjekt bleibt auch in dieser Hinsicht immer maßgebend. Freiheit wird bei diesem Ansatz zur Freiheit des Willens eines Ich.“ Wielands offenkundig von Heideggers Denken in Sein und Zeit geleitete Marginalisierung der Ewigkeit gegenüber der Endlichkeit erweist sich insofern als hochproblematisch, als die Ewigkeit in den Weltaltern in verschiedene Stufen und Erscheinungsformen ausdifferenziert wird. So unterscheidet sich die überseiende Ewigkeit der reinen Lauterkeit zum Beispiel von der Ewigkeit des Willens der Existenz und von der beharrenden Ewigkeit der als Vergangenheit gesetzten, kon-

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durchdringend begleitet. Sich in dieser Flankierung identisch durchhaltend, kann sich der Wille als Substrat und Garant der verliehenen Willensunterworfenheit alles Seienden innerhalb der Zeit behaupten. Die ersten drei Prädikate beurteilt Heidegger als Umgrenzung der Funktion des ὑποκείμενον: „Die vorgenannten Prädikate erläutern das ὑποκείμενον“.¹⁷⁵ 4. Selbstbejahung: Die Ambivalenz des Topos der Selbstbejahung zeigt sich darin, dass sie einerseits als Voraussetzung und Sachgrund der drei anderen Prädikate fungieren könnte. Andererseits kann die Selbstbejahung aber auch als zusam-

trahierenden und mit dem Vater identifizierten Urkraft. Die Ewigkeit wird von Schelling auch und gerade als kritischer Maßstab gegen eine chronologische, sich sinnlos restituierende Sukzessionszeit etabliert. Vgl. zur Herabstufung der Ewigkeit Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 70: „Da Schelling die ‚Ekstasis‘ als Vollzug eines Willenssubjektes interpretiert, muß er den Willen selbst als eine sich in allen Vollzügen durchhaltende Substanz verstehen. Der Wille muß dann aber gegenüber der von ihm ‚gestifteten‘ Zeitlichkeit als nichtzeitlich gedacht werden. Gerade von hier aus mußte sich Schelling in die Dialektik zwischen Zeit und Ewigkeit verwickeln, die durch den Ansatz bei den ekstatischen Grunderfahrungen, die sich als in der Endlichkeit begründet erwiesen hatten, schon überwunden zu sein schien.“ Indem Wieland sowohl den reinen Willen der Lauterkeit (der keineswegs als Sein des Seienden betrachtet werden kann, sondern im platonisch-plotinischen Sinne „jenseits des Seins“ zu lokalisieren ist) als auch Schellings Willensbegriff im Allgemeinen (das Ursein der Freiheitsschrift) mit der Ewigkeit identifiziert, entgeht ihm die spezifische Differenz in Schellings Verwendung des Ewigkeitsbegriffes selbst. Diese spezifische Differenz besteht darin, dass der nichts-wollende, ruhende Wille eben kein sich in der Zeit durchhaltendes Substrat ist. Der gelassene Wille kann der von Wieland eingeklagten Dimension einer „höheren Zeitlichkeit“ zugeordnet werden, die jenseits der tradierten Dissonanz von Ewigkeit und Zeit situiert ist. Aufgrund dieser Verschleifung dichotomer Seinsregionen überrascht es nicht, dass Wieland schließlich mit Heideggers Auffassung übereinstimmt, wonach der allgemeine Wille bei Schelling die Vollzugsweise der Seiendheit konstituiere und sich als Dominanzelement im menschlichen Wollen niederschlage. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 80: „Die metaphysische Interpretation des ‚Weltalter‘-Mythos geht vom Begriff des reinen, ewigen Wollens aus. Diese Charakterisierung des Willens durch die ‚Unabhängigkeit von der Zeit‘ meint zwar zunächst nur eine Abgrenzung von einem abkünftigen Modus, von der als reine Sukzessivität verstandenen Zeit. Es hätte sich auch zunächst durchaus noch sinnvoll die Frage stellen lassen, ob der Wille nicht aus einer ‚höheren‘ Zeitlichkeit zu verstehen sei. Damit wäre auch noch die Möglichkeit offen gewesen, den Willen selbst aus der Ekstatik zu verstehen. Diesen Weg geht Schelling jedoch nicht, zumal er niemals zu einer klaren, ausdrücklichen Auslegung der ekstatischen Erfahrungen auf ihre Struktur hin gelangt und daher den Willen als das sich gegenüber aller Zeitlichkeit Durchhaltende bestimmt. Ist der Wille aber als ‚Ursein‘ im Sinne einer allgemeinen Substanz gedacht, so ist eine Unterscheidung zwischen individuellem und allgemeinem Willen hinfällig geworden. Ist der Wille das Sein eines jeden Seienden, so lassen sich seine Strukturmomente auch am menschlichen Willen ablesen.“  Heidegger, GA 49, S. 86.

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menhaltender Generalnenner oder als zu Tage kommende Koinzidenz der einheitlichen, verborgenden Bedeutungsausrichtung der Attribute erörtert werden. Heidegger widmet ihr die kürzeste Ausführung. Er verankert den Keim der neuzeitlich avancierenden Selbstbejahung in der Leibnizschen exigentia essentiae und nähert sie somit der Synthese von Wille und Vorstellung an: Dieses letzte Prädikat deutet auf die neuzeitliche Auslegung des Seins im Sinne der Leibnizschen exigentia essentiae, worin liegt: Seiendes ist, indem es sich in seinem Wesen zustellt und in solcher Zustellung vorstellt und vorstellend sich erstrebt (Ge-stell).¹⁷⁶

Auffällig ist Heideggers Analogisierung des sich im Vorstellen allein den eigenen Geltungsbezirk zustellenden Sicherstrebens mit dem Ge-stell. Darüber hinausgehend ließe sich ergänzen, dass die höchste Selbstbejahung insofern in der Gestalt des Willens lokalisiert werden kann, als dieser – wie Heidegger bereits 1936/37 expliziert hatte – sich in seinem Wollen in einer Weise durchsichtig wird, in der er Gewolltes und Wollendes je schon zusammengenommen hat.¹⁷⁷ In der Anmerkung zur Selbstbejahung, die sich unter c) Inwiefern das Wollen den Seinsprädikaten genügt findet, erweitert Heidegger die sich im Sich-selbst-wollen aussprechende Selbstbejahung des Willens durch die Einbindung von Sein und Werden:

 Heidegger, GA 49, S. 86. Die Keimzelle für Heideggers Interpretation der exigentia essentiae als eines vorstellenden Sicherstrebens bildet die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Dranges in der 1928 in Marburg gehaltenen Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz. Der Wesenszug des Dranges wird von Heidegger schon dort als einigende Einheit einer Mannigfaltigkeit bestimmt. Bezeichnenderweise ist der §5, in dem Heidegger diese Charakterisierung entwickelt, mit dem Titel Die Wesensbestimmung des Seins des eigentlich Seienden überschrieben. Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, hrsg. von Klaus Held, 3. Aufl., Frankfurt a. M., S. 116: „Wenn Endlichkeit als Eingeschränktheit zu seinem Wesen gehört, muß sie sich aus dem metaphysischen Grundzug des Dranges bestimmen; dieser Grundzug aber ist Einigung, und zwar vor-stellende, vorweg überholende. In diesem vorstellenden Einigen liegt ein Vorweghaben von Einheit, auf die der Drang als vorstellender und zu Übergang tendierender hinblickt. Im Drang als vorstellendem appetitus liegt gleichsam ein ‚Punkt‘, darauf im Vorhinein das Augenmerk gerichtet ist: die Einheit selbst, von der aus er einigt. Dieser Augen-punkt oder point de vue, Gesichts-punkt, ist konstitutiv für den Drang. Dieser Augenpunkt, d. h. das in ihm vorweg Vorgestellte ist auch das, was vorweg alles Drängen selbst regelt. Sofern dieses als vorstellende Bewegtheit in deren freiem Bewegen immer das vor-weg Vorgestellte ist, wird das Drängen nicht äußerlich gestoßen. Perceptio und appetitus sind daher in ihrem Drängen primär aus dem Augenpunkt her bestimmt.“  Vgl. Heidegger, N I, S. 37– 38: „Das Wollen will den Wollenden als einen solchen, und das Wollen setzt das Gewollte als ein solches. Wollen ist Entschlossenheit zu sich, aber zu sich als zu dem, was das im Wollen als Gewolltes Gesetzte will. Der Wille bringt jeweils von sich her eine durchgängige Bestimmtheit in sein Wollen.“

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Sich-selbst-wollen; (Seiend-sein; das ‚Existenzielle‘) (Weltalter). (In welchem Sinne ‚werden‘? Sich zu sich selbst bringen und so gerade ‚Sein‘).¹⁷⁸

Die Referenz auf den sich in der Lauterkeit selbst erzeugenden Willen zur Existenz untermalt, dass Heidegger sich in c) nicht allein vornimmt, die Seinsprädikate auf Wesenszüge des Willens zu übertragen beziehungsweise jene zu diesen zu transformieren. Heidegger sucht auch in Schellings Werk nach direkten Belegen für ein in der Form des jeweiligen Seinsprädikates vorliegendes Verständnis des Willens. Im Hinblick auf die von Heidegger gegebene Charakterisierung der Selbstbejahung als Sich-selbst-wollen bestätigt sich die oben angeführte These, dass diese Eigenschaft in der neuzeitlichen Willensmetaphysik einerseits das Zentrum bildet, um das herum alle anderen Seinsprädikate gruppiert werden. Andererseits ist die Selbstbejahung dasjenige Prädikat, das in jede einzelne Kennzeichnung eingegangen ist, um dieser zu ihrer spezifischen Wirkungsentfaltung zwecks Sicherung der Seiendheit zu verhelfen. Heidegger führt die vier Seinsprädikate zwar nicht ostensiv in einer einheitlichen Ausgestaltung des Willens zusammen. Dennoch liefert die auf die Seiendheit im Allgemeinen bezogene, isolierte Besprechung der Wesensprädikate des Seins (a) im Verbund mit der unter c)¹⁷⁹ („Inwiefern das Wollen den Seinsprädikaten genügt“) geleisteten Parallelisierung jedes einzelnen Attributes mit dessen Erscheinungsweise im Willen den notwendigen Anhalt für eine Systematisierung. Wie von Heidegger proponiert, eignet sich die Selbstbejahung¹⁸⁰ als Ausgangspunkt und Leitbegriff, sodass sich die folgende Formel der mit den Seinsprädikaten verbundenen Willensverfasstheit darbieten könnte. Der Wille bejaht und begründet sich selbst als autopoietisches Sich-selbst-wollen durch eine von der Vergänglichkeit des zeitlichen Wandels nicht berührte, durch diesen hindurchgehende Werdebewegung, die er in ihrer alle Möglichkeiten integrierenden Ganzheit im Medium der Ständigkeit seiner ewigen Wirksamkeit immer schon durchmessen hat. Anlässlich der Rechtfertigung der Seinsprädikate (b) wird die Frage virulent, weswegen Schelling die vier Bestimmungen offenkundig mit einem Duktus zweifelloser Selbstverständlichkeit aufzuzählen vermag und dabei weder auf ihre philosophiegeschichtliche Herkunft noch auf ihre unterschiedlichen Verwendungskontexte reflektiert. Dass Schelling diejenigen Attribute, die den Entwurf des Seienden auf die Seiendheit leiten und in ihrem Sachgehalt die Heraus Heidegger, GA 49, S. 88.  Vgl. hierzu das Schaubild in: Heidegger, GA 49, S. 88.  Im Abschnitt §14c) wird die „Selbstbejahung“ in der Aufzählung der Seinsprädikate explizit durch den Terminus der „Selbstbehauptung“ ersetzt, wodurch der Bezug zum Willen zur Macht hergestellt wird. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 87.

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schälung des Willens als adäquaten Prinzipienträger stützen sollen, nicht hinterfragt, wird von Heidegger umstandslos als Beleg für dessen bewusst-unbewusste Selbsteintragung in die Metaphysik gedeutet: […] zum Wesen der Metaphysik gehört, daß sich diese Prädikate des Seins – das Sein in solcher Ansprechung – von selbst verstehen; das Verstehen nimmt hier seinen Ausgang und hat hier sein Ende; die Ansprechung des Seins des Seienden erhebt und kennt keinen anderen Anspruch, zumal überall nur das Seiende in seiner Seiendheit bedacht und das Sein im Wesen für entschieden gehalten wird.¹⁸¹

Auf diese Weise vermeidet Heidegger eine Lesart, die Schelling in eine frappierende Nähe zur eigenen, projektierten Destruktion der Metaphysik rücken könnte. Diese Nähe ließe sich wie folgt entfalten: Indem Schelling die vier traditionell leitenden Prädikate der metaphysischen Seinsbestimmung entdeckt, liefert er eine Anamnese der Metaphysik und distanziert sich zugleich von ihr. Anhand der Aufzählung demonstriert er, dass das begründende Prinzip als höchstes Seiendes stets in einen unverrückbaren Bezugsrahmen von Kernelementen oder in ein nicht hergeleitetes, selbstverständlich präsupponiertes Netz von Zentralbegriffen eingefügt wurde. Dieser Nexus konnte niemals unmittelbar aus dem Prinzip erschlossen werden, da er dieses allererst zu einem solchen qualifizierte. Schelling legt die Plausibilität dieser Deutung nahe, wenn er schreibt, dass es der Hauptimpetus der Philosophie gewesen sei, „diesen höchsten Ausdruck zu finden“.¹⁸² Gleichwohl wird es Heidegger durch Schellings apodiktische Formulierung „Es gibt in der höchsten und letzten Instanz überhaupt kein anderes Sein als Wollen“¹⁸³ erleichtert, die Willensmetaphysik als Gipfel und Schlusspunkt des ersten Anfanges der abendländischen Metaphysik anzusetzen. Darauf wird im Rahmen der Diskussion von d) Das Sein in seiner höchsten und letzten Instanz zurückzukommen sein. Unter dem Punkt c) Inwiefern das Wollen den Seinsprädikaten genügt befasst sich Heidegger mit der Korrespondenz zwischen den Seinsprädikaten und dem Willen. In diesem vereinigen sie sich nach Heidegger in formvollendeter Widerspruchslosigkeit. Der Wille entspricht „der Ansprechung des Seins, die von den Prädikaten gefordert wird“.¹⁸⁴ Da die von Heidegger in diesem Zusammenhang herausgearbeiteten Bezüge bereits in die Exposition von a) Die Wesensprädikate des Seins eingeflossen sind, soll an dieser Stelle nicht nochmals auf sie rekurriert werden. Wichtig ist, dass Heidegger vor der dezidierten Auseinandersetzung mit    

Heidegger, GA 49, S. 86. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 350. Heidegger, GA 49, S. 87.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Schellings Willenstheorie die tradierten philosophischen Assoziationen des Willensbegriffes bündelt: 1. Was versteht Schelling unter ‚Wollen‘ und ‚Wille‘? In der Überlieferung des metaphysischen Denkens ist das Wesen des Wollens mannigfach bestimmt, und das Wort wird auch für vielerlei in Anspruch genommen. Immer denken wir dabei ὄρεξις, desiderium, appetitus sensibilis, Streben nach, Sucht, Sehnen (nisus!). (Wonach? Warum meist unbestimmt? Dagegen bei Leibniz: appetitus, universum: ‚sich‘ in die Verwirklichung und Wirklichkeit als solche er-streben; βουλήσις). Im Streben nach: ein gewisses Sichempfinden, sich in etwas mitfinden; selbst zu werden, sich selbst hervorzubringen, Sehnsucht.¹⁸⁵

Das paradigmatische Verständnismotiv des Strebens, das Heidegger in dieser begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion aufruft, ist – wie er in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst dargelegt hatte – nicht hinreichend, um den Willen als Affekt, als Bewusstseinsphänomen oder gar als Prinzip zu umranden. Die Diffusität, Unbeeinflussbarkeit und Wandelhaftigkeit der Zielausrichtung müsste indes auch die Betonung einer unauslöschlichen Willenszirkularität des intramundan gesteigerten Selbstbezuges unterminieren. In diesem Kontext ist Leibniz für Heideggers Akzentuierung einer globalen und zugleich einheitlichen Willenskonzeption bei Schelling und Nietzsche von eminenter Bedeutung. Zum einen versteht Leibniz den appetitus als Zug in die Wirksamkeit, sodass die zentrale Verbindung von Wille, Energeia und existentia aufscheint. Zum anderen beugt Leibniz das Streben nach… auf den sich in diesem vermeintlich extern gerichteten, ausgreifenden Vorstellen erfassenden Willen zurück. In diesem Willen entzündet

 Heidegger, GA 49, S. 87. Aufschlussreich ist, dass auch Hegel den Trieb auf der Grundlage der Monadologie Leibnizens konkretisiert und ihn mit dem Widerspruch, dem Mangel, der Negativität und der Bewegung des Lebens verknüpft. Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik II. Erster Teil. Die objektive Logik, Werke 6, hrsg. von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, S. 76: „Man muß den alten Dialektikern die Widersprüche zugeben, die sie in der Bewegung aufzeigen, aber daraus folgt nicht, daß darum die Bewegung nicht ist, sondern vielmehr, daß die Bewegung der daseiende Widerspruch selbst ist. Ebenso ist die innere, die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb überhaupt (Appetit oder Nisus der Monade, die Entelechie des absolut einfachen Wesens) nichts anderes, als daß Etwas in sich selbst und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist. Die abstrakte Identität mit sich ist noch keine Lebendigkeit, sondern daß das Positive an sich selbst die Negativität ist, dadurch geht es außer sich und setzt sich in Veränderung. Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.“

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sich der Drang nach einer autoproduktiven Entfaltung in die angelegte Einheit, in der sich sein Wesen manifestieren soll.¹⁸⁶ Dass Heideggers eigene Fortsetzungsfigur des Willens zudem maßgeblich von Schellings Theorem der voluntaristischen Dualität und der Figur des Willens im Willen profitiert hat, erhellt aus der sich unmittelbar an das obige Zitat anschließenden Herausarbeitung der Ordnungsfunktion des Verstandes innerhalb des Willens. Dort zeichnet sich ab, was hinsichtlich des Willens zum Willen noch zu erweisen sein wird: Heidegger gestaltet die von Schelling nicht aufgelöste Zweiheit der Willen in eine Einheit um. In dieser Konzeption einer Willenseinheit weicht die Gegenwendigkeit zugunsten eines koordinierten Zusammenspiels zwischen der regelhaften, rationalen Lenkung und der die Begierde aufrechterhaltenden Basis. In Heideggers Synthesebildung vormals differenter Vermögensstämme fließt das Gefüge von βουλήσις und λογιστικόν ebenso ein wie die Kantische Hervorhebung des Verstandes als „Vor-stellen der ‚Einheit‘“.¹⁸⁷ Heidegger übernimmt die für die Seismographie der universalen Willensdominanz prägenden Strukturen von Schelling¹⁸⁸, die dennoch in der unauffälligen Gestalt einer einwandfreien Rekapitulation des Textgehaltes der Freiheitsschrift erscheinen können: Der Ver-stand stellt das Streben in und auf das Universale. Verstand ist ‚λόγος‘ (‚das Wort‘, Schelling 361) und hebt so den Willen über die Stufe des bloßen ‚ahnenden Willens‘ hinaus (359). Der Verstand ist ‚Universalwille.‘ Vgl. Kant: Wille = Wirken nach Begriffen; Wirken aus Vorstellen von Etwas im Allgemeinen (Zweck)…¹⁸⁹

 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, S. 113: „Weil der Drang das ursprünglich einfach Einigende sein soll, muß er ‚vorstellend‘ sein. Vorstellen ist hier ganz weit, struktural zu nehmen, nicht als ein besonderes Seelenvermögen. Daher ist die Monade in ihrem metaphysischen Wesen nicht Seele, sondern umgekehrt: Seele ist eine mögliche Modifikation von Monade. Der wesenhaft vorstellende Drang ist also nicht ein Geschehen, das gelegentlich auch vorstellt oder gar Vorstellungen produziert, sondern die Struktur des drängenden Geschehens selbst ist ausgreifend, ist ekstatisch, und in diesem Sinne ist das Drängen ein Vor-stellen. Dieses Vorstellen ist aber nicht als pures Anstarren zu verstehen, sondern als perceptio, d. h. als ein Vorweg-einigen des Mannigfaltigen im Einfachen…“  Heidegger, GA 49, S. 87.  Entsprechend heißt es schon im Schelling-Seminar von 1927/28: „Sehnsucht ist gebraucht im Sinne des verstandlosen Willens und Existenzvollzug im Sinne des Sich-verstehens. Diesen beiden Bestimmungen liegt eine Einheit zu Grunde, der Wille. Ur-sein ist Wollen. Sein besagt Wollen, Drang, deshalb sind die Grundbestimmungen des Seins eines Seienden Sehnsucht und Wort der Sehnsucht, sich auf sich selbst zurückwendende Sehnsucht. In diesem formalen Schema liegt schon faktisch und dem ganzen Aufbau nach die Seinsstruktur des Menschen, so wie Schelling sie sieht.“ Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 333.  Heidegger, GA 49, S. 87.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Dass Heidegger die Überschreitung der Sehnsucht als beständigen Vorgang innerhalb des verstandesgeprägten Willens zu fassen intendiert, geht aus der folgenden Passage hervor. In dieser wird Schellings Entwurf des Willens zum ersten Mal mit dem Willen zur Macht verglichen, wobei Schelling der Vorrang der genuinen Wesenserschließung des Willens zugesprochen wird: Der Verstand: das eigentlich Wollende, sich in die Verwirklichung Er-strebende und diese (Idea) Setzende. Zur Abhebung vgl. die metaphysische Umkehrung dieses Wesens bei Nietzsche: Wille zur Macht; Sich-Wollen als Gesetzgebung und deren Vollzug; Wollen als Befehl, des Erstrebens, des Erstrebens und Strebenkönnens, der Machtermächtigung.¹⁹⁰

Indem Heidegger das Streben in die Verfügungsgewalt des sich wollenden Verstandes beziehungsweise des Befehls einordnet, kann er die Auffassung fundieren, dass die Macht im Sinne der Verwirklichung des potenziell Angelegten sowohl bei Schelling als auch bei Nietzsche das Ziel des Willens bezeichnet. Gegenüber Heideggers tendenziell vereinnahmender Lesart der voluntativen Ursprünglichkeitsformel ließe sich einwenden, dass Schellings Enumeration der wesentlichen Charakteristika des Urseins und deren Ankopplung an das Wollen entweder im Sinne einer freiheitstheoretischen Emphase für die idealistische Grundstellung oder aber als distanzierende Beschreibung und gewonnene Einsicht in metaphysische Denkmuster interpretiert werden könnte. Als hätte Heidegger diese kritischen Einwände antizipiert, bildet er im Rahmen von §14 c) eine zweite, ergiebige Stützungslinie für seine Argumentation aus: 2. Inwiefern genügt das so begriffene ‚Wollen‘ den maßgeblichen Prädikaten des Seins? Schelling hat das nicht eigens gezeigt. Wohl dagegen spricht er etwas anderes aus: Sein ist ‚Werden‘ (Leben) (358 f., 403 f.), und damit unterscheidet er ‚bloßes‘ Sein (385) und ‚An-sich‘Sein (347). An-sich: Rein aus sich und durch sich und in sich gegenwendig ist nur das ‚Ewige‘, auf sich selbst Beruhende, Wille…‘ (347).¹⁹¹

Während das bloße Sein das geronnene Produkt oder das bewegungslos Statische bedeutet, ist es das mit dem Werden und dem Leben konvergierende „An-sichSein“, das Gott in jedem Seienden erblickt.¹⁹² Der ewige Gehalt jedes Seienden beruht auf der unabhängigen Grundhaftigkeit, die wiederum mit dem Willen zusammenhängt. Heideggers Integration des Motivs der Gegenwendigkeit fußt auf der eigenen Auslegungsabsicht. Das Gegenwendige findet sich bei Schelling

 Heidegger, GA 49, S. 88.  Heidegger, GA 49, S. 88.  Vgl. Schelling, Freiheitschrift, SW VII, S. 347.

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nicht ausdrücklich als inhärente Struktur des von Gott in der Ewigkeit betrachteten An-sich-Seins. Im Abschnitt d) das Sein in seiner höchsten und letzten Instanz sucht Heidegger die bisherige Strukturanalyse des Willensbegriffes durch die Bedeutungsumkreisung des letztinstanzlichen Seins anzureichern. Der zentrale Terminus „Ursein“, der auf den Ursprung, das Älteste im Sein, das Anfängliche, das Wesentliche und auf die unverstellte und dauerhafte Tiefenschicht verweist, wird in diesem Kontext nicht beachtet. Heidegger konzentriert sich allein auf den epochemachenden, Schellings Definition des Urseins einleitenden Satz: „Es gibt in der höchsten und letzten Instanz gar kein anderes Sein als Wollen“.¹⁹³ Die interpretatorische Herausforderung wurzelt offenkundig in dem Nachvollzug des Superlativs „höchste“ und in der Einordnung des abschlussanzeigenden Wortes „letzte“. Außerdem ist deren gemeinsame Bezugsrichtung auf den kompromisslosen Ausschluss („gar kein“) jeglicher nicht voluntativen Bestimmung des Seins zu klären. Heidegger transferiert die Bezeichnung „höchste Instanz“ in das (nach Heidegger) seit Platon dominierende und selbst in der kritischen Abwendung bei Nietzsche noch beibehaltene Dispositiv der Metaphysik: Das Sein ist das anwesende Beständige. Unter dem Begriff der „Instanz“ subsummiert Heidegger Entitäten, die als diese Beständigkeit figuriert sind und sie zum Ausdruck bringen, wie z. B. die Schellingsche Identitätskonstellation des „Subjekt-Objekts“.¹⁹⁴ Als höchste Instanz des Seins vermag nach Heidegger diejenige Entität markiert zu werden, die nicht nur substantialistisch in der „Anwesung“ verbleibt. Sich in der Anwesenheit eigens befestigend und sich in dieser Position selbst durchleuchtend, stellt sie sich selbst als das wahrhaft Seiende vor. Einzig im Willen kommen Substanz und Subjekt in einer Weise zusammen, durch die „in jeder Hinsicht Anwesung und Beständigkeit“¹⁹⁵ garantiert ist. Das Subjectum wird in die maximierte Erscheinungsform emporgehoben. Damit geht die Rangposition des Willens als Äußerstes, als Eschaton und als „letzte Instanz“ der auf Anwesenheit abzielenden Metaphysik einher. Dem Übergang in das die höchste Anwesung sichernden Prinzips entspricht die Vollendung der Suche nach einem unverlierbaren Unmittelbaren, nach der ersten und letzten Unbedingtheit und evidenten Gewissheit. Diese im Willen kontrahierte Gewissheit lässt sich nicht mehr steigern: „Nur noch bleibt, was Nietzsche dann bringt, die Umkehrung“.¹⁹⁶ Im Anhang zur Vorlesung von 1941 findet sich unter dem Titel Zur Klärung des Wesens der Metaphysik eine erkenntnisbefördernde Aufzeichnung, die als Fun   

Vgl. Heidegger, GA 49, S. 89. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 89. Heidegger, GA 49, S. 89. Heidegger, GA 49, S. 89.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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dierung des differentiellen Entwicklungsmodelles von Schelling zu Nietzsche beurteilt werden kann. Die insinuierte, von Nietzsche erbrachte Umkehrung wird an den Vorgang eines zunehmenden „Verlöschens“¹⁹⁷ der sich geschichtlich entfaltenden ontologischen Differenz¹⁹⁸ und der aus dieser entspringenden Un-

 Vgl. zu dem Topos des im Hinblick auf Schelling diagnostizierten „Verlöschens“ der Differenz von Was-Sein und Dass-Sein in der Dimension der an den ontologischen Ort der Wirklichkeit tretenden exigentia des Willens die folgende, dichte Aufzeichnung aus dem Anhang: „Schellings ‚Unterscheidung‘ (‚Existenz‘): nicht in Bezug auf οὐσία (Anwesung), 1. und 2., nicht in Bezug auf Wirklichkeit, actualitas, potentia, actus, sondern in Bezug auf exigentia, Wollen als Sichwollen; aber dieselbe Unterscheidung – im Wandel von οὐσία über actualitas zur Wollung; dieselbe Unterscheidung wie potentia und actualitas, nur leibnizisch, kantisch und unbedingt gedacht; durch Schellings Unterscheidung schon das Was und Daß im Verlöschen; endlich bei Nietzsche; vom Willen her (als Wesen der Wirklichkeit und Existenz) dann der Vorschub der Betonung von Existenz – zunächst universal, dann, weil Selbstsein, in der Beschränkung auf Christlichkeit; bei Schelling, innerhalb der deutschen Metaphysik, erhält das Begriffswort ‚Existenz‘ eine besondere Betonung, und zwar innerhalb der Unterscheidung: Grund und Existenz; Existenz – Wirklichkeit, als Wirklichkeit jetzt neuzeitlich Subjektität, Selbstheit (Leibniz); dennoch metaphysisch uneingeschränkt: Deus, Stein, Staubkorn.“ Vgl. Heidegger, GA 49, S. 196.  Arturo Leyte Coello zeigt auf, dass die von Heidegger ausgewählten Repräsentanten der neuzeitlichen Willensmetaphysik – Leibniz, Hegel, Schelling und Nietzsche – in Heideggers Auslegungsperspektive darin übereinkommen, die Seiendheit jeweils durch eine Dualität zu bestimmen, die somit in sich als geschichtlich zu betrachten ist. Vgl. Arturo Leyte Coello, ZeitDenken. Zu einem nicht-begrifflichen Zugang zur Zeit bei Schelling und Heidegger, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 139 – 140: „Indes könnte für unser Augenmerk – fernab der interpretatorischen Falsifikation – die gewissermaßen prophetische Anregung Heidegggers bedeutsam sein, die dieser in einem dem Satz ‚Gott ist tot‘ gewidmeten Aufsatz der Holzwege gibt, wenn er darin verkündet, dass nur ein zukünftiges Denken es vermögen werde, auf zusammengehörende Weise Also sprach Zarathustra, die Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, die Phänomenologie des Geistes und die Monadologie zu lesen. Tatsächlich lassen sich aus dieser einheitlichen Lektüre zwei für unseren Sachverhalt relevante Schlussfolgerungen ableiten: nämlich a) dass in den vier genannten Werken ‚das Sein‘ im Ausgang von einer Dualität verstanden wird, die zum ‚Selbst‘, d. h. zur Konklusion und zur Schließung tendiert. Genauso begreift Heidegger Leibnizens Monade, die zwischen ‚perceptio‘ und ‚appetitus‘ liegt; dies gilt auch für die hegelsche Scheidung des Bewusstseins in ein ‚natürliches Bewusstsein‘ – das fortzubestehen trachtet – und ein ‚philosophisches Bewusstsein‘, das nach Aufhebung und Bewegung strebt; ferner für die Unterscheidung zwischen Grund und Existenz, die bei Schelling das Wesen definiert; und schließlich auch für die von Nietzsche aufgeworfene Beziehung zwischen dem ‚Willen zur Macht‘ und der ‚Ewigen Wiederkunft‘.“ Zu der Bezugsstelle vgl. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Holzwege, GA 5, S. 253. Vgl. dazu auch Markus Gabriel, Unvordenkliches Sein und Ereignis. Der Seinsbegriff beim späten Schelling und beim späten Heidegger, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 105: „Mit dem ‚Seyn‘ in der neuen Schreibweise (die natürlich zugleich die alte ist) richtet sich Heidegger auf die ontologische Differenz als solche, um durch eine Lektüre der Tradition zu zeigen, dass sich die ontologische Differenz verschiebt und sich damit als Geschichte artikuliert.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

terscheidung von essentia und existentia geknüpft. Darauf aufbauend, rekonstruiert Heidegger eine Provenienzlinie. In deren Ausstrahlungsradius sind sowohl Schellings Ansetzung des Gefüges von Grund und Existenz (= Subjektivität) als auch Nietzsches Kernprinzipien der ewigen Wiederkehr und des Willens zur Macht (der sich in Analogie zur Schellingschen Kategorie der „Existenz“ als Subjektivität beschreiben lässt, deren Grund die ewige Wiederkehr des Gleichen bildet) situiert: Zur Klärung des Wesens der ‚Metaphysik‘ 1. ὅν άπλῶς – κοινότατον ἁκροτατον ἀνάλογον 2. Die Unterscheidung von τί ἒστιν und ὅτι ἒστιν, essentia – existentia 3. Die Unterscheidung von ‚Grund‘ und ‚Existenz‘ (‚Subjektivität‘). ewige Wiederkehr des Gleichen? – Wille zur Macht aber Umkehrung des Subjekts. Inwiefern diese Unterscheidungen schon gründeten auf derjenigen zwischen Seiendem und Sein; ob und wie das überhaupt noch ‚Unterscheidung‘; die unbekannte, unentschiedene, alle Metaphysik tragende Unterscheidung (ontologische Differenz).¹⁹⁹

2.2.3 Der Wille als Wurzel der Unterscheidung Aus Schellings Definition des Urseins lässt sich unbestritten eine (sei es affirmative, sei es kritische) Verabsolutierung des Willens²⁰⁰ herausdestillieren, wie

Insofern diese Geschichte eine Geschichte der Seinsbegriffe ist und insofern Seinsbegriffe zu unserem eigenen Seinsverständnis gehören, kann die Seinsgeschichte nun zugleich als eine Geschichte unseres Selbstverständnisses in den Blick genommen werden.“  Heidegger, GA 49, S. 191. Vgl. zur kritischen Reflexion Heideggers über die Statthaftigkeit der ontologischen Differenz: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 250: „Denn so notwendig sie ist, aus dem Herkömmlichen gedacht, um überhaupt einen ersten Gesichtskreis für die Seynsfrage zu schaffen, so verhängnisvoll bleibt doch diese Unterscheidung. Denn diese Unterscheidung entspringt ja gerade einem Fragen nach dem Seienden als solchem (nach der Seiendheit). Auf diesem Wege aber ist niemals zur Seynsfrage unmittelbar zu gelangen. Mit anderen Worten, diese Unterscheidung wird gerade zur eigentlichen Schranke, die ein Fragen der Seynfrage verlegt, sofern versucht wird, unter Voraussetzung des Unterschiedes von diesem weiter nach seiner Einheit zu fragen. Diese Einheit kann immer nur der Widerschein des Unterschiedes bleiben und niemals in den Ursprung führen, von dem aus diese Unterscheidung als nicht mehr ursprüngliche ersehen werden kann“ [von mir kursiv, J.K.].  Vgl. Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch, S. 20: „Die Identifizierung von Sein und Wille ist Heidegger aus seiner Schlüssellektüre der Freiheitsschrift wohl vertraut,

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Heidegger in seiner analytischen Zergliederung und geschichtlichen Rückführung der Satzbausteine verdeutlicht. Die Korrespondenz des Willens mit den tradierten Prädikaten des Seins kann jedoch dessen Manifestationsart und Erscheinungsform innerhalb des Seienden nicht hinreichend erklären. Solange der Nachweis ausbleibt, wie und worin sich der Wille in die Erscheinungswelt prolongiert, muss der verbindende Überschritt von einer metaphysikinternen Ideengeschichte hin zur lebensweltlichen Bedeutsamkeitszentralisierung des Willensprinzips misslingen oder spekulativ hergeleitet werden. Um die Relevanz, ja Unumgänglichkeit der Erhellung der Wurzel für Heidegger wie für Schelling zu veranschaulichen, ist die Triplizität ihrer Ankopplungsrichtung nochmals zu unterstreichen: Erstens verdankt sich jedes Wesen, d. h. jedes Seiende der in sich gespaltenen und doch untrennbar vereinigten Inständigkeit in sich selbst als Grundgebendem und Existierendem. Es ist diese Komponente, auf die Heidegger sich in seiner willenstheoretischen Ausdeutung besonders konzentriert. Zweitens dient die in Gott vorfindliche Fundamentalunterscheidung bei Schelling selbst zur Versöhnung einer Güte des Schöpfungsvorganges mit der darin hervorgerufenen Möglichkeit des Bösen. Drittens ist die Unterscheidung in ihrer Genese dadurch gekennzeichnet, ihren Ausgang von dem sich teilenden Ungrund zu absolvieren. Basierend auf diesen drei Funktionsbestimmungen zeichnet sich bereits ab, dass Heidegger die Vielschichtigkeit der Unterscheidung, die bei Schelling systematische, schöpfungsgenetische, sündentheologische und ontologische Aspekte aufweist, zugunsten einer Präeminenz des Voluntarismus verschieben wird. Vor diesem Hintergrund kann die folgende, aus dem §15 stammende Darlegung Heideggers zur Wurzel der Unterscheidung/Seynsfuge als eine der aussagekräftigsten Thesenformierungen in seiner Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Metaphysik beurteilt werden: Inwiefern ist das zuhöchst bestimmte Sein als Wollen die Wurzel der Unterscheidung? ‚Wurzel‘ soll sagen: Die Unterscheidung entspringt aus dem Wollen, und das Unterschiedene hat den Charakter von ‚Wille‘ (vgl. unten). Das höchste Seiende, das eigentlich Existierende, ist der Geist; aber der Geist ist der Geist der Liebe. Sie ist das Höchste, denn die Liebe – ‚da‘; anwesend: 1. ehe davon der Grund und ehe das Existierende als Getrennte, 2. aber noch nicht als Liebe (406). Der Un-grund, die absolute Indifferenz; die Prädikatlosigkeit das einzige Prädikat – und doch nicht das nichtige Nichts. Der Ungrund teilt sich in zwei gleichewige Anfänge. Deshalb muß sich die Unterscheidung im Hinblick auf den ‚Willen‘ entfalten; deshalb spricht auch Schelling vom ‚Willen des Grundes‘ und ‚Willen des Verstandes‘.²⁰¹

ebenso kann er die Alternativen und Gegenentwürfe, die Schelling als Wege aus der Überwindung aus der Überwindung des Willensparadigmas aufzeigt, aus seiner Quellenkenntnis beziehen.“  Heidegger, GA 49, S. 89 – 90. Während Dietmar Köhler die Hypostasierung des Willens zur Wurzel der Unterscheidung von Grund und Existenz als Diskontinuität gegenüber der Vorlesung

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

In diesem Passus ist wesentlich, dass Heidegger den Willen gegenüber dem immerwährenden, sich teilenden Aufgegangensein und Sich-Dualisieren in der Unterscheidung emanzipiert, indem er ihn als Grundlage versteht („die Unterscheidung entspringt aus dem Wollen“), an der die Unterscheidung vollzogen wird. Der einheitliche Wesenszug wird in den Relaten beibehalten („und das Unterschiedene hat den Charakter von ‚Wille‘.“). Dass die Liebe die indifferente Verortung im Ungrund, in der sie sich noch nicht als Liebe zeigt und beweist, bis zur Identitätsfügung des Geistes übergreift, harmoniert mit Schellings entwicklungstheoretischen Überlegungen in der Freiheitsschrift. So gipfelt Schellings Schilderung der endgültigen Vergeistigung des Schöpfungsprozesses in der umfassenden, jenseits von Identität und Indifferenz angesiedelten All-Einheit der Liebe: Dann wird alles dem Geist unterworfen: in dem Geist ist das Existierende mit dem Grunde zur Existenz Eins; in ihm sind wirklich beide zugleich, oder er ist die absolute Identität beider. Über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, der nicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beider Prinzipien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichts ergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohltun, mit Einem Worte, die Liebe, die Alles in Allem ist.²⁰²

In Heideggers Auslegung der primordialen Anwesenheit der Liebe manifestiert sich der entscheidende Schritt über Schelling hinaus in dem Sachverhalt, dass Heidegger die Liebe in der absoluten Indifferenz als keimhaft willensartig beschreibt. Diese Tendenz entfaltet sich innerhalb der „zwei gleichewigen Anfänge“ jeweils in die archetypischen Willenseigenschaften. Heidegger verleibt die im Ungrund noch nicht als Liebe anwesende Liebe dem Willen ein. So kann Heidegger die Auffassung vertreten, die Liebe sei das Wollen, das als Grundlage der Unterscheidung fungiert. Diese These lässt sich anhand des Resümees, das Heidegger am Ende von §15 gibt, validieren:

von 1936 markiert, apostrophiert Konstanze Sommer die Konstanz dieser Bestimmung. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 262 ff. Vgl. im Gegensatz dazu Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 180: „Ist mit der Bestimmung des ‚ursprünglichen Seyns‘ als ‚Wollen‚ einerseits noch die Kontinuität zur Auslegung von 1936 gewahrt, so manifestiert sich in der systematischen Festsetzung des Wollens im Sinne der Wurzel der Unterscheidung von Grund und Existenz eine eindeutige Akzentverschiebung, insofern in der Vorlesung von 1936 die Formel ‚Wollen ist Urseyn‘ dem idealistischen Seins- und Freiheitsbegriff zugewiesen wurde, welcher in seiner abstrakten Allgemeinheit völlig unzulänglich blieb, um das Spezifische der menschlichen Freiheit zu fassen, und dem deshalb der reale und lebendige Begriff der Freiheit im Sinne des Vermögens zum Guten und zum Bösen entgegengesetzt werden musste.“  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 409. Zu Heideggers Wesensbestimmung der Liebe vgl. den Exkurs zum Schelling-Seminar im Kapitel 2.2.4 dieser Arbeit.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

609

Im Sein als Wollen kam der Subjectumscharakter des Seienden in jeder Hinsicht zur Entfaltung. Wenn Seiendheit in aller Metaphysik subjectum (griechisch und neuzeitlich), wenn Ursein aber Wollen, dann muß Wollen das eigentliche subjectum sein, und zwar in der unbedingten Weise: des Sich-wollens. (Daher: sich verneinen, verschließen und sich zu sich selbst bringen.) Das eigentliche Wollen, das eigentlich Seiende ist die Liebe. Hier entspringt die Unterscheidung, weil sie wesenhaft angelegt ist.²⁰³

Von besonderer Stichhaltigkeit ist diesbezüglich der Schlusssatz. Heidegger beschreibt die Liebe, die im Ungrund noch nicht seiend ist, von der späteren Entfaltungshöhe ihres Wesens her als einigendes Wollen der Einheit. Dieses „eigentliche Wollen“ wird von Heidegger in seinen Ursprung zurückverlagert. Es wird gewissermaßen zurückdatiert, ohne seine spätere Prägung, die Vollendungsform des Willens zu entwickeln, gänzlich einzubüßen. Aus diesem Ursprung generiert es sich als gegenwendiges Wollen, weil die Liebe in sich diese teilungsaffine Disposition aufweist. Die Liebe wird zum Ungrund des Willens, die Unterscheidung wird zum aktivierten Willen des Ungrundes. Im Hinblick auf eine weitere Konkretisierung der Unterscheidung sind über den §15 hinausgehend das Dritte Kapitel des Ersten Teils wie auch einzelne, verstreute Textstellen und der immens aufschlussreiche §29 (Die „Unterscheidung“ in ihrem vollen Wesen ²⁰⁴) zu Rate zu ziehen. Das Dritte Kapitel handelt von der „Inneren Notwendigkeit der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz“.²⁰⁵ Bislang blieb noch unklar, warum und wie sich der Übergang aus der Unentschiedenheit der Indifferenz in die in der Unterscheidung unterschiedenen Willen vollziehen muss. Die entsprechende Aufzeichnung aus dem Dritten Kapitel ist insofern von maßgebender Relevanz, als Heidegger in ihr den zur konzisen Theoriegestaltung geforderten Impetus der Unterscheidung expliziert und mit dem Werden zusammendenkt, das sich in dieser ausfaltet:

 Heidegger, GA 49, S. 90. In Bezug auf diese Aufzeichnung Heideggers formuliert Konstanze Sommer den Vorwurf einer Zirkularität, in der die einzelnen Bezugsglieder (Seiendheit, Subjectum, Ursein und Wollen) ohne explanatorischen Mehrwert miteinander identifiziert würden. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 268: „Die Argumentation lässt sich so darstellen: Weil gelten soll (1) ‚Seiendheit ist subjectum‘ und (2) ‚Ursein ist Wollen‘ gelte schließlich (3) ‚Wollen ist subjectum‘. Abgesehen davon, dass schon die Prämissen unbewiesen sind und die Folgerung sich zudem nur aus der Gleichsetzung von Seiendheit und Ursein ergibt, scheint durch diese Argumentation nicht viel gewonnen. Weder wird deutlich, inwiefern die Bestimmung des Wollens zur Klärung des Begriffes subjectum beiträgt, noch wird die Behauptung gestützt, dass das als Wollen bestimmte subjectum sich nur auf Seiendes, nicht auf Sein bezieht.“  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 134– 136.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 91– 92.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Nicht etwa nur so ist diese Unterscheidung zu begreifen, als müßte sie von uns gedacht werden, als kämen ‚wir‘ beim Denken und ‚System‘ nicht ohne sie aus. Sondern das Sein selbst als Wollen ernötigt sie; das Seiende als solches scheidet, unterscheidet sich; Zwietracht, Gegen-satz vom Sein selbst gewollt und hervorgebracht; (vgl. 403 f., 358, 375, 380 Anm., 400, 406 ff.). Im ‚Werden‘ erst wird ‚sich‘ das Seiende empfindlich. ‚Werden‘: Gegensätzlichkeit von Grund und Existenz; das Voraus-setzende ist das Vorausgesetze und umgekehrt. Wille – eigentlich: zu sich selbst kommen, sich zusammennehmen, sich selbst wollen, Selbstsein, Geist, Liebe (406) (vgl. §15); zu sich kommen, sich offenbaren, also unterscheiden. Liebe – als Wirkenlassen des Grundes (375), als dessen Wogegen sie selbst sein kann und muß, damit ein einigendes Eines und Einheit und sie selbst sei; Einheit, als Einheit, Einigung. ²⁰⁶

Heidegger unterstreicht somit noch einmal, dass die Unterscheidung nicht als Vehikel oder Unumgänglichkeit des Denkens in dessen Verantwortungsbereich eingesenkt werden könne. Heideggers Argumentationsgang kann unter dem Primat des Sich-selbst-Wollens wie folgt nachvollzogen werden: Die Seiendheit, d. h. das Seiende als solches bestimmt sich als Wille, dem wesenseigen ist, zu sich selbst kommen zu wollen, um überhaupt Wille sein zu können.²⁰⁷ Dazu ist erforderlich, dass er sich im Zuge dieser Offenbarwerdung als Wille erfährt. Deswegen kann er nicht in der Statik gehalten werden. Der Wille muss einem Werden ausgesetzt sein, in dem „sich das Seiende empfindlich“ wird. Dieses Werden darf nicht uferlos auslaufen, sondern muss in zwei klar umrissene Pole eingespannt sein. Das Durchlaufen dieser Verbindung darf nicht quantitativ oder nach Maßgabe einer Linie verstanden werden: Würde das Werden irgendwann aufhören, suspendierte dies die Selbstfindungsbewegung des Willens.²⁰⁸ Daher ist es von-

 Heidegger, GA 49, S. 91. Vgl. hierzu den Exkurs zum Schelling-Seminar von 1927/28 im Kapitel 2.2.4.  Schelling bedenkt die Selbstbewusstseinskonstitution schon 1798 in der Allgemeinen Übersicht der neuesten philosophischen Literatur innerhalb des Gefüges von Wille, Freiheit und Geist und zeichnet das Wollen als Ursprungsdimension des Geistes selbst aus. Vgl. Schelling, Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur, AA I, 4, S. 121: „Jene SelbstBestimmung des Geistes heißt Wollen. Der Geist will, und er ist frei. Daß er will, dafür lässt sich kein weiterer Grund angeben. [….] Die Frage war: Wie der Geist seines Handelns unmittelbar sich bewusst werde. Die Antwort war: dadurch, daß er sich vom Object losreißt; was wieder nicht geschehen kann, ohne daß er schlechthin handle. Schlechthin handeln aber heißt Wollen. Also wird der Geist nur im Wollen seines Handelns unmittelbar bewußt, und der Act des Wollens überhaupt ist die höchste Bedingung des SelbstBewusstseyns. […] Der Geist ist ein ursprüngliches Wollen.“  Dieses Motiv einer permanenten, im Begriff des Drängens zusammengefassten, selbstreferentiellen Übergangsbewegung bringt Heidegger in seiner Interpretation der Monadologie im Jahre 1928 zum Ausdruck.Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, S. 102: „Also ist die vis activa ein gewisses Wirken und doch wiederum nicht die Wirkung im eigentlichen Vollzug, eine Fähigkeit, aber auch nicht eine ruhende Fähigkeit. Was

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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nöten, dass das Werden zirkulär zwischen den Polen verläuft. Ein zirkuläres Werden, das in seiner Vollendung in den zugleich als Ende figurierenden Anfang zurückkehrt und somit derlei Stationsangaben permanent aufhebt, wird durch das Aufreißenlassen jener Gegensätzlichkeit freigegeben, die sich als Bedingung der Möglichkeit des sich innerhalb der Weite des Willens abspielenden Werdens enthüllt. Der Gegensatz von Grund und Existierendem beziehungsweise die Möglichkeit von Gegensätzlichkeit überhaupt wird demnach vom „Sein selbst als Wollen ernötigt“.²⁰⁹ Nur in diesem polaren Modus kann der Wille ein ewiges Werden zu sich selbst generieren, in dem er sich nicht verliert und stets der sich graduell verschiedenartig objektivierende Wille bleibt. In diesem Werdegang läuft der zu sich gekommene Wille des Verstandes als Voraussetzung des Grundes in diesen als seinen Anfang zurück, sodass ein ewiger Prozess der Selbsterfahrung aufrechterhalten wird. Alle Lebewesen sind als Seiende in diese Bewegung des Willens eingebunden und bringen sein Werden – wie Heidegger schon 1936 proponiert hatte – auf sämtlichen möglichen Stufen zum Austrag.²¹⁰

Leibniz hier meint, nennen wir das Tendieren nach…, besser noch, um das spezifische, schon irgend wirkliche Wirkensmoment zum Ausdruck zu bringen: das Drängen, den Drang. Gemeint ist also weder eine Anlage noch ein Ablauf, sondern das Sich-angelegen-sein-lassen, sich selbst nämlich; gemeint ist das Sich-auf-sich-selbst-anlegen (wie in der Wendung ‚er legt es darauf an‘), das Sich-selbst-anliegen. Das Charakteristische am Drang ist, daß er von sich aus ins Wirken sich überleitet, und zwar nicht gelegentlich, sondern wesenhaft. Dieses Sichüberleiten zu… bedarf nicht erst eines von anderswoher kommenden Antriebes. Der Drang ist der Trieb, der eben seinem Wesen nach von ihm selbst an-getrieben wird. Im Phänomen des Dranges liegt aber nicht nur, daß er von sich her gleichsam die Ursache, im Sinne der Auslösung mitbringt, sondern der Drang ist als solcher immer schon ausgelöst, aber so, daß er dabei immer noch geladen, gespannt ist. Dem entspricht, daß der Drang in seinem Drängen zwar gehemmt sein kann, aber auch so ist er nicht etwa identisch mit der bloßen ruhenden Wirkfähigkeit.“  Heidegger, GA 49, S. 91.  Erwähnenswert ist, dass Heidegger die schöpfungsgenetische Selbstdarstellung des Absoluten bereits 1936 in einer Schlüsselpassage der Schelling-Vorlesung mit den graduellen Ausprägungen der Willensstufen zusammenschließt. In diesem Zusammenhang begreift Heidegger nicht nur jedes Seiende explizit als ein Wollendes (im Gegensatz zur geronnenen Unbeweglichkeit der Dinge), sondern entwickelt außerdem jene Gleichsetzung von Werden, Sein und Wollen, die 1941 die metaphysisch-seinsgeschichtliche Interpretation der Freiheitsschrift grundiert.Vgl. Heidegger, GA 42, S. 214: „Die Dinge sind freilich, aber das Wesen ihres Seyns besteht darin, je eine Stufe darzustellen und eine Weise, in der das Absolute sich fest- und darstellt. Das Seyn wird nicht in ein äußerliches Zerfließen, genannt Werden, aufgelöst, sondern das Werden wird als eine Weise des Seyns begriffen. Seyn wird aber jetzt ursprünglich begriffen als Wollen. Das Seiende ist seiend je nach der Fügung der zur Seynsfuge gehörigen Momente ‚Grund und Existenz‚ in einem Wollenden. Das Seyn der Dinge ist ein Werden, besagt: Die seienden Dinge erstreben je bestimmte

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Dieses Werden des Willens verknüpft Heidegger in dem §21 (Das Zirkelhafte der Unterscheidung von Grund und Existenz ²¹¹), der in diesem Kontext sehr erhellend und deswegen hinzuzuziehen ist, mit der Relation von Priorität und Superiorität. Wenn der Kreisgang des Willens konsequent bedacht und die Gleichursprünglichkeit beider Elemente zugunsten der inmitten des Gefüges anberaumten Bewegung zurückbeordert wird, fällt auf, dass der Wille des Grundes seine Position als in logischer Folge dem Verstand vorausgehende Entität im Sinne der Priorität einbüßt. Hingegen kann der Verstand als Wille im Willen seine ontologische Dignität ausbauen, indem er seinerseits als Anfang, als Prius des Grundes reüssieren kann: Der Zirkel als das, ‚woraus alles wird‘: das ‚Werden‘ von der eigens geprägten Art (‚Wille‘) ist das Wesen des Seins, und dieses in seiner Wesensart; als Unterscheidung ist das, woraus das Sein west. (Die Unterscheidung als Wesensursprung des ‚Werdens‘). Jetzt die ‚Erläuterung‘ der Unterscheidung durch die nähere Aufhellung des ‚Zirkels‘; das Zirkel-hafte der Unterscheidung und die Subjektivität des Seins; Sich-Wollen. ‚Zirkel‘: wo Anfang das Ende und Ende der Anfang (formalistisch).²¹²

Es ist insgesamt bemerkenswert, dass Heidegger darauf abzielt, zwei auf den ersten Blick disparat und nahezu unvereinbar scheinende Komponenten – Unterscheidung und Zirkularität – zu gemeinsamen Wesenselementen des Willens zusammenzudenken. Auf diese Weise wird es möglich, den Willensbegriff Schellings, der nach Heidegger in der Selbstunterscheidung gründet, in eine einheitliche Leitbahn mit dem Willen zur Macht zu integrieren, ohne dessen Beziehung zum Zirkel der ewigen Wiederkehr aufgeben zu müssen. Diese Verbindung von Unterscheidung und Zirkularität ist – wie gezeigt werden konnte – schlüssig, insofern das Sich-Wollen des Willens als Offenbarwerden vor sich selbst gefasst wird, das in einem durch zwei Grundpfeiler eingehegten Werden innerhalb der Unterscheidung zwischen diesen beiden geschieht. In dieser unendlichen Ankunftsbewegung des sich offenbarenden Willens koinzidieren Anfang und Ende in jedem der beiden Knotenpunkte. Aufgrund der unabdingbaren Partizipation jedes aus der Unterscheidung entstammenden und sich in ihr zur spezifisch-differenten Einheit fügenden Seienden bilanziert Heidegger: „Sein im Sinne des Willens ist eigentliches Existieren“.²¹³

Stufen des Wollens; es gibt in ihrem Bereich niemals die gleich-gültige Gleichmäßigkeit eines nur vorhandenen Vielerlei.“  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 117– 118.  Heidegger, GA 49, S. 117.  Heidegger, GA 49, S. 118.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Bislang wurde allein die Funktion der Unterscheidung im Rückbezug auf die Prämisse des sich vor sich selbst bringenden Offenbarungsdranges²¹⁴ des Willens erläutert. Die Spezifität und Vollzugsweise ihrer Hervorbringung bleibt jedoch weiterhin ungeklärt. Auch dieser Sachverhalt lässt sich mit Hilfe des obigen Zitats aus dem Dritten Kapitel (Die innere Notwendigkeit der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz) erhellen und hinsichtlich der Zirkularität der Unterscheidung vertiefen: Der auf Einheit zielende, gegensätzlich verfasste Wille wird er selbst in der Liebe. Umgekehrt verdankt sich die Gegensätzlichkeit der vom Werden durchlaufenen Unterscheidung der Wirkung der Liebe, in deren Zuge sie sich sublimiert zur Vollendungsform des Willens. Die Möglichkeit von Unterscheidbarkeit überhaupt gründet im Wirkenlassen des Grundes. ²¹⁵ Im Aufreißenlassen des anfänglichen Risses erschafft sich die Liebe ihren Antagonisten, auf dass sich in dessen Regellosigkeit der Wille des Verstandes formend betätige. Der Ungrund kann sich demnach nur in zwei Willensanfänge teilen, wenn zuvor die im Ungrund angelegte Liebe sich im Wirkenlassen des Grundes selbst erweckt, sich hervor-ruft. Dieser Charakterzug der Liebe, sich selbst als Vermögen der Einheit zu wollen, ohne dabei etwas für sich zu wollen, wird von Heidegger im §29 herausgestellt. In diesem Paragraphen wird die Liebe als Band innerhalb der Unterscheidung privilegiert und damit die an Schelling angelehnte Positionierung zum Charakter des Bandes von 1936 wieder aufgegriffen.²¹⁶ Weil die Liebe in ihr als Band waltet, welches den Agon zwischen dem Willen des Grundes und dem Willen des Verstandes vereinheitlicht, ist die Unterscheidung kein opakes Hand-

 In der Zurückleitung dieses Sich-Offenbarwerdens auf die Ichheit und die Subjektivität marginalisiert Heidegger insgesamt den theologischen und freiheitstheoretischen Hintergrund des Offenbarwerdens Gottes im Menschen. Vgl. hierzu Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 373 – 374: „Denn wenn Gott als Geist die unzertrennliche Einheit beider Prinzipien ist, und dieselbe Einheit nur im Geist des Menschen wirklich ist: so würde, wenn sie in diesem ebenso unauflöslich wäre als in Gott, der Mensch von Gott gar nicht unterschieden sein; er ginge in Gott auf, und es wäre keine Offenbarung und Beweglichkeit der Liebe. Denn jedes Wesen kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit in Streit. Wäre keine Zertrennung der Prinzipien, so könnte die Einheit ihre Allheit nicht erweisen; wäre nicht Zwietracht, so könnte die Liebe nicht wirklich werden. Der Mensch ist auf jeden Gipfel gestellt, wo er die Selbstbewegungsquelle zum Guten und zum Bösen gleicherweise in sich hat: das Band der Prinzipien in ihm ist kein notwendiges, sondern ein freies.“  Vgl. zur weiteren Diskussion dieses Motivs den Exkurs zum Schelling-Seminar von 1927/28 im Kapitel 2.2.4.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 154: „Die Liebe im metaphysischen Sinne begreift Schelling als das innerste Wesen der Identität als der Zusammengehörigkeit des Verschiedenen. […] Die so begriffene ‚Liebe‘ ist das Wesen des Bandes, der Copula, des ‚ist‘ und des Seyns.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

lungssubjekt. Die Unterscheidung kann als dirigierende Steuerungsgestalt des Einheitssinnes instantiiert werden. Der §29 (Die „Unterscheidung“ in ihrem vollen Wesen), der dem abschließenden Durchblick zugeordnet ist, liefert diesbezüglich eine luzide Aufklärung. Bereits der Punkt 1 trägt den wegweisenden Titel: Wie sie [d. h. die Unterscheidung, J.K] als Einigung der Unterschiedenen west. ²¹⁷ Hier wird nochmals unterstrichen, dass die Unterscheidung keineswegs als starres Gerüst und nicht nur als irreversibles, eine Binäropposition erbringendes Ergebnis einer vorherigen Teilung des Ungeschiedenen zu verstehen ist. Die Unterscheidung muss als aktivierender Modus und als versatile Bewegung, d. h. als „werdende Scheidung“²¹⁸ der sich im All des Seienden niederschlagenden Austarierung in ihr Unterschiedener gefasst werden. Dadurch ist zunächst nicht viel gewonnen, weil diese Klassifikation einerseits im §15 bereits anklang und andererseits – dieser Vorgriff sei gestattet – auch für das sich von sich unterscheidende Vor-stellen gelten wird. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass Heidegger in seiner Willensanalyse auf die Überschneidung von Sachbereichen abzielt. Auf diese Weise soll der allgemeine Grundzug der Subjektivität zum Ausdruck gebracht werden. Heideggers Kernthese lautet: „Die Unterscheidung wird notwendig aus dem zum Sein (als Subjektivität) gehörigen ‚Gegensatz‘“.²¹⁹ In dem Appendix Wiederholungen und Gang der Auslegung, dem auch das vorherige Zitat entlehnt wurde, findet sich in dem Abschnitt Das Kernstück und Schellings Vorgehen (B) eine Untermauerung der im Willen begründeten Unterscheidung: B) die Unterscheidung selbst gründet in dem, was sie unterscheidet: ‚Sein‘; (Wollen ist Ursein;) Subjektivität ↔ ἔρως – desiderium;…²²⁰

Dieses Textstück hat deswegen ein beträchtliches Gewicht, weil Heidegger eine Lesart offeriert, in der das, was und an dem unterschieden wird, erst durch die Unterscheidung entsteht. Dieser Vorgang darf freilich nicht so konzeptualisiert werden, als ob die Unterscheidung das Sein als Willen erschüfe. Der sich teilende Wille wird gleichursprünglich mit der Unterscheidung seiner selbst gesetzt und läuft ihr nicht als singulärer Urwille voraus. Wie bereits verdeutlicht werden konnte, schließt dies eine willensmetaphysisch-monistische Interpretation keineswegs aus, insofern die Liebe von Heidegger als prävoluntatives Keimmotiv in

   

Heidegger, GA 49, S. 134. Heidegger, GA 49, S. 147. Heidegger, GA 49, S. 147. Heidegger, GA 49, S. 147.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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den Ungrund eingetragen wird. Diese These gilt es anhand des §29 weiter zu erhärten. Eine erste Konturierung gelingt dadurch, dass Heidegger in §29 1a) die „Wesensbestimmung von der Existenz her geprägt sieht“²²¹, wobei das Telos der Unterscheidung in dem vertrauten Topos eines „Offenbarwerden[s] der Einheit“²²² beruht. Was offenbar werden soll, ist demnach das Existierende in seinem vollen Wesen. Daran schließt sich in b) die ebenfalls schon bekannte Gedankenfigur einer durch die Zwietracht herbeigeführten Intensitätssteigerung an, die als Einheitsbeweis höchster Dignität fungiert: Je entschiedener die Scheidung, um so offenbarer die Einheit; die Einheit als Band: das lebendige Band als ‚Seele.‘²²³

Wichtig und hilfreich ist die Passage nach dem Semikolon. Das, was die Einheit im Sinne einer Verknüpfung gewährt, ist in erster Linie das Band, welches das von der Liebe Gewollte vollzieht: Die höchste Freiheit und Unabhängigkeit der Geschiedenen gegeneinander bei gleichzeitiger Zurückspannung in das sie Verbindende, das die umfassendste, elastische und weitestreichende Vereinigung aufrechterhält.²²⁴ Heidegger hatte dieses Band der Copula 1936 als „Wesen des Seyns“²²⁵ und als Anzeige der „Zusammengehörigkeit Verschiedener“²²⁶ im Sinne des neuen, schöpferischen Begriffs von Identität gewürdigt. Aufschlussreich ist diesbezüglich innerhalb des §29 der Abschnitt 3. Die Unterscheidung als Einheit des „Geistes“ nicht die höchste. ²²⁷ Erwähnenswert ist zunächst, dass Heidegger in diesem Kontext konzediert, Schelling habe „Gegen Hegel; die Unaufhebbarkeit des Grundes“²²⁸ weder angetastet noch in einer Geistmetaphysik aufgehoben. Gleichwohl lässt sich das Gewährenlassen des Grundes auf die offenbarungstheologische Notwendigkeit der Scheidung zurückführen. Daraufhin greift Heidegger auf Schellings Bemerkung zurück, wonach der Geist als „selbst-ständiger Wille des Verstandes“²²⁹ nur der „Hauch von…“²³⁰ sei. Als Bezugswort nennt

 Heidegger, GA 49, S. 134.  Heidegger, GA 49, S. 134.  Heidegger, GA 49, S. 134.  Schon hier wird transparent, welchen immensen Stellenwert der Hegelsche Vermittlungsgedanke in Heideggers Systematisierung des Willensparadigmas einnimmt.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 154.  Heidegger, GA 42, S. 154.  Vgl. Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Heidegger hier statt des Begriffs der Liebe die damit identische, „ursprünglich wesende Einheit“²³¹, die der Geist schließlich verkehren kann. Indem Heidegger das Geistige mit dem Bösen parallelisiert („Weil das Geistige das Böse ist, kann der Geist nicht das Höchste sein“²³²), kann er demgegenüber das „höhere, wesentlichere Band“²³³ mit der Seele identifizieren. Diese wiederum ist nach Heidegger die „Güte selbst“.²³⁴ Als diese Güte bezeugt sich jedoch der „Geist der Liebe“. ²³⁵ Entscheidend ist, dass Heidegger sich in seinem Verständnis der Seele (und somit des eigentlichen, mit der Liebe gleichbedeutenden Bandes) als „Zentrum“²³⁶ nicht auf die Freiheitsschrift beruft. Heidegger betont sogar, dass „in der Freiheitsabhandlung das Wesen der ‚Seele‘ noch nicht so entschieden entfaltet“²³⁷ sei. Heidegger profiliert die Relevanz der Seele vor dem Hintergrund einer prägnanten Charakterisierung, die Schelling in den Stuttgarter Privatvorlesungen darlegt: Die Seele ist das eigentlich Göttliche im Menschen, also das Unpersönliche, das eigentlich Seiende, dem das Persönliche als ein Nichtseyendes unterworfen sein soll.²³⁸

Für die Umgrenzung des Wesens der Unterscheidung ist die sich an die Wiedergabe des Zitats aus den Stuttgarter Privatvorlesungen anschließende, in Klammern beigesteuerte Kommentierung Heideggers zum Band eminent bedeutsam: Hier wird deutlich, inwiefern das Band das eigentlich Seiende des Seins ist und nicht eines der Unterschiedenen, die Existenz.²³⁹

Wenn das „eigentlich Seiende des Seins“ – d. h. der Unterscheidung – das Band und somit die Liebe selbst ist und dieses Band als Einheit zu begreifen ist, muss folgerichtig die einigende Kraft innerhalb der Unterscheidung als die den „Geist der Liebe“ repräsentierende Seele benannt werden. Die Seele waltet in der Differenz selbst und steht also nicht als ein Drittes diesseits oder jenseits der Unterscheidung. So heißt es innerhalb des §17 im Abschnitt 10 (Die Unterscheidung

 Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Schelling, Stuttgarter Privatvorlesungen, SW VII, S. 468. Hier zitiert nach: Heidegger, GA 49, S. 135.  Heidegger, GA 49, S. 135.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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von Grund und Existenz als Wesensbestimmung der ‚Existenz‘ im Sinne der Subjectität ²⁴⁰): 3. das Verbindende als das eine Element, nämlich die Existenz, ausgezeichnet (die Praevalenz der Existenz; vgl. anders schon Leibniz!) Die Unterscheidung ist das Band, das in sich den Gegensatz enthält (den Grund wirken läßt) und ihn zugleich verklärt und bindet als eines der Verbundenen; das Sich-selbst-Bindende.²⁴¹

In der Struktur der Unterscheidung sind die Unterschiedenen, die „Verbindung des Verbundenen“²⁴² und das Verbindende auseinanderzuhalten. Zwar wird der Wille im Willen, d. h. der Verstand als diejenige Entität angesprochen, die sich als Existenz innerhalb der Unterscheidung mit dem Grund in eine Verbindung setzt. Diese Tätigkeit kann der Verstand jedoch nur vollziehen, weil die Liebe das sich aufspannende Band freilässt. Es ist daher folgerichtig, dass Heidegger die Unterscheidung im §19 endgültig und eindeutig als „Wille der Liebe“²⁴³ definiert. Im Hauptpunkt 2 des §29 werden diese wesentlichen Merkmale der Unterscheidung versammelt: 2. Die Unterscheidung in ihrem reinen – absoluten – Wesen. Die Unterscheidung ist das Wesen des Seins als Wille. Wille ist Sich-selbst- (d. h. das eigene Wesen) Wollen, also die Existenz, also Einheit als Geist, Wille des Verstandes, Einigung. Wille des Geistes ist als absoluter der Geist der Liebe. Die Unterscheidung ist absolut die einigende Einheit als der Wille der Liebe. Die Liebe ist Wirkenlassen des Grundes, damit eine Möglichkeit sei der Einigung. Die Liebe will als Wille sich selbst, aber nicht will sie etwas ‚für sich‘ selbst. Die Liebe will sich selbst, d. h. das Offenbarwerden der Einheit; der je Einzelne ein Seiender im Ganzen und als dieser schlechthin. Die Liebe will das Offenbarwerden des Absoluten, d. h. seine Verherrlichung (399).²⁴⁴

In diesem Passus wird Heideggers Ausdifferenzierung von zwei Typen der Einheitsbildung wiederholend vertieft. Der Wille ist auf die Unterscheidung angewiesen, weil er sich als den einigenden Verstand will. Insofern die Unterscheidung²⁴⁵ allererst aus dem Zulassen einer urgegensätzlichen Kraft deriviert,

 Heidegger, GA 49, S. 103.  Heidegger, GA 49, S. 104.  Heidegger, GA 49, S. 104.  Heidegger, GA 49, S. 116.  Heidegger, GA 49, S. 134– 135.  Zur Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen der Unterscheidung, der Liebe und dem Willen im Allgemeinen seien an dieser Stelle einige weitere, miteinander verwandte Bestimmungen der Unterscheidung angeführt, die Heidegger im Rahmen seiner Schelling-Vorlesung von 1941 in stichwortartiger Form gibt.Vgl. Heidegger, GA 49, S. 116: „(4) Die Unterscheidung – (als der

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

enthüllt sich die Liebe als die noch tiefer reichende, den Einheitsgang im Ganzen flankierende Entität. Deswegen ist es möglich, die „Unterscheidung im Wollen als Sichwollen der Liebe; (Wirkenlassen des Grundes)“²⁴⁶ zu klassifizieren. In der Antizipation des Vergleiches der Liebe mit dem Willen zur Macht ist hervorzuheben, dass Heidegger das Sich-selbst-wollen der Liebe²⁴⁷ auf die Einheit gerichtet

Wille der Liebe); Un-zertrennlichkeit und Zertrennlichkeit (Art der Einheit) der Prinzipien.“ Vgl. Heidegger, GA 49, S. 105: „Das Wesen der Unterscheidung (Wesen des Seins als ‚Wille‘); ihre Fülle: das Unter-scheiden selbst – das Scheiden – das Zertrennliche – das Unzertrennliche.“ Vgl. entsprechend auch Heideggers resümierende Notiz im Kapitel Durchblick: Heidegger, GA 49, S. 131: „2. Die Unterscheidung in ihrem vollen Wesen: Sein als Wille. Wille der Liebe; Liebe und Geist, Seele; Wille zur Verherrlichung (399) (§29). 3. Die Unterscheidung und das Wesen des Menschen. […] Das Wesen des Menschen ist aus der geschaffenen Freiheit bestimmt. Freiheit aber west in der Unterscheidung (§30).“  Heidegger, GA 49, S. 125.  Obgleich er die Liebe als perennierendes Sichüberstiegenhaben und somit als Maximalverdichtung der Ekstasis fasst, verwahrt sich Wolfgang Wieland energisch einer Identifikation der Liebe mit dem Willen. Diese Abgrenzung plausibilisiert sich vor dem Hintergrund, dass der Terminus des Willens von Wieland deckungsgleich mit Schellings Deskription der Sehnsucht gebraucht wird, die wiederum der Liebe diametral entgegengesetzt wird. Während die Liebe in der Freigabe des Anderen gerade ihr uneigennütziges Wesen bezeugt, die Egoität abstreift, sich dergestalt selbst überwindet und zu sich selbst findet, sucht die Sehnsucht nach Wieland jegliche Distanz zum Gewollten aufzuheben. In diesem Kontext ist darauf hinzuweisen, dass Heidegger die Liebe – insofern sie durch die Differenz und den Widerspruch hindurchgeht, um die Vereinigung mit dem Anderen zu generieren – durchaus in struktureller Analogie zu ebenjener Semantik des Tragischen schildert, die Wieland der negativ bestimmten Sehnsucht vorbehält. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 62: „So spricht Schelling von einem Zustand des Widerspruchs und des Streits, in den das Existierende durch die Liebe mit sich selbst gesetzt wird (W I 138). Zur Sehnsucht gehört immer schon diese Entzweiung, die durch die ‚Erfüllung‘ der Sehnsucht aufgehoben werden soll. Die Sehnsucht kann die ekstatische Scheidung jedoch nicht erreichen, da sie sich selbst niemals überwinden will. Sie will mit dem Ersehnten eins werden und kann es nicht – wie die Liebe – in seiner Freiheit belassen. So findet sie niemals Erfüllung.“ Zur Untermauerung dieser These zitiert Wieland eine berühmte Stelle aus den Erlanger Vorträgen. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 63: „Der Mensch…will die Freiheit… als Freiheit wissen und empfinden, aber indem er sie zum Gegenstand macht, wird sie ihm unter der Hand zur Nichtfreiheit und doch sucht und will er sie als Freiheit. Er will sich ihrer als Freiheit bewußt werden und macht sie doch in eben diesem Anziehen zu nichte. Es entsteht daher im Innern des Menschen ein Umtrieb,… in dem der Mensch beständig nach der Freiheit sucht, diese aber ihn flieht (1 IX 230 f.).“ Dabei ist Wielands Ergänzung zu beachten, dass der „‚Wille‘ in den Erlanger Vorträgen […] seiner Struktur nach der ‚Sehnsucht‘ in der Freiheitslehre und in der Weltalterphilosophie“ (Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 63) entspreche. Wieland gelangt daher zu der folgenden Problemdiagnose: „Die Sehnsucht will Liebe. Gewollte Liebe ist aber keine Liebe mehr. So handelt es sich hier um denselben Widerspruch, den Schelling in anderem Zusammenhang in den Erlanger Vorträgen beschreibt, daß nämlich der Mensch das, was er will, durch sein Wollen zunichte macht (I IX 235)“ (Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 63). Vgl. zu den Erlanger Vorträgen grundlegend: Lore

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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sieht. Weil ihr Wille jedoch gleichbedeutend mit dem „Offenbarwerden der Einheit“²⁴⁸ ist, entzieht sie sich in dieser. Sie verspürt nicht den Antrieb, sich in einer zum Vorschein gekommenen Zusammengehörigkeit im Sinne einer womöglich präferierten Richtung niederzuschlagen. Die Liebe bejaht sich gemäß der soeben zitierten Textstelle selbst als Absolutes, indem sie ihre Präsenz im Aufgehenlassen der Zusammengehörigkeit und in der Einigung mit dem für sich als Ganzem seienden Anderen verbirgt.²⁴⁹ Das befreiende Moment der Liebe – und somit auch ihr sich über das All erstreckendes Sich-selbst-Wollen – objektiviert sich in jeder Grund und Existenz zusammenschließenden Einheit und bezieht sich demnach auf jedes einzelne Seiende. Das Absolute beziehungsweise Gott verherrlicht sich in einem Schöpfungsgeschehen, in welchem die größtmöglichen Differenzen und ein vielschichtiges Register – von den unorganischen Körpern bis zur Spitze des menschlichen Lebens – in einem aszendierenden Prozess aus der Interaktion der Willen emporwachsen. Es wird von Heidegger nachdrücklich anerkannt, dass die Liebe innerhalb des sich vernetzenden Ganzen die Pluralität von Einheiten erstrebt. Der Wille der Liebe bezeugt sich, wenn jedes Lebewesen aus Freiheit ist, was es seiner Möglichkeit und Einheitsfügung nach sein kann. Dass dieser auf den ersten Blick rückhaltlos zu bejahende und verheißungsvolle Liebesbegriff Schellings hochproblematische Kehrseiten besitzt, die Heidegger bereits in dem Schelling-Seminar von 1927/28 luzide aufspürt, soll in dem folgenden Exkurs dargelegt werden.

Hühn, Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenze menschlichen Wissens, Stuttgart 1994. Zum Topos der Sucht in Schellings Philosophie vgl. Jantzen, Sucht und Verlangen. Über den Grund der Person, in: Buchheim/Hermanni (Hrsg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“, S. 215 – 225.  Heidegger, GA 49, S. 135.  Vgl. Schelling, Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie (1806), SW VII, S. 174: „Dies ist das Geheimnis der ewigen Liebe, daß, was für sich absolut sein möchte, dennoch es für keinen Raub achtet, es nur für sich zu sein, sondern es nur in und mit dem anderen ist. Wäre nicht jedes ein Ganzes, sondern nur Teil eines Ganzen, so wäre nicht Liebe: darum aber ist Liebe, weil jedes ein Ganzes ist, und dennoch nicht ist und nicht sein kann, ohne das andere.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

2.2.4 Exkurs zum Schelling-Seminar von 1927/28: Heideggers Interpretation der Liebe als „Sinn des Seins“ sowie als „Wesen des Personseins“ und die Bedeutung der Ichheit Es gilt […] einen Sinn zu haben für plötzlich auftretende, schlaglichtartig erhellende Sätze, die zeigen, daß Schellings Niveau weit über dem des Idealismus liegt, ohne daß es Schelling selbst gelungen wäre, dies Niveau durchgängig zu halten.²⁵⁰

1927 kommt Heidegger bereits in der vierten der überlieferten Seminarnotizen auf Schellings Identifikation des Wollens mit dem Ursein zu sprechen, die er 1941 als seismographische Selbstaussprache der neuzeitlichen Metaphysik beurteilen wird. Während Heidegger die beigefügten Seinsprädikate 1936 gänzlich ausklammert und sich stattdessen auf die freiheitstheoretisch-dynamische Komponente des ursprünglichen Wollens konzentriert, werden diese in der Seminarnotiz von 1927 explizit erwähnt. Zudem zeigt Heidegger schon hier in einer Anmerkung an, dass eine substantielle Kritik am Idealismus bei dem Wesen der Ichheit anzusetzen habe. 1927 begreift Heidegger die Ichheit noch als Substrat der Seinsprädikate. Die Notiz lautet: Ursein = Wollen (Praedikate des Urseins: Grund-losigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbejahung) actus purus. NB. Von hier aus Interpretation und Kritik des Idealismus. Freiheit – in allem – was ist – alles Seiende als Seiendes ist Ich-heit. ‚An-sich‘ – selbst-frei-ständig. ²⁵¹

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 340.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 322– 323. Im Jahre 1927 beurteilt Heidegger Schellings organische Interpretation der Natur keineswegs als Ausweg aus der Fichteschen Dichotomie zwischen dem bewussten Ich auf der einen und dem naturhaften NichtIch auf der anderen Seite, sondern als Hypostasierung der Ichheit, insofern diese sich bei Schelling zum ursprünglichen Maßstab des Naturverständnisses überhaupt aufschwinge. Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342– 343: „Schellings Blick ist dabei auf die Natur, nicht als die mathematisch-physikalische, sondern die organische Natur gerichtet, die aber nicht bloß im Hinblick auf Pflanzen und Tiere, sondern anthropomorph interpretiert wird, indem der gesamten Natur Selbstheit und Ich-heit zuerkannt wird, deren Gipfel und völlige Ausprägung der Mensch ist.“ Vgl. hierzu Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch, S. 17: „Für Heideggers Auseinandersetzung mit der modernen Technik ist Schelling mit seiner dezidiert willenstheoretischen Auslegung der Natur, zumal die in der Freiheitsschrift, der Gewährsmann, wird doch dort nach Maßgabe der Dialektik von Universal- und

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Lohnenswert erscheint ein Vergleich der hier zum Vorschein kommenden, kontextuellen Bedeutung der Ichheit mit den verwandten Figuren aus den späteren Schelling-Vorlesungen. Eine eindeutige Kontinuität manifestiert sich darin, dass Heidegger das Wollen auch 1936 primär und zunächst als Fundierungsfolie der Freiheit im Sinne des unabhängigen und vorzeitlichen Ansichseins eines Seienden charakterisieren wird. Weil jedem Lebendigen dergestalt eine unbeeinflussbare Produktivität und Selbständigkeit (dies bringt Heidegger in seiner Formulierung „Freiheit – in allem – was ist“ zum Ausdruck) eignet, kann es gemäß einem weiter gefassten Verständnis und von seinem Endprodukt her als Ichheit begriffen werden. Im Umkehrschluss ergibt sich, dass die menschliche Tätigkeit und Bewusstheit bereits in der natura naturans prästrukturiert ist. Eine gewichtige Differenz zwischen dem Seminar von 1927 und der Vorlesung von 1936 offenbart sich in Heideggers Beurteilung dieser analogischen Übertragung des in der Freiheit gründenden Wesens der Ichheit auf das Ganze der Natur. 1936 würdigt er Schellings Rückspannung der Ichheit in die Natur, die sich auf die These stützt, dass nicht allein die Ichheit alles, sondern umgekehrt auch Alles = Ichheit²⁵² sei, als eine statthafte und ausgehend von Kants Freiheitsbegriff naheliegende Operation. Heidegger akzeptiert dabei nicht nur die philosophische Berechtigung des Analogieschlusses. Er affirmiert zugleich die Subjektivierung der Natur als Gegenmodell gegenüber der vermeintlichen Starrheit und Verdinglichungstendenz des Spinozischen Systems.²⁵³ Wie im ersten Abschnitt des 2. Teils bereits illustriert werden konnte, wird die Ausdehnung des mit der Assoziation des Werdens und der Lebendigkeit verbundenen Wollens 1936 allein durch das Kriterium einer

Partikularwille die Sonderstellung des Menschen im Ganzen des Seienden willenstheoretisch fundiert.“  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 351.  Konstanze Sommer legt die Gründe und die Geltungsaspekte der 1936 vorherrschenden, positiven Bewertung des Wollens überzeugend dar, wobei sie Heideggers Lesart des Wollens als Indikator der Lebendigkeit und Produktivität sowie als Kontrapart gegenüber einer Betrachtung des Menschen als reines Vernunftwesen besonders exponiert. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 258 – 259: „In Anlehnung an Schellings Argumentation galten dabei einerseits die Neuzeit mit ihren angeblichen Stellvertretern Spinoza und andererseits die vor allem mit dem Namen Fichtes verbundene idealistische Philosophie als Gegner. Im Blick auf Spinoza (bzw. die Neuzeit) ging es dabei wie gesehen vor allem um ein dynamisches Seinsverständnis, das dem Verständnis des Seins im Sinne der ‚Vorhandenheit‘ überlegen sein sollte, und dessen schöpferische Dynamik zugleich die ‚mechanische‘ Verbindung von real getrennter Ursache und Wirkung aufheben sollte. Gegenüber Fichte hingegen schien der Vorteil des als Wollen bestimmten Seins, seine Ursprünglichkeit, gerade darin zu bestehen, dass Sein nicht als rein vernünftig bestimmt wird, sondern einen realeren, der Vernunft selbst zugrunde liegenden Anteil einschließt.“

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

unzulänglichen Erfassbarkeit der genuin menschlichen Freiheit deprivilegiert. Die Universalisierung des Wollens wird in der ersten Schelling-Vorlesung also nicht in ihrer grundlegenden theoretischen Richtigkeit bestritten. Auf den ersten Blick nimmt sich dagegen Heideggers Bewertung im Seminar von 1927 wesentlich kritischer aus. Während er Schelling 1936 in den Schlussbemerkungen der Vorlesung mit Nachdruck gegen den Anthropomorphismus-Vorwurf verteidigt²⁵⁴, führt er 1927 sämtliche der vermeintlich abstrakten und metaphysischen Fragestellungen der Freiheitsschrift auf ihren menschlich-existenziellen Quellgrund²⁵⁵ und ihren endlichen Bedingtheitsrahmen zurück: Scheinbar spricht Schelling thematisch vom Bösen überhaupt, von der Freiheit, von Freiheit und Notwendigkeit im Ganzen des Systems, von Gott, vom Absoluten. Von all diesem spricht er im Blick auf den Begriff des Menschen. All diese metaphysischen Zusammenhänge zwischen Grund-sein und Existenzvollzug sind geschöpft aus dem Blick auf den Menschen selbst. Er ist gewissermaßen eine Selbstinterpretation des Daseins überhaupt, die ohne weiteres übertragen wird auf das Ganze des Seienden. So kommt Schelling dahin, auch den Dingen die Freiheit zuzuschreiben, allgemein: die Ichheit. Das ‚An-sich‘ der Dinge ist erst metaphysisch und ontologisch verstanden, wenn ich es verstehe als Selbstständigkeit. Selbstständigkeit kann ich nur verstehen als Ichheit und Freiheit, sodaß deutlich wird, daß das menschliche Selbstbewußtsein der Leitfaden ist für eine universale Interpretation des Seienden überhaupt.²⁵⁶

Gleichwohl ist kaum zu übersehen, dass Heideggers Kritik selbst ambivalent verfasst ist. Dies wird zum einen anhand der Formulierung ersichtlich, Schelling liefere eine „Selbstinterpretation des Daseins“. Zum anderen erhellt die Zwiespältigkeit daraus, dass Heidegger den „Existenzvollzug“ eigens als Reservoir und Movens der übergreifenden theologischen und ontologischen Themenfelder durchsichtig macht. Das 1927 gefällte Urteil steht eindeutig im Horizont von Sein und Zeit, was sich auf der terminologischen Ebene durch die Umschreibung der Schellingschen Position mit Hilfe der Begriffe „Dasein“ und „Existenvollzug“ bezeugt. Der obige Passus öffnet sich dergestalt für die Lesart, dass Heidegger keineswegs an einer generellen Ablehnung der Verfahrungsweise Schellings gelegen ist. Vielmehr kann in Heideggers Betonung des daseinsbezogenen Charakters der metaphysischen Erörterungen der Freiheitsschrift die Anerkennung Schellings als eines Geistesverwandten gesehen werden, insofern Schelling – genau wie Heidegger in Sein und Zeit – mit der Schwierigkeit ringt, wie von der  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 282– 285.  Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 339: „Es ist wichtig, auch hier wieder festzustellen, wie die scheinbar abstraktesten Bestimmungen Schellings immer orientiert sind am menschlichen Dasein.“  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 332– 333.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Exposition der Seinsstrukturen des Daseins zur Freilegung des Sinnes von Sein überhaupt vorgedrungen werden kann. Diese Herausforderung der Übergangsermittlung artikuliert sich in Sein und Zeit im Hinblick auf die Beziehung zwischen der Zeitlichkeit und dem Seinsverständnis des Daseins auf der einen Seite und der ursprünglichen Temporalität des Seins auf der anderen Seite. In Analogie dazu, versinnbildlicht sich der Versuch einer Sphärenverbindung bei Schelling in der Konstellation zwischen dem bewusstseinsphilosophisch oder erfahrungshaft gewonnenen Faktum der Selbstständigkeit einerseits und der Intention einer Ergründung des Wesens der äußeren Natur sowie der Beschreibung der göttlichen Freiheit andererseits. Trotz dieser nennenswerten Parallele deutet sich in dem obigen Zitat eine in der Vorlesung von 1941 im großen Stil gegen Schelling gewendete, problematisierende Tendenz dahingehend an, dass Heidegger das „menschliche Selbstbewußtsein“ als „Leitfaden“ der Schellingschen Weltauslegung und damit auch der Universalisierung der Freiheit markiert. Schon aus der Perspektive von Sein und Zeit betrachtet, muss ebenjene Herleitung der menschlichen Freiheit aus dem Selbstbewusstsein als eine sich in den Restbeständen statisch-cartesischer Subjektontologie verfangende Verengung erscheinen. Dergestalt wird das spezifische, durch den Existenzvollzug des In-der-Welt-seins gekennzeichnete Seinkönnen des Daseins mitsamt der zentralen Rolle der Lebenswelt sowie der Alltäglichkeit nivelliert. 1941 wird Heidegger seine Kritik – wie bereits 1927 anvisiert – tatsächlich und erneut im Ausgang von der Ichheit formulieren. Die Ichheit firmiert in diesem Deutungsstadium freilich nicht mehr als Träger einer produktiven Freiheit. In der zweiten Schelling-Vorlesung wird die Ichheit mit der neuzeitlichen, die Offenheit des Seins verstellenden Subjektivität und der Selbstaufrichtung des Willensprinzips identifiziert. Die These, in der Freiheitsschrift entfalte sich eine „Selbstinterpretation des Daseins“, wird von Heidegger im gesamten Protokoll zur Sitzung vom 07.12.1927 konsequent durchgehalten. So transformiert Heidegger die Unterscheidung von Grund und Existierendem in maßgebende Modi des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, indem er sie als „Grund-sein“²⁵⁷ beziehungsweise „Existenzvollzug“²⁵⁸ übersetzt. Unschwer ist hier Heideggers Beschreibung des Daseins als geworfener Entwurf wiederzuerkennen. Heideggers führt dieses strikte Übertragungsverfahren noch einen Schritt weiter, wenn er die Dualität der Willensstruktur ebenfalls in sein Modell einzuziehen sucht. Dass er dabei Theoreme der Existentialanalyse von Sein und Zeit appliziert, wird anhand der Wiedergabe des

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 332.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 332.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Willens des Verstandes mit dem für den Existenzvollzug konstitutiven „SichVerstehen“²⁵⁹ transparent. Demgegenüber erläutert er das Grund-sein durch die von Schelling vorgegebene Semantik, sodass sich dieses als Sehnsucht „im Sinne des verstandlosen Willens“²⁶⁰ enthüllt. Während Schelling das Gefüge von ahnender Sehnsucht und heraustretendem Universalwillen zuvorderst im ewigen Werden Gottes gründet, interpretiert Heidegger es als anthropologische Konstante, als ein dem Menschen als solchem innewohnender Dualismus zwischen dem Lebensblick und dem vorbewussten Drang. Auch diesbezüglich stellt Heidegger einen Anschluss an einen zentralen Topos von Sein und Zeit her, indem er die beiden Elemente nach Maßgabe des jeweiligen Verständnisgrades einer Möglichkeit als Möglichkeit unterscheidet: Die Sehnsucht ist ohne den Lebensblick nur ein blinder Drang, er hat vor sich keine Möglichkeiten als Möglichkeiten, für die oder gegen die er sich entscheidet. Der Drang hat sich zwar immer schon entschieden, aber nicht bewußt. Der Verstand dagegen übersieht diese Möglichkeiten, sie können in den Blick des Lebensblicks gebracht werden, sie sind bewußt gewordene Möglichkeiten. Deshalb ist der Verstand Universalwille.²⁶¹

Für die gesamte spätere Auseinandersetzung Heideggers mit Schelling im Allgemeinen und im Vorblick auf die 1941 in das Zentrum geratende Markierung des Wollens als Wurzel der Unterscheidung im Besonderen ist von entscheidender Bedeutung, dass Heidegger die innermenschliche Polarität auf eine „ursprüngliche Einheit“²⁶² zurückführt. Diese Einheit ist nichts anderes als der zum Ursein avancierende Wille: Sehnsucht ist gebraucht im Sinne des verstandlosen Willens und Existenzvollzug im Sinne des Sich-verstehens. Diesen beiden Bestimmungen des Wesens liegt eine Einheit zugrunde, der Wille. Ur-sein ist Wollen. Sein besagt Wollen, Drang, deshalb sind die Grundbestimmungen des Seins eines Seienden Sehnsucht und Wort der Sehnsucht, sich auf sich selbst zurückwendende Sehnsucht. In diesem formalen Schema liegt schon faktisch und dem ganzen Aufbau nach die Seinsstruktur des Menschen, so wie Schelling sie sieht.²⁶³

Um die Bestimmung dieser Seinsstruktur tiefer fassen zu können, rekurriert Heidegger im unmittelbaren Anschluss auf Schellings Satz: „Das Sein wird sich nur im Werden empfindlich“.²⁶⁴ Es ist erstaunlich und aussagekräftig, dass Hei-

     

Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 334. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 333. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 334– 335. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 335. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 333. Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 333.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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degger in seinem Kommentar zu der von Seiten Schellings inaugurierten Verschleifung von Sein und Werden bereits alle jene Momente der voluntativen Selbstvergewisserung erwähnt, präsentiert und verbindet, die er 1941 für seine Fundamentaldiagnose der Willenszentriertheit der Moderne heranziehen wird: In diesem Satz will Schelling nicht nur ausdrücken, daß das Sein eines Seienden sich bewußt werden kann, sondern daß das Sich-empfindlich-sein im Sinne der allgemeinen Reflexion, des Sich-verstehens, sich in irgend einem Sinne Habens, daß dieses nur möglich wird im Werden. Dieses sich Haben gehört zum Sein. Das Sein ist nur, sofern es wird. Das Leblose, das Sein im Sinne des Vorhandenen ist eigentlich für Schelling kein Sein. Jedes Seiende ist nur, sofern es durch Drang, das Werden, durch irgend einen Grund des Von-sichselbst-Wissens bestimmt ist.²⁶⁵

Zudem ist in dem obigen Passus die 1936 (in der Besprechung der Systemfrage) relevante Fundamentaldisjunktion zwischen den von Gott gänzlich abhängigen und innerhalb des Systems fixierten Dingen und der allein im Werden möglichen Freiheit präfiguriert. Wesentlich gravierender ist allerdings, dass Heidegger das Werden an dieser Stelle eindeutig als ein Sich-Bewusstwerden und als Selbstgegenwart apostrophiert, die sich über das Reflexionsvermögen ausdrückt. Unzweifelhaft handelt es sich in diesem Passus um die Urgestalt der 1941 ausgearbeiteten Definition des Willens. Der Wille unterscheidet sich in der Negativität von sich selbst, um sich im Medium des Vorstellens immer wieder in den Werdeprozess zu sich selbst zu versetzen. Dergestalt hält er sich als Akteur der Einigung seiner Einheit durch. Nach Heidegger vertritt Schelling die Auffassung, dass das Sein des Seienden „ichlich“²⁶⁶ sei. Dies wirkt sich hier insofern aus, als das „Von-sich-selbst-Wissen“²⁶⁷ zur Bedingung der Möglichkeit von Existieren überhaupt qualifiziert wird. Gleichwohl darf dieses frappierende Präludium der späteren Schematisierung des Willensparadigmas nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die im SchellingSeminar von 1927 entwickelte Verknüpfung des Dranges mit dem auf sich zurückgewendeten Wissen wahrscheinlich der nahezu gleichzeitigen, intensiven Auseinandersetzung mit Leibnizens Monadologie verdankt und somit auf dessen Zusammenschluss des Begriffspaars von appetitus und perceptio verweist. So charakterisiert Heidegger den Drang in der Marburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik aus dem Sommersemester 1928 in nahezu identischer Weise wie den Willen und das Werden im Schelling-Seminar von 1927:

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 333 – 334.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 349.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 334.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Sofern nun aber das einfach Einigende Drang ist und allein als solches Drängen zugleich Mannigfaltiges in sich tragen, Mannigfaltiges sein soll, muß das Mannigfaltige den Charakter des Drängens, d. h. der Bewegtheit überhaupt haben. Mannigfaltiges in Bewegung aber ist das Veränderliche und sich Ändernde. Das Mannigfaltige innerhalb des Dranges muß den Charakter des Gedrängten haben. Ein Gedrängtes ist ein Be-drängtes. Das Bedrängte im Drang aber ist er selbst. Darum liegt im Drang selbst das Sichüberholen, liegt in ihm Umschlag, Änderung, Bewegtheit. Das heißt: der Drang ist das sich im Drängen selbst sich Ändernde, er ist das Ge-drängte. ²⁶⁸

Zu Beginn der dritten Sitzung vom 21.12.1927 tritt der Ungrund in das Zentrum der Darlegungen. Nun ließe sich vermuten, dass dadurch ein Konkurrenzmotiv aufgerufen wird, welches den Willen aus seiner Rangposition als Synthesegarant der Sehnsucht und des Verstandes verdrängt. Heidegger legt dies zunächst auch nahe, wenn er von einem „Problem der Einheit des Wesens als Grund und des Wesens als Existenz“²⁶⁹ spricht. Die Einheit beider Pole findet Heidegger in jener Instanz, die „weder das eine noch das andere, noch die Einheit des Gegensatzes beider“²⁷⁰ ist. Die absolute Indifferenz verbindet beide Elemente nicht in einem „Sowohl-als auch“.²⁷¹ Stattdessen muss die Indifferenz – wie Heidegger mit Schelling herausstellt – als prädikationsloses Nichtsein der Gegensätze und als „Idee eines schlechthin Verschwundenen“²⁷² benannt werden. In der Folge mildert Heidegger den Entzugscharakter des Ungrundes allerdings in zweierlei Hinsicht ab. Dabei zeigt sich, dass die in der Vorlesung von 1941 zu konstatierende Einsenkung eines voluntativ-dynamischen Keimes in den Ungrund ihre Vorläufergestalt im Seminar von 1927 besitzt. Schon 1927 kommt der Liebe die Schlüsselfunktion in der Öffnung des Ungrundes zu. Als Ausgangspunkt dient der folgende Passus aus der Freiheitsschrift: Das Wesen des Grundes, wie das des Existierenden, kann nur das vor allem Grunde Vorhergehende sein, also das schlechthin betrachtete Absolute, der Ungrund. Er kann es aber nicht anders sein, als indem er in zwei gleich ewige Anfänge auseinandergeht, nicht daß er beide zugleich, sondern daß er in jedem gleicherweise, also in jedem das Ganze, oder ein eigenes Wesen ist. Der Ungrund teilt sich aber in die 2 gleichen Anfänge, nur damit die zwei, die in ihm, als Ungrund, nicht zugleich, oder Eines sein konnten, durch Liebe Eins werden, d. h. er teilt sich nur, damit Leben und Liebe sei und persönliche Existenz.²⁷³

 Vgl. Heidegger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz, GA 26, S. 111.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 338.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 338.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 339.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 339. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 408.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Heidegger wirft nun die Frage auf, weswegen Schelling „ein Zugleichsein von Grund und Existenz aus der Indifferenz herauszubringen“²⁷⁴ versuche. In der ersten Hinsicht erklärt Heidegger diese Simultaneität des Überganges, indem er – darin der von Schelling stipulierten Prädikationslosigkeit des Ungrundes widersprechend – das diesem weder als Grund noch als Existenz zukommende, „ursprüngliche Wesen“²⁷⁵ als Werden begreift.²⁷⁶ Heideggers Begründung für diese Attribution wirkt auf den ersten Blick wenig überzeugend, da er sie mit der ontologischen Generalthese rechtfertigt, „Wesen sei immer Werden“.²⁷⁷ In diesem Zusammenhang schält sich in aller Deutlichkeit heraus, dass Heidegger die zuvor gewonnenen Charakteristika des Urseins, das als ein sich in eine Dualität aufteilender Wille eben auch und gerade ein Werden und ein Drang ist, in den unverfügbaren Ungrund hineinsieht. Dass der anfänglichen Seinsweise des Ungrundes eine Potentialität des Werdens²⁷⁸ inhäriert, kann allerdings nur die notwendige, jedoch nicht die hinreichende Bedingung für die Teilung in zwei gleich ewige Anfänge bilden. In einer zweiten Hinsicht exponiert Heidegger daher die Unumgänglichkeit einer „Sollicitation“²⁷⁹, durch welche die absolute Ungeschiedenheit aufgehoben wird. Im Rekurs auf Schelling inkludiert Heidegger hier jene teleologische Komponente, die er 1941 als Beleg für die Allgegenwart und Selbstdurchsetzung der Ganzheit des Willens beurteilen wird. Als Veranlassungsgrund für das Heraustreten aus der Indifferenz bestimmt Heidegger den „Selbstoffenbarungswillen Gottes“.²⁸⁰ Dieser fußt nach Schelling wiederum darauf, dass „Gott notwendigerweise sich offenbaren muß, und weil in

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 339.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 339.  Darüber hinaus interpretiert Heidegger das ursprüngliche Werden im Ungrund als Lösung der Theodizeeproblematik. Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 349: „Diesen Seinsbegriff [als Werden und bewusste Selbsterschlossenheit, J.K.] behält Schelling bei für das Sein des Absoluten. Nur unter der Vorausetzung, daß in der absoluten Indifferenz und der absoluten Identität schon Werden liegt, kann Schelling den Ursprung des Bösen aus Gott erklären, ohne Gott zum Urheber zu machen.“  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 340.  Konstanze Sommer optiert dafür, Heideggers Integration einer Werdetendenz in den Ungrund als legitime Operation zu begreifen. Zwar lasse sich weder der vollgültige, inhaltlich bestimmte Wille des Verstandes noch der dranghafte Grundwille in den Ungrund einzeichnen oder dort in erahnten Vorgestalten aufspüren; allerdings könne der anfängliche Wille der göttlichen Liebe als Auslöser der Scheidung des Ungrundes und des darauf folgenden Einigungsgeschehens der Schöpfung und der Offenbarung entziffert werden. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 263.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 341.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

der Schöpfung überhaupt nichts Zweideutiges bleiben kann“.²⁸¹ Zunächst hinterfragt Heidegger hellsichtig die Rechtmäßigkeit der Schellingschen Behauptung und Forderung einer Aufhebung des Uneindeutigen. In einem zweiten Schritt setzt er noch tiefer an, indem Heidegger darauf verweist, dass gerade in der absoluten Indifferenz keinerlei Zweideutigkeit waltet. Dergestalt wäre das Kriterium einer kategorischen Abweisung der Ambiguität bereits anfänglich in dem prädikationslos-zeitenthobenen Ungrund erfüllt. Dass Schelling zwecks Absicherung der Notwendigkeit einer Zweideutigkeitsaufhebung offenbar doch davon ausgehen muss, im Ungrund berge sich eine Urdyade, führt Heidegger auf einen unscharfen Begriffsgebrauch Schellings zurück. Dadurch entstehe der Eindruck, „als ob Schelling den Ungrund hier so fasst, wie er selbst es ablehnt, ihn zu fassen“.²⁸² Anstatt dass Schelling an der Konstruktion des Weder-Noch strikt festhielte, lässt er nach Heidegger das aus dem schlechthin Unbenennbaren bereits ausgeschlossene Sowohl-als-auch als Bestimmung für die „verschwundene, aber gleichwohl noch beunruhigende“²⁸³ Inhärenz der Gegensätze, die „Doppelung innerhalb des Ungrundes“²⁸⁴, inkonsequenterweise wieder zu. Für den Themenfokus des zweiten Teils dieser Arbeit ist gravierend, dass Heidegger die Ursprungsproblematik zu erhellen und Schellings vermeintliches Schwanken zu plausibilisieren sucht. In diesem Kontext spricht Heidegger dem Ungrund weder das Attribut des (im Gegensatz zum statischen oder identitätslogischen Sein Widersprüche implizierenden) Werdens zu noch begreift er den Ungrund – wie in der ersten Seminarnotiz – als „Deus implicitus“.²⁸⁵ In einem folgereichen, den Gehalt der Freiheitsschrift transzendierenden Schritt setzt Heidegger vielmehr den als Wesen bestimmten Ungrund mit dem durch das Wollen repräsentierten Ur-Sein in eins. Insofern das Ursein als Spannungseinheit von Sehnsucht und Lebensblick in sich zwiespältig strukturiert sei, könne es wie der Ungrund durchaus als anfänglich zweideutig gefasst werden. Es gebe daher „ein gewisses Recht, von ‚Zweideutigkeit‘ desjenigen Wesens zu reden, das Ur-Sein, d. h. Wollen, Drang ist“.²⁸⁶ Spielte die Liebe in der dritten Sitzung vom 21.12.1927 noch eine randständige Rolle, insofern sie nur indirekt in dem Motiv des göttlichen Selbstoffenbarungswillens präsent war, so wird sie in der Sitzung vom 11. Januar 1928 umfassend

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 374.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 321.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 342.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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charakterisiert. Die Liebe wird als Proprium des Schellingschen Seinsbegriffes durchsichtig gemacht. Nachdem zuvor das Gefüge von Grund und Existenz aus der immanenten Polaritätsverfassung des Menschen erschlossen und die Bedeutung der Indifferenz geklärt wurde, ist es das Ziel der Sitzung vom Januar 1928, nach Schellings Verständnis von „Sein überhaupt“²⁸⁷ zu fragen. Wie hoch Heidegger die Komponente der Unterscheidung im Sein bereits 1928 gewichtet, äußert sich daran, dass er zum Zwecke der vertieften Erfassung des von Schelling bedachten Seins auf die Begriffe der Dualität und des Gegensatzes rekurriert. Den Gegensatz sieht Heidegger bei Schelling dadurch definiert, dass eines der Bezugsglieder innerhalb des Gegensatzes als „Aufhebung […] im Sinne der Privation“²⁸⁸ erscheint, wie es anhand des Bösen als „Unwesen“²⁸⁹ des Guten ostensibel wird. Demgegenüber wird in der Dualität eine Gleichursprünglichkeit zweier Prinzipien aufbewahrt. Beide Bestimmungen sind nach Heidegger allerdings zu „formal“²⁹⁰, um mit ihrer Hilfe zu einer inhaltlichen Aufhellung des Seins vordringen zu können. Das „andere Unterscheidungsmoment“²⁹¹, auf das Heidegger zurückgreift und das zum Topos der Liebe als Sinn des Seins überleitet, bezeichnet die in Schellings Seinsbegriff waltende Doppeldeutigkeit zwischen der allgemeinen Auslegung des Seins als „wirklichsein“²⁹² und der dynamischen Definition als „offenbarwerden“.²⁹³ Diese Ambiguität leuchtet innerhalb der Problematik der ontologischen Priorität auf. Nach Heidegger lästt Schelling die Frage unbeantwortet, inwiefern das „Offenbarwerden eine Folge der Wirklichkeit“²⁹⁴ sei oder ob umgekehrt die Wirklichkeit nichts anderes darstelle als das offenbar gewordene Sein. In einer rückschauend zu konstatierenden Kontinuität zur Vorlesung von 1941 und vor dem Hintergrund der in Sein und Zeit thematischen Kritik an der Vorhandenheitsontologie, favorisiert Heidegger eindeutig die Präeminenz des Offenbarwerdens, das er als „Konstitutivum des Seins“²⁹⁵ aufruft. Im Vorblick auf Heideggers Deutung der neuzeitlichen Subjektivität in den 1940er-Jahren ist zu registrieren, dass Heidegger das Offenbarwerden unter der Signatur einer Form der Bewegtheit mit dem Sein vermittelt, auf welche die profilierte Wesenserfassung des Werdens

        

Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 347. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 348. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 349.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

als Sich-bewußtsein und „Ichlichkeit“²⁹⁶ appliziert wird. Erneut kristallisiert sich hier die subjektivistische Fundierung des Seins heraus: „Das Sein überhaupt ist ichliches“.²⁹⁷ Dieses sowohl autoreflexiv als auch relational gedachte Offenbarwerden vor sich selbst und für die anderen ist jedoch nicht als widerstandsloser Akt der Selbstkreation und der voraussetzungsfreien Setzung zu verstehen. Das Offenbarwerden muss konkreter als ein „Offenbarwerden im Gegensatz“²⁹⁸ entfaltet werden. Da diese Manifestationsart nach Schelling nichts anderes als die wesentliche Vollzugsform der Liebe, bahnt sich Heideggers ontologische Aufgipfelung der Liebe zum Sinn des Seins sowie zum polaritätsermöglichenden Konstituens des sich allein im Gegensatz empfindlich werdenden Personseins an: Im Sichoffenbaren, im Sein liegt wesentlich das Gegeneinanderspielen der Gegensätze. Daher ist für das Ganze der Abhandlung die Grundthese festzuhalten, die Schelling S. 373/ 374 ausspricht: ‚denn jedes Wesen kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden, Liebe nur in Haß, Einheit in Streit‘. Hiermit ist eine formale Bestimmung des Offenbar-werdens als ontologischen Begriffes gegeben. Wir fragen nun zunächst methodisch: Wie kann Schelling eine solche These, daß jedes Wesen gerade und nur in seinem Gegenteil offenbar werde, begründen? Um die Antwort zu finden, müssen wir zurückgehen auf den Boden, auf dem Schelling seinen Seinsbegriff gewonnen hat. Er bestimmt doch Offenbar-werden als Konstitutivum des Seins, der Ichheit. Wenn nun gefragt wird, warum das Sich-offenbarwerden als Gegensatz charakterisiert wird, müssen wir zurückfragen auf die Ichheit. Wir müssen zurückgehen auf das, was exemplarisch ist, auf den Menschen, auf das Personsein.²⁹⁹

Heideggers Gedankengang ist tatsächlich – wie er selbst einräumt – rekursiv. Bereits zu Beginn der zweiten Sitzung hatte Heidegger jene „Spannung und Schärfe“³⁰⁰ aufweisende Wesensermittlung des Menschseins als „kantiges Gegeneinander des Sichwiderstrebens“³⁰¹ von Grund-sein und Existenzvollzug entwickelt. Diese Polarität soll nun allererst aus einer vertiefenden Klärung des Offenbarwerdens und aus dem Begründungselement der Liebe destilliert werden. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass die in der Folge als Trennungs- wie Verbindungsgarant der personenprägenden Dualität von Sehnsucht und Lebensblick exponierte Liebe die ontologische Positionsstelle des allgemein als Wollen bestimmten Urseins einnimmt beziehungsweise diese konkretisiert. Dies präfiguriert Heideggers These aus der Vorlesung von 1941, wonach es die Liebe ist, die als Band und Mitte innerhalb der Unterscheidung west. Den schärfsten Gegensatz

     

Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 349. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 349. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 350. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 350. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 335. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 351.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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evoziert die Liebe im „Wirkenlassen des Grundes“.³⁰² Es ist die Liebe, die nach Heidegger sogar die „Einheit beider Prinzipien Grund und Existenz in Gott“³⁰³ ermöglicht, indem sie das „Gegeneinander beider, wodurch sie [die Prinzipien, J.K.] bestimmt sind“³⁰⁴ generiert. Nachdem Heidegger zuvor das Wollen und den Ungrund als Einheitskandidaten präsentiert hatte, setzt er nun an der Gipfelhöhe der vollständig entfalteten und zusammengehaltenen Gegensatzausspannung an. Dergestalt erfährt die basale Charakterisierung des Seins als „Werden, Offenbarwerden, Leben und Drang“³⁰⁵ eine Anreicherung, weil die Konstellation von Identität und Differenz in ihr selbst ausgetragen wird. Während der Ungrund als Absenz jedes Gegensatzes die ursprüngliche Anlage zur Offenbarung bildet, ist es der Geist als „ursprüngliche Einheit des Gegensatzes“³⁰⁶, der für die vollendete Realisation des offenbargewordenen Lebens und Dranges einsteht. Aufgrund des Vermögens der Verbindung unabhängiger und doch zusammengehöriger Repugnanzpole bezeugt er sich als „Hauch der Liebe“.³⁰⁷ Heidegger zitiert in diesem Zusammenhang Schellings wohl berühmteste Schilderung der Liebe, in der die Struktur der als Geist aufgegangenen Liebe relationstheoretisch verankert wird: Denn Liebe ist weder in der Indifferenz, noch wo Entgegengesetzte verbunden sind, die der Verbindung zum Sein bedürfen, sondern (um ein schon gesagtes Wort zu wiederholen) dies ist das Geheimnis der Liebe, daß sie solche verbindet, deren jedes für sich sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere.³⁰⁸

In einem sehr prägnanten Resümee seiner bisherigen Auslegung der in ihrer Verflechtung entworfenen Begriffe des Seins, des Offenbarwerdens und der Ichheit fundiert Heidegger die Liebe auf einer tieferen Ebene. In Übereinstimmung mit Schelling, verortet er ihren undefinierbaren, seinslosen und der Trennung von Grund und Existierendem ermöglichend vorauslaufenden Prototyp im Ungrund. Die Liebe erweist sich schon 1927/28 als das „Höchste“.³⁰⁹ Es ist die Liebe, die als

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 353. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 375.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 353.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 353.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 351.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 351.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 351. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 406.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 352. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 408.  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 406.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Agens der ersten Scheidung die gesamte Schöpfungsentwicklung von der prädikationslosen Ungeschiedenheit bis hin zur vervollkommneten Sublimierung einer endgültigen Vereinigung der Gegensätze übergreift: Wir halten also fest: Sein ist Offenbar werden, als solches ist es ichliches und das ist Sich offenbarwerden im Gegensatz, als Personsein in Grund und Existenz. Das eigentliche Sein aber ist die Bewältigung des Grundes durch die Existenz als Liebe. Schelling muß dieses Phänomen zurückbeziehen auf die ganze Dimension seines ontologischen Systems, bis auf das, was Grund und Existenz zugrundeliegt, den Ungrund. Er sagt S. 406: „Die Liebe aber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehe das Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht da war als Liebe, sondern – wie sollen wir es bezeichnen.“³¹⁰

1941 plausibilisiert Heidegger die monistische Reduktion auf den Willen der Liebe auf der Grundlage ebenjener Präsenz der Ausgestaltungen der Liebe im Anfang und am Ende des offenbarungsbezogenen Systems. Auch im Seminar von 1927 wird die Liebe als „eigentliches Sein“³¹¹ zum metaphysischen Haupttitel qualifiziert. Gemäß der 1927 vertretenen Auffassung Heideggers, Schelling erschließe das Sein überhaupt aus der Seinsart des Menschen, ist die Liebe angesichts ihres ontologischen Status mit der 1941 konstatierten Rangdimension des Willens der Liebe vergleichbar. Indes unterscheidet sich die 1927 gegebene Schilderung der Liebe hinsichtlich der Erstreckungsreichweite innerhalb des Seienden im Ganzen von dem 1941 interpretierten Willen der Liebe, insofern Heidegger Schellings Begriff des Seins im 1927 gehaltenen Seminar restringiert und weitgehend mit „Personsein“ überträgt. Nichtsdestotrotz kann hinsichtlich des anthropologischen Ausgangspunktes eine Verbindungslinie zur Schelling-Vorlesung von 1941 gezogen werden. Nach Heidegger ist es für die neuzeitliche Subjektivität des Willens ja gerade konstitutiv, die menschliche Herrschaft über das Ganze des Seienden zu sichern und sich deswegen der Offenheit des Seins selbst zu verschließen. Im entscheidenden Passus des Seminars von 1927 wird der Titel der Liebe explizit als „Sinn des Seins“³¹² begriffen und – damit gleichbedeutend – als „Wesen des Personseins“³¹³ ausgezeichnet: Damit wird der Begriff des Seins bei Schelling für uns konkreter: das Phänomen der Liebe ist nicht ein exemplarisches Einzelphänomen, sondern Liebe ist zugrunde gelegt als der Sinn des Seins, d. h. des Personseins. Wenn also die Liebe das Wesen des Personseins, der Ichheit

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 351– 352. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 406.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 351.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 352.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 352.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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ausmacht, dann müssen wir von hier aus verständlich machen können, warum das Sichoffenbaren im Gegensatz zum Sein gehört, d. h. also das Sich-offenbar machen in seinem Spannungsverhältnis. Für das Gegeneinander ist Voraussetzung, daß das, was gegeneinander ist, jedes für sich eine eigene Tendenz hat.³¹⁴

Wie schon zu Beginn des Exkurses, ist auch hier festzuhalten, dass Heideggers Apostrophierung der Liebe als „Sinn des Seins“ im engen Zusammenhang mit der Hauptfragestellung von Sein und Zeit betrachtet werden muss. Die Freiheitsphilosophie Schellings erscheint 1927 keineswegs nur als Vorspiel der alles Seiende auf die Ichheit und die Selbstrepräsentation reduzierenden Willenssubjektivität. Schelling wird von Seiten Heideggers angesichts der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Seins als Denker gewürdigt, der eine immense Nähe zum eigenen Projekt der Existenzialanalyse besitzt. Während Heidegger selbst die Zeitlichkeit als den Sinn der Sorge (die sich am ehesten mit der Bedeutung des „Personseins“ deckt) kennzeichnet, ist es bei Schelling die Liebe, die das Sein des Menschen als einer Einheit von unbewusstem, auf sich beharrendem Drang des Grund-seins und dem verstehenden Existenzvollzug ermöglicht und durchdringt. Im Seminar von 1927 grenzt Heidegger sich allerdings deutlich von der Zeitauffassung Schellings ab: In Schellings Konzeption des Zusammenfalls von erster Schöpfung und intelligibler Tat zeige sich, dass Schellings Zeitbegriff der „vulgäre“³¹⁵ sei. Auch bei Schelling werde die Zeit als „Ablauf eines Nacheinander“³¹⁶ verstanden. Es ist im Hinblick auf Heideggers tendenziell willenskritische Interpretation der Liebe im Jahre 1941 zu beachten, dass Heidegger zum Abschluss der Diskussion des Liebesmotivs (in der Sitzung vom 11. Januar 1928) das Augustinische Diktum des Volo, ut sis heranzieht, um die Genese des Gegensatzes aus der Liebe zu verdeutlichen. Zunächst erscheint der Eindruck naheliegend, Heidegger gestalte die Liebe in der folgenden Aufzeichnung keineswegs als einseitig wirksame Permissionskraft aus, sondern binde sie positiv in ein bidirektionales und reziprokes Lassen im Sinne des Über-Lassen des anderen Willens in seine spezifische Vollzugsweise ein: Wir können demnach jetzt sagen: das spezifische Wirken beider [des Willens des Grundes und des Willens der Liebe, J.K] geht auf die Einigung. Damit sie aber sein könne, muß Gegensätzlichkeit sein und die besteht hier gerad darin, daß jedes Gegensatzglied das andere als Gegen sein läßt. Die Liebe läßt den Grund sein, denn es gehört zu ihrem Wesen, daß der andere sein kann, was er sein will.Wäre er das nicht, dann hätte sie nicht die Möglichkeit als

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 352– 353.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 355.  Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 355.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Liebe ihn zu bewältigen. (Hier liegt eine Analogie an Augustin De civitate XI vor, wo das Wesen der Liebe gefaßt wird als volo ut sis.) In diesem ‚Ich will, daß du bist‘ liegt bei Schelling das eigentümliche Seinlassen des anderen als ein Seinlassen mit der Tendenz, daß das Andere gewissermaßen jetzt erst die Möglichkeit bekommt, es selbst zu sein. Wenn dieses Seinlassen zur Struktur dieses Gegensätzlichen gehört, dann muß umgekehrt auch der Grund die Liebe Liebe sein lassen. Er tut es in dem Sinne, daß er auf sich selbst beharrt, sich auf sich zurückzieht und damit der Liebe die Möglichkeit gibt, ihn zurückzuholen. In diesen Seinsbestimmungen wird sichtbar, wie einheitlich und ursprünglich diese zentralen Probleme bei Schelling gefaßt werden.³¹⁷

Trotz der abschließenden, affirmativen Honorierung der Einheitlichkeit und Ursprünglichkeit des Schellingschen Problembewusstseins sind in dieser Aufzeichnung – als Unterton und gleichsam in Nuancen – die Gründe für Heideggers spätere, „absolutistische“ Interpretation des Willens der Liebe präsent. Diese werden allerdings noch von der Motivik des Seinlassens überdeckt. Genauer betrachtet, lassen sich gewichtige Ambivalenzen in der obigen Schilderung der Liebe konstatieren: Zwar hebt Heidegger hervor, es gehöre zum Wesen der Liebe, dass sie den Anderen nicht mit ihrer eigenen Erwartungshaltung überfrachte oder ihm ein präsupponiertes Wirkungsfeld vorgebe. Stattdessen räume die Liebe dem Anderen bedingungslos die Freiheit ein, in die selbstgewählte Willensanlage und den adäquaten Möglichkeitshorizont hineinzuwachsen. Dieser vermeintlichen Uneigennützigkeit der Liebe und der Implikation einer ruhigen Austragung des Gegensatzes steht jedoch zum ersten entgegen, dass Heidegger – darin mit Schelling konform – das von Seiten der Liebe zugelassene Gegeneinanderwirken von vornherein unter der Signatur einer zu evozierenden Einheit diskutiert, die der Entgegensetzung als finaler Zielsinn inhäriert. Zum zweiten widerspricht der vermeintlich emphatischen und uneingeschränkten Würdigung der Liebe, dass Heidegger – im unverkennbaren Rekurs auf Schellings geschichtsphilosophisch untermauerte Überzeugung von dem eschatologischen Sieg der göttlichen Güte über das Eigenwillige und Verschlossene – den Aspekt der Bewältigung akzentuiert. Wird der Andere jedoch nur deswegen in ein unabhängiges Für-sich-wirken versetzt, damit sich die Liebe selbst in die Möglichkeit aufrichten kann, ihn daraufhin unterzuordnen oder gar aufzuheben, wirft dies ein fragwürdiges Schattenlicht auf die Maxime des „Ich will, daß du bist“. Die Zulassung unverstellter Autarkie wird kompromittiert. Zum dritten ist selbst noch die an sich haltende, sich zurückziehende Kontraktionsbewegung des Grundes der Intention der Aneignung unterworfen. Im liebesverfügten Wirkenlassen wird die Zusammenziehung des Grundes gewährt und geduldet, insofern dadurch

 Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 353 – 354.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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garantiert wird, dass die Liebe ihre spezifische Tätigkeit perpetuieren kann. Dies drückt sich besonders in dem von Heidegger gewählten Terminus des „Zurückholens“ aus. In Form einer „List der Liebe“ wird die materiale Dimension des Gegensatzes im vermeintlich selbstbestimmten Beharren des Grundes gestiftet, damit die Liebe in der Einigung des Widerständigen sich als sie selbst durchsichtig werden kann. Insgesamt lässt sich angesichts der skizzierten drei Punkte bereits im Rahmen dieses Exkurses resümieren, dass Heideggers 1941 vorgetragene, kritische Auslegung des Willens der Liebe einen hohen Grad an Plausibilität und Berechtigung für sich beanspruchen kann. Dies soll im weiteren Verlauf des zweiten Abschnittes noch deutlicher herausgearbeitet werden.

2.2.5 Heideggers willenszentrische Relektüre der Systemprätention Schellings Im Vierten Kapitel des Ersten Teils, das sich an die Auseinandersetzung mit der „Wurzel der Schellingschen Unterscheidung“ anschließt, befasst sich Heidegger mit den „verschiedenen Fassungen der Schellingschen Unterscheidung von Grund und Existenz“.³¹⁸ 1941 schiebt sich die unter Punkt d) angeführte Polaritätsfiguration „Wille des Grundes und Wille der Liebe (375)“³¹⁹ in den thematischen Vordergrund. Eine gewichtige Herausforderung für die von Heidegger postulierte Willensfundierung der Unterscheidung bei Schelling bildet das Faktum, dass Schelling besonders in den Weltaltern und in der Spätphilosophie die Differenz von Seyn und Seyendem zugrunde legt, die Heidegger in seiner Auflistung unter f) als „Sein (‚Object‘) und Seiendes (‚Subjekt‘)“³²⁰ wiedergibt. Diese Unterscheidungsweise weist unzweifelhaft eine frappierende terminologische Identität mit der von Heidegger gegenüber der abendländischen Tradition reklamierten ontologischen Differenz auf. Gleichwohl ist hinsichtlich der Berechtigung der metaphysischen Interpretation Heideggers zu konzedieren, dass Schelling das Seyn und das Seyende sowohl in den Weltaltern als auch in der Spätphilosophie neben der Dechiffrierung als Natur (Sein) und als Geist (Seiendes) willenstheoretisch umschreibt und die beiden Elemente als gegenläufige Prinzipien instantiiert. Wie auch Heidegger im Vierten Kapitel zu Recht vermerkt, konzipiert Schelling das Seyn zumeist als das „Zurückgehen auf sich selbst“³²¹, das sich in den wider-

   

Heidegger, GA 49, S. 93 – 95. Heidegger, GA 49, S. 93. Heidegger, GA 49, S. 93. Heidegger, GA 49, S. 93.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

ständigen Modi des Verschließens und des Zusammenziehens objektiviert. Das Seyende repräsentiert hingegen die ausbreitende, vergeistigende Kraft, die nach Heidegger den „Prozeß der Verklärung“³²² leitet. Schellings willensgestützte Reformulierung der Seinsprinzipien lässt sich prägnant anhand des zweiten Entwurfes der Weltalter (1813) exemplifizieren und bekräftigen. 1813 attribuiert Schelling dem anfänglich ruhenden, in sich selbst verlorenen Seyn ein Streben nach Wirksamkeit. Schelling zeichnet die negativistische Figur einer sich verzehrenden Sucht in das Seyn ein. Demgegenüber ist das Seyende durch die Koexistenz einer in sich zurückstrebenden und einer aus sich herausgehenden Doppelbewegung des Sich-Wollens charakterisiert. Das Seyende schafft sich eine erkenntniskonstitutive Entgegensetzung und Abgrenzung gegenüber der Außenwelt, um sich in der dadurch ermöglichten Entäußerung seiner selbst der Zusammenziehungstendenz der ruhelosen, narzisstischen Selbstvergegenständlichung des Willenssubjektes immer wieder zu entwinden. So heißt es in der zweiten Fassung der Weltalter von 1813: Alles was ist, alles Seyende will zugleich in sich und aus sich. Es will in sich, indem es sich als Seyendes, als Subject setzt oder zusammenfaßt; in sofern widersetzt es sich der Entwicklung und Ausbreitung: es will aus sich, indem es das, was es in sich ist, auch wieder, nämlich äußerlich, zu seyn begehrt. Es ist in der ersten Beziehung ein Abgezogenes von sich selbst, das sich selbst entgegengesetzt hat dem was außer ihm ist; aber es hat es sich nur entgegengesetzt, um sich als das, was es in sich ist, wieder gegen jenes äußere zu offenbaren, mitzutheilen und kann daher nicht in jener Abgezogenheit bleiben. Ebenso das Seyn. Denn denken wir es rein als solches, so ist es selbstlos, eine gänzliche Versunkenheit in sich selbst; aber ebendadurch zieht es sein Gegentheil in sich und ist ein steter Durst nach Wesen, eine Sucht, sich Seyendes oder Subject anzuziehen, um mittelst desselben aus dem bloßen Potential-Zustand zum wirkenden hervorzutreten. Denken wir es aber als schon wirkendes Seyn, als ein Seyn, das auch selber wieder ist: so ist notwendig ein Seyendes mit ihm, das dem Seyn, dem bloßen in-sich-Beruhen widerstreitet.³²³

Da auf die Bezüge zwischen dem Seyenden und dem nicht wollenden Willen in der Philosophie der Offenbarung bereits eingangs hingewiesen wurde, soll hier nur die einprägsame Einbettung des Willensparadigmas in den mythologischen Schöpfungsentwurf der ersten Weltalter-Fassung (1811) beleuchtet werden. Nachdem sich in der reinen Lauterkeit (dem Willen, der nichts will) der Wille zur Existenz erzeugt hat, umschließt dieser die milde Lauterkeit von außen und setzt ihre ausquellende Kraft als sein Inneres, als Subjekt. Weil er sie durch die Umfassung an ihrer Ausbreitung hindert, regrediert sie selbst zugleich zur passiven

 Heidegger, GA 49, S. 94.  Vgl. Schelling, WA II, S. 29 – 30.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Instanz und wird als solche ein Objektives.³²⁴ Indem der existierende Wille Subjekt und Objekt, Inneres und Äußeres verbindet, erwächst aus der Urdualität des Willens der Lauterkeit und des etwas wollenden Willens das „erste Wirkliche“.³²⁵ Im Hinblick auf den Grundtenor der Schelling-Exegese Heideggers ist von hoher Signifikanz, dass Schelling das Wirklichwerden jedes Wesens und die Genese und Verfassung des Selbst in der ersten Fassung der Weltalter aus einem autopoietischen, an Fichte gemahnenden Akt des Sich-selbst-wollens erschließt und herleitet. Das Seyn (im Sinne der existentia) wird dabei ex negativo als willenhaft begriffen, wobei Schelling sich zugleich gegen den Vorrang der Wesensmetaphysik wendet: Die Menschen sind gewohnt, das Seyn als etwas ganz Willenloses und gleichsam nur als eine Zugabe zum Wesen anzusehen. Gleichwohl, wenn sie auf die innere Existenz Acht geben wollten, würden sie das Gegentheil finden und z. B. bemerken, daß ohne Antheil ihres eignen Selbst auch das Beste, das ihnen der Anlage nach seyn mag, zu keiner Wirklichkeit gedeiht.[…] Ein Wesen, das sich seiner selbst nicht annimmt, ist, als wäre es nicht. Sich selber wollen, sich seiner annehmen, sich zusammenfassen, sich in seiner Ganzheit setzen, ist alles Eins, ist allein die thätige, die wahre Existenz.³²⁶

 Vgl. zu diesem Vorgang: Schelling, WA I, 40 – 41: „[…] so hält der eigne oder zusammenziehende Wille auch die Liebe fest; denn nur von ihr, die in sich wirkungslos ist, kommt alle Kraft, und ohne sie vermöchte er nicht schaffender noch wirkender Wille seyn. Also will er nicht von ihr lassen und macht sich selbst zum Objekt oder Wirkenden von ihr, sie aber zum Subjekt, Innern, Latenten von sich und setzt die, die zuvor nicht seyend war, dadurch als seyend. In der Zusammenziehung aber kehrt sich dieß in so fern um, als hier das bejahende Princip in Bezug auf die contrahierende Urkraft zwar Objektives, aber nicht Wirkendes noch frey Ausfließendes, sondern Leidendes, Eingeschlossenes, Latentes wird.“  Vgl. Schelling, WA I, S. 41.  Vgl. Schelling, WA I, S. 41– 42. Im Ausgang von diesem Zitat konstatiert Wieland zunächst eine Eingliederung der tradierten Dichotomie von Wesen und Sein, existentia und essentia, in Schellings Neufassung des Begriffes der Existenz (d. h. hier des „Seyns“), der nach Schelling nicht mehr als bloße „Zugabe zum Wesen“ angesehen werden darf. Wielands Auslegung ist in diesem Kontext vor allem deswegen beachtlich, weil es ihm gelingt, Schelling insgesamt aus der überkommenen Semantik der metaphysischen Unterscheidungen herauszudrehen. Wieland begreift den Grund und die Existenz (bzw. analog dazu die Differenz zwischen Sein und Seiendem in den Weltaltern) als zeitliche Verhältnisbegriffe und reformuliert sie gemäß seiner generellen These als Strukturmomente der menschlichen Endlichkeit. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 67– 68: „Im Existenzbegriff Schellings sind daher sowohl ‚existentia‘ als auch ‚essentia‘ (im traditionell-scholastischen Sinne verstanden) in eigenartiger Weise verschränkt. Wie denkt aber Schelling den Unterschied zwischen Sein und Seiendem? Wir kommen der Lösung des Problems am nächsten, wenn wir uns zunächst auf die Terminologie der Freiheitslehre beschränken, zumal auch in den ‚Weltaltern‘ Sein und Seiendes einerseits, sowie Grund und Existenz andererseits Wechselbegriffe sind. Der Mensch erfährt seine Existenz nur, insofern er sie vom Grunde scheidet. Grund ist aber als solcher wiederum durch das Grundsein für das Existieren bestimmt. Die Frage

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

In dem Existierenden drängt die in die Enge geratene Liebe permanent auf die Scheidung von Seyn und Seyenden, deren Anbahnung durch die kontrahierende Kraft des existierenden Willens immer wieder in die Einheit zurückgeholt wird. Die vollendete Scheidung von Seyn und Seyendem wird arrangiert, indem die kontrahierende Kraft im zugrunde liegenden Seyn veräußerlicht und im geistig Seyenden immer mehr in die Latenz verdrängt wird.³²⁷ Diesen Gedankenzug verbindet Schelling mit einer trinitätstheologischen Spekulation: Der durch den Sohn gesetzte Vater wird in die Vergangenheit verabschiedet, aus der in einem ewigen Anfang der Sohn perennierend geboren wird. Beide werden in der Einheit von Einheit und Gegensatz, d. h. im absoluten Geist und mit diesem zur Trinität vereinigt.³²⁸ Es lässt sich die These vertreten, dass Schellings ontologische Differenzierung zwischen dem sich zusammenziehenden Seyn des Vaters und dem sich lichtenden, mit dem Sohn parallelisierten Seyenden in zwei Pole gliedert, was Heidegger im Seyn als Zusammenspiel von Untergehen und Aufgehen denkt.³²⁹ Dennoch überwindet Schelling trotz der Beachtung der ontologischen

nach der Existenz mag von Schelling zunächst durchaus in traditionellem Sinne gestellt worden sein. Dadurch, daß die Existenz jedoch nicht gegen die Essenz, sondern gegen ihren Grund abgegrenzt wird, erhält auch der Begriff der Existenz selbst einen anderen Inhalt. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Grund verstanden wir als ekstatische Zeitlichkeit. Das ontologische Grundverhältnis Existierendes – Grund der Existenz ist damit aber als ein ursprünglich zeitliches Verhältnis bestimmt. Gerade deshalb darf Schellings Existenzbegriff niemals mit der traditionellen existentia verwechselt werden. Zeitlichkeit hat ihren Ort im Verhältnis der ontologischen Prinzipien gegeneinander und kommt nicht, wie in der traditionellen Wesensontologie, nur einem der beiden Prinzipien zu.“  Vgl. Schelling, WA I, S. 117: „In gleichem Verhältnis als die zusammenziehende Kraft im Seyenden innerlich gesetzt wird, kann die Liebe als frey sich mittheilende Wesenheit ausfließen; und ebenso, in gleichem Verhältnis, wie die zusammenziehende Kraft des Seyns äußerlich gesetzt wird, keimt ihr die Liebe im Herzen und überwindet von innen heraus das harte Aeußere.“  Vgl. Schelling, WA I, S. 121– 122: „Jene unsichtbare und in der Gegenwart verborgne Einheit muß also, da sie nur Gott seyn kann, eine von der Persönlichkeit des Vaters so wie des Sohns verschiedene, dritte Persönlichkeit seyn, welche zwar in der des Vaters, weil er in sich schon Einheit der Einheit und des Gegensatzes war, eingewickelt bereits vorhanden seyn mußte, die jedoch erst durch den Sohn wirklich entwickelt wird, der eben darum die Indifferenz des Vaters überwinden, die erste den Gegensatz noch einwickelnde Einheit scheiden mußte.“  Vgl. Heidegger, Heraklit. Der Anfang des abendländischen Denkens, GA 55, hrsg. von Manfred S. Frings, S. 153: „Indem das Aufgehen und das Sichverbergen sich die Gunst des Wesens gewähren, ist die Fügung des Sichverbergens in das Aufgehen, die zugleich das Aufgehen in das Sichverbergen fügt. Das Selbe, was das Aufgehen ist, ist das Sichverbergen, d. h. das Untergehen.“ Vgl. auch Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 252: „Die Einzigkeit des Seyns (als Ereignis), die Unvorstellbarkeit (kein Gegenstand), die höchste Befremdlichkeit und das wesentliche Sichverbergen, das sind Weisungen, denen folgend wir uns zuerst bereit machen müssen, um entgegen der Selbstverständlichkeit des Seyns das Seltenste zu erahnen, in dessen Offenheit wir

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Differenz in den Augen Heideggers die Ontotheologie nicht, weil er das Sein als dasjenige verstehe, das „vom Seiendsten eigentlich geleistet wird“.³³⁰ Im Rahmen einer anagogischen Systemarchitektonik werde das Sein als basal-unentfaltete Ausgangsstufe in die Entwicklung des Urwesens hin zu Gott als „dem höchsten Seienden“³³¹ eingefügt. Im Vierten Kapitel dekuvriert Heidegger einen weiteren, elementaren Problempunkt in Schellings Begründungart der Unterscheidung. Schelling wende die Unterscheidung im Kernstück der Freiheitsabhandlung (SW VII, S. 357– 364) auf die Wesensbestände der metaphysica specialis – Gott, Welt (Schöpfung) und Mensch – an. Weil Gott, Welt und Mensch ihre Charakterisierung jedoch schon durch die vorgängige Unterteilung in Basis und Existierendes erhalten haben, bezeugt sich die Evidenz der Unterscheidung an einem Sachgehalt, der vor der prüfenden Erläuterung bereits in das zu untersuchende Seiende introjiziert wurde. Auch wenn Heidegger diese Zirkelbildung nicht eingehend kommentiert, so setzt er sie mit dem System als „Wesensgefüge des Seienden als solchem“³³² in einen Bezug. Heideggers These lautet, dass das System – darin mit dem Willen der Liebe konvergierend – seine Einheit faktisch nur bezeugen kann, wenn es mit der äußersten Zwietracht³³³ konfrontiert wird und diese überwältigt. Scheiterte die stehen, auch wenn unser Menschsein zumeist das Weg-sein betreibt.“ Die Nähe zwischen dem Schellingschen und dem Heideggerschen Seinsbegriff akzentuieren – in je anderer Hinsicht – sowohl Markus Gabriel als auch Sebastian Schwenzfeuer. Gabriel sieht die Überschneidung beider Denker in der Entwicklung eines geschichtlichen Seinsbegriffes, welcher der platonisch-hegelschen, logischen oder statischen Verständnisweise des Seins entgegengesetzt sei. Demgegenüber zeigt Schwenzfeuer anhand des Kunstwerk-Aufsatzes die Parallelen zwischen dem Streit von Welt und Erde einerseits und der in der Seynsfuge waltenden Widerwendigkeit zwischen dem sich verschließenden Grund und dem auf Offenbarung drängenden Existierenden andererseits auf. Vgl. Gabriel, Unvordenkliches Sein und Ereignis. Der Seinsbegriff beim späten Schelling und beim späten Heidegger, in: Hühn/Jantzen, Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 110 f. Vgl. Schwenzfeuer, Natur und Sein. Affinitäten zwischen Schelling und Heidegger, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 253 ff.  Heidegger, GA 49, S. 94.  Heidegger, GA 49, S. 94.  Heidegger, GA 49, S. 94.  Eine Aufzeichnung aus dem Anhang der Schelling-Vorlesung von 1941 bezeugt in aller wünschenswerten Deutlichkeit, dass Heidegger die 1936 noch zentrale Thematik der Metaphysik des Bösen nunmehr gänzlich im Horizont der Selbstvergewisserung der Subjektivität innerhalb des Systems behandelt. Dass Schelling die menschliche Freiheit in den Fokus seiner Untersuchungen rückt, wird von Heidegger nun als instrumentelle Durchgangsstation gedeutet und auf den Sachverhalt zurückgeführt, dass allein in der Freiheit des Menschen das Böse wirksam zu werden vermag und das Böse wiederum erforderlich ist, um die systemkonstituierende Widerwendigkeit installieren zu können. Vgl. Heidegger, GA 49, S 172: „Warum handeln Schellings ‚Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit‘ vom Bösen? Weil

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Metaphysik des Bösen 1936 daran, dass der Grund ihrer Möglichkeit nicht in das System eingeordnet werden konnte, so kommt dem Bösen 1941 die instrumentelle Funktion zu, die Fassungskraft des Systems zu veranschaulichen. In diesem Kontext ist sehr aufschlussreich, wie Heidegger die 1936 gefällte Diagnose des Scheiterns 1941 in eine des Gelingens umbiegt. Der entsprechende Passus, der als Antwort auf die 1936 vorgetragene These des Systemausschlusses gelesen werden kann, findet sich im §33: Zum Systembegriff Schellings. S. 399: ‚In dem göttlichen Verstande ist ein System, aber Gott selbst [‚] ist [‚] kein System, sondern ein Leben…‘ D. h.: Es gibt nicht das ‚System‘ als etwas dem Absoluten Fremdes, darein es erst gespannt wird, um dann ein System zu sein. ‚Das System‘ existiert im Verstand Gottes (vgl. 337), d. h. gerade nicht, es sei nur vor-gestelltes ‚Schema‘ und ‚Plan‘ (keine Einschränkung gegenüber einer Wirklichkeit des Systems), denn der Verstand ist der Wille im Willen, der Wille aber das Sein, Existenz. Gott, der Seiendste, der Existierende, der Lebendige. ‚Das System‘ ist die Wesung des absoluten Willens selbst. Die Weise der Verwirklichung des Wirklichen, die Weise des Existierens des Existierenden.³³⁴

In dieser Argumentationsfigur vollzieht Heidegger gewissermaßen selbst, was er Schelling 1936 vorwarf. Heidegger schließt den Grund, das Leben in Gott aus. Dies geschieht bei Heidegger jedoch nicht – wie er gegen Schelling einwandte – um den lebendigen Grund Gottes gegenüber dem System zu privilegieren. Vielmehr zielt Heidegger darauf ab, das System gegenüber dem Grund gänzlich zu emandas System gedacht werden soll? Warum aber dieses? […] Das System ist dort das innigste ‚Seyn‘ – der Zusammenstand des Seienden im Ganzen –, wo es die äußerste Entzweiung aushalten, nicht etwa ausgleichen soll. Also muß diese äußerste Zwietracht entfaltet werden und in ihren Bestand und Bestandgrund gebracht werden. Diese Zwietracht ist das Böse im Sinne des selbständigen Aufstandes des kreatürlichen Geistes im Ergreifen der Selbstsucht des Grundes aus der Intimität mit dem Urgrund…“ Dass Heideggers Interpretation eine gewisse Triftigkeit und Nachvollziehbarkeit beanspruchen kann, zeigt sich darin, dass Schelling selbst die Erregung der Eigenheit in dem Sinne funktionalisiert, als sich dadurch die Ubiquität des göttlichen Willens (an dessen strukturelle Position sich auf der Grundlage der Heideggerschen Deutung das „System“ setzen ließe) ausdrücken kann. Vgl. z. B. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 382: „Allein es wirkt der Grund auch im einzelnen Menschen unablässig fort und erregt die Eigenheit und den besondern Willen, eben damit im Gegensatz mit ihm der Wille der Liebe aufgehen könne. Gottes Wille ist, alles zu universalisieren, zur Einheit mit dem Licht zu erheben oder darin zu erhalten; der Wille des Grundes aber, alles zu partikularisieren oder kreatürlich zu machen. Er will die Ungleichheit allein, damit die Gleichheit sich und ihm selbst empfindlich werde.“ In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass Schelling an diesem Ort auch dem Willen des Grundes ein nach Maßgabe des Willens der Liebe verfügtes, sich im Umweg über die Evokation der Ungleichheit äußerndes Einheitsverlagen zuspricht. Deswegen kann Schelling den sich verschließenden Grund als einen „Willen zur Offenbarung“ charakterisieren, dem der Wille der Liebe als genuiner Wille der Offenbarung gegenübersteht.  Heidegger, GA 49, S. 139.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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zipieren. 1936 hatte Heidegger die These eines Scheiterns der Freiheitsschrift noch explizit an den Sachverhalt gebunden, dass Schelling das System dem göttlichen Verstand vorbehält. Schelling konzediert Gott in seinem Grunde allerdings eine darüber hinausgehende, schöpferische Lebensdynamik, die sich im System nicht abbilden lasse. Auf diese Weise wird es nach Heidegger unmöglich, die Seynsfuge im Ganzen mit dem System konvergieren zu lassen, da die beiden Kernelemente des Grundes und der Existenz dissoziiert werden: Wie verhält sich die Unterscheidung von Grund und Existenz des Seienden zum System? Diese Frage klingt in diesem und dem letzten Abschnitt an; sie wird aber nicht ergriffen und vor allem noch gar nicht in ihrer inneren Schwierigkeit durchschaut. An der Stelle des Übergangs zum VI. Abschnitt steht der Satz: ‚In dem göttlichen Verstande ist ein System, aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben…‘ (399). Hier ist das System nur einem Moment der Seynsfuge, der Existenz zugewiesen. Zugleich wird eine höhere Einheit gesetzt und mit ‚Leben‘ bezeichnet. Wir kennen die metaphysische Bedeutung dieses Titels; er bedeutet bei Schelling niemals das nur ‚biologische‘, tierisch-pflanzliche Leben. Schellings Sprachgebrauch ist hier ein ‚polemischer‘. Er meint gegenüber der idealistischen Fassung des Absoluten als Intelligenz eben dieses, daß der Wille des Verstandes nur ist in der Gegenwendigkeit zum Willen des Grundes. Wenn aber das System nur im Verstande ist, dann bleibt dieser, der Grund, und die Gegenwendigkeit selbst aus dem System ausgeschlossen als das andere des Systems, und System ist, auf das Ganze des Seienden gesehen, nicht mehr das System. Das ist die Schwierigkeit, die in den späteren Bemühungen Schellings um das Ganze der Philosophie immer schärfer heraustritt, die Schwierigkeit, an der er scheitert.³³⁵

 Heidegger, GA 42, S. 278 – 279. In bewusster Auseinandersetzung mit Heidegger mobilisiert Ryosuke Ohashi seine Lesart des Ungrundes gegen Heideggers Auslegung des Schellingschen Satzes „In dem göttlichen Verstande ist ein System: aber Gott selbst ist kein System, sondern ein Leben“ (vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 399).Vgl. Ryosuke Ohashi, Der Ungrund und das System (403 – 416), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 235 – 252, bes. S. 242– 246. Heidegger apostrophiert die Exposition der Unterscheidung von Grund und Existenz (vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 357– 364) als „Kernstück“ der Freiheitsschrift. Für Ohashi bildet hingegen Schellings Einführung des Ungrundes das wahre Gravitationszentrum. Um diese Auffassung zu untermauern, bezieht sich Ohashi auf Schellings Aussage „Wir treffen hier endlich auf den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung“ (vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 406; vgl. Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 238). Wie oben dargelegt, signalisiert die Zerspaltung der Seynsfuge in das grundhafte Leben Gottes auf der einen Seite und die verstandesgetragene Systemimmanenz auf der anderen Seite für Heidegger das Schellingsche Scheitern, das Böse im System zu fundieren. Im Gegensatz dazu vertritt Ohashi die These, für Schellings Schweigen in den Jahrzehnten nach 1809 sei nicht die Ansetzung der Seynsfuge, sondern die Entdeckung des Ungrundes als wahre „Einheit von Grund und Existenz“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 243) verantwortlich zu machen. Ebenjener Ungrund repräsentiert für Ohashi das Leben Gottes, von dem Schelling postuliert, dass es im Verstand nicht aufgehe. Nach Ohashi kam ein Systementwurf „trotz aller danach folgenden, bis zu seinem Tode 45 Jahre lange fortgesetzten philosophischen Bemühung“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 239) nicht mehr zustande, weil Schelling erkennen musste, dass der bahnbrechende Gedanke

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Die gelingende Verflechtung der Seynsfuge mit dem zur „Selbigkeit von Seyn und Gefüge“³³⁶ aufgewerteten und als sich „selbst wissende Einheit des Seynsgefüges“³³⁷ beschriebenen System ist für Heidegger 1936 unabdingbar. Nur so kann nach Heidegger die als Vermögen zum Bösen ausgezeichnete und folglich im Grunde Gottes wurzelnde, menschlich-reelle Freiheit inmitten des Seienden im Ganzen verankert und als solche gewürdigt werden. In Schellings Versuch, das Grundhafte, das in seiner Wirklichkeit akzeptierte Böse und das WiderwendigBedrohliche in die Neubestimmung des Systemprinzips zu inkludieren, sieht Heidegger 1936 die Chance, „die starr gewordene Überlieferung des abendländischen Denkens“³³⁸ zu überwinden. Obwohl Schelling kurz vor der Vollendung der Erschütterung der bisherigen Metaphysik stand³³⁹, fiel er nach Heidegger in die tradierte Grundstellung zurück. Durch die Auslagerung des Grundes sei Schelling letztlich davor zurückgewichen, das Böse in das mit der Seynsfuge und dem System gleichbedeutende Sein des Seienden einzuverwandeln. Schellings Scheitern treibe die Notwendigkeit eines „zweiten Anfangs“³⁴⁰ hervor, der sich

des Ungrundes die Möglichkeit eines sich abschließenden und selbst begründenden Systemganzen konterkarierte. Das „schlechthin betrachtete Absolute“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 243 / vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 408) lasse sich mit Hilfe der dialektischen Tätigkeit des Verstandes nicht mehr erfassen und überwinde die „Metaphysik als Onto-Theologie“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 247). Es ist nachdrücklich zu unterstreichen, dass Ohashis textuell begründete Priorisierung des Ungrundes ein bereicherndes Gegengewicht gegen Heideggers weitgehende Ausblendung dieses Motivs liefert. Dennoch drängt sich unweigerlich der Eindruck auf, dass Ohashi in seinen vielfältigen Klassifikationen und Attribuierungen des Ungrundes als „Leben Gottes“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 244), als „Alles in Allem“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 251), als „ewiger Anfang der Schöpfung“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 251), als „konkrete und radikale Erfahrung der Sterblichkeit“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 251) sowie als „Gott selbst“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 250) Schellings zentrale und einzige Wesensbestimmung des Ungrundes – die absolute Indifferenz – einschränken, übergehen und zuletzt gänzlich aufheben muss. Darauf aufbauend, stellt sich die Frage, inwieweit Ohashi die Semantik des Ungrundes weit über den von Schelling selbst benannten und gestatteten Bedeutungsbestand hinaus erweitert, sodass eine Übereinstimmung zwischen Ohashis Verständnis des Ungrundes mit dem Ursprungssinn dieses Topos in der Freiheitsschrift schließlich nur noch auf der begrifflich-formalen Oberfläche statuiert werden kann.  Heidegger, GA 42, S. 86.  Heidegger, GA 42, S. 278.  Heidegger, GA 42, S. 279.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 278: „Das Böse aber ist die Aufspreizung der Sucht des Grundes, als der Grund nicht eine Bedingung, sondern das einzig Bedingende zu sein. Weil das Böse aus dem Grunde kommt, der Grund aber zum Wesen des Seienden gehört, ist mit dem Seyn des Seienden das Böse im Prinzip gesetzt. Wo das Ganze des Seienden in das Gefüge des Seyns entworfen, wo das System gedacht wird, ist das Böse ein- und mitbegriffen.“  Heidegger, GA 42, S. 279.

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allein in der „völligen Verwandlung des ersten Anfangs“³⁴¹ äußern könne. Zu Beginn seiner Vorlesung zur Freiheitsschrift von 1936 hatte Heidegger die in der Seynsfuge einbeschlossene Einheit von Grund und Existenz als die zentrale und tiefgreifende ontologische Neuerung Schellings präsentiert. Am Ende der Vorlesung entpuppt sich ebenjene Ausgestaltung der Seynsfuge schließlich als das entscheidende Hindernis, welches Schellings Regress in die überlieferte Systemphilosophie und in die Metaphysik des Absoluten besiegle: Auf der Stufe der Freiheitsabhandlung wird es Schelling noch nicht in voller Deutlichkeit und in der ganzen Tragweite klar, daß eben die Ansetzung der Seynsfuge als Einheit von Grund und Existenz es ist, die ein Seynsgefüge als System unmöglich macht. Schelling glaubt vielmehr, die Frage des Systems, d. h. der Einheit des Seyenden im Ganzen, sei gerettet, wenn nur die Einheit des eigentlich Einigenden, die des Absoluten, recht gefaßt werde.³⁴²

Dass das Leben im System nicht aufgeht, ist für Heideggers Verständnis und Hypostasierung des Systems 1941 nicht mehr relevant. Es ist für ihn nunmehr vollkommen ausreichend, dass das Sein als Wille innerhalb des im Verstande Gottes befestigten Systems im höchsten Maße präsent ist. Der Existenz Gottes inhäriert die Begründungsform seiner selbst in der Gestalt des die willenszugehörige Unterscheidung priorisierenden Systems. Die Hochsteigerung und Reduplikation des Willensbegriffes, wodurch der genuine Wille als Verstand erscheint, garantiert eine Aufbewahrung des Systems im göttlichen Verstand. Das System entfaltet das Sein zu sich selbst als höchster Bestimmung des Wille-Seins. Die Hürde für Heideggers Intention einer Universalisierung des Willensphänomens – der „nie aufgehende Rest“³⁴³, auf dem Schelling in der Freiheitsschrift beharrt – kann dergestalt umgangen werden. Da der Verstand den sich verschließenden Grund niemals gänzlich in die Einheit und die Ordnung auflösen darf, ließe sich der Wille des Grundes als ein sich verweigernder Wille denken. Somit bliebe der grundhafte Wille ein der Totalität Äußerliches. Wie Heidegger 1936 hinsichtlich des göttlichen Lebens diagnostizierte, könnte er nicht im dem System verortet werden. In der Akzeptanz einer systemexternen Entität könnte sich der Widerstand gegen den Ausgriff des Willensmonismus artikulieren. Weil das System für Heidegger 1941 jedoch zum Spiegel der Seiendheit geworden ist, fällt die verstandesinhärente Struktureinpassung des metaphysischen Primats des Willens mit der vollständigen Ergründung des Wirklichen zusammen. Das System dient  Heidegger, GA 42, S. 279.  Heidegger, GA 42, S. 279.  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 360. Vgl. dazu Slavoj Žižek, The Indivisible Remainder. An Essay on Schelling and Related Matters, London 1996.

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dazu, das neuzeitliche Entdeckend-sein der Wahrheit als Gewissheit in die Lage einer „Sicherung des Vorstellens der Vorgestelltheit; allseitige Verfügbarkeit des Seienden“³⁴⁴ zu versetzen.³⁴⁵ Auch nach Heideggers diskussionswürdigen Zum-verschwinden-Bringen der Problematik einer Integrationsfähigkeit des Willensgrundes bleibt die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Bösen und dem System virulent. Zwar hält Heidegger neben seiner Zusammengehörigkeitsthese („Das Gute ‚ist‘ das Böse und das Gute ‚ist‘ das Böse“³⁴⁶) auch 1941 daran fest, dass das Böse der „Aufstand des Geistes gegen das Absolute“³⁴⁷ und „im Wesen des Menschen der äußerste Gegensatz“³⁴⁸ sei. In dieser Insurrektion spürt Heidegger im §16 (Die eigentliche Absicht der Interpretation der Freiheitsabhandlung: das Erreichen der Grundstellung der Metaphysik des deutschen Idealismus. Das Böse und das System) einen systemaffirmativen Hintersinn auf: Das Böse wird gedacht, weil in dieser äußersten und eigentlichen Zwietracht als dem Un-fug zugleich und am schärfsten die Einheit des Gefüges des Seienden im Ganzen erscheinen muß. (Die äußerste Freiheit gegen das Absolute innerhalb des Ganzen des Seienden.) Und auf dieses, das Seiende und sein Gefüge (Grundgefüge), kommt es an; deshalb ist mit der Freiheitsfrage verknüpft (Einleitung) die Pantheismusfrage, und zwar als Frage nach dem System. ‚Das System‘ ist der Name für das Wesen des Seienden im Ganzen als solchen, d. h. für die Seiendheit des Seienden; das Systematische ist das Sein des Seienden, weil Sein jetzt Subjektivität. Diese zu denken ist Wesen und Aufgabe der Metaphysik.³⁴⁹

 Heidegger, GA 49, S. 172.  Schon in der Schelling-Vorlesung von 1936 zieht Heidegger in einer entscheidenden Passage, welche die im Jahre 1941 formulierte Fundamentalkritik an der systematisch-mathematisch gegründeten Ordnungsgewalt, am Bemächtigungshang und an der Selbstvergewisserung des anonymen Willens in erstaunlicher Weise vorwegnimmt, die Parallele zwischen der neuzeitlichen Willensherrschaft, der Befreiung des Menschen von den mittelalterlichen Autoritäten und der Systemforderung. Vgl. dazu Heidegger, GA 42, S. 58: „Wo es zur schöpferischen Freistellung des Menschen inmitten des Seienden im Ganzen kommt, muß das ganze Seiende selbst im voraus zur Verfügung sein, und zumal dann, wenn es gilt, sich des Seienden frei zu bemächtigen. Der Wille zur frei gestaltenden wissenden Verfügung über das Seiende im Ganzen entwirft als dieser Wille sich das Gefüge des Seyns. Dieses Gefüge ist selbst gemäß der Wissens- und Gewißheitsforderung mathematisch. Das Gefüge selbst ist gemäß der Selbstgewißheit des Denkens (der Vernunft) als des Seinsgesetzes vernünftig.“  Heidegger, GA 49, S. 95. Vgl. Heidegger, GA 42, S. 135. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 342.  Heidegger, GA 49, S. 95.  Heidegger, GA 49, S. 95.  Heidegger, GA 49, S. 96.

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Die Marginalisierung des sittlich Bösen, die in der von Heidegger im Jahre 1936 proponierten Ontologisierung³⁵⁰ angelegt war, wird nun aus einer anderen Perspektive fortgesetzt. In der ersten Schelling-Vorlesung behielt die grundierende Bedingung der mit Gott koexistierenden menschlichen Freiheit die Oberhand gegenüber dem System. Im Gegensatz dazu, ist es 1941 das System, welches die äußerste Freiheit zulässt, um sie als wesentlichen Begriff und als zentrale Verhaltung umso mehr in sich zu integrieren. Durch Heideggers undifferenzierte Gleichsetzung des Systems mit der Seiendheit des Seienden, als dessen „Name“³⁵¹ es figuriert, wird das Böse nicht nur exkulpiert. Es wird auch auch von der Entschiedenheit der Freiheit dissoziiert, indem beide Aspekte unter die Botmäßigkeit des Systems gebracht werden. Unterstützend kann herangezogen werden, dass Heidegger das Böse auch in der Rubrik Vorblicke und Rückblicke, die dem Anhang beigefügt ist, als Apostasis aus und in der Systasis umrandet. Das Böse wird somit als ein Fall „äußerster Entzweiung“³⁵² beschrieben, der aus dem System hervorstrahlt und zugleich den maximal zuzulassenden Antagonismus in diesem exemplifiziert. Als „äußerste Widrigkeit“³⁵³ im „Innersten des Systems“³⁵⁴ verankert, avanciert die Freiheit wie schon 1936 zur Mitte des Systems. Dies beruht indes nicht mehr darauf, dass sie das Wesen der Endlichkeit durchdringt, das in der Erscheinung des Bösen zum

 Christian Iber spricht diesbezüglich treffend von einer Stilisierung der „Notwendigkeit des Bösen im Sein des Seienden überhaupt“ sowie von einer „Steigerungsstrategie der metaphysischen Bedeutung des Bösen“, durch die Heidegger unterschlage, dass das „wirklich Böse selbst allein die eigene Freiheitstat des Menschen sein kann“ (Christian Iber, Interpretationen zum Deutschen Idealismus. Vernunftkritik im Namen des Seins, in: Dieter Thomä [Hrsg.], HeideggerHandbuch, S. 166 – 174, hier S. 167). Zur ursprünglichen, intelligiblen Freiheitstat des Menschen im Argumentationszusammenhang der Freiheitsschrift vgl. Wilhelm G. Jacobs, Die Entscheidung zum Bösen oder Guten im einzelnen Menschen (382 – 394), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W.J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 125 – 148. Indem er die für Schelling zentrale Differenz zwischen der Möglichkeit und der Wirklichkeit des Bösen weitgehend unberücksichtigt lässt, kommt Wilhelm Vossenkuhl unabhängig von Heidegger zu dem Schluss, dass Schelling dem Bösen einen „ontologischen Status“ (Wilhelm Vossenkuhl, Zum Problem der Herkunft des Bösen II: Der Ursprung des Bösen in Gott (364– 382), in: Höffe/Pieper [Hrsg.], F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Berlin 1995, S. 124) verleihe und eine „Substantialisierung des Bösen“ (Vossenkuhl, Zum Problem der Herkunft des Bösen II, S. 124) unausweichlich sei. Da Schelling das Gute und das Böse aus derselben Wurzel, dem dunklen Grund in Gott, herleite, werde Gott „im vollen Sinn Ursache des Bösen“ (Vossenkuhl, Zum Problem der Herkunft des Bösen II, S. 124), sodass sich eine Theodizee erübrige.  Heidegger, GA 49, S. 96.  Heidegger, GA 49, S. 173.  Heidegger, GA 49, S. 173.  Heidegger, GA 49, S. 173.

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Ausdruck kommt. Die konzedierte Mittelposition der Freiheit ist 1941 umgekehrt darauf zurückzuführen, dass sich im Bösen die Wirklichkeit und Gipfelhöhe der Freiheit bezeugt, das Böse jedoch als konstitutive Entzweiung unter dem Bann der Systemforderung steht.³⁵⁵

 Ingeborg Schüßler hat überzeugend rekonstruiert, weswegen Heidegger die Freiheitsschrift gerade aufgrund der angeblichen Instrumentalisierung des Bösen und des Aufständischen als Gipfel der abendländischen Metaphysik begreift und als Vollendung der Systemphilosophie der Wissenschaftslehre Fichtes und der Wissenschaft der Logik Hegels vorzieht. Vgl. Ingeborg Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 25 – 40, bes. S. 36 – 40. Ihrer Argumentation legt Ingeborg Schüßler Heideggers ontologische Konzeption einer immanenten Widerwendigkeit, eines Streits im Seyn selbst zugrunde. Schüßlers Aufsatz ist immens verdienstvoll, weil sie die hermeneutischen Vorannahmen der Heideggerschen Auseinandersetzung mit dem deutschen Idealismus aus der sich geschichtlich entfaltenden Binnenstruktur des Seyns erschließt. Im Seyn selbst waltet die abgründige Verbergungsdimension, die sich innerhalb der Seinsgeschichte zugunsten der a-lethischen Offenheit verschenkt (vgl. Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 26). In der Gestalt der Idee überstrahlt die Offenheit dieses Entzugsgeschehen mit ihrer eigenen Helle, sodass der Eindruck entsteht, sie verdanke sich keiner sich in der Zuwendung zugleich zurücknehmenden Quelle. Mit Descartes’ ego cogito wird die disponierte Möglichkeit verwirklicht, dass sich die Entbergungsseite im Seyn, die Idee, in der Reflexion ihrer selbst vergewissert. Nach Schüßler kommt es im deutschen Idealismus zu einer je verschiedenartig artikulierten Wiederkehr des Verdrängten, weil das „nichthaft sich verweigernde Seyn“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 29) sich dem alles in die kontrollierbare Offenheit einordnenden Systemwillen in Gestalten endlich-partikularer Unverfügbarkeit widersetzt. In Fichtes Wissenschaftslehre enthüllt sich das widerständige Moment des abgründigen Seyns in den Kristallisationen des Nicht-Ichs, des Anstoßes und in der für die Selbstbestimmung der unendlichen Tätigkeit des absoluten Ichs konstitutiven Reflexionseinschränkung (vgl. Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 29 – 32). Auf der nächsten Stufe, in Hegels Logik, wird der Konflikt zwischen der Macht der Idee und der lethischen Kraft des Seyns in der Konstellation zwischen dem Begriff und dem Anderen seiner selbst ausgetragen. Zuvorderst benötigt der Begriff zu seiner Selbstvermittlung das Interaktionsfeld einer durchmessbaren Bahn, das er selbst nicht zu konstruieren vermag. Das „Offene der ekstatischen Lichtung“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 35) wird ihm durch den Entzug des Seyns bereitgestellt. Dass die Idee der Verweigerung des Seyns nicht gänzlich Herr zu werden vermag, demonstriert sich hier in der Angewiesenheit des Begriffs auf die Anreicherung seiner selbst durch das Andere. Im Umgreifen des Anderen und Besonderen als seines Inhalts muss der Begriff den Kreisgang „erneuter Selbstobjektivierung“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 33) zwecks Konkretisierung seiner selbst immer wieder initiieren, sobald er ein bestimmungsloses Allgemeines zu werden droht. Dergestalt kommt die spekulative Dialektik in ihrer Performativität positiver Aufhebung nie zur Ruhe. Bei Schelling wird der Streit schließlich gänzlich zugunsten der Helle der Idee entschieden (vgl. Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 36 – 39). Das abgründige Seyn bricht nicht mehr wie bei Fichte in der Differenzgestalt des menschlich-faktischen Bewusstseins jäh in den Absolutheitsanspruch des Ichs ein. Anders als bei Hegel, wird die im Medium der

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1936 hatte Heidegger noch akribisch herausgearbeitet, weswegen für Schelling eine Besinnung auf die genuin menschliche Freiheit im Rahmen seines Denkweges unumgänglich wurde. In diesem Zuge verband Heidegger die Freiheit als Wesen des Menschen mit der „alles menschliche Seyn überragenden Bestimmung des eigentlichen Seyns überhaupt“.³⁵⁶ Im Jahre 1941 rekonstruiert Heidegger die Hauptfragerichtungen und Argumentationsschritte der Freiheitsschrift als aus dem Geiste der Systemabriegelung entspringende Vergewisserungsstufen. 1936 hatte Heidegger die ethisch-theologische Lesart nicht eigens zurückgewiesen, dass Schelling die Konzepte einer Unterscheidung von Grund und Existierendem in Gott und der derivierten Absolutheit eingeführt haben könnte, um die Theodizee und die Theorie des Bösen mit dem menschlichen Bewusstsein der Freiheit in Einklang zu bringen. Diese freiheitstheoretische Interpretationsoption gerät in der zweiten Schelling-Vorlesung nicht mehr in den Blick. Stattdessen spricht Heidegger nun davon, dass Schelling statt einer Theodicee eine Systemadicee intendiere:

Partikularität wesende Verweigerung des Seyns auch nicht zum permanenten Antrieb einer Gleichmachungsbewegung, die den Nachweis der Begreifbarkeit von Allem zu erbringen hat. Der entscheidende Vollendungsschritt in Schellings Freiheitsschrift besteht nach Schüßler darin, dass es der dunklen Verbergung von vornherein verweigert wird, plötzlich, unbeabsichtigt und unerwartet in die Helle des Systems einzudringen, gerade indem der Geist sie in den Formen des sich selbst verschließenden Willens des Grundes, der Sehnsucht, des selbstischen Hanges und der Potentialität des Bösen „positiv“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 36) setzt. Gott will die „Möglichkeit des verkehrenden Aufstandes“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 37) und lässt das Böse zu, weil es als Voraussetzung fungiert, durch die er sich als „wirkende Macht des Willens der Liebe wirklich-wirksam (‚actu‘) zu offenbaren vermag“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 39). In der Freiheitsschrift gipfelt der endgültige Triumph der a-lethischen Macht der Idee, weil sie die Verweigerung des Seyns nicht mehr offensiv bekämpfen oder widerwillig anerkennen muss, sondern sie gelassen für ihre eigenen Zwecke zu benutzen vermag. Auf der Basis dieser These zieht Schüßler ein prägnantes Fazit, das in Übereinstimmung mit Heideggers 1941 gegebener Auslegung des Zusammenhanges zwischen dem Bösen, der Zwietracht und dem Bösen steht: „Über Schelling hinaus ist kein System mehr möglich. […] Nicht nur, weil mit Schelling die grundsätzlichen Bedingungen der Systembildung erschöpft sind, sondern auch und vor allem deshalb, weil das abgründig-lethische Seyn selbst – so sehr es sich auch gegen die a-lethische Idee kehrt – doch mit ihr nur unter der Bedingung zum System zusammenzustehen vermochte, daß es ihr in der strittigen Seynsfuge des Ereignisses letztlich zugetan bleibt“ (Schüßler, Das Strittige in den Systemen des deutschen Idealismus, S. 39 – 40).  Heidegger, GA 42, S. 15.

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Diese [die Freiheitsfrage, J.K.] ist aber, als Grundfrage des Systems begriffen, auch nicht im Sinne einer theologischen Theodicee zu denken, sondern als ‚Systemadicee‘ – Rechtfertigung der absoluten Metaphysik als der Wahrheit des Seienden als solchen im Ganzen.³⁵⁷

Das Paradigma einer Systemadicee wird erneut mit dem bereits 1936 angeschnittenen Gedanken verbunden, der Anspruch auf ein System generiere sich aus dem Willen, dessen Organisationsform es entfalte. Zwei Textstellen (deren letztere oben bereits im textuellen Zusammenhang zitiert wurde) belegen dies besonders deutlich: ‚System‘ entspringt aus dem Wesen der Wahrheit im Sinne der Gewißheit und aus dem sich anbahnenden Wesen des Seins im Sinne des Willens zum Willen.³⁵⁸ ‚Das System‘ ist die Wesung des absoluten Willens selbst. Die Weise der Verwirklichung des Wirklichen, die Weise des Existierens des Existierenden.³⁵⁹

Wenn sich die Seiendheit des Seienden bei Schelling als Wille enthüllt und dieser auf der Subjektivität basiert, wird die Frage virulent, in welcher Weise sich der Wille als System, d. h. als Einheit des in einen Ordnungsbau eingefügten Seienden im Ganzen („das Sein als die Systasis“³⁶⁰) objektiviert.Wie im ersten Abschnitt des 2. Teils dieser Arbeit validiert werden konnte, hatte Heidegger bereits 1936 die These verfochten, dass die Unterscheidung – die Seynsfuge – im Wesen des Seins (d. h. der Seiendheit) entspringe.³⁶¹ Auch die Fusionierung des Willens mit der

 Heidegger, GA 49, S. 172.  Heidegger, GA 49, S. 170.  Heidegger, GA 49, S. 139.  Heidegger, GA 49, S. 96 – 97.  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 189: „Wir hörten bereits: Das ursprüngliche Wesen des Seyns ist Wollen. Die genannte Unterscheidung muß demnach, wenn anders sie die Wesensbestimmtheit des Seyns angeben soll, im Wesen des Wollens beschlossen liegen. Durch eine hinreichend ursprüngliche Zergliederung des Wesens des Wollens müssen wir daher auf diese Unterscheidung stoßen.“ Schon 1927 merkt Heidegger in seinem Schelling-Seminar an, dass die „Unterscheidung zwischen einem Wesen, sofern es existiert und sofern es bloß Grund ist von Existenz“ weder in der Sphäre der essentia situiert sei noch auf der Basis des tradierten Schemas von Essenz und Existenz verstanden werden könne. Vgl. Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/28), S. 331: „Was ist hier mit Wesen gemeint? Es besagt das Was-sein, τί ἐστιν. Es deckt sich nicht einfach mit dem Begriff der essentia.Wesen ist nicht nur im ontologischen, sondern auch im ontischen Sinn gefaßt. Wassein, einmal als Grund und zugleich, sofern es existiert. Auch die kantische Unterscheidung von realitas und Wirklichkeit trifft das von Schelling gemeinte nicht, da beide Begriffe sich bei Kant sachlich trennen lassen.Wesen als Grund ist nicht einfach die realitas, die Möglichkeit eines Dinges, das, was zur Sachhaltigkeit eines Dinges gehört, abgesehen davon, daß es existiert. Andererseits ist mit Existenz auch nicht gemeint die einfache Verwirklichung dessen, was möglich ist. Existenz gehört zum Wesen selbst, das Was-sein im Sinne des Grundes

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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existentia und die damit zusammenhängende Ausweitung des Geltungsbereiches der Unterscheidung auf das Ganze der Wirklichkeit wurde von Heidegger in der Schelling-Vorlesung von 1936 deutlich markiert: […] es wird ersichtlich, daß diese Unterscheidung sich keineswegs deckt mit einer in der Philosophie geläufigen: der von essentia und existentia, ‚Wesenheit‘ und ‚Dasein‘, Was-sein und Daß-sein, sondern die Unterscheidung wird innerhalb dessen vollzogen, was bisher unbestimmt ‚existentia‘ heißt: Wirklichkeit, Vorhandenheit, Dasein.³⁶²

In der Schelling-Vorlesung von 1941 verdichtet Heidegger die Angleichung von Willen, Wirklichkeit und System durch den Gedanken, dass die Bestimmung des Seins als existentia den seinsgeschichtlichen Zenit im Willensbegriff erreiche. Auf diese Weise wird die innerhalb der existentia stattfindende Unterscheidung gleichbedeutend mit der immanenten Selbstscheidung des Willens. Unter Einbindung der Schellingschen Beurteilung der Unterscheidung als einer „sehr reelle[n]“ verankert Heidegger die Aufgliederung in den Willen des Verstandes und den Willen des Grundes erneut im „Wesen des Seins“.³⁶³ Eine wichtige Erweiterung in der Untermauerung des sich im System seiner selbst vergewissernden Willenscharakters äußert sich im Jahre 1941 in der nachhaltigen Einschreibung der Aktualität der Repräsentation in den Willen: Sein hier begriffen als ‚existentia‘ im weiteren Sinne; existentia als actualitas, actu esse; seit Descartes der actus des cogitare, ego cogito repraesentare (vgl. 6.): sich sich vorstellen und sich so darstellen; exigentiae essentiae; principium existentiae ist die perfectio; essentiae gradus; appetitus – vorstellendes Streben – Wille (Leibniz.).³⁶⁴

Anhand des obigen Zitats wird transparent, auf Basis welcher Prämisse Heidegger eine voluntaristische Kontinuitätslinie von Descartes bis hin zu der bei Schelling evozierten Selbstformierung des Willens im System zu ziehen imstande ist. Indem Heidegger den Actus, das Wirkendsein bei Descartes im cogitare aufdeckt und dieses als Sichvorstellen des ego cogito definiert, gelingt ihm der vergleichende Brückenschlag zu dem Leibnizischen Leitterminus der exigentia essentiae und zu dem sich im Vorstellen erstrebenden Aufgang in die perfectio. An diesem Punkt erfolgt die Rückübertragung der Vorstellung in den das systemische Ganze übergreifenden Willen. Heidegger begreift das Verhältnis zwischen dem Willen gehört zum Seienden selbst, sofern es ist. Die Existenz gehört zur essentia im alten Sinn. Existieren heißt nicht Verwirklichung, sondern Vollzug des Grundes, Grund-sein selbst.“  Heidegger, GA 42, S. 187.  Heidegger, GA 49, S. 100.  Heidegger, GA 49, S. 99 – 100. Vgl. Heidegger N II, S. 433.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

des Grundes und dem Willens des Verstandes als „Vor-stellendes Entfalten der Einheit des Mannigfaltigen und Gegensätzlichen → ‚Universum‘“.³⁶⁵ Unverkennbar ist es der Begriff des Willens, der die Zielrichtung und die Bewegtheit des Grundes sowie des Verstandes vorgibt und verdeutlicht. Im Rekurs auf diese willensförmig unterfütterte und vorangetriebene Universalisierung der Selbstrepräsentation kann Heidegger nochmals dafür optieren, dass Schelling den Grund und den Verstand nicht allein willensförmig beschreibt. Vielmehr werden der Grund und der Verstand durch die doppelte Vorschaltung des Willens dezidiert voluntativ bestimmt. Unbezweifelbar ist, dass Heidegger dergestalt das mit der Präponderanz des Willens verflochtene Narrativ der Vollendung der Metaphysik (als offenbarwerdende Versammlung ihrer ursprünglichen Destination) untermauert. Heidegger leitet den philosophischen Selbstanspruch der Systembegründung seinsgeschichtlich aus dem sich anbahnenden Wesen des Seins im Sinne des Willens zum Willen her. Weil Heidegger das System zugleich als Seinsweise des Seienden im Ganzen klassifiziert, kristallisiert sich eine brennende Frage heraus. Der Wille der Liebe benötigt offenkundig das System als Bezugsrahmen des Einheitsausweises. Doch verweigert sich nicht gerade der Wille zur Macht jeglichen Einbezuges in die Systemtopologie? Heidegger äußert sich dazu in zwei eindeutigen Passagen, denen ein wesentlicher Stellenwert hinsichtlich der Einordnung seiner Beurteilung Nietzsches zu Beginn der vierziger Jahre zukommt. Die erste Aufzeichnung gehört dem §19 (Die von Gott ausgehende Betrachtung) an. Sie lautet: Das Ende der Metaphysik im Sinne ihrer Vollendung kündigt sich damit an, a) daß die Philosophie ihren Namen ablegt, ‚absolutes Wissen‘ wird (deutscher Idealismus), b) daß sie auf das ‚System‘ verzichtet (Nietzsche); Wille zur Macht, ‚Organisation‘, ‚totale‘. Nietzsche ‚will‘ kein System, weil er sich im System aller möglichen Systeme (als Weisen der Bestandsicherung), in der Unbedingtheit des Willens zur Macht weiß. (Kierkegaard hier nicht zu nennen, weil er nicht in die Geschichte der Philosophie gehört und sein Kampf gegen das ‚System‘ einen anderen Sinn hat.).³⁶⁶

 Heidegger, GA 49, S. 100. In der ersten Fassung der Weltalter von 1811 unterstreicht Schelling denn auch die Unverzichtbarkeit einer Universalisierung und Vollendung des Schöpfungsprozesses und die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur anfänglichen Lauterkeit, die freilich als Überseiendes jenseits der mythologischen Theogonie persistiert. Vgl. Schelling, WA I, S. 98 – 99: „Das dritte endlich, daß der existierende Wille sein eigenes Leben (den Eigenwillen) ganz aufgäbe, ist nicht weniger unmöglich, denn er würde damit alles zurücknehmen und auch den Anfang aufheben. Es wäre ein völlig rückgängiger Prozeß. Aber alles Rückschreitende ist vom Argen, und nicht die Freyheit, zurückzunehmen, sondern die Kraft, das Angefangene durchzusetzen und bis zum Ende hinauszuführen, ist göttlicher Art.“  Heidegger, GA 49, S. 110.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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1936 hatte Heidegger noch die intellektuelle Redlichkeit und die unbestechliche Ernsthaftigkeit Nietzsches als Motive für dessen kompromisslose Zurückweisung des Systems nobilitiert. Im Jahre 1941 erscheint der Wille zur Macht als eine Art System der Systeme. Der Wille zur Macht steigt zum Supersystem auf. Dessen Hauptcharakteristikum ist es, den konträren Anschein vollkommener Unsystematisierbarkeit, Neutralität und Relativität zu erzielen. Indem er sich in die Suggestion einer Auslegungsfolie hüllt und die tradierten Systemformationen aufbricht, scheint der Wille zur Macht eine befreiende Wirkung zu besitzen. Nietzsches scharfe Ablehnung des Systems wird von Heidegger auf eine Systematik in der Macht zurückgeführt. Diese baut sich im Modus der maskenhaftentäuschenden Selbstzurücknahme zur auktorialen Souveränität und zur allumfassenden Eingriffsfähigkeit auf. In der zweiten Referenzstelle aus dem Anhang kommt diese fundamentale Kritik Heideggers in all ihrer Vehemenz zum Vorschein: Sein – Wirklichkeit – Wille und System Erst wenn Sein ins Wesen des Willens (exigentia) kommt, erscheint das ‚System‘ als sein Grundzug. Warum aber ‚der Wille zur Macht‘ gegen ‚das System‘? Weil er der Grund der Systematik jedes beliebigen Systems ist. […] Nietzsche verwirft das ‚System‘ im ‚kleinen‘ und äußerlichen Sinne der künstlichen gelehrtenhaft-stümperischen Zusammenstoppelung von Inhalten. Diese Verwerfung erfolgt deshalb, weil die ‚Macht‘ als Wille zur Macht im unbedingten Sinne systematisch ist, als das ‚System‘ aller möglichen Systeme, die dabei nur ‚Bedingungen‘ des Willens zur Macht selbst sind. Das Verfügenkönnen über Art und Einschaltung, über Dauernlassen und Rücknahme dieser ‚Systeme‘ ist die dem Willen zur Macht gemäße Systematik. Zu ihr gehört auch, nicht hervorzutreten, sondern so zu tun, als sei sie nicht.³⁶⁷

2.2.6 Die Verfasstheit des Willens als immanente Selbstzerspaltung des Wider-willens und als sich offenbarendes Vor-stellen Von der Intention der Abgrenzung geleitet, prolongiert Heidegger die monistischen Tendenzen der Metaphysik in die Diagnose einer lebensweltlich dominierenden Ausweglosigkeit der Herrschaft ihres Prinzipiengehalts. Selbst die in Schopenhauers Philosophie noch unterscheidbaren Pole des Willens und der Vorstellung werden von Heidegger fusioniert. Dies bekundet sich in den Abschnitten 5 und 6 des §17 (Übergang zur Auslegung des Kernstückes ³⁶⁸) anhand der Definition der inneren Struktur des Willens. Dass der widerwillige Wille des

 Heidegger, GA 49, S. 197.  Heidegger, GA 49, S. 96 ff.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Grundes sich verschließt, damit „immer ein Grund bleibe“³⁶⁹, wird von Heidegger nicht mehr einzig aus dem für die Bezeugung der Liebe notwendigen Wirkenlassen des Grundes hergeleitet. Diese erste Einbettungsoption eröffnet für Schelling zugleich einen Rechtfertigungsweg der Güte Gottes.³⁷⁰ 1936 akzentuierte

 Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 436.  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 374– 375: „Der Wille der Liebe und der Wille des Grundes sind zwei verschiedene Willen, deren jeder für sich ist; aber der Wille der Liebe kann dem Willen des Grundes nicht widerstehen, noch ihn aufheben, weil er sonst sich selbst widerstreben müßte. Denn der Grund muß wirken, damit die Liebe sein könne, und er muß unabhängig von ihr wirken, damit sie reell existiere. Wollte nun die Liebe den Willen des Grundes zerbrechen: so würde sie gegen sich selbst streiten, mit sich selbst uneins sein, und wäre nicht mehr die Liebe. Dieses Wirkenlassen des Grundes ist der einzig denkbare Begriff der Zulassung, welcher in der gewöhnlichen Beziehung auf den Menschen völlig unstatthaft ist. So kann freilich der Wille des Grundes auch die Liebe nicht zerbrechen, noch verlangt er dieses, ob es gleich oft so scheint; denn er muß, von der Liebe abgewandt, ein eigner und besonderer Wille sein, damit nun die Liebe, wenn sie dennoch durch ihn, wie das Licht durch die Finsternis hindurchbricht, in ihrer Allmacht erscheine. Der Grund ist nur ein Willen zur Offenbarung, aber eben, damit diese sei, muß er die Eigenheit und den Gegensatz hervorrufen. Der Wille der Liebe und der des Grundes werden also gerade dadurch Eins, daß sie geschieden sind und von Anbeginn jeder für sich wirkt. Daher der Wille des Grundes gleich in der ersten Schöpfung den Eigenwillen der Kreatur mit erregt, damit, wenn nun der Geist als der Wille der Liebe aufgeht, dieser ein Widerstrebendes finde, darin er sich verwirklichen könne.“ Dieser wahrscheinlich wichtigste Passus zum Verhältnis zwischen dem Willen der Liebe und dem Willen des Grundes versammelt zahlreiche der mannigfaltigen, von Heidegger diskutierten Möglichkeiten, die Relation der beiden Willen anzuvisieren. Zu Beginn des Zitates scheint es so, als entzöge Schelling den Willen des Grundes gänzlich dem Einflussbereich des Willens der Liebe und beließe diesen in einer Dimension der Unabhängigkeit. Auf den ersten Blick wird der Grund von Schelling (wie später in den Weltaltern) als Ermöglichungsbedingung der Entfaltung der Liebe begriffen, die sich in der Wendung gegen den Grund ihrer eigenen Wurzel berauben müsste. Gerade dadurch erweist sich der Verzicht der Liebe auf die Negation des Anderen jedoch nicht mehr als mühsamer Akt der Selbstüberwindung. Die vermeintliche Großmut der ernsthaften Würdigung der anderen Entität entpuppt sich als eine durchaus egoistische Handlung, die auf die Fortsetzung der eigenen Wirksamkeit abzielt. Anhand der Begründungsart, mit der Schelling umgekehrt die Liebe vor einer potenziellen Aufhebung durch den Grund schützt, zeichnet sich ab, dass Schelling die Präponderanz der als Offenbarungsakteur privilegierten und mit dem Prädikat der „Allmacht“ belegten Liebe im weiteren Verlauf ausweitet. Die gesamte, vermeintlich eigensüchtige Tätigkeit des Grundes beschränkt sich gewissermaßen selbst, indem sie sich der Ägide und der vorgegebenen Teleologie der Liebe je schon und von Anfang an untergeordnet hat und für diese arbeitet. Pointiert und kritisch gegen Schelling gewendet, enthüllt sich der Streit der Willen als Scheingefecht, das einzig zum Zwecke der „Verwirklichung“ der Liebe geführt wird. Durch Schellings gehäufte Wahl des Finalsatzes („damit die Liebe… in ihrer Allmacht erscheine“; „damit diese sei, muß er ein eigner und besonderer Wille sein“; „damit, wenn nun der Geist als der Wille der Liebe aufgeht, dieser ein Widerstrebendes finde, darin er sich verwirklichen könne“) wird dies nachdrücklich unterstrichen. Heideggers Interpretation, wonach Schelling den Willen der Liebe als unaufhebbares und allmächtiges Agens des Offenbarungs-

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

653

Heidegger im Rückbezug auf Schelling, dass der Wille des Grundes (unfreiwillig) an der Schöpfung beteiligt ist, gerade indem er als Stätte der Eigensucht dem Wirkungsfeld des Verstandes in immer höherem Grade zu entrinnen sucht. 1941 erschließt Heidegger das Motiv der Widerwendigkeit und der Eigenständigkeit des Grundes aus einer weiteren Perspektive. In diesem Blickwinkel verankert er den Widerwillen als notwendigen Konterpart innerhalb des Willenskomplexes. Den entsprechenden Beleg liefert die folgende Textstelle. Deren Relevanz wird auch dadurch angezeigt, dass Heidegger sie selbst kursiv setzt. Die Passage folgt direkt auf Heideggers Nennung des „Vor-stellenden Entfaltens“³⁷¹, das als Verhältnisbestimmung zwischen dem Willen des Grundes und dem Willen des Verstandes dechiffriert werden kann. Heidegger lenkt den Blick nun auf die Verfasstheit des Binnenhaushaltes sowie des Exterioritätsbezuges des Willens im Allgemeinen: Jeder Wille ist Wider-wille im Sinne eines Gegen-willens, d. h. Wille-gegen, Sucht. Wollen in sich gegenwendig. (Widerspruch).³⁷²

Die von Heidegger gewählte Formulierung „Jeder Wille“ lässt sich auch an dieser Stelle kaum als Plädoyer für eine Pluralisierung der Willen im Sinne moderner Nietzsche-Interpretationen lesen. Vielmehr referiert die Bestimmung des Widerwillens unmittelbar auf die „sehr reelle“³⁷³ Unterscheidung. Der Topos des Widerwillens bezieht sich also auf die willenskonstitutive Ausbildung einer Zweiheit, die sich in der Freiheitschrift aus dem Willen des Verstandes und dem Willen des Grundes zusammensetzt. Im ersten Druck der Weltalter manifestiert sich diese voluntative Duplikation in dem Gefüge des nichts wollenden Willens der Lauterkeit und des etwas wollenden Willens zur Existenz. Obwohl Heidegger in der obigen Fundamentalerfassung gleitende Übergänge konstruiert, kann das Charakteristikum des Wider-willens in drei Momente aufgefächert werden. Diese Aspekte unterstreichen die Ubiquität des Willens. Außerdem erweisen sie sich als

dranges konzipiert, ist vor diesem Hintergrund als zutreffend zu beurteilen. Es stellt sich jedoch die entscheidende Frage, ob die von Schelling geschilderte, zunehmende Sichtbarwerdung der göttlichen Güte (beziehungsweise des göttlichen Willens der Liebe) in Kosmos und Geschichte auf derselben Bewertungsebene wie die perennierende Selbstüberhöhung und technische Weltbemächtigung behandelt werden kann, die Heidegger ab 1940 zu den Grundattributen und Hauptvollzugsweisen des Willens zur Macht erhebt.  Heidegger, GA 49, S. 100.  Heidegger, GA 49, S. 100.  Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 408.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Konkretisierung der 1936 entworfenen Definition des Willens der Liebe als „Wille zum Entgegengesetzten“.³⁷⁴ Erstens benötigt der Wille zur Bestätigung seines Wesens stets eine opponierende Instanz, die ihrerseits nicht zwangsläufig willenhaft sein muss („Willegegen“). Zweitens kann die Immanenz der Gegenwendigkeit („Wollen ist in sich gegenwendig“) als Unumgänglichkeit der Selbsterzeugung eines antagonistischen Willens in diesem selbst erfasst werden. Durch diese Produktivität wird der Selbstbezug gestiftet beziehungsweise aus seiner Dunkelheit ausgefaltet. Die Notwendigkeit einer entwicklungsbefördernden Dyas widerwendiger und doch in eine Einheit zurückgebundener Willen stellt Schelling in der ersten Fassung der Weltalter hinsichtlich der Genese der Persönlichkeit Gottes luzide heraus. Aufgrund ihres immensen Aussagegehaltes sei diese Passage hier in ausführlicher Form wiedergegeben: Wenn jener zweyte, in der Lauterkeit des Wesens sich selbst erzeugende, Wille der Wille zur Existenz ist, und wenn mit dem Seyn Streben zur Offenbarung und zur Entwicklung kommt: so ist dieser andre Wille das erste Setzende der Möglichkeit einer Zeit; denn von der Wirklichkeit ist noch überall nicht die Frage. Dieser andre Wille aber ist in der Ewigkeit und schon darum ein seiner Natur nach ewiger Wille. Er ist, wie wir uns ausdrücken können, der Ewigkeit gleich der Existenz nach. Aber er ist verschieden von ihr [der Lauterkeit, J.K.] ja ihr entgegengesetzt durch die völlig andre Natur, schon darum, weil jene der Wille ist, der nichts will, dieser aber der bestimmte Wille, der Etwas will. Wenn die Ewigkeit in sich selbst nichts anderes ist, denn unendliches Ausquellen und Bejahen ihrer selbst; so muß jener andre Wille beziehungsweise auf sie einschränkender, zusammenziehender, verneinender Natur sein. Also erkennen wir zwey gleich ewige Willen, die der Natur nach verschieden ja entgegengesetzt sind, aber der Existenz nach Ein Wesen ausmachen. Alle sind darin einstimmig, daß die Gottheit ein Wesen aller Wesen, die reinste Liebe, unendliche Ausfließlichkeit und Mittheilsamkeit ist. Aber sie behaupten doch zugleich, daß die Gottheit als solche existire. Aber von sich selbst gelangt die Liebe nicht zum Seyn. Existenz ist Eigenheit, ist Absonderung; die Liebe aber ist das Nichts der Eigenheit, sie sucht nicht das ihre und kann darum auch von sich selbst nicht existirend seyn. Ebenso ein Wesen aller Wesen hat nichts, das es trägt und da es nicht an sich persönlich ist, so muß das besondere, persönliche Wesen, das wir Gott nennen, ihm erst einen Grund machen. Nur das Etwas ist der Träger des Nichts, das selbst nicht seyn kann. […] Denn diese [die Liebe, J.K.], die ihrer Natur nach unendlich ausbreitend ist, würde zerfließen und sich selbst verlieren ohne eine zusammenhaltende Kraft, die ihr Bestand gibt. Aber so wenig die Liebe existiren könnte ohne eine ihr widerstehende Kraft: so wenig diese ohne die Liebe. Wäre die Kraft der Eigenheit allein

 Vgl. Heidegger, GA 42, S. 223: „Der Geist als der Wille der Liebe ist der Wille zum Entgegengesetzten. Dieser Wille will den Willen des Grundes und will diesen Willen des Grundes als den Gegenwillen zum Willen des Verstandes. Der Geist als Liebe will die gegenwillige Einheit dieser beiden Willen.“

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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oder hätte sie auch nur das Übergewicht: so wäre entweder Nichts oder es wäre nur das ewig sich Verschließende und Verschlossene, in welchem nichts leben könnte…³⁷⁵

Schließlich lässt sich dieses Verhältnis jedoch auch noch dahingehend weiterdenken und forcieren, dass der Wille den Widerstand gegen sich selbst organisiert. In diese Richtung lassen sich die Verweise auf die Hegelschen Begriffe der Negativität und der Anerkennung deuten, die in der Vorlesung von 1941 zahlreich sind. Auf sie wird noch einzugehen sein. Heideggers Figuration des Willens zum Willen kann ebenfalls in diesen zweiten Sichtvermerk eingeordnet werden. Drittens kann in der Bedeutungserhellung des Gegen-willens eine sich in zwei Untervarianten verzweigende Mittelposition zwischen der reinen Opposition des Willens gegen eine andere Entität und der immanenten Polarität eingeschlagen werden. In der ersten Untervariante kann für eine hierarchische Relation zwischen zwei voneinander unterscheidbaren Willen plädiert werden. Diese kann entweder von Seiten eines innerhalb der Dualbeziehung aufbewahrten, privilegierten Willens geformt oder durch einen hinzutretenden, dritten Leitwillen übergriffen und strukturiert werden. Angesichts der gefügten Dreiheit des Willens des Grundes, des Verstandes und der übergeordneten Liebe kommt die letztgenannte Variante der Willenskonzeption der Freiheitsschrift wohl am nächsten.³⁷⁶ Im Hinblick auf

 Vgl. Schelling, WA I, S. 33 – 34.  So referiert und konstatiert Heidegger in der Schelling-Vorlesung von 1936 (im Rahmen des Kapitels Die Rechtfertigung der Gottheit des Gottes angesichts des Bösen) unmissverständlich die Überlegenheit des explizit als sich selbst liebenden und wollenden beschriebenen und als „Wesen des Seyns überhaupt“ ausgezeichneten Willens der Liebe gegenüber dem Willen des Grundes. Dieser wird einerseits von Gott erst in Tätigkeit gesetzt und fungiert andererseits als Bereitstellungsinstanz für die (qua Hervortreten des Absoluten) erforderliche, von der Liebe zu einigende und überwindende Widerstandskraft.Vgl. Heidegger, GA 42, S. 277: „Gott läßt den gegenstrebigen Willen des Grundes wirken, damit jenes sei, was die Liebe einige und sich zur Verherrlichung des Absoluten unterordne. Der Wille der Liebe steht über dem Willen des Grundes, und dieses Überwiegen, die ewige Entschiedenheit dazu, also die Liebe zu sich selbst als Wesen des Seyns überhaupt; diese Entschiedenheit ist der innerste Kern der absoluten Freiheit. Auf dem Grunde dieser absoluten Freiheit ist das Böse metaphysisch notwendig. Das Böse könnte daher nur unter einer metaphysischen Bedingung nicht sein, wenn nämlich das Absolute selbst nicht sein müßte. Es muß aber sein, sofern überhaupt Seiendes ist.“ Heidegger bezieht sich hier auf die Stelle: Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 403. Dort unterstreicht Schelling, dass die Liebe das „wenigstens begleitungsweise“ aus ihrer Selbstoffenbarung folgende Böse zulassen musste, weil sie andernfalls überhaupt nicht hätte sein können und damit als das „absolut-Positive“ und „Ewige“ dem „bloß Zeitlichen“ – d. h. dem Gegensatz und dem Bösen – geopfert worden wäre. Abermals manifestiert sich hier die Unhintergehbarkeit einer teleologischen Verwirklichung des Willens der Liebe. Schelling sichert den Supremat des Willens der Liebe mit Hilfe der Kriterien des Be-

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

die zweite, mögliche Untervariante ist nicht zu vergessen, dass Schelling allerdings auch eine Konstellationsbestimmung zweier gleichmächtiger Willen kennt, die sich in der Konfrontation mit ihrem jeweiligen Gegenwillen konturieren.³⁷⁷

wusstseins, der produktiven Tätigkeit und der Freiheit, während dem Willen des Grundes die untergeordneten Attribute des Dranges und des Ahnens zugesprochen werden. Vgl. Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 395 – 396: „Der erste Anfang zur Schöpfung ist die Sehnsucht des Einen, sich selbst zu gebären, oder der Wille des Grundes. Der zweite ist der Wille der Liebe, wodurch das Wort in die Natur ausgesprochen wird und durch den Gott sich erst persönlich macht. Der Wille des Grundes kann daher nicht frei sein in dem Sinne, in welchem es der Wille der Liebe ist. Er ist kein bewußter oder mit Reflexion verbundener Wille, obgleich auch kein völlig bewußtloser, der nach blinder mechanischer Notwendigkeit sich bewegte, sondern mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust, und am ehesten dem schönen Drang einer werdenden Natur vergleichbar, die sich zu entfalten strebt, und deren innere Bewegungen unwillkürlich sind (nicht unterlassen werden können), ohne daß sie doch sich in ihnen gezwungen fühlte. Schlechthin freier Wille und bewußter Wille aber ist der Wille der Liebe, eben weil er dies ist; die aus ihm folgende Offenbarung ist Handlung und Tat.“ Auch in den Weltaltern perpetuiert sich diese Verhältnisbestimmung, indem der andere, etwas wollende Wille als „Grund der Existenz“ der Liebe begriffen und als „beziehungsweise Nichtseyendes“, als Vehikel für die Äußerung der mit der Liebe assoziierten Wahrheit depotenziert wird. Vgl. Schelling, WA I, S. 35 – 36: „Die Liebe erscheint als das wahre Wesen; obgleich von sich selbst nicht seyend, ist sie doch im Gegensatz mit der andern Kraft das allein eigentlich Seyende, diese dagegen verhält sich nur als Grund ihrer Existenz, als das, was nicht selber noch um sein selbst willen ist, sondern nur ist, damit die Liebe als das wahre Wesen seyn könne; also als ein beziehungsweise Nichtseyendes.“  Im Weltalter-Druck von 1811 unterstreicht Schelling (im Unterschied zu der in der vorherigen Fußnote zitierten Passage aus ebenjener Fassung der Weltalter, S. 35 – 36, in der sich unbestreitbar der Vorrang der Liebe bekundet) die Notwendigkeit zweier für sich unabhängig und doch (zumindest anfänglich mit ausgeglichener Kraft) gegeneinander wirkender Willen. In deren Streit werden die ersten Gestalten der Schöpfungsordnung freigesetzt, die in eine sukzessive, teleologisch verfasste Vergeistigung der Natur eingebunden sind. Während in der Freiheitsschrift die kontrahierende Kraft durch den Willen des Grundes repräsentiert wird, so tritt an dem entsprechenden systematischen Ort der Weltalter der Wille des Zorns an dessen Position. Der aus der Freiheitsschrift bekannte Wille des Verstandes, der auf die Ausweitung, Lichtung und Scheidung des Grundhaften abzielt, wird in den Weltaltern durch den Willen der Liebe abgelöst. Dergestalt bezeugt sich erneut die Ambiguität des Willens der Liebe in Schellings Weltalterphilosophie. In der folgenden Passage wird der Wille der Liebe nicht als ursprüngliches Movens gegenüber dem Willen des Zorns / der Existenz priorisiert. Stattdessen werden beide Willen auf einer paritätischen Ebene angesiedelt. Vgl. Schelling, WA I, S. 65: „Durch das Auseinandergehen der Kräfte im Seyn werden sie frey und es entsteht hieraus das erste eigne Leben im Objektiven. Dieses erste, sich selbst bewegende Leben ist die uranfängliche ewige Natur von Gott, die immer ausgesprochen, immer wieder zurückgenommen wird, und nur in diesem beständigen Wechsel des Ausund Einathmens ein Leben hat. Indem nämlich der Wille der Liebe das eigene Leben im Seyn hervorruft und die Kräfte scheidet, verliert so zu sagen der andre Wille, der Wille des Zorns, sein Recht an das Seyn, und die Freyheit geht in der Scheidung als ein Blitz auf; wenn aber der andre Wille die Kräfte aus der Flucht zurückruft, verliert die Liebe ihr Recht an beyde und wird der offne

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Wenn die dualistische Konstitutionsart für jeden Willen gilt, vollzieht sie sich im Willen des Grundes wie auch in dem Willen des Verstandes als unumgängliche Evokation des jeweils Anderen, wobei sich die wechselseitige Gewährung des widerwendigen Willensstatus einer oberflächlichen Betrachtung als unversöhnlicher Konflikt darbietet. Weil diese Differenzierung aus dem allgemeinen Wesen des Willens entspringt, in dessen Kern die Notwendigkeit der Unterscheidung eingeschrieben ist, befolgen der Grund und das Existierende als archetypischprimäre Willensmomente automatisch den Modus, den ihnen der Wesenswille dekretiert. Im Wesenswillen, der als Versinnbildlichung, Anzeige und Ermöglichungsbedingung der in jedem Willen anzutreffenden Strukturform verstanden werden kann, verschiebt sich die Bedeutung der Widerwilligkeit. Die höhere, apriorische Ebene der Widerwilligkeit und Gegenwendigkeit manifestiert sich in der Freigabe der Möglichkeit der Unterscheidung, die nur in ihrer Wurzel geschehen kann und deswegen je schon in der der allumfassenden Einheit des Willens zum Austrag gekommen ist. Auf die Herleitung der Immanenz des Widerwillens inmitten des systembildenden Einheitswillens folgend, erweitert Heidegger die Illustration des voluntativen Begriffsbestandes durch die Eingliederung des Vor-stellens in den Willen. Vor diesem Hintergrund verändert sich Heideggers Modell eines Endes der Metaphysik. In dem Text Der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr (1939) wurde die Vollendung der Metaphysik über die philosophische Einlösung der grundlegenden Definition des Menschen als animal rationale erschlossen, die nach Heidegger auf zwei verschiedenen Leitbahnen erbracht wurde. Zum einen von Hegel, der die Vernunftseite der rationalitas in der Absolutheit des sich denkenden Denkens zu ihrem Gipfel geführt habe; zum anderen von Nietzsche, der das Paradigma der animalitas in dem „ego volo“ beschlossen habe.³⁷⁸ Von dieser dualistischen Perspektivierung eines sich-vorstellenden Denkens auf der einen Seite und einer enthemmten Affektivität des Willens auf der anderen Seite rückt Heidegger im Jahre 1941 eindeutig ab. Die These einer geschichtlich auf die zentrale Wesensdefinition des Menschen zulaufenden Zweiseitigkeit der neuzeitlichen Metaphysik muss insofern als wenig überzeugendes Zwischenspiel beurteilt werden, als Heidegger bereits in der ersten Schelling-Vorlesung und

Punkt wieder verschlossen. […] Expansion ist Vergeistigung, Contraction ist Verkörperung. Also kommt auch die Materie in diesem Moment um einen Schritt näher zu ihrer endlichen Gestaltung. Denn in dem ersten Zustand stiller Beschaulichkeit, wo das Seyn mit dem Seyenden Eins ist, war kein Widerstreit beyder Eigenschaften; das Leibliche war geistig und das Geistige leiblich.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 16. Zur Kritik dieser Konzeption einer zweigleisigen Vollendung der Subjektivität und zum Verhältnis zwischen dem Willen zur Macht und dem Geist bei Nietzsche vgl. Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1992, S. 88 f.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

tendenziell auch in der ersten Nietzsche-Vorlesung auf die Vereinigung beider Pole abzielte und eine biologistische Lesart Nietzsches vehement und stichhaltig kritisiert hatte. Der nun zitierte Passus kann diesbezüglich als herausragendes Dokument für die Aufhebung beider Elemente im Wesen der Subjektivität beurteilt werden. Heidegger substituiert die Differenz von Willen- und Vorstellungslinie durch die chiastische Konstruktion eines bidirektionalen Merkmalsaustausches: Im Vor-stellen liegt: 1. über sich hinaus ‚streben‘ (Negativität), 2. Unterscheiden – ‚Scheiden‘ – Negativität (Umschlag), 3. ‚Werden‘ (nicht als ‚Nacheinander‘ und ‚Tätigkeit‘, sondern im Wesen; von-zu, Umschlag, Übergang), 4. zu sich selbst bringen – sich vorstellen – offenbaren. Alle vier Bestimmungen in eins mit dem repraesentare der Einheit (Anwesung des Mannigfaltigen in der Versammeltheit) umgrenzen das Wesen des ‚Wollens‘. Daher Wollen als Titel der neuzeitlichen Auslegung des Seins im Sinne der existentia.³⁷⁹

Schopenhauers Weltauslegungsverbindung von Wille und Vorstellung wandelt sich demnach bei Heidegger zu ihrer Gleichsetzung: Der Wille ist Vorstellung (im Sinne des Vor-stellens). Die Zusammenschau der vier Aspekte des Vor-stellens gewährt einen Einblick in die von Heidegger entwickelte Vollzugsgestalt des Willens. Im strebenden Über-sich-hinaus-gehen (1) unterscheidet sich der Wille von sich selbst (2), um in dieser Scheidung den Übergang (3) zu sich selbst zu vollziehen, den er in dem Vor-stellen seiner selbst zu sich bringt (4), sichert und in der einbeziehenden Versammlung des Mannigfaltigen abschließt. Das Vor-stellen, das sich in seinem tradierten Bedeutungsbestand am ehesten unter Punkt 4) wiedererkennen lässt, garantiert die Reflexivität im Willen, während der Wille die Selbstüberschreitung des Vor-stellens vorantreibt. Dies kommt besonders in der aus den Nietzsche-Vorlesungen vertrauten Annäherung des Willens an das Werden unter Punkt 3) zum Ausdruck. Das Werden wird zwar auch hier nicht als Sukzession verstanden. Neuartig ist jedoch, dass Heidegger es nun als einen im Wesen stattfindenden Umschlag von einer Instanz in die andere begreift. Heideggers Einführung des Umschlagstheorems lässt sich als übergangserklärende Reaktion auf die von Schelling proponierte Relationalität der Willen interpretieren, die nach Heidegger in der Gesetzmäßigkeit der voluntativen Seiendheit überhaupt hinterlegt ist. Zudem ist die Thematik eines unumgänglichen Überganges eng mit der von Heidegger markierten, „vor-stellenden Entfaltung“³⁸⁰ als interner Verlaufsform des Willens verflochten.

 Heidegger, GA 49, S. 100 – 101.  Heidegger, GA 49, S. 101.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Heidegger denkt die vier Vorstellungsarten, das „repraesentare der Einheit“³⁸¹ und die „Anwesung des Mannigfaltigen in der Versammeltheit“³⁸² zusammen. Indem er diese Modi des willenhaften Selbstgewahrwerdens in der „neuzeitlichen Auslegung des Seins im Sinne der existentia“³⁸³ vereinigt, weitet er die im Medium der Vorstellung ausgetragene Dynamik des Willens zur allgemeinen Prozessualität und Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit in der Endphase der Metaphysik aus. Der dritte Punkt kann auf den Einfluss der Freiheitsschrift zurückgeführt werden. Das unter Punkt 4) angesiedelte Offenbarwerden mitsamt der Autorepräsentation apostrophiert die auch in anderen Werken Heideggers auftauchende, bekannte Entfaltungsweise der Subjektivität. Hingegen bekundet sich in dem unter 2) artikulierten Vergleich der Unterscheidung mit der Negativität die verschärfte Auseinandersetzung mit Hegel zu Anfang der 1940er-Jahre. Da Heidegger die Hegelschen Kerntheoreme der Negativität und der Anerkennung in die Schellingsche Willensstellung einverwandelt, erscheint es sinnvoll, in diesem Kontext die „Zwischenbetrachtung über Hegel“³⁸⁴ einzubeziehen. Diese befindet sich im Anhang der zweiten Schelling-Vorlesung.

2.2.7 Negativität und Anerkennung: Zum Einbezug Hegelscher Motive in Heideggers Willensbegriff Schon früher, nämlich im Stück Nr. 8 (Hegel – Schelling – Nietzsche) aus dem §17, wird Hegel als Denker des „Willens des Wissen (Anerkennens) – (Begierde)“³⁸⁵ begriffen. Dass Hegel selbst zum Willensmetaphysiker transformiert wird, beruht insofern auf einer stringenten Prämisse, als Heidegger dem Willen die präeminente Position eines Vollendungsprinzips der abendländischen Metaphysik zuspricht. Folglich trachtet er auch die Geistmetaphysik des absoluten Idealismus in das Willensparadigma einzuhegen.³⁸⁶ Die Grundfrage bezüglich der Negativität

 Heidegger, GA 49, S. 101  Heidegger, GA 49, S. 101.  Heidegger, GA 49, S. 101.  Heidegger, GA 49, S. 174– 186.  Heidegger, GA 49, S. 102.  Dietmar Köhler hebt die Bedeutungsverschiebung in Heideggers Positionierung gegenüber Hegel deutlich hervor. Vgl. Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 184: „Neben den aufgewiesenen kontinuierlichen Merkmalen beider Schelling-Interpretationen zeigen sich jedoch bereits in der Einschätzung der Rolle Hegels, dessen Kritik an Schelling 1936 noch schroff zurückgewiesen wird, während er 1941 gleichrangig an die Seite Schellings tritt, stellenweise sogar die ausgefeiltere Methodik und Systematik für sich beanspruchen kann, deutliche Unterschiede.“ Dass Heidegger sich nach 1936 verstärkt mit Hegel im Allgemeinen und mit der Figur der Negativität im Beson-

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stellt sich Heidegger in einem Zwischenabschnitt, der bezeichnenderweise mit dem Titel Negativität (Hegel – Schelling) überschrieben ist. Ist die Negativität im „Vor-stellen als solchem“³⁸⁷ fundiert und diesem inhärent (dies ist nach Heidegger offenkundig der Hegelsche Ansatz) oder empfängt die Negativität ihr Wesen aus einer Unterscheidung, die wiederum in einem „anfänglichen Gegen-satz“³⁸⁸ verwurzelt ist (dies ist nach Heidegger die Schellingsche Auffassung)? Anders formuliert: Kommt erst im Vor-stellen die Negativität zum Vorschein oder waltet diese als Scheidungskraft in der Unterscheidung von Grund und Existierendem, Willen des Grundes und des Verstandes? Heideggers ausführliche Beschreibung der Negativität kann in diesem Zusammenhang als Aufklärungshilfe beurteilt werden, die beiden Deutungsoptionen Recht gibt und sie inhaltlich konkretisiert: Negativität Als das unterschiedene Unterscheiden ist sie das sich-vorstellende Vorstellen.Vor-stellen und (Sich‐)unterscheiden; Vor-stellen, Bewußtsein, Wissen, sichwissendes Wissen, reine Negativität sind das-selbe. Dennoch: Wie kommt im Wesen des Vor-stellens gerade das Unterscheiden […] in den Vorrang? (Als Sich-darstellen; Erscheinen) Weshalb wird das Unterscheiden als ‚Negation‘ gefaßt? Weil das ‚Nein‘ in sich den Zwischen- und Übergangscharakter hat; das ‚Ja‘ ist das einfache Verbleiben. ‚Nein‘ ist weg von als hin zu, die Energie der

deren auseinandergesetzt hat, äußert sich besonders in der Gestalt der zwischen 1938 und 1942 entstandenen Abhandlungen, die im Band Nr. 68 der Heidegger-Gesamtausgabe versammelt sind. Vgl. Heidegger, Hegel. 1. Die Negativität (1938/1939). 2. Erläuterungen der „Einleitung“ zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“ (1942), GA 68, hrsg. von Ingrid Schüßler, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2009. Zur Gegenüberstellung der in der Vorlesung zu Hegels Phänomenologie des Geistes (WS 1930/31) projektierten Ontochronie als Alternative zur Ontotheologie und zu der von Heidegger stipulierten Fundamentaldifferenz zwischen dem Sein als Endlichkeit und dem Sein als Unendlichkeit vgl. Eugenio Mazzarella, Heidegger und Hegel: Die Vorlesung zur Phänomenologie des Geistes (1930/31), in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 141– 154. In seinem leitmotivorientierten Nachvollzug des Vorlesungsganges entfaltet Mazzarella die wesentlichen Hauptkritikpunkte Heideggers an Hegel. Diese sieht Mazzarella in den Momenten des Selbstgenusses des absoluten Geistes, der Tilgung der Zeit durch den Begriff, der „egologischen Deklination der griechischen Onto-theologie“ (Mazzarella, Heidegger und Hegel, S. 144) sowie in der bewusstseinsimmanenten, im Insichgehen arrangierten Aufhebung der Entäußerung zugunsten des „restlosen Erscheinens des Geistes vor sich selbst“ (Mazzarella, Heidegger und Hegel, S. 150) zentriert. In der Hegel zugeschriebenen Rückführung des äußeren „Geschehens des Zeit-Raums“ in das „Selbst als der wahren Unendlichkeit“ (Mazzarella, Heidegger und Hegel, S. 148) manifestiert sich für Mazzarella nicht nur ein unüberbrückbarer Gegensatz zu Heideggers Denken. In der Gestalt der Hegelschen „onto-theo-ego-logischen Erfüllung“ (Mazzarella, Heidegger und Hegel, S. 144) bekunde sich auch die „ontologische Solidarität, die die abendländische Philosophie von Parmenides bis Hegel“ (Mazzarella, Heidegger und Hegel, S. 153) verknüpfe.  Heidegger, GA 49, S. 182.  Heidegger, GA 49, S. 182.

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Bewegung, des Werdens. Aber woher das ‚Nein‘ – in solcher Rolle? Wohin ist damit (im Bereich des unbedingten Vorstellens) alles gebracht? Negativität und Un-bedingtheit; das Un- als Weg des Bedingten; das Weg-schaffen, Hintersichbringen und doch Auf-heben; die ‚Arbeit‘ innerhalb des schlechthin gesicherten Absoluten.³⁸⁹

Das sich-vorstellende Vorstellen impliziert ein Sich-Unterscheiden des Einen innerhalb der Selbigkeit von Vorstellendem und Vorgestelltem. Insofern dieser Vorgang einer sich dialektisch von sich selbst abhebenden Zusammenfügung für die Konstitution des (Selbst)-Bewusstseins unabdingbar ist, kann Heidegger behaupten, dass Vor-stellen, Bewusstsein und Negativität im Hinblick auf den Primat des Unter-scheidens „das-selbe“ seien. Die These erscheint berechtigt, dass der an Hegel gemahnende Topos eines Ausgreifens in die Weite und die in sich zurückkehrende Selbstkontraktion des Sich-zu-sich-zusammenschließens³⁹⁰ in der Synthese mit der willensimmanenten Gegenwendigkeit für die Werdebewegtheit der gesamten Heideggerschen Spätkonzeption des Willens charakteristisch ist. In Rückbezug auf die Subsummation der vier Komponenten des Vorstellens unter den Willen verdient der von Heidegger exponierte Zwischencharakter des „Nein“ eine besondere Beachtung. Die vorstellende Rückbeugung auf das eigene Wesen muss eine Differenz zu sich selbst erwirken, um sich in dem Unterschiedenen selbst zu erkennen. In diesem Vorgang vollzieht sich also kein Verlassen, Verlust oder Entgleiten des die Identifizierung Fordernden. Stattdessen nimmt es sich selbst bewusst in das Andere hinein, in das es als dasselbe übergeht, nachdem es zuvor über sich hinausgegangen ist.³⁹¹ Dies gilt für das Vor-stellen wie auch für den Willen. Es wird nun deutlich, weswegen Heidegger das Vor-stellen mit dem sich transzendierenden Streben (1), mit dem Umschlag (2) und dem Übergang (3) verbinden und es auf diese Weise dynamisieren konnte. Heidegger trägt dem Faktum Rechnung, dass der Wille weder von Schelling noch von Nietzsche als reine Beständigkeit, als „Ja“ im Sinne des „einfachen

 Heidegger, GA 49, S. 182.  Zur Aufbewahrung aller früheren Bewusstseinsgestalten in der Er-innerung des absoluten Geistes vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 590 – 591.  Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 54: „Aber diese Sichselbstgleichheit ist ebenso Negativität; dadurch geht jenes feste Dasein in seine Auflösung über. Die Bestimmtheit scheint zuerst es nur dadurch zu sein, daß sie sich auf Anderes bezieht, und ihre Bewegung [scheint] ihr durch eine fremde Gewalt angetan zu werden; aber daß sie ihr Anderssein selbst an ihr hat und Selbstbewegung ist, dies ist eben in jener Einfachheit des Denkens selbst enthalten; denn diese ist der sich selbst bewegende und unterscheidende Gedanke und die eigene Innerlichkeit, der reine Begriff. So ist also die Verständigkeit ein Werden, und als dies Werden ist sie Vernünftigkeit.“

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Verbleibens“ konzipiert wurde.³⁹² Die Negativität ergibt sich bei Schelling als das „Zwischen des Willens, der als Wille in sich […] zwiespältig ist“.³⁹³ Dabei ist es die

 Für Wolfgang Wieland bildet die beständige Selbstüberschreitung den Hauptzug der Liebe. Dabei ist frappierend, wie nahe er Heideggers Interpretation des Willens zur Macht kommt. Der Wille zur Macht ist nach Heidegger ebenfalls dadurch charakterisiert, allein in der Überhöhung er selbst bleiben zu können. Wieland beurteilt die Liebe und damit auch die Erfahrung des endlosen Sichscheidens nicht nur als Vollzugsform menschlicher Freiheit. Er sieht die Liebe insgesamt in einem gänzlich positiven Licht. Gerade an dieser Stelle wäre allerdings mit Schelling, dem Heidegger nach der Kehre und partiell auch mit Camus zu fragen, ob Wielands definitive Verpflichtung eigentlicher Zeitlichkeit und Existenz auf ein unaufhörliches Transzendierungsgeschehen in Wahrheit nicht als Erweis höchster Unfreiheit, Absurdität, Ruhelosigkeit sowie als Garant ewig zielloser Unbefriedigtheit bewertet werden muss. An dieser Stelle zeigt sich erneut, dass Wielands Ausklammerung einer maßstäblichen Ewigkeit in eine Alternativlosigkeit der Selbstüberwindung einmündet, die keinen Raum für Formen der Gelassenheit lässt.Vgl.Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 58 – 59: „An der Erfahrung der Liebe zeigt sich am deutlichsten, wie der Mensch in allem Über-sich-hinaus-sein dennoch bei sich selbst ist. […] So darf Liebe niemals als beharrender ‚Zustand‚ aufgefaßt werden. Dies würde dem Sinn von Gegenwart und Gegenwärtigkeit widersprechen. Liebe ist nur im immer erneuten Überstieg über sich selbst. Sie ist eine Weise menschlicher Freiheit. Gerade weil es zum Wesen dieser Freiheit gehört, immer von sich selbst abfallen zu können, kann Liebe niemals im Sich-überstiegen-haben oder im Sich-imanderen-gefunden-haben gesehen werden, sondern immer nur im jeweiligen aktuellen Überstieg selbst. Das ‚Ziel‚ dieses Überstieges ist nichts anderes als das fortwährende Geschehen des Übersteigens selbst.“  Heidegger, GA 49, S. 182. Im Humanismus-Brief erschließt Heidegger die bei Hegel und Schelling reüssierende Negativität aus der Nichtung des Seins. Räumt er in der Schelling-Vorlesung von 1941 partiell ein, dass der Wille der Liebe nichts für sich wolle, wird die Unbedingtheit des Sich-selbst-wollens der Liebe im Jahre 1946 nicht mehr in Zweifel gezogen. Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Heidegger, Wegmarken, GA 9, S. 360: „Das Sein nichtet – als das Sein. Deshalb erscheint im absoluten Idealismus bei Hegel und Schelling das Nicht als die Negativität der Negation im Wesen des Seins. Dieses aber ist dort im Sinne der absoluten Wirklichkeit als der unbedingte Wille gedacht, der sich selbst will, und zwar als der Wille des Wissens und der Liebe. In diesem Willen verbirgt sich noch das Sein als der Wille zur Macht.“ So wie Heidegger an dieser Stelle von einer Verborgenheit des Willens zur Macht in den geschichtlich vorgängigen Willensgestalten spricht, grenzt auch Köhler den Willen der Liebe noch von der späteren Willensmetaphysik ab. Vgl. Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 185: „Was hier von Heidegger nur mit einigen metaphorischen Wendungen angedeutet wird, mag durch die Akzentverschiebung in der Auffassung der Freiheitsschrift als ‚Metaphysik des Bösen‘ 1936 und als ‚Metaphysik des Willens‘ 1941 konkretere Gestalt gewinnen: War eine ‚Metaphysik des Bösen‘ noch insofern ‚unproblematisch‘, als sie das Böse als conditio sine qua non des Guten ausdrücklich thematisierte und mit dem Theodizeeproblem auch die Frage nach Gewissen, Schuld, Negativität diskutierte, so ist dies bei der Willensmetaphysik – zumal in ihrer nietzscheanischen Ausprägung, vor allem in der zeitgenössischen Berufung auf Nietzsche – kaum mehr der Fall. Zwar ist für Schelling noch der Wille der Liebe ausschlaggebend, der den Grund gewähren lässt und das Böse überwindet, und dies wird von Heidegger auch ausdrücklich so anerkannt. Die Fortsetzung der

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von Heidegger als Einheit gefasste Liebe, welche die Gegenwendigkeit des Willens des Grundes gegenüber dem Willen des Verstandes hervorruft. Gleichwohl schließt Heidegger in der Anmerkung zur Negativität eine Kreisbewegung nicht aus, weil das Zwischenstadium des „weg von als hin zu“ offenkundig innerhalb des Sich-Vorstellens in sich selbst zurückläuft beziehungsweise als dessen permanent aufrechtzuerhaltende Ermöglichung fungiert.³⁹⁴ Wesentlich für Heideggers durchaus synkretistisches Verständnis des Willens ist des Weiteren die Annäherung von Negativität und Un-bedingtheit. Das Un- wird zum Vehikel und Ziel der „bauend-ausscheidend-vernichtenden“ Kraft im Absoluten. Die Formulierung „Weg des Bedingten“³⁹⁵ ist in sich doppeldeutig. Zum einen weist sie darauf hin, dass das Un-bedingte durch die Negativität – d. h. durch die Anbringung des in jedes Bedingte einzutragenden Überganges – dieses als Entgegenstehendes und Bedingtes hinwegnimmt und zu sich als Unbedingtem aufhebt.³⁹⁶ Zum anderen gerät das Bedingte dabei in jene Verlaufsrichtung, jenen Weg, der es von seinem eigenen, hinter sich gelassenen Status als Bedingtem hinweg in das Unbedingte führt. Maßgeblich ist, dass im Einschlagen dieser Wesenseinlösung nur der Schein einer Tilgung eines ebenbürtig Widerstreitenden gewährt wird. In Wahrheit affirmiert sich in diesem Vorgang das „schlechthin gesicherte Absolute“³⁹⁷, das ihn in sich stattfinden lässt. Im Hegelschen Absoluten sieht

Willensmetaphysik führt jedoch nach Heidegger unweigerlich zur Bemächtigung alles Seienden, zum Willen zur Naturbeherrschung durch die modernen Naturwissenschaften und durch die Technik, aber auch zum Willen zur Macht im Sinne Nietzsches.“ Insgesamt würdigt Köhler die Schelling-Vorlesungen Heideggers als Schlüsseldokumente, die eine immense „Bedeutung im Kontext des Heideggerschen Denkweges“ (Köhler, Kontinuität und Wandel, S. 187) besitzen.  Vgl. zu Hegels Abgrenzung des Kreises gegenüber dem Progress einer schlechten Unendlichkeit: Hegel, Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik, Werke 5, S. 164: „Das Unwahre ist das Unerreichbare; und es ist einzusehen, daß solches Unendliche das Unwahre ist. – Das Bild des Progresses ins Unendliche ist die gerade Linie, an deren beiden Grenzen nur das Unendliche [ist] und immer nur ist, wo sie – und sie ist Dasein – nicht ist, und die zu ihrem Nichtdasein, d. h. ins Unbestimmte hinausgeht; als wahrhafte Unendlichkeit, in sich zurückgebogen, wird deren Bild der Kreis, die sich erreicht habende Linie, die geschlossen und ganz gegenwärtig ist, ohne Anfangspunkt und Ende.“  Heidegger, GA 49, S. 182.  Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik, S. 113: „Was sich aufhebt, wird dadurch nicht zu Nichts. Nichts ist das Unmittelbare; ein Aufgehobenes dagegen ist ein Vermitteltes, es ist das Nichtseiende, aber als Resultat, das von einem Sein ausgegangen ist; es hat daher die Bestimmtheit, aus der es herkommt, noch an sich.“  Heidegger, GA 49, S. 182.

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Heidegger damit im Grunde die gleiche Forcierung des Einheitswillens³⁹⁸ wie in Schellings Liebe. Hegel entfaltet in verschiedene Negationsstadien, was Schelling  Felix Duque adaptiert und verschärft Heideggers Hegel-Kritik. Vgl. Felix Duque, Das Ende aller Dinge und der Wink des letzten Gottes. Heideggers Konzeption der Seinsgeschichte im Ausgang von Kant und Hegel, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 155 – 171. Duque stilisiert das Hegelsche Philosophem einer Selbstvermittlung des Seins als absoluter Idee einerseits zur Signatur der technischen Moderne und begreift die vermeintlich keinerlei Offenheit und Abgründigkeit mehr zulassende Versöhnung von Logischem und Geschichtlichem andererseits als letztgültigen „Triumph der Identität“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 165) über das Weltlich-Unmittelbare. In diesem Triumph sei es der nunmehr allein mit sich selbst interagierenden, sich als Grund ihrer selbst wissenden Vernunft schließlich gelungen, ihre mit Platons Ansetzung der Idee beginnende und sich in Kants Hochschätzung der „reinen“ Formalität fortsetzende Aversion gegenüber allem Körperlichen, Naturhaften und Endlichem systematisch zu legitimieren (vgl. Duque, Das Ende aller Dinge, S. 167– 168). In diesem Zuge situiert Duque Heidegger und Hegel in einem antagonistischen Verhältnis, wobei ostensibel ist, dass er mit den jeweiligen Positionen Heideggers sympathisiert. So stellt er dem Motiv des Vorbeiganges des letzten Gottes, der die Kontingenz des „Zwischen“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 171), die Ereignismöglichkeit des Unerwarteten, den Einbruch des Anderen in die Geschichte und damit die Zukunft überhaupt offenhalte, das wiederholte Kreisen der absoluten Idee gegenüber. Das Kreisen der Idee habe sich immer wieder abgerundet und trage dafür Sorge, dass alles „schon beendet sei“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 166). Der permanenten Aufhebung der Zeit in den Begriff entspreche die urplatonische Sehnsucht, „ein für allemal die Zeit zu einem endgültigen Ende zu bringen“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 165). In dieser iterierenden Tilgungsbewegung, in der sich die Idee immer wieder mit dem Ausgegliederten ihrer selbst zusammenfüge, werde „die Zeit zu einem schlechten, langweiligen Sichbehaupten und zugleich zur jeweiligen Verneinung jedes Jetztpunktes herabgesetzt“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 165) sodass in der Wissenschaft der Logik das „schlechteste von Nietzsches Wiederkehr schon bei Hegel insgeheim listig hineingesteckt“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 167) sei. Der absoluten Gewißheit, die „das Seiende im Ganzen zu einem bloßen Mittel der Realisierung“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 164) der Versöhnung mit sich selbst funktionalisiere, opponiert Duque das überallhin offene, abgründige Seyn. Als „Verweigerung jeder Abgeschlossenheit und Selbstbezüglichkeit“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 164) und als „Ver-sagung des Grundes“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 161) bedeute dieses weder die ewige Ruhe einer kompakten Positivität noch die verflüchtigende Bewegung der Vergänglichkeit, sondern entberge sich als „die Transitivität beider“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 164). In dieser Transitivität erlaube das Seyn dem Menschen den Sprung in eine Gegend jenseits der „Substanz der Welt“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 165) und jenseits der „geistigen Wahrheit der Geschichte“ (Duque, Das Ende aller Dinge, S. 165). Freilich ist die von Duque in paradigmatischer, ja stereotypischer Weise forcierte HegelAuslegung Heideggers nicht unwidersprochen geblieben. Vgl. exemplarisch Christian Iber, Interpretationen zum Deutschen Idealismus. Vernunftkritik im Namen des Seins, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 166 – 174. Gegen Heideggers Verengung der Philosophie Hegels auf den Bedeutungsrahmen der Ontotheologie macht Iber darauf aufmerksam, dass sich die Spezifik der Wissenschaft der Logik gerade darin manifestiere, die Hypostasierung eines in der Doppelung von anfänglich-naiver Wahrheitsform und scheinhafter Unwahrheit vorliegenden, reinen Seins zu unterminieren. Dergestalt werde ein „dialektischer

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im Ringen des Schöpfungsgeschehens zwischen den beiden Willen lokalisiert. Diese These einer von Heidegger anvisierten Angleichung lässt sich im Rekurs auf die sehr aufschlussreiche Aufzeichnung „Negativität und Anerkennen“ erhärten, die ebenfalls der Zwischenbetrachtung über Hegel entstammt. Die detaillierte Besprechung dieser Anmerkung ermöglicht es, Heideggers (Re‐) Konstruktion des Willens in ein helleres Licht zu rücken. Sie lautet: Negativität und Anerkennen Scheiden ist nicht Trennen, sondern Entgegensetzung des Anderen, und zwar des Anderen als des Anderen zum Einen; darin ist die Notwendigkeit und das Eigenwesen des Andersseins anerkannt. In der Anerkenntnis erst kommt das Anerkennende zu sich selbst und zur Wesensfülle. In der leicht mißdeutbaren ‚Gewißheit‘ und im ‚Gewißsein‘ scheint der absolute Egoismus zu liegen, und gerade das ist nicht der Wesenskern des Absoluten. Anerkenntnis und Liebe (volo ut sis); Liebe (Schelling) als Wirkenlassen des Grundes. Anerkenntnis: Kampf, Gefahr, Tod, das wechselweise sich Anerkennen und darin die Anerkenntnis des Unbedingten; das Unbedingte seinerseits als das eigentlich Anerkennende.³⁹⁹

Prima facie schwächt Heidegger die Unausweichlichkeit einer im Medium der Negativität agierenden, egoistischen Pleonexie des übermächtigen Absoluten ab. Heidegger räumt die Zulassung der unverfälschten Alterität als Kerneigenschaft der Anerkennung ein. Nichtsdestominder wird die Legitimierung der Andersheit des Anderen nach Heidegger durch einen Funktionszusammenhang übergriffen.

Entwicklungsprozess vom Abstrakten zum Konkreten“ (Iber, Interpretationen zum Deutschen Idealismus, S. 172) initiiert. Der metaphysikkritische Impuls der Hegelschen Logik werde durch die Gedankenfigur der Negation der Negation gestützt und vorangetrieben, in der Heideggers Terminus der „Differenz als Differenz“ (Iber, Interpretationen zum Deutschen Idealismus, S. 172) vorgezeichnet sei. Eine weitere Gemeinsamkeit beider Denker bezeugt sich nach Iber in der von Hegel angestrebten Verflüssigung scheinbar statischer Begriffsmomente, der Heideggers geschichtliche Destruktion vorhandenheitsontologischer Präsenz korrespondiere. Auch in der Zurückweisung vorgestellter Unmittelbarkeit, der Infragestellung ewiggültiger Seinsprädikate und in der Aufdeckung von Rationalitätsdefiziten äußern sich für Iber verwandte Zielsetzungen und Denkhaltungen Hegels und Heideggers (vgl. Iber, Interpretationen zum Deutschen Idealismus, S. 172– 173). Zur Verflechtung von spekulativer Metaphysik und immanenter Metaphysikkritik in Hegels Logik vgl. grundlegend: Michael Theunissen, Sein und Schein. Zur kritischen Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a. M. 1978. Auch Herbert Schnädelbach sieht das Proprium der Hegelschen Methodik in der virtuos gehandhabten Simultaneitätsbewegung, in welcher der Abbau tradierter Wesensbestimmungen, die Verwicklung unhinterfragter terminologischer Verständnisweisen in Widersprüche und die Auflösung von Fundamentaldifferenzen mit der progressivspekulativen Entwicklung der reinen Gedankenformen Hand in Hand gehe. Vgl. Herbert Schnädelbach, Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Einführung, 5. Aufl., Hamburg 2013, S. 86 – 98.  Heidegger, GA 49, S. 184.

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Dies lässt sich anhand des Sachverhalts illustrieren, dass die eigentlich relevante Beziehung diejenige zwischen dem Akt der Anerkennung (der Anerkenntnis) und dem Anerkennenden selbst ist. In diese Relation wird das Anzuerkennende / das Anerkannte als Übergangshilfe zur Erlangung der „Wesensfülle“⁴⁰⁰ eingefügt. Zudem ist signifikant, dass das in seiner Notwendigkeit anerkannte Andere laut Heidegger stets allein in der Gestalt des „Anderen zum Einen“⁴⁰¹ in das Spiel kommt. Die spezifische Beschaffenheit des entgegengesetzten Anderen kann sich folglich nur aus und in der vorgängigen Selbstcharakterisierung des Einen konstituieren. Dass im Freisetzen, Ausfechten und Einwilligen der Anerkennung eine Schärfe des Gegensatzes hervortritt, welche die Antagonisten bis in die äußerste Sphäre des Todes treibt, wird durch die grundierende Wesensbestimmung des Absoluten dennoch nicht ausgeschlossen. Dieser Konflikt wird von Seiten des Absoluten qua verobjektivierter Selbsterfahrung geradezu gefordert. Heidegger kann sich zur Verdeutlichung zwar auf genuin Hegelsche Formulierungen⁴⁰² berufen. Dies sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ähnliche Einpassungsfigur wie bei der Konfrontation des Bösen mit dem System ausbuchstabiert wird. Des Weiteren hatte Heidegger in der SchellingVorlesung von 1936 postuliert, dass die Liebe der „größte Kampf“⁴⁰³ sei, weil sie den „tiefsten Streit erregt, um in seiner Bewältigung sie selbst zu sein“.⁴⁰⁴ Diese

 Heidegger, GA 49, S. 184.  Heidegger, GA 49, S. 184.  Vgl. z. B. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Vorrede,Werke 3, S. 36: „Die kraftlose Schönheit haßt den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet… er [der Geist, J.K] ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“ Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 148: „Das Verhältnis beider Selbstbewußtsein[e] ist also so bestimmt, daß sie sich selbst und einander durch den Kampf auf Leben und Tod bewähren. – Sie müssen in diesen Kampf gehen, denn sie müssen die Gewißheit ihrer selbst, für sich zu sein, zur Wahrheit an dem Anderen und an ihnen selbst erheben. Und es ist allein das Daransetzen des Lebens, wodurch die Freiheit, wodurch es bewährt wird, daß dem Selbstbewußtsein nicht das Sein, nicht die unmittelbare Weise, wie es auftritt, nicht sein Versenktsein in die Ausbreitung des Lebens das Wesen, – sondern daß an ihm nichts vorhanden, was für es nicht verschwindendes Moment wäre, daß es nur reines Fürsichsein ist.“  Heidegger, GA 42, S. 281.  Heidegger, GA 42, S. 281. Vgl. hierzu auch Schelling, WA I, S. 98: „Das andere aber, daß die Scheidung über die Einung absolut siegte, ist wieder unmöglich. Denn damit würde das zusammenziehende Prinzip gar vernichtet; es wäre zwar wieder die anfängliche Lauterkeit, aber ohne Offenbarung. Das will sie aber nicht; denn so oft sie auch entfliehen möchte aus der Macht des Umtriebs, bleibt sie doch wieder, weil sie ihr Sehnen nach Offenbarung nicht lassen kann; sie

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Variante der Liebe lässt sich zumindest hinsichtlich der korrespondierenden Wortfelder und der Ähnlichkeit in Vollzugsform und Dramaturgie in eine Nähe zur Anerkennung in der Hegelschen Gestalt des Agons bringen. Indes wird durch die obige Bezugnahme auf das für Heidegger im Schelling-Seminar von 1927 und in anderen Zusammenhängen⁴⁰⁵ zentrale Augustinus-Zitats „volo ut sis“, das er zumeist im Sinne des „ich will, dass du seist, wie du bist“ wiedergibt, jenseits der Polemologie eine verheißungsvolle Form der Liebe denkbar. Diese positive Erscheinungsart der Liebe muss in der Freigabe und Akzeptanz des Anderen nicht ihre Überlegenheit beweisen. Sie will, dass der Andere ungezwungen der sein kann, der er ist. In diesem Fall muss sich die Liebe eine Alterität nicht als einen Gegensatz entgegenhalten, der sie zur Selbststeigerung animierte. Indem sie die Selbstbestimmung des Anderen nicht gleichgültig konzediert, sondern wertschätzend unterstützt, erklärt sie sich bereit, sich von dem Anderen bereichern und verletzen zu lassen. Dadurch wird der Andere in seinen Möglichkeiten wahrhaft ernstgenommen. Da Heidegger die so charakterisierte Liebe in dem oben zitierten Textabschnitt erneut auf das Wirkenlassen des Grundes zurückbezieht, scheint das „volo ut sis“⁴⁰⁶ zum Ingredienz ihres ursprünglichen, metaphysischen Begriffes avancieren zu können. Im obigen Passus wird die Autonomie eines „Eigenwesen des Andersseins“⁴⁰⁷ jedoch eindeutig in die Herrschaftszone des Absoluten zurücktransferiert. Mar-

will, daß der Gegensatz sey, damit sie aus ihm als Einheit aufgehen könne.“ Dieser Passus illustriert die Vielschichtigkeit und Kontextabhängigkeit des Willens der Liebe im ersten Druck der Weltalter. An anderen Stellen betont Schelling nämlich, dass die nichts für sich wollende, frei ausquellende Liebe an sich wirkungslos ist. Deswegen benötigt sie den Willen der Existenz als sich verschließende Basis, um sich als expandierendes Prinzip konstituieren zu können. In dem hier herangezogenen Textausschnitt wird Heideggers Hauptauslegungsstrang des Willens der Liebe in zweierlei Weise durchaus untermauert. Zum einen spricht Schelling der Liebe eindeutig einen zielhaft ausgerichteten, jedem Rückschritt abholden („das will sie aber nicht“; „Sehnen nach Offenbarung“) und dominanzausübenden Willen zu. Zum anderen lässt sich dem Textgehalt entnehmen, dass die Liebe den Gegensatz arrangiert und den Streit mit dem zusammenziehenden Prinzip wählt. Dies geschieht jedoch nicht, um etwa die Herausbildung der Eigenständigkeit des Entgegengesetzten zu befördern. Stattdessen forciert die Liebe die Konfrontation, um sich selbst als Einheit bewahrheiten und herauskristallisieren zu können.  Vgl. den Brief von Heidegger an Hannah Arendt vom 13. Mai 1925, in: Hannah Arendt / Martin Heidegger, Briefe 1925 – 1975, Frankfurt 1998, S. 31: „Für alles sonst gibt es Wege, Hilfe, Grenzen und Verstehen – hier nur bedeutet alles: in der Liebe sein = in die eigenste Existenz gedrängt sein. Amo heißt volo ut sis, sagt einmal Augustinus: ich liebe Dich – ich will, daß Du seiest, was Du bist.“  Vgl. zum Motiv des amo, volo ut sis grundlegend: Tatjana Noemi Tömmel, Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt, Frankfurt a. M. 2013, S. 118 – 135.  Heidegger, GA 49, S. 184.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

kant sticht der doppelte Genitiv der „Anerkenntnis des Unbedingten“⁴⁰⁸ hervor. Heideggers tiefgreifende These lässt sich dabei wie folgt ausformulieren: Erst in der Anerkennung des Bedingten erklimmt das Unbedingte die Gipfelhöhe seiner Unbedingtheit. Das Absolute fügt sich in dem Emporgang umso beherrschender in diese Position ein, je mehr es imstande ist, eine herausfordernde, anzuerkennende Gegenmacht hervorzubringen. Diese hält dem Unbedingten die Ausübungsreichweite seiner eigenen Kraft im Auffangen ihrer Wirkung entgegen. Dass es sich um eine strategische Evokation des Entgegengesetzten handelt, erwächst aus der Bedeutungsrichtung des „Scheidens“. Die Scheidung beinhaltet hier eine hierarchische Schichtung zwischen dem aktiv Entgegensetzenden (d.i. das Absolute / die Liebe) und dem passiv Entgegengesetzten. Dadurch affirmiert sich das Absolute einerseits in der Bewahrheitung seines Vermögens als des großzügigen, „eigentlich Anerkennenden“. Andererseits genießt sich das Absolute als Unbedingtes, das sich durch die Aufhebung des in den Maximalgrad der Resistenz hinaufgetriebenen Bedingten bezeugt.⁴⁰⁹ Das Bedingte seinerseits erkennt das sich herausschälende Unbedingte im Kampf als Gegner an, der es im Moment der geglückten Negation als Anerkennendes oder Anderes seiner selbst in sich einbezieht.⁴¹⁰ Auch auf Schellings triadische Willenskonstellation (Wille des  Heidegger, GA 49, S. 184.  Diese Beschreibung Heideggers ist nicht nur in Bezug auf Hegels Denken des absoluten Geistes von Relevanz. Ihr Sinngehalt kann auch am Schellingschen Primärtext ausgewiesen werden. In der ersten Fassung der Weltalter inauguriert Schelling die Liebe als Entwicklungsprinzip, welches das Bedingte und Verschlossene der kontrahierenden Kraft sukzessive aufhebt, wodurch die Liebe gewissermaßen den Nachweis ihres Unbedingtseins erbringt. Vgl. Schelling, WA I, S. 103 – 104: „Liebe ist der Antrieb zu aller Entwickelung. Liebe bewegt das Urwesen zur Aufgebung der Verschlossenheit. Denn nicht äußerlich bloß, innerlich wird die zusammenziehende Kraft überwunden. Je mehr ihr durch fortgehende Scheidung das Wesen der Lauterkeit geoffenbart und innerlich empfindlich wird, desto mehr fühlt sie, daß dieß ihr eignes wahres ursprüngliches Wesen ist, und welch′ eine strenge, harte und blinde Natur sie sey gegen die Sanftmuth, den Verstand und das Licht jenes höheren Wesens, und verliert immer mehr den Muth, ihm zu widerstehen, kann aber als die ewige Kraft und Stärke doch nicht aufhören, zusammenziehend zu seyn.“  Gegenüber dieser von Seiten Heideggers offerierten Interpretation der Liebe als Vereinnahmungsinstanz entwickelt Wieland im Ausgang von Schelling einen sinnstiftenden und positiven Liebesbegriff, der die Aspekte des Verzichts, des Seinlassens, der sich von dem Anderen scheiden könnenden Akzeptanz und der Tolerierung des Gegensatzes inkludiert. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 57– 58: „Liebe setzt immer schon einen Gegensatz des Liebenden und Geliebten voraus. Dieser Gegensatz strebt nun aber nicht zu seiner Aufhebung hin, denn das Wesen der Liebe wäre gerade verfehlt, wollte man sie so bestimmen, daß sie darauf gerichtet sei, mit dem Geliebten eins zu werden (in diesem Falle würde vielmehr das Phänomen der Sehnsucht vorliegen). Schelling versteht Liebe als Zeugung, Scheidung von sich selbst. Der liebende Mensch ist gerade in der Weise bei sich selbst, daß er über sich selbst hinaus ist. Liebe ist die Kraft, die die

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Grundes, Wille des Verstandes, Wille der Liebe) lässt sich die binär ausgerichtete Modellarisierung des Anerkennens übertragen. Entsprechend referiert die „Anerkenntnis des Unbedingten“ bei Schelling auf eine Scheidung, in der sich das Absolute (der Wille der Liebe) nicht schlichtweg einem Bedingten gegenübersetzt. Vielmehr fächert sich die unbedingte Willenswurzel selbst in zwei vorerst ebenbürtige Parteien auf. In deren sich aufwiegelndem Konflikt kristallisiert sich die vormals allein für sich seiende Einheit des bejahenden Prinzips in ihrer Unbedingtheit heraus.⁴¹¹ Im Verbund mit thematisch verwandten Aufzeichnungen, können drei weitere Anmerkungen Heideggers Verständnis des Zusammenhanges von Negativität, Anerkennung und Unterscheidung anreichern und es in seinen Filiationen veranschaulichen: (1) Negativität: In der Zwischenbetrachtung über Hegel unternimmt Heidegger unter dem Stichpunkt „Negativität und Subjektivität – das äußerste Gegen“⁴¹² den Versuch, den maximierten Gegenpol zum absoluten Wissen beziehungsweise zur Einheit der Liebe zu ermessen. Während bei Hegel die Negativität aus dem sichvorstellenden „Wesen der Subjektivität“⁴¹³ entspringe und den Weg von der reinen

Scheidung des Menschen von sich selbst (Zeugung) beständig vollbringt. Liebe ist, wenn bei existenzieller Unabhängigkeit Freies zu Freiem gezogen wird (W I 116). Sie bleibt gerade im Heraustreten über sich selbst dem Geliebten gegenüber in Freiheit und beläßt auch das Geliebte seinerseits in Freiheit; sie läßt sogar das geliebte Wesen erst zu dem werden, was es ist und sein kann. So ist es auch ein Wesensmerkmal aller echten Liebe, daß sie auf das geliebte Wesen gerade um der Liebe selbst willen verzichten können muß.“  Auf Kierkegaards relationalen Begriff des Geistes rekurrierend, markiert Annemarie Pieper ebenfalls ein triadisches Willensmodell in der Freiheitsschrift, das durch den dritten Willen (den Willen des Geistes) zusammengefügt und geleitet wird. Vgl. Annemarie Pieper, Zum Problem der Herkunft des Bösen I: Die Wurzel des Bösen im Selbst (364 – 382), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 94– 95: „Daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält, ist das Resultat eines ‚dritten‘ Willens, der das Verhältnis will und damit die Einheit des Gegenstrebigen, in welcher die beiden Willen in das Wollen des Ganzen integriert sind. Auch dieser einheitsstiftende Wille des Geistes ist von Anfang an Teil des ursprünglichen Kräftepotentials des Urwillens, nur daß die vermittelnde Leistung des Geistes noch nicht als solche begriffen ist, da sie erst mit der Scheidung resp. Unterscheidung der beiden gegensätzlichen Willen in den Blick kommt.“  Heidegger, GA 49, S. 183.  Heidegger, GA 49, S. 183. Vgl. dazu Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 40: „Aber die Substanz ist selbst wesentlich das Negative, teils als Unterscheidung und Bestimmung des Inhalts, teils als ein einfaches Unterscheiden, d. h. als Selbst und Wissen überhaupt.“ Zur Unterscheidung vgl. auch: Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 547 (C. Die offenbare Religion): „Es [das unglückliche Selbstbewußtsein, J.K.] selbst ist dieser seine bewußte Verlust und die Entäußerung seines Wissens von sich. […] Es ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewißheit seiner und des Verlustes eben dieses Wissens von sich – der Substanz wie des Selbsts; es

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Unmittelbarkeit hin zur holistischen Selbstvermittlung des Absoluten als deren Äußerstem progressiv beschreite, firmiere bei Schelling der Weg von der „Natur als ewiger Vergangenheit“⁴¹⁴ und dem kontrahierenden Grund hin zum Menschen, zum Bösen und zum Existierenden als längste Bahn. Deren Impetus bildet die Negativität, insofern sie den Übergang aus der Indifferenz in die Differenz, die „Teilung des Ungrundes in zwei gleichewige Anfänge“, ermöglicht.⁴¹⁵ Dabei bringt sie sich als Differenz aus der Prädikationslosigkeit der noch nicht aufgegangenen Liebe in den (überzeitlichen) Beginn ihres Wirkens hervor, um in der perennierenden Konfrontation der beiden Willen die von der göttlichen Liebe gewollte Schöpfungsordnung zu entfalten und zu stabilisieren. Dementsprechend übernimmt die Unterscheidung als Negativität die Lenkungsfunktion, die selbst Heidegger nicht gänzlich der Liebe zuzusprechen vermag.⁴¹⁶ Die Unumgänglich-

ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist.“ Vgl. dazu Hegels theologisch-dialektische Konzeption der Negativität in der Versöhnung, Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, Werke 17, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, 9. Aufl., Frankfurt a. M. 2014, S. 269: „Die Versöhnung. Das tiefste Bedürfnis des Geistes besteht darin, daß der Gegensatz im Subjekt selbst zu seinen allgemeinen, d. h. abstraktesten Extremen gesteigert ist. Dies ist diese Entzweiung, dieser Schmerz. Dadurch, daß diese beiden Seiten nicht auseinanderfallen, sondern dieser Widerspruch sind in einem, beweist sich zugleich die Kraft der Einheit; es kann diesen Widerspruch aushalten. Dies ist die formelle, abstrakte, aber unendliche Energie der Einheit, die es besitzt.“  Heidegger, GA 49, S. 183.  Vgl. zur Rolle der Negativität in diesem Prozess: Heidegger, GA 49, S. 183: „[…] für Schelling: Das Nicht ist die Differenz aus der In-differenz – (der ‚Liebe‘) [Subjekt].“  Schelling statuiert die Liebe – darin durchaus von der Freiheitsschrift abweichend – nicht allein als den das Offenbarungsgeschehen leitenden und dergestalt zielgerichtet verfassten Willen Gottes. Im Gegenhalt gegen eine solche Verpflichtung auf eine das Sein entfaltende Progresslogik unterstreicht Schelling ihre Gelassenheit, ihre in sich ruhende Freude und ihre unbedürftige Seinslosigkeit. Dies wird besonders in den späteren Entwürfen der Weltalter transparent. Vgl. dazu Schelling, WA III 5, S. 228: „Wir haben sonst das Höchste ausgesprochen als die wahre, die absolute Einheit von Subjekt und Objekt, da keins von beyden und doch die Kraft zu beyden ist. Es ist die reine Froheyt in sich selber, die sich selbst nicht kennt, die gelassene Wonne, die ganz erfüllt ist und von sich selber und an nichts denkt, die stille Innigkeit, die sich freut ihres nicht Seyns. Ihr Wesen ist nichts als Huld, Liebe und Einfalt.“ Entscheidend ist, dass die Liebe dergestalt nicht mehr als das anfängliche, aktive, den Grund erweckende und sich auf diese Weise erstrebende und realisierende Prinzip figuriert. Nunmehr ist die Liebe ihrerseits auf den sich unabhängig von ihr erzeugenden, anderen Willen angewiesen, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Schelling betont explizit, dass diese glückliche Liebe – anders als in der Freiheitsschrift – nicht einmal darüber zu verfügen vermag, ob sie diese „unabhängige Bewegung“ auslösen soll oder nicht.Vgl. Schelling,WA III 5, S. 229: „Jenes lauterste Wesen kann überall nicht sich selbst verwirklichen, denn um dieß zu können, müßte es schon wirkend seyn, sich selbst aufgehoben haben. Jenes Wesen der Ewigkeit kann nicht sich selbst verwirklichen; es kann daher

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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keit des Aufganges aus der Unmittelbarkeit (Hegel) und Unentschiedenheit (Schelling) in die Einheit des sich wissenden Wissens beziehungsweise der offenbargewordenen Präponderanz der Liebe kann Heidegger in beiden Fällen aus der Negativität⁴¹⁷ herleiten, weil er zuvor den maßgebenden Begriff des Absoluten bei beiden Denkern parallelisiert hatte. Dies geschieht zu Beginn des Ersten Kapitels (Die von Gott ausgehende Betrachtung) des Zweiten Teils, und zwar im einige Exkurse beinhaltenden §19 (Die unmittelbare Erläuterung: Darstellung des Seins des Seienden „in“ Gott. Philosophie als unbedingtes Wissen des Absoluten in Unterscheidung von Theologie und Mathematik. Die verschiedenen Bedeutungen des Wortes „Natur“ ⁴¹⁸). Unter dem Punkt c) setzt sich Heidegger mit dem „Begriff des Absoluten bei Schelling und Hegel“⁴¹⁹ auseinander. Alle fünf dort aufgezählten Bedeutungen sind maßgeblich durch die etymologische Herleitung des Absoluten von lat. ab-solvere, ablösen, geprägt. Als „Sichloslösendes“⁴²⁰ ist das Absolute erstens in der Lage, sich aus der „je einseitigen Bindung in der Relation“⁴²¹ zu befreien. Dadurch kann es sich zweitens in die Teleologie des „Sich-zu-sich-selbst-bringens“⁴²² hineinnehmen und sich in dieser

nur verwirklicht werden; verwirklicht durch eine von ihm unabhängige Bewegung, die ihren eigenen Grund, eine nicht von ihm herkommende Wurzel hat.“  Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 39: „Wenn nun das Negative zunächst als Ungleichheit des Ichs zum Gegenstande erscheint, so ist es ebensosehr die Ungleichheit der Substanz zu sich selbst.Was außer ihr vorzugehen scheint, eine Tätigkeit gegen sie zu sein scheint, ist ihr eigenes Tun, und sie zeigt sich wesentlich Subjekt zu sein. [….] Das Sein ist absolut vermittelt; es ist substantieller Inhalt, der ebenso unmittelbar Eigentum des Ichs, selbstisch oder der Begriff ist. Hiermit beschließt sich die Phänomenologie des Geistes.“ Auch Schelling apostrophiert in späteren Entwürfen der Weltalter (1814/15) die Verneinung als aktives Prinzip des Anfangs. Vgl. Schelling,WA III 6, S. 230: „Die Systeme, die von oben herabsteigend der Dinge Ursprung erklären wollen, kommen fast nothwendig auf den Gedanken, daß die Ausflüsse der höchsten Urkraft sich zuletzt in ein gewisses Aueßerstes verlieren müßten, wo nur gleichsam noch ein Schatten von Wesen, ein Geringstes von Realität übrig war, ein Etwas, das nur noch gewissermaßen ist, eigentlich aber nicht ist. Dies ist der Sinn des Nichtseyenden bey den Neuplatonikern, die das wahre aus Platon nicht mehr verstanden. Wir, der entgegengesetzten Richtung folgend, behaupten auch ein Aeußerstes unter dem nichts ist; aber uns ist es nicht Letztes, Ausfluß, sondern Erstes, von dem alles beginnt, nicht bloßer Mangel oder fast gänzliche Beraubung von Realität, sondern thätige Verneinung.“ [von mir kursiv, J.K.].  Heidegger, GA 49, S. 109.  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113.Vgl. dazu den folgenden Passus aus der Phänomenologie des Geistes, dessen Gehalt Heideggers These, die Negativität entspringe bei Hegel aus dem Wesen der Subjektivität, plausibel erscheinen lässt: Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 588: „Aber das Bestehen des Daseins für sich ist der in der Bestimmtheit gesetzte Begriff und dadurch ebenso seine

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vollenden. Auffällig ist, dass Heidegger erneut das „Sich-zu-sich-selbst-bringen“ erwähnt, das somit zum gemeinsamen Movens der Vorstellung, des Willens und des Absoluten erkoren wird. Auch wenn der Anschein erweckt wird, Heidegger werfe die zum Kernbestand der neuzeitlichen Metaphysik ausgebauten Begriffe unter Zugrundelegung gemeinsamer Wesensmerkmale undifferenziert zusammen, so kann die These verfochten werden, dass dies unter der eindeutigen Ägide der Willenssubjektivität geschieht. Indem sich das Absolute in die Vollendung seiner selbst bringt, ist es drittens das „Sichfreisprechende in die Freiheit (Begriff)“.⁴²³ In der gesteigerten Qualität der Gegensätze schält sich das Absolute in seiner Versöhnungsfähigkeit heraus, wobei die Entgegensetzungen weder „ausgelöscht“⁴²⁴ noch fixiert werden. Die Repugnanzen werden „als offenbare aufgehoben“.⁴²⁵ Darin erweist sich das Absolute viertens als die „Un-endlichkeit des Endlichen“.⁴²⁶ Das Absolute ist diejenige Kraft innerhalb des Endlichen, die dieses über sich hinausträgt und es in dem „Alles in Allem“⁴²⁷ wiederempfängt. Die dazu erforderliche, fortwährende Negation des Bedingten geschieht fünftens in der Hegelschen Dreiheit des Aufhebens als „tollere, elevare, conservare“.⁴²⁸ Analog zum Willen hält sich das Absolute mit Hilfe der Aufhebungsakte in der Durchgängigkeit des „Werdens“.⁴²⁹

Bewegung an ihm selbst, nieder in die einfache Substanz zu gehen, welche erst als diese Negativität und Bewegung Subjekt ist. – Weder hat das Ich sich in der Form des Selbstbewußtseins gegen die Form der Substantialität und Gegenständlichkeit festzuhalten, als ob es Angst vor seiner Entäußerung hätte – die Kraft des Geistes ist vielmehr, in seiner Entäußerung sich selbst gleich zu bleiben und als das Anundfürsichseiende das Fürsichsein ebensosehr als Moment zu setzen wie das Ansichsein, noch ist es ein Drittes, das die Unterschiede in den Abgrund des Absoluten zurückwirft und ihre Gleichheit in demselben ausspricht, sondern das Wissen besteht vielmehr in dieser scheinbaren Untätigkeit, welche nur betrachtet, wie das Unterschiedene sich an ihm selbst bewegt und in seine Einheit zurückkehrt.“  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113. Vgl. dazu Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: Hegel, Jenaer Schriften 1801 – 1807,Werke 2, hrsg.von Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2016, S. 27: „Sie [die Vernunft, J.K.] vernichtet beide [die Gegensatzpole des Endlichen und Unendlichen, J.K.], indem sie beide vereinigt; denn sie sind nur dadurch, daß sie nicht vereinigt sind. In dieser Vereinigung bestehen zugleich beide; denn das Entgegengesetzte und also Beschränkte ist hiermit aufs Absolute bezogen.“  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113.  Heidegger, GA 49, S. 113. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 57: „Dagegen, wie vorhin gezeigt, gehört das Negative dem Inhalte selbst an und ist sowohl als seine immanente Bewegung und Bestimmung wie als Ganzes derselben das Positive. Als Resultat aufgefaßt, ist es das aus

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(2) Anerkennung: In der Notiz mit dem Titel Zusammenfassung („Unser Verhältnis zur Metaphysik des deutschen Idealismus“⁴³⁰) definiert Heidegger die Zerrissenheit, das Anerkennen und mit ihnen die Unterscheidung „nicht als bloßes Unterwerfen, sondern [als] Herrschaft“.⁴³¹ Diese Definition gibt einen wichtigen Fingerzeig: Unterworfen werden muss das nicht Kontrollierbare, Aufbegehrende, die Autorität Bezweifelnde, während das in sich Genährte, zur Wirkung Freigelassene und in seinen Grenzen Gehaltene beherrscht wird.⁴³² Die Beschaffenheit dieser Herrschaft erläutert Heidegger in dem folgenden Schlüsselpassus zur Unterscheidung (3): Unterscheidung die Macht, das Andere zu sich selbst zu bringen und in sich stehenzulassen und so an ihm den Gegensatz ins Wesen bringen; so erst die ‚Einheit‘ für sich ins Wesen gründen und zur Offenbarkeit bringen; vgl. Schelling: die Liebe – ‚Wirkenlassen des Grundes‘.⁴³³

Diese Darlegung ist in mehrfacher Hinsicht immens erhellend. Es bestätigt sich die These, dass die Hegelsche Anerkennungstheorie, die von Heidegger aus der Perspektive einer Selbststabilisierung des Absoluten gedeutet wird, zur Strukturbeschreibung der Genese und der Einhegung faktischer Differenz innerhalb des Willens avanciert. Zudem gibt die Aufzeichnung den Blick frei auf leitende Verständnismotive, die Heidegger mit dem Willen der Liebe assoziiert. Es tritt endgültig hervor, dass die Anerkennung des „Eigenwesens des Anderen“ nicht auf der Duldsamkeit gegenüber einer vorhandenen, externen Instanz beruht und sich nicht in dem ausgetragenen Kampf mit ihr erschöpft oder sich als Resultat ge-

dieser Bewegung herkommende, das bestimmte Negative und hiermit ebenso ein positiver Inhalt.“  Heidegger, GA 49, S. 185.  Heidegger, GA 49, S. 185.  Dieses asymmetrische Machtverhältnis bildet für Hegel im berühmten Herr-Knecht-Kapitel (Selbständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewußtseins) freilich nur ein Übergangsstadium nach der Auflösung des unmittelbaren Selbstbewusstseins, in dem sich das Ich der absolute Gegenstand ist, ohne die Vermitteltheit dieser Disposition zu durchschauen. Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 150: „Die Auflösung jener einfachen Einheit ist das Resultat der ersten Erfahrung; es ist durch sie reines Selbstbewußtsein und ein Bewußtsein gesetzt, welches nicht rein für sich, sondern nur für ein anderes, d. h. als seiendes Bewußtsein oder Bewußtsein in der Gestalt der Dingheit ist. Beide Momente sind wesentlich; – da sie zunächst ungleich und entgegengesetzt sind und ihre Reflexion in der Einheit sich noch nicht ergeben hat, so sind sie als zwei entgegengesetzte Gestalten des Bewußtseins; die eine das selbstständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht.“  Heidegger, GA 49, S. 185.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

nerierte.⁴³⁴ Die Aufzeichnung lässt indes zwei Hauptwege der Interpretation zu, die beide mit dem bisherigen Gang vereinbar erscheinen. In ihnen spiegelt sich die oben umrandete Vielfalt der Auslegbarkeit des Wider-willens wider. Die Uneindeutigkeit und Schwierigkeit des Passus gründet sich auf den ambivalenten Status des Sich-zu-sich-selbst-bringens des Anderen. Erstens kann für eine Auffassung plädiert werden, die das „sich“ autoreflexiv versteht. Dies bedeutet, dass das Andere im Rahmen der ihm gezollten Anerkennung zu sich selbst befreit wird und damit bewusst in die Opposition gegenüber dem Einen hineinwachsen kann. In diesem Fall bringt das Absolute beziehungsweise die Liebe das Andere zu diesem selbst als Anderem und schließt dieses für es selbst auf. Auf diese Weise gewinnt das Andere in der Umgrenzung des für statthaft Erachteten einen Standpunkt und kommt in sich selbst zum Stehen.⁴³⁵ In dieser Profilierung der Selbstständigkeit, die sich der Anerkennung durch das Absolute verdankt, wird der Gegensatz in das Wesen im verbalen Sinne eingesenkt: Der Gegensatz – und mit ihm die Unterscheidung – west, indem die Liebe das Andere nährt und stützt. Die Liebe belässt die Alterität als „Eigenwesen“ außerhalb ihres unmittelbaren Einflussbereiches, sodass es sich als Antagonist beweisen kann. Das Offenbarwerden der Einheit vollzieht sich hier in der übergreifenden Freigabe größtmöglicher Differenz. Zweitens gibt es die Deutungsoption, das Zu-sich-bringen als aktiven, besitzergreifenden Einbezug des Anderen zu lesen, der von Seiten der Macht ar-

 Demgegenüber fördert Annemarie Pieper das emanzipatorische und verhältnisstiftende Potential der Anerkennung zutage, insofern diese zwischen der Selbstlosigkeit des Universalwillens und der Eigenliebe des Grundes vermittelt. Vgl. Annemarie Pieper, Zum Problem der Herkunft des Bösen I: Die Wurzel des Bösen im Selbst (364 – 382), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 98: „Die neue Qualität der Liebe, die durch den Geist ermöglicht wird, sofern er das immanente (selbstische) Liebesverhältnis des Eigenwillens auf das transzendierende (selbstlose) Liebesverhältnis des Universalwillens bezieht und damit ein Sich-zu-sich-selbst-Verhalten der Verhältnisse als solcher ermöglicht, ist durch die Anerkennung des jeweils anderen geprägt.“  Die Liebe wird von Schelling im ersten Druck der Weltalter ausdrücklich als Befreierin der Vielheit und der konkreten Gestalten gefasst, die in den Fängen der kontrahierenden, Zwang ausübenden Urkraft verschlossen sind. Vgl. Schelling, WA I, S. 68 – 69: „Es ist erlaubt, den Streit zwischen Scheidung und Einung auch als einen Streit zwischen den zwey Dimensionen anzusehen. Denn die contrahierende, stets auf den Mittelpunkt wirkende, Urkraft ist das Setzende der ersten Dimension, vermöge welcher keine Mannichfaltigkeit, keine gegenseitige Freyheit und Unabhängigkeit der Dinge seyn würde, sondern nur unverbrüchliche Einheit und alle Einzelheit unterdrückende Nothwendigkeit. Nur durch eine gegenwirkende, den Zwang der ersten aufhebende und sie brechende Kraft, deren Wirkung die der ersten durchkreuzend, die zweyte Dimension hervorbringt, macht eine Unterscheidbarkeit der Dinge und ein gegenseitig freyes und unabhängiges Leben zwischen den verschiednen Organen des großen Ganzen möglich.“

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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rangiert wird. Das „sich zu sich selbst“ wird somit auf die Liebe / das Absolute als Akteur hin zugespitzt und ist prinzipiell auch auf den Willen (zur Macht) übertragbar. Die Liebe absorbiert gewissermaßen das in diesem Schema anfänglich und nicht – wie in der ersten Deutung – resultativ außerhalb ihres unmittelbaren Wirkradius situierte Andere, sie zieht es in sich hinein.⁴³⁶ Die Macht überschreitet ihren einförmigen Zustand, indem sie die Alterität in sich integriert. Sie unterwirft diese freilich nicht schlichtweg, sondern richtet sie zunächst in ihrer Stärke auf, um an dieser ihre eigene Hegemonie und begrenzende Kraft zu erweisen.⁴³⁷ In dieser Version referiert das Wort „Wesen“ in der Formulierung „den Gegensatz ins Wesen bringen“ auf die Liebe und das Absolute.⁴³⁸ Der Einheitssinn kommt zum

 Für die Forschungsthese, dass Heidegger diese gewissermaßen ‚totalitaristische‘ Interpretation der Liebe favorisiere, plädiert Konstanze Sommer. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 273 f.: „Der Wille als Einheitskonzept ist keine Bewusstseinsinstanz, die eine Trennung von Subjekt und Objekt setzt und diese im Selbstbewusstsein in eine Einheit mit sich zurückführt; er ist vielmehr eine Macht, die sich als Macht, d. h. in der Überwindung eines Gegenübers erst realisieren kann. Als Wille zur Herrschaft über Anderes ist er auf die Setzung eines Anderen notwendig angewiesen und zugleich ebenso notwendig totalitaristisch zu denken, weshalb er sich auch am konsequentesten bei Nietzsche gedacht finde, der offen vom Willen zur Macht spricht.“ Wenige Seiten später entfaltet sie – im Gegensatz zu der Heidegger zugesprochenen Auslegung – die Möglichkeit einer harmonischen Lesart der Liebe. Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 275: „Selbst wenn man aber davon absieht, dass der gewalttätige Charakter im Blick auf die als Liebe oder als Band verstandene Einheit ohnehin fehlt, fällt doch auf, dass Heidegger gerade bei der Charakterisierung der Liebe zu Formulierungen greift, die immer wieder auch für das eigene, nicht mehr metaphysisch zu verstehende Denken herangezogen werden. Die Liebe nämlich scheint eine Gelassenheit angesichts der Widersprüche zu fordern…“ Auch JeanFrancois Courtine expliziert die Unvereinbarkeit einer Performativität des Machtvollzuges mit dem Willen der Liebe.Vgl. Jean-Francois Courtine, Schelling. Das System der Freiheit. Von der absoluten Freiheit zur Metaphysik des Bösen, in: Diogo Ferrer / Teresa Pedro (Hrsg.), Schellings Philosophie der Freiheit. Studien zu den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit, Würzburg 2012, S. 44 f: „Wenn also die Liebe, definiert als Gelassenheit, nicht will oder das Nichts will, wenn sie sich grundlegend durch die Verweigerung, oder besser, die Aufgabe aller Selbstheit auszeichnet […] dann ist es ausgesprochen schwierig, den Willen der Liebe als ‚Wille zum Willen‘ im Sinne des Sich-selbst-Wollens zu reinterpretieren.“  Diesen Aspekt der Begrenzung markiert Wieland als wesentliches Element der Liebe. Vgl. Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 61: „So, wie der Liebende das Geliebte, durch seine Liebe in dem sein läßt, was es ist und ihm gegenüber gerade im Heraustreten über sich selbst seine Selbstbegrenzung vollzieht (denn der Mensch kann nur über sich hinaustreten, wenn er sich immer schon begrenzt weiß), so ist es auch jede Sinneserkenntnis aus der Struktur der Liebe von der Selbstbegrenzung her zu verstehen.“  Die Ambiguität des Liebesbegriffes wurzelt in gewisser Weise in Schellings uneinheitlicher und unsystematisch-kontextabhängiger Verwendung dieses Terminus selbst. So unterscheidet Wieland drei Begriffe der Liebe, deren assoziativen Zusammenhang er in Schellings Fundierungsversuch im Willen gewahrt sieht.Vgl.Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 84: „So haben

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Vorschein, sobald die Differenz innerhalb des Wesens des Absoluten eingeschränkt wird. Heidegger betont selbst, dass der Grund zum Wesen Gottes gehört und von diesem zur Wirksamkeit animiert wird, um von der Liebe bewältigt zu werden. Demnach ist es die zweite Lesart, die eher mit Schellings Darlegungen aus der Freiheitsschrift übereinstimmt.

2.2.8 Der Evidenzcharakter der Unterscheidung als aus der Selbstbejahung des Willens erwachsender Ausschluss des Nichts 1936 hatte Heidegger die Seynsfuge im chronologischen Nachvollzug der Freiheitsproblematik sachgerecht eingeführt. So wurde die Unterscheidung des Wesens nach Grund und Existierendem automatisch in den von Schelling vorgegebenen Lösungskontext eingebettet. In der zweiten Schelling-Vorlesung von 1941 wirft Heidegger an mehreren Stellen die Frage auf, warum Schelling auf die Unterscheidung als Zentrum seiner Metaphysik stoßen musste. Neben der oben präsentierten Antwort, wonach das Sein als Wille sie selbst „ernötigt“, wird Schelling hinsichtlich der Begreifbarkeit der Unterscheidung erneut in die Nähe Hegels gerückt. Dies manifestiert sich im §18 (Die „Erläuterung der Unterscheidung“ als Darstellung des Seienden im Ganzen)⁴³⁹, der den Zweiten Teil einleitet: Die Unterscheidung ist das zuvor ‚Angeschaute‘, und zwar so, daß das Sein angeschaut wird im Seiendsten, im Absoluten. In der Darstellung des Seienden wird die ‚Unterscheidung‚ ‚klar ‚ (Zirkel?!). 1. Die Unterscheidung wird nicht abgeleitet, nicht aus einem noch Klareren ‚erklärt‚, sie ist selbst das klarste (vgl. was über Ursein und Wollen gesagt wird: die höchste Instanz, nach der das Sein beurteilt wird; vgl. oben §14 und §15). 2. Aber auch das Seiendste, Absolute, worin sie sich darstellt, wird nicht als das Letzte hinterher erst erwiesen und bewiesen, sondern ist das Unbeweisbare, des Beweises nicht Bedürftige. Also ist das Begreiflichste, daß das Absolute das schlechthin Seiende ist. Warum ist dies, daß das Seiendste ist, begreiflicher denn jenes, daß nichts ist?⁴⁴⁰

wir bei Schelling also drei Bedeutungen des Wortes ‚Liebe‘ festgestellt. Einmal bedeutet Liebe das In-sich-versunken-sein der reinen Lauterkeit (Liebe in der Ewigkeit), zum anderen eine ausgezeichnete Weise des Sich-aus-sich-heraussetzens (Liebe als Stiftung entschiedener Gegenwart), schließlich bezeichnet Schelling auch das Phänomen der Sehnsucht bisweilen als Liebe. Schelling hat den inneren Zusammenhang dieser Weisen nicht ausdrücklich aufzuhellen versucht. Dennoch war bei ihm das Bestreben leitend, in den drei verschiedenen Erfahrungsweisen eine gleiche, sich durchhaltende Substanz (Wille) nachzuweisen.“  Heidegger, GA 49, S. 105 ff.  Heidegger, GA 49, S. 106.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Nach Heidegger kann Schelling die (in der Freiheitsschrift aus der Naturphilosophie erschlossene und reflektiert eingebrachte) Unterscheidung nicht auf ihre Voraussetzung und Herkunft befragen, weil sich das Sein zugunsten seiner Offenbarkeit als widerwendiger Wille des Absoluten entzogen hat. Dieser Wille repräsentiert für Schelling das Seiendste. Es ist ersichtlich, dass Heidegger bei dieser Kennzeichnung des Absoluten den Ungrund außen vor lässt. Der Evidenzcharakter der Unterscheidung muss sich nach Heidegger in einem Einklang mit dem „Seiendste[n], Absolute[n], worin sie sich darstellt“⁴⁴¹, d.i. in der Freiheitsschrift eindeutig Gott, befinden, in dessen Grund alle Dinge entstehen. Es wird deutlich, dass die Möglichkeit einer solchen Lokalisierung der Entstehung der Dinge durch die präsupponierte Unterscheidung überhaupt erst gewährt wird. Die Differenz kann sich allerdings nur ausprägen, weil sich Gottes Existenz aus der wesenseigenen Natur herausgewunden hat und damit ein Substrat der Unterscheidung gegeben ist. Nach Heidegger – und an diesem Punkt fällt es zumindest im Hinblick auf den mittleren und späten Schelling schwer, ihm zu widersprechen – ist die Existenz Gottes für Schelling das Beweisunbedürftigste. Heideggers These der ontotheologisch motivierten Ausgrenzung des Nichts vollauf bestätigend, schreibt Schelling in der Nr. 159 der Aphorismen über die Naturphilosophie (1806/07): Auf die Frage, die der am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnde Verstand aufwirft: Warum ist nicht Nichts, warum ist überhaupt Etwas? ist nicht das Etwas, sondern nur das All oder Gott die vollgültige Antwort. Das All ist dasjenige, dem es schlechthin unmöglich ist, nicht zu seyn, wie das Nichts, dem es schlechthin unmöglich ist, zu seyn. Dem Nichts (das ewig unmöglich, ewig Nichts ist), ist daher nur das All schlechthin entgegengesetzt.⁴⁴²

Aus der Identifikation Gottes mit dem schlechthin Notwendigseienden und dem All folgt freilich nicht, dass Schelling in seiner Christologie und in seiner philosophischen Gotteslehre in dogmatische Setzungen zurückfiele. Das Gegenteil ist der Fall. Schelling bereichert das Christentum, wenn er etwa in den Weltaltern eine differenzierte Theorie des im Sohn geschehenden Zusichkommens Gottes aus seiner zusammenziehenden Urkraft exponiert. Diesen Gedankengang schließt Schelling mit der Trinitätslehre und der Genealogie der Zeit zusammen.⁴⁴³ In der Spätphilosophie wird die göttliche Offenbarung zum bestimmenden Inhalt. Doch auch wenn Schelling in der Freiheitsschrift eine Explikation des göttlichen Werdens qua Schilderung des je schon Zu-sich-gekommenseins Gottes lanciert, wird

 Heidegger, GA 49, S. 106.  Schelling, Aphorismen über die Naturphilosophie, SW VII, S. 174.  Vgl. zur Genealogie der Zeit: Schelling, WA I, S. 142– 153.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

in deren Vorgriff die Existenz Gottes vorausgesetzt.⁴⁴⁴ Schelling endet somit auf dieser Fragestufe mit einer Letztbegründung. Damit weicht Schelling nach Hei Im Rückbezug auf einen zentralen Gedanken Luigi Pareysons hat Francesco Moiso der Heideggerschen Lesart des Gottesbegriffes Schellings als eines sich selbst beleuchtenden Offenbarungssubjektes, das die im Eigenwillen und in der Möglichkeit des Aufstandes generierten Widerstandsmomente zu seinen Gunsten herbeiführt, vehement widersprochen. Vgl. Franceso Moiso, Gott als Person (394 – 403), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 189 – 220, bes. S. 211– 215. Nach Moiso (und Pareyson) ist Gott keineswegs auf die Endabsicht einer allumfassend sichtbar werdenden, von ihm willentlich herbeizuführenden Einheit gerichtet, um deren gelingende Erfüllung er je schon weiß.Vielmehr ist Schellings Gott laut Pareyson von einer tragischen Zweideutigkeit durchwaltet, die in der schlechthinnigen, weder durch einen Vernunftzweck gelenkten noch durch den Zufall limitierten Freiheit zum Ganzen und zum Nichts beruht. Indem Gott sich für die lebendige Freiheit entscheidet, ersteht das aus seiner Ruhe erweckte Nichts in der Gestalt der anziehenden Versuchung der tätigen Selbstzerstörung. Diese muss Gott in sich überwinden, um dem All die errungene Freiheit zu schenken. Die Freiheit Gottes mitsamt der Gefährdung durch das Böse geht somit sowohl dem Sein als auch dem Nichts sowie der ontologischen Differenz voraus. Die theologisch grundierte Freiheitsphilosophie ist jedweder Ontologie vorgelagert. Aufgrund seiner skeptischen Haltung gegenüber dem Christentum sei Heidegger vor der Einsicht zurückgewichen, dass die seinstranszendente, tragische Freiheit Gottes der wahre Ursprung sei. Deswegen habe Heidegger den von Schelling initiierten, erschütternden „Bruch der Seinspositivität“ (Moiso, Gott als Person, S. 214) weder entdecken noch selbst vollziehen können. Moiso kommt zu dem Schluss, dass Schelling keineswegs als Vollender der Ontotheologie betrachtet werden dürfe. Schelling müsse als Überwinder der Ontologie gewürdigt werden, während Heidegger bei aller Radikalität den Strukturen der klassischen Ontologie verhaftet geblieben sei. Hermann Krings nimmt in seinem Beitrag Von der Freiheit Gottes (394 – 403), der in demselben Band erschienen ist, insofern eine Gegenposition zu Moiso ein, als er (wie Heidegger in der Schelling-Vorlesung von 1941) die in dem bedingenden Urwollen gesetzte, inhaltliche Prädetermination der Selbstoffenbarung Gottes als Existenz exponiert. Vgl. Hermann Krings, Von der Freiheit Gottes (394 – 403), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 181: „Wollen ist der Begriff einer transzendentalen Freiheitslehre und bezeichnet die unbedingte Bedingung jenes Aktus der Freiheit, durch den das, was Gott im Grunde ist, sich offenbar wird als Gott – als ‚existierender‘, d. h. als aus sich heraustretender und sich offenbarender Gott. Damit ist der Inhalt dieses transzendentalen Wollens bestimmt. Inhalt des Wollens ist die Existenz: daß Gott sich selbst offenbar ist.“ Der von Krings skizzierte, sich unter dem Primat der „ersten Bedingung“ (Krings, Von der Freiheit Gottes, S. 181) des Wollens aktualisierende Entwicklungszusammenhang besitzt eine unbestreitbare Nähe zu Heideggers 1941 gegebener Schelling-Interpretation. Nichtsdestotrotz befindet sich Krings auch in Übereinstimmung zum Gehalt der Schelling-Vorlesung von 1936, wenn er für die Bedeutungsgleichheit von Wollen, Freiheit und Existenz optiert und sie als „Begriffe eines und desselben“ (Krings, Von der Freiheit Gottes, S. 181) kennzeichnet. In einer ähnlichen Weise wie Krings unterstreicht Walter E. Ehrhardt, dass in Schellings Konzeption notwendigerweise ein „Wollen vor allem Sein“ (Walter E. Ehrhardt, Das Ende der Offenbarung [403 – 416], in: Höffe/Pieper [Hrsg.], F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 228) gedacht werden müsse. Diesem vorprädikativen Wollen inhäriere ein prospektiv wirksames, deontisches Apriori (ein Sollen vor und über dem Sein), das sich als in der Schöpfung einzuholendes Gesolltes bekunde. Das prä-

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degger vor der ins Superlativische abgewandelten, Leibnizschen Kernfrage aus, die er an Schelling richtet: „Warum ist dies, daß das Seiendste ist, begreiflicher denn jenes, daß nichts ist?“⁴⁴⁵ Durch diese Frage, die über die ontotheologische Sicherung der Unterscheidung hinausgreift, wird Schelling von Heidegger in die Willensmetaphysik zurückgedrängt. Um die vermeintliche Evidenz und selbstverständliche Unangefochtenheit der Unterscheidung bei Schelling zu erweisen, rekurriert Heidegger auf die Nietzschesche Kernwiderlegung, die dieser gegen die von seinem Lehrer Schopenhauer vertretene Konzeption einer Willensverneinung wendet:

senzbezogene Ist des Wollens, das sich in dessen Charakterisierung als „Ursein“ manifestiert, wird von Ehrhardt dementsprechend nicht als Ausdruck eines metaphysischen Kerntheorems begriffen. Konträr dazu, fasst Ehrhardt das Ursein als „Unsein“ (Ehrhardt, Das Ende der Offenbarung, S. 227), d. h. als unentfaltetes, defizitäres Anfangsstadium. Relevant sei einzig die zukünftige Selbsterfahrung Gottes. Diese Selbsterfahrung dürfe jedoch nicht im Sinne eines offenen und erwartungsfrohen, im Wollen eröffneten Möglichkeitshorizontes verstanden werden, da sie vielmehr den Ausgriff auf die unausweichliche Überwindung des Bösen am Ende der Offenbarung bezeichne. Auf der Grundlage seiner Lesart der Titel Ungrund, Liebe, Existenz und Geist als geschichtlicher Übergangsgestalten, die sich innerhalb eines fortschreitenden Prozesses auswickeln, beurteilt Ehrhardt nicht nur das wollende Ursein, sondern auch und gerade den Ungrund als Nichtseinsollendes, als abzustreifende Indifferenz: „Gewollt ist die Differenz. Der Ungrund teilt sich, ‚damit Leben und Lieben sei und persönliche Existenz‘ (408). Nichts wäre unsinniger, als den Ungrund, nicht sein Sollendes, zu einem Höchsten, einem Sein zu machen, das sich emanativ teilt“ (Ehrhardt, Das Ende der Offenbarung, S. 226 – 227). Innerhalb der Schelling-Forschung tritt Ehrhardt mit dieser Relativierung des Ungrundes in einen Gegensatz zur Deutung von Ryosuke Ohashi, der den Ungrund tatsächlich explizit als das Höchste nobilitiert. Vgl. Ryoskuke Ohashi, Der Ungrund und das System (403 – 416), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 235 – 252, bes. S. 238 – 240. Zwar gesteht Ohashi durchaus ein, dass der Ungrund für Schelling selbst der „höchste Punkt“ nur und erst in der Gestalt der am Ende des Prozesses der göttlichen Selbstoffenbarung aufleuchtenden, „aktualisierten, alle Scheidungen einigenden Liebe“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 239) sein kann. Dennoch möchte Ohashi den Ungrund in dem Sinne als das Höchste, Erste und Letzte verstanden wissen, dass Schelling „über ihn hinaus keinen Schritt mehr nach oben, d. h. zum Systemaufbau getan hat“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 239). Der Ungrund fungiere als Ursprung im Sinne eines „ewigen Anfanges der Schöpfung“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 250) und als allumschließende Absolutheit des „Alles in Allem“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 251). Neben dieser ontologischen Präeminenz qualifiziert Ohashi den Ungrund auch in existenzieller Hinsicht, wenn er ihn als „konkrete Lebenserfahrung“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 251) tituliert und die Zugangsmöglichkeit zum Ungrund in dem „Absterben jeder Eigenheit“ (Ohashi, Der Ungrund und das System, S. 251) aufspürt. Damit weise der Ungrund auf Schellings Idee der Ekstasis in den Erlanger Vorlesungen voraus.  Heidegger, GA 49, S. 106.

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Begreiflicher für das Begreifen des Seins des Seienden, d. h. für das Denken des Wollens ist: daß der Wille als Wille sich will, denn sogar wenn er nichts will, will er doch sich selbst: den Willen. Nicht-Wollen ist für den Willen das Schwerste und Unbegreifliche, ist das Sichselbstaufgeben durch Preisgabe seiner selbst (vgl. unten S. 121 f.).⁴⁴⁶

Schelling bezweifelt sowohl den Status des Absoluten als auch die Legitimität der Unterscheidung nach Heidegger nicht, weil das basale Faktum, dass etwas Seiendes das Seiendste sein muss, aus der Selbsterhaltung des Willensprinzips geschöpft ist. In der Aufrichtung des Absoluten und der Art, wie es sich differenziert, waltet ein hintergründiger Akteur. Dieser bringt sich einerseits in der Willensförmigkeit der Unterscheidung eigens zum Vorschein. Andererseits betätigt er sich im Ausschluss des Nichts.⁴⁴⁷ Heidegger deutet hiermit auf den anhand der Seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus noch detailliert zu erörternden Vorwurf voraus, dass sich die Rückgründung des Seienden in einem höchsten Prinzip seit dem Anbeginn der Neuzeit in den uneigentlichen Nihilismus verkehrt. Der uneigentliche Nihilismus vermag sich nicht mehr auf das Nichts zu besinnen. Die Revision dieses Auslassens wird Heidegger dort mit der Besinnung auf das im Sein wesende Nichts verknüpfen.⁴⁴⁸ Demgegenüber lautet seine Kritik an Schelling offenkundig, dass dieser das Nichts allein als „Zwischen“ der beiden Willen zu begreifen imstande sei. Deswegen wird es als Übergang aus der Indifferenz sowie als Vehikel einer Offenbarungsbewegung instrumentalisiert, die sich über die Verdrängung des als Selbstaufgabe oder Unentschiedenheit diskreditierten Nichts aufrechterhält. Schelling, der das Sein des Seienden erfährt und umrandet, vollzieht zugleich ein Denken des Wollens. Das Wollen hat das Sein des Seienden okkupiert, sobald es im letztgenannten erscheint und sich selbst als Grund der Unterscheidung setzt. Indem es auch in der vermeintlichen Abstinenz der Willensbestimmtheit etwas schlechthin Gewisses und Seiendstes – nämlich Gott als  Heidegger, GA 49, S. 107. Die Passage, auf die Heidegger sich mit der Notiz „121 f.“ bezieht, lautet: „Wie aber, wenn Sein in sich: Wollen, Sichwollen? Dann ist das Nichts das Schwierigere als Nichtwollen (vgl. Nietzsche: lieber noch das Nichts wollen – und so doch noch wollen); lieber den absoluten Nihilismus, denn hier immer noch Gelegenheit des Willens zum Wollen, d. h. hier Übermächtigung. Wenn Sein = Wollen, ist das Seiendste das verständlichste. Wenn Sein = Anwesenheit, Vorhandenheit, die erst der Beibringung bedarf und nicht von ‚selbst‚ (spontan und dieses wesenhaft), dann das Seiende das erklärungsbedürftigste. (Die Gottesbeweise).“ Vgl. Heidegger, GA 49, S. 121.  Vgl. zur ontologisch-geschichtlichen Verbindung der Metaphysik des Bösen mit der Nichtung des Seyns, der Seinsvergessenheit und der Thematik des Nihilismus den hervorragenden Aufsatz von Sebastian Kaufmann, Metaphysik des Bösen. Zu Heideggers Auslegung von Schellings Freiheitsschrift, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers Schelling-Seminar (1927/1928), S. 193 – 227, bes. S. 213 – 224.  Vgl. hierzu den Abschnitt 3.2 dieser Arbeit.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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das Absolute – vor den Abgrund des Nichts schiebt, um sich darin zu erhalten, triumphiert es in zweifacher Weise.

2.2.9 Der Wille der Liebe und der Wille zur Macht – zu Heideggers Synthese der willensmetaphysischen Ansätze Schellings und Nietzsches Da Heidegger die Fundierung des Wollens in einer adäquaten Beschreibung maßgeblich auf die vier Eigenschaften des Vor-stellens stützt, erscheint es zum Abschluss des 2. Teils der Arbeit sinnvoll, den Beitrag der Vorstellung in der Performativität des Willens der Liebe auf der einen Seite und des Willens zur Macht auf der anderen Seite zu untersuchen. Die gewonnenen Ergebnisse lassen sich alsdann mit Heideggers internem Vergleich der beiden Willensfiguren kontextualisieren.⁴⁴⁹ Die Plausibilität der Vergleichbarkeit basiert nach Heidegger auf der Übereinkunft der beiden Willensprinzipien im Charakteristikum des Sichwollens. ⁴⁵⁰ In der Schelling-Vorlesung aus dem Jahre 1941 markiert Heidegger zwei

 Lore Hühn apostrophiert, dass Schelling und Nietzsche über Schopenhauer, der gemeinhin als schärfster Kritiker des einen, metaphysischen Willens anerkannt wird, eindrucksvoll hinweggehen. Beide Denker lassen die Identifikation des Willens mit dem Weltprinzip gewissermaßen implodieren, insofern sie auf den Schwächemomenten (Schelling) beziehungsweise auf der Pluralisierung und auf dem hypothetischen Charakter des Willens (Nietzsche) insistieren.Vgl. Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch, S. 10: „Man kann sich mühelos davon überzeugen, dass die Problematik eines ausschließlich am Willen orientierten Welt- und Selbstverhältnisses von Schelling als auch von Nietzsche derart in den Blick genommen wird, dass zugleich die kritische Grenze des willenstheoretischen Fundamentalgedankens zur Geltung kommt. Fokussiert nämlich Schelling auf die tragische und selbstwidersprüchliche Verstrickung eines alles verwirklichenden- und wissenwollenden Willens und setzt diesem kontrastierend einen gelassenen Willen entgegen, bricht Nietzsche von vornherein mit der Semantik affirmativer Totalitätsaussagen, wie sie etwa sein Lehrer Schopenhauer noch in seiner monistischen Version des einen Willensgeschehens an den Tag legte.“ Hühn entfaltet drei Hauptkritikpunkte Schellings an der Willenszentriertheit. Vgl. Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch, S. 20 – 21: „[…] erstens als Kritik an der frühidealistischen Subjektivitätstheorie, deren Protagonist vor allem Fichte ist (1), zweitens als die landläufigen Rationalitätsdiskurse verlassende Hinwendung zu den Formen des Mythos und der Erzählung, die Schelling in seinem Konzept einer ‚neuen Mythologie‘ schon früh entwickelt und dann methodisch und inhaltlich in seiner Weltalter-Philosophie (1811– 1815) ausbaut (2) und vor allem drittens als Philosophie der Gelassenheit, die gegenwendig zur Willensmetaphysik ein völlig gewandeltes Verständnis von Philosophie einfordert (3).“  In einer lichtvollen Formulierung unterstreicht Wolfgang Wieland, dass die Liebe dem Willen zur Existenz die Möglichkeit der Selbstkreation einräumt, um im weiteren Prozess sie selbst werden zu können.Vgl.Wieland, Schellings Lehre von der Zeit, S. 84: „Die reine Lauterkeit, die sich selbst will und so den Willen zur Existenz sich zeugen lässt […].“

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Wege des Willens, sich in diesem wesenskonstituierenden Sichwollen zu bewahrheiten. Dies lässt sich anhand derjenigen signifikanten Aufzeichnung verdeutlichen, in welcher der Wille der Liebe und der Wille zur Macht explizit aufeinander bezogen werden. Diese findet sich im §17 (Übergang zur Auslegung des Kernstückes) unter dem Punkt 7, der mit Schelling – Nietzsche betitelt ist. Die Aufzeichnung lautet: 7. Schelling – Nietzsche (vgl. S. 87 f.) […] Jedes Wollen will sich selbst, dies aber in verschiedener Weise. Im Wollen als Sichwollen liegen zwei Grundmöglichkeiten der Wesensentfaltung: 1. Das Sichwollen als Zu-sich-selbst-kommen und so Sich-offenbaren und Erscheinen vor sich selbst (‚absolute Idee‘); der Verstand als Wille im Willen; unbedingte Subjektivität als ‚Liebe‘ (nichts mehr Eigenes wollen); 2. Das Sichwollen als Über-sich-hinaus-gehen; Übermächtigung und Befehl; ‚Wille zur Macht‘ ; der Befehl als Wille im Willen; ‚Übermächtigung‘; unbedingte Subjektivität als ‚Macht‘. A) Inwiefern jedesmal die unbedingte Subjektivität, das ist nur aus dem Wesen des Vorstellens zu zeigen; Vor-stellung und Negativität. B) Aber in ‚Liebe‘ und ‚Macht‘ ist wesenhaft das Gegenhafte und Zwieträchtige – ‚Kampf‘, ‚Widerspruch‘. C) Schelling: das Nichts wollen – gelassene Innigkeit⁴⁵¹, das reine Wollen. Nietzsche: immer wieder dasselbe wollen: ewige Wiederkehr.

 Gerade im Ausgang von Heideggers eigener Adaption der Schellingschen Schilderung der Liebe als „gelassene Innigkeit“ erscheint es nicht nur sinnvoll, die von Heidegger unter Punkt B) artikulierte Unumgänglichkeit und Wesenhaftigkeit der Zwietracht und des Widerspruches zu hinterfragen. Vielmehr wird es auf der Grundlage eines normativ privilegierten, das Potential eines geglückten Lebens verheißenden, nichts-wollenden, ruhenden Willens ebenso möglich, Schelling als vehementen Kritiker einer sich allein selbst wollenden, transzendental verankerten Selbstsetzung des Ich zu profilieren. Außerdem kann Schelling als unbestechlicher Diagnostiker eines in die Mannigfaltigkeit der Weltrelationen ausgreifenden Aneignungswillens berücksichtigt werden. In diesem Sinne veranschaulicht Lore Hühn die gewichtige – wenngleich von Heidegger (bis hin zu seiner späten Beschäftigung mit Schellings Erlanger Vorträgen in den 1950er-Jahren) zumeist verkannte oder geleugnete – Ähnlichkeit zwischen Schelling und Heidegger. Vgl. Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch, S. 20 – 25 (Abschnitt Willenszentriertheit und Gelassenheit). Vgl. zu Schellings und Schopenhauers negativistischer Interpretation des autopoietischen Aktes transzendentaler Individuation als einer prometheisch-ruinösen Anmaßung und als Gestalt des neuzeitlichen Sündenfalls: Hühn, Die intelligible Tat. Zu einer Gemeinsamkeit Schellings und Schopenhauers, in: Christian Iber (Hrsg.), Selbstbesinnung der philosophischen Moderne: Beiträge zur kritischen Hermeneutik ihrer Grundbegriffe, Cuxhaven 1998, S. 55 – 94, bes. S. 71– 87. In ihrem Aufsatz Selbstentfremdung und Gefährdung menschlichen Selbstseins. Zu einer Schlüsselfigur bei Schelling und Kierkegaard (vgl. Buchheim/Hermanni [Hrsg.], „Alle Persönlichkeit

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D) Der Wille der Liebe – (Wirkenlassen des Grundes); Nichts wollen, nicht ein Eigenes und nicht das Ihre, auch nicht sich; Wille zur Macht und Übermächtigung.⁴⁵² E) Dem Willen als Geist und Liebe gehört als Einheit das System; dem ‚Willen zur Macht‘: kein System (vgl. entsprechend Kierkegaard: kein System des ‚Daseins‘ aber ‚Organisation‘ bzw. ‚Kirche‘.)⁴⁵³

ruht auf einem dunkeln Grunde“, S. 151– 165) interpretiert Hühn die in der intelligiblen Tat hinterlegte Ursprünglichkeitssuggestion mitsamt dem Anschein unhintergehbarer Autonomie als Resultat einer subtilen Verdrängungsleistung, die sich als „Selbstverfehlung einer unvordenklichen Gottesbeziehung“ (Hühn, Selbstentfremdung und Gefährdung menschlichen Selbstseins, S. 161) äußert. Hühns (anhand der Autoren Schelling und Kierkegaard exemplifizierte) scharfsinnige Destabilisierung radikaler Selbstanfänglichkeit ist im Hinblick auf Heidegger von eminenter Signifikanz. So wie Heidegger den Konstitutionsakt der neuzeitlichen Subjektivität und den Aufstieg des Willensparadigmas gerade dadurch gekennzeichnet sieht, dass der Bezug zum Sein gekappt und dieses schlechthin vergessen wird, so demonstrieren Schelling und Kierkegaard, dass die Selbstbegründung des Subjektes den Ausschluss des Gottesverhältnisses zur Voraussetzung hat. Zu dieser Parallele vgl. Hühn, Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch, S. 28 – 33. Während Lore Hühn eher auf die sündentheologische Dimension und die Motive des Tragischen in Schellings Kritik der neuzeitlichen Subjektivität abzielt, deutet Dieter Sturma die Schellingsche Skepsis gegenüber der Autarkie des Subjekts vor dem Hintergrund der Abfallsproblematik. Diese ist besonders in Schellings Werk Philosophie und Religion (1804) virulent. Vgl. Dieter Sturma, Präreflexive Freiheit und menschliche Selbstbestimmung (382 – 394), in: Höffe/Pieper (Hrsg.), F.W. J. Schelling. Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 158: „Wie für seine idealistischen Vorgänger ist auch für Schelling Subjektivität das Prinzip der Freiheit, hinter der vordergründigen Ähnlichkeit verbirgt sich jedoch eine dramatische Umdeutung der eingesetzten selbstreferentiellen Ausdrücke. Subjektivität ist für Schelling nicht länger das Telos, sondern das Problematische – und in dieser Hinsicht geht er weiter als der große Subjektivitätskritiker Hegel, der in den Weisen des Verschwindens von Subjektivität ihre Reflexionsstrukturen weitgehend beibehalten hat. Subjektivität ist in der ontologischen und existenziellen Ausformung der Selbstheit kein Königsweg zur Wahrheit und Moral, sondern als Freisetzung von Individualität qua Individualität ein Abfall, ein Heraustreten aus dem Allgemeinen und seinen naturbestimmten Ordnungen.“  Heidegger GA 49, S. 101– 102. Auch bei Nietzsche wird ein Zwiespalt im Willen gedacht, der aber nicht wesenskonstitutiv ist, sondern aus einem vorübergehenden Scheitern des Aneignungsaktes resultiert. Vgl. Nietzsche, NF Herbst 1887, KGW VIII, 2, 9 [51], S. 82: „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen äußern; er sucht nach dem, was ihm widersteht, –… Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An-und-Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat. – Gelingt diese Einverleibung nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge des Willens zur Macht: um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander.“  Heidegger, GA 49, S. 101– 102.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Da der Verstand als Wille im Willen fungiert, bezeichnet die Offenbarkeit des Willens den wissenden Nachvollzug einer Entwicklung. In deren Verlauf erscheint der begehrungsvolle Wille im Licht des Verstandes vor sich selbst und kommt dergestalt zu sich. Aus der Bewegtheit der Energeia heraus hat der Wille die ihm eignende Entelechie vollendet. Diese von Heidegger unter 1. benannte, im Verstand gipfelnde Selbstexplikativität des Willens ist insofern paradox strukturiert, als sie in der Gestalt der uneigennützigen Liebe einerseits jedwede objektbezogene oder selbstbezügliche Eintragung des Willens in das Wollen ausschließen soll. Andererseits soll in der sich offenbarenden Liebe die „unbedingte Subjektivität“ ihre Bestätigung finden.⁴⁵⁴ Der Wille wächst bei Schelling in sein Wesen

 In das Problemzentrum der auch in Heideggers Schelling-Vorlesung von 1941 immer wieder berührten Janusköpfigkeit des Schellingschen Liebesbegriffes der Freiheitsschrift zielt Christian Iber. Gedankenreich und prägnant konfrontiert er die Bedeutung der Liebe als interpersonales Ideal auf der einen Seite mit ihrem Status als eschatologisches Prinzip auf der anderen Seite. Im Vollzug des interpersonalen Ideals wird die Eigenständigkeit des Anderen zugelassen. Der Einzelne erfährt die Bereicherung durch die andere Person und verzichtet auf die eigene, isolierte Autarkie, um sich in der Verbindung mit dem Geliebten selbst zu finden. Die dazu erforderliche, rückhaltlose Akzeptanz von Alterität impliziert jedoch auch, dass sich die Individualität (im negativen Extremfall) der Möglichkeit nach allein auf sich selbst zurückzuziehen vermag und dergestalt das Böse aktualisiert. Entscheidend ist für Iber, dass ebendiese von Schelling im ersten, personalen Liebesbegriff fulminant eingeführte, relational fundierte Individuation durch den zweiten, eschatologischen Liebesbegriff konterkariert wird. Gemäß der eschatologischen Dimension der Liebe wird jeder Einzelne in die geschichtsphilosophische Sinnkonstruktion eines prädeterminierten, durch den göttlichen Willen geleiteten Schöpfungsplanes eingebunden. Vgl. Christian Iber, Prinzipien von Personalität in Schellings „Freiheitsschrift“, in: Thomas Buchheim / Friedrich Hermanni (Hrsg.), „Alle Persönlichkeit ruht auf einem dunkeln Grunde“, S. 135: „Liebe wird hier so beschrieben, daß sie die Bedürftigkeit derer ist, die jeweils selbstständig für sich sein könnten, also nicht aufeinander angewiesen sind, diese Selbstständigkeit aber von sich aus aufgeben, weil sie doch nicht sind und sein können ohne den anderen. Schelling zeichnet damit die Interpersonalität, das Personsein im relationalen Sinne normativ aus. Wahre menschliche Personalität besteht darin, die substantielle Selbstständigkeit und das transzendentale Aus-sichsein zugunsten einer konstitutiven Verbundenheit aufzugeben. Nun könnte es zwar so scheinen, daß diese relationale Konzeption menschlicher Personalität der Eigenständigkeit und der Selbstbestimmung der Person gar nicht widerstreitet. Und sie erfährt ja auch nur dadurch eine normative Auszeichnung, daß sie auf dem Boden der freiwilligen Preisgabe des Für-sich-seins eintritt. Dem steht jedoch bei Schelling die eschatologische Endstellung der Liebe gegenüber, die das erste und letzte Prinzip ist. Weil von Anfang der Schöpfung an die göttliche Liebe den Prozeß der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes umfaßt, durchwaltet und übersteigt, hat das Böse, der sich auf sich versteifende Eigenwille der Person, eschatologisch gesehen keine Chance. Daher ist mit dem Bösen auch die substantielle Eigenständigkeit der Person keineswegs in der ‚absoluten Identität‘ des Eschatons wie auch immer als Moment einbegriffen, sondern von der geistigen Lebenseinheit Gottes ewig ausgeschlossen.“ Im Rekurs auf diese kritische und wohlbegründete These Ibers lässt sich die Brücke zu Heideggers Analyse des neuzeitlichen Willensparadigmas

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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hinein, während der Wille bei Nietzsche das Wesen in seinem Über-sich-hinausgehen als Einzuholendes generiert. Auf diese Weise bestätigt der Wille die Kontinuität seines Machtvollzuges, die einen zweiten Typus „unbedingter Subjektivität“ besiegelt. Dies impliziert eine Veränderung des inneren Kommandierungszentrums des Willens gegenüber der Schellingschen Konzeption: Der Befehl, den Heidegger bereits 1936/37 als Grundform der Selbstakklamation des Wollens ausgezeichnet hatte, ersetzt im Übergang von Schelling zu Nietzsche die regelnde und versammelnde Funktion des Verstandes. Dies bekundet sich anhand der Kennzeichnung „der Befehl als Wille im Willen“.⁴⁵⁵ Bevor Heideggers Typologie in ihren Filiationen von A)-E) analysiert werden kann, sind die zwei Variationen der Willensperpetuierung mitsamt ihrem inhärenten Impetus zu konkretisieren. Zu diesem Zweck bieten sich zwei Textquellen an: Heidegger verweist erstens zu Beginn der Notiz Schelling – Nietzsche auf die Ausführungen zur Adäquanz der Seinsprädikate in 14 c) (S. 87 f.). Am Ende von 14c) entwickelt Heidegger die folgende Verhältnisbestimmung zwischen dem Verstand und dem Befehl: Der Verstand: das eigentlich Wollende, sich in die Verwirklichung Er-strebende und diese (Idea) Setzende. Zur Abhebung vgl. die metaphysische Umkehrung dieses Wesens bei Nietzsche: Wille zur Macht; Sich-Wollen als Gesetzgebung und deren Vollzug; Wollen als Befehl, des Erstrebens und Strebenkönnens, der Machtermächtigung.⁴⁵⁶

Demnach erfüllt der Verstand nach Heidegger innerhalb des Willens eine Doppelrolle: Er erlegt dem in den Verwirklichungsgang einbezogenen Grundwillen das Ziel der wissensförmigen Selbstpräsenz als Idea auf. Zugleich ordnet er den naturhaften Willen des Grundes auf diese an, weil er als Verstand es ist, der sie erstrebt. Deswegen manifestiert sich der Verstand im Willen als Antriebsimpuls, der die umfassende Entfaltung der Idea prätendiert. Heideggers These lässt sich im Rekurs auf Schellings Anthropologisches Schema durchaus bekräftigen. In

(der Liebe und der Macht) schlagen: Der Wille verfolgt das Ziel einer Durchdringung des Universums. Zu diesem Zweck geht er über die Freiheit, den Möglichkeitshorizont und die spezifischen Beziehungen der Individuen entweder gänzlich hinweg oder er fügt diese subtil in seine eigene Totalisierungstendenz ein. Erneut enthüllt sich, dass Heidegger hinsichtlich der Integration Schellings in das willensmetaphysische Narrativ zwar eine gewisse Verengung lanciert, indem er die anthropologische Komponente der Relationalität der Liebe nahezu ignoriert. Nichtsdestotrotz lässt sich Heideggers Interpretation des sich offenbaren wollenden Willens der Liebe anhand der Primärquellen validieren.  Heidegger, GA 49, S. 101.  Heidegger, GA 49, S. 88.

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

dieser wichtigen Aufzeichnung wird der Wille als das Proprium sowie als unvordenklicher und ungehemmter Lebensgrund des Menschen geschildert, der auf dem Wege der Eindämmung durch den Verstand in das Sein des Geistes emporgehoben werden soll. Die Verwirklichung dieser prädisponierten Teleologie erweist sich als genuine Aufgabe der Individuation: I. Wille die eigentliche geistige Substanz des Menschen, der Grund von allem, das ursprünglich StoffErzeugende, das Einzige im Menschen, das Ursache von Seyn ist. II. Verstand das nicht Erschaffende, sondern Regelnde, Begrenzende, dem unendlichen, schrankenlosen Willen Maß Gebende, dem für sich blinden und unfreien Besinnung und Freiheit Vermittelnde. III. Geist Der eigentliche Zweck, was seyn soll, worin sich der Wille durch den Verstand erheben, wozu er sich befreien und verklären soll. Diese drei Elemente alles geistigen Seyns sind so gegeneinander gestellt, daß es Aufgabe des Menschen ist, sie im rechten, ihrer Natur gemäßen Verhältnis zu vereinigen. Diese Vereinigung ist der Inhalt eines Processes, durch den er sich selbst bildet, sich zur bestimmten Persönlichkeit gestaltet.⁴⁵⁷

Nach Heidegger vollzieht Nietzsche die „metaphysische[n] Umkehrung dieses Wesens“⁴⁵⁸, die den letztmöglichen Schritt innerhalb der Metaphysik bezeichnet. Die Inversion bekundet sich darin, dass in den Willen kein Telos der Ausfaltung in die Wirklichkeit und Einheit mehr eingeschrieben wird, das den Vorrang des Verstandes unterstreichen und diesen vor sich selbst bringen könnte. Bei Nietzsche ist es ein und derselbe, formvollendete Wille im ungebrochenen Zenit seiner Verfasstheit, der sich andauernd befiehlt, in sich selbst zurückzukehren. Der Wille zur Macht ist im Wollen auf ein Gewolltes gerichtet, das als Grundlage seines Wollens zu konservieren ist, weil es der Wille selbst ist. Der Wille ist je schon der entwicklungslose und gestaltidentische Wille zur Macht. Er verharrt in der An-

 Schelling, SW X, S. 287 ff. Hier zitiert nach: Walter Schulz, Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie, in: Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, Frankfurt a. M. 1975, S. 24. Walter Schulz exponiert „Schellings Gleichsetzung von Wille und Drang“ (Schulz, Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie, S. 19) als folgenschweren Schritt der Philosophiegeschichte und beurteilt diese Identifikation in seinem luziden Essay dementsprechend als „entscheidende Neuinterpretation in der Bestimmung des Menschen“ (Schulz, Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie, S. 19), die sich in den Willenskonzeptionen Schopenhauers und Nietzsches fortsetze. Vgl. Schulz, Freiheit und Geschichte in Schellings Philosophie, S. 18 – 21.  Heidegger, GA 49, S. 88.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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wesenheit dieses Wesens, solange der Befehl einer Selbstgesetzgebung wirksam ist, immer wieder ein solcher zu werden, d. h. die Machtermächtigung zu aktualisieren. Das Ziel des Willens zur Macht beruht in der sich im Medium der Übermächtigung äußernden, zu erhaltenden Ziellosigkeit. Diese schlägt sich im permanenten Aufschub eines potentiellen Abschlusses der Bewegung nieder, wodurch sich der Wille zur Macht in seiner Wesensvervollkommnung und in der Einheit sichert. Bei Schelling gestaltet sich das Verhältnis von Ziel und Ziellosigkeit in einer diametralen Umkehrung aus. Der Wille des Grundes ahnt bei Schelling diejenige Einheit – als deren Basis er sich im Verschließen seiner selbst bewährt – die der Wille des Verstandes erwirkt. Also artikuliert sich das Ziel des Willens in Schellings Konzeption darin, sich erstens von der anfänglichen Ziellosigkeit (im Sinne der unkontrollierten Begierde) zu scheiden, sich zweitens in die vom Verstand gewährte Richtungsregulierung einzugliedern und sich drittens in der Helle seines Selbstseins palpabel zu werden. Nietzsches Wille hat das Ziel der unaufhörlichen Ziellosigkeit durch den aus der Wesenshöhe ergehenden Befehl in diese hinein; Schellings Wille hat das Ziel der sukzessiven Aufhebung der Ziellosigkeit durch das klare Hervortreten der Einheit seiner selbst als des Ziels. Eine zweite Aufzeichnung kann den mit der Substitution des Willenszentrums einhergehenden Wandel der Willenskonstitution veranschaulichen. In seinem aus dem Jahre 1943 stammenden Aufsatz Nietzsches Wort: „Gott ist tot“ trägt Heidegger neben dem Verstand und dem Befehl eine dritte Verortungskonzeption vor, in der die Macht zum Willen im Willen avanciert: Wille für sich gibt es sowenig wie Macht für sich. Wille und Macht sind daher auch nicht erst im Willen zur Macht aneinandergekoppelt, sondern der Wille ist als Wille zum Willen der Wille zur Macht im Sinne der Ermächtigung zur Macht. Die Macht aber hat ihr Wesen darin, daß sie als der im Willen stehende Wille zu diesem selbst steht.⁴⁵⁹

1943 synthetisiert Heidegger die Schellingsche Definition des im Vollsinn entwickelten, verstandesförmigen Willens mit der von Nietzsche bedachten Untrennbarkeit und Synonymie von Wille und Macht. Heidegger knüpft hier erstens an seine bereits 1936/1937 entworfene These an, der Wille sei aufgrund der für sein Sich-selbst-finden in derselben Instanz unabdingbaren Übersteigerung, d. h. der „Ermächtigung zur Macht“ stets „Wille zum Willen“.⁴⁶⁰ Die Bezeichnung „Wille

 Vgl. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 235.  Vgl. Heidegger, N I, S. 33: „Was heißt Wille? Was heißt Wille zur Macht? Diese zwei Fragen sind für Nietzsche nur eine; denn Wille ist für ihn nichts anderes als Wille zur Macht, und Macht

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zum Willen“ bringt in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37) nichts anderes zum Ausdruck, als dass der Wille sich als Wille nur etablieren kann, wenn er sich kontinuierlich in der paradigmatischen Vollzugsform der Selbstüberwindung hält. Die Verdopplung diente der Klärung des Willenswesens und rief keine inhaltliche Veränderung hervor. Die Duplikation instantiierte keine interne Unterscheidung im Willen. Zweitens schlägt Heidegger in der obigen Passage die Brücke zur gewandelten, seinsgeschichtlichen Bedeutung des Willens zum Willen. Für deren Fundierung ist wesentlich, dass die von Schelling entlehnte Figur des Willens im Willen in Heideggers Zwiegespräch mit Nietzsche nachhallt. Sie wird 1943 nicht mehr als Verstand exponiert, sondern als interner Befehlsgrund sowie als Zielpunkt in den sich zur Selbstintegration in das Machtwesen aufrufenden Willen zum Willen eingefügt. Der Wille zum Willen didiviert sich in einen Willenskern einerseits und in den zu ebenjenem aufgeforderten und von diesem geleiteten Willen andererseits. Im seinsgeschichtlichen Willen zum Willen ist eine Zweiheit und Unterscheidung festzustellen, in welcher – so ließe sich in Analogie zu Schellings Willen des Verstandes proponieren – das erstgenannte Willensrelat seine Sublimation und Emporhebung durch das im Inneren des zweiten Willenselementes situierte Machtwesen erfährt. Dieses entsteht seinerseits durch die fortgesetzte Generierung dieser Relation und den Einbezug des ersten, machterstrebenden Willens, sodass sich eine Simultaneität und Ununterscheidbarkeit beider Vorgänge ergibt. Es gilt nun, die „zwei Grundmöglichkeiten der Wesensentfaltung“ des Willens mit der Umkehrungsthese zu verbinden und diese anhand der von Heidegger skizzenartig dargelegten Nummerierungen zu validieren. Für die Aufhellung der „unbedingten Subjektivität“ als Wesen der „herrschend obwaltenden Macht“⁴⁶¹ der ewigen Liebe ist gemäß A) die vierfach verzweigte Charakteristik des Vorstellens hinzuzuziehen. In einer konstruktiven Verflechtung kann diese mit den weiteren Definitionen der Liebe und deren Opposition zum Willen zur Macht zusammengedacht werden. Die „unbedingte Subjektivität“ des Willens der Liebe schließt das Über-hinaus-streben der Negativität, die Heidegger in der ersten Umgrenzung des Vorstellens erwähnt, insofern ein, als darin nicht zwangsläufig eine Überhöhung in die Ermächtigung zur Macht stattfinden muss. Im Falle der Liebe wird ein abstreifendes Zurücklassen jedweder inhaltskonturierten Präferenz oder eines spezifischen Für-sich-wollens hervorgebracht: „Nichts für sich (auch über sich hin-

ist nichts anderes als das Wesen des Willens. Wille zur Macht ist dann: Wille zum Willen, d. h. Wollen ist: sich selbst wollen.“  Schelling, WA III 4, S. 217.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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aus)“.⁴⁶² Aufbauend auf dieser Exklusion jeglicher Eigenwilligkeit ist dem Willen der Liebe die Generosität gestattet, seinen Antagonisten – den Willen des Grundes – in Unabhängigkeit wirken zu lassen, sodass sich „Kampf“⁴⁶³ und „Widerspruch“⁴⁶⁴ der Liebe verdanken. In der Bewältigung dieses Kampfes beweist sich der Wille der Liebe als Einigender und wird sich in seinem Wesen offenbar.⁴⁶⁵ Dadurch legitimieren sich sowohl die zweite wie auch die dritte Bestimmung des Vor-stellens – als Sich-Unterscheiden und als Umschlag des Werdens. Auch die daraus resultierende, vierte Charakterisierung des Vor-Stellens als Offenbarwerdung kann schließlich in ihrer Sinnhaftigkeit ausgewiesen werden. Diese Klassifikationen scheinen jedoch allein dann zuzutreffen, wenn die Analyse des Willens der Liebe auf A) und B) – auf das Vor-stellen und die Erzeugung der Gegenwendigkeit – restringiert wird. So ergibt sich angesichts der in C) und D) umrissenen Beschreibungen die entscheidende Frage, wie sich die Eigenschaften und Charaktermerkmale, die sich in den Aussagen „das Nichts wollen“, „gelassene Innigkeit“, „das reine Wollen“ sowie in der Feststellung, die Liebe wolle weder „das Ihre“ noch sich selbst, ausdrücken, mit dem basalen „Sichwollen“ und der „unbedingten Subjektivität“ vermitteln lassen. Diesbezüglich kann die

 Heidegger, GA 49, S. 194. Die Nähe der Liebe zur Negativität als Bewegungsprinzip bezeugt sich auch in WA I, S. 57. Dort hebt Schelling hervor, dass sich im Urwesen Ur-Bilder erzeugen, in denen alles, „was einst sein sollte“ versammelt ist, sodass es in der widerspruchsreichen „Lebensentwicklung des Urwesens“ eingeholt werden kann. Deswegen ist Heideggers Interpretation bezüglich der Negativität beizupflichten. Entscheidend ist jedoch nach wie vor, dass die Lauterkeit weder schaffen noch zeugen kann. Als rein ausquellende Kraft bedarf sie des anderen, ewigen Willens, der als kontrahierende Kraft den Grund ihrer Existenz bildet.  Heidegger, GA 49, S. 102.  Heidegger, GA 49, S. 102.  Vgl. Schelling, WA I, S. 98: „[…] sie will, daß der Gegensatz sey, damit sie aus ihm als Einheit aufgehen könne. Wer zweifelt, daß jenes übergöttliche Wesen der Lauterkeit, wenn es nur von der Existenz frey seyn wollte, alle Widerwärtigkeit in sich verzehren und so als vernichtendes Feuer von ihr ausgehen könnte? Aber dieß leidet die Liebe, leidet die Absicht der Offenbarung nicht. Im beständigen Daseyn und beständig gehemmten Ausbruch des Feuers liegt das höchste Geheimnis.“ Angesichts dieser bedrohlich-kämpferischen, ja potentiell zerstörerischen Wesensseite der Liebe greift Konstanze Sommer zu kurz, wenn sie gegen Heidegger anmerkt: „Diese Einseitigkeit der Interpretation, die Wollen wesentlich mit den Aspekten von Überwindung und Herrschaft identifiziert, lässt sich etwa an der Gegenüberstellung dessen, was bei Schelling als Wille gelten soll, zum Konzept des Willens zur Macht bei Nietzsche erkennen. Der Wille, um den es bei Schelling geht, wird von Heidegger im Gegensatz zum ‚Willen zur Macht‘ als ‚Wille der Liebe‘ charakterisiert, weshalb es auch an andere Stelle heißen kann, das ‚eigentlich Seiende‘ sei die ‚die Liebe‘ (VL 41, 90). Dieser als Liebe verstandene Wille scheint weder dadurch ausgezeichnet, dass ein Anderes, ja, nicht einmal, dass die das Andere ermöglichende Trennung selbst überwunden, übermächtigt oder unterworfen wird, sondern dadurch, dass der Widerspruch zugelassen und ‚ausgehalten‘ werden müsse.“ Vgl. Sommer, Metaphysik und Metaphysikkritik, S. 275.

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These vertreten werden, dass Heidegger mit der in C) formulierten Beiordnung von „das Nichts wollen“ und „reinem Wollen“ Schellings Figur der reinen Lauterkeit aus den Weltaltern im Blick hat.⁴⁶⁶ Vor diesem Hintergrund ist zu berücksichtigen, dass sich im Wollen des Nichts keine Abdankung des Wollens im Schopenhauerschen Sinne vollzieht.⁴⁶⁷ Vielmehr ist für Schelling der nichts wollende, ruhende Wille, der jeglichem „Hunger der Selbstsucht“⁴⁶⁸ diametral entgegensteht, Ausdruck der höchsten Freiheit. Wie Schelling in der zweiten Fassung der Welt-

 Vgl. Schelling, WA I, S. 26 – 27: „Den meisten, weil sie jene höchste Freyheit nie empfanden, scheint es das Höchste, ein Seyendes oder Subjekt zu seyn; daher fragen sie: was denn über dem Seyn gedacht werden könne? Und antworten sich selbst: Das Nichts, oder dem Aehnliches. Ja wohl ist es ein Nichts, aber wie die lautre Freiheit ein Nichts ist; wie der Wille, der nichts will, der keiner Sache begehrt, dem alle Dinge gleich sind, und der darum von keinem bewegt wird. Ein solcher Wille ist Nichts und ist Alles. Er ist Nichts, in wie fern er weder selbst wirkend zu werden begehrt, noch nach irgend einer Wirklichkeit verlangt. Er ist Alles, weil doch von ihm als der ewigen Freyheit allein alle Kraft kommt, weil er alle Dinge unter sich hat, alles beherrscht und von keinem beherrscht wird.“ Vgl. dazu Hühn, Der Wille, der Nichts will. Zum Paradox negativer Freiheit bei Schelling und Schopenhauer, In: Lore Hühn (Hrsg.), Die Ethik Arthur Schopenhauers im Ausgang vom Deutschen Idealismus (Fichte / Schelling),Würzburg 2006, S. 149 – 160.Vgl. auch Jens Halfwassen, Freiheit als Transzendenz. Schellings Bestimmung der absoluten Freiheit in den Weltaltern und in der Philosophie der Offenbarung, in: Hühn/Jantzen (Hrsg.), Heideggers SchellingSeminar (1927– 1928), S. 59 – 81. Zum Motiv des nichts-wollenden Willen vgl. dort bes. S. 75 – 77.  Heidegger untermauert die Abgrenzung gegenüber Schopenhauers Theorem der Willensverneinung, wenn er den mit der Liebe verknüpften Wesenszug „das Nichts wollen“ demonstrativ mit dem „reinen Wollen“ identifiziert. Vgl. Heidegger, GA 49, S. 102.  Schelling, Freiheitsschrift, SW VII, S. 390. Vgl. allerdings die folgende Probe aus einem Umarbeitungsbogen des Ersten Buches der Weltalter, in der Schelling das Überseyende mit den dezidiert negativen Willensmodi des Hungers, der Armut und der Sehnsucht deskribiert: Schelling, WA III 4, S. 216: „Aber jenes Überseyende, das wir vor allem Seyenden setzten, hat Nichts, es hat nicht allein sich selbst nicht, sondern es hat auch äußerlich nichts, u. ist auch in dieser Beziehung als der höchste Reichthum der Armuth gleich. Was also nichts hat, dem es sich gebe, das kann sich nicht geben, das kann sich nur selbst nehmen, damit es Etwas sey. Der höchste Reichthum wenn er nichts hat, dem er sich geben kann, wird der Armuth gleich, schlägt in sich selbst zurück und verzehrt sich selbst. […] Aber eben dieser Hunger des Nichts-seyns wird die Mutter der That u. ist der ewige und eigentliche Anfang, der, wie schon das Wort andeutet, überhaupt nicht in einem Geben, Aussprechen oder sich Mittheilen, sondern nur in einem Nehmen, Berauben, Anziehen bestehen kann. Dieser Hunger ist der wahre alles ziehende Magnet, die erste, aber auch dauernd beständig fortwirkende Spannung des Bogens unter dessen Bild schon das hohe Althertum das Leben sich vorgestellt.“ Zur anfänglichen Begierde des Prinzips vgl. Schellings Schilderung der Gestalt des Axieros in der 1815 veröffentlichten Schrift: Ueber die Gottheiten von Samothrake. Vorgelesen in der öffentlichen Sitzung der Baier’schen Akademie der Wissenschaften am Namenstage des Königes den 12. Oct. 1815. Beylage zu den Weltaltern. Stuttgart und Tübingen in der J.G. Cotta‘schen Buchhandlung 1815.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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alter von 1813 schreibt, ist er befreit von jeglicher Verpflichtung, das eigene Wollen aktualisieren und sich als Sein setzen zu müssen: Aufs kürzeste ausgedrückt also: das Höchste kann existiren, und es kann auch nichtexistiren; es hat so zu sagen alle Bedingungen der Existenz in sich, aber es kommt darauf an, ob es diese Bedingungen sich anzieht, ob es sie als Bedingungen gebraucht. Ein solches, dem es frei steht, nicht Etwas zu seyn oder nicht zu seyn, sondern zu existiren oder nicht zu existiren, ein solches kann nur selber und seinem Wesen nach Wille seyn: denn nur dem bloßen, lauteren Willen steht es frey, wirkend zu werden, d.i. zu existiren, oder unwirkend zu bleiben, d.i. nicht zu existiren. Ihm allein ist verstattet, zwischen Seyn und Nichtseyn gleichsam in der Mitte zu stehen.⁴⁶⁹

Weil er in seinem überseienden Wollen nichts Limitiert-Bestimmtes will, beherrscht er alle Dinge, zumal er von keinem einzigen affiziert wird. Es ist wahrscheinlich ebendiese Semantik des Nicht-Wollens mitsamt der Charakterisierung der Liebe als materietranszendente Wesenheit absoluter Souveränität, die Heidegger in seiner Substantiierung des Willens der Liebe besonders rezipiert. Die „innige Gelassenheit“⁴⁷⁰, d. h. die Unanfechtbarkeit seines Wesens, bedingt und erlaubt das Zulassen der Alterität. Die Andersheit kann das reine, gelassene Wollen nicht trüben. Die Liebe hat es schlichtweg nicht nötig, dem Willen des Grundes jenseits des von ihr kontrollierten Willens des Verstandes eine eigensüchtige Intentionalität entgegenzusetzen. Wie oben gezeigt, lässt sie dessen Kontraktionstendenz aufgehen, um in der dadurch ermöglichten Ausweitung sie selbst zu werden. Da die Liebe jenseits des reinen Wollens nichts hat, das sie werden könnte, offenbart sie sich freilich nicht als sie selbst.⁴⁷¹ Die Liebe enthüllt sich in der Gestalt der Einheit und des Bandes.

 Schelling, WA II, S. 45.  Vgl. Heidegger, Feldweg-Gespräche, GA 77, S. 106 – 108. Vgl. hierzu auch Arendts Kapitel Heideggers Wille zum Nicht-Wollen, in: Hannah Arendt. Vom Leben des Geistes. Das Wollen, S. 400 – 421. Auf der Basis seiner noch im Horizont der Entschlossenheitsanalyse von Sein und Zeit situierten, affirmativen Bewertung des Wollens parallelisiert Heidegger das wollende Wissen im Kunstwerk-Aufsatz keineswegs mit dem vorstellenden Sicherstreben. Heidegger prädiziert dem in der Gestalt des sinneröffnenden Erschließens der Offenheit des Seienden gefassten Wollen durchweg positive Wesenszüge, die später in den Gelassenheitsbegriff Eingang finden. Vgl. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, GA 5, S. 260: „Das Wissen, das ein Wollen, und das Wollen, das ein Wissen bleibt, ist das ektatische Sicheinlassen des existierenden Menschen in die Unverborgenheit des Seins. […] Wollen ist die nüchterne Entschlossenheit des existierenden Übersichinausgehens, das sich der Offenheit des Seienden als der ins Werk gesetzten aussetzt.“  Vgl. Schelling, WA II, S. 47: „Wenn aber das Aussprechende der Ewigkeit der Wille ist, der nichts will, so ist es nicht, daß er nichts hätte, das er wollen könnte; im Gegentheil, er hat das ewig Gewollte seiner selbst, (sich selber, als Subject und Object, als das eigentliche Wesen), aber er hat

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2. Teil: Heideggers Profilierung des willensmetaphysischen Narrativs

Demgegenüber braucht der Wille zur Macht den Widerstand, den er sich selbst immer aufs Neue schafft, um sich an ihm zu beweisen. Er eröffnet die Gegenwendigkeit nicht in einer selbstlosen Freigabe, die sich zur versöhnenden Einheitsbildung sublimiert. Der Wille zur Macht ruft die agonale Situation hervor, um sich in ihr emporhebend zu steigern. Dieser Wille findet seine unumstößliche Macht am äußersten Grenzstein eines Willens zum Nichts bestätigt, da er sich im Fortgang in seine Negation potenziert entzündet. Schellings Wille der Lauterkeit verweilt als reines Wollen ruhend in sich selbst, während die Sichselbstgleichheit des Willens zur Macht nur garantiert werden kann, wenn dieser im Akt der identitätsstiftenden Übermächtigung ebenjenen Vollzug in ewiger Wiederkehr immer wieder von neuem und darin sich selbst als denselben Überwindenden will. Mit dem Willen der Liebe ist nach Heidegger eine „unbedingte Metaphysik“⁴⁷² des Absoluten verknüpft. Obgleich deren theologische Konnotationen „befremdlich“⁴⁷³ erscheinen, seien sie in der modernen Wirklichkeitserfahrung und im nachidealistischen Gang der Philosophiegeschichte nur vordergründig von einer nüchternen Geltungseinschränkung und einer vollendeten Säkularisierung ersetzt worden. Die scheinbare Desillusionierung schreitet zur abweisenden Unempfänglichkeit für die mythologisch untermauerte Konzeption des Willens der Liebe fort. In diesem Prozess ereignet sich nach Heidegger die Ablösung der in eine geschichtsphilosophische Versöhnungserzählung eingebundenen Willensmetaphysik Schellings zugunsten des Stadiums der pragmatisch berechnenden Subjektivität des Willens zur Macht. Diese äußert sich primär in der Technik. Die Unterbindung des spekulativen, den Geist, die göttliche Güte und die endgültige Überwindung des Bösen inkludierenden Höhenfluges des Schellingschen Voluntarismus evoziert keine Eingrenzung der Deutungshoheit des Willensparadigmas. Im Kontrast zu diesem Eindruck, verhilft der scheinbare Bedeutungsverlust dem Willen allererst dazu, sich umso stärker auf die Ausübung des nunmehr in sich absolut gewordenen Wollens zu konzentrieren. Dergestalt weist Nietzsches Gedanke des Willens zur Macht in die Wahrheit voraus, „in die die neuzeitliche Geschichte rückt, weil sie bereits aus ihr herkommt“⁴⁷⁴: Wie hat sich inzwischen die unbedingte Metaphysik entfaltet? Heute scheint uns diese theologische Philosophie befremdlich und überspannt. Wir denken nüchterner? Wirklich?

es als hätte er es nicht, und ist allein darum der ruhende, der gleichgültige Wille. – Seyn als wäre man nicht; haben, aber als hätte man nicht; das ist im Menschen, das ist in Gott das Höchste.“  Heidegger, GA 49, S. 121.  Heidegger, GA 49, S. 121.  Heidegger, GA 49, S. 101.

2.2 Heideggers Bestimmung und Analyse des Willens

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Wir denken noch ‚absoluter‘ als diese absolute Metaphysik, noch ‚subjectiver‘; noch ‚wollender‘. Steigerung im Absoluten – nämlich in das Gegenwesen; Wille als Wille zur Macht; Wille zur Macht und die Notwendigkeit des Übermenschen.⁴⁷⁵

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Heideggers Nietzsche den Willen zur Macht im Unterschied zu Schelling als monolithisch-einheitlichen Wesenswillen denkt. Gleichzeitig buchstabiert Heidegger die Angewiesenheit des Willens zur Macht auf eine andere Entität – die ewige Wiederkehr – aus. Diese Verflechtung kann an der Wirklichkeit nicht mehr abgelesen werden, weil sie sich in dieser als dauerhafte Präsenz des Willens bezeugt. Schelling hingegen räumt zwar die immanente Negativität des Willens ein. Im Gegenzug kann Schelling jedoch die Independenz des sich zerspaltenden und dergestalt zur Einheit mit sich selbst zurückkehrenden Willens der Liebe bewahren.

 Heidegger, GA 49, S. 121– 122.

3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins: Versuch einer Systematisierung, Charakterisierung und Beurteilung der Willenstheorie Heideggers 3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik in Heideggers Aufsatz Überwindung der Metaphysik (1936 – 1946) 3.1.1 Das Dilemma der Willenskritik Heideggers Heideggers Aufsatz Überwindung der Metaphysik versammelt verschiedene Aufzeichnungen, die aus den Jahren 1936 – 1946 stammen und somit das Jahrzehnt der intensivsten Auseinandersetzung mit Nietzsche flankieren. Der Hauptteil ging deckungsgleich in die Festschrift für Emil Preetorius ein, die anlässlich des siebzigsten Geburtstag am 21. Juni 1953 publiziert wurde, während das 1939/40 verfasste Stück Nr. XXVI 1951 im Barlachheft des Landestheaters Darmstadt veröffentlicht wurde.¹  Vgl. die editorische Notiz in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 289. In klärender Absicht ist voranzustellen, dass es eine gleichnamige Abhandlung Heideggers mit dem Titel Die Überwindung der Metaphysik (1938/1939) gibt. Diese wurde im Band 67 der Gesamtausgabe (Metaphysik und Nihilismus) von Hans-Joachim Friedrich im Jahre 1999 herausgegeben (vgl. GA 67, S. 5 – 175).Weil die Abhandlung Überwindung der Metaphysik in den Jahren 1938/39 verfasst wurde, wird die Figur des Willens zum Willen in ihr noch nicht erwähnt. Vielmehr stehen der Wille zur Macht, die Wertsetzung und der Nihilismus im Zentrum, insofern sie gemeinsam die Vollendung der Metaphysik erbringen. Die metaphysikgeschichtlich qualifizierte Konzeption des Willens zum Willen erscheint zum ersten Mal im XXVI. Stück des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik, das bereits 1939/1940 verfasst wurde (vgl. Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 94 f). Als grundgebendes Movens der neuzeitlichen Metaphysik tritt der Wille zum Willen 1941/42 an einigen Stellen der seinsgeschichtlichen Abhandlung Das Ereignis auf. Dort spricht Heidegger dezidiert von dem „Weltalter des Willens zum Willen“ (vgl. Heidegger, Das Ereignis, GA 71, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a. M. 2009, S. 88). Hingegen entspricht der im Ersten Kapitel der nicht gehaltenen Vorlesung Nietzsches Metaphysik (1941/1942) genannte „Wille zum Willen“ noch nicht dem Titel des neuzeitumgreifenden Narrativs, sondern soll (wie schon 1936/37 in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst) die interne Befehlsstruktur des Willens zur Macht als „Ermächtigung zur Übermächtigung“ (Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 14) illustrieren. Deswegen parallelisiert Heidegger den derart verstandenen Willen zum Willen mit der „Macht zur Macht“ (vgl. Heidegger, GA 50, S. 14– 15). Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Heideggers Differenzierung der beiden Willenspole, da er die 1941/42 proponierte Aufgliehttps://doi.org/10.1515/9783110694253-005

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Für Heideggers Aufsätze durchaus unüblich, gliedert sich der Text in 28 mit lateinischen Ziffern überschriebene Stücke, deren Umfang zumeist eine halbe bis ganze Seite umfasst. In dem Aufsatz ist eine konzise Gedankenführung zu erkennen. Diese endet schließlich mit der Aussicht auf ein im denkerischen Zuspruch erfahrbares, „vorausweisendes Geleit“², das den Wandel einläuten könnte. Trotzdem bauen die einzelnen Stücke nicht unmittelbar aufeinander auf. In diesem Kapitel soll verdeutlicht werden, dass Heidegger in seiner Apostrophierung des keine Refugien mehr zulassenden Willens zum Willen selbst jener Dynamik zu erliegen droht, die er zu beschreiben versucht. Heidegger leitet die (vehement abgelehnte) Präeminenz des Willens aus einer seinsgeschichtlichen Notwendigkeit und aus dem „Geschick des Seins“ her, das sich am Ende der Metaphysik in der Gestalt des Willens zum Willen versammelt. Dessen Dominanz kann also nicht durch eine menschliche Behutsamkeit und Selbstzurücknahme abgemildert werden. Das tiefe Dilemma – so die These – der Heideggerschen Negativdiagnose beruht darin, dass Heidegger sogar den wohlgemeinten Anspruch auf eine menschliche Reaktion und Korrektur der vermeintlich unaufhaltsamen Katastrophe der „Verwüstung“ als Bestärkung des Willensprinzips auffasst, insofern dieses dadurch charakterisiert wird, die menschliche Subjektivität als Maß aller Dinge einzusetzen. Doch auch die (willentlich) entschiedene Abkehr von jedwedem Veränderungswunsch bleibt dem Willen unterworfen. In ihrer Dissoziation muss sie sich permanent auf das beziehen, wovon sie sich abstößt. Sie kann ihre Kraft zur Verneinung und zum Widerstand gegen den Willen zum Willen allein von diesem entlehnen. Die unzugängliche Entzugsstellen reklamierende Verweigerung gegen dessen ubiquitäre Durchdringung besitzt einzig den Schein der Freiheit, da sie innerhalb der Herrschaftslogik des Willens zu agieren gezwungen ist. Deswegen scheint

derung auch in der späteren Konzeption des wesenhaften Willens zum Willen beibehalten wird. Vgl. Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 14: „In dieses Wesen der Macht [d.i. der Selbstaufruf in die Übersteigerung, J.K.] bleibt das Wesen des Willens als Befehlen gebunden. Sofern aber Befehlen ein Sichselbergehorchen ist, kann insgleichen der Wille dem Machtwesen entsprechend als Wille zum Willen begriffen werden. Auch hier sagt ‚Wille‘ je Unterschiedenes: einmal Befehlen und zum anderen Verfügen über die Wirkungsmöglichkeiten.“ Der Aufsatz Überwindung der Metaphysik kann als das aussagekräftigste und reichhaltigste Zeugnis zur Thematik des Willens zum Willen benannt werden, weil der Wille zum Willen in dem Aufsatz eine systematische Ausgestaltung erhält und als bislang verborgene, erste und letzte Gestalt des Willenswesens (und damit auch der neuzeitlichen Metaphysik) markiert wird. In diesem Kapitel soll mit dem Titel Überwindung der Metaphysik allein der entsprechende Aufsatz bezeichnet werden, der in den siebten Band der Heidegger-Gesamtaufgabe aufgenommen wurde.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 98 [im Folgenden = Überwindung der Metaphysik].

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

neben der unreflektierten Akzeptanz und Weitergabe der Willensdirektiven allein eine Haltung möglich zu sein, die sich zwischen den Positionen der Selbstberuhigung (gemäß der Devise, dass alles in der Ordnung sei, da sich sowieso nichts ändern lasse), des Fatalismus und – in ihrer höchsten Erscheinung – der Gelassenheit bewegt. Das Szenario der Ausweglosigkeit äußert sich somit darin, dass jede menschliche Handlungsweise – die unbedacht affirmierende, die zurückweisend-distanzierte und die passiv-duldende – der Willensmacht zugutekommt, die durch das Seinsgeschick unausweichlich verfügt wurde. Heideggers These lautet, dass auch die Kritik das Regiment des Willens befeuert. Dieser erteilte der skeptischen Beurteilung des Voluntarismus zuvor die Absolution, um sich einen dienstbaren und zu überflügelnden Gegenwillen zu erzeugen. Dies scheint den Willen zum Willen in den Status der Unverwundbarkeit zu erheben. Generell ist die Auseinandersetzung mit dieser sich selbst immunisierenden Gedankenfigur immens aufschlussreich. So stellt sich die Frage nach dem Wesen der verabsolutierten, von Heidegger selbst geübten Kritik, welche die Einförmigkeit und Defizienz der Ordnung der Wirklichkeit aufzeigen möchte. Diese Kritik bleibt nicht bei der Aufdeckung und Beschreibung eines nur partiell zu bemängelnden und revidierbaren Nichtseinsollenden stehen. Vielmehr diagnostiziert Heidegger eine sich global entfaltende, in der neuzeitlichen Metaphysik der Subjektivität fundierte Entfremdung. Doch ist es nicht erst diese Form der philosophischen Fundamentalkritik, die jene von ihr erfahrenen und zur Sprache gebrachten Wesenszüge der Destruktivität, des tantalischen Strebens und der sich permanent übermächtigenden, zum Scheitern verurteilten Selbstkonsolidierung des ruhelosen, zum Grund der Wirklichkeit gewordenen Willensdranges überall vorzufinden meint? Forciert und besiegelt sie dergestalt nicht die Herrschaft des Willensparadigmas, indem sie diese Negativcharakteristika zuspitzt, ausweitet und mit dem Signum der Omnipotenz belegt?³ Und hebelt sich die jeden Wider-

 In diesem Sinne merkt auch Emil Angehrn an, dass mit Heideggers radikaler Zuspitzung der Kritik hin zu einer allumschließenden, synthetischen Vereinheitlichung die Möglichkeit der Feinbestimmung verloren gehe und schließlich kein Maßstab für den Entwurf von Alternativen mehr angegeben werden könne. Vgl. Emil Angehrn, Kritik der Metaphysik. Heidegger Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 235 f. Jean Grondin wirft die anregende und sachgerechte Frage auf, ob Heideggers Begriff der Metaphysik nicht selbst metaphysisch-technisch geprägt sei, da Heidegger die kritisierten Grundoperationen der Metaphysik – die holistische Rückgründung der Vielfalt, den differenzaufhebenden Einheitswillen, das Verfügbarmachen und die unerschütterliche Überzeugtheit von der Richtigkeit der eigenen Theoriebildung – seinerseits internalisiert habe und auf die Metaphysik selbst anwende. Vgl. Jean Grondin, Der deutsche Idealismus und Heideggers Verschärfung des Problems der Metaphysik nach „Sein und Zeit“, in: Harald Seubert (Hrsg.), Heideggers Zwiegespräch mit dem deutschen Idealismus, Köln 2003, S. 55 – 57.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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stand als zwecklos abweisende Kritik nicht selbst aus und schlägt in Affirmation und Einwilligung um, wenn sie am Ende behauptet, jede (und damit auch ihre anfängliche) Wendung gegen die willensbestimmte Wirklichkeit betätige diese? Oder endet sie – im Gegensatz dazu – in ihrer die Freiheit der Perspektivenvielfalt und mit ihr die Diversität möglicher Sichtweisen einebnenden oder als Selbsttäuschung diskreditierenden Gesamtbetrachtung damit, einen Nihilismus heraufzubeschwören, der sich in einer vermeidbaren Krise auslebt? Sind dies vielleicht nur subtile Einwände und Verunsicherungsargumente derer, die Kritik an einer vorbestimmt-notwendigen, metaphysischen Entität oder an der Verfasstheit ihres Zeitalters nicht mehr zulassen möchten? Auf welcher der beiden Seiten ist Heidegger einzuordnen? Im Hinblick auf diese Fragen soll transparent gemacht werden, dass Heideggers anamnetische Rekonstruktion der voluntaristischen Prägung der neuzeitlichen Metaphysik mit einer hochproblematischen Radikalisierung einhergeht. In dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik übersteigert und vollendet Heidegger Nietzsches Erhebung des Willens zur Macht zum Dechiffrierungsinstrument vermeintlich an sich seiender Wahrheiten. Dabei exkludiert er Nietzsches hermeneutische Einklammerungsbewegung, wonach auch der Wille zur Macht nur eine mögliche Interpretation des Weltgeschehens bedeuten könnte. Heidegger stilisiert den Willen zum Willen zum unvermeidbaren „Verhängnis.“ Konsequent bedacht, kompromittiert und betrifft der Ausschluss einer sachgerechten, kritischen Anfechtung des Willens Heideggers eigene Überlegungen nur dann nicht, wenn er ein Residuum auszuweisen vermag, das nicht unter der Botmäßigkeit des Willens situiert ist. Wird ein solcher Freiraum jedoch zugestanden, muss Heideggers Akzentuierung einer allumfassenden Wirksamkeit des Willens zum Willen in Frage gestellt werden. Es soll veranschaulicht werden, dass Heidegger im selben Moment, in dem er die Unhintergehbarkeit und die ungebrochene Strahlkraft der letzten Ausformung des sich in der Seiendheit manifestierenden Seins behauptet, die Universalität des Willens zum Willen schon dadurch dementiert, indem er sie benennt. Derjenige, der sie durchschaut, müsste einen Ort jenseits ihrer Verfügungsgewalt einnehmen. Dies wäre jedoch unmöglich, wenn dem Willen zum Willen jene Eigenschaften der Unwiderruflichkeit und der subtilen Lenkung sämtlicher Vorgänge zukämen, mit denen Heidegger ihn in Überwindung der Metaphysik ausstattet. Anhand signifikanter Belegstellen soll der Nachweis erbracht werden, dass sich diese intrikate Struktur nicht nur im Hinblick auf den Menschen äußert. Sie spiegelt sich auch auf der Seite des Seins wider. Die Grundzüge der Ambivalenz in der Konstellation zwischen dem Sein und dem Willen zum Willen wurden bereits angedeutet. Auf der einen Seite wird der Wille zum Willen dadurch erklärt und in eine metaphysisch gegründete Rechtssicherheit gesetzt, dass er die seit Descartes

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

vorherrschende Zeigeweise des Seins als Willenswesen, welches sich in verschiedenen Formen der Seiendheit (appetitus, praktischer Vernunftwille, Wille zum Wissen, Wille der Liebe, Wille zum Leben, Wille zur Macht) artikuliert, versammelt und endgültig zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite wird der Wille zum Willen deprivilegiert, weil er als letzter, den Übergang einleitender Akteur in eine geschichtsphilosophische Niedergangserzählung eingebettet wird. In der Analyse des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik soll daher der Spur der seinsgeschichtlichen Kernauffassung Heideggers nachgegangen werden. Deren Relevanz soll im zweiten Abschnitt des 3. Teils anhand der Besprechung der Seingeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus demonstriert werden. Nach Heidegger ist es kein genuin menschlicher Einfluss, der die Wesensgestalten der Geschichte konstituiert, sondern die epochale Offenbarkeit des Seins. Selbst die Seinsvergessenheit und die Verkehrung des anfänglichen Zuspruchs des Seins als reines Aufgehen der Physis hin zur (vom Willen zum Willen stabilisierten) Vormacht des Seienden gehören dem Sein zu und werden von diesem veranlasst. Die einzige Möglichkeit zur Überwindung der Metaphysik und zur Suspension des Willens zum Willen wurzelt darin, dass sich das Sein in der Gestalt des Willens zum Willen selbst verwinden muss, um im anderen Anfang in seiner „anfänglichen Wahrheit“ aufgehen zu können.⁴ Die im Aufsatz Überwindung der Metaphysik verfochtene Konzeption, die in der Reaktion auf die diagnostizierte Hybris der menschlichen Subjektivität deren Einfluss möglichst gering halten möchte (wodurch diese sowohl der Anklage als auch der konstruktiven Begutachtung entzogen wird) weist eine unverkennbar zynische Tonlage auf. Dies ist dem Sachverhalt geschuldet, dass nicht nur der Aufstieg des willenserfüllten Menschen zum Zentrum und Bestimmungsgrund des Seienden auf dem Seinsgeschick fußen soll. Auch die „Verwüstung“ der Erde wird auf das Seinsgeschick abduziert. Die Übereignung des Seienden in den Machtbereich des Willens zum Willen wird von dem Seinsgeschick initiiert, um die Gehaltlosigkeit und Bedrohlichkeit des allein auf das Seiende gerichteten Willens zum Gipfel ihrer Selbstzerstörung zu führen. Durch diese Exposition einer geschichtsüberspannenden Interaktion des in der Metaphysik inkarnierten und zugleich über diese hinausweisenden Seins mit sich selbst exkulpiert Heidegger allerdings den Menschen. Heidegger neigt dazu, sowohl die Ausdehnung der Technik als auch das sinnlose Leiden in das Seinsgeschick einzuspannen. Auf diese Weise läuft Heidegger Gefahr, das von Menschen begangene und deswegen auch von diesen zu verantwortende Unrecht als Vehikel oder Anzeige einer Kehre des Seins zu nobilitieren.

 Zur Thematik des anderen Anfangs vgl. Helene Cichy, Der „andere Anfang“ in der Geschichte des Seins. Wege zu einem anderen Denken bei Martin Heidegger und Rudolf Steiner, Würzburg 2000.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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3.1.2 Heideggers seinsgeschichtlich-eschatologische Transformation der Willensanalyse Schopenhauers und die äußerste Krisis im Sein: Zur Bedeutung der Motive des „Einsturzes“, der „Verwüstung“ und der „Nichtigkeit“ Heideggers Hauptgedanken gruppieren sich im Aufsatz Überwindung der Metaphysik um den Motivkreis der Vollendung der Metaphysik. Diese wird als Übergang in eine „Ver-endung“⁵ verstanden. Die ‚Ver-endung‘ äußert sich als Herrschaftsübernahme der Metaphysik im Seienden, welchem sie zuletzt den unangefochtenen Vorrang erteilte. Der gewählte Titel einer ‚Überwindung‘ der Metaphysik korrespondiert nicht der Intention, die Metaphysik fluchtartig zurückzulassen oder sie zu dämonisieren. Auch soll die Metaphysik nicht als unverbindlich, fragil oder anachronistisch erscheinende Lehrdisziplin philosophisch bekämpft oder zugunsten einer positivistischen Alleinstellung der Wirklichkeit negiert werden. Dies betrifft auch Nietzsches metaphysikkritisches Denken. In dessen Gestalt versammeln sich nach Heidegger die Erschöpfung aller metaphysischen Entwürfe, die Übergangsmöglichkeit in den anderen Anfang und die äußerste Verdunkelung der anfänglichen Wahrheit des Seins. Die Umkehrung des Platonismus, in der das Metaphysische, die Transzendenz, vermeintlich getilgt wird, wird von Heidegger erneut als „endgültige Verstrickung in die Metaphysik“⁶ tituliert. Die Durchstreichung des Übersinnlichen konvergiere mit dessen Loslassung als Wille zur Macht innerhalb des „Elementaren der Sinnlichkeit“.⁷ Nach Heidegger eröffnet sich das Faktum des Überwundenseins der Metaphysik, d. h. ihre gänzlich in die Formung der Wirklichkeit einkehrende Vergangenheit, innerhalb einer andersanfänglichen Blickbahn. In dieser Perspektive enthüllt sich das über die Gestaltwerdung der Seiendheit ausgedrückte „Geschick der Wahrheit des Seienden“⁸ als eine sich verschärfende Übergangsbewegung in die „Vergessenheit des Seins“.⁹ Die sich als „Verwindung des Seins“¹⁰ vollziehende ‚Überwindung der Metaphysik‘ kann somit als Selbstversiegelung des in der Seiendheit erscheinenden Seins zugunsten des darin noch verborgenen Ereignisses gesehen werden. Die Metaphysik soll durch die „anfängliche Verwin-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 69.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 69.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 69.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

dung der Vergessenheit des Seins“¹¹ in ihre aus der Geschichte des Seins herkommende Wahrheit zurückgewiesen werden. Gerade in der vollendeten Hegemonie des Seienden ereignet sich nach Heidegger der Untergang der „Wahrheit des Seienden“¹², weil diese durch das vorauswaltende Aufgehen des Seins getragen wird. Damit musste sich auch die Wahrheit des Seienden stets auf das nunmehr gänzlich vergessene Sein zurückbeziehen. Die Singularität des Seienden erreicht ihren Gipfelpunkt, um am höchsten Ort ihres Aufstieges suspendiert zu werden beziehungsweise sich selbst aufzuheben. Zur Aufrechterhaltung ihrer Zentralität muss sie den gänzlichen Ausschluss der anfänglichen Lichtungsart des Seins herbeiführen, von der sie bei aller Verschattung abhängig ist. Der Untergang der (von der sich verbergenden und sich schließlich verweigernden Wahrheit des Seins) freigegebenen Unverborgenheit des Seienden zeitigt nach Heidegger zwei fundamentale Begleitfaktoren und Symptome: „Dem Einsturz der von der Metaphysik geprägten Welt“¹³ wird die „Verwüstung der Erde“¹⁴ beigestellt. Die Verwüstung versteht Heidegger dabei im Rekurs auf Nietzsches Wort „Die Wüste wächst“¹⁵ als vorauslaufende und sich ausbreitende Unterminierung von jeglichem der menschlichen Verfügbarkeit Entzogenen. Diese Machtausweitung äußert sich als unaufhörliche Zweckanbringung und Ausbeutung der Erde. Der Einsturz bezeichnet gewissermaßen die eschatologische Dimension der Verwüstung. Die von der Metaphysik ermöglichte Verwüstung erwirkt die Aufhebung und den Einsturz des menschlichen Weltregiments, das in der Metaphysik der Neuzeit grundgelegt wurde. Die in der Okkupation des Erdballs unter dem Banner des Wesens der Technik vorangetriebene Ressourcenaneignung kann sich nur vollziehen, wenn der Mensch aufgrund einer einschneidenden Wesensveränderung maßgeblich auf

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 77. Vgl. zum Übergang in das Zeitalter des Ereignisses: Mark A. Wrathall, Stichwort: Seinsgeschichte. Vom „Aufgang“ zum „Ereignis“, in: Dieter Thomä (Hrsg)., Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 328 – 335.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70. Vgl. zur Beziehung zwischen der Verwüstung und dem Willen zum Willen: Heidegger, Das Ereignis, GA 71, S. 91: „Die irrsternliche Verwüstung hat ihren einzigen Grund in der Zusammenstimmung aller Mächte in dem selben Willen. Daher ist die technische Lenkung der noch verbleibenden ‚Geschichte‘, die sich in ein bloßes Ordnen von Lebensvorgängen im Dienste des Willens zum Willen aufgelöst hat, vom Prinzip des schnellen Nachmachens und mengenmäßigen Überholens geleitet; nirgends ist Verwandlung, Besinnung, Umgestaltung, sondern nur die eine Übervorteilung im Mehr an Willensvorrichtungen und Rüstungen.“  Vgl. Nietzsche, Dionysos-Dithyramben, Unter Töchtern der Wüste, KSA 6, S. 382.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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eine solche kapriziert ist, d. h. als „arbeitendes Tier fest-gestellt wird“.¹⁶ Entscheidend ist, dass sowohl die „äußerste Verblendung über die Seinsvergessenheit“¹⁷, die Fixierung des Menschen auf die arbeitsame Verwüstung der Erde, die Figur der Selbstnegation der Subjektivität im Modus ihrer lückenlosen Verwirklichung als auch das damit verknüpfte Versprechen einer anfänglichen Ereignung des Seins mit dem Willen zum Willen verbunden sind. Der Wille zum Willen – dies kann bereits an dieser Stelle gesagt werden – ist der Impetus der auf die Spitze getriebenen Negativität und Sicherung einer Priorisierung des Seienden, die durch ihn der einschneidenden Zäsur entgegengeführt wird. Heidegger widmet sich dabei der nach der Nietzsche-Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst 1936/37 in den Hintergrund geratenen Binnenbeziehung zwischen dem Willen und dem Einzelnen. Diese Relation denkt Heidegger nun ausschließlich im Ausgang von einem übermächtigen Willen, der strategisch und fintenreich agiert. Bereits im III. Stück findet sich die für den Willen zum Willen charakteristische, komplexe Dialektik: Der Mensch aber will sich als den Freiwilligen des Willens zum Willen, für den alle Wahrheit zu demjenigen Irrtum wird, den er benötigt, damit er vor sich die Täuschung darüber sicherstellen kann, daß der Wille zum Willen nichts anderes wollen kann als das nichtige Nichts, demgegenüber er sich behauptet, ohne die vollendete Nichtigkeit seiner selbst wissen zu können.¹⁸

1936/37 hatte Heidegger das Argument Nietzsches, der Wille „wolle eher noch das Nichts wollen, als nicht wollen“¹⁹, in eigener Sache übernommen, um die Unaufhebbarkeit des Willens zur Macht gegenüber der von Schopenhauer entfalteten Theorie der Willensverneinung zu untermauern. In der obigen Passage wird der Wille zum Willen hingegen im zweifachen Sinne an eine Nichtigkeit angebunden. Der Wille zum Willen kann nach Heidegger nichts anderes wollen als „das nichtige Nichts“.²⁰ Von diesem stößt er sich zwecks Wesenserhaltung ab, ohne zu erfahren, dass dieses in seiner Zielfunktion geleugnete Nichts gar nichts anderes als sein eigenes Wesen ist, die „vollendete Nichtigkeit seiner selbst“.²¹ Die Ziel-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 339: „Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

losigkeit des Willens verlegt sich somit in den Anschein einer Vitalität, die sich durch die permanente Zurückweisung und Leugnung des Nichts bei gleichzeitiger Verdeckung der Angewiesenheit auf dieses aufrechterhält. Nach Heidegger wird diese Nichtigkeit überdeckt, indem der Mensch sich als „Freiwilligen“²² des Willens zum Willen will. Der Wille zum Willen kaschiert die eigene Selbsttäuschung durch die von Seiten des Menschen nicht nur widerstandslos akzeptierte, sondern zur individuellen Identitätsstiftung erforderliche Involvierung in den Irrtum der Bedeutsamkeit des Angestrebten. In diesen Topos integriert Heidegger – so die These – die Nietzschesche Figur des Willens zum Schein, der in der Charade des Willens zum Willen seinen Zenit erreicht. Beide Seiten – der Wille und der Einzelne – gewähren sich wechselseitig die Illusion geglückter Sinnverfolgung. Arrangiert über den Willensvollzug des Einzelnen, dem der Wille zum Willen das zu verfolgende Ziel vorgibt, stabilisiert sich die Selbsttäuschung des Willens zum Willen, wonach seinem Wiedereinrollen in die anfangslose Dynamik eine welthaltige Fülle korrespondiere. Der Einzelne wiederum verdeckt in der Freiwilligkeit den aus dem Willen zum Willen ergehenden Nötigungscharakter, sodass der Anschein einer Selbstbestimmung gegenüber dem Willen dieses Willens gewahrt bleibt. Anstatt jedoch die willensgenährte Entbehrung zu stillen, wird diese durch die vermeintlich eigenständige Motivwahl prolongiert. Es ist offenkundig, dass sich das Verhältnis zwischen einem zwecklosen, übergreifenden Willen einerseits und dem Individuum andererseits, das sich tatkräftig fadenscheinige Ziele vorauswirft, in denen sich der gestaltgeworden-vereinzelte Drang des Weltwillens manifestiert, in Schopenhauers Metaphysik vorgebildet findet. Generell lässt sich sagen, dass sich der Text Überwindung der Metaphysik an vielen Stellen wie eine Schopenhauersche, desillusionierte Willenskritik liest, die ins Seinsgeschichtlich-Eschatologische gewendet wird.²³ Die Übertragung des bei Schopenhauer universalen und über-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Die These einer Nähe zwischen Schopenhauers Metaphysik und Heideggers Lesart des Willens vertritt auch Helmut Holzhey in seinem kenntnisreichen und überzeugenden Aufsatz Wille zum Leben (Schopenhauer) – Wille zur Macht (Nietzsche) – Wille zum Willen (Heidegger). Er begründet diese Ähnlichkeit in erster Linie nicht über die ruinöse Selbstentgegensetzung und den unstillbaren Drang, der sowohl dem Weltwillen Schopenhauers als auch dem Willen zum Willen eignet. Stattdessen schlägt Holzhey einen Argumentationsweg ein, der auf Heideggers Beschreibung des Willens in der ersten Nietzsche-Vorlesung zurückgreift. Vgl. Helmut Holzhey, Wille zum Leben (Schopenhauer) – Wille zur Macht (Nietzsche) – Wille zum Willen (Heidegger), in: Gesellschaft für hermeneutische Anthropologie und Daseinsanalyse, Bulletin 2016.1 Sommersemester, S. 26: „Indem Heidegger den Willen zur Macht im Wollen selbst verankert, im Wollen, das nie als auf ein bestimmtes Ziel gerichtetes Wollen eines Einzelnen verstanden werden soll (73), sucht er die metaphysische These einleuchtend zu machen, dass der Wille zur Macht ‚das Sein und Wesen des

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zeitlichen, willenskritischen Momentes in die Seinsgeschichte bedingt bei Heidegger allerdings – ähnlich wie bei Ernst Jünger, der die gefährlichen Vorgänge „begrüßen“²⁴ möchte – eine Affirmation des Geschehenden. Diese stützt sich auf

Seienden selbst‘ ist (73). In einem gewissen Sinne kehrt Heidegger so zu Schopenhauers Gedanken, die Welt sei Wille, zurück, allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass er den Willen nicht als das An-sich-Sein der erscheinenden Dinge setzt, als deren unserer Vorstellung unzugängliches ‚wahres‘ Sein, sondern dem Sein selbst von einem erst noch zu überwindenden, in seiner (vor)letzten Phase befindlichen metaphysischen Denken zugeschrieben behauptet.“ Demnach bezieht sich Holzhey stärker auf Heideggers metaphysische Erhebung des Willens (zur Macht) zum Wesen der Wirklichkeit als auf die habituelle Strukturüberschneidung zwischen dem Willen zum Leben und dem Willen zum Willen. Der „Wille zum Willen“ wird von Holzhey im weiteren Fortgang des Aufsatzes zwar durchaus an den Komplex der Technik angebunden. Weil Holzhey den Willen zum Willen jedoch ausschließlich am Ende der Metaphysik verortet, beurteilt er den Willen zum Willen nicht als grundlegendes Narrativ, mit dem Heidegger die Tendenz, die Hauptcharakteristika und die Verlaufsrichtung der neuzeitlichen Willensmetaphysik zusammenzufassen sucht. Einen Schwerpunkt legt Holzhey hingegen darauf, dass der „Wille zum Willen“ Heideggers Interpretation der innewohnenden Bewegtheit des Willens zur Macht sei. In Bezug auf die Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst ist die Ansicht Holzheys vollkommen zutreffend. Auf der Basis der Gleichsetzung von Wille und Macht gelangt Heidegger zu dem Urteil, der Wille zur Macht sei „Wille zum Willen“ (vgl. Heidegger, N I, S. 33: „Was heißt Wille? Was heißt Wille zur Macht? Diese zwei Fragen sind für Nietzsche nur eine; denn Wille ist für ihn nichts anderes als Wille zur Macht, und Macht ist nichts anderes als das Wesen des Willens. Wille zur Macht ist dann Wille zum Willen, d. h. Wollen ist: sich selbst wollen.“). Es ist jedoch wichtig, dass diese verdeutlichende Erhellung der Weise, wie und wozu sich der Wille zur Macht in seinem Sichselbst-Wollen selbst befiehlt, von Heideggers späterer Ausdeutung des Willens zum Willen als Titel für das Weltzeitalter der Subjektivität und als neuzeitbestimmende Ausprägung des Seins zu unterscheiden ist. Der Wille zum Willen – d. h. das Sein in seiner Selbstverkehrung – nimmt den Willen zur Macht und alle anderen Figurationen des Willens in sich auf, was er nach Heidegger nur kann, weil er sie zuvor (seit Kant) freigegeben hat. Zwar kommen dem Willen zum Willen durchaus Wesensmerkmale zu, die Heidegger in seinen Nietzsche-Vorlesungen dem Willen zur Macht zugesprochen hatte (z. B. Herr-sein-wollen, Aufforderung an sich selbst, Steigerung in der Kunst und Erhaltung durch die Wahrheit). Entscheidend ist allerdings, dass sich der Willen zum Willen auch aus den Vollzugsweisen zusammensetzt, die Heidegger in Hegels Willen des Geistes (Anerkennung, Negativität, allseitig-vermittelte Durchdringung), in Schellings Wille der Liebe (Einheitsstreben, Offenbarungstrieb, Unterscheidung) und in Schopenhauers Wille zum Leben (Unabhängigkeit von der Zeit, Sinnlosigkeit des Wollens und des Gewollten, permanente Unruhe und Bedürftigkeit) hervorhebt.  Vgl. das Vorwort von Ernst Jünger aus dem Jahre 1963: Ernst Jünger, Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Stuttgart 2014, S. 9: „Das Werk über den Arbeiter erschien im Herbst 1932, zu einer Zeit, in der bereits an der Unhaltbarkeit des Alten und der Heraufkunft neuer Kräfte kein Zweifel mehr bestand. Es stellte und stellt den Versuch dar, einen Punkt zu gewinnen, von dem aus die Ereignisse in ihrer Vielfalt und Gegensätzlichkeit nicht nur zu begreifen, sondern, obwohl gefährlich, auch zu begrüßen sind.“ [von mir kursiv, J.K.]

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

die Antizipation des aufkeimenden Unterschiedes zwischen anfänglicher Wahrheit und willenhaftem Sein: Ehe das Sein sich in seiner anfänglichen Wahrheit ereignen kann, muß das Sein als der Wille gebrochen, muß die Welt zum Einsturz und die Erde in die Verwüstung und der Mensch zur bloßen Arbeit gezwungen werden. Erst nach diesem Untergang ereignet sich in langer Zeit die jähe Weile des Anfangs. Im Untergang geht alles, d. h. das Seiende im Ganzen der Wahrheit der Metaphysik, zu seinem Ende. Der Untergang hat sich schon ereignet. Die Folgen dieses Ereignisses sind die Begebenheiten der Weltgeschichte dieses Jahrhunderts. Sie geben nur noch den Ablauf des schon Verendeten. Sein Verlauf wird im Sinne des letzten Stadiums der Metaphysik historisch-technisch geordnet. Diese Ordnung ist die letzte Einrichtung des Verendeten in den Anschein einer Wirklichkeit, deren Gewirk unwiderstehlich wirkt, weil es vorgibt, ohne ein Entbergen des Wesens des Seins auskommen zu können und dies so entschieden, daß es von solcher Entbergung nichts zu ahnen braucht. Dem Menschentum der Metaphysik ist die noch verborgene Wahrheit des Seins verweigert. Das arbeitende Tier ist dem Taumel seiner Gemächte überlassen, damit es sich selbst zerreiße und in das nichtige Nichts vernichte.²⁵

In dieser eindringlichen Passage wird transparent, dass Heideggers zwei Auswege aus der fatalen Willensdominanz kennt: Der erste, in dem obigen Zitat exponierte Weg erinnert an den Telephos-Mythos. Der zweite Weg ist durch das Denken der Gelassenheit bezeichnet. Die Plausibilität des letzteren Weges ist aufgrund der von Heidegger in aller Deutlichkeit ausbuchstabierten Verfügungsgewalt der Metaphysik über den Einzelnen höchst fragwürdig. Auch die Behauptung der Möglichkeit eines diesseits von Willensbejahung und Willensverneinung stehenden Nicht-Wollens ist als Illusion zu beurteilen. Diese kann nur durch die Abmilderung der in der Willensmetaphysik zum Austrag kommenden Unhintergehbarkeit der Eingliederung des Individuums in den voluntativen Machtvollzug aufrechterhalten werden. Der Harmlosigkeit, Anschlussfähigkeit, Kompromissrhetorik und Selbstberuhigung der von Heidegger ab 1944/45 entwickelten Gelassenheitskonzeption steht der unverfrorene, kühl-nüchterne, ja zynische, aus der Immanenz der Geschichte der Metaphysik sprechende Vollendungshabitus diametral gegenüber. Wesentlich ist Heideggers Differenzierung zwischen dem Untergang und dem „Ablauf des schon Verendeten“.²⁶ Der Untergang stellt zwar das singuläre, metaphysische Geschehnis dar, durch welches der Aufgang des Seins in der Subjektivität verschwindet, weil diese die Begründung des Seienden auf sich nimmt. Er repräsentiert allerdings kein Ende, sondern den Anfang der technischen Ge-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 71.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 71.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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samtverwaltung der Erde. Heidegger konzipiert in der obigen Passage jedoch noch einen zweiten Untergang, beziehungsweise: er verleiht diesem eine zweite Bedeutung. Neben dem zurückliegenden Untergang der Wahrheit des Seienden, der den Ablauf der Verwüstung freisetzt, konvergiert Heideggers drastische Konzeption einer Brechung des Seins als Wille mit dem Untergang des Seins als Seiendheit, auf den sich der verschüttete, andere Anfang ereignen kann.²⁷ Dieser Untergang erweist sich als ein durativer Prozess. Er übergreift seine Folgen und äußert sich als ein Interregnum. In dieser Phase nährt sich der Wille zum Willen unwissentlich von den Anleihen einer verschatteten Entbergung des Seins. Heideggers geschichtsphilosophischer Ausgriff auf die „jähe Weile“²⁸ des sich ereignenden Anfangs beruht auf der Auffassung, dass der Bruch des Seins als Wille sich in dem Emporkommen des Willens zum Willen bereits ereignet hat. Dessen Aufstieg wird gerade dadurch definiert, die Folgen der monolithischen Willensausgestaltung der Wirklichkeit zu koordinieren. Wenn die Vollendung der Metaphysik mit dem Widerfahrnis des Unterganges zusammenfällt und dieser in die Scheinordnung des Willens zum Willen einmündet, müssen absolutes Wissen und unbedingte Gewissheit zwar als Vorstufen beurteilt werden. Gleichwohl bleibt in Hegels Philosophie die Willensbewegtheit der Negativität, des Vor-stellens und der Anerkennung auf den Vermittlungsweg des „Willens des Geistes“ bezogen: Die Vollendung der Metaphysik beginnt mit Hegels Metaphysik des absoluten Wissens als des Willens des Geistes. Warum ist diese Metaphysik erst der Beginn der Vollendung und nicht sie selbst? Ist die unbedingte Gewißheit nicht zu sich selbst gekommen als die absolute Wirklichkeit? Gibt es hier noch eine Möglichkeit des Hinausgehens über sich? Dieses wohl nicht. Aber noch ist die Möglichkeit des unbedingten Eingehens auf sich als den Willen des Lebens nicht vollzogen. Noch ist der Wille zum Willen nicht als der Wille zum Willen in

 Die Zwiespältigkeit und Unabwägbarkeit des Zeitalters der Ver-endung der Metaphysik, das sich unter der Herrschaft des Willens zum Willen in der unüberwindbaren Selbstabschließung zu konsolidieren scheint und sich zugleich als Auspizium und Vorschein des anderen Anfanges und des Ereignisses zu entbergen beginnt, wird auch in dem aufschlussreichen Protokoll zum Seminar über den Vortrag Zeit und Sein (1962) diskutiert. Vgl. Heidegger, Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein“, in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, S. 62– 63.: „Zwischen den epochalen Gestalten des Seins [d.i. die Geschichte der Seiendheit als Metaphysik, J.K.] und der Verwandlung des Seins ins Ereignis steht das Ge-stell. Dieses ist gleichsam eine Zwischenstation, bietet einen doppelten Anblick, ist – so könnte man sagen – ein Januskopf. Es kann nämlich noch gleichsam als Fortführung des Willens zum Willen, mithin als eine äußerste Ausprägung des Seins verstanden werden. Zugleich ist es aber eine Vorform des Ereignisses selbst.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 71.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

seiner von ihm bereiteten Wirklichkeit erschienen. Deshalb ist die Metaphysik mit der absoluten Metaphysik des Geistes noch nicht vollendet.²⁹

Der Wille des Lebens – mit dem Heidegger offenkundig auf Schopenhauer und Nietzsche anspielt – ist nicht die irrationale Gegenseite zum Willen des Geistes. Vielmehr repräsentiert er die Übernahme und anpassende Herabstufung des sich im Telos der lückenlosen Rekonstruierbarkeit der Wissensstufen vollendenden Gewissheitsprinzips auf den als beständiges Werden zugelassenen Bereich des Lebens und auf die Sinnlichkeit des Menschen. In dem obigen Zitat ist die dem Willen zum Willen zugesprochene Einsatzstufe signifikant. Der Wille zum Willen bahnt sich im Willen des Geistes an. Allerdings ist die von dem Willen zum Willen konfigurierte Wirklichkeit dadurch charakterisiert, die Sinnlichkeit des Menschen als Instinkt zu prägen. Der Instinkt vollzieht die dem Geist eignende Planung und Sicherung intuitiv. Die entscheidende Pointe besteht darin, dass sich erst durch die mit dem Willen zur Macht erwirkte Umkehrung des Platonismus die Bedingtheitsstruktur in einer Weise abwandeln kann, in der die Sinnlichkeit und das Werden für sich eine Bestandskonservierung fordern. Diese Forderung kann die Vernunft nur erfüllen, wenn sie die Wirklichkeit nicht in sich zum Gipfel der epistemischen Durchdringung vermittelt. Die Vernunft muss sich aneignend auf die sinnliche Realität einlassen. Mit Nietzsches Denken beginnt „die unbedingte Herrschaft der Metaphysik“.³⁰ Diese Suprematie fällt mit der Vollendung der Metaphysik ineins. Die Metaphysik schreitet zur Selbstbejahung einer Auslieferung an das Unwesen fort, dessen Entfremdung vom anfänglichen Aufgang das Sein selbst evozierte. Heidegger prägt in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik den Ausdruck „Verhängnis“.³¹ Diese Bezeichnung soll den Übergang des Seienden in die gänzliche Seinsverlassenheit ausdrücken.³² Im Begriff des Verhängnisses nimmt Heidegger

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 74.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.  Mihaly Vajda argumentiert überzeugend, dass sich die Einsicht in den Verhängnischarakter der Metaphysik zwar erst an deren Ende herauszuschälen vermag. Nichtsdestotrotz wird von dort der Blick freigegeben auf die Unerschöpflichkeit und Möglichkeitsvielfalt des Ereignisses. Für diese Besinnung ist entscheidend, dass sich das Ereignis nach der Verendung der Metaphysik nicht nur künftig in eine andere Geschichte seiner selbst begeben könnte. Das Ereignis hätte sich auch schon im ersten Anfang anders zeigen können. Auf diese Weise sind nach Vajda die Folgen des ersten Anfanges prädeterminiert und notwendig. Dies treffe jedoch nicht auf den kontingent und rätselhaft bleibenden Entzug des Seins in dem ersten Anfang zu. Vgl. Mihaly Vajda, Denken von Ereignis und Metaphysik als Geschichte des Seins, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), Verwechselt mich vor Allem nicht!, Heidegger und Nietzsche, S. 127– 138, hier S. 129: „In diesem his-

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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zwei Bedeutungsfiliationen auf. Zum einen versinnbildlicht er, dass die einschneidenden Stadien der Geschichte der Metaphysik nicht auf menschlichen Entscheidungen fußen. In den Hauptepochen wird ein Sinngehalt zum Vorschein gebracht, der in der Philosophie der wesentlichen Denker als Kristallisation des Seins des Seienden verdichtet ist. In diesem Sinne verdeutlicht das Wort Verhängnis den geschickhaft-notwendigen Wesenszug der Seinsgeschichte. Zum anderen bindet Heidegger das Verhängnis – mit einer gewissen etymologischen Waghalsigkeit – an das in seiner Autoimmunisierung forcierte „Hängenlassen“ des Menschen inmitten des Seienden an.³³ Diese Verschattungstendenz schreibt sich maßgeblich von der verwehrten Unterscheidung von Sein und Seiendem her, in der das Seiende als Sein des Seienden übervalorisiert wird. Der Austragungsort dieser Differenz, die Zwiefalt, aus der sich das Sein in das Andere seiner selbst entlässt, gerät nicht mehr in den Blick. Von zentraler Bedeutung ist allerdings, dass es der Wille zum Willen ist, der diese Zusammengehörigkeit und Unterscheidbarkeit von Sein und Seiendem an das Licht bringen könnte: Dieses seinsgeschichtlich zu denkende Verhängnis ist aber deswegen notwendig, weil das Sein selbst den in ihm verwahrten Unterschied von Sein und Seiendem erst dann in seiner Wahrheit lichten kann, wenn der Unterschied selbst sich eigens ereignet. Wie aber kann er dies, wenn nicht das Seiende zuvor in die äußerste Seinsvergessenheit eingegangen ist und das Sein zugleich seine metaphysisch unkennbare unbedingte Herrschaft als der Wille zum Willen übernommen hat, der sich zunächst und einzig durch den alleinigen Vorrang des Seienden (des gegenständig Wirklichen) vor dem Sein zur Geltung bringt?³⁴

Der Unterschied zeigt sich demnach, indem das Seiende und das im letzten Stadium seiner Geschichte als willensförmige Seiendheit auftretende Sein eine gegenläufige Bewegung vollziehen. Das Seiende hat sich in den äußersten Entzug des Seins begeben, sodass sich das Sein darin als das Seiendste bewahrheiten kann. Das Sein vermag sich nämlich noch in der scheinbar größten Entfernung vom Seienden in diesem als Quellgrund des Willens zum Willen zu etablieren. Aus der Erkenntnisreichweite und Tiefenschau dieser Sichtbahn kann die Metaphysik

torischen Augenblick [in der Vollendung der Metaphysik, J.K.] wird klar […] daß die Metaphysik, die durch den Vorrang des Seienden und die Selbstverständlichkeit des Seins ausgezeichnet sei, zwar das Verhängnis des Abendlandes, doch nur eine mögliche Form der Seinsgeschichte gewesen ist. Sie ist die Folge des ersten Anfanges, eines Ereignisses, das sich jeder Erklärung entzieht, als solche aber stellt sie keinesfalls das einzig mögliche Sein dar. Metaphysik ist Geschichte des Seins, das uns und wie es uns durch den ersten Anfang gegeben ist. Es ist aber auch eine andere Art Seinsgeschichte möglich.“  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

nach Heidegger nicht mehr urteilen. Das Sein entbirgt sich als Wille zum Willen, um die Totalität des Seienden und den Ausschluss des anfänglichen Wesens des Seins als Entzug und lichtende Verbergung einzurichten. Dergestalt trägt sich die ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem sowohl im Sein wie auch im willensdurchdrungenen Seienden ein. Sie erscheint im Sein als Unterschied zwischen dem seine Ankunft verweigernden Sein und der sich als Willen zeigenden und die ernstgenannte Verbergungsweise verdeckenden Seiendheit. Im Seienden geht die Differenz zwischen der sich bei Schelling und Nietzsche seinsgeschichtlich zum Ursein, zum Sein des Seienden bestimmenden Willenszentralität auf der einen Seite und dem willenskonformen Werden auf der anderen Seite auf. Der Wille verbindet somit beide Manifestationen der ontologischen Differenz. Im Willen konfligiert das höchste Seiende, d. h. das, was im Seienden das Sein ist, mit dem Seinsgeschick. Daher schreibt Heidegger: „So stellt sich das Unterscheidbare des Unterschieds in gewisser Weise vor und hält sich doch in einer seltsamen Unkennbarkeit verborgen“.³⁵ Der Unterschied kann sich folglich erst dann ereignen, wenn sich aufgrund der vom Sein selbst zugeschickten Vormacht der Sicherung des Seienden und inmitten der monolithischen Administration die Unausweichlichkeit herauskristallisiert, die leitende Bestimmung des Seins des Seienden als Wille für dieses Geschehen verantwortlich zu machen. Erst in der beständigen Abwehr jeder Alterität und in der Bestätigung der Leere des Seienden könnte das Sein als das Bedenklichste und Andere wieder fragwürdig werden. Diese Entwicklung nimmt ihren Ausgang im „Beginn der Vollendung der Metaphysik“,³⁶ der mit Hegels Philosophie anhebt. Bei Hegel wird inauguriert, dass das Sein als Subjektivität den Primat des Seienden eigens zur Wesenserhaltung evoziert: Mit dem Beginn der Vollendung der Metaphysik beginnt die unerkannte und der Metaphysik wesentlich unzugängliche Vorbereitung eines ersten Erscheinens der Zwiefalt des Seins und des Seienden. Noch verbirgt sich in diesem Erscheinen der erste Anklang der Wahrheit des Seins, die den Vorrang des Seins hinsichtlich seines Waltens in sich zurücknimmt.³⁷

Heidegger differenziert folglich zwischen der seinsgeschichtlich-anamnetischen Perspektive auf den Willen zum Willen und dessen Erscheinungsform in der Wirklichkeit. Diese kann aufgrund der Infiltration durch den Willen kein reflektiertes Innehalten gestatten. Dies erklärt, weswegen der Wille zum Willen einerseits als befreiende Negativität fungieren kann, nach deren Selbstaufhebung sich

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 76.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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das anfängliche Sein in seinem Walten offenbaren könnte. Andererseits erwägt Heidegger die Möglichkeit, dass der Wille zum Willen in einem perennierendselbstbezüglichen Anstoß ungehemmt fortdauert, ohne die Einsicht in die eigene geschichtliche Herkunft und die damit einhergehende Relativierbarkeit zu streifen: Der Wille zum Willen verwehrt, ohne es wissen zu können und ein Wissen darüber zuzulassen, jedes Geschick, worunter hier die Zuweisung einer Offenbarkeit des Seins des Seienden verstanden wird. Der Wille zum Willen verhärtet alles in das Geschicklose. Dessen Folge ist das Ungeschichtliche. Dessen Kennzeichen ist die Herrschaft der Historie.³⁸

Die Historie, die von Heidegger als Einhegung, Vergleichsherstellung und Bezugsorganisation des Vergangenen verstanden wird, koinzidiert mit der Geschichtslosigkeit. Die Historie vermag nämlich jene ontisch fortwirkende Gewesenheit nicht zu denken, die sich in der Metaphysik bereits ausgetragen hat. Diese Gewesenheit kehrt in der Darbietung des Seienden im Lichte der Wahrheit, die sich aufgrund ihres seinsgeschichtlichen Wesenswandels jeweils anders zeigt, aus der in der Metaphysik bereits vorausbedachten und abgeschlossenen Zukunft in die Gegenwart zurück. Die Historie kann zwar das Vergangene verwalten, als Bestand für das Wissen sichern und Kausalitäten der Notwendigkeit konstruieren. Sie muss jedoch verkennen, dass darin ein Währendes und Einziges waltet, das sich in der Unberechenbarkeit der selbsteröffneten Geschichtlichkeit kundgibt. Darüber hinaus muss ihr entgehen, dass „das Zeitalter der vollendeten Metaphysik vor seinem Beginn“³⁹ steht. Nach Heidegger vermag die Historie nicht zu erkennen, dass die Progression der Lebensumstände, die Linearität des Zeitlaufs sowie die Unverwechselbarkeit jeder wegweisenden Handlung auf ein monochromes Prinzip zurückzuführen ist. In der Vorspiegelung eines konjunktivischen Möglichkeitsrahmens ist dieses Prinzip imstande, seine wesensmäßige Gleichförmigkeit zu verbergen. Diese Gleichförmigkeit benötigt der Wille zum Willen, um sich der Herleitung aus der Geschichte des Seins in der Suggestion der eigenen Suffizienz zu entziehen. Der Wille zum Willen wird durch die Konservierung, Dokumentation und Kommentierung vergangener Geschehnisse nicht von einem Korrektiv herausgefordert. Stattdessen besiegelt dieser Umgang mit dem Vergangenen dessen Leblosigkeit und fixierte Wirkungslosigkeit, wodurch die absorbierende Vergegenwärtigungstendenz des Willens zum Willen gestützt wird. Die Performativität des Willens zum Willen vollzieht sich daher keineswegs regellos. In ihr paart sich  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78.

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ausgereifte Effizienz mit weitreichendem Planungsausgriff, der in die Stabilisation der Wesensganzheit verflochten ist.

3.1.3 Die Vollendung des Anthropomorphismus: Die Fusion von Wahrheit (Bestandsicherung) und Kunst (Steigerung) in der Technik und die vergegenständlichende Reduktion von Natur und Geist auf die Ichheit Es ist die Technik, die dieses holistische Anforderungsprofil in einem in verschiedene Sparten ausgefächerten Reifikationsvorgang erfüllt. Dadurch sekundiert sie der Subjektivität des Willens zum Willen. Sie muss planetarisch erfolgen, weil der Wille als das Wesen der Wirklichkeit diese im Ganzen okkupiert hat. Die Technik ist die Gestaltwerdung der „vollendeten Metaphysik“.⁴⁰ Die Vollendung der Metaphysik zeigt sich nicht allein in den naheliegenden Konnotationen der Ausbeutung der Natur, der „maschinenhaften Erzeugung und Zurüstung“⁴¹ oder der Produktion von Artefakten. Nach Heidegger schlägt sich der Vorrang der Technik ebenfalls in der „betriebenen Kultur“⁴², in der „gemachten Politik“⁴³ und in den stützenden, „übergebauten Idealen“⁴⁴ nieder. Heidegger räumt dabei selbst ein, dass die Rückgründung dieser Verfahrungsweisen unter dem keineswegs nur einen heuristischen Behelf darstellenden Titel der Technik zwar auf das anfängliche Entbergungsgeschehen der τέχνη verweist. Die weite Verwendung des Technikbegriffes geht jedoch auch mit einer Entdifferenzierung und Pauschalisierung einher, die von Heidegger durchaus intendiert wird:

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78. Diese Wortverbindung erinnert an Adornos Begriff des „Kulturbetriebes“.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 78. Es liegt nahe, Heideggers Formulierung „übergebaute Ideale“ auf Marxens Unterscheidung von Basis und Überbau zu beziehen. Marx und Engels fassen dieses Verhältnis in einem Text, der für ihr Werk Die deutsche Ideologie vorgesehen war, im Manuskript jedoch gestrichen wurde, wie folgt: „Die Vorstellungen, die sich diese Individuen machen, sind Vorstellungen entweder über ihr Verhältnis zur Natur oder über ihr Verhältnis untereinander, oder über ihre eigene Beschaffenheit. Es ist einleuchtend, dass in allen diesen Fällen diese Vorstellungen der – wirkliche oder illusorische – bewusste Ausdruck ihrer wirklichen Verhältnisse und Betätigung, ihrer Produktion, ihres Verkehrs, ihrer gesellschaftlichen und politischen Organisation sind.“ Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels, Werke Bd. 3, 9. Aufl., Berlin 1990, S. 25.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Der Name [die Technik, J.K.] ermöglicht zugleich, daß das Planetarische der Metaphysikvollendung und ihrer Herrschaft ohne Bezugnahme auf historisch nachweisbare Abwandlungen bei Völkern und Kontinenten gedacht werden kann.⁴⁵

Das Kriterium der Technizität und der Eingliederungsgrad des Vor-stellens unterscheidet den Willen zur Macht vom Willen zum Willen. Wie Heidegger im XI. Stück seines Aufsatzes vermerkt, bildet der Wille zur Macht nur „die vorletzte Stufe in der Willensentfaltung der Seiendheit“.⁴⁶ Aufgrund seines „Lebens-Enthusiasmus“⁴⁷, der „Vorherrschaft der ‚Psychologie‚“⁴⁸ und des polemischen wie lebensapologetischen Gestus habe Nietzsche die Funktion der Vernunft, der Vorstellung und der Planung im Willen unterschätzt. Heidegger greift in diesem Zuge auch den tradierten, von zahlreichen akademischen Philosophen sowie in ähnlicher Hinsicht von Thomas Mann⁴⁹ vorgebrachten Einwand auf, dass es Nietzsche aufgrund der Apotheose des Lebens und der daraus resultierenden „Verachtung des Denkens“⁵⁰ an der „Strenge und Sorgfalt des Begriffes“⁵¹ sowie an der „Ruhe der geschichtlichen Besinnung“⁵² gefehlt habe. Aus diesem Grund sei er nicht zu der Einsicht vorgedrungen, dass die von ihm vertretene Intention der Lebensintensivierung die prolongierte Bestandsicherung rechtfertigt und benötigt, um sich aus dieser je aufs Neue herauszuschälen. Heidegger macht für diese Zelebration des Irrationalen sowie für die Fokussierung auf das Rauschhafte eine Einseitigkeit verantwortlich. Diese habe es in Nietzsches Falle verhindert, auf die Ermöglichungsbedingung der angestrebten Steigerung und der beständigen Verflüssigung festgefügter Grenzen zu reflektieren Heidegger lässt sich in diesem

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Vgl. Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: Thomas Mann, Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie Bd. 3., hrsg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1968, S. 20 f: „Es ist das tragische Mitleid mit einer überlasteten, über-beauftragten Seele, welche zum Wissen nur berufen, nicht eigentlich dazu geboren war und, wie Hamlet, daran zerbrach, mit einer zarten, feinen, gütigen, liebebedürftigen, auf edle Freundschaft gestellten und für die Einsamkeit garnicht gemachten Seele, der gerade dies: tiefste, kälteste Einsamkeit, die Einsamkeit des Verbrechers, verhängt war, mit einer ursprünglich tief pietätvollen, ganz zur Verehrung gestimmten, an fromme Traditionen gebundenen Geistigkeit, die vom Schicksal gleichsam an den Haaren in ein wildes und trunkenes, jeder Pietät entsagendes, gegen die eigene Natur tobendes Prophetentum der barbarisch strotzenden Kraft, der Gewissensverhärtung, des Bösen gezerrt wurde.“ [von mir kursiv, J.K.].  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 79.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Auslegungskontext folglich auf die Immanenz der Nietzsche selbst zugesprochenen Charakterisierung des Willens zur Macht als Ausdruck der ekstatischen Bewegung des Lebens ein. In den Jahren 1936 bis 1939 verteidigte Heidegger die Philosophie Nietzsches gegen die biologistische Vereinnahmung durch Vertreter der Lebensphilosophie⁵³, indem er seine Interpretation des Willens zur Macht auf eine gegenläufige Auswahl der von Nietzsche vorgegebenen Textbasis stützte. Demgegenüber insistiert Heidegger im Aufsatz Überwindung der Metaphysik darauf, dass die emphatische Berufung auf Nietzsches Theorem des Lebens nicht allein die notwendige Folge einer bei Nietzsche zu monierenden, begrifflichen Nachlässigkeit darstelle. Auch entspringt die mögliche Instrumentalisierbarkeit des Nietzscheschen Lebensbegriffes nach Heidegger keineswegs erst aus der rezeptionsgeschichtlich wirksamen Überzeichnung eines Motivs inmitten mehrstrahliger Interpretationsoptionen. Vielmehr verortet Heidegger den Ursprung dieser Präeminenz des Lebensenthusiasmus nun in Nietzsches eigener, unzulänglicher Ausdeutung des von ihm vernommenen Wesens des Willens zur Macht. Um seine Deutungshoheit über das willensmetaphysische Narrativ zu veranschaulichen, ruft Heidegger im Hintergrund die These auf, dass der Wille zur Macht genau wie jede andere

 Heidegger wandte sich in diesem Zusammenhang besonders gegen Ludwig Klages’ biozentrisch-kosmische Nietzsche-Auslegung, die dieser in seiner zuerst im Jahre 1926 erschienenen Monographie Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches vorgetragen hatte. Ludwig Klages wird von Heidegger bereits 1929/1930 in der Freiburger Vorlesung Die Grundbegriffe der Metaphysik als paradigmatischer Vertreter eines psychologisch-biologistischen Nietzsche-Verständnisses beurteilt, in der das prärationale Erlebnis und das von Heidegger pejorativ als „dunkelndes Brodeln der Triebe“ (Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2010, S. 105) gekennzeichnete Lebensphänomen eine zentrale Bedeutung erhielten. Vgl. Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, S. 105: „Der Geist gilt als der Widersacher der Seele. Der Geist ist eine Krankheit, die es auszutreiben gilt, um die Seele freizumachen. Befreiung vom Geist heißt hier: Zurück zum Leben! Leben wird aber hier genommen im Sinne des dunkelnden Brodelns der Triebe, was zugleich als Nährboden des Mythischen gefaßt wird. Diese Meinung wird durch die Popularphilosophie von Ludwig Klages gegeben. Sie ist wesentlich bestimmt durch Bachofen und vor allem durch Nietzsche.“ Dass Klages’ Auffassung des Dualismus von Leben (Seele) und Geist indes anspruchsvoller und differenzierter ist, als Heidegger dies in seiner Polemik zuzugestehen bereit ist, möge eine einprägsame Textstelle aus der Nietzsche-Monographie Klages’ verdeutlichen. Vgl. Ludwig Klages, Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches, 2. Aufl., Leipzig 1930, S. 190: „Indessen, niemand kommt dadurch dem Leben näher, daß er verdummt, niemand dadurch, daß er seinen Geist zu pflegen sorgfältig vermeidet, und gesetzt, ebendieser Geist wäre ein lebensbedrohendes Übel, so wird ihn doch niemand dadurch los, daß er grade die Urteile mit heftigsten Zweifeln benennt, die von den stärksten Gewißheitsgefühlen befürwortet werden!“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Ausgestaltung der Seiendheit von einem einzelnen Denker expliziert wurde. Jedoch konnte dieser Denker aufgrund der innermetaphysischen Verwurzelung die vollständige Bedeutung mitsamt den ideengeschichtlichen und lebensweltlichen Folgen seines einzigen Gedankens nicht gänzlich überschauen. Diese können nach Heidegger erst aus dem Übergang zum Seinsdenken und auf der Auslegungsfolie des Willens zum Willen ersichtlich werden: „Das Wesen des Willens zur Macht läßt sich erst aus dem Willen zum Willen begreifen. Dieser jedoch ist erst erfahrbar, wenn die Metaphysik bereits in den Übergang eingegangen ist“.⁵⁴ Nietzsches Betonung der unauflöslichen und unergründlichen Dynamik des Lebens, welche die auf Klarheit, Nachvollziehbarkeit, Prinzipienstratifikation und Vernunftbegründung abzielende Metaphysik prima facie verunsichert, ruht nach Heidegger folglich auf einem zutiefst metaphysischen Fundament. Die enthusiastische Gutheißung des von jedem Idealmaßstab befreiten Lebens offenbart sich als Legitimationsakt für die Perpetuierung des Willens in der bestandsichernden Formung des Chaos und der daraus hervorgehenden Übersteigerung. Aufgrund seiner eigenen Befangenheit in der Metaphysik konnte Nietzsche nicht registrieren, dass die gegen die platonische Metaphysik ins Feld geführten Motive der Unschuld des Werdens und des „Von Ohngefähr“⁵⁵ in Wahrheit eine wesentliche Erhaltungsgrundlage ihres letzten Prinzips bilden. Heidegger mobilisiert somit seine eigene Lesart der im Willen zur Macht versammelten Dualität von Verfestigung und Steigerung gegen dessen Freisetzung als Seismographen des Lebensphänomens, die er bei Nietzsche diagnostiziert. Aufbauend auf der beanspruchten Erkenntnishöhe lenkt Heidegger die „Metaphysik Nietzsches in die einfachen Bahnen der neuzeitlichen Metaphysik“⁵⁶ zurück. Dabei relativiert er zugleich das zentrale Motiv des Schaffens. In seiner Nietzsche-Deutung von 1936/ 37 avancierte das Schaffen zur einzigen, genuin antinihilistischen Überlebensform nach der Erosion der Metaphysik. Heideggers neue Beurteilung des Schaffens steht paradigmatisch für den unter der Signatur des Willens zum Willen erfolgenden, gewandelten Zugang zu Nietzsche. Dessen Bejahung der Schaffenden wird von Heidegger nicht mehr als Parteinahme für die Sinnbilder der veräußerten Lebensplastizität verstanden. Nietzsches Bekräftigung des Schöpferischen wird im Aufsatz Überwindung der Metaphysik als Amalgam aus der Verhaftung in den zeitgenössischen Vorstellungen einerseits und einer untergründigen Wirksamkeit technischer Bewertungsmuster andererseits dechiffriert:  Heidegger, N II, S. 80.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, S. 209: „Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ‚über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth‘.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 80.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Schließlich verrät Nietzsches Leidenschaft für die Schaffenden, dass er nur neuzeitlich vom Genius und vom Genialen und zugleich technisch vom Leistungshaften her denkt.⁵⁷

Heidegger vereinigt den notwendigen und den höchsten Wert des Willens zur Macht – die Wahrheit und die Kunst – in der Technik. Die Werte werden als „Umschreibungen“⁵⁸ und Wesensaspekte der Technik enthüllt. Heidegger hält an der Deutung der Wahrheit als Fixierung des Werdens fest. Die Festmachung äußert sich allerdings nicht mehr in der epistemisch-praktischen Notwendigkeit der Bewältigung des Chaos. Als „planend-rechnende Beständigung“⁵⁹ wird sie gänzlich in den Bereich der Kalkulation und Quantifizierbarkeit eingezogen.⁶⁰ Die Kunst benennt Heidegger mit Nietzsche und in Kontinuität zu seinen früheren Interpretationswegen als „Stimulans des Lebens“.⁶¹ Die Hervorbringung originärer Ausgestaltungen bleibt an das darin stimulierte Leben gebunden, das in seiner Anreicherung in die technische Zugriffssicherheit zurückmündet. Durch diese technizistische Reformulierung wird ein prima facie unüberbrückbarer Antagonismus zwischen dem Willen zur Macht und dem Denken des Seins heraufbeschworen. Dieser Gegensatz müsste ein Zwiegespräch mit Nietzsche wie auch eine wechselseitige Usurpation des einen Gedankens durch den anderen verunmöglichen, könnte der Wille zur Macht nicht in seinem Übergangscharakter zum Willen zum Willen und damit als Präfiguration des in Erscheinung tretenden Unterschiedes von Sein und Seiendem erfahren werden. Wird die These einer unausweichlichen Botmäßigkeit gegenüber dem technischen Willen zur Macht in das Allgemeingültige gesteigert, müssen alle Bereiche des Lebens mitsamt dem menschlichen Vorstellen als Stützen und Leistungserbringer dieses Willens verstanden werden. Wie Heidegger desillusioniert zugesteht, müsste diese universale Dominanz die eigens in Anspruch genommene Einsicht in das Wesen des Willens zur Macht und in die zugehörige Herrschaftsausprägung untergraben. In dem darauffolgenden Argumentationsgang, der auf die Prätention der alleinigen Ursprungsentzifferungsfähigkeit im Medium seinsgeschichtlichen Denkens hinausläuft, schlägt sich die für Heideggers Gespräch mit Nietzsche ab 1940 emblematische Deutungsabsicht nieder. Indem er den Willen zur Macht unter der Signatur der Technik analysiert, wertet er den Gedanken hinsichtlich seiner le-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 80.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 80.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 80.  Vgl. zur Vorrangstellung des Quantitativen: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 137– 138.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 80.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

715

bensweltlichen Einflusskraft und deren Alternativlosigkeit einerseits immens auf. Andererseits restringiert er dessen Geltung auf eine bestimmte Epoche. Dadurch schwächt er die von Jaspers mit aller Deutlichkeit unterstrichene Charakterisierung des Willens zur Macht als „Auslegung des Auslegens“⁶² und als Subversionsinstrument ab. Es ist unverkennbar, dass eine willensbasierte Kritik der Ideengeschichte, die nicht allein unter dem anthropozentrischen Index der Ermittlung künftiger Wertsetzungen verfährt, zur gewichtigen Herausforderung für die Konzeption der Seinsgeschichte werden könnte. Der Wille zur Macht wird von Heidegger in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik nicht mehr als Befehl, als Erschlossenheit, als Selbstüberwindung oder als Affekt beurteilt. In der Inkorporierung der von Schelling geprägten Seinsprädikate erfährt er zugleich eine technische Wendung. Dies bekundet sich darin, dass Heidegger sogar den Gegensatz von dionysisch und apollinisch als unausgereifte Artikulation der vom Willen zur Macht durchdrungenen Lebenskoordination begreift. Zuvor hatte er Nietzsche noch die denkerische Eigenständigkeit in der Bevorzugung des Irrationalen und des Enthusiastisch-Dithyrambischen zugestanden, um den in der Feier des Lebens zu sich selbst kommenden Willen zur Macht in einer seinsgeschichtlichen Perspektive aus der fundierenden Bedingung der Festmachung des Werdens zu erhellen. Hingegen verfährt er im XII. Stück des Aufsatzes in werklinearer Methodik. Hier projiziert Heidegger die als Vollendungsstufe titulierte Zweiheit im Willen zur Macht auf ihren ersten Anklang im dritten Kapitel der Tragödienschrift zurück. Dies sucht Heidegger anhand des folgenden Zitats zu belegen: „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen“.⁶³ Heidegger kommentiert diese Stelle wie folgt: Hier ist der Gegensatz des ‚Titanischen‘ und ‚Barbarischen‘, des ‚Wilden‘ und des ‚Triebhaften‘ auf der einen Seite und des schönen, erhabenen Scheines auf der anderen Seite gesetzt. Hier ist vorgezeichnet, wenngleich noch nicht klar gedacht und unterschieden und aus einheitlichem Grunde gesehen, daß der ‚Wille‘ der Bestandsicherung und Erhöhung zugleich bedarf. Aber dies, daß der Wille Wille zur Macht ist, bleibt noch verborgen. Schopenhauers Willenslehre beherrscht zunächst Nietzsches Denken. Die Vorrede ist ‚am Geburtstage Schopenhauers‘ geschrieben.⁶⁴

 Vgl. Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, S. 263.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 81.Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 35.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 81. Vgl. zum „Titanischen“ und „Barbarischen“: Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 40.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Dass die Gleichsetzung des Apollinisch-Dionysischen mit der Bestandsicherung und der Erhöhung selbst bei der Berücksichtigung der von Heidegger vorgetragenen Einschränkungen auf einer fragwürdigen Interpolation beruht, ist offenkundig. Der tragische Abgrund der Sinnlosigkeit und der Unerträglichkeit des Lebens lässt sich weder mit dem Selbstüberwindungsdrang noch mit der Bestandsicherung parallelisieren. Gleiches gilt für die apollinischen Scheingestalten der Götterwelt, die als Antidot und Verschleierung der lebensverneinenden Tiefenwahrheit keinen der beiden Pole in dem implementierten Schema übernehmen können. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass Nietzsche in der Schrift Die Geburt der Tragödie den Begriff des Dionysischen zumeist in Äquivalenz mit der Entgrenzung des Individuationsprinzips⁶⁵, der taumelnden Allvereinigung und des orgiastischen Timbres verwendet. Das Dionysische wird andererseits auch mit dem Ur-Einen⁶⁶ identifiziert und in einer weiteren Interpretationsschicht als anhaltendes Leiden an der Dissoziation⁶⁷ bestimmt. Das Apollinische wird von Seiten Nietzsches mit dem besänftigenden Schein der Klarheit, Begrenztheit und Plastizität assoziiert, der sich über dem dionysi-

 Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 56.  Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 62: „In mehreren auf einander folgenden Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus: die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andererseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt.“ Zur Verhältnisbestimmung zwischen dem dionysischen Zustand, dem Ursein und dem einzelnen Individuum vgl. Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt a. M. 1986, S. 50 – 59. Angesichts des Nietzscheschen Enthusiasmus für das Dionysische (das in seiner Engführung mit dem Ur-Einen metaphysisch gegenüber dem vorstellungshaften Apollinischen eindeutig privilegiert ist) und im Hinblick auf Nietzsches Auffassung, die Entstehung der griechischen Tragödie resultiere aus dem paritätischen Zusammenschluss beider Elemente, ist es bemerkenswert, dass Sloterdijk in Nietzsches Tragödienschrift ein Übergewicht des Apollinischen über das Dionysische aufspürt. Vgl. Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 56: „Das apollinische Eine sorgt durch das stillschweigend aufgerichtete Gleichgewichtsaxiom dafür, daß das dionysische Andere nie als es selbst ins Spiel kommt, sondern immer nur als das dialektische oder symmetrische Andere des Einen. Ein apollinisches Prinzip regiert über den Gegensatz des Apollinischen und des Dionysischen.“  Vgl. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 73: „In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandteile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit die Mysterienlehre der Tragödie zusammen: die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgundes des Uebels, die Kunst als die freudige Hoffnung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit.“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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schen Leidensgrund erhebt.⁶⁸ Es sind offenkundig die Bedeutungen eines lebensintensivierend-‚barbarischen‘ Aufbrechens der Individuation für das Dionysische beziehungsweise einer Verhüllung dieses dunklen Grundes mit Hilfe der formgebenden Kunst für das Apollinische, die Heidegger vorrangig im Auge hat. Dass Nietzsche in der Gestalt einer unausgegorenen und von Schopenhauer abhängigen Metaphysik eine tiefsinnige Kulturentstehungshypothese und eine hochkarätige Tragödientheorie vorlegt, wird von Heidegger zugunsten der Herausstellung des Wilden (d. h. des Dionysischen) und des Erhabenen (d. h. des Apollinischen) übergangen. Angesichts dieser Zurückdatierung und Antizipation des Willens zur Macht in der Erstveröffentlichung Nietzsches ist gegenüber Heidegger zu konzedieren, dass sich die Zusammengehörigkeit von Wildem und Erhabenem mit größerer Triftigkeit auf den Willen zur Macht anwenden lässt als die schillernden und selbst bei Nietzsche nicht einheitlich gebrauchten Chiffren des Dionysischen und Apollinischen. Dennoch weist die symmetrische Übertragung dieses Gegensatzes auf den binär verfassten, sich steigernd erhaltenden Willen zur Macht Inkonsistenzen auf. Das Triebhaft-Wilde kann durchaus das Chaos des Werdens repräsentieren, das im Schein des festgemachten Seins seine Beständigung erfährt. Unter strikter Beibehaltung der Dualität von Steigerung und Bestandsicherung müsste jedoch die aus dem „erhabenen Schein“ ergehende Verfestigung und somit die Wahrheit (als Sein) den Part des Erhöhenden erfüllen. Im Kontrast dazu, müsste das Wilde in seinem rastlosen Werden als das notwendig Zugrundeliegende benannt werden. Die mit den jeweiligen Titeln verknüpften Funktionen vertauschten sich daher in einer chiastischen Anordnung: Beim frühen Nietzsche repräsentierte zwar ebenfalls der Schein das höhere Element, doch wäre dieser durch die apollinische Regulierung gekennzeichnet. In der Tragödienschrift ist es die Kunst, die das (dionysisch-unerträgliche) Werden befestigt, während sie dieses in Heideggers Deutung des Willens zur Macht perspektivisch verklärt und belebt. Folgt man der Logik des Übertragungsmodells, müsste das Wilde die untergeordnete Wahrheit – als notwendige Bedingung des Willens zur Macht – bilden, die sich in der uneinholbaren Verflüssigung statt in der Bestandsicherung äußerte. Das Werden nähme die Position der Wahrheit im Sinne der Anwesenheit und des notwendigen Wertes ein. Das Sein erhielte als Festmachung die Funktion der höherwertigen Kunst und der Übersteigerung.  Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 40: „…sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mäßigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe! Apollo konnte nicht ohne Dionysos leben! Das ‚Titanische‘ und das ‚Barbarische‘ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit wie das Apollinische!“

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Heideggers Vergleich vermag letztlich nicht gänzlich zu überzeugen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Übersteigerung in diesem Modell in die Festlegung durch den seinserbringend-traumgestaltenden Schein des Apollinischen einmündet und sich somit als eine solche aufhebt. Soll diese Interpretationsoption umgangen werden, muss die Überhöhung auf die lebensfeindliche „Wahrheit des Nihilismus“⁶⁹ bezogen werden, die als Monitum unbeweglich im Grunde bleibt. Diese kann allein aufgrund ihrer eine Überdeckung fordernden Furchtbarkeit als indirekter Impetus der Lebenssteigerung umrandet werden. Als dritte Option verbleibt eine Parallelisierung des Steigerungsmotivs mit dem regellosen Werden, das allerdings aus sich selbst heraus nur einen Entgrenzungs-, aber keinen Übersteigerungsdrang in sich trägt. In Nietzsches früher Konzeption, so ließe sich pointiert sagen, fällt der apollinische Kunstschein als verfestigende Sublimierung und Regulierung stets mit der Übersteigerung dergestalt zusammen, dass die Erhöhung unter dem Index der Festmachung stattfindet. Das, was zur Verklärung benötigt wird – das sich überschlagende, lebensschwangere, ungebändigte und mannigfaltige Werden – firmiert als das unvergängliche und epistemisch unerreichbare Residuum. Weil die von dort ausgehende Bestandsicherung in sich schon die Überhöhung des Zugrundeliegenden repräsentiert, sind beide Momente in einer nahezu ununterscheidbaren Identität zusammengehalten. Daher besitzt Nietzsches erste Entwicklung des stillstellenden, durch das ordnend-heitere Walten Apollons evozierten Scheins und der opaken Werdenatur eine gewichtige Nähe zu Heideggers Deutung des Erkenntnisprozesses in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis von 1939. An diesem Ort rückt Heidegger nicht den Aspekt der Übersteigerung in den Mittelpunkt. Stattdessen befasst sich Heidegger im Hauptteil der dritten NietzscheVorlesung vornehmlich mit der Zugänglichkeit, Einhegung und Formgebung des amorphen Chaos.

 Vgl. Lore Hühn, Die Wahrheit des Nihilismus. Schopenhauers Theorie der Willensverneinung im Lichte der Kritik Friedrich Nietzsches und Theodor W. Adornos, S. 145: „Auf ihre womöglich kürzeste Formel gebracht: es handelt sich um die Grundannahme, daß angesichts einer sich selbst entfremdeten Welt, die uns Menschen so feindlich wie nur irgend vorstellbar begegnet, uns einzig die Hoffnung auf ein Neinsagen zu dieser Welt noch bleibt, – ein Nein, das in seiner äußersten Konsequenz und durch diese hindurch die Aussicht auf eine solche Erfahrung gewährt, welche uns der lmmanenz von Zerfall und Leere entkommen sein läßt. Folgt man der metaphysischen Daseinsdeutung Schopenhauers – wie dies Nietzsche tut –, dann bringt diese Erfahrung zugleich die Wahrheit über diese Welt zur Sprache, und zwar eine, die von dieser Welt verhindert wird, obgleich es sie innergeschichtlich gibt, freilich nicht positiv, sondern gefährdet, und die im Äußersten einer Grenzüberschreitung unserer faktischen Existenz erst ins Werk zu setzen ist. Dieses Ins-Werk-Setzen der Wahrheit macht deutlich, daß die Willensverneinung von vornherein mehr ist als ein bloß nihilistisches Selbstexperiment bar aller transzendierenden Kraft.“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Heidegger ist zuzustimmen, wenn er Nietzsche auf der Basis seiner eigenen Deutung der duplizierten Verfahrungsweise des Willens vorhält, dieser habe in der Tragödienschrift „noch nicht klar gedacht und unterschieden“⁷⁰, wie sich das dionysische Ursein des präindividuellen Werdens und die Aufprägung der erhabenen Traumgestalten auf das Wild-Regellose zum Agens des Willens zur Macht verhalten. Weil Nietzsche die griechische Kultursublimation – wie Schelling es in schöpfungstheologischer Hinsicht tut – an den Grad der Bewältigung des Ungeregelten knüpft, kommt die Hinaufhebung der Lebensfülle allein in der Gestalt ihrer Kontrolle, nicht in ihrer Steigerung zum Austrag. Resümierend kann in Bezug auf das XII. Stück des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik Folgendes konstatiert werden. Heidegger verortet eine Urgestalt des Willens zur Macht bereits in Nietzsches Erstveröffentlichung Die Geburt der Tragödie. Zugleich transferiert er die Doppelfigur des Titanisch-Wilden und des erhabenen Scheins auf die technischen Willensbedingungen der Erhaltung und der Steigerung. Obgleich Heidegger die Unausgereiftheit und mangelnde Ausdifferenzierung der Vorform des Willens zur Macht betont, unterschlägt er den für Nietzsche wesentlichen, tragischen Gehalt des Apollinisch-Dionysischen. Heideggers verengende und voluntaristische Lesart der Geburt der Tragödie trägt maßgeblich dazu bei, Nietzsches Philosophie in ihrer geschlossenen, auf den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr zulaufenden Ganzheit als Ende der Metaphysik zu befestigen. Nach Heidegger macht Nietzsche mit der verlorengegangenen „Wahrheit einen Versuch“⁷¹, indem er den „Willen zur Macht in der ewigen Wiederkehr des Gleichen als das wahrhaft Seiende in den Vorschlag bringt“.⁷² In dieser Aufwertung des perspektivischen Machtwillens zum wahren Seienden bezeugt sich nach Heidegger, dass die Philosophie den „Umkreis der vorgezeichneten Möglichkeiten abgeschritten“⁷³ hat. Die aus diesem Geschehen freigegebene und installierte Ordnung baut sich vor dem Hintergrund des von der Metaphysik gelieferten „Gerüst[s]“⁷⁴ auf, ohne auf eine philosophische Erfassung und Sekundierung weiterhin angewiesen zu sein. Neben der Auseinandersetzung mit Nietzsche, die im XIII. Stück des Aufsatzes zum Abschluss kommt, ist Kant Heideggers zweiter zentraler Gesprächspartner in den Aufzeichnungen zur Überwindung der Metaphysik. Kant wird von

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 81.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 82. Vgl. das entsprechende, von Heidegger angeführte Zitat: Nietzsche, KSA 11, 25 [305], S. 88: „Wir machen einen Versuch mit der Wahrheit! Vielleicht geht die Menschheit daran zu Grunde! Wohlan!“ [von Nietzsche kursiv, J.K.].  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 82.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 81.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 81.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Heidegger nicht mehr als vorsichtiger Denker der Prüfung einer Grundlegung der Metaphysik verstanden. Vielmehr wird nach Heidegger erst auf der Basis der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption des „Ich denke, das alle Vorstellungen muss begleiten können“⁷⁵ die ausgreifende Vergegenständlichung der Natur möglich. Also gibt Kant die Ausrichtung für die heraufkommende Willensmetaphysik und deren Versammlung im Willen zum Willen vor. Entscheidend ist dabei die Verbindung von Reflexion und repraesentatio (Vor-stellen), die Heidegger mit der Gewissheit und der Gerechtigkeit zusammendenkt. Heidegger nimmt in diesem Kontext mehrere Schichtungen vor, die sich der Verhältnisbestimmung von Reflexion und Vor-stellen widmen und deren internes Ranggefüge zu ermitteln suchen. Die Reflexion, die von Kant in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“⁷⁶ umgrenzt wird, schließt die Intentionalität des Denkaktes mit dem Denkenden zusammen, auf den der noematische Gehalt zurückgebeugt wird. In der Struktur des „Ich denke etwas“⁷⁷ wird die Reflexion zum „tragenden Bezug zum Seienden“.⁷⁸ Nunmehr kann das Sein als Formalität der Gegenständigkeit bestimmt werden, die dem auf sich reflektierenden Subjekt gegenübersteht. Dass die Reflexion als Stiftung des Bezuges des Menschen zum All des Seienden erfahren wird, d. h. als solche in der Wirklichkeit zum Austrag kommt, setzt nach Heidegger jedoch voraus, dass sich das Vor-stellen mitsamt dem basalen Auseinandertreten von Subjekt und Objekt je schon ereignet hat. Auf der anderen Seite soll das Vor-stellen auf die Reflexion zurückgehen: „Dem Wesen nach gründet die repraesentatio in der reflexio“.⁷⁹ Dieser offenkundige Widerspruch in der jeweiligen Beanspruchung des Begründungsprimats lässt sich auflösen. Um die vorstellungskonstitutive Unterscheidung zwischen dem vorstellenden Subjekt

 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131, Hamburg 1998, S. 178: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein.“  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84: „Kant ist auf dem Weg, das Wesen der Reflexion im transzendentalen, d. h. ontologischen Sinne zu bedenken. Es geschieht in der Form einer unscheinbaren Nebenbemerkung in der Kritik der reinen Vernunft unter dem Titel ‚Von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.‘ Der Abschnitt ist nachgetragen, aber erfüllt von wesentlicher Einsicht und Auseinandersetzung mit Leibniz und demgemäß mit aller vorausgegangenen Metaphysik, wie sie für Kant selbst im Blick steht und in ihrer ontologischen Verfassung auf die Ichheit gegründet ist.“ Vgl. zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe: Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 316-B 348, S. 378 – 404.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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und dem vorgestellten Objekt generieren zu können, muss eine Trennung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein von anderen Dingen vollzogen werden. Dabei wird die Synthesis des ‚Ich denke‘ von der potentiellen Mannigfaltigkeit des Erkennbaren geschieden. In dieser Hinsicht gründet die Möglichkeit des von Descartes inaugurierten Vor-stellens in der Reflexion, insofern diese die Binarität im Bewusstsein des Subjekts bezeichnet. Dass die bei Descartes in das ego cogito stillschweigend involvierte, doch nicht eigens berücksichtigte Reflexion erst von Kant in ihrer Wichtigkeit erkannt und auf den Begriff gebracht wurde, hängt nach Heidegger mit dem Bedeutungswandel der Ichheit zusammen.⁸⁰ Diese wird von Kant nicht mehr substantialistisch und dualistisch als res cogitans, sondern transzendentalontologisch von der Verfasstheit des Bewusstseins her begriffen. Die geschichtliche Vorbedingung des Vor-stellens – die somit auch der Erfahrbarkeit der Reflexion als Bezugsgrund zum Seienden vorausläuft – bildet nicht nur der Übergang der Idea als von sich her in der Sicht erscheinender Gestalt hin zur Perceptio als bewusster Wahrnehmung, sondern auch die Verengung der Wahrheit auf die Gewissheit als „Selbstsicherung“⁸¹ des „Sich-selbst-wollens“.⁸² An dieser Stelle kommt die Gerechtigkeit als „Rechtfertigung des Bezugs zum Seienden“⁸³ ins Spiel, die sich die Gewissheit selbst verleiht. Heidegger vergleicht in diesem Kontext die bei Nietzsche zur Ausprägung der Wahrheit gewordene Gerechtigkeit mit der „iustificatio im Sinne der Reformation“.⁸⁴ Darauf aufbauend, versteht er die Gerechtigkeit als diejenige autolegitimierende Weise der Positionierung zum Seienden und der Erfassung derselben, die ihren Ausgangspunkt von dem fundamentum inconcussum des cogito und des volo nimmt, um von dort die Zugehörigkeit des Menschen zum Seienden und dessen „erster Ursache“⁸⁵ zu stipulieren. Die Wandlung der Wahrheit, die ihren Bezug zum Seienden in der Selbstgerechtigkeit absichernde Gewissheit und die Reflexion als die inhaltliche Bestimmtheit der Seinsweise dieses Bezuges finden ihren gemeinsamen Ankerpunkt in dem Begriff der Ichheit. Heidegger gliedert die Ichheit als Abschlussfigur der transzendentalphilosophisch-idealistischen Traditionslinie in den Geltungsbereich des Willens zum Willen ein. Die Ichheit wird mit dem Willen zum Willen nahezu gleichgesetzt.

     

Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Zur Veranschaulichung dieser These eignet sich besonders das Stück Nr. XVIII von Überwindung der Metaphysik. ⁸⁶ Ab 1940 bevorzugt Heidegger eine deduktive Begründungsdirektion des Willens als Makrokosmos und Wesenswillen. Dieser strahlt in seine Einzelerscheinungen aus und konturiert sich daher nicht durch eine an die Einzelwillen herangetragene, aposteriorische Abstraktion. Analog verfährt Heidegger auch bei der Verhältniskennzeichnung zwischen der Ichheit auf der einen Seite und der Mannigfaltigkeit von personhaften „Ichen“⁸⁷ auf der anderen Seite. Nach Heidegger ist es nicht erst Kant, der mit der Hinblicknahme auf das „Bewußtsein überhaupt“⁸⁸ die übergreifende Allgemeingültigkeit eines Kollektivsubjekts begründet. Dessen Wirksamkeit klassifiziert jede Person als Einzelfall des übergeordneten, transzendentalen Musters. Es ist bereits Descartes, der im Argumentationsgang des methodischen Zweifels die Unhintergehbarkeit des denkenden Selbstvollzuges statuiert und damit „die Sicherung des Vorgestellten für das Vorstellen“⁸⁹ einläutet. In Descartes’ Philosophie bahnt sich die auf die bewusstseinsinhärente Rückbindung der Selbstidentität und des Seienden abzielende, „freilich noch nicht eigens vorgestellte Ichheit“⁹⁰ als Entität an. In deren „Licht“⁹¹ bestimmt sich die res cogitans als geistige, ausdehnungslose und finite Substanz. Dergestalt wird die Konstitution des einzelnen Ichs an die Möglichkeit der Erfahrbarkeit des ermöglichenden Bezugs der Ichheit auf dieses Ich geknüpft. Diese epistemologisch naheliegende Ableitungsrichtung wird von Heidegger durch eine einschneidende voluntative Komponente angereichert und in einer begründenden Tiefenschicht verortet. Die Herauskristallisation der individuell-selbstständigen Person ist an ein Sich-selbst-wollen in ihrem Sosein gebunden, das seinerseits seine Existenzbedingung im Willen zum Willen findet: Das menschliche Ich als das sich vollendende geeinzelte Selbst kann sich nur wollen im Lichte des Bezugs des noch ungekannten Willens zum Willen auf dieses Ich. Kein Ich ist an sich vorhanden, sondern es ist ‚an sich‘ stets nur als ‚in sich‘ erscheinendes und d. h. als Ichheit. Deshalb west diese auch dort, wo keineswegs das einzelne Ich sich vordrängt, wo dieses vielmehr zurücktritt und die Gesellschaft und andere Verbandsformen die Herrschaft haben. Auch da ist und gerade hier die reine Herrschaft des metaphysisch zu denkenden ‚Egoismus‘, der mit dem naiv gedachten ‚Solipsismus‘ nichts zu tun hat.⁹²

      

Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84– 85. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 84– 85.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Diese an die intelligible Tat erinnernde Selbstwahl und deren Entfaltung erfolgen somit im Einflussfeld des nicht durchschauten Willens zum Willen. Das Sichselbst-wollen des Ich verbindet sich mit der Ichheit, in deren Lichtkegel das bewusstseinsfähige Ich hervorgebracht wird. Die Selbstständigkeit des Ich, d.i. sein Ansichsein, verdankt sich einer immanenten Selbstrepräsentierbarkeit, die von der Ichheit als basaler Performativität verliehen wird. Weil diese den Kern jedes Ichs bildet, liegt sie diesseits der Differenzierungen von Individualisierung, Intersubjektivität und der Subordination in gesellschaftliche Systemverzweigungen. Die Egoität steigt im Sinne des Subjektcharakters des Vor-stellens zum Prinzip auf, das für jede Erscheinungsform des Ichs in Geltung tritt. Deswegen behauptet sie sich sowohl in jeder koordinierten Organisation wie auch in jeder kontingenten Zusammenballung von Ichen als regulierende Instanz. Das Ich wird nicht als Trägersubstanz der Person verstanden, die sich von diesem distanzieren oder es in selbstfixierter Megalomanie über alle anderen erheben könnte. Statdessen ruft Heidegger das Ich als Koinzidenzpunkt auf, in dem das zur Ingredienz eines Wissenwollens gewordene Vor-stellen und das Sich-selbst-wollen des Individuums verschmelzen. Die Reduktion der Diversität des menschlichen Möglichkeitsrahmens, der Natur sowie sämtlicher in beiden Feldern stattfindenden Prozesse und Handlungen auf die grundgebende Ichheit verschränkt sich mit der Einengung der Philosophie auf die Anthropologie. In ihrer interdisziplinären Verfahrungsweise und ihrer internen Aufspaltung in verschiedene wissenschaftliche Zugriffsarten forciert die Anthropologie die Beleuchtung alles Geschehenden aus der neuzeitlichen Subjektperspektive des Menschseins. Nach Heidegger dankt in der Anthropologie die Philosophie zugunsten der „Abkömmlinge der Metaphysik“⁹³ ab. Die Philosophie wird zur „Beute“⁹⁴ jener Sprösslinge der Metaphysik, die sich als Physik, Biologie und Psychologie äußern. Die zur vermeintlich unverbindlichen Diskussion anthropozentrischer ‚Weltbilder‘ herabgesunkene Philosophie geht demnach an der Metaphysik beziehungsweise an den aus ihrer Präponderanz entspringenden Folgen „zugrunde“.⁹⁵ Aus diesem Ablösungsvorgang erwächst Heidegger zufolge ein persistentes Nachstellungsstreben. Dieses prägt das menschliche Vor-stellen und hebt alles Seiende in die überschaubare Kontrollierbarkeit hinein. Es wird nun deutlich, dass Heideggers Chiffre für diesen Prozess, in dem das Sein nicht mehr in seiner für das Aufgehen konstitutiven Verbergung zugelassen wird, der Wille zum Willen ist.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 85.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 85.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 85: „Zur Anthropologie geworden, geht die Philosophie selbst an der Metaphysik zugrunde.“

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Aus der im bisherigen Verlauf anvisierten Verortung der Wirkungsweise des Willens zum Willen lassen sich vier grundlegende Charakteristika und Einfügungsstellen gewinnen, die diesem nach Heidegger zugesprochen werden können. Daher können sie im weiteren Fortgang des Textes expliziert werden. Der Wille zum Willen fungiert (1) als innerer Akteur im recht verstandenen Willen zur Macht, (2) als Repräsentant der Vorherrschaft der Anthropologie und (3) als eschatologischer Vollbringer der sich lichtenden Unterscheidung von Sein und Seiendem. Zudem drückt sich der Wille zum Willen (4) als Versinnbildlichung und Individuationsgarant der vor-stellenden Bezugweise zum Seienden aus, die von einer unumstößlichen Pleonexie angetrieben wird. Die Vielfalt dieser Bestimmungsrichtungen zeigt sich anhand der im Stück Nr. XIX gegebenen Deskription des Willens zum Willen: Der Wille zum Willen setzt als die Bedingungen seiner Möglichkeit die Bestandsicherung (Wahrheit) und die Übertreibbarkeit der Triebe (Kunst). Der Wille zum Willen richtet als das Sein demnach selbst das Seiende ein. Im Willen zum Willen kommt erst die Technik (Bestandsicherung) und die unbedingte Besinnungslosigkeit (‚Erlebnis‘) zur Herrschaft. Die Technik als die höchste Form der rationalen Bewußtheit, technisch gedeutet, und die Besinnungslosigkeit als das ihr selbst verschlossene eingerichtete Unvermögen, in einen Bezug zum Fragwürdigen zu gelangen, gehören zusammen: sie sind das Selbe.⁹⁶

Im Vergleich zu den sich von 1936 bis 1939 erstreckenden Interpretationsstadien der Figuration des Willens zur Macht verlagert Heidegger offenkundig die Bedeutung der Kunst als ‚Schaffen‘ sowie als formgewordene Anreicherung der Perspektivität des Werdens durch den stärkeren Fokus auf die Triebhaftigkeit des Menschen. Prima facie kommt er Nietzsche durch diesen Schritt entgegen. So scheint Heidegger dessen Gegensatz zwischen dem Geist als „kleiner Vernunft“⁹⁷ und dem Leib als „großer Vernunft“⁹⁸ zu rezipieren. Zugleich wird der Eindruck erweckt, als mildere Heidegger dieses asymmetrische Gefälle ab. Heidegger verknüpft den Kunstbegriff mit der negativ konnotierten Struktur des „Erlebnisses“⁹⁹ im Sinne einer Befreiung der Triebe. Durch diese Angleichung wird es möglich, die Steigerungsweise des Willens zum Willen nicht allein als allumgreifend-an-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 85 – 86.  Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, S. 39.  Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, S. 39: „Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk-und Spielzeug deiner grossen Vernunft.“  Vgl. zu Heideggers Kritik am Begriff des Erlebnisses: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 131– 138.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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onymes Widerfahrnis zu erfassen, das sich vornehmlich in der Naturbewältigung der Technik und dem Wirklichkeitsverständnis der Wissenschaft artikuliert. Die Bezugnahme auf das Erlebnis kann im Sinne einer phänomenologischen Ausweisbarkeit dazu dienen, die in die Gestimmtheit des Einzelnen eindringende und diese in die Vorrangstellung eines Allgemeinen manövrierende Grundverhaltensweise des In-der-Welt-seins zu exemplifizieren. In dieser ‚Dialektik der Aufklärung‘ vereinigt sich die „höchste Form der rationalen Bewußtheit“¹⁰⁰ mit der „unbedingten Besinnungslosigkeit“¹⁰¹ in einer harmonischen Selbigkeit. Dass sich in dieser Einheit die Technik als Pendant zur festmachenden Wahrheit und die Besinnungslosigkeit als Pendant der möglichkeitsaufwerfenden Kunst entfalten soll, erwächst zum einen aus dem unbestreitbaren, modernitätskritischen Impetus Heideggers. Es ist eine verbreitete Position kapitalismuskritischer wie kulturkonservativer Vertreter¹⁰², dass die Freisetzung der scheinbar größten Ernsthaftigkeit, des ostentativ zur Schau gestellten Fleißes und der diese beiden Eigenschaften begleitende, disziplinierte Pragmatismus in der modernen Arbeitswelt mit einer gesteigerten Regression und einer hedonistischen Entlastung versöhnt werden kann. Die Zerstreuung und die gedankenlose Erholung seien zur Aufrechterhaltung der ungebremsten technischen Welthandhabe erforderlich.

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 85.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 85.  Heidegger selbst verwahrt sich dagegen, einer kulturkritisch-modernefeindlichen Position das Wort zu reden. In der Tat ist zu konzedieren, dass seine seinsgeschichtliche Ergründung der Genese der Moderne – wie auch immer man sich zu dieser verhalten möchte – eine philosophische Tiefe aufweist, die sich mit der immer wieder angestimmten Nänie und der gängigen Untergangsrhetorik nur an der Peripherie überschneidet. Vgl. Heidegger, Was heisst Denken?, 4. Aufl., Tübingen 1984, S. 11: „Man kennt diesen Ton in der Beurteilung unseres Zeitalters zur Genüge. Vor einem Menschenalter sprach man vom ‚Untergang des Abendlandes‘. Heute redet man vom ‚Verlust der Mitte‘. Überall verfolgt und verzeichnet man den Verfall, die Zerstörung, die drohende Vernichtung der Welt. Es gibt überall eine besondere Gattung der Romanreportage, die nur in diesen Niedergängen und Niederungen herumwühlt. Das ist einerseits literarisch viel leichter, als etwas Wesentliches und wahrhaft Gedachtes zu sagen; andererseits beginnt diese Art Literatur schon langweilig zu werden. Man findet, die Welt sei nicht nur aus den Fugen, sondern sie rolle weg ins Nichts des Sinnlosen.“ Vgl. Heideggers Selbstverortung jenseits der Dichotomie von Pessimismus und Optimismus: Heidegger, Was heisst Denken, S. 13: „Wenn daher unsere Behauptung von der bedenklichen Zeit und ihrem Bedenklichsten spricht, ist sie keinesfalls auf den Ton des Trübsinns und der Verzweiflung gestimmt. Sie läßt sich nicht blindlings dem Schlimmsten zutreiben. Sie ist nicht pessimistisch. Die Behauptung ist jedoch ebensowenig optimistisch. Sie möchte nicht rasch beschwichtigen mit einer gekünstelt hoffnungsvollen Aussicht auf das Beste.“

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Zum anderen besitzt Heideggers Auffassung eine genuin philosophische Virulenz. Diese profiliert sich anhand des Kriteriums der Befragbarkeit der eigenen Geschichtlichkeit und der Bereitschaft zur Revision der erlangten Stellung in derselben. Dass der Mensch in seinem Wesen in das ihm Entzogene deutet¹⁰³, um sich aus diesem Bezug selbst zu empfangen, wird verschüttet. Es muss in der Konzentration auf die Bearbeitung der Natur und im Hinblick auf die kalkulierend-vorausschauende Planung unberücksichtigt bleiben. Diese Organisationsabsicht vermag nach Heidegger in ihrer temporären Unterbrechung einzig in das ebenso zum Willensparadigma gehörende Extrem der Besinnungslosigkeit und des Erlebnisses umzuschlagen. Folglich muss jede Frage nach dem Sein und dessen Vergessenheit als obsolet und belächelnswert erscheinen. Unter Berufung auf das unreflektiert übernommene Urteil vollständiger wissenschaftlicher Begreifbarkeit des Seienden im Ganzen kann die Seinsfrage sogar als ein zu überwindender Atavismus abgewiesen werden. Im Erlebnis immunisiert sich die Technik als Bestandsicherung gegen den Durchbruch des Denkens, während in der Technik die Sicherstellung derjenigen Weltaneignung stattfindet, welche die Besinnungslosigkeit als Errungenschaft gutzuheißen und zu verteidigen vermag. Wenn sich die regredierende Besinnungslosigkeit in ihren Ruhephasen von der ‚rationalen Bewußtheit‘ der Technik abgrenzt, verkennt sie in dieser Haltung der Abständigkeit, dass sie von jener erzeugt und unterhalten wird. Im Rekurs auf das oben angeführte Zitat ist neben der Modernitätsdiagnose und der Modifikation der Zweipoligkeit innerhalb der Binnenstruktur des Willens dessen Bezug zur Differenz von Sein und Seiendem zu vermerken. Der Wille zum Willen betreibt die Koordination des Seienden in einer Weise, in der das menschliche Selbst- und Weltverhältnis allein in einer Mimesis¹⁰⁴ gewährt wird, die zwischen der rationalen Bewußtheit und der erlebnisgeleiteten Digression oszilliert. In dieser Verpflichtung des Menschen auf den beständig wiederkehrenden Machtvollzug riegelt sich das Sein als Wille gegen eine Entdeckbarkeit seines Unterschiedes zum Seienden ab. Das Seiende wird von Seiten des Seins als das allein Maßgebende und im Kausalzusammenhang des Wirklichen einzig Er-

 Vgl. Heidegger, Was heisst Denken?, S. 6: „Insofern der Mensch auf diesem Zug ist, zeigt er als der so Ziehende in das, was sich entzieht. Als der dahin Zeigende ist der Mensch der Zeigende. Der Mensch ist hierbei jedoch nicht zunächst Mensch und dann noch außerdem und gelegentlich ein Zeigender, sondern: gezogen in das Sichentziehende, auf dem Zug in dieses und somit zeigend in den Entzug, ist der Mensch allererst Mensch. Sein Wesen beruht darin, ein solcher Zeigender zu sein.“  Vgl. zu dieser Mimesis: Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 95: „Weil die Wirklichkeit in der Gleichförmigkeit der planenden Rechnung besteht, muß auch der Mensch in die Einförmigkeit eingehen, um dem Wirklichen gewachsen zu bleiben.“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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gründbare installiert. Als Sein in der Unterscheidung von Sein und Seiendem stehend, konstituiert sich die Seinserfahrung als Wille darin, diesen Unterschied in der monolithischen Zulassung des Seienden einzuebnen. Nichtsdestominder muss der Wille die Differenz zugleich permanent aufrechterhalten, um sich im Seienden als Akteur von diesem abheben zu können. Den Gedankengang Heideggers abrundend, kann an dieser Stelle ein Zwischenresümee eingefügt werden. In Heideggers Beschreibung des Willens zum Willen erhält die idealistische Rückführung der Anwesenheit alles Seienden auf bewusstseinsabhängige Konstitutionsleistungen einen maßgeblichen Status. Diesen Produktivitätsaspekt der Ichheit vereinigt Heidegger in seiner Willensanalyse mit Nietzsches Appell zur menschlichen Herrschaftsübernahme. Diese Aufforderung entspringt nach Heidegger aus dem Wesen des Willens zur Macht. Innerhalb der Nihilismusdiagnose Nietzsches wird die planetarisch-wertbewusste Selbstverantwortlichkeit des Menschen laut Heidegger als unabdingbar gerechtfertigt. Die transzendentalphilosophische Fundierung prolongiert sich in dem praktischen Handlungsimpuls, der sich in der Anthropologie zementiert. Dies schlägt sich vor allem darin nieder, dass alles in die Hände des Menschen gelegt wird. Es ist der Mensch, der inmitten des Seienden die gegenläufigen Vorgänge der ausweitenden Forcierung, der ordnenden Regulierung und der Rückstufung seines Aneignungswillens ausüben und überwachen soll. Auf diese Weise wird das „Menschentum als die ursprüngliche Kraft anerkannt [wird], gleich als ob dieses das Erste und Letzte sei in allem Seienden und dieses und seine jeweilige Auslegung nur die Folge“.¹⁰⁵ Es ist zu beachten, dass Heidegger in der Auseinandersetzung mit der Anthropologie und der Art ihrer Artikulation eine Kritik an Jüngers Gestaltbegriff ¹⁰⁶ vorträgt, die ähnlich wie diejenige an Nietzsches Wertdenken konzipiert ist. Jünger umrande die Gestalt im platonischen Sinne als zeitenthobene und kontingenzentbundene Bestimmungsgrundlage innerhalb der erscheinenden Versatilität und Vielfalt. Auch hier vollzieht sich nach Heidegger die ganzheitliche

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 86.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 86: „So kommt es zur Vorherrschaft der einzig maßgebenden Frage: welcher Gestalt gehört der Mensch an?“ Vgl. Jünger, Der Arbeiter, S. 36: „Von dem Augenblick an, in dem man in Gestalten erlebt, wird alles Gestalt. Die Gestalt ist also keine neue Größe, die zu den bereits entdeckten hinzu zu entdecken wäre, sondern von einem neuen Aufschlag des Auges an erscheint die Welt als ein Schauplatz der Gestalten und ihrer Beziehungen. Es stellt sich dies, um einen für die Übergangszeit bezeichnenden Irrtum anzudeuten, nicht so dar, als ob etwa der Einzelne verschwände und nur von Körperschaften, Gemeinschaften oder Ideen seinen Sinn entgegenzunehmen hätte. Auch im Einzelnen repräsentiert sich die Gestalt, jeder Fingernagel, jedes Atom an ihm ist Gestalt.“

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Anerkennung des Menschen als Auslegungszentrum. Demzufolge können in diesem Entwurf die Wahrheit oder das Sein als Austragungsort des Prinzipienwandels der Metaphysik nicht mehr berücksichtigt werden. Auf der Basis des – genau wie das Wertmotiv in seiner eigenen, geschichtlichen Genese vergessenen – Gestalttheorems werden die verschiedenen Gestalten, die der Mensch in der Geschichte annahm, konturiert und unterschieden. Die Gestalt wird zum jeweiligen εἶδος einer Epoche befördert, deren einzelne Vertreter als das „jeweilige μὴ ὄν zur ἰδέα“¹⁰⁷ entschlüsselt werden. Anhand des prägnanten Abschnittes Nr. XX wird deutlich, dass sich die dem Willen zum Willen entsprechende Herausmeißelung des Anwesenden in die sowohl von der wissenschaftlichen Theorieeingrenzung als auch von der vor-stellenden Reflexion geforderte Gegenständigkeit auf dem Grunde einer eklatanten Eruption des Wahrheitswesens¹⁰⁸ ereignet. Diese Erschütterung erschöpft sich keineswegs im Übergang der Richtigkeit zur Gewissheit. Die anfängliche Wahrheit kann als ein Sich-von-sich-her-zeigen des Anwesenden in seinem Hervorgang in die Unverborgenheit dekuvriert werden. In der durch den Willen zum Willen angestoßenen Inversion dieser Wahrheit muss die willensförmige Charakterisierbarkeit und Ausgerichtetheit des in das Offene emporwachsenden Seienden mit dem Dekret der diesem eignenden Richtigkeit (im Sinne der Adäquanz mit dem vom Willen zum Willen Gewollten) koinzidieren. Nur wenn sich das potentiell Seiende dem voluntaristischen Musterbild unterstellt, d. h. sich selbst im Horizont der Selbstsicherung des Willens will, kann es vom Willen zum Willen anerkannt werden. Dergestalt kann es den Status des wirklich Seienden erlangen: Die Richtigkeit des Willens zum Willen ist die unbedingte und vollständige Sicherung seiner selbst. Was ihm zuwillen ist, ist richtig und in Ordnung, weil der Wille zum Willen selbst die einzige Ordnung bleibt. In dieser Selbstsicherheit des Willens zum Willen ist das anfängliche Wesen der Wahrheit verloren. Die Richtigkeit des Willens zum Willen ist die Unwahrheit schlechthin. Die Richtigkeit des Un-wahren hat im Umkreis des Willens zum Willen eine eigene Unwiderstehlichkeit.¹⁰⁹

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 86.  Vgl. Ingeborg Schüßler, Zur Frage der Wahrheit bei Nietzsche und Heidegger, S. 176: „Wenn aber die Lichtung als der tragende Grund in gänzlich abkehrender Verkehrung ihrer selbst als das abgründig-gewährende Da sich vollends verweigert, dann enthüllen sich die vergegenständlichenden Ideen und Begriffe als gänzlich wesenlose Schemata und die zurichtende RichtigkeitsWahrheit als gänzlich wahrheits-los, dergestalt, daß das Richtigkeitsgefüge nur noch als lebensdienlicher Wert gerechtfertigt ist – wie dies eben Nietzsche erfahren und denkerisch ausgetragen hat.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 86 – 87.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Die Philosophie beschwor die Metaphysik herauf, durch die sie in der fortschreitenden Ausfaltung in die Anthropologie und in die mit dieser zusammenhängenden Disziplinen schließlich suspendiert¹¹⁰ wurde. Damit ist vergleichbar, dass sich aus dem ungegründet gebliebenen und nicht als solchem bedachten Anfang der ἀλήθεια¹¹¹ die „Richtigkeit des Un-Wahren“¹¹² herausschält, die jene ursprüngliche Wahrheit tilgt. In der lückenlosen Dichte der willensgemäßen Verwaltung und der verführerischen Anziehungskraft des vermeinten Erfolges verschließt sich das in der ἀλήθεια weilende Bleiben des Anwesenden. Es tritt zugunsten des vom Willen koordinierten, lichtungslosen und von jeder innewohnenden Verbergung abgeschnittenen Hervorbringens des Seienden in die willensförmige Entsprechungsweise zurück. Das Geschehen der Selbstsicherung wird von einer unaufhaltsamen Bewegung angetrieben, deren Agens der Wille ist. Diese ‚schlechte Unendlichkeit‘ kommt also niemals zu einem Abschluss. Trotz der immer schon erreichten Subordination des Seienden unter den Willen muss dieser stets von neuem beginnen. Der Wille zum Willen muss den Abgrund der Verbergung, dem das Seiende nach wie vor entstammt, durch die eigene Begründungsfunktionalität verdrängen. Die Entzogenheit des Seins muss er in der Hypostasierung seiner selbst als des Grundes in Vergessenheit hüllen. Dergestalt „meistert“¹¹³ das Richtige das Wahre und „beseitigt die Wahrheit“.¹¹⁴ Neben dieser topologisch-aletheiologischen Komponente ist von entscheidender Bedeutung, dass sich in der bedingungslos verfolgten Intention der beständigen Selbsterzeugung des Willens ein Anhalt des Seins und eine anklingende Eschatologie abzeichnet: „Der Wille zur unbedingten Sicherung bringt erst die allseitige Unsicherheit zum Vorschein“.¹¹⁵ Die durch den Willen kaschierte und zugleich initiierte Verstellung der Wahrheit entschleiert deren durch die ge-

 Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 86.  Vgl. Heidegger, Die Geschichte des Seyns, GA 69, hrsg. von Peter Trawny, Frankfurt a.M. 1998, S. 7: „4. Die Wahrheit des Seyns. Bisher noch niemals erkannt, wenngleich sie im Anfang der abendländischen Philosophie selbst in ihr Offenes hervorkommen mußte, wenngleich nicht als Wahrheit des Seyns, und deshalb ging sie auch niemals ein in das Fragen. Vielmehr wurde schon der erste noch ganz verhüllte Vorschein künftig verschüttet – und doch konnte und kann sie nicht beseitigt werden. Erfragbar aber ist sie erst aus der Not des Seyns.“ Vgl. auch: Heidegger, Aletheia (Heraklit, Fragment 16), in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 287: „Die Sterblichen sind unablässig dem entbergend-bergenden Versammeln zugekehrt, das alles Anwesende in sein Anwesen lichtet. Doch sie kehren sich dabei ab von der Lichtung und kehren sich nur an das Anwesende, das sie im alltäglichen Verkehr mit allem und jedem unmittelbar antreffen.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 86.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

samte Geschichte hindurch währende Ungegründetheit. Die unumstößliche Zwangsverpflichtung zur Sicherung enthüllt die menschliche Unsicherheit und die Angst vor der Haltlosigkeit als taktgebenden Impuls. Erst aus der Einsicht in die sich als Prinzip des willenseigenen Bemächtigungsdranges erweisende Unsicherheit kann der Anschein der Sicherung unterminiert werden. Damit kann jene Fragwürdigkeit wiedergewonnen werden, die der Wille zum Willen verschleierte. Inmitten der Prozessualität des Willens zum Willen „ist der Vollzug des Strebens“¹¹⁶ je schon mit der „Verwirklichung des Erstrebten“¹¹⁷ zusammengefallen und mit diesem gleichbedeutend. Dennoch bleibt die Frage offen, in welchem Medium das vom Willen Erstrebte präsent ist, soll dessen Sich-Antreffen in seiner angestammten Bewegungsart über eine tentativ-instinktive Selbstbezüglichkeit hinausgehen. Wie das in den Willen eingegliederte Vor-stellen keiner sensualistischen Epistemologie entspricht, so ist es der Begriff, in dessen Horizont sich der sich selbst koordinierende und befehlende Wille „als ein im Allgemeinen Vorgestelltes“¹¹⁸ weiß. Gegenüber dem Primat der Entschlossenheit und Affektivität, den er 1936/37 im Willen zutage förderte, schwenkt Heidegger in Überwindung der Metaphysik wie in der Schelling-Vorlesung von 1941 gänzlich auf die kantisch-schellingsche Linie ein, wenn er schreibt: „Zum Willen gehört Bewußtsein“.¹¹⁹ Insofern der eine Wille zum Willen jedoch unweigerlich mit und gegen sich selbst agiert, ist ihm gerade aufgrund seiner „höchsten und unbedingten Bewußtheit“¹²⁰ eine Ziel-losigkeit zugehörig. Das Kriterium der Ziellosigkeit ließ sich bereits aus Heideggers Vergleichsstiftung des sich selbst wollenden Willens zur Macht mit dem nichts für sich wollenden Willen der Liebe herauslesen.¹²¹ Im Aufsatz Überwindung der Metaphysik gibt Heidegger einen aufschlussreichen Einblick in die Genealogie und die Definition des „Willenswesens“.¹²² Im XXI. Stück verortet Heidegger den Zenit der Ziellosigkeit im „unbedingten Willen zum Willen“¹²³ und somit in der „Vollendung des Willenswesens“.¹²⁴ Indes datiert

        

Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Vgl. hierzu das Kapitel 2.2.9 der vorliegenden Arbeit. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

731

Heidegger den Beginn des Willenswesens in dem reinen Willen der von Kant entfalteten praktischen Vernunft. In dessen Formalität ist nach Heidegger bereits die willenstypische Selbstbejahung antizipiert. Dieser Sachverhalt gründet nicht darin, dass die praktische Vernunft – wie etwa der Wille zum Willen – keinen anderen Inhalt außer sich selbst als Ziel zuließe. Vielmehr ist für Heidegger bedeutsam, dass sich der Inhalt des praktischen Vernunftwillens in der Selbstgesetzgebung der Form erschöpft. Die Charakteristika der Reinheit, des Aufrufes zur Widerspruchslosigkeit und der unerbittliche Forderungscharakter des praktischen Willens werden in Heideggers weiterer Ausfaltung des Willens zum Willen zurückgestuft. Heidegger bevorzugt die aus der Schelling-Vorlesung von 1941 bekannte Bestimmung des in jedem Willen intrinsisch waltenden Wider-willens. Zudem greift er auch im Text Überwindung der Metaphysik auf die Unterscheidung als hauptsächliches Wesensmerkmal des Willens zurück.¹²⁵ In diesem Zuge inkludiert Heidegger einen zweiten Erläuterungsweg der Ziellosigkeit, sodass der Systematisierung des Willens zum Willen ein wichtiges Element hinzugefügt wird. Die Ziellosigkeit konturiert sich nicht nur aufgrund der Selbstaffizierung des voluntaristischen Einheitshylemorphismus, dessen einziger Inhalt seine Form als innere Bewegungsgesetzmäßigkeit ist. Die generelle Ziellosigkeit erlangt eine Flankierung durch die Abkapselung und Selbstherausnahme des Willens aus dem situativ gebundenen Zielvollzug, sofern dieser nicht allein der Machterhaltung zuzuarbeiten scheint. Die Gegenstrebigkeit im Willen äußert sich paradoxerweise in einer auf sich selbst und auf die gewählten Mittel und Ziele zurückgewendeten Unterstellung permanenter Subversion, die sich dergestalt – so lässt sich konstatieren – in ihrer rastlosen Unruhe und Destruktivität allererst erzeugt: Daher gehört zu ihm [dem Willen zum Willen, J.K.] das allseitige, ständige, unbedingte Ausforschen der Mittel, Gründe, Hemmnisse, das verrechnende Wechseln und Ausspielen der Ziele, die Täuschung und das Manöver, das Inquisitorische, demzufolge der Wille zum Willen gegen sich selbst noch mißtrauisch und hinterhältig ist und auf nichts anderes bedacht bleibt als auf die Sicherung seiner als der Macht selbst.¹²⁶

Ein wesentliches Differenzkriterium gegenüber dem Willen zur Macht, mit dem der Wille zum Willen in der Autopoiesis der zu stabilisierenden Machtbasis übereinkommt, zeigt sich demnach in der Spezifität des Verdachtsmomentes. Nietzsche führt das Verdachtsmotiv in einer geschichtlich-kritischen Ausrichtung gegen metaphysisch-moralische Setzungen ins Feld, um deren Provenienz aus

 Vgl. hierzu das Kapitel 2.2.6 dieser Arbeit.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

dem Machtwillen aufzudecken. Über Nietzsche hinausgehend, denkt Heidegger die Anwendung des Verdachts konsequent zu Ende, indem er diesen direkt in den Binnenhaushalt des Willens zum Willen einschreibt. Im Kontrast zu dieser Deskription des Willens zum Willen, gilt sowohl für Nietzsche selbst als auch für Heideggers frühe Deutung des Willens zur Macht, dass dieser sich nicht in der Insinuation eines konspirativen Entgegenwirkens „inquisitorisch“ gegen sich selbst wendet. Selbst wenn der Fokus auf Nietzsches Gedanken einer Vielfalt von konkurrierenden Macht-Zentren oder auf die Entzweiungstendenz des Willens gelegt wird, kann aufgrund der unausweichlichen Pluralisierung und Zerteilung kein immanentes Misstrauen proponiert werden. Hingegen ist der Wille zum Willen einerseits durch die Selbstkontrolle und die berechnend-akribische Erforschung der Mittelanwendung charakterisiert. Andererseits überflügelt er sich permanent selbst. In der zur Methode geronnenen Vorspiegelung sinnhafter Zielerstrebnis täuscht sich der Wille zum Willen über sein eigenes Wesen hinweg. Des Weiteren führt die Selbstverdächtigung des Willenswesens dazu, dass sowohl die jeweiligen Beweggründe als auch die verschiedenen, simultan verfolgten Ziele in eine Konkurrenz zueinander treten. Der Wille zum Willen adressiert an jedes von ihnen den kompetitiven Maßstab, ob sie ihm noch genügen können. Originär ist, dass Heidegger diese Konzeption einer Janusköpfigkeit des Willens zum Willen mit einem Schopenhauerschen Erklärungsansatz verbindet. Hinter diesen geht Heidegger zugleich in rekonstruierender Absicht zurück. Dies lässt sich besonders anhand des Stückes Nr. XXII illustrieren, das wie folgt lautet: Dadurch, daß zeitweilig der Wille in einzelnen ‚Willensmenschen‘ personifiziert ist, sieht es so aus, als sei der Wille zum Willen die Ausstrahlung dieser Personen. Die Meinung entsteht, der menschliche Wille sei der Ursprung des Willens zum Willen, während doch der Mensch vom Willen zum Willen gewollt ist, ohne das Wesen dieses Wollens zu erfahren. Sofern der Mensch der so Gewollte ist und der in den Willen zum Willen Gesetzte, wird in seinem Wesen auch notwendig ‚der Wille‘ angesprochen und als die Instanz der Wahrheit freigegeben. Die Frage ist überall, ob der Einzelne und Verbände aus diesem Willen sind oder ob sie noch mit diesem Willen und gar gegen ihn verhandeln und markten, ohne zu wissen, daß sie schon von ihm überspielt sind. Die Einzigkeit des Seins zeigt sich auch im Willen zum Willen, der nur eine Richtung zuläßt, in der gewollt werden kann. Daher stammt die Einförmigkeit der Welt des Willens zum Willen, die von der Einfachheit des Anfänglichen so weit entfernt ist wie das Unwesen vom Wesen, obzwar es zu diesem gehört.¹²⁷

Diese Aufzeichnung ist zum einen metaphysisch-seinsgeschichtlich ausgerichtet und beschreitet zum anderen einen modernitätsbezogenen-sozialanalytischen

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Illustrationsgang. Anhand des obigen Passus lässt sich demonstrieren, weswegen sich der Mensch nach Heidegger nicht nur als „Freiwilliger des Willens zum Willen“¹²⁸ auffassen muss. Das Individuum forciert dessen Verfügungsgewalt, indem es sich selbst als Quelle des Willens zum Willen missversteht. Dadurch verbirgt sich die Übermacht der nicht mehr erfahrbaren, untergründigen Lenkung. Die Figur des „Willens zum Willen“ ließe sich auch dahingehend auflösen, dass der an erster Stelle genannte Wille des Menschen zu sich selbst als Willen der Wirklichkeit (d. h. zu dem an zweiter Position angeführten Willen) aufgerufen wird. In Wahrheit ist es dieser zweite Wille, der das menschliche Streben allein darauf verengt, ihm selbst als dem übergreifenden Willen zu entsprechen. Die perennierende Bewegung des Hin…Zu kann nicht durch eine einstmalige Beruhigung oder ein geglücktes Erreichen einer Vollendung beendet werden. Ansonsten müsste sich der erstgenannte, menschliche Wille aufheben, der per definitionem ein rastloses Überwindenwollen seiner selbst ist. Die Tragik kulminiert darin, dass die einzige Form des Einklanges mit dem angestrebten, zweiten Willen darin bestehen könnte, sich mit der Kraft des ersten Willens immer wieder von dem wesentlichen Willen abzukoppeln. Nur auf diese Weise kann die Möglichkeit offengehalten werden, dem Drängen des Willenswesens in einem neuen Anlauf Folge leisten zu können. Damit geht einher, dass sich der Mensch in dem Zwischenraum des Ausstandes und des Bedürfnisses halten muss. Zudem lässt der zweitgenannte Wille nur noch diesen einen menschlichen Daseinsmodus zu, um sich darin in der ewigen Unbefriedigung seines Wesens palpabel zu werden und als ein solcher erfahren zu können. Deswegen wird der erste Wille darauf konditioniert, den zweiten Willen in einem unendlichen Streben erreichen zu wollen. Er darf das Willenszentrum aber nie gänzlich ausfüllen, weil nur in diesem Schwebezustand der Wille zum… und damit die Grundverfassung des menschlichen Lebens in der seinsgeschichtlichen Moderne erhalten bleiben kann. Außer diesem zweiten Willen, der ein unbefriedigendes Pendelstadium errichtet, gibt es nichts mehr, das gewollt werden könnte – zumal ausnahmslos jedes (andere) Wollen unter die Ägide des Willens zum Willen fallen müsste. Diesen Vorgang schildert Heidegger auch in der wichtigen Abhandlung Die Metaphysik als Geschichte des Seins: Für die neuzeitliche Geschichte der Metaphysik spricht aber der Name Subjektivität nur dann das volle Wesen des Seins aus, wenn nicht nur und nicht einmal vorwiegend an den Vorstellungscharakter des Seins gedacht wird, sondern wenn der appetitus und seine Entfaltungen als Grundzug des Seins offenkundig geworden sind. Sein ist seit dem vollen Beginn der neuzeitlichen Metaphysik Wille, d. h. exigentia essentiae. ‚Der Wille‘ birgt vielfaches

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Wesen in sich. Er ist der Wille der Vernunft oder der Wille des Geistes, er ist der Wille der Liebe oder der Wille zur Macht. Weil man den Willen und somit auch das in ihm wesende Vorstellen als menschliche Vermögen und Tätigkeiten kennt, entsteht der Anschein einer durchgängigen Vermenschlichung des Seins. Der Anthropomorphismus wird sogar, je näher die neuzeitliche Metaphysik und damit die Metaphysik überhaupt ihrer Vollendung kommt, eigens als die Wahrheit gefordert und übernommen, wobei allerdings die Grundstellung der Anthropomorphie von Schelling und Nietzsche auf je verschiedene Weise begründet wird. […] Sein ist als dieses Wollen die Beständigung der Beständigkeit, die gleichwohl ein Werden bleibt. Sein ist, sofern jedes Wollen ein Sich-Wollen ist, durch das ‚Auf-sich-zu‘ ausgezeichnet, dessen eigentliches Wesen in der Vernunft als Selbstheit erreicht wird. Sein ist Wille zum Willen.¹²⁹

Dieser Supremat des Willenswesens ist für das Individuum kaum zu durchschauen. Nach Heidegger erwecken ausgewiesen charismatische, machtvolle und gefährliche Repräsentanten dieses Willens den Anschein, sie könnten als Akteure, Kontrolleure und Inhaber des auf die Spitze seiner rücksichtlosen und entfesselten Wirksamkeit getriebenen Willens zum Willen auftreten. An diesem Sachverhalt manifestiert sich die politische Komponente des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik, die in eine Legitimation diktatorischer Machtbefugnisse umzuschlagen droht. Darin überschneidet sich Heideggers Text mit Ernst Jüngers Essay Der Arbeiter. Heidegger leitet alle politischen Entscheidungszusammenhänge und die Motivation der jeweils an wichtigen Positionen agierenden Personen aus dem Willen zum Willen her. Auf den ersten Blick verfährt er methodisch ähnlich wie Nietzsche, wenn dieser den verdeckten Willen zur Macht hinter dem vermeintlichen Einfühlungsvermögen, dem scheinbar uneigennützigen Regelkanon und den Hilfeangeboten der Priester sichtbar macht. Nietzsche möchte die unlauteren Absichten derjenigen Entscheidungsträger aufdecken, die vorgeben, im Dienste des Guten, Moralischen und Wahren zu handeln oder die Weisungen einer göttlichen Offenbarung zu befolgen. Umgekehrt enthebt Heidegger diejenigen Individuen aus der Verantwortung, die ganz offenkundig inhuman, unmoralisch, rein egoistisch und berechnend agieren. Gerade vor dem zeithistorischen Hintergrund ist Heideggers Einbettung der Politiker in ein untergründiges Willensgeschehen hochproblematisch, weil diese Restriktion der Zurechenbarkeit in einen Freispruch von persönlicher Schuld einmündet. Heidegger verabsolutiert eine Regierungsweise, die nur noch auf die reibungslose Planung und Ordnung des Seienden und nicht mehr auf die Rechte des Einzelnen achtet, zur seinsgeschichtlichen Unausweichlichkeit. Heideggers Überlegungen im Aufsatz Über Heidegger, N II, S. 411– 412.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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windung der Metaphysik drohen nun ihrerseits in jene Rechtfertigung der schrankenlosen Willkür der Herrschenden umzuschlagen, von der sich Heidegger durch die Analyse der neuzeitlichen Subjektivitätsstruktur zu distanzieren sucht. Jede berechtigte Kritik wird als „moralische Entrüstung“ und Naivität der Unwissenden abgetan. Diese sind nach Heidegger nicht in der Lage, die politische Erscheinungsebene zugunsten der Wesensebene des Willens zum Willen zu überschreiten: Die moralischen Entrüstungen derer, die noch nicht wissen, was ist, zielen oft auf die Willkür und den Herrschaftsanspruch der ‚Führer‘ – die fatalste Form der ständigen Würdigung. […] Man meint, die Führer hätten von sich aus, in der blinden Raserei einer selbstischen Eigensucht, alles sich angemaßt und nach ihrem Eigensinn sich eingerichtet. In Wahrheit sind sie die notwendigen Folgen dessen, daß das Seiende in die Weise der Irrnis übergegangen ist, in der sich die Leere ausbreitet, die eine einzige Ordnung und Sicherung des Ganzen des Seienden verlangt. Darin ist die Notwendigkeit der ‚Führung‘, d. h. der planenden Berechnung der Sicherung des Ganzen des Seienden gefordert. Dazu müssen solche Menschen eingerichtet und gerüstet sein, die der Führung dienen. Die ‚Führer‘ sind die maßgebenden Rüstungsarbeiter, die alle Sektoren der Sicherung der Vernutzung des Seienden übersehen, weil sie das Ganze der Umzirkung durchschauen und so die Irrnis in ihrer Berechenbarkeit beherrschen. Die Art des Durchschauens ist die Berechnungsfähigkeit, die sich im vorhinein ganz losgelassen hat in die Erfordernisse des ständig sich steigernden Sicherns der Ordnungen im Dienste der nächsten Möglichkeiten des Ordnens.¹³⁰

Auf der anderen Seite – dieser Aspekt ist der philosophisch bedrohlichere – hüllt Heidegger den Willen zum Willen in die Undurchdringlichkeit. So ist es nach Heidegger ein primäres Merkmal des Willens, im Ausstrahlungskreis seiner Personifikation die Suggestion zu nähren, dass die Vereinzelung der Begründungsgarant und Ursprung des Weltwillens sei. In Wahrheit hat das einheitliche Wesen die Dissoziation je schon ermöglicht, erzeugt und übergriffen. Der Wille zum Willen löst auf diese Weise den strategischen und subtilen Täuschungscharakter ein. Das Begründende erweckt den Eindruck, selbst ein aus der philosophischphänomenologisch Betrachtungsweise erschlossenes Begründetes zu sein. Die Rekonstruktion der metaphysischen Präeminenz des Willens ergibt sich vor dem Hintergrund einer im Willen zum Willen wurzelnden Ambiguität. Indem dieser sich in die per Analogieschluss a minori ad maius zu ermittelnde Dechiffrierbarkeit freigibt und sich damit in die Möglichkeit metaphysischer Hypostasierung überträgt, geht seine besonders von Schopenhauer initiierte Aufstufung zum Ding an sich mit der Unerfahrbarkeit des sich seinsgeschichtlich ereignenden Wesens dieses Wollens einher.

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 92.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Die maßgeblich von Schopenhauer, Schelling und Nietzsche reflektierte Heraufkunft des Willens als metaphysisches Prinzip und als „Instanz der Wahrheit“¹³¹ resultiert aus der vorgängigen (nach Heidegger nur seinsgeschichtlich einzuholenden) Aufforderung an den Menschen als „Gewollten“¹³², sich dem Willenswesen zu fügen. Dieses entfaltet sich in verschiedene Willensstadien. In den vielfältigen Erscheinungsformen vindiziert es jeweils einen zeitunabhängigen und ungeschichtlichen Absolutheitsanspruch, weil dem Sein als Wille der Charakterzug der Ewigkeit und der Unabhängigkeit von der Zeit in jeder seiner Nuancen zukommt.¹³³ Heideggers rekonstruierend-anamnetische Hinblicknahme verdichtet sich – so lässt sich zusammenfassen – in einer grundlegenden These. Nach Heidegger fußt die zur metaphysischen Universalisierung des Willensphänomens überleitende Dominanzerfahrung des eigenen Willens bereits auf der Loslassung des Seins als Wille. Erst diese Freigabe generiert die hervorstechende Erschlossenheit und ausweitbare Zentralität des individuell-menschlichen Willens. Heidegger intoniert eine seinsgeschichtliche Umkehrung der Begründungsrichtung des zur „Instanz der Wahrheit“¹³⁴ gewordenen Willens. Damit beraubt sich Heidegger eines möglichen Ausblickes auf einen alternativen Verlauf, der als kritischer Gegenentwurf an den Willen zum Willen angelegt werden könnte. In der obigen Passage offenbart sich dies anhand der Akzentuierung der ausweglos-unwidersprechlichen, dauerhaften Herrschaft der Einförmigkeit.Wenn jede Abwehr des Willens auf der vorgängigen, von diesem gewährten Zulassung einer solchen Verweigerungshaltung beruht, verschwimmt die unhinterfragte Zustimmung auf der einen Seite mit jeder Anbahnung einer vorsichtigen Diplomatie und der Beharrlichkeit des Widerständigen auf der anderen Seite. Gerade in ihrem Kontrast garantieren beide Verhaltensweisen die Aufrechterhaltung des einen Widerwillen benötigenden Prinzips. Diesem gelingt es, sich gerade in der vermeintlich eingeräumten Freiheit des Widerspruches zu verfestigen. Der Wille zum Willen – so legt Heidegger dar – hat den „Spielraum“¹³⁵ für ein „Spiel“¹³⁶ errichtet, in welchem er sich durch die Herabminderung jeglicher Ziele zu Mitteln seiner Selbstbegegnung immer wieder selbst überspielt. Heideggers Betonung der

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.  Hier zeigt sich, dass Heidegger in seiner Charakterisierung des Willens seinerseits von Schellings Darlegung der Prädikate des Urseins beeinflusst wird, obwohl er diesen ab 1941 lückenlos in sein eigenes Narrativ des Willens zum Willen einzugliedern versucht.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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aus der „Einzigkeit des Seins“¹³⁷ entspringenden Einförmigkeit mündet in einen Rückstoß ein, der seine eigene Theoriebildung infiltriert. Heidegger vollzieht nämlich selbst jene Entdifferenzierung, die er von einem privilegiert-distanzierten Beurteilungsort aus zu konstatieren glaubt. Dies wird beispielsweise anhand seiner immens fragwürdigen Ansicht transparent, der Wille zum Willen habe jedweden Unterschied zwischen Krieg und Frieden sowie zwischen verschiedenen politischen Systemen in der „bloßen Irrnis der Vernutzung des Seienden“¹³⁸ eingeebnet. Trotz der gegenteiligen Beteuerung Heideggers, die Loslassung des Seins in die „Machenschaft“¹³⁹ sei keineswegs als „Verfall“¹⁴⁰ oder als „Negativum“¹⁴¹ zu verurteilen, belegt die Identifizierung des Willens als „Anarchie der Katastrophen“¹⁴² die kritisch-tiefenschürfende, ja intransigente Stellungnahme Heideggers. Heideggers Positionierung ist nichtsdestominder von einem affirmativen, aus der Auffassung einer Unumgänglichkeit des Seinsgeschickes erwachsenden Trotz durchzogen. Der Wille zum Willen trägt sich in diese Notwendigkeitsstruktur ein. Diese bestätigt sich der Wille zum Willen mit Hilfe einer von ihm eigens hervorgebrachten Rhetorik der Legitimation, die den seinsgeschichtlichen Quellgrund seines Wesens verdeckt. Im XVI. Stück des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik hatte Heidegger die Rolle der Gerechtigkeit als in der Reflexion zum Vorschein kommende Selbstrechtfertigung des menschlichen Weltbezuges unterstrichen. Diesen Sprachkodex der Autoimmunisierung greift Heidegger im XXIII. Stück auf, um ihn dort als eine dem Willen zum Willen wesenseigene Erhaltungsstrategie zu kennzeichnen: Weil aber gleichwohl der Wille zum Willen nicht, wenn er sich im Seienden einrichten soll, als die Anarchie der Katastrophen, die er ist, erscheinen darf, muß er sich noch legitimieren. Hier erfindet der Wille zum Willen die Rede vom ‚Auftrag‘. Dieser ist nicht gedacht im

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91: „In diesen Prozeß ist auch der Mensch einbezogen, der seinen Charakter, der wichtigste Rohstoff zu sein, nicht mehr länger verbirgt. Der Mensch ist der ‚wichtigste Rohstoff‘, weil er das Subjekt aller Vernutzung bleibt, so zwar, daß er seinen Willen unbedingt in diesem Vorgang aufgehen läßt und dadurch zugleich das ‚Objekt‘ der Seinsverlassenheit wird. Die Welt-Kriege sind die Vorform der Beseitigung des Unterschieds von Krieg und Frieden, welche Beseitigung nötig ist, da die ‚Welt‘ zur Unwelt geworden ist zufolge der Verlassenheit des Seienden von einer Wahrheit des Seins.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Hinblick auf Anfängliches und dessen Wahrung, sondern als das vom Standpunkt des ‚Schicksals‘ zugewiesene und den Willen zum Willen dadurch rechtfertigende Ziel.¹⁴³

Auf die verfängliche Nähe zwischen den Heideggerschen Sprachtopoi des ‚Geschicks‘ und des ‚Schicksals‘ und der politischen Instrumentalisierung dieser Begriffe als Exkulpationstermini ist häufig hingewiesen worden.¹⁴⁴ Die zitierte Textstelle eignet sich allerdings durchaus, diesbezüglich eine partielle Vigilanz Heideggers einzuräumen. Heidegger erkennt die Problematik der Berufung auf ein unabwendbares Schicksal hinsichtlich des Willens zum Willen. Entsprechend sucht sich Heidegger von jenem Entwurf eines Autoritätsbezuges abzugrenzen, der dem Willen zum Willen eignet. Der hauptsächliche Unterschied in dem Gebrauch des Schicksalsbegriffes liegt darin, dass Heidegger den Willen zum Willen als Gestaltwerdung einer unverfügbaren Schickung fasst, die diesen zugunsten der Wesungsart des Seins relativiert. Demgegenüber inszeniert sich der Wille zum Willen als Vollbringer eines von ihm zu erfüllenden Auftrages. Diesen führt er auf eine höhere Weisung zurück, sodass er seine scheinbare Unbedingtheit zu untermauern vermag. Heideggers wohl schärfste und einprägsamste Charakterisierung des Willens zum Willen verdichtet sich in der Formulierung „Anarchie der Katastrophen“.¹⁴⁵ Es lässt sich die These vertreten, dass Heideggers Sichtbarmachung der das einzige Ziel bildenden Ziellosigkeit und die Exposition der in ihrem Resultate vollkommenen indifferenten Haltung des Einzelnen zum Willen in seiner an Nietzsche gemahnenden Analyse der Macht wurzeln. Diese rückt im XXIV. Stück in den Mittelpunkt: Der Kampf zwischen denen, die an der Macht sind, und denen, die an die Macht wollen: auf jeder Seite ist der Kampf um die Macht. Überall ist die Macht selbst das Bestimmende. Durch diesen Kampf um die Macht wird das Wesen der Macht von beiden Seiten in das Wesen ihrer unbedingten Herrschaft gesetzt. Zugleich aber verdeckt sich hier noch das Eine, daß dieser Kampf im Dienste der Macht steht und von ihr gewollt ist. Sie hat sich zuvor dieser Kämpfe bemächtigt. Der Wille zum Willen allein ermächtigt diese Kämpfe. Die Macht bemächtigt sich aber so der Menschentümer auf eine Art, daß sie den Menschen der Möglichkeit ent-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.  Vgl. Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 6, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2003, S. 498: „Die zunächst deskriptiv eingeführte Kategorie Eigentlichkeit, welche aus der vergleichsweise unschuldigen Frage entfloß, was an etwas eigentlich sei, wird zum mythisch verhängten Schicksal. Inmitten der vollkommenen Naturferne eines ontologischen Gerüsts, das jenseits alles Seienden aufragen möchte, fungiert es als bloß Naturhaftes.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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eignet, auf solchen Wegen aus der Vergessenheit des Seins je herauszukommen. Dieser Kampf ist notwendig planetarisch und als solcher in seinem Wesen unentscheidbar, weil er nichts zu entscheiden hat, da er von aller Unterscheidung, vom Unterschied (des Seins zum Seienden) und damit von der Wahr-heit ausgeschlossen bleibt und durch die eigene Kraft ins Ungeschickliche hinausgedrängt wird: in die Seinsverlassenheit.¹⁴⁶

In diesem Passus wird deutlich, dass die sozialpolitisch-ontische Macht als Ausdruck einer einflussnehmenden Autorität mitsamt der Möglichkeit ihrer Erlangung zwar von dem Wesen der Macht zu differenzieren ist. Das allgemeine Streben nach den Positionen und Schalthebeln ökonomischer, politischer, kultureller und institutioneller Leitung wird von dem Wesen der Macht jedoch in einer agonalen Koordination¹⁴⁷ gebündelt. Der Streit um die gesellschaftliche Kategorie des Machterwerbs findet zwischen den statusbewahrenden und den herausfordernden Kräften statt, welche in sich in zahlreiche Diremtionen zerfallen. Im Hinblick auf die von ihr auszuübende Herrschaft vermag sich die Macht in ihrem Wesen zu entfalten, da der Konflikt einerseits im Innersten der Macht entzündet wird. Andererseits schließt die Macht die von ihr dirigierte Konfrontation der involvierten Gruppen unweigerlich in sich ein. Die Macht ist „das Bestimmende“¹⁴⁸, weil sie den Machthungrigen die maßgebliche Zielrichtung und den lebensweltlichen Fokus vorgibt. Inmitten der Uneinigkeit zwischen den konsolidierten Mächtigen und den zu diesem Verfügungsprivileg Hinstrebenden wächst die Macht selbst als einzig akzeptierte Leitgröße empor. Auf diese Weise wird sie immer wieder – ungeachtet ihrer mannigfaltigen Ausprägungen, der Verschiedenheit ihrer Trägerpersonen und der mit ihr verknüpften Institutionen und Systeme – bestätigt. Die Kämpfe können sich allein innerhalb ihres Bezugssystems artikulieren. Die Macht hat sich „zuvor dieser Kämpfe bemächtigt“.¹⁴⁹ Wie in dem synoptischen Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) wird an dieser Stelle die Möglichkeit eines Primats der Macht gegenüber dem Willen virulent.¹⁵⁰ Dass beide nichtsdestotrotz untrennbar sind, zeigt sich darin, dass sich die Macht zwar als Basisgröße in die um sie tobenden Konflikte entlässt. Diese Kämpfe werden jedoch vom Willen zum Willen freigegeben und unterhalten.

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89.  Vgl. Heideggers metaphysisch-politische Ausführungen zum Wesen der Macht: Heidegger, Die Geschichte des Seyns, GA 69, S. 184– 214.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89.  Vgl. hierzu das Kapitel 1.8.5 dieser Arbeit.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Heidegger unterstreicht hier nochmals die Ergebnislosigkeit der Machtkämpfe. Heideggers Betonung der vollständigen Verflüchtigung von ethisch qualifizierbaren Differenzen in der Handhabung des Machtgebrauchs fußt auf der Voraussetzung, dass die Macht als ein nicht erfassbares Abstraktum firmiert. Die Macht generiert sich in der List des zugelassenen Ringens um ihre unerschöpflichen, lebensweltlich-administrativen Erscheinungsformen. Heidegger zeichnet das Panorama einer qualitativen Unterschiedslosigkeit der Machtkämpfe, die sich in einer repetitiven Struktur anordnen. Die sich hinter dem Rücken der Akteure aufbauende, permanente Selbstbestätigung bezieht sich allerdings nur auf die präsentische Verfasstheit der Macht. In anderer Hinsicht exponiert Heidegger eine monodirektionale Eindeutigkeit des Entscheidungsszenarios. Nach Heidegger muss nämlich eine Entscheidung darüber fallen, wer die Verwirklichung des mit der All-Einigkeit der Machtkomponente innig verbundenen „unbedingten Nihilismus“¹⁵¹ verwalten soll. Es keimt die drängende Frage auf, wer die höchste Not-losigkeit ausstreuen soll. Die vollendete Notlosigkeit dokumentiert sich der Überzeugung, „daß man das Wirkliche und die Wirklichkeit im Griff habe“.¹⁵² Hier wird „ein Kampf nötig über die Entscheidung, welches Menschentum zur unbedingten Vollendung des Nihilismus fähig ist“.¹⁵³ Heidegger stellt allerdings klar heraus, dass die auszutragende Entscheidung über die Organisation der Gleichförmigkeit, die keinen gelungenen Anfang mehr zulässt, nicht die Bedingung für die abgeschlossene Autoreferentialität der Macht bildet. Vielmehr ist der Streit um die Umsetzung des unbedingten Nihilismus bereits eine Folge der mit der Hegemonie der Macht verschränkten Seinsverlassenheit, durch die das Seiende in die Gleichförmigkeit übergeben wird.¹⁵⁴ Dies leitet über zur Diskussion des Motivkomplexes des Übermenschen, der Seinsverlassenheit und des Verhältnisses von Instinkt und Ratio in demjenigen Menschentum, das den Nihilismus vollendet. Hinsichtlich des sich diesen Topoi widmenden, längsten Abschnittes Nr. XXVI ist in einer Fußnote¹⁵⁵ eigens vermerkt, dass dessen Ausarbeitung auf die Jahre 1939/1940 zu datieren ist. Der Abschnitt Nr. XXVI ist somit jener mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammenfallenden Phase zuzuordnen, in der sich Heidegger intensiv mit der Thematik des europäischen Nihilismus beschäftigt. Heidegger setzt die für den Aufsatz Überwindung der Metaphysik charakteristische Auflösung qualifizierter Unterschiede zugunsten eines einförmigen     

Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 89. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 95. Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90 (Anm.).

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Verdeckungsgeschehens auch in der Analyse der Seinsverlassenheit fort. Die Signatur der Seinsverlassenheit äußert sich darin, sich in opportunistischer Manier auf gegenwendige Begriffe und Verhaltensmuster zu berufen. Die Semantik der Begriffe wird in der Epoche der Seinsverlassenheit verflüssigt und für den jeweiligen Situationsbedarf instrumentalisiert. Dies bekundet sich für Heidegger in der Beobachtung, dass sowohl die intellektualistische Beschwörung des Geistes, der „Ideen“¹⁵⁶ und der „Werte“¹⁵⁷ als auch die dezisionistische Hochschätzung der Tat in die benötigte Vollzugsweise eingespannt werden können. Die Wechsel des Proklamationsgebietes sind in den „Mechanismus der Rüstung des Ordnungsvorganges“¹⁵⁸ verflochten. Dieser Ordnungszusammenhang entspringt keiner sich selbst zugesprochenen Souveränität, sondern antwortet auf die „Leere der Seinsverlassenheit“.¹⁵⁹ In der Seinsverlassenheit installiert sich eine sinnenleere „Kreisbewegung der Vernutzung“.¹⁶⁰ Das Seiende wird nur noch gebraucht, um es zu verbrauchen. Weil es jedoch gebraucht wird, um eine Steigerung der Leistungsfähigkeit zu erwirken, bedarf auch der Verbrauch eines festen Regelkodexes. Folglich muss in das Phänomen der „Rüstung im metaphysischen Sinne“¹⁶¹ eine Erhöhungsdynamik eingetragen werden. Diese ist dem von Seiten des Willens zum Willen verfolgten Ziel der Ziellosigkeit im Sinne der eigenen Wesenserhaltung vollkommen unterworfen. Das verbrauchte Seiende erfüllt also einen Nutzen, der allein der Stützung der Leere und der Seinsverlassenheit zugutekommt. Die unaufhörliche Verschlingung und Verabschiedung des Seienden in diese Form der Nützlichkeit impliziert und erfordert die ununterbrochene und simultan vollzogene Beschaffung und Einhegung eines neuen Gebrauchsfundus. Es ergibt sich eine kreisförmige, ad infinitum ablaufende Bewegung. Da sich keine nachvollziehbare und konstruktive Anwendungsweise und kein abrundend-sinnstiftendes Telos jenseits dieses Perpetuums mehr angeben lassen, spricht Heidegger plakativ von der „Vernutzung des Seienden“.¹⁶² Eng verknüpft mit dieser Vernutzung ist die „Macht der Macht“.¹⁶³ In dieser paradigmatischen Verdopplungsfigur versinnbildlicht sich die Wegrichtung des Seienden. Dieses ist von vornherein allein auf

       

Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 94. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

den „Verbrauch in die Vernutzung“¹⁶⁴ disponiert und drängt von sich aus auf die machtbestätigende Einkehr in diesen endlosen Zirkel. Trotz des Kreislaufs von Bestandsicherung, Gebrauch und Verbrauch ergibt sich – anders als im Falle des „immer wiederkehrenden Kreislaufs als Gesamtcharakter des Lebens“¹⁶⁵ – keine selbstgenügsame, in sich ruhende Bewegung. Dies hängt mit den prägenden Charakteristika des Willens zum Willen zusammen, der sich immer wieder als „‚Subjekt von allem“¹⁶⁶ erzeugen muss. Die „technische Herstellung der unbedingten Möglichkeit eines Herstellens von allem“¹⁶⁷ soll die vom Sein hinterlassene Leere innerhalb des Seienden ausfüllen. Dadurch wird die Asymmetrie einer unzulänglichen Substitutionshandlung auf Dauer gestellt. Es entsteht der Anschein, die permanente Auffüllung des Seienden könne den gänzlichen Entzug des Seins kompensieren. Das Ordnen des Seienden und die in sich ziellose Sicherung des Ordnenden erhalten demzufolge die Priorität, wobei sie auf die Herstellbarkeit und Handhabbarkeit von allem zurückgreifen. Die Technik – und darin besteht Heideggers entscheidende Pointe – ist nicht primär deswegen eine „Organisation des Mangels“¹⁶⁸, weil eine Ressourcenknappheit vorherrschte oder der Zugang zum Seienden beschränkt wäre. Stattdessen muss die Technik notwendigerweise innerhalb des „unendlichen Mangels an Sein“¹⁶⁹ agieren, insofern sie stets „auf die Leere des Seins wider ihr Wissen“¹⁷⁰ bezogen ist. Es ist nach Heidegger die Epoche der Seinsverlassenheit, aus der sich diese Abwesenheit des Sinnes herschreibt. Der zweite Grund für diese Entbehrungssituation wurzelt in der willenseigenen Konstitutionsbedingung des Hineinwachsens in die eigene Steigerungsambition. Der Willen zum Willen ist permanent mit der Erfahrung konfrontiert, es sei „überall immer […] alles zu wenig“.¹⁷¹ Die Prätention der lückenlosen Aneignung

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.  Löwith, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, S. 98.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 94.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 94.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 94.  Vgl. Schelling, SW X, S. 99. Vgl. dazu: Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik, München 1992.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 94.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 94: „Überall, wo an Seiendem zu wenig ist – und es ist wachsend überall immer für den sich steigernden Willen zum Willen alles zu wenig –, muß die Technik einspringen und Ersatz schaffen und die Rohstoffe verbrauchen. Aber in Wahrheit ist der ‚Ersatz‘ und die Massenherstellung der Ersatzdinge nicht ein vorübergehender Notbehelf, sondern die einzig mögliche Form, in der sich der Wille zum Willen, die ‚restlose‘ Sicherung der Ordnung des Ordnens, in Gang hält und so er selbst als das ‚Subjekt‘ von allem sein kann.“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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des Seienden läuft vor dem Willen her. Im Falle ihrer Umsetzung wird sie unverzüglich und immer wieder von der aufkeimenden Aussicht auf die Steigerung überwunden. In diesem Horizont ist der Wille gezwungen, aus sich selbst das Seiende freizugeben, um sich von diesem zu nähren. Er muss jenen Mangel erneut konstruieren, dessen Tilgung ihn vorantrieb. Hier sticht die große Nähe des Willens zum Willen zu Schopenhauers markanter Willensbeschreibung hervor. Schopenhauer entfaltet die Tragik des Willens im §38 seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung in beeindruckender Anschaulichkeit: Alles Wollen entspringt aus Bedürfniß, also aus Mangel, also aus Leiden. Diesem macht die Erfüllung ein Ende; jedoch gegen einen Wunsch, der erfüllt wird, bleiben wenigstens zehn versagt; ferner, das Begehren dauert lange, die Forderungen gehn ins Unendliche; die Erfüllung ist kurz und kärglich bemessen. Sogar aber ist die endliche Befriedigung selbst nur scheinbar: der erfüllte Wunsch macht gleich einem neuen Platz: jener ist erkannter, dieser ein noch unerkannter Irrthum. […] Ob wir jagen, oder fliehn, Unheil fürchten, oder nach Genuß streben, ist im Wesentlichen einerlei: die Sorge für den stets fordernden Willen, gleichviel in welcher Gestalt, erfüllt und bewegt fortdauernd das Bewußtseyn; ohne Ruhe aber ist durchaus kein wahres Wohlseyn möglich. So liegt das Subjekt des Wollens beständig auf dem drehenden Rade des Ixion, schöpft immer im Siebe der Danaiden, ist der ewig schmachtende Tantalus.¹⁷²

In diesem tantalisch-unstillbaren Vorwärtsstreben befangen, instruiert der Wille zum Willen die Technik, die Aneignung der benötigten Ressourcen zu leisten. Flankiert wird er dabei durch das „Leistungsprinzip“.¹⁷³ Dieses soll innerhalb der kompletten Ausrichtung aller Vorgänge auf die Vernutzung und auf die ordnungsmäßige Einspannung die Suggestion von Gradstufen und Auszeichnungsmöglichkeiten schaffen. Das Leistungsprinzip kann sich allein nach der Maßgabe der Beförderung der willensverfügten Ziellosigkeit strukturieren. Indem es dergestalt jedes qualitative Beurteilungskriterium aufhebt, wird jegliche Form von tatsächlicher Rangdifferenzierung vorgreifend unterbunden. Die Tragweite dieses Geschehens geht Heidegger zufolge über eine bloße „Nivellierung“¹⁷⁴ – verstan Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürcher Ausgabe, Bd. 1/1, §38, S. 252.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 95 – 96: „Das Seiende, das allein im Willen zum Willen zugelassen ist, breitet sich in eine Unterschiedslosigkeit aus, die nur noch gemeistert wird durch ein Vorgehen und Einrichten, das unter dem ‚Leistungsprinzip‘ steht. Dieses scheint eine Rangordnung zur Folge zu haben; in Wahrheit hat es die Ranglosigkeit zum Bestimmungsgrund, da das Ziel der Leistung überall nur die gleichmäßige Leere der Vernutzung jeder Arbeit in die Sicherung des Ordnens ist. Die aus diesem Prinzip grell hervorbrechende Unterschiedslosigkeit deckt sich keineswegs mit der bloßen Nivellierung, die nur Abbau bisheriger Rangstufen bleibt. Die Unterschiedslosigkeit der totalen Vernutzung entspringt einem ‚positiven‘ Nichtzulassen einer Rangstufung gemäß der Vormacht der Leere aller Zielsetzungen.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 95 – 96.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

den als Angleichung aller Ausnahmefälle auf einen arithmetischen Durchschnitt – weit hinaus. Die Fokussierung auf die Berechenbarkeit,Verwendbarkeit und auf die Einfügung in eine Überschaubarkeit des Unterschiedslosen ist gleichbedeutend mit einer wesentlichen Veränderung des Weltbegriffs. Die dem Willen zum Willen korrespondierende Welt ist zur „Unwelt“¹⁷⁵ herabgesunken. Aus der seinsgeschichtlichen Perspektive kennzeichnet Heidegger die in die Irrnis einer Verkehrung des Anfänglichen umgewandelte Erde als „Irrstern“.¹⁷⁶ An dieser Stelle verweist Heidegger auf Sein und Zeit. ¹⁷⁷ Trotzdem legt er – vermutlich aufgrund der Daseinszentrierung – nicht den auf ontischer Seite favorisierten dritten¹⁷⁸ oder den ontologischen vierten Weltbegriff ¹⁷⁹ als Kontrastfolie zugrunde. Heidegger führt stattdessen das seinsgeschichtliche Weltverständnis in die Diskussion ein. Im Aufsatz Überwindung der Metaphysik fasst er die Welt positiv als „ungegenständliche Wesung der Wahrheit des Seyns für den Menschen“.¹⁸⁰ Die Allheit des Seienden geht nicht mehr aus und in dem Bezug zwischen dem Menschenwesen und der Wahrheit des Seins auf. Das Sein wird in der letzten Zeit des Willens allein aus der menschlichen Subjektivität erschlossen. Obgleich das vergessene Sein zwar noch „west“¹⁸¹– andernfalls wäre nicht einmal mehr das Ungeschickliche, keine Welt und kein Menschsein – verzeichnet es kein „eigenes Walten“¹⁸² mehr. Die Monokultur des Wirklichen und dessen Aufgliederung in Verursachendes und Bewirkendes verhindert ein „Welten der Welt“¹⁸³ und sperrt sich gegen ein Aufleuchten der Weltbedeutsamkeit. Darüber hinaus ist die von Heidegger im umfangreichsten Stück Nr. XXVI profilierte Verhältnisstiftung zwischen der Seinsverlassenheit und der Subjektivität bemerkenswert. Die Technik bildet als eine Weise der nachstellenden Entbergung das einzige Mittel, durch das sich der Mensch der in der Subjektivität

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91; S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §14, S. 65: „3. Welt kann wiederum in einem ontischen Sinne verstanden werden, jetzt aber nicht als das Seiende, das das Dasein wesenhaft nicht ist und das innerweltlich begegnen kann, sondern als das ‚worin‘ ein faktisches Dasein als dieses ‚lebt‘. Welt hat hier eine vorontologisch existenzielle Bedeutung.“  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §14, S. 65: „4. Welt bezeichnet schließlich den ontologischexistenzialen Begriff der Weltlichkeit.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 91: „Das Seiende ist wirklich als das Wirkliche. Überall ist Wirkung und nirgends ein Welten der Welt und gleichwohl noch, obzwar vergessen, das Sein.“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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determinierten Herrschaft des Vor-stellens weiterhin versichern kann. Nur so kann der „auf sich selbst erpichte Mensch“¹⁸⁴ die „Subjektivität in das Übermenschentum retten“.¹⁸⁵ Um diese Äußerung begreifen zu können, erscheint es sinnvoll, Heideggers kontextuelle Semantik des Begriffes des Übermenschen zu beachten. Im Übermenschen werden das „Unten der Tierheit“¹⁸⁶ und das „Über der ratio“¹⁸⁷ zu ihrem jeweiligen Maximum gesteigert und bis „zur Entsprechung“¹⁸⁸ verflochten. Heidegger verschiebt in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik die in der menschlichen Wesensbestimmung als animal rationale ausgedrückte, traditionelle Unterordnung des Instinkts unter den Verstand. Auf den ersten Blick erscheint Heideggers Neugewichtung wie eine Beipflichtung zu Nietzsches Umkehrung dieser Relation. In Wirklichkeit geht Heideggers Konzeption mit einer radikalen Veränderung des Instinktbegriffes einher. Dieser soll einerseits die dem Verstand vorbehaltene Rolle der Weitsicht und der Planung erfüllen. Andererseits behält Heidegger jene Merkmale der intuitiv-vorrationalen Untrüglichkeit und der reibungslosen Wiederholbarkeit des Handelns innerhalb eines umgrenzten Lebenshorizontes bei, die üblicherweise mit dem tierischen Instinkt assoziiert sind: Die Zuordnung aller möglichen Strebungen auf das Ganze der Planung und Sicherung heißt ‚Instinkt‘. Das Wort bezeichnet hier den über den beschränkten Verstand, der nur aus dem Nächsten rechnet, hinausgehenden ‚Intellekt‘, dessen ‚Intellektualismus‘ nichts entgeht, was als ‚Faktor‘ in die Rechnung der Verrechnungen der einzelnen ‚Sektoren‘ eingehen muß. Der Instinkt ist die dem Übermenschentum entsprechende Übersteigerung des Intellekts in die unbedingte Verrechnung von allem. Da diese schlechthin den Willen beherrscht, scheint neben dem Willen nichts mehr zu sein als die Sicherheit des bloßen Triebes zur Rechnung, für den die Berechnung von allem erste Regel des Rechnens ist. Der ‚Instinkt‘ galt bislang als eine Auszeichnung des Tieres, das in seinem Lebensbezirk das ihm Nützliche und Schädliche ausmacht und verfolgt und darüber hinaus nichts anstrebt. Die Sicherheit des tierischen Instinkts entspricht der blinden Einspannung in den Nutzungsbezirk. […] Der Trieb der Tierheit und die ratio der Menschheit werden identisch.¹⁸⁹

Das Untere wird demnach zum Oberen, indem es sich selbst als die Perfektion und Vollendung des bislang das Obere vindizierenden Elements – des Verstandes – entfaltet. Der Instinkt umfasste bislang die mit dem Tier geteilte und somit aus dem Blickwinkel der ratio ‚unter‘ dem Menschen situierte Triebhaftigkeit. In sei-

     

Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 90. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 92– 93.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

ner vollständigen Befreiung transzendiert der Instinkt die abwägend-langsame und nicht alle Folgen überschauende Apprehension des Verstandes. Dies geschieht zugunsten des infalliblen und beschleunigten Zugreifens des mit der Begierde angereicherten Intellektes. Aus der Perspektive der dem Menschen zugehörigen Tierheit ist der Intellekt als ‚über‘ dem Menschen stehende Entität zu beurteilen. Heideggers Ansicht, dass sich die Subjektivität nur noch über die Technik in das „Übermenschentum“ retten kann, lässt sich daher wie folgt entschlüsseln. In der sich vergewissernden Kontrolle des Gegenständigen verdrängt die Technik die Not der Seinsverlassenheit, die hinter dem Schleier der sich selbst begründenden Subjektivität lauert und diese irritieren könnte. Die Technik bietet sich auf diese Weise als das einzige Medium dar, das die Erhaltung und Bekräftigung der Subjektivität stiften kann. Es ist die Technik, welche die nicht mehr erfahrbare Entbergung des Seins im heraus-fordernden Hervorbringen unbewusst imitiert. Die Technik kann die Herrschaft der Subjektivität jedoch nur prolongieren, wenn die Subjektivität ihrerseits beginnt, dem Wesen der Technik zu entsprechen. Dadurch ergibt sich eine wechselseitige Bedingtheit. Die Subjektivität des sich auf sich selbst gründenden und das Seiende vor-stellenden Menschen benötigt die Technik, um der Erscheinung des Seins als des sich zu sich auffordernden Willens zum Willen genügen zu können. Dies impliziert einen Aufstieg in die dem Willen zum Willen unterworfene Gestalt des Menschen. Im Gegenzug fordert die Komplexität der Technik den Übermenschen und befeuert somit ebenfalls die Fortentwicklung der Subjektivität in ihre Vollendung. Die Technik bedarf und bedient sich der Rechnung in einem dreifachen Sinne. Sie macht Gebrauch von dem antizipierenden „Rechnen mit etwas“ (1), dem kalkulierenden „Berechnen“ (2) und der vor- und hyperrationalen Instinktdimension (3) einer „Sicherheit des bloßen Triebes zur Rechnung“.¹⁹⁰ Wie oben gezeigt wurde, kann die anhaltende Eingliederung alles Strebens in eine zentralisierte Planung nicht vom Verstand vollbracht werden. Sogar das vor-stellende und reflektierende Selbstbewusstsein ist dieser seinsgeschichtlichen Herausforderung nicht mehr gewachsen. Deswegen muss der bislang als unwesentlichsubprioritär und dem Menschen nur als Unterlage zugeordnete Pol der Tierheit in der Form einer „Übersteigerung des Intellekts“¹⁹¹ freigegeben werden. Mit diesem Schritt entfaltet sich der vollkommene Begriff des Übermenschen, in dem der unwiderlegliche Trieb instinktiver Sicherheit zur Ratio geworden ist.

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 93.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 93.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

747

3.1.4 Die Figur des verborgenen Hirten als Korrektiv und als (utopischer) Gegenentwurf In den letzten beiden Abschnitten – in den Stücken Nr. XVVII und XXVIII – skizziert Heidegger mit der auch aus dem Humanismus-Brief ¹⁹² bekannten Figur des Hirten einen Gegenentwurf. Er zeichnet ein Ethos vor, das Heidegger als Ausweg aus der geschilderten Negativität der Seinsverlassenheit privilegiert: Die Hirten wohnen unsichtbar und außerhalb des Ödlands der verwüsteten Erde, die nur noch der Sicherung der Herrschaft des Menschen nützen soll, dessen Wirken sich darauf beschränkt, abzuschätzen, ob etwas wichtig oder unwichtig sei für das Leben, welches Leben als der Wille zum Willen im voraus fordert, daß alles Wissen in dieser Art des sichernden Rechnens und Wertens sich bewege.¹⁹³

Die verborgenen Hirten gewähren den Dingen den Aufenthalt in einer unzerstört gebliebenen Erde. Sie akzeptieren die zugemessene Weile der Lebewesen und Dinge. Die Hirten lassen dem Seienden das Mögliche, indem sie dieses nicht in fremdinternalisierte Bewertungsraster einfügen. Sie sehen davon ab, das den Dingen zukommende Aufgehen und Vergehen eigens zu beeinflussen oder sie nach Maßgabe der technischen Lebensdienlichkeit zu beurteilen. Damit entgrenzen sie zugleich die Enge der eigenen Perspektive, insofern diese allein der Vollstreckung des Willens zum Willen botmäßig war. Die von den Hirten ausgelöste Befreiung der Dinge aus der Vernutzung korrespondiert der Selbstbefreiung aus der Vereinnahmung durch den Instinkt des Übermenschentums. Die Hirten befolgen dabei das „unscheinbare Gesetz der Erde“¹⁹⁴, in dem kein Ding die ihm vorgezeichneten Grenzen überschreitet: Die Birke überschreitet nie ihr Mögliches. Das Bienenvolk wohnt in seinem Möglichen. Erst der Wille, der sich allwendig in der Technik einrichtet, zerrt die Erde in die Abmüdung und Vernutzung und Veränderung des Künstlichen. Sie zwingt die Erde über den gewachsenen Bereich ihres Möglichen hinaus in solches, was nicht mehr das Mögliche und daher das Unmögliche ist. Daß den technischen Vorhaben und Maßnahmen vieles gelingt an Erfindungen und sich jagenden Neuerungen, ergibt keineswegs den Beweis, daß Errungenschaften der Technik sogar das Unmögliche möglich machen.¹⁹⁵

 Vgl. Heidegger, Brief über den Humanismus, in: Heidegger, Wegmarken, Frankfurt a.M. 2013, S. 342: „Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins. Er gewinnt die wesenhafte Armut des Hirten, dessen Würde darin besteht, vom Sein selbst in die Wahrnis seiner Wahrheit gerufen zu sein.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Anhand dieser Passage wird deutlich, dass die Hirten auf der Grundlage einer Konfrontation des Möglichen und des Unmöglichen von dem Willen zum Willen geschieden werden. Das Mögliche der Erde ist die Physis. Die Physis bezeichnet das Offene, in das die Dinge von sich her aufzugehen vermögen und in welchem sie sich in ihrer jeweiligen Vollendung halten. Das Unmögliche besitzt offenkundig zwei Bedeutungen: Zum einen wird durch die „sich jagenden Neuerungen“¹⁹⁶ die Weise des Aufgehens in den Bereich des von Seiten des Willens zuvor Umgrenzten und Schematisierten verändert. Die Errungenschaften können nur fortgesetzt und überschritten werden, wenn sich die Natur als Gegenständigkeit und als Bearbeitungsfläche für die Technik zeigt. Damit wird das Mögliche der Erde von vornherein unter dem verkehrenden Blickwinkel des Unmöglichen – im Sinne der technischen Eingriffsabsolution in das Mögliche – betrachtet. Zum anderen bleibt auch die Technik auf den durch die Erde eröffneten Kreis des Möglichen angewiesen. Die Technik nimmt das Gewachsene der Erde auf und schreibt es in ihre eigene Behandlungsart ein. Dadurch negiert die Technik das ursprünglich Mögliche. Dass die Raffinesse und der technische Pionier- und Erfindergeist das „Unmögliche nicht möglich“¹⁹⁷ machen können, bestätigt die Unhintergehbarkeit des erfüllten Möglichseins der Erde. Dieses ist durch keine Artefakte und durch keine Maschinen zu imitieren oder gar zu ersetzen. Mit der Nutzung der Erde konvergiert die Hineinverlagerung des erdachten und angestrebten Unmöglichen in die Freiheit des nicht kausal zu durchdringenden Möglichkeitsrahmens. Nichtsdestotrotz kann der Wille bei all seiner Lenkungsgewalt niemals an die Stelle der durch die Subjektivität aufgerüttelten und herausgeforderten Genügsamkeit der Erde treten.¹⁹⁸ Es ist in diesem Kontext wichtig zu sehen, dass Heidegger das Mögliche der Erde von der Natur abgrenzt. Die ‚Natur‘ wird hier von Seiten Heideggers freilich im Sinne des Naturbegriffs der modernen Naturwissenschaft

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  In dem Aufsatz Wissenschaft und Besinnung (1953) ist es das Motiv des Unumgänglichen, das sich innerhalb des wissenschaftlich-technischen Zugriffes auf die Natur immer wieder entzieht. Deswegen zeigt es sich niemals in seinem ganzen Reichtum. Vgl. Heidegger, Wissenschaft und Besinnung, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 58 – 59: „Natur, Mensch, Geschichte, Sprache bleiben für die genannten Wissenschaften das innerhalb ihrer Gegenständigkeit schon waltende Unumgängliche, worauf sie angewiesen sind, was sie jedoch in seiner Wesensfülle durch ihr Vorstellen nie umstellen können. Dieses Unvermögen der Wissenschaften gründet nicht darin, daß ihr nachstellendes Sicherstellen nie zu Ende kommt, sondern darin, daß im Prinzip die Gegenständigkeit, in die sich jeweils Natur, Mensch, Geschichte, Sprache herausstellen, selbst nur immer eine Art des Anwesens bleibt, in der das genannte Anwesende zwar erscheinen kann, aber niemals unbedingt erscheinen muß.“

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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verstanden. Gleichwohl ist es die vorbewusste Produktivität der Natur als objektives Subjekt-Objekt, die Schelling gegenüber dem Absolutheitsanspruch des transzendentalen Ichs Fichtes reklamierte. Im Zeitalter des Willens zum Willen kann die Natur nicht mehr als möglicher Kontrapart des in seinem Wissenserwerb von einem nicht durchschauten Instinkt geleiteten Geistes gewürdigt werden. In der letzten Periode der Seinsgeschichte werden Natur und Geist – vermittelt über das Selbstbewusstsein und dessen „unbedingte Herrschaft“¹⁹⁹ – in einer identitätsphilosophischen Selbigkeit zusammengehalten. Die Angleichung beider Elemente wird – anders als bei Schelling – nicht durch einen Einstieg in den Indifferenzpunkt gewonnen. Auch die von Schelling aufgedeckte Genese der höchsten Potenz des subjektiven Ichs in einer transzendentalen Erinnerungsgeschichte kann für Heidegger keine Vermittlungsoption beanspruchen. Vielmehr verdankt sich die Identität beider Pole nach Heidegger dem Sachverhalt, dass Natur und Geist zu „Gegenständen des Selbstbewußtseins“²⁰⁰ geworden sind. Das Selbstbewusstsein ist zum operativen Träger der willensdurchzogenen und mit der Negativität des Vor-stellens²⁰¹ verflochtenen Subjektivität aufgestiegen. In seinem „tragenden Bezug zum Seienden“²⁰² – also, wie angesichts der Stücke XV und XVI zu konstatieren ist, in der Reflexion – besiegelt das Selbstbewusstsein jene Mechanik der zur Wesenserhaltung des Willens geforderten „Gleichförmigkeit, aus der es metaphysisch kein Entrinnen gibt“.²⁰³ Das Selbstbewusstsein konstituiert sich wiederum im Lichte der Ichheit. Die Ichheit dient seit dem Beginn der Ausfaltung des Willenswesens der voluntativen Sicherung und reüssiert als Statthalterin des Willens zum Willen. Schließlich ist es das „Wesen der Technik“²⁰⁴, welches das Selbstbewusstsein in die Vergegenständlichung von Natur und Geist verlängert. Die Technik setzt die Natur und den Geist im Austragungsort des Selbstbewusstseins in eine „vollendete Identifizierung“.²⁰⁵ Seit Descartes und Kant stand die Umrandung des Dualismus von Natur und Geist im Mittelpunkt philosophischer Programmatik und Theoriebildung. In der Vollendung der Metaphysik wird der Punkt erreicht, an dem die Opposition

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Vgl. zu der Verbindung von Vorstellung, Sich-Unterscheiden und Negativität die Kapitel 2.2.6 sowie 2.2.7 dieser Arbeit. Vgl. auch Heidegger, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, GA 49, S. 182 ff.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 83.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

zwischen dem Geist und der Natur innerhalb des willensgestaltigen Selbstbewusstseins in jeder ihrer Nuancen und möglichen Konstellationen ausgeglichen ist. Die in die Selbigkeit aufgelöste Differenz kann daraufhin für den steigerungsaffinen Zugriff des Unmöglichen freigegeben werden. Nach der gemeinsamen Eingliederung der freien Selbstexplikativität des Geistes und des Organismus der Natur in den seit dem Beginn der Neuzeit waltenden Willen glaubt sich der Mensch seiner vollständigen Souveränität bewusst zu sein. An dieser Gelenkstelle keimt die abgründige Frage auf, ob es überhaupt noch eine sinnstiftende, befreiende und unverfügbare Instanz geben kann, die dem gänzlich auf sich zurückgeworfenen Subjekt zu antworten vermag.²⁰⁶ Heidegger vertritt in diesem Zusammenhang eine Auffassung, die eine frappierende Nähe zu dem von Friedrich Heinrich Jacobi gegenüber Fichte vorgebrachten Nihilismus-Vorwurf aufweist: Die unbedingte Gleichförmigkeit aller Menschentümer der Erde unter der Herrschaft des Willens zum Willen macht die Sinnlosigkeit des absolut gesetzten menschlichen Handelns deutlich.²⁰⁷

Jacobi wandte gegen Fichte ein, dass der Mensch entweder Gott als eine dem Verstand unbegreifliche Macht anzuerkennen habe oder sich – im Falle eines Beharrens auf der rationalen Begreifbarkeit des Seienden im Ganzen – notwendigerweise zu einer Verabsolutierung seiner selbst erhöbe. Diese Selbstaufrichtung müsste den Menschen nach Jacobi von dem Grund und All des Seienden dissoziieren, sodass sich das Subjekt letztlich auf das Nichts gründete.²⁰⁸ In ähnlicher Weise wie Jacobi entwickelt Heidegger seine kritische Analytik des Willens aus dem Motiv der mit dem Auslassen des Seins einhergehenden Selbstgerechtigkeit des menschlichen Handelns. Dessen Absolutsetzung kann nur auf dem Wendepunkt der Seinsgeschichte erfolgen, wenn sich das Sein als Wille in das unbedingte Sich-Wollen des menschlichen Subjekts losgelassen hat. Der Aufstieg des Menschen in die planetarische Herrschaft – hierin trifft sich Heidegger mit Adorno – wird mit der Herabstufung des Seienden in die abstra-

 Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97: „Die Verwüstung der Erde beginnt als gewollter, aber in seinem Wesen nicht gewußter und auch nicht wißbarer Prozeß zu der Zeit, da das Wesen der Wahrheit sich als Gewißheit umgrenzt, in der zuerst das menschliche Vorstellen und Herstellen seiner selbst sicher wird. Hegel begreift diesen Augenblick der Geschichte der Metaphysik als denjenigen, in dem das absolute Selbstbewußtsein zum Prinzip des Denkens wird.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.  Vgl. zu Jacobis Nihilismus-Vorwurf gegen Fichtes Wissenschaftslehre: Hans-Jürgen Gawoll, Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis Heidegger, S. 83 – 94.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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hierende Vergleichbarkeit und Austauschbarkeit erkauft. Diese wird zur Ausübungsform eines Regiments, das nur noch den Zweck seiner Perpetuierung kennt. In der unausweichlichen Unterbindung jeder Alterität, die den Willen nicht nähren könnte, untermauert es seine eigene Nichtigkeit. In diesem Zuge müssen – wie Heidegger es ausführlich in dem Text Die seingeschichtliche Bestimmung des Nihilismus zeigt – all jene Entitäten als nichtig diskreditiert werden, die die Leere und Sinnverdeckung des vorstellungsbestimmten Weltverhältnisses zum Vorschein bringen könnten. Dieser Konter äußert sich in der Einverleibung oder Unterwerfung jener Antipoden, die den Vollbringer dieser Annihilierung (d. h. den Willen) ihrerseits negieren könnten. Diese Repressionstaktik des Willens kann in drei grundlegende Variationen ausgefächert werden. Erstens kann der Ausschluss des Seins (beziehungsweise Gottes bei Jacobi) im Sinne eines unter einer positivistischen Signatur behaupteten Nichtvorhandenseins erfolgen. Zweitens kann das Sein – wie es in Nietzsches Herabwürdigung des Seins zum „letzten Rauch der verdunstenden Realität“²⁰⁹ geschieht – als schlichtweg irrelevant und überwunden abgetan werden. Die dritte Variante besteht darin, dass das Vergessen des Seins potenziert vergessen wird. In der pejorativ als „Zeitalter der vollendeten Sinnlosigkeit“²¹⁰ gekennzeichneten Moderne dienen alle Insignien des Fortschritts, der Innovationen und Aufbrüche nach Heidegger nur dazu, die sich aus der nunmehr gebrochenen Lichtung des Seins herschreibende Vielfalt, Verhaltenheit und Ruhe sowie die Erwartung des Göttlichen zu restringieren. Diese Zurückstufung ereignet sich zugunsten der sich immer wieder ihrer selbst vergewissernden Autarkie des Menschen. Die Verdrängung des vom Sein verliehenen Sinns wird zum unbewussten Ziel der qua menschlichem Besitzanspruch aufrechtzuerhaltenden Sinnlosigkeit. Aus der Perspektive der Erhaltung dieser dem wirklichkeitsprägenden Willen gänzlich sinnvoll und nutzbringend erscheinenden Sinnlosigkeit muss hingegen jede Besinnung auf den verschwundenen Sinn des Seins ihrerseits sinnlos und passiv-weltfremd erscheinen. Es ist schlichtweg kein Übergang oder eine Versöhnung zwischen den beiden Sichtbahnen möglich, weil die eine die Inversion der je anderen bildet. Insgesamt knüpft Heidegger mit der Verbindungsexplikation zwischen dem absolut gesetzten Handeln und der in diesem immer wieder bestätigten und errichteten Herrschaft des Nichts an die bereits im II. Stück von Überwindung der Metaphysik favorisierte These an, dass der Wille zum Willen nichts anderes wollen

 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 76.  Heidegger, N II, S. 13.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

könne als das „nichtige Nichts“.²¹¹ Wie verdeutlicht werden konnte, muss er dieses als Gegenteil seiner vermeintlichen Fülle entlarven. Durch diese Strategie kann sich der Wille über die seiner Tätigkeit inhärierende Nichtigkeit täuschen. Er entzieht sich die Nichtigkeit selbst jeder möglichen Erfahrbarkeit. Der Wille zum Willen verdrängt das Nichts der Seinsverlassenheit mitsamt der eigenen Grundlosigkeit durch die permanente Setzung kurzfristig wirksamer, in sich nichtigsubstanzloser Wertsubstitutionen. Gerade in diesen intentionalen Akten bleibt er dem Nichts unausweichlich verhaftet. Anhand des oben angeführten Zitats zeigt sich erneut die eschatologische Kernausrichtung des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik. In der Vernutzung des Seienden schließt der Wille das wesenseigene Nichts aus. Aufgrund seiner allumfassenden Natur ist der Wille gezwungen, diesem in sich selbst einen Platz als nicht wahrnehmbares, subkutanes Nichts zuzuweisen. Diese im Abgrund wurzelnde und den Willen beunruhigende Nichtigkeit bewahrheitet sich nicht als das dem Entzug des Seins zugehörige Nichts. Stattdessen versinnbildlicht es dessen Eingang in die seinsgeschichtliche Wesensverkehrung, sodass es mit dem Nichts der Seinsverlassenheit konvergiert. Demzufolge ließe sich der Bogen zu der im Stück Nr. XX dargebotenen Ansicht zurückschlagen, dass der Ausgriff auf die ganzheitliche Sicherung des Seienden erst die „allseitige Unsicherheit zum Vorschein“²¹² bringe. Heidegger knüpft daran das Versprechen, dass sich – gemäß dem Hölderlin-Wort „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“²¹³ – aus der vom Willen evozierten Eindimensionalität die not-wendende Einsicht in ihre Fragilität und Wahrheitslosigkeit herausschälen könnte. Heidegger bleibt auch im abschließenden Stück Nr. XXVIII von Überwindung der Metaphysik seiner Grundauffassung treu. Demgemäß ist jede Form von Widersetzung und aktiver Distanznahme je schon innerhalb des – dem Willen zum Willen zugeordneten und dienstbaren – Widerwillens ausbalanciert. Gegenüber Schopenhauer buchstabiert Heidegger den entscheidenden Schritt zur lückenlo-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 70.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 87.  Vgl. zu Heideggers Auslegung dieser Verse aus Hölderlins Gedicht Patmos: Heidegger, Die Frage nach der Technik, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 29: „Wenn das Wesen der Technik, das Ge-stell, die äußerste Gefahr ist und wenn zugleich Hölderlins Wort Wahres sagt, dann kann sich die Herrschaft des Ge-stells nicht darin erschöpfen, alles Leuchten der Entbergung, alles Scheinen der Wahrheit nur zu verstellen. Dann muß vielmehr gerade das Wesen der Technik das Wachstum des Rettenden in sich bergen. Könnte dann aber nicht ein zureichender Blick in das, was das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ist, das Rettende in seinem Aufgehen zum Scheinen bringen?“ Vgl. zur Verbindung zwischen dem Ge-stell und dem Rettenden: Florian Grosser, „Die Frage nach der Technik.“ Vom Wachstum des Rettenden in der Gefahr, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2013, S. 236 – 238.

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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sen und endgültigen Stabilisierung des Willens aus. Heidegger schließt im Gegensatz zu Schopenhauer kategorisch aus, dass aus der Unerträglichkeit des durch den Willen generierten Leidens eine bestürzte Selbsterkenntnis entspringen könnte. Ebenso wenig möchte Heidegger das Leiden und den Schmerz als Impetus für die Selbstverneinung des Willens im Sinne einer degoutierten Abkehr von sich selbst fassen: Keine bloße Aktion wird den Weltzustand ändern, weil das Sein als Wirksamkeit und Wirken alles Seiende gegenüber dem Ereignis verschließt. Sogar das ungeheure Leid, das über die Erde geht, vermag unmittelbar keinen Wandel zu erwecken, weil es nur als ein Leiden, dieses passiv und somit als Gegenzustand zur Aktion und daher mit dieser zusammen in dem selben Wesensbereich des Willens zum Willen erfahren wird.²¹⁴

Heidegger ruft hier die vertraute Argumentationsfigur auf, wonach sich das abstandnehmende oder abkehrende Element in dem gewählten Gegner verfängt und diejenige Macht bestärkt, gegen die es opponiert. Diesen Gedanken wendet Heidegger im obigen Zitat nicht nur auf die Passivität des duldenden Geltenlassens an, die der dranghaften Aktivität des Willens diametral entgegengesetzt ist. Die irreversible Verankerung im Wesensbereich betrifft auch die unfreiwillige Selbstdistanzierung des Willens zum Willen. Dieser löst in den Machtkämpfen, in der rücksichtslosen Expansion und in der Verdinglichung des Menschen ein unvergleichliches Leiden aus. In diesen Vorgängen stößt er sich von sich selbst als allseitigem Subjekt und Agens ab, um sich dergestalt in seinen eigenen, ihn befeuernden Widerwillen hineinzunehmen. Der Wille zum Willen verwandelt die vermeintlich außerhalb seiner selbst situierten Leidzustände der Verzweiflung, der Sorge und der Furcht Einzelner in eine zentripetal rückstrahlende Dienstbezeugung. Er ist imstande, die konsternierenden Erfahrungen des Sinnwidrigen als bloßen „Gegenzustand zur Aktion“²¹⁵ zu betrachten und darauf mit neuen Zielsetzungen zu reagieren. Dergestalt manövriert sich Heideggers Gedankengang spätestens mit dem letzten Stück Nr. XXVIII in eine Aporie: Die Passivität kann nicht im Sinne einer Verweigerung gegen die unaufhörliche Willensprägung des Seienden intoniert werden. Genauso wenig können irgendein menschlicher Beschluss oder eine gesellschaftlich akzeptierte Haltung verabredeter Zügelung einen mindernden Einfluss auf das als Wille freigegebene Sein ausüben. Eine kathartische Einsicht in die Sinnlosigkeit und die Furchtbarkeit des Leidens wird vom Willen nicht gewährt. Außer einem resignativen Fatalismus, der alle möglicherweise einzu-

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

klagenden Unterschiede und Residuen zu einer vom Willen zum Willen verhängten Täuschung erklärt, scheint kein konstruktives Verhältnis der Linderungsabsicht zu dem sich in der Technik einrichtenden Willen mehr möglich. Die Resignation muss schließlich noch der Beschleunigung der diagnostizierten Verwüstung das Wort reden und deren Unumgänglichkeit trotz aller Aversion heraufbeschwören. Der aporetische Charakter dieser Argumentation wirft seinen Schatten auch auf die Hirten. Nach Heidegger kann sich der Mensch im Zeitalter des Willens zum Willen einzig unter der Bedingung in der Wirklichkeit halten, dass er sich deren einförmiger Verfassung der Selbstsicherung anpasst.Vor diesem Hintergrund wird es fraglich, wie die Hirten „unsichtbar und außerhalb des Ödlands“²¹⁶ das „Geheimnis des Seins zu hüten“²¹⁷ vermögen. Wie können sie eine Sensibilität gegenüber dem als permanent und ubiquitär präsentierten Geschehen aufbringen, das allein aus seiner eigenen Kraft heraus die geschlagene Wunde heilen könnte? Einerseits ist Heidegger zugutezuhalten, dass er mit den Chiffren der Hirten und des Geheimnisses des Seins einen Maßstab und eine Vision des Utopischen benennt. Diese Modi der Ausnahme und Orte der Unverfügbarkeit gliedern sich nicht in die kausalen Erklärungsansätze der modernen Wissenschaften ein. Die Hirten entziehen sich einer Transparenz des Willens, die alles Seiende in den nivellierten Bereich des Verwertbaren und Benutzbaren zwingt. Andererseits erscheint eine verdachtsgetragene Lesart möglich, welche die von Heidegger detailreich geschilderte Omnipotenz des Willens zum Willen ernst nimmt. In diesem Sinne müsste die insulare Existenzstipulation der in dem „unscheinbaren Gesetz des Möglichen“²¹⁸ geborgenen Hirten eine letzte Illusion und einen Verzweiflungsakt ausgestalten, der gerade aufgrund des Verzichts auf eine statthafte rationale Begründbarkeit vor dem Willen kapituliert. Heidegger beansprucht eine Beobachtungsgabe und Haruspektion für sich, die entweder aufgrund der von ihr beschriebenen, iterierenden Gleichförmigkeit des Geschehens den redlichen Schluss ziehen müsste, von keiner anbrechenden Zäsur mehr künden zu dürfen oder aber selbst schon vom sich global entfaltenden Willen korrumpiert wäre.Von diesem „überspielt“²¹⁹, wäre sie als Exempel für das gegen sich gewendete Misstrauen des Willens in diesen eingefügt.

 Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 96.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 88: „Die Frage ist überall, ob der Einzelne und Verbände aus diesem Willen sind oder ob sie noch mit diesem Willen und gar gegen ihn verhandeln und markten, ohne zu wissen, daß sie schon von ihm überspielt sind. Die Einzigkeit

3.1 Der Wille zum Willen als Grund und Telos der neuzeitlichen Metaphysik

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Neben dem Verhältnis zwischen der von dem Willen zum Willen verantworteten Aktion und der aus dieser entspringenden Widerfahrnis des Leidens bezeichnet die Relation zwischen dem Sein und dem Ereignis den zweiten wichtigen Aspekt der obigen Textstelle. Das als „Wirksamkeit und Wirken“²²⁰ erscheinende Sein avanciert zum Katechon des Ereignisses. Das sich als Wille zum Willen in die jeweilige voluntative Stufe der neuzeitlichen Seiendheit entlassende Sein verzögert und verhindert das Ereignis, welches den unbedacht gebliebenen, anfänglichen Aufgang des Seins repliziert. Es wird deutlich, weswegen die von Heidegger bereits zu Beginn des Aufsatzes in Aussicht gestellte Verwindung des Seins mit der Überwindung der durch die Manifestation des Seins als Seiendheit gewährten Metaphysik konvergiert. Nach Heidegger ist es gewiss, dass die Selbstaufhebung und Brechung des Seins sich in der Gestalt des zum Übergangsprinzip erhobenen Willens zum Willen vollzieht. Die auf den Untergang der letzten Seiendheit folgende, technische Unterordnung der Erde mündet in Heideggers Narrativ schließlich in das Ereignis. Ungewiss und unberechenbar bleiben jedoch der Zeitpunkt und die Art und Weise dieser Parusie. Dass in Heideggers Analyse des Gefüges von Sein, Wille zum Willen und Ereignis besonders am Anfang und am Ende des Aufsatzes theologische Konnotationen der Apokalypse und der messianischen Erwartung hineinspielen, dispensiert nicht von einer Betonung ihrer philosophischen Bedeutsamkeit. Dennoch verhärtet sich der Eindruck, dass Heidegger außer der fatalistischen Einwilligung und der Beförderung des in den Willen zum Willen eingegangenen Geschicks keinen Ausweg aus der Seinsverlassenheit aufzeigen kann. Heidegger droht unfreiwillig zum ersten Sekundanten der geschilderten Unbeugsamkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Willens zu werden. Es ist das Ende des Aufsatzes Überwindung der Metaphysik, das die in Bezug auf die Stücke Nr. XXVII und XVIII formulierten Schwierigkeiten und Aporien aufzuhellen vermag. Zudem wird an diesem Ort die Rolle des Ereignisses vertiefend bestimmt. Die letzten Zeilen des Textes lauten: Fast scheint es, als sei dem Menschen unter der Herrschaft des Willens das Wesen des Schmerzes verschlossen, insgleichen das Wesen der Freude. Ob das Übermaß an Leid hier noch einen Wandel bringen kann? Kein Wandel kommt ohne vorausweisendes Geleit. Wie aber naht ein Geleit, wenn nicht das Ereignis sich lichtet, das rufend, brauchend das Menschenwesen er-äugnet, d. h. er-blickt und im Erblicken Sterbliche auf den Weg des denkenden, dichtenden Bauens bringt?²²¹

des Seins zeigt sich auch im Willen zum Willen, der nur eine Richtung zuläßt, in der gewollt werden kann.“  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 97– 98.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Bislang herrschte im Aufsatz Überwindung der Metaphysik ein zwiespältiger Duktus vor, der zwischen einem düsteren Pessimismus der Gleichförmigkeit und der Prophetie des anderen Anfangs schwankte. In diesen ambivalenten Tonfall wurden selbst noch die brillanten philosophischen Analysen und Figuren Heideggers eingeflochten. Auffällig ist, dass der bis dahin dominierende Negativismus am Ende des Aufsatzes der fragenden Aussicht auf einen sich möglicherweise abzeichnenden Wandel weicht. Das Leiden wird zum Schluss von Heidegger nicht mehr mit philosophischer Subtilität als Triebfeder der sich mit dem Negativen ihrer selbst vereinigenden Aktivität des Willens ausgedeutet. Es wird auch nicht unter dem Banner immoralistischer Überlegenheit marginalisiert. Im Kontrast dazu, wird das Leiden in dem erschütternden Ausmaß der Traurigkeit berücksichtigt. In Anlehnung an Schopenhauer, wird der Schmerz nun als womöglich entscheidender Beweggrund der Selbstbefragung und der Wendung des Willens beschrieben. Heidegger artikuliert die Möglichkeit einer sich im „Übermaß an Leid“²²² ankündigenden Intermittenz und Abdankung des Willensvollzuges. Diese Verheißung eröffnet sich in der vorsichtigen Gestalt einer offenen, der Kontingenz ihr Recht lassenden Frage. Zum Schluss des Aufsatzes entgeht Heidegger der gänzlichen Priorisierung einer für die Umkehr vermeintlich unumgänglichen Gipfelvollbringung der Willenserfahrung. Das bekannte geschichtsphilosophische Theorem einer tragischen Selbstaufhebung wurde von Heidegger in den vorauslaufenden Stücken wiederholt aufgerufen. Wenn das Leiden beisteuernd in diese krisenhafte Steigerung der Negativität hineinragen soll, tritt die Gefahr auf den Plan, es als Seismographen des anzusteuernden Kurses zu instrumentalisieren. Außerdem erlauben es die abschließenden Zeilen, die Ausnahmegestalten der Hirten konkreter zu fassen. Es erscheint gehaltvoll und legitim, die Hirten mit den vom Ereignis erblickten Sterblichen zu identifizieren. Prima facie mutet Heideggers Formulierung eines „rufend“²²³ und „brauchend“²²⁴ das Menschenwesen „er-äugnenden“²²⁵ Ereignisses kryptisch und befremdlich an. Auf der Basis des Unterschiedes zwischen dem Sein und dem Ereignis können diese Schilderungen jedoch als durchaus verständlich beurteilt werden. Die Hirten zeichnen sich innerhalb der als Wille konturierten Wirklichkeit als Vorboten und Vorläufer des Ereignisses ab. Es sind die Hirten, die – unter Herbeiziehung der für Heidegger charakteristischen Lichtmetaphorik gesprochen – die Einbruchsstellen des Ereignisses und das Durchscheinen des Lichts innerhalb des sich verdüsternden,    

Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 98. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 98. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 98. Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 98.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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willenhaften Seins auffangen. Die Hirten offenbaren sich als Adressaten eines Zuspruches, der jenseits der planend-vorstellenden Übersteigerung angesiedelt ist.²²⁶ In der Stiftung des Weges eines „denkenden, dichtenden Bauens“²²⁷ bekunden sie die Empfängnis jenes Geleits, durch welches das Ereignis zu ihnen hindurchdrang. Nach Heidegger hat das Ereignis bereits einige der Sterblichen in die eigene Helle aufgenommen. Damit weist Heidegger zum Ende des Aufsatzes auf ein Ethos des Wohnens voraus. Dieser Haltung wird besonders in dem Aufsatz Bauen Wohnen Denken (1951) und in der Konzeption des Gevierts eine bedeutsame Gewichtung zukommen.²²⁸

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik: Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus (1944 – 1946) 3.2.1 Das Wesen des Nihilismus Die Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus wurde von Heidegger in den Jahren 1944 – 1946 ausgearbeitet.²²⁹ Im Band Nietzsche II ist sie an die Entfaltung der fünf metaphysischen Grundtitel in Nietzsches Denken (Nietzsches Metaphysik ²³⁰) angeschlossen. In der Abhandlung verlagert sich der Schwerpunkt zur Auseinandersetzung mit der unbedachten Wesensart des Seins. In diesem Zusammenhang nimmt Heidegger eine umfangreiche Verhältnisbestimmung zwischen der Seinsgeschichte und dem Nihilismus vor. Heidegger weist

 Vgl. zur unaufhebbaren Beziehung und innigen Zusammengehörigkeit zwischen dem Ereignis und dem Menschen sowie zum Motiv des „Entwachens in das Ereignis“: Günter Seubold / Thomas Schmaus, Stichwort: Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun, in: Dieter Thöma (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 335 – 341, bes. S. 338.  Vgl. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 98.  Vgl. Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 152: „Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten – das Wort in dem alten Sinne genommen, den Lessing noch kannte. Die Rettung entreißt nicht nur einer Gefahr, retten bedeutet eigentlich: etwas in sein eigenes Wesen freilassen. Die Erde retten ist mehr, als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung. Die Sterblichen wohnen, insofern sie den Himmel als Himmel empfangen. Sie lassen der Sonne und dem Mond ihre Fahrt, den Gestirnen ihre Bahn, den Zeiten des Jahres ihren Segen und ihre Unbill, sie machen die Nacht nicht zum Tag und den Tag nicht zur gehetzten Unrast.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 301– 361.  Vgl. Heidegger, N II, S. 231– 300.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

bereits eingangs seiner Darlegung darauf hin, dass Nietzsches Akzeptanz des Willens zur Macht als „letztes Faktum“²³¹ das Sein auf den Wertmaßstab des Tatsächlichen restringiere, welches jedoch allein im Hinblick auf das Seiende belegt und erfahren werden könne.²³² Im Willen zur Macht als letzter Ausformung der Seiendheit verschwindet demgemäß das Sein in der Vergessenheit der Differenz, aus der es allererst das Seiende lichtet. Für Heidegger kommt Nietzsche unter allen Denkern ein besonderer Rang zu, da er die Metaphysik auf ihren untergründigen Gesamtzusammenhang befragt. Dieser offenbart sich als Deszendenzbewegung, in der schließlich die Nichtigkeit des Seienden im Ganzen zur Erscheinung gebracht wird. Insofern Nietzsche den Nihilismus als Verlust der zusammenhaltenden Fülle innerhalb des mit dem Sein gleichgesetzten Seienden versteht, streift der von ihm bedachte Nihilismus die Erkenntnis einer epochalen Wandlung der Seiendheit.²³³ Nach Heidegger gelingt Nietzsche der endgültige Durchbruch zu einem Verständnis des allen Grundstellungen inhärierenden Nichts nicht, weil die Erfassung des Seins des Seienden in der Identität von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr des Gleichen auf das Denken zurückwirkt, dem das Charakteristikum, in ausgezeichneter Weise seiend zu sein, verliehen wird: Nun beruht Nietzsches Metaphysik auf der ausdrücklich vollzogenen Grundeinsicht, daß das Seiende als solches ist und daß nur das so anerkannte Seiende dem Denken, was immer es denken mag, als seiendem Denken die Gewähr seiner Möglichkeiten leistet. Nietzsches Grunderfahrung sagt: das Seiende ist das Seiende als der Wille zur Macht in der Weise der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Als das dergestalt Seiende ist es nicht nichts. Demnach bleibt der Nihilismus, demgemäß es mit dem Seienden als solchem nichts sein soll, aus den Grundlagen dieser Metaphysik ausgeschieden. Also hat sie – wie es scheint – den Nihilismus überwunden. Nietzsche anerkennt das Seiende als solches. Doch anerkennt er in solcher Anerkenntnis auch schon das Sein des Seienden, und zwar Es selbst, das Sein, nämlich als das Sein? Keineswegs.²³⁴

Dergestalt riegelt sich das Denken gegenüber der Fragwürdigkeit des Seins als Es selbst ab und kann dieses in der lückenlosen Affirmation seiner selbst und der-

 Heidegger, N II, S. 301.Vgl. Nietzsche, KGW VII, 3, 40 [61], S. 393: „Der Wille zur Macht ist das letzte Factum, zu dem wir hinunterkommen.“ Vgl. ferner Nietzsche, KGW VIII, 3, 14 [79], S. 51: „[D] er Wille zur Macht nicht ein Sein, nicht ein Werden, sondern ein Pathos ist die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt…“  Heidegger, N II, S. 301.  Vgl. Heidegger, N II, S. 303: „Wir unterstellen uns dem Anspruch des Namens ‚Nihilismus‘, eine Geschichte zu denken, in der das Seiende als solches steht. Der Name ‚Nihilismus‘ nennt auf seine Weise das Sein des Seienden.“  Heidegger, N II, S. 303 – 304.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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jenigen des als seiend Denkbaren nicht mehr als „Nihil“²³⁵ emporscheinen lassen. Das Sein wird in Form der Beständigkeit als notwendiger Wert deklariert und damit vom höchsten Seiendem, dem Willen zur Macht, als Bedingung für die Fortdauer des Seienden ausgelegt. In diesem Geschehen entzieht sich die geschichtliche Rekonstruktionsmöglichkeit der Herkunft von Anwesenheit als grundlegendem Merkmal des Seins.²³⁶ Weil dem Sein selbst auf diese Weise die Bewegung nicht mehr zugestanden wird, die es unterwegs zum „als Sein“²³⁷ vollziehen könnte, scheint es mit ihm nichts zu sein. In einem analogen Aufbau zu seiner Zentralthese, dass sich das Seiende einzig dem Sein verdanke, dies aber umgekehrt nicht gelte, differenziert Heidegger zwischen dem Wesen und der Erscheinung des Nihilismus: Wo es nur mit dem Seienden nichts ist, da mag man Nihilismus vorfinden, aber man trifft nicht auf sein Wesen, das erst dort erscheint, wo das Nihil das Sein selbst angeht. Das Wesen des Nihilismus ist die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst nichts ist.²³⁸

Das Sein musste sich in seiner Unverborgenheit entziehen, damit die Metaphysik in das unverborgene Seiende eingelassen werden konnte, um aus diesem und auf es hin das Sein in der Gestalt der Seiendheit in diversen Leitentwürfen zu versammeln.²³⁹ Als letzter Metaphysiker kann Nietzsche die Nichtigkeit des Seienden nach Heidegger nur erfahren, weil dieser das Nichthafte des Seins bereits zugrunde liegt, das in einem doppelten Sinne in der Metaphysik aufbewahrt wird. Einerseits kann die Metaphysik als variantenreiche Antwortgeberin auf den Entzug des Seins gefasst werden, der sich in ihren Grundstellungen verschiedenartig artikuliert. Andererseits ist die Artikulation des Entzuges zugleich die Verhüllung desselben. Die lichtende Verbergung wird als primäre und maßgebliche Zeigeweise des Seins nicht in ihrem Bezug zum Wesen des Menschen begriffen. Deswegen tritt sie zunehmend in die Verweigerung der Lichtung ein: Das Sein selbst entzieht sich. Der Entzug geschieht. Die Seinsverlassenheit des Seienden als solchen geschieht. Wann geschieht dies? Jetzt? Heute erst? Oder seit langem? Wie lange

 Heidegger, N II, S. 304.  Dies unterstreicht Heidegger im Hinblick auf die Lehre der ewigen Wiederkunft. Vgl. Heidegger, N II, S. 301: „[…] noch wird der Gedanke der ‚ewigen Wiederkunft des Gleichen‘ zum Anstoß, die Ewigkeit als Augenblick aus der Jähe des gelichteten Anwesens und die Wiederkunft als Weise des Anwesens und beide nach ihrer Wesensherkunft aus der anfänglichen ‚Zeit‘ zu bedenken.“  Heidegger, N II, S. 304.  Heidegger, N II, S. 304.  Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 188 – 203.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

schon? Sein wann? Seitdem das Seiende als das Seiende selbst ins Unverborgene gekommen ist. Seitdem diese Unverborgenheit geschieht, ist die Metaphysik; denn sie ist die Geschichte dieser Unverborgenheit des Seienden als solchen. Seitdem diese Geschichte ist, ist geschichtlich der Entzug des Seins selbst, ist Seinsverlassenheit des Seienden als solchen, ist die Geschichte, daß es mit dem Sein selbst nichts ist. Seitdem und demzufolge bleibt das Sein selbst ungedacht.²⁴⁰

Da Nietzsche in seiner Besinnung auf den Nihilismus im Bannkreis des Seienden als solchen geblieben sei, gesteht Heidegger ihm das Vermögen einer selbstkritischen Abstandnahme nicht zu. Dies verdeutlicht Heidegger anhand des folgenden Nietzsche-Zitats: ‚Nihilismus‘ als Ideal der höchsten Mächtigkeit des Geistes, des überreichsten Lebens, teils zerstörerisch, teils ironisch.²⁴¹

Der Topos des zerstörerischen und ironischen „Ideals der höchsten Mächtigkeit“ wird von Heidegger auf das Stück Nr. 617 aus Der Wille zur Macht appliziert.²⁴² Die beständige Umschichtung des Werdens zum Sein im Sinne der „Allheit des Seienden“²⁴³ entspricht der aktiven Entwertung transzendent gegründeter Werte und sichert die „höchste Mächtigkeit“ des Übermenschen als Sinn der Erde. Diese Zerstörung stellt den Gipfelpunkt des Nihilismus dar. Der Aspekt des Ironischen bezeugt sich nach Heidegger darin, dass der gegen die tradierten Werte gerichtete Aufhebungsakt bereits um das Prinzip der Wertsetzung weiß und deswegen die Ernsthaftigkeit und unerbittliche Partizipation an der nihilistischen Zerstörung vorzutäuschen vermag.²⁴⁴ In diesem Zuge honoriert Heidegger das Selbstverständnis Nietzsches als extremsten Nihilisten, der den Nihilismus in seiner unüberbietbaren Übersteigerung hinter sich lässt. Im „extremsten Nihilismus“²⁴⁵ tritt der Wille zur Macht mit der Prätention auf, das Prinzip aller tradierten Prin Heidegger, N II, S. 320.  Heidegger, N II, S. 305. Vgl. Nietzsche, KSA 12, S. 353.  Vgl. Heidegger, N II, S. 305. Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 617, S. 418: „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.“ Auch in dem Text Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus geht Heidegger nicht auf den zweiten Satz der Aufzeichnung ein. Der zweite Satz könnte die vermeintliche Eindeutigkeit einer sich in Nr. 617 ausdrückenden Vereinigung von ewiger Wiederkehr und Willen zur Macht in Frage stellen, indem er die Aufprägung des Seins als unumgänglichen Erschaffungsmodus der Welterkennbarkeit prononciert. Der zweite Satz lautet: „Zwiefache Fälschung, von den Sinnen her und vom Geiste her, um eine Welt des Seienden zu erhalten, des Verharrenden, Gleichwertigen….“ Vgl. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 617, S. 418. Vgl. Nietzsche, KGW VIII, 1, 7 [54], S. 320.  Heidegger, N II, S. 305.  Vgl. Heidegger, N II, S. 305 – 306.  Heidegger, N II, S. 306.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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zipien zu sein. Aus diesem Grund kann das in den jeweiligen metaphysischen Grundstellungen zum Vorschein kommende Sein des Seienden nur noch in seiner voluntaristischen Überformung betrachtet werden. Das Sein selbst erscheint als Abstraktion, die sich am Ende der Metaphysik als „leere Fiktion“ enthüllt.²⁴⁶ Weil das Sein in dieser Beurteilung den Tiefpunkt seiner Geschichte erreicht, bestimmt Heidegger Nietzsches Metaphysik zu Beginn der Abhandlung als „eigentlichen Nihilismus“.²⁴⁷ Dergestalt kann sich der eigentliche Nihilismus erst in der Vollendung der abendländischen Metaphysik ausprägen. Diese Konzeption hat den großen Nachteil, dass sie an Nietzsches Entschlüsselung des maßgebenden Nihilismus als die abendländische Geschichte präfigurierendes Grundgeschehen nicht heranreicht. Der eigentliche Nihilismus müsste als Abrundung verstanden werden, die auf zahlreichen Anbahnungsstufen fußt. Diametral dazu, wird Heidegger im weiteren Verlauf gerade den eigentlichen Nihilismus als fundierenden, ersten und geschichtlich wirksamen Nihilismus privilegieren und ihn mit dem wesenskonstitutiven Ausbleiben des Seins gleichsetzen. Nietzsches Einsicht, dass der wahrheitslose Zustand der Wirklichkeit auf weit zurückreichende, unzugänglich gewordene und ihm in ideeller Hinsicht scheinbar konträr zuwiderlaufende Ermöglichungsbedingungen zurückgeführt und von diesen her beurteilt werden müsse, spiegelt sich in Heideggers Erschließung der eigentlichen Form des Nihilismus aus dem Ausbleiben des Seins wider. Zur vorgreifenden Erhellung der späteren Neubestimmung des eigentlichen Nihilismus erscheint es sinnvoll, Nietzsches Metaphysik als Spur zu verstehen. Diese lässt das Wesen des eigentlichen Nihilismus anklingen, indem sie die Erfahrung, dass es mit dem Sein nichts ist, im Medium des äußersten Nichterfragens freilegt und zugleich verdrängt: Denn gerade in dem, worin und wodurch Nietzsche den Nihilismus zu überwinden meint, in der Setzung neuer Werte aus dem Willen zur Macht, kündigt sich erst der eigentliche Nihilismus an: Daß es mit dem Sein selbst, das jetzt zum Wert geworden, nichts ist.²⁴⁸

Dieser Anklang geschieht in der Machterweiterung des Wertdenkens zum unerschütterlichen Maßstab, wodurch sich der eigentliche im „perfekten Nihilismus“²⁴⁹ vollendet. Sofern das Wertdenken den Anspruch erhebt, im Rahmen der kompromisslosen Anerkennung und Befreiung des Seienden die bisherige le-

 Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 75.  Vgl. Heidegger, N II, S. 306: „Wir sagten indes, Nietzsches Metaphysik sei eigentlicher Nihilismus.“  Heidegger, N II, S. 306.  Heidegger, N II, S. 306.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

bensverneinende Wertsetzung überwunden zu haben, verstrickt es sich aus zwei Richtungen im unverstanden bleibenden Nihilismus. Zum einen, weil es schließlich nur noch das wertbestimmte Seiende gelten lässt. Zum anderen, weil es die in der Entwertung und Umwertung kulminierende Geschichte unter einem Gesichtspunkt betrachtet, der das Sein von vornherein ausgeschlossen hat. Aufgrund der Nietzscheschen Umwendung und Funktionalisierung des Tragischen zur vollkommenen Lebens- und Weltbejahung gibt es keine Möglichkeit mehr, die in der eigenen Enthüllung des sukzessiven Niederganges und des abgründigen Leidens gewonnenen Erkenntnisse als kritische Ansatzpunkte zu begreifen. Damit wird die Chance vertan, im Ausgang von der Erfahrung des Sinnwidrigen die Frage nach der Bedeutung dessen zu stellen, was demgegenüber „Sein“ genannt zu werden verdient.²⁵⁰ Es ist zu beachten, dass Heidegger in diesem Textstadium das Wesen des Nihilismus noch vollkommen mit der Geschichte, dass „es mit dem Sein selbst nichts ist“, identifiziert. Dies lässt sich recht gut anhand des folgenden Passus veranschaulichen: Wenn aber das Wesen des Nihilismus die Geschichte bleibt, daß es mit dem Sein selbst nichts ist, dann kann auch das Wesen des Nihilismus solange nicht erfahren und gedacht werden, als es im Denken und für das Denken mit dem Sein selbst nichts ist. Der vollendete Nihilismus sperrt sich daher selbst endgültig von der Möglichkeit aus, jemals das Wesen des Nihilismus denken und wissen zu können. Sagt dies nicht, für Nietzsches Denken sei das Wesen des Nihilismus verschlossen?²⁵¹

Im weiteren Verlauf gilt es zu zeigen, in welcher Weise Heidegger das Wesen und den eigentlichen Nihilismus zunächst voneinander unterscheidet. In diesem Zuge führt Heidegger letzteren kurzzeitig mit der neuzeitlichen Metaphysik des Willens eng, um ihn daraufhin mit der Metaphysik überhaupt zu identifizieren. Im Fortgang der Abhandlung wird Heidegger das Wesen und den eigentlichen Nihilismus wieder zusammenschließen, indem er beide aus dem Ausbleiben des Seins denkt, als welches das Sein ist. Dies ermöglicht es Heidegger, dem eigentlichen, im Sein selbst waltenden Nihilismus eine sich am Ende dieser Geschichte vollendende, uneigentliche Figuration gegenüberzustellen, als deren Wesensursprung jener fungiert. Heidegger wird die Metaphysik aus ihrer direkten Verbindung mit dem eigentlichen Nihilismus herauslösen und mit dem uneigentlichen Nihilismus parallelisieren, der sich in der Gestalt eines Auslassens des Ausbleibens äußert.

 Vgl. Heidegger, N II, S. 307.  Heidegger, N II, S. 307.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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3.2.2 Die Willensmetaphysik als eigentlicher Nihilismus Einen maßgeblichen Schritt zu dieser Differenzierung unternimmt Heidegger im Rahmen der Betrachtung des Verhältnisses der Metaphysik des Willens zur Macht zum Nihilismus. Diese fungiert zwar als Grund der Vollendung des eigentlichen Nihilismus, kann aber nicht beanspruchen, der Grund des eigentlichen Nihilismus selbst zu sein: Nietzsches Metaphysik ist nihilistisch, insofern sie Wertdenken ist und dieses sich in den Willen zur Macht als das Prinzip aller Wertsetzung gründet. Nietzsches Metaphysik wird demnach zur Vollendung des eigentlichen Nihilismus, weil sie die Metaphysik des Willens zur Macht ist. Wenn es aber so steht, dann bleibt die Metaphysik als die Metaphysik des Willens zur Macht zwar der Grund der Vollendung des eigentlichen Nihilismus, sie kann jedoch keineswegs der Grund des eigentlichen Nihilismus als solchen sein. Dieser muß schon, wenngleich noch unvollendet, im Wesen der voraufgehenden Metaphysik walten. Sie ist zwar keine Metaphysik des Willens zur Macht, aber sie erfährt gleichwohl das Seiende als solches im Ganzen als Wille. Mag auch das Wesen des hier gedachten Willens in vieler Hinsicht und sogar notwendig dunkel bleiben, – von der Metaphysik Schellings und Hegels zurück über Kant und Leibniz bis zu Descartes wird das Seiende als solches im Grunde als Wille erfahren.²⁵²

Der Grund des eigentlichen Nihilismus erschließt sich allein in der Betrachtung des in der neuzeitlichen Metaphysik dominierenden Willenswesens. Dessen Aufstieg lässt Heidegger mit demjenigen Sicherungswillen beginnen, der sich in Descartes’ Methodik des auf denkerischem Wege ermittelten Unbezweifelbaren ausdrückt.²⁵³ An dieser Stelle erscheint allerdings die Rückfrage berechtigt, weswegen der eigentliche Nihilismus erst dann waltet, wenn das Sein des Seienden als Wille verstanden wird. Um Heideggers vorläufige Einschränkung des eigentlichen Nihilismus auf den neuzeitlichen Voluntarismus zu erhellen, ist es hilfreich, auf die Bedeutung des „Waltens“ zurückzugreifen.

 Vgl. Heidegger, N II, S. 308.  Vgl. Heidegger, N II, S. 308.Vgl. das entscheidende Argument Descartes’ gegen die ubiquitäre Täuschung durch einen Genius malignus: Descartes, Meditationen, S. 28: „Aber es gibt einen, ich weiß nicht welchen, allmächtigen und äußerst verschlagenen Betrüger, der mich ständig mit äußerster Hartnäckigkeit täuscht. Zweifelsohne bin ich selbst also, wenn er mich täuscht; und er möge mich täuschen, soviel er kann, niemals wird er bewirken, daß ich nichts bin, solange ich denken werde, daß ich etwas bin; so daß schließlich, nachdem ich es zur Genüge überlegt habe, festgestellt werden muß, daß dieser Grundsatz Ich bin, ich existiere, sooft er von mir ausgesprochen oder durch den Geist begriffen wird, notwendig wahr ist.“

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Der eigentliche Nihilismus, der sich durch die Geschichte der Metaphysik zieht, kann erst dann im Medium einer derivativen Erscheinungsform offenbar werden, wenn der Mensch sich als wollendes Subjekt auffasst: Einerseits stellt sich der Mensch dadurch gänzlich auf sich selbst und potenziert dergestalt den Ausschluss eines Bezuges zum Sein. Andererseits sucht er nun aktiv nach Mitteln, das Wollen entweder zum Erlöschen zu bringen oder die erkannte Sinnlosigkeit der Welt im Ganzen in der Befreiung des Willens zu überwinden. Daher gewährt erst die Willensmetaphysik die Erfahrbarkeit des ontisch-lebensweltlichen Nihilismus.²⁵⁴ Weil die Suprematie des Willens jedoch auf der Leitlinienentwicklung der Metaphysik fußt, muss der Grund des eigentlichen Nihilismus auf einer noch tiefer wurzelnden Ebene gesucht werden. Es ist die Metaphysik selbst, in der das Ausbleiben des Seins geschieht: Weder die Metaphysik des Willens zur Macht noch die Metaphysik des Willens ist der Grund des eigentlichen Nihilismus, sondern einzig die Metaphysik selbst. Die Metaphysik ist als Metaphysik der eigentliche Nihilismus. Das Wesen des Nihilismus ist geschichtlich als die Metaphysik…²⁵⁵

Die Pointe dieser Auffassung manifestiert sich darin, dass Nietzsches Philosophie – aus der Perspektive des eigentlichen Nihilismus betrachtet – keine fundamentale Diskrepanz zu jeder anderen metaphysischen Grundstellung aufweisen kann. Es besteht nur eine graduelle Differenz hinsichtlich der Offenbarkeit des Wesens: […] die Metaphysik Platons ist nicht weniger nihilistisch als die Metaphysik Nietzsches. In jener bleibt das Wesen des Nihilismus nur verborgen, in dieser kommt es voll zum Erscheinen. Indes gibt es sich aus der Metaphysik und innerhalb ihrer niemals zu erkennen.²⁵⁶

Auch wenn diese Ansicht pauschalisierend wirkt, so muss berücksichtigt werden, dass Heidegger bei aller Abgrenzung ein Nietzschesches Narrativ rezipiert und gegen diesen ausspielt. Nietzsche kennzeichnet bereits das Ausbleiben der menschlichen Selbstwertgebung, das in Platons Abwertung der sinnlichen Welt initiiert und kaschiert wurde, als nihilistisch. Gleichwohl dauerte es nach Nietzsche 2300 Jahre, bis dieser ursprüngliche Nihilismus auch lebensweltlich sichtbar wurde. Heidegger verlängert diese Geschichte, indem er sie mit dem uranfängli-

 Vgl. dazu Lore Hühn, Von Arthur Schopenhauer zu Friedrich Nietzsche, in: Barbara Neymeyr / Andreas Urs Sommer (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, S. 123 – 159; bes. S. 152– 159.  Heidegger, N II, S. 309.  Heidegger, N II, S. 309.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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chen Ausbleiben des Seins anreichert. Nichtsdestotrotz entsteht der Eindruck, die vermeintliche Kondemnation der Philosophie Platons als eigentlicher Nihilismus fuße auf einer „Willkür und Aburteilung“²⁵⁷ der Metaphysik. Im unmittelbaren Anschluss verteidigt Heidegger die Metaphysik jedoch gegen Nietzsches Kritik und bringt ihre Geschichte darüber hinaus gegen jedwede „Metaphysik von der Metaphysik“²⁵⁸ in Stellung. Leitend ist dabei die Kehre des Akteurs: Das sich in jedem geschichtlichen Entwurf der Metaphysik aussprechende Nichterreichen des Wesens ist der verwehrte Einblick des Wesenden. Die von Aristoteles auf den Begriff gebrachte Leitfrage „Was ist das Seiende?“²⁵⁹ grenzt das Sein aus, wenngleich es in der Metaphysik weder „übergangen noch übersehen“²⁶⁰ wurde. Als Sein des Seienden gedacht, wird die Frage nach der Washeit von Platon im Hinblick auf die „ἰδέα“²⁶¹ und das „κοινόν“²⁶² beantwortet. Auf diese Weise wird das Sein von vornherein unter dem Index des Wesens des Seienden in das Visier genommen. Das Sein wird in eine gestufte Zweiheit auseinandergerissen. Als deren zweites Relatum fungiert das Dass-Sein. Dieses wird von jenem Seienden ausgefüllt, welches der Washeit am ehesten angemessen erscheint und dergestalt als das „wahrhaft Existierende“²⁶³ klassifiziert werden kann. Obschon das Sein als κοινόν, als Gattung und Gemeinsames begriffen wird, empfängt es seine Geltung erst aus der rückwendenden Feststellung, dass es dem Seienden entspreche und sich übergreifend in ihm bezeuge. Da das hauptsächliche Anliegen der Metaphysik darin besteht, das Seiende in seiner Herkunft und Gestalt zu erklären, kann Heidegger darauf insistieren, dass in ihr stets nur das Seiende befragt wird. Das Sein wird zwar als Antwort festgehalten und gewusst, aber niemals als Antwortendes zugelassen.²⁶⁴ Das Seiende wird in seinem Sein von beiden Polen her bedacht. Niemals aber gerät in das Blickfeld der Metaphysik, was im Hinweggang über das dergestalt entborgene Seiende dessen Unverborgenheit lichtet und sich im duplizierten „des“ – angetroffen im Seienden des

 Vgl. Heidegger, N II, S. 309.  Heidegger, N II, S. 309.  Heidegger, N II, S. 310.  Heidegger, N II, S. 310. Diesbezüglich ist Heideggers Konstellationsgewichtung erhellend: Die Metaphysik denkt „das Sein als das Seiende in seinem Sein.“ Vgl. Heidegger, N II, S. 311.  Heidegger, N II, S. 310.Vgl. zur seinsgeschichtlichen Bedeutung der ἰδέα: Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 208 – 210.  Heidegger, N II, S. 310. Zu Heideggers Auseinandersetzung mit dem Begriff κοινόν vgl. Heidegger, Die Geschichte des Seyns. 1. Die Geschichte des Seyns (1938/40). 2. Koinόn. Aus der Geschichte des Seyns (1939), GA 69, hrsg. von Peter Trawny, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2012.  Heidegger, N II, S. 311.  Vgl. Heidegger, N II, S. 311.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Seins und im Sein des Seienden – verbirgt.²⁶⁵ Diese Verhüllung wird in der Aufstufung des Seins zum Apriori nicht getilgt, sondern forciert. In der Vor-Setzung des Seins als ontologische und epistemologische Ermöglichungsbedingung für die Wirklichkeit und Erfahrbarkeit des Seienden lässt sich am markantesten ablesen, dass die Vorrangsbestimmung zunächst und zumeist im Ausgang vom Seienden und in der erklärenden Rückkehr auf es erfolgte.²⁶⁶ Die zugunsten des Seienden statuierte Beziehung wurde stets unter der Signatur der Unabänderlichkeit des Seins gedacht. Dieser Wesenszug zeigt sich auch in den Markierungen als höchste Ursache, als Substanzialität und Subjektivität.²⁶⁷ Theologie und Ontologie stützen sich innerhalb der onto-theologischen Verfasstheit der Metaphysik, die nach dem θεῖον fragt, wechselseitig und gewähren einander den Überstieg. Während die Theologie die Transzendenz nach Maßgabe der aus der Ontologie entlehnten Essenz beschreibt, versteht die Ontologie das Transzendentale als ersten Grund und als Existierendes höchster Valenz, welches das Essentielle in sich enthält.²⁶⁸ Weil sich in diesem Gefüge der Spalt auftun könnte, aus dem essentia und existentia in ihrem gemeinsamen Seinsursprung einander zugekehrt werden, konzediert Heidegger der Metaphysik wie in der Schellingvorlesung ²⁶⁹ (1936): Sie [die Metaphysik, J.K.] wird wie in einem Vorbeigang davon gestreift, daß Sein west.²⁷⁰

 Vgl. Heidegger, Identität und Differenz, 14. Aufl., Stuttgart 2014, S. 56 – 57: „Sein im Sinne der entbergenden Überkommnis und Seiendes als solches im Sinne der sich bergenden Ankunft wesen als die so Unterschiedenen aus dem Selben, dem Unter-Schied. […] Die Differenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-Schied von Überkommnis und Ankunft der entbergend-bergende Austrag beider. Im Austrag waltet Lichtung des sich verhüllend Verschließenden, welches Walten das Aus- und Zueinander von Überkommnis und Ankunft vergibt.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 312.  Vgl. Heidegger, N II, S. 312– 313.  Vgl. Heidegger, N II, S. 314.Vgl. Heidegger, N II, S. 315: „Die Ontologie stellt die Transzendenz als das Transzendentale vor. Die Theologie stellt die Transzendenz als das Transzendentale vor. Die in der […] dunklen Unterscheidung von essentia und existentia gegründete einheitliche Doppeldeutigkeit dessen, was Transzendenz nennt, spiegelt das onto-theologische Wesen der Metaphysik wider.“  Vgl. Heidegger, GA 42, S. 110: „Welches ist das Gesetz und was ist die Grundweise der Fügung des Seyns? Was ist ‚Prinzip‘ des Systems? Was anderes als das Seyn selbst? Die Frage nach dem Prinzip der Systembildung ist daher die Frage, worin das Wesen des Seyns bestehe, worin das Seyn seine Wahrheit habe. Und das ist die Frage, in welchem Bereich dergleichen wie Seyn überhaupt offenbar werden könne und wie es sich diese Offenbarkeit und sich in ihr bewahre.“  Heidegger, N II, S. 313.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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Die Leibnizische Frage „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?“ ²⁷¹ verstellt diesen anklingenden Zugang zum Sein, da sie die Disjunktion von Seiendem und Nichts in der Erwartung und Forderung eines Grundes zugunsten des ersteren je schon entschieden hat. Eine aufrüttelnde Erfahrung des Nichts könnte sich jedoch im Tod Gottes anbahnen.Wie in seiner Besprechung der dritten Mitteilung der Wiederkunftslehre, fasst Heidegger die Verkündigung des Gottestodes²⁷² nicht als Ausdruck eines Atheismus. Er bedeutet aber auch keine Zäsur mehr, welche die Geschichte in zwei Hälften teilt. Stattdessen dechiffriert Heidegger den Tod Gottes als letzten Akt der Onto-Theologie, in welchem der eigentliche Nihilismus in seine Vollendung eintritt.²⁷³ Inmitten des den Tod Gottes flankierenden Gefühlskomplexes von Bestürzung und Heiterkeit wird Gott als einziger jemals gültiger Maßstab anerkannt. Das Sein selbst, das sich nach dem Niedergang des höchsten Seienden und somit der bislang sinnverleihenden Autorität bemerkbar machen könnte, wird potenziert verdrängt. In dem Aufsatz Nietzsches Wort „Gott ist tot“ (1943) unterstreicht Heidegger, dass Gott im Herrschaftsradius des Wertdenkens zum höchsten Wert erhoben wird. Dieser Vorgang bildet die Bedingung für die Beseitigung der übersinnlichen, an sich seienden Welt. Diese Beseitigung ist keine einmalige. Vielmehr wird sie durch die Bestandsicherung und die Zustellung des Seienden perpetuiert. Darin geht sie mit der kontinuierlichen Tötung des transmundanen Gottes zusammen.²⁷⁴

3.2.3 Das Ausbleiben des Seins als ungedachte Ankunft Nachdem er das Ausbleiben des Seins aus der alleinigen Konzentration auf die Willensmetaphysik ausgekoppelt und auf die gesamte Metaphysik übertragen hat, beginnt Heidegger, den Begriff des eigentlichen Nihilismus schrittweise auch aus der Gleichsetzung mit der Metaphysik zu lösen. Dass das Seiende seit den Vorsokratikern der Vernehmbarkeit und der Gestalterfassung zugetan ist, unterstreicht, dass es als Unverborgenes in einer Helle verweilt, die nicht als das Lichtende erfahren wird.Weder das sich im Logos sammelnde Aufgehenlassen der

 Vgl. Heidegger, N II, S. 338 – 339.  Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 125, S. 480 – 481. Vgl. Heidegger, N II, S. 314.  Vgl. Heidegger, N II, S. 314.  Vgl. Heidegger, Nietzsches Wort „Gott ist tot“, in: Heidegger, Holzwege, GA 5, S. 262.Vgl. dazu Ben Vedder, „Gott ist tot.“ Nietzsche und das Ereignis des Nihilismus, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. Heidegger-Jahrbuch 2, S. 157– 174.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Physis noch das präsenzontologische Verständnis als Seiendheit können jedoch als Unterlassung oder Abwehr des Seins beurteilt werden. Die Möglichkeit einer Abwehr kann nur bestehen, wenn das Abzuwehrende im Vorhinein zugelassen hat, sich in den es daraufhin exkludierenden Denkkreis zu begeben. Der Sachverhalt, dass sich nirgendwo in der Metaphysikgeschichte eine thematische, widerständige Abwehr auffinden lässt, indiziert fast notgedrungen darauf, dass das Sein von sich aus ausgeblieben ist.²⁷⁵ In diesem Zusammenhang rückt Heidegger das Sein in die Nähe zum Nichts, versteht dieses Verhältnis aber nicht wie Hegel als bestimmungslose Einerleiheit von abstrakter Fülle und Leere.²⁷⁶ Das Sein kann als epochal divergierende Sinngegebenheit und Wahrheitsvorbestimmtheit begriffen werden. Als das Gebende muss es an sich halten, obgleich das Sein nicht wie in der Metaphysik jenseits des von ihm Gelichteten stehend imaginiert werden darf. Da es nicht im Sinne des Seienden „ist“, kann es nicht unmittelbar in diesem begegnen. Ebenso wenig kann es sich aber in seinem Aufgehen von dem Seienden dissoziieren. Das Sein zeigt sich als Nichts im Seienden, um dadurch in der gänzlichen Selbstzurücknahme die offene Bezugsbahn für das Seiende zu gewähren: Das Ausbleiben des Seins ist das Sein selbst als dieses Ausbleiben. Das Sein ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt überdies noch aus, sondern: Das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Sein selbst. Im Ausbleiben verhüllt sich dieses mit sich selbst. Dieser zu sich selbst entschwindende Schleier, als welcher das Sein selbst im Ausbleiben west, ist das Nichts als das Sein selbst. Ahnen wir das Wesende des jetzt zu denkenden Nichts? Wagen wir die Möglichkeit zu denken, daß dieses Nichts von der leeren Nichtigkeit unendlich verschieden bleibt? In diesem Fall müßte die Kennzeichnung des Wesens des eigentlichen Nihilismus, daß es mit dem Sein selbst nichts ist, Anderes enthalten als nur eine negative Feststellung.²⁷⁷

 Vgl. Heidegger, N II, S. 318.  Vgl. Heidegger, N II, S. 320: „Das Sein ist als solches ein Anderes als es selbst, so entschieden ein Anderes als es selbst, daß es nicht einmal ‚ist.‘ Dies alles klingt in der Aussage dialektisch. In der Sache liegt es anders.“ Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik I. Lehre vom Sein, S. 55: „Man stellt sich auch wohl das Sein etwa unter dem Bilde des reinen Lichtes als der Klarheit ungetrübten Sehens, das Nichts aber als die reine Nacht vor und knüpft ihren Unterschied an diese wohlbekannte sinnliche Verschiedenheit. In der Tat aber, wenn man sich dieses Sehen genauer vorstellt, so begreift sich leicht, daß man in der absoluten Klarheit so viel und so wenig sieht als in der absoluten Finsternis, daß das eine Sehen so gut [als] das andere reines Sehen, Sehen von Nichts ist. Reines Licht und reine Finsternis sind zwei Leeren, welche dasselbe sind.“  Heidegger, N II, S. 319.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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Weil Heidegger das Ausbleiben des Seins nun als bereits vor-metaphysische, von Parmenides und Heraklit zum ersten Mal erfahrene Erscheinungsform begreift, kann er es als das Wesen des eigentlichen Nihilismus einführen: Das Wesen des eigentlichen Nihilismus ist das Sein selbst im Ausbleiben seiner Unverborgenheit, die als die seine Es selbst ist und im Ausbleiben sein ‚ist‘ bestimmt.²⁷⁸

Diese Auffassung beinhaltet allerdings eine große Problematik, die Heidegger in einem kritischen Selbsteinwand berücksichtigt: Wenn das Ungedacht-Bleiben vom Sein selbst verfügt ist, welche Position kommt dann dem Denken zu?²⁷⁹ Auf den ersten Blick bieten sich zwei Optionen an: Einerseits könnte das Sein als vorstellungsimmanente Gegenständlichkeit des Gegenstandes oder als gedachtes Abstraktum betrachtet werden. Die alternative Deutungsart besteht andererseits darin, dass das Denken die Nichtbeachtung des Seins revidieren könnte, sobald es das Sein in seinem spezifischen Ausbleiben erkennt. Während die erste Option in einen Transzendentalidealismus oder in einen Geistmonismus einmünden könnte, würde die zweite einen Dualismus von Sein und Denken restituieren, weil sich das Sein bislang separiert hätte. Dergestalt verfiele Heidegger in die metaphysische Dichotomie zurück. Er löst diese Schwierigkeit, indem er eine Zusammengehörigkeit von Sein und Denken proponiert, die durch den entwurfsleitenden Primat des Seins vermittelt wird. Das Sein zeigt sich nicht nur im Seienden, unter welches auch das Denken fällt.Vielmehr ist das Denken gewissermaßen in das Sein eingelassen und wird aus und von ihm in die metaphysischen Grundstellungen hineingeworfen.²⁸⁰ Das Sein kann sich niemals absondern oder substrathaft in sich selbst zurückziehen. Folglich muss es auch im Ausbleiben seiner Unverborgenheit etwas hinterlassen, das über den dialektischen Umschlag eines simultanen Bleibens der Verborgenheit hinausgeht. Dieses Hinausweisende charakterisiert Heidegger als Versprechen der Ankunft des Seins in seiner Unterkunft, die das Wesen des Menschen bildet: Das Sein selbst hat im Wesen des Menschen schon vor- und sich dahin eingesprochen, insofern es sich selbst in der Unverborgenheit seines Wesens vorenthält und spart.²⁸¹

Das Sein ermöglicht in seinem Ausbleiben das Wesen des Menschen. In dessen Wesen schlägt es seine Unterkunft auf, aus der es sich als verweigerte Ankunft    

Heidegger, N II, S. 327. Vgl. Heidegger, N II, S. 321 f. Vgl. Heidegger, N II, S. 322. Heidegger, N II, S. 333.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

entzieht und dergestalt in die Offenheit des Menschen zum Seienden im Ganzen mitzieht. Es wirft den Ort auf, den es nie erreicht. Die Metaphysik füllt diesen Ort, indem sie sich in der Subjektivität mehr und mehr ihrer selbst vergewissert. Sie hüllt das Sein in den Schein des Allgemeinen, Grundhaften und Übergeordneten und lässt dergestalt dessen Ausbleiben aus. Heidegger bündelt diesen Sachverhalt im Hinblick auf die Wesensformen des Nihilismus in einem komplexen Satz: Das Eigentliche des Nihilismus ist, gerade indem es geschieht, nicht das Eigentliche.²⁸²

Die Metaphysik ist die Stätte der Gesamtbewegung des Nihilismus. Obwohl das Wesen des Seins als des Nichts (im Sinne der Verbergung) und somit das, was im Eigentlichen ist, in ihr nicht aufleuchten kann, überspannt das nicht bedachte Ansich-Halten des Seins die Metaphysik im Ganzen. Das Sein geschieht in deren Geschichte, ohne als solches erfahren zu werden. Sofern sich in der Metaphysik das Auslassen und das Vergessen des Entzuges des Seins ereignet, kann Heidegger dafür optieren, dass sich in ihr das Geschehnis des eigentlichen Nihilismus im Medium des Uneigentlichen entfaltet. In ihrem letzten Stadium, im Wertdenken, besiegelt die Metaphysik das gänzliche Auslassen dieses Ausbleibens und vollendet dergestalt den uneigentlichen Nihilismus. In der Suggestion, dem Seienden im Ganzen einen neuen Wert verliehen zu haben, macht dieser das Vergessen des Entzuges zur Selbstverständlichkeit des menschlichen Bezugsverhaltens.²⁸³ Es ist zu konstatieren, dass Heidegger das Sein zu personalisieren scheint, wenn er auch den uneigentlichen Nihilismus von der Verfügungsgewalt des Menschen dispensiert. Dies wird in der folgenden Passage besonders deutlich: Aber dieses Uneigentliche ist nicht ein Mangel des Eigentlichen, sondern die Vollendung seiner, insofern es das Ausbleiben des Seins selbst ist und diesem darin liegt, daß es, dieses Ausbleiben, völlig es selbst bleibe. ²⁸⁴

Demnach muss auch die erreichte Relevanzexpansion des uneigentlichen Nihilismus als Geschick gefasst werden. In diesem verfügt das Sein, sich nicht nur in sein Ausbleiben zu überlassen, sondern dieses in unerkannter Isolation und konturierter Schärfe für sich zu behalten. Weil sich das Wesen des eigentlichen Nihilismus, der Entzug des Seins, in die von seinem Un-Wesen geleitete Geschichte entlassen hat, droht die Wesenseinheit beider auseinandergerissen zu werden:

 Heidegger, N II, S. 325.  Vgl. Heidegger, N II, S. 325 f.  Heidegger, N II, S. 325. [Kursivsetzungen von mir, J.K.].

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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Das volle Wesen des Nihilismus ist die ursprüngliche Einheit seines Eigentlichen und seines Uneigentlichen. Wenn daher innerhalb der Metaphysik der Nihilismus erfahren und auf den Begriff gebracht wird, dann kann das metaphysische Denken nur auf das Uneigentliche des Nihilismus treffen, dies jedoch auch nur so, daß dieses Uneigentliche nicht als ein solches erfahren, sondern aus dem Verfahren der Metaphysik erklärt wird. […] Nihilismus – daß es mit dem Sein selbst nichts ist – bedeutet für das metaphysische Denken stets und nur: mit dem Seienden als solchem ist es nichts.²⁸⁵

Die verschiedenen Ausprägungsweisen dieser Wesenseinheit liegen nach Heidegger nicht in der menschlichen Hand. Also kann die Wesensfülle des Nihilismus auch nicht als destruktiv und unmoralisch beschrieben werden. Als Ausbleiben des Seins in seiner Ankunft wurzelt er im Wesen des Menschen und kann nur als Oberflächenphänomen zur „Sache des Menschen“²⁸⁶ werden. Daraus zieht Heidegger eine wichtige Schlussfolgerung. Der Versuch, die sekundären Ableitungserscheinungen der Aussichtlosigkeit, Furchtbarkeit und Sinnwidrigkeit zu beschwichtigen oder rückgängig zu machen, sucht die aus dem bisherigen Auslassen des Seins entspringende Zerstörung wieder als Wirkungsfeld des Menschen zu okkupieren. Somit verfängt sie sich noch tiefer in der nihilistischen Subjektivität.²⁸⁷ In dem Gefüge von Aufstieg und Verfall manifestiert sich nicht das unbeschwerte Spiel des Weltkindes. Stattdessen kommt ein menschlicher Ordnungswille zum Austrag. Obwohl dieser sich frei und regulierend wähnt, gibt er in Wirklichkeit nur die Abwägungen und Befehle des Willens zur Macht weiter. Der Hauptvorwurf Heideggers gegen Nietzsche verdichtet sich darin, dass die Hypostasierung des Nihilismus zur geschichtlichen Überwindungsaufgabe die Relevanz und Unumgänglichkeit des Nihilismus umso mehr verkennt, je drastischer sie diese heraufbeschwört. Heidegger weist indes mit Nachdruck darauf hin, dass seine Kritik an der Überwindung des Nihilismus nicht als zynische Selbstberuhigung oder als fatalistische Hinnahme der unbezweifelbar existierenden, nihilistischen Erfahrungen unsagbaren Leides betrachtet werden dürfe. In der Adaption eines Nachlass-Zitates Nietzsches legt Heidegger sich den Einwand vor, dass im Angesicht der „Ver-nichts-ung alles Seienden“²⁸⁸ die eigene

 Heidegger, N II, S. 326.  Vgl. Heidegger, N II, S. 327.  Vgl. Heidegger, N II, S. 328.  Heidegger, N II, S. 337.Vgl. Nietzsche, NF 1887– 1888, 11 [123], KSA 13, S. 59 f.: „Der Nihilism ist nicht nur eine Betrachtsamkeit über das ‚Umsonst!‘, und nicht nur der Glaube, daß alles werth ist, zugrunde zu gehen: er legt Hand an, er richtet zugrunde … Dies ist, wenn man will, unlogisch: aber der Nihilist glaubt nicht an die Nöthigung, logisch zu sein … Er ist der Zustand starker Geister u. Willen: u solchen ist es nicht möglich, bei dem Nein ‚des Urtheils‘ stehen zu bleiben: – das Nein

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Wesensermittlung als „schemenhaft“²⁸⁹ und als „Ausflucht einer verzweifelten Abstraktion“²⁹⁰ beurteilt werden müsste. Dem hält Heidegger Folgendes entgegen: Die intendierte Überwindung des Nihilismus trifft diesen nur noch in der destruktiven Erscheinung seines uneigentlichen Momentes an, die im Wertdenken verfestigt wird. Erst in der Einsicht in die Unüberwindbarkeit des Nihilismus kann nach Heidegger die fruchtbringende Überwindung der Überwindung gewährt werden. Das Überwindenwollen ist selbst noch ein Produkt der aus dem uneigentlichen Nihilismus entspringenden Überwältigungslogik, deren Prolongation im und durch den Willen zur Macht dekretiert wird.²⁹¹ Es bestätigt die Seinsverlassenheit in dem Versuch, das Seiende gegen den Nihilismus zu schützen, diesen abzuwehren oder einen neuen Sinn zu stiften.²⁹² Das Wesen des Nihilismus kann nicht überwunden werden, weil in seinem unerfüllten Ausstehen der Bezug zwischen Sein und Mensch gegründet und aufrechterhalten wird. Demnach will Heidegger seine Ergründung des Wesens nicht als Affirmation der tatsächlich geschehenden Zerstörung verstanden wissen.²⁹³ Wenn allerdings nicht jeglicher Kontakt zur Sphäre des Faktischen verloren gehen soll, muss innerhalb des Nihilismus die notwendige Bedingung für die waltende Negativität gefunden werden.Weder kann der eigentliche Nihilismus für das Gute und Rettende einstehen noch der uneigentliche Nihilismus für das Gefährliche und Bösartige.²⁹⁴ Im „Un“ des uneigentlichen Nihilismus bezeugt sich jedoch der Erscheinungskeim des Gefährlichen, da das Sein in der Entäußerung in die Geschichte seines Versprechens den Überschritt zur Einheitsherrschaft des Seienden ermöglichte und zuließ. Daraus entwickelt Heidegger die entscheidende Konsequenz, dass die Intention, den eigentlichen, wahren Nihilismus zu beseitigen, sich gegen das Sein selbst richten müsste, das nichts anderes als das Ausbleiben ist. Weil das Sein im Da-sein das Wesen des Menschen eröffnet, müsste dieser sich selbst aufheben.²⁹⁵ Obwohl das Denken in das Sein eingebunden ist und dieses somit

der That kommt aus ihrer Natur. Der Ver-Nichtsung durch das Urteil sekundirt die Ver-Nichtung durch die Hand.“ Vgl. Nietzsche, NF November 1887–März 1888, KGW VIII, 2, 11 [123], S. 301.  Heidegger, N II, S. 337.  Heidegger, N II, S. 337.  Vgl. Heidegger, N II, S. 352. Vgl. zum Topos einer von Seiten des Seins zugesprochenen Verwindung des Nihilismus: Wolfgang Müller-Lauter, Über den Nihilismus und die Möglichkeit seiner Überwindung, in: Hans-Helmuth Gander (Hrsg.), „Verwechselt mich vor allem nicht!“ Heidegger und Nietzsche, S. 43 – 71, bes. S. 68 – 71.  Heidegger, N II, S. 348.  Vgl. Heidegger, N II, S. 330.  Vgl. Heidegger, N II, S. 329.  Vgl. Heidegger, N II, S. 330.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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nicht angreifen kann, droht das Sein auch diese „Absurdität“²⁹⁶ zu erlauben, indem es das Denken in die Abkehr eingehen lässt. Auf diese Weise vollzöge sich die äußerste Zumutung und Ferne des Seins. Heidegger gesteht dem menschlichen Denken allerdings zu, zumindest das Auslassen des Ausbleibens zu revozieren und im vom Sein freigegebenen Schritt zurück ²⁹⁷ vor dem uneigentlichen Nihilismus zum Stehen zu kommen: Wie aber, wenn die Überwindung gar nicht unmittelbar gegen das Ausbleiben des Seins selbst anginge und es unterließe, sich am Sein selbst zu vermessen, indes gegen die Auslassung des Ausbleibens anginge? Diese Auslassung in der Gestalt der Metaphysik ist das Werk des menschlichen Denkens.²⁹⁸

Die Auslassung geschieht innerhalb der Gesamtformation der Metaphysik. Das Auslassen erscheint an der soeben angeführten, neuralgischen Stelle nicht als „notwendiges Verhängnis des Abendlandes“²⁹⁹ oder als Geschick des Seins. Der kollektive Akt des Auslassens bezeichnet ein grundlegendes Versäumnis einer Gedankengeschichte, in der sich die Denker zwar wechselseitig beeinflussen, aber von sich aus das hervorstechende Wahrheitsgepräge eines Zeitalters bedenken. Da Heidegger jedoch den uneigentlichen Nihilismus bereits an das in sich bleibende Ausbleiben des Seins angebunden hat, überrascht es wenig, dass er den Spielraum menschlicher Einflussnahme im direkten Anschluss einschränkt. Im Mikrokosmos weniger Seiten lassen sich die entscheidenden Stationen des seit 1927 eingeschlagenen Denkweges nachvollziehen. So entwickelt Heidegger unmittelbar darauf ein dem Concursus dei nachgebildetes Modell einer Kooperation zwischen Sein und Mensch, die dessen Auslassen gemeinsam befördern: Indes hält das Sein nicht nur mit seiner Unverborgenheit an sich und behält diese gleichsam für sich, sondern, gemäß dem wesenhaften Bezug des Seins selbst zum Wesen des Menschen bestimmt das Sein selbst zugleich mit, daß die Auslassung seiner im Denken des Menschen und durch dieses geschieht. Auch eine Überwindung dieses Auslassens könnte von Seiten des Menschen nur mittelbar geschehen, nämlich auf die Weise, daß zuvor das Sein selbst unmittelbar dem Wesen des Menschen zumutet, erst einmal das Ausbleiben der Unverbor-

 Heidegger, N II, S. 331.  Vgl. Heidegger, N II, S. 335: „Das Denken verläßt die bloße ‚Metaphysik der Metaphysik‘, indem es den Schritt zurück vollzieht, zurück aus dem Auslassen des Seins in dessen Ausbleiben.“ Vgl. zum Verhältnis zwischen dem Schritt zurück und der Husserlschen Epoché: Tobias Keiling, Seinsgeschichte und phänomenologischer Realismus. Eine Interpretation und Kritik der Spätphilosophie Heideggers, 1. Aufl., Tübingen 2015, S. 191– 207; bes. S. 191– 199.  Heidegger, N II, S. 331.  Heidegger, Überwindung der Metaphysik, S. 75.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

genheit des Seins als solchen als eine Ankunft des Seins selbst zu erfahren und das so Erfahrene zu bedenken.³⁰⁰

Um das Auslassen, das Heidegger als „Geheimnis des Versprechens“³⁰¹ markiert, rückgängig zu machen, muss sich das Denken in die Ankunft des Ausbleibens einlassen und sich dem Rätsel des vorenthaltenden Versprechens aussetzen. Bedingung dafür ist, dass das Sein sich zuvor an das Denken verschenkt und diesem die Weisung auferlegt hat, Es selbst als entzogenes Maß und als Anforderungshöhe vernehmen zu können. Weil die Metaphysik als „Geschichte des Geheimnisses des Versprechens des Seins selbst“³⁰² den einzigen Zugang zu dem Geschehenssinn der Auslassung darstellt, handelt es sich nicht um eine verstiegene Mystik. Zudem ist zu beachten, dass die Einführung des Seins als Geheimnis Widerstand gegen die lückenlose Allerschließung und den ubiquitären Ableitungsanspruch des Willens zur Macht leistet. Nachdem Heidegger das Auslassen zuerst als zusammenhängenden Nexus menschlicher Entscheidungen expliziert und alsdann die kooperative Zulassung des Seins ergänzt hat, geht er in einem dritten Schritt darüber hinaus. Heidegger schließt das Auslassen mit dem Willen zur Macht zusammen. Dies gipfelt in einer Permissionsfigur: Das Sein gibt sich selbst in den Willen zur Macht frei. In dessen Gestalt veranlasst das Sein die Verabsolutierung des Seienden in der Inversion der ontologischen Differenz: Durch seinen Entzug, der gleichwohl der Bezug zum Seienden bleibt, als welches ‚das Sein‘ erscheint, läßt sich das Sein selbst in den Willen zur Macht los, als welcher das Seiende vor und über allem Sein zu walten scheint. In diesem Walten und Scheinen des hinsichtlich seiner Wahrheit verdeckten Seins west das Ausbleiben des Seins in der Weise, daß es die äußerste Auslassung seiner selbst zuläßt und so dem Andrang des bloß Wirklichen – der vielberufenen Realitäten – den Vorschub leistet, welches Wirkliche sich als das aufspreizt, was ist, indem es sich zugleich das Maß anmaßt für die Entscheidung, daß nur das Wirksame – das Spürbare und der Eindruck, das Erlebte und der Ausdruck, der Nutzen und der Erfolg – als das Seiende gelten sollen.³⁰³

Das Ausbleiben verbirgt sich in diesem Loslassen und nimmt im Willen zur Macht Form an. In der monolithisch erlebten Wirklichkeit, die sich aus dem Willen zur

 Heidegger, N II, S. 332.  Heidegger, N II, S. 334.  Heidegger, N II, S. 334.  Heidegger, N II, S. 340. Vgl. Heidegger, N II, S. 343: „Die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität ist die Zulassung des Seins selbst, das im Ausbleiben seiner Wahrheit die Auslassung dieses Ausbleibens veranlaßt.“

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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Macht speist und von ihm in ungebrochener Fortschrittslogik arrangiert wird, besiegelt sich das Vergessen des Auslassens.³⁰⁴ Durch diese Zumutung verhüllt sich die Wesenseinheit des Nihilismus. Das Sein erteilt in seinem äußersten Entzug in die Seinsverlassenheit dem uneigentlichen Nihilismus den Vorrang. In der Widerfahrnis einer vollkommenen Losgebundenheit des Seins wird der Nihilismus einem wachsamen Denken zum Rätsel. Dieses Enigma könnte die „anfängliche Anmutung“³⁰⁵ des Seins vor dessen Habhaftigkeit in den Netzen des Willens zur Macht ankündigen. Diese stille Möglichkeit der Besinnung wird mit dem Aufstand des Menschen in das „Sichwollen des Willens“³⁰⁶ konfrontiert. Die Selbsteinhegung in das Willenszentrum beschreibt Heidegger – wie schon in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik – als elementaren Wesenszug innerhalb der Beziehung zwischen der Subiectität des Willens zum Willen und dem ihn repräsentierenden Einzelnen: Überall hat sich das Seiende als solches in eine Unverborgenheit gebracht, die es als das Sich-auf-sich-stellende und Sich-selbst-vor-sich-bringende erscheinen läßt. Dies ist der Grundzug der Subiectität. Das Seiende als die Subiectität läßt die Wahrheit des Seins selbst in einer entschiedenen Weise aus, insofern die Subiectität aus dem ihr eigenen Sicherungswillen die Wahrheit des Seienden als die Gewißheit setzt. Die Subiectität ist kein Gemächte des Menschen, sondern der Mensch sichert sich als der Seiende, der dem Seienden als solchen gemäß ist, insofern er sich als das Ich- und Wir-Subjekt will, sich sich vor- und so selbst sich zu-stellt.³⁰⁷

Es ist zu berücksichtigen, dass Heidegger auf die Beschreibung des Willens als personale Autoaffirmationsstruktur zurückgreift, sie aber nach Maßgabe einer allausgreifenden Selbstsucht radikalisiert. In seiner Auslegung des platonischen Höhlengleichnisses hatte Heidegger betont, dass es die Idee des Guten ist, die den νοῦς und die ἀλήθεια, das Erkennende und das unverhüllt Vernehmbare, unter ein Joch zwingt.³⁰⁸ Auf diese Weise wird der Wandel der Unverborgenheit zur Richtigkeit ermöglicht. Im Falle der Subiecität ist das Sichwollen des Ichs auf die Unterjochung des Seienden und auf die planmäßige Bestandsicherung angewiesen. Nur so kann die Gewissheit aufrechterhalten werden, dem Willenswesen zuzugehören. Weil der Wille in der Permanenz seiner Leistungsschau den eigenen Ursprung verschleiert, fußt die vermeintlich unerschütterliche Sicherheit des Menschen auf dem dunklen Grunde einer tiefen Orientierungslosigkeit. Darauf

    

Vgl. Heidegger, N II, S. 342. Heidegger, N II, S. 342. Vgl. Heidegger, N II, S. 346. Heidegger, N II, S. 346. Vgl. Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Heidegger, Wegmarken, S. 230.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

aufbauend, benennt Heidegger den Menschen auch in der Seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus als ausgezeichneten Ort, an dem die Abgründigkeit des Seienden im Ganzen thematisch und „auf das Spiel gesetzt“³⁰⁹ wird. In dieser Auffassung Heideggers fügen sich zwei Gedanken zusammen: Zum einen speist sie sich aus Nietzsches Definition des Menschen als „noch nicht festgestelltes Thier“.³¹⁰ Zum anderen greift Heidegger auf Heraklits Weltspiel zurück, das den Menschen stets aufs Neue ins Ungeordnete, ins Chaos wirft. Als exzellente Anschlussstelle bietet sich für Heidegger Nietzsches Gedichts „An Goethe“³¹¹ an: An Goethe Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichnis! Gott, der Verfängliche, Ist Dichter-Erschleichnis… Welt-Rad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel: Not – nennt‘s der Grollende, Der Narr nennt‘s – Spiel. Welt-Spiel, das herrische, Mischt Sein und Schein: – Das Ewig-Närrische Mischt uns – hinein….³¹²

Auch wenn Heidegger auf die Ähnlichkeit mit früheren Interpretationen hinweist, die er z. B. in seiner Auslegung der II. Unzeitgemäßen Betrachtung gab, so liest er das Gedicht nun von vornherein als poetische Allegorie der metaphysischen Kerntitel. Es ist zu konzedieren, dass seine Exegese eine große Plausibilität aufweist. Das Welt-Rad charakterisiert nach Heidegger die ewige Wiederkehr, in deren Kreisgang niemals eine unvergängliche Konzentration auf ein Gesamtziel gewährt wird.³¹³ Das Welt-Spiel dechiffriert Heidegger als Umschreibung des Willens zur Macht.³¹⁴ Es konstituiert sich in der unausgesetzten Zusammenbringung von Sein (im Sinne der Bestandsicherung) und Schein (die Kunst als ver-

     

Heidegger, N II, S. 344. Vgl. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Nr. 62, KSA 5, S. 81. Heidegger, N II, S. 344. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 639. Heidegger, N II, S. 344. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 639. Vgl. Heidegger, N II, S. 345. Vgl. Heidegger, N II, S. 345.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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klärende Überhöhung), die sich keineswegs in ununterscheidbar-regelloser Willkür überlagern. Weder erscheint die wohlgefügte Weltordnung als „hingeschütteter Kehrichthaufen“³¹⁵ noch als aus dem „Mischtrank“³¹⁶ des Kosmos sich ergießend. Während der Wille zur Macht als Setzungsinstanz von Festigkeit und Verwandlungsaffinität amtiert, versteht Heidegger die ewige Wiederkehr des Gleichen als diejenige „ewig-närrische“³¹⁷ Mischungsgewalt, die alles Seiende und somit auch den Menschen als inkarnierte Gestalt voluntativ gegründeter Macht in die „herrische“³¹⁸ Natur des Willens einpasst. Seine eigene Interpretationsabsicht introjizierend, gesteht Heidegger Nietzsche nicht mehr zu, den Spielcharakter aus der Dike erfahren zu haben. Heidegger formuliert in der Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus explizit den Vorwurf, Nietzsche könne das Spiel nur aus der Einheit des Willens zur Macht und der ewigen Wiederkehr denken.³¹⁹ Das Welt-Spiel fungiert nun als Kraftzentrum, in dem der Wille zum Willen untertaucht und emporscheint. Unausgesetzt in diesem pulsierend, bringt er die nur noch im wollenden Wirken und vor-stellenden Denken erfahrbare Unverborgenheit des auf sich gestellten Sei-

 Vgl. Heraklit, DK 22 B 124, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 288: „εἰκῆ κεχυμένων ὁ κάλλιστος, φησὶν Ἡράκλειτος, [ὁ] κόσμος.“  Heraklit, DK 22 B 125, in: Mansfeld/Primavesi (Hrsg.), Die Vorsokratiker, S. 270: „καὶ ὁ κυκεὼν διίσταται κινούμενος.“ Mansfeld und Primavesi wählen die Übersetzung: „Auch der Kykeon [gerührter Mischtrank] spaltet sich [in seine Bestandteile], wenn er nicht umgerührt wird.“  Vgl. Heidegger, N II, S. 345.  Heidegger, N II, S. 345.  Vgl. Heidegger, N II, S. 345. Im Kontrast zu Heideggers willenssubjektivistisch-metaphysischer Lesart des von Nietzsche konzipierten Welt-Spiels hat Eugen Fink auf die Möglichkeit einer vormetaphysischen, an Heraklit anschließenden Verortung des Nietzscheschen Spielentwurfes aufmerksam gemacht. In „Nietzsches Gedanken von ‚Spiel‘“ finde sich eine „nicht-metaphysische Ursprünglichkeit kosmologischer Philosophie“ (vgl. Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 187). In der „geheimnisvollen Dimension des Spiels, seiner Artisten-Metaphysik“ (Fink, Nietzsches Philosophie, S. 187), werde der Quell einer sprudelnden Kreativität, des ernsten Frohsinns und der bewussten Leichtigkeit sichtbar, sodass „der Mensch […] die ungeheure Möglichkeit [hat], den Schein als Schein zu verstehen und von seinen eigenen Spielen her in das große Spiel der Welt einzutauchen, in solchem Versinken sich als den Mitspieler des kosmischen Spiels zu wissen“ (Fink, Nietzsches Philosophie, S. 188). In Heideggers Auslegung des Gedichts An Goethe ist es der Wille zum Willen, der in das „große Spiel der Welt“ eintaucht und dabei den Menschen zum bestandsichernden Mitspielen verpflichtet. Demgegenüber ist es in Finks Deutungsperspektive der Mensch, der sich freiwillig und als gleichberechtigt partizipierender Mitspieler in das ihn umgebende Kunstwerk des Kosmos einzulassen vermag. Dergestalt kann der Mensch die im Kunstschein mit sich selbst spielende Welt im Ganzen in ihrem rätselhaft-illusionären Charakter gutheißen und segnen. Vgl. die weiteren, renommierten Publikationen Finks zur Thematik des Spiels: Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960; Eugen Fink, Oase des Glücks. Gedanken zu einer Ontologie des Spiels, Freiburg / München 1957.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

enden aktiv hervor.³²⁰ Entscheidend ist, dass Heidegger die Zusammengehörigkeit von ewiger Wiederkehr und Willen zur Macht, von existentia und essentia, im Willen zum Willen rückgründet. Damit wird der Wille zum Willen endgültig als innere Wahrheit und Agens des Machtwillens zementiert. Er löst die ewige Wiederkehr als „höchste Bestimmung des Seins“³²¹ ab: Die Einheit von Wille zur Macht und ewiger Wiederkehr besagt: Der Wille zur Macht ist in Wahrheit der Wille zum Willen, in welcher Bestimmung die Metaphysik der Subiectität den Gipfel ihrer Entfaltung, d. h. die Vollendung erreicht. […] In dem bald deutlichen, bald undeutlichen Walten des metaphysisch gedachten Weltspiels enthüllt sich das Seiende als solches bald als der Wille zum Willen, bald verbirgt es sich wieder.³²²

Des Weiteren wird erneut transparent, dass Heidegger das Verhältnisgefüge zwischen dem Willen zur Macht und dem Willen zum Willen mit Hilfe der Differenzierung zwischen der stationären Ausgestaltung der Seiendheit und der sich durchhaltenden, neuzeitlichen Kernprägung des Seins als Subjektivität konkretisiert. Diese verdankt sich wiederum dem äußersten Entzug des Seins. Dies kann besonders anhand des folgenden Zitats untermauert werden: Wenn aber das Sein selbst in seinen fernsten Vorenthalt sich entzieht, steht das Seiende als solches, losgelassen in die ausschließliche Maßgabe für ‚das Sein‘, in das Ganze seiner Herrschaft auf. Das Seiende als solches erscheint als der Wille zur Macht, worin das Sein als Wille seine Subiectität vollendet.³²³

Der „fernste Vorenthalt“³²⁴ des Seins ist nicht mehr nur als schwerlich ausweisbarer, bezugseröffnender Entzug fassbar. In der Ausformung des Willens zum Willen empfängt der Vorenthalt eine inhaltliche Entsprechung. Der Wille zum Willen integriert den Menschen in das Offene des Welt-Spiels und gibt ihm das vernehmbare Seiende vor, das sich ausschließlich über den Willen zu definieren scheint.Wie schon in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik, nimmt Heidegger eine Kontextualisierung und Relativierung Nietzsches vor. Heidegger akzentuiert den Willen zur Macht als Durchgangsstation und Stützpunkt des über ihn hinweggehenden, sich zum Unterstand (sub-iectum) alles Seienden aufschwingenden Willens zum Willen.

    

Vgl. Heidegger, N II, S. 346. Vgl. Heidegger, N I, S. 18. Heidegger, N II, S. 346. Heidegger, N II, S. 347. Heidegger, N II, S. 347.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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Heideggers Fundamentalthese lautet also, dass sich der äußerste Entzug der Wahrheit des Seins in der Metaphysik der Subiectität bezeugt. Diese Auffassung sucht Heidegger in der Seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus auch anhand jenes Textes zu veranschaulichen, den er in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst noch als herausragendes Dokument einer gelungenen Herausdrehung aus dem Platonismus gewürdigt hatte. Nietzsches in der Götzen-Dämmerung dargelegte, sechsstufige Einsturzgeschichte Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde ³²⁵ wird von Heidegger nun zum Gipfel der Metaphysik gradiert. Die Metaphysik steuere sich durch ihr eigenes Auslassen des Seins unwissentlich in eine unüberwindbare Position hinein, in der sie sich gegenüber dem Ausbleiben immunisiere.³²⁶ In der unangreifbaren, Sein und Schein zusammenschließenden Weltbejahung rechtfertige sie die Verabschiedung einer metaphysischen Letztbegründung. Schließlich weist die Metaphysik des Willens zur Macht laut Heidegger sogar die Frage nach der Seiendheit als verfehlt, überwunden und naiv ab. Weil die Seiendheit indes den privilegierten Ort repräsentiert, in dem die größte Nähe und die größte Ferne des Ausbleiben des Seins zusammentreffen, werden der eigentliche Nihilismus und der uneigentliche Nihilismus einander entfremdet. Am Ende der Metaphysik kann der uneigentliche Nihilismus nicht mehr in der ihn konstituierenden Wesenseinheit mit der eigentlichen Gestalt registriert werden. Der nicht erkannte Übergang in den uneigentlichen Nihilismus, der sich in der Verschenkung des Seins an das es auslassende Denken ereignet, artikuliert sich allein über die empirischen Folgen. Das Wertdenken hat jede vertikale Anbindbarkeit unterbunden und lässt das Nichts nur noch innerhalb des Seienden zu, um es als Legitimation einer konterkarierenden Wertstiftung zu benutzen. Die vermeintlichen Konsequenzen des Nihilismus werden jedoch nie als ontische Folgen durchschaut. Sie scheinen die Ganzheit des Nihilismus abzudecken, dem daher nur destruktive Züge etikettiert werden.³²⁷ Deswegen findet der Kampf um und gegen den Nihilismus nicht einmal mehr im Felde eines Gewahrwerdens der potenziert vergessenen, uneigentlichen Form statt. Er kann sogar erst auf einer dritten Ebene ansetzen. Der Streit um die Überwindung des Nihilismus geht indirekt gegen die lichtende Verbergung des Seins vor, indem er diese in der äußersten Entfernung belässt. Weil er in dem Versuch, den Nihilismus aus eigener Kraft zu revidieren, nicht einmal die Schickung des Seins als Wille zu berücksichtigen vermag, muss er selbst als nihilis-

 Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 80 – 81.  Vgl. Heidegger, N II, S. 348.  Vgl. Heidegger, N II, S. 348.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

tisch, d. h. als die Wirklichkeit verleugnend, gekennzeichnet werden.³²⁸ Nichtsdestotrotz wird die Selbstverortung und analytische Durchdringung in der Gestalt der Historie zum Kernziel des Zeitalters und erscheint gleichzeitig als einziges Antidot gegen den Nihilismus.³²⁹ Heidegger kritisiert, dass diese Aufklärung das Rätselhafte nicht tilgt oder das Geheimnisvolle beleuchtet, sondern von vornherein nicht mehr an dieses heranreicht. Vielmehr konsolidiert die Historie in ihrer Anordnung von Tatsachenzusammenhängen die Verweigerung des Seins in seinem Unwesen. ³³⁰ Aus diesem Grund wird auch erklärlich, weswegen Heidegger in seinen Bremer Vorträgen – unterstrichen von Hölderlins Patmos-Versen „Wo aber Gefahr ist / Wächst das Rettende auch“ – den Durchgang durch die sich aus dem Gestell generierende Verwüstung als Entdeckung eines rettenden Anspruches aufruft.³³¹ In einer sowohl an Schopenhauers Metaphern „Rad des Ixion“³³² und „Zuchthausarbeit des Wollens“³³³ als auch an Ernst Jüngers Der Arbeiter gemahnenden Formulierung spricht Heidegger vom „Arbeitsgang des Willens zum Willen“.³³⁴ Auf diese Weise wendet Heidegger die Schopenhauersche Sichtbarmachung der Willenstragik gegen Nietzsches Lobpreisung der Selbststeigerung. Heidegger hebt wie in dem Aufsatz Überwindung der Metaphysik hervor, dass der in sich selbst kreisende, auf die Übermächtigung der eigenen Macht kalibrierte Wille das Freiheitsvermögen des Einzelnen übergreift. Zugleich belässt der Wille das Individuum in dem Irrglauben, aus freiem Ermessen zu handeln. Die desillusionierte Bewusstwerdung der eigenen Unfreiheit kann den Vorgang nur ablehnen, indem sie ihn als mechanisch-entfremdeten kritisiert und somit auf der Oberfläche des Geschehens verharrt. Dabei verkennt die Kritik nach Heidegger

 Vgl. Heidegger, N II, S. 348. Es sind diese die menschliche Freiheit und mit ihr die Möglichkeit grundsätzlicher Veränderungsfähigkeit weitgehend einschränkenden Überlegungen Heideggers, die Jürgen Habermas zu dem Urteil motiviert haben, Heidegger „löst überhaupt seine Handlungen und Aussagen von sich als empirischer Person ab und attribuiert sie einem nicht zu verantwortenden Schicksal.“ Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 185.  Vgl. Heidegger, N II, S. 349 – 350.  Vgl. Heidegger, N II, S. 350.  Vgl. Heidegger, Die Technik und die Kehre, S. 28 – 29. Vgl. zum Motiv eines vollständigen Durchgangs durch die Negativität: Emil Angehrn, Kritik der Metaphysik. Heidegger Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 226 – 236, bes. S. 233 – 234.  Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, §38, S. 231.  Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, §38, S. 231.  Heidegger, N II, S. 350.

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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notwendigerweise das „seinsgeschichtliche Wesen“³³⁵ des Nihilismus. Dieses kann nicht materiell-lebensweltlich erfasst werden, da es immer „etwas Geistiges“³³⁶ bleibt. Im rekonstruierenden, seinsgeschichtlichen Denken erschließt sich das Sein in der Einheit von Lichtung, Verbergung, Entbergung und Verweigerung. Hier eröffnet sich ein Hoffnungsschimmer, der Heidegger von einer Totalisierung des Nihilismus-Verdachts und der Einebnung von Differenzen abhält.³³⁷

3.2.4 Das Sein als das Un-ab-lässige und die Not der Notlosigkeit Das Denken der Seinsgeschichte privilegiert und entdeckt die Metaphysik als Bewahrungsort des Geheimnisses, in dem sich eine zweifache Nötigung von Seiten des Seins zuspricht: Zum einen markiert Heidegger das Sein als das „Un-ab-lässige“.³³⁸ Das Sein hebt seine ausbleibende Ankunft niemals auf. Andernfalls existierte keine Welt, die sich für das Menschenwesen freigäbe. Zum anderen erfordert das Sein in seinem sich verbergenden Versprechen in der Ankunft eine auffangende Unterkunft, durch welche es als Brauchendes und seinerseits Bedürftiges erscheint. Im Ausgang von dieser zentralen Differenzierung rekurriert Heidegger auf einen der wichtigsten Topoi seines Denkweges der 1930- und 40erJahre: Die Not der Notlosigkeit. ³³⁹ In der Konzentration auf das geläufige und scheinbar unausweichlich vorgegebene Seiende wird der Anschein erweckt, vom Sein gehe keine Not im Sinne der doppelten Nötigung aus. Dergestalt entzündet sich ein Umschlag im Begriff der Not. Die in ihrem abgeleiteten Charakter ver Heidegger, N II, S. 350.  Heidegger, N II, S. 350 f.  Vgl. Heidegger, Protokoll zu einem Seminar über den Vortrag „Zeit und Sein“, GA 14, S. 37– 38: „Indes kommt es für das rechte Verstehen darauf an, einzusehen, daß das genannte bisherige Nichtdenken kein Versäumnis ist, sondern als Folge des Sichverbergens des Seins zu denken ist. Die Verbergung des Seins gehört als deren Privation zur Lichtung des Seins. Die Seinsvergessenheit, die das Wesen der Metaphysik ausmacht und die zum Anstoß für ‚Sein und Zeit‘ wurde, gehört zum Wesen des Seins selbst. Damit stellt sich für ein Denken an das Sein die Aufgabe, Sein so zu denken, daß die Vergessenheit ihm wesentlich zugehört. Das Denken, das mit ‚Sein und Zeit‘ anhebt, ist also zum einen das Erwachen aus der Seinsvergessenheit – wobei Erwachen als ein Sicherinnern an etwas, was noch nie gedacht wurde, verstanden werden muß –, als dieses Erwachen aber zum anderen kein Tilgen der Seinsvergessenheit, sondern ein Sichstellen in sie und ein Stehen in ihr. So ist das Erwachen aus der Seinsvergessenheit zu ihr das Entwachen in das Ereignis. In dem Denken an das Sein selbst, an das Ereignis, wird die Seinsvergessenheit erst als solche erfahrbar.“  Heidegger, N II, S. 354. Vgl. Heidegger, Zeit und Sein, in: Heidegger, Zur Sache des Denkens, GA 14, S. 28.  Vgl. Heidegger, N II, S. 355.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

hüllte Notlosigkeit des Seienden wirkt auf das Sein zurück und manövriert dieses in das Stadium der äußersten Not.³⁴⁰ Das Sein rückt als Nötigendes in den Hintergrund. Auf diese Weise vergrößert sich wiederum die Virulenz der Not innerhalb des Seienden. Nunmehr droht das Sein, die eigene Ankunft in seiner Unterkunft niemals zu bewilligen. Daraufhin gerät auch das Wesen des Menschen in die Sphäre der größten Gefahr.³⁴¹ In diesem Kontext parallelisiert Heidegger die „unbedingte Vormacht des vollständig entfalteten Unwesens im Wesen des Nihilismus“³⁴² mit der Not der Notlosigkeit. Demgegenüber beschreibt er die aus dem Sein selbst quellende „Not des unablässigen Brauchens der Unterkunft“³⁴³, die der selbstgewisse, auf sich gestellte Mensch als Brauchend-Gebrauchter nicht mehr vernimmt, als den eigentlichen Nihilismus.³⁴⁴ Wenn man sich vor Augen führt, dass Heidegger den Text Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges verfasste, wirkt die Charakterisierung des Weltzustandes als wesenhaft „notlos“³⁴⁵ angesichts des namenlosen Leidens, der inkommensurablen Verzweiflung und der globalen „Zerrüttung des Wollens und seiner Ohnmacht“³⁴⁶ indolent und ignorant, ja zynisch. Diese befremdliche Diagnose resultiert aus der aufgefächerten Aufstufung, in der Heidegger die Not primär aus dem Unablässigen des sein eigenes Auslassen veranlassenden Seins begreift. Erst in zweiter Linie intoniert Heidegger die Not in der konventionellen Verständnisweise der Untergangsanbahnung, der existenziellen Krisis und der wesensangreifenden Entbehrung. Der Weltzustand ist notlos, insofern er die eigentliche Not (die Nötigung des Seins) verdeckt.³⁴⁷ Da der Mensch diese nicht kennt, kann er sich nicht des Sachverhalts bewusst werden,

 Vgl. Heidegger, N II, S. 357.  Vgl. Heidegger, N II, S. 356.  Heidegger, N II, S. 355.  Heidegger, N II, S. 355.  Vgl. Heidegger, N II, S. 355: „Die Not des Seins selbst, als welche das Wesen des Nihilismus geschichtlich ist und sein Eigentliches – vielleicht – zur Ankunft bringt, ist offenkundig keine Not von der Art, daß der Mensch ihr begegnet, indem er ihr steuert – und wehrt.“  Heidegger, N II, S. 355.  Heidegger, N II, S. 355.  Vgl. Heidegger, N II, S. 355. Vgl. zu Heideggers Geschichtsphilosophie: Emil Angehrn, Kritik der Metaphysik. Heideggers Auseinandersetzung mit der abendländischen Tradition, in: Dieter Thomä (Hrsg.), Heidegger-Handbuch, S. 226 – 236; bes. S. 233: „Der Verlauf der von Heidegger nachgezeichneten Geschichte folgt einem klassischen geschichtsphilosophischen Modell: Im Rahmen einer umfassenden Dreiphasigkeit wird, nach einem noch unverdorbenen Ursprung, die abendländische Geschichte als Verfallsprozess gesehen, der in der Gegenwart in eine Phase der Entscheidung, der möglichen Umkehrung mündet.“

3.2 Die geheime Entzugsdimension der Metaphysik

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dass alle Kontrollmechanismen und Regulative in ihrem Angesicht versagen. Die im Sein selbst aufkeimende Notlosigkeit ist die in der seinsgeschichtlichen Moderne waltende Not, die sich gegenüber sich selbst verschließt. Innerhalb dieses Geschehens geht der Mensch der höchsten Not entgegen und wird gezwungen, sein abgekapseltes und gesichertes Wesen auf das Spiel zu setzen.³⁴⁸ In gegenwendiger Richtung wiederholt er auf diese Weise das Weltspiel. Gleichwohl ergibt sich hier der Unterschied, dass der Mensch nicht mehr als selbstgewisses, höchstes Seiendes aus dem Weltspiel herauszuragen vermag. Im Gegensatz dazu, wird das menschliche Dasein durch das in die höchste Not zurückgeworfene Sein in das Spiel hineingehoben. Um die daraus erwachsende, tragische Bedrohung des Menschenwesens zu erfahren, ist es für Heidegger unumgänglich, sich auf die „äußerste Not des Seins“³⁴⁹ zu besinnen. Nach Heidegger muss der „äußersten Gefährdung des Menschen“³⁵⁰ entgegengedacht werden, anstatt sie durch willentliche Akte abzuwenden. Obzwar Heidegger die thematische Assoziierbarkeit dieses Denkens des Gefährlichen und Gefährdeten mit Nietzsches bekanntem Wort vom „gefährlich leben“³⁵¹ zugesteht, distanziert er dieses Diktum sogleich von seiner eigenen Einsicht in das Ausbleiben des Seins. Heidegger legt Nietzsches plakative Sentenz als „Verherrlichung der Gefahr“³⁵² sowie als „Mißbrauch der Gewalt“³⁵³ aus. In diesem Zuge verändert sich auch Heideggers Positionierung zum aktiven Nihilismus. Noch in der Vorlesung Der europäische Nihilismus ³⁵⁴ von 1940 erschien diese aktive Seite als unumgängliches Agens der traditionsdestruierenden Desillusionierung. In dieser Hinsicht wurde der aktive Nihilismus durchaus in eine Nähe zum seinsgeschichtlichen Denken gerückt. Hingegen wird er in der Seinsgeschichtlichen Bestimmung als „unbedingte Herrschaft des Unwesens des Nihilismus“³⁵⁵ abjiziert. Wie wichtig Heidegger die Abgrenzung zu Nietzsche ist, zeigt sich in dem Zwiespalt, den Heidegger in den Begriff der Gefahr einträgt: Das

 Heidegger, N II, S. 358.  Heidegger, N II, S. 356.  Heidegger, N II, S. 356.  Heidegger, N II, S. 356. Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 283, KSA 3, S. 526 – 527: „[…] das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden!“  Heidegger, N II, S. 356.  Heidegger, N II, S. 356.  Vgl. zur Diskussion der Vorlesung Der europäische Nihilismus (1940) das Kapitel 1.9 dieser Arbeit.  Heidegger, N II, S. 356.

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3. Teil: Der Wille zum Willen und der Entzug des Seins

Nietzsche zugesprochene „Risiko des unbedingten Gewaltvollzuges“³⁵⁶ konkurriert mit Heideggers prätendierter Besinnung auf die „Bedrohung der Wesensvernichtung des Menschen“.³⁵⁷ Heidegger erkennt allerdings an, dass sowohl sein eigenes als auch Nietzsches Denken im Reaktionsraum des Ausbleibens des Seins lokalisiert sind beziehungsweise aus diesem „herkommen“.³⁵⁸ Als auf die Spitze getriebene Abwehrhaltung und Verdrängungsleistung gegen die Einsicht in die Notlosigkeit der Seinsvergessenheit, die das Weltalter im Zeichen der nach Heidegger größten Verwüstung erfüllt, benennt er die „Angst vor der Angst“.³⁵⁹ Die nachstehende, zweite Form der Angst gleicht zwar nicht mehr der Grundbefindlichkeit der Angst aus Sein und Zeit. ³⁶⁰ Sie besitzt indes eine enge Verbindung zu der im anderen Anfang waltenden Grundstimmung des Erschreckens, da sie als der „Schrecken das Ausbleiben des Seins selbst erfährt“.³⁶¹ Die der zweiten Angst ausweichende erste Form einer uneingestandenen Angst gibt sich in der Ausblendung jeglicher zweifelnden Anwandlung den Anschein des Unerschütterlichen. Diese Variante der Angst klassifiziert Heidegger als noch gefährlicher denn das „grobschlächtige Abenteuern des nur brutalen Machtwillens“.³⁶² Es ist die Unfähigkeit, die äußerste Not zu registrieren, die schließlich als Gegenwehr nur noch die Flucht in den Pessimismus zulässt: Das Sein west – indem es, die Freiheit des Freien selbst – alles Seiende zu ihm selbst befreit und dem Denken das zu Denkende bleibt. Daß jedoch das Seiende ist, als ‚sei‘ das Sein nicht das Unablässige und Unterkunft-Brauchende, als ‚sei‘ es nicht die nötigende Not der Wahrheit selbst, das ist die in der vollendeten Metaphysik verfestigte Herrschaft der Notlosigkeit.³⁶³

       

Heidegger, N II, S. 356. Heidegger, N II, S. 356. Vgl. Heidegger, N II, S. 356. Heidegger, N II, S. 356. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, §40, S. 184– 191. Heidegger, N II, S. 356. Heidegger, N II, S. 356. Heidegger, N II, S. 361.

Schlusswort: Die Wandlung der fünf Grundworte Wenn Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche von 1936 bis 1953 in ihrem Gesamtzusammenhang überblickt wird, tritt hervor, dass sich die Grundworte von Nietzsches Denken als relationales Gefüge ausprägen. Es wird ein Relief sichtbar, das von keiner privilegierten Stützkraft getragen wird.¹ Die von Heidegger in den einzelnen Nietzsche-Vorlesungen profilierten und demnach stets kontextuell eingebundenen Bestimmungen der Grundworte besitzen in sich eine nicht relativierbare, absolute Gültigkeit. In ihren jeweiligen, sich verzweigenden Ausgestaltungen können sie nicht auf die Wurzel einer Hauptbedeutung zurückgeführt werden.² Deswegen ist Heideggers Nietzsche weder der letzte Metaphysiker noch ein dezidierter Anti-Metaphysiker, aber vielleicht schon auf dem Wege zu einem Ort diesseits dieses Gegensatzes. Weil das Gleiche auch für Heideggers Deutung gilt, dient die nun folgende, resümierende Hervorhebung der Diskontinuitäten nicht dazu, Heidegger Versäumnisse vorzurechnen oder ausbleibende Bekenntnisse und Erklärungen vorzuhalten. Vielmehr soll die Vielfalt beider Denker betont und das Erkenntnisziel dieser Arbeit, gemeinsame Lichtstellen zu finden, unterstrichen werden. Insgesamt erscheint die Frage erwägenswert, woraus und wodurch innerhalb der Heideggerschen Nietzsche-Rezeption die Suggestion einer klaren Hierarchisierung bestimmter Zugangsweisen, Klassifikationen und Einschätzungen er-

 Vgl. Heidegger, N II, S. 31: „Nietzsches Metaphysik ist somit dann und nur dann begriffen, wenn das in den fünf Haupttiteln Genannte in seiner ursprünglichen und jetzt nur angedeuteten Zusammengehörigkeit gedacht, d. h. wesentlich erfahren werden kann.“ Vgl. zu Heideggers definitorischer Klassifikation der fünf Grundworte und zu ihrer Einheit: Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 6: „Der ‚Wille zur Macht‚ nennt das Wort für das Sein des Seienden als solchen, die essentia des Seienden. ‚Nihilismus‚ ist der Name für die Geschichte der Wahrheit des so bestimmten Seienden. ‚Ewige Wiederkunft des Gleichen‚ heißt die Weise, wie das Seiende im Ganzen ist, die existentia des Seienden. ‚Der Übermensch‚ bezeichnet jenes Menschentum, das von diesem Ganzen gefordert wird. ‚Gerechtigkeit‚ ist das Wesen der Wahrheit des Seienden als Wille zur Macht. Jedes dieser Grundworte nennt zugleich das, was die übrigen sagen. Nur wenn deren Gesagtes je auch mitgedacht wird, ist die Nennung jedes Grundwortes ausgeschöpft.“ Um den entwicklungsgeschichtlichen Gang des mit Nietzsche geführten Zwiegespräches abbilden und in seinen zeitlichen Wandlungsstufen konturieren zu können, wird in diesem Schlusswort auch das Imperfekt verwendet. Inhaltliche Ausführungen Heideggers werden weitgehend im Präsens dargestellt.  Eine solche Verkürzung der Nietzsche-Deutung Heideggers auf schlagwortartige Systemtitel und subsummierende Formeln findet sich etwa bei Werner Stegmaier. Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsche nach Heidegger, in: Alfred Denker u. a. (Hrsg.), Heidegger und Nietzsche. HeideggerJahrbuch 2, Freiburg / München 2005, S. 321– 339, bes. S. 322 f. https://doi.org/10.1515/9783110694253-006

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Schlusswort: Die Wandlung der fünf Grundworte

wächst. Der täuschende Eindruck der Eindeutigkeit und Apodiktizität spiegelt sich in der vereinfachenden (und der seit der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis artikulierten, seinsgeschichtlichen Auslegungstendenz paradoxerweise entgegenkommenden) Forschungsposition wider, Heidegger verfechte eine unverrückbare und systematische Lesart Nietzsches. Diese lasse sich auf wenige, prägnante Schlagworte reduzieren.Werden hingegen spezifische Stilelemente wie zugespitzte Wiederholungen, eingängige Konklusionen und kraftvolle Formulierungen Heideggers betrachtet, wird transparent, dass er selbst dem Eingeständnis mannigfaltiger Modifikationen entgegenwirkte. Heideggers Konzession regressiver Momente, die sich im Laufe der Auseinandersetzung anhand der Wiederaufnahme einzelner Themen und Urteile bezeugt, wird auf diese Weise verdeckt. Zudem erzeugte Heidegger durch die Herausgabe der beiden Nietzsche-Bände das Narrativ eines scharfen Bruches. Aus diesem Grunde ist es vonnöten, die prägenden Entwicklungslinien der fünf Grundworte im Verlauf der Vorlesungen zusammenzufassen und in einen wechselseitigen Bezug zu bringen. Die abschließende Darstellung des Wandlungssinnes der einzelnen Grundworte dient gleichzeitig dazu, die leitenden Forschungsergebnisses des 1. Teils dieser Arbeit zu präsentieren. Es soll die folgende Reihenfolge gewählt werden: 1) der Übermensch; 2) die ewige Wiederkehr des Gleichen; 3) der Wille zur Macht; 4) der Nihilismus; 5) die Gerechtigkeit. 1) Der Übermensch: In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937: Die ewige Wiederkehr des Gleichen begreift Heidegger den Übermenschen als einen schöpferischen Übergang. Der Übermensch stellt sich auf sich selbst, nachdem er dem haltgebenden Glauben an eine absolute Wahrheit abgeschworen hat. In dieser Selbstständigkeit beansprucht er keine erhabene Position gegenüber dem bisherigen Menschen. Der Übermensch nimmt die Befreiung vom Schwergewicht des Übersinnlichen zum Ausgangspunkt, um über die tradierte Menschengestalt und über sich selbst auf die Dreieinheit des Künstlers, des Philosophen und des Heiligen hinauszuweisen. In diesem Zwischenstadium eines Weisenden kann sich der Übermensch nur halten, wenn er die Umrandung seiner Wesensbestimmung nicht mehr aus der Opposition gegenüber dem letzten Menschen gewinnt. In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht aus dem Jahre 1939 wurde der Übermensch im kontradiktorischen Gegensatz dazu nicht mehr als Ausnahmegestalt rezipiert. Stattdessen erschien der Übermensch nunmehr als der jedes Individuum durchdringende Typus, der im Anschein der unausgesetzten Betriebsamkeit und universalen Machbarkeit die aporetische Ziellosigkeit des Willens vollstreckt. Diese zeitdiagnostische Einordnung, die sich in der Anbindung des Übermenschen an die technische Weltaneignung äußert, ergänzte Heidegger in der

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Vorlesung Der europäische Nihilismus mit einer seinsgeschichtlichen Fundierung. Dabei behielt er den negativen Tenor bei. Heidegger nahm den bereits 1937 inaugurierten Wesenszug der Selbstgesetzgebung auf. Diese Autonomie verknüpfte Heidegger aber mit dem Topos des subjectum, dem Unterstand, in dem sich die Subjektivität vollendet. Im Gedanken des Übermenschen wird nach Heidegger das bislang nicht festgestellte Tier zum ersten Mal fixiert, indem in ihm die höchste Rationalität und die lebendigste Animalität vereinigt werden. Im Zuge dieser Vereinigung verschob Heidegger die Bedeutung des ‚Über.‘ Das ‚Über‘ wird in der Nietzsche-Vorlesung von 1940 nicht mehr als zeigender oder prospektiver Richtscheit ausgezeichnet. Es soll nun auf die Internalisierung der bislang in die weltabgewandte Transzendenz hinübergleitenden Überschreitungstendenz verweisen. In diesem Interpretationshorizont avanciert(e) der Übermensch zum höchsten Repräsentanten des Willens zur Macht. Im Jahre 1953 näherte Heidegger den Übermenschen im Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? wie schon 1937 wieder an die ewige Wiederkehr des Gleichen an. Der Übermensch fungiert 1953 als Überwinder des Widerwillens gegen die Zeit. Er verweigert sich der jenseitig gegründeten Ewigkeit, unter deren Obhut sich der bisherige Mensch noch befand. Weil der Übermensch die große Fülle des Werdens allerdings allein in der Kreisbahn der ewigen Wiederkehr zu bewahren vermag, kommt er nicht umhin, die vergeistigte Rache an der Zeit zu vollziehen. Entscheidend ist jedoch, dass Heidegger die Bestimmung des Übermenschen als Übergang im Angesicht seines eigenen Denkens rehabilitierte. In der zirkulären Verbundenheit mit der ewigen Wiederkehr – er benötigt sie, um in der Überwindung der Entgegensetzung divergierender Gegenwelten der Übermensch als Sinn der Erde zu werden; sie braucht ihn, um gelehrt, gelebt, erlitten und prophezeit zu werden – kündigt sich der Bezug des Daseins zum Sein an und wird in diesem Anklang geborgen. 2) Die ewige Wiederkehr des Gleichen: In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst aus dem Wintersemester 1936/1937 konnten vier verschiedene Verhältnisbestimmungen zwischen der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen zur Macht destilliert werden. Im ersten Kapitel der Arbeit wurde das Resultat gewonnen, dass die ewige Wiederkehr 1936/37 keineswegs als sekundierende Instanz desavouiert werden kann, die einzig die Gradierung des Willens zur Macht zum Grundcharakter des Seienden gewährleisten soll. Vielmehr entdeckte Heidegger in der Zusammengehörigkeit des Willens zur Macht mit der ewigen Wiederkehr den Wiederaufwurf der Frage nach Sein und Zeit. In der ersten Vorlesung deutete sich eine separate, die ewige Wiederkehr gegenüber dem Willen zur Macht präferierende Betrachtungsweise an. Die Frage erschien berechtigt, ob der im Gedanken der ewigen Wiederkehr implizierte Zusammenschluss von ewigem

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Kreisen und darin wiederkehrendem Sein nicht hinreichend sein könnte, um das Verhältnis von Sein und Zeit zu erschließen. In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 manifestierte sich die Kontextgebundenheit der Auslegung Heideggers besonders deutlich. In der Besprechung des Aphorismus Nr. 341 aus Nietzsches Werk Die Fröhliche Wissenschaft konturierte Heidegger die ewige Wiederkehr als Urgrund für eine gewandelte Welterfahrung. Diese Lebenswende wird in einem Selbstsein hervorgerufen, das als „einsamste Einsamkeit“³ allen menschlichen Beziehungen vorausgeht. Als das „grösste Schwergewicht“⁴ senkt die ewige Wiederkehr den Einzelnen in das Seiende im Ganzen hinein. Sie gibt dem Seienden auf diese Weise das Gewicht zurück, das durch den Niedergang des Christentums verloren schien. Erst das durch die Möglichkeit der Wiederkehr des Gleichen erfahrene, vom Dämon herausgeforderte Selbstsein kann die Bedeutsamkeit des Augenblickes würdigen. Umgekehrt ist auch sie nur aus und in diesem Augenblick einzusehen. In seiner Auseinandersetzung mit den Kapiteln Vom Gesicht und Rätsel und Der Genesende aus Also sprach Zarathustra widersprach Heidegger dieser Fundierung nicht. Er verlieht ihr sogar eine reichhaltige inhaltliche Füllung: In der augenblicklichen Freiheitserfahrung des Einzelnen kann sich die Überwindungsmöglichkeit des zeittheoretisch untermauerten Nihilismus eröffnen, der in ebenjenem Augenblick nur ein indifferentes Umschlagen registriert. Anhand der Allegorie des Hirten in Vom Gesicht und Rätsel machte Heidegger transparent, dass jeder Einzelne den gegen den eigenen Negativismus gerichteten Biss vollziehen muss, um später auf sich selbst als einen Überwindenden und Überwundenen zurückschauen zu können. Diese Überwindung musste für Heidegger aber nicht – anders als bei Löwith – in den Einklang des Einzelwillens mit dem ewig sich wiederbringenden Gesamtzusammenhang der Welt einmünden. Vielmehr lässt die ewige Wiederkehr in Heideggers Explikation von Nr. 56 aus Jenseits von Gut und Böse mit dem Nihilismus auch die durch diesen ins Extrem getriebene Gottlosigkeit hinter sich. Dies geschieht nicht, indem sie die Präsenz eines allmächtig-personalen Gottes restituiert oder als welteinschließender circulus vitiosus deus eine pantheistische Wiederanverlobung verheißt. Erst der singuläre Kairos, der die unverlierbare Reichhaltigkeit des Seienden erschließt und rettet, führt die abwesende Anwesenheit einer Göttlichkeit vor Augen. Das Göttliche entspricht dieser Unerschöpflichkeit, insofern es sich selbst nicht verfestigen, auf den Begriff bringen und beweisen lässt. In der Seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus (1944 – 1946) bewertete Heidegger den Tod Gottes, der

 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 341, KSA 3, S. 570.  Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Nr. 341, KSA 3, S. 570.

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1937 die Schneise für den „anderen Anfang unermeßlicher Möglichkeiten“⁵ aufklaffen ließ und der in den Beiträgen zur Philosophie als Bedingung für die Erfahrbarkeit des ganz anderen, des letzten Gottes herausgestellt wurde, schließlich als versammelnde Vollendung – aber nicht zwangsläufig als Endpunkt – der Ontotheologie. Die Unvereinbarkeit dieser beiden Einordnungen des Gottestodes kann weder in einem Kompromiss aufgehoben werden. Noch lässt sich ein Präferenzkriterium angeben, das die Gesamtbetrachtung der Metaphysik unter dem Gesichtspunkt ihrer ontotheologischen Verfasstheit gegenüber der von Hölderlin inspirierten Theologie des letzten Gottes entschieden privilegierte. 1939 verschränkte Heidegger die ewige Wiederkehr in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht wieder mit dem Willen zur Macht. In der Ausblendung des Bezuges zum Einzelnen kappte er zugleich ihre Schlüsselrolle in der Epiphanie des Göttlichen und in der Stiftung der Entschlusskraft des Individuums, das sich im Glauben an die ewige Wiederkehr in einer veränderten Wahrheit des Seienden im Ganzen hält. Weil Heidegger auch den Willen zur Macht jeglicher phänomenologischen Ausweisbarkeit und personalen Nachvollziehbarkeit entkleidet hatte, konnte er beide Elemente in einer Ausweitungsbewegung zusammendenken, in der keine der beiden Lehren den Bereich individuellen Bezugsverhaltens streifen musste. Ab 1939 bestimmte Heidegger das wiederkehrende Gleiche als die austauschbar-transitorische Bestandlosigkeit des Werdenden, während die Bewegung des ewigen Kreisens die (nun als „höchste Beständigung“⁶ verstandene) Anwesung garantieren sollte. In diese wird das Bestandlose immer wieder hineingelenkt, um die „stete Möglichkeit des Machtens zu sichern“.⁷ Diese Entfremdung der ewigen Wiederkehr von all dem, was sie noch im Jahre 1937 verhieß, lässt sich durch die Integration des Schlüsselbegriffes der Machenschaft erklären. Des Weiteren ist die Distanzierung durch die Abstraktion von der Frömmigkeit des Für-wahr-haltens bedingt. Diese Frömmigkeit konnte der Einzelne kultivieren, indem er sich als Bedingung für die ewige Wiederkehr in das Seiende einließ. Die Rekursivität der Herangehensweise Heideggers bekundet sich auch in dem Aufsatz: Wer ist Nietzsches Zarathustra? aus dem Jahre 1953. In diesem Aufsatz spiegelt sich die in der ewigen Wiederkehr des Gleichen gewährte Vermählung von Licht und Schatten, Mittag und Mitternacht, höchster Intensität und gleichgültiger Beruhigung in der Begegnung der mythischen Assoziation der

 Vgl. Heidegger, Beiträge zur Philosophie, GA 65, S. 411.  Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 34.  Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 34.

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ewigen Wiederkehr mit ihrer Schattenseite wider. Einerseits prägt sich die ewige Wiederkehr 1953 als schillernd-dionysische Vielfalt, als Brücke und als Quell der Sehnsucht aus. Andererseits prägt sie als höchste Bejahung des für immer vor dem Entschwinden bewahrten Seienden den äußersten Widerwillen gegen die Zeit in die Apotheose des Werdens ein. Ausgehend von Sein und Zeit lag schon 1936/37 ein Einwand gegen die ewige Wiederkehr immens nahe, der von Heidegger aber bis 1939 stets zurückgehalten wurde. So könnte auf der Basis von Sein und Zeit prononciert werden, dass ein menschlicher Daseinsentwurf, der das eigene Sein zum Tode nicht berücksichtigen muss und es sogar aktiv zu übergehen vermag, die einmalige Bedeutungsschwere tilgt, die in der ewigen Wiederkehr doch gerade freigesetzt werden sollte. Dieser Kritikpunkt wurde von Heidegger im Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? auf die phänotypischen Manifestationen der technisch geleiteten Progressionsmechanismen übertragen. Nur in dem hypothetisch-naturwissenschaftlichen Beweisgang in der Vorlesung aus dem Sommersemester 1937 brachte Heidegger die ewige Wiederkehr mit dem Gesamtzusammenhang des Naturgeschehens zusammen. Er unterlief die daraus erwachsende höchste Notwendigkeit der ewigen Ziellosigkeit der Welt mit der Etablierung eines das eigene Wesen neu konfigurierenden, zukunftsoffenen Freiheitsvermögens. Dies mutete als Auflösung der Antinomie von weltumfassendem Determinismus und individueller Autonomie unter dem Primat des Praktischen an und konnte als Erkenntnisgewinn gegenüber der von Löwith beibehaltenen Hegemonie der kosmischen Kreiswendung empfunden werden. Die Ausblendung des Naturzyklus erlaubte es Heidegger aber in den Jahren 1939 und 1953, die weder als ungeworden noch als sich selbst nährend konzipierte Wiederkehr in einer eschatologischen Reduktion auf die menschliche Lebenswelt als Stichwortgeberin für eine paradoxale Modernediagnose zu verwenden. Demzufolge wird in der Epoche der Technik in einer endlos sich abspulenden Bewegung nur noch Neues angehäuft, sodass auf diese Weise gerade nichts Neues mehr gestiftet werden kann. Heidegger buchstabierte die Kreisbewegung in der Analogie zu einem Fluss aus, der in jedem Moment ein anderer werden muss, um derselbe zu bleiben. 3) Der Wille zur Macht: Der Wille zur Macht bildet den einzigen unter den von Heidegger auserkorenen fünf Haupttiteln, der ausgehend von seiner anfänglichen Würdigung und merkmalsreichen Wirkungsentfaltung im Laufe der Vorlesungen einer kontinuierlich verschärften Kritik unterworfen wird. Diese offeriert einen Lichtungsspalt nur noch insofern, als sich im Willen zur Macht das Sein in seine Seiendheit entlässt. Daher muss Müller-Lauters Kontinuitätsthese widersprochen werden: Der Wille zur Macht wird von Heidegger spätestens in der Vorlesung Der

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europäische Nihilismus aus dem II. Trimester 1940 als Synthese aus Schellings rotatorischer Bewegung und Schopenhauers Willen zum Leben beschrieben, die ihre Bestandswahrung in der perspektivischen Wertsetzung sichert. Mit Schellings nicht verwirklichter, erster Potenz teilt der Wille zur Macht 1940 die alles Seiende einschließende, sich bedingungslos wiederholende Selbstdurchstreichung eines Anfangen-Könnens. Mit Schopenhauers Willen zum Leben eint ihn die Abwesenheit des Ziels, die Vorspiegelung lebensimmanenter Werthaftigkeit und das endlose Streben. Auch wenn Heidegger den Willen und die Macht 1936/1937 tatsächlich als unauflösliche Einheit verstanden und expliziert hatte, so begreift er die Macht ab 1940 als Wesen eines steigerungsabhängigen Willens. Dieser befiehlt sich beständig und fortschrittslos, jenes Wesen zu erreichen, das er als sein Innerstes glaubt. Während Nietzsche den Wettstreit der Willen bereits im Mikrokosmos des Individuums lokalisierte und Schopenhauer ihn in der Vorstellungswelt beginnen ließ, setzt Heideggers Wille zur Macht zuletzt nicht einmal den Anschein eines agonalen Ringens frei. Der Wille zur Macht steuert seine Machterhaltung und Steigerung durch die Anbringung von Verfestigung und Verklärung,Wahrheit und Kunst, Erkenntnis und Schöpfungskraft, die er in den Perspektiven vollstreckt. Diese Markierung, die sich ab der zweiten Hälfte des Jahres 1939 immer deutlicher herausschält, hat nur noch wenig mit den detaillierten, ausgewogenen Beschreibungen aus der ersten Vorlesung 1936/1937 zu tun. Dennoch muss Heidegger konzediert werden, dass er eine sich leichthin anbietende Option auch 1940 ausschlägt. Der Wille zur Macht bildet den dankbarsten Gedanken, um Nietzsche einen handfesten Biologismus zu unterstellen oder die Quintessenz seiner Philosophie auf einen reinen Übermächtigungszwang zulaufen zu lassen. Hatte Heidegger noch 1936/1937 in der Exposition des Willensidealismus den Drang ausgeschlossen und den Willen vergeistigt und emotiv angereichert, so kehrt er dies 1940 nicht in eine Naturalisierung des Geistes um. Er bettet beide Pole als letztgültige Bewahrheitung der tradierten Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale vielmehr in die sich steigernde Machterhaltung ein. Aufgrund der Integration der Lust, der Leidenschaft und des Gefühls verzweigte sich der Wille 1936/1937 nicht nur in das Panorama sämtlicher kognitiver und affektiver Vorgänge im Menschen. Weil Heidegger mit Nietzsche betont hatte, dass der Einzelne sich im Wollen durchsichtig werde, verlor der Wille jegliche Substanzialität. Der Wille verschmolz mit dem grundlegenden Bezugsverhalten des Menschen zur Welt. Dieses Wollen musste weder als wertsetzend verstanden werden, noch war es auf die beständige Formverfestigung und Schematisierung angewiesen. Die Ergänzung dieser beiden Wesenszüge ließ sich allerdings auch dadurch rechtfertigen, dass sie die entfaltete Überkomplexität des Willensbegriffes erhellte und erläuterte. Der Vermittlungsversuch der aus Sein und Zeit

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übernommenen Erschlossenheit der Stimmungen mit einem in ihnen zum Ausdruck kommenden Wesenswillen gelang mit Hilfe der von Nietzsche entliehenen Angleichung von Befehl und Affekt. Diese Synthesebildung ließ sich aber kaum mit der 1936/37 in derselben Vorlesung thematisierten Explikation des Willens zur Macht als Selbstüberwindung des Werdens in Einklang bringen. Müller-Lauters These⁸, Heidegger lege den Willen zur Macht von Anfang an metaphysisch aus, ist daher nur zuzustimmen, wenn zwei Einschränkungen vorgeschaltet werden. Erstens erscheint er in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst dann als genuin metaphysisch, wenn er in bestimmten Modellen der Einheitsbildung mit der ewigen Wiederkehr betrachtet wird. Obzwar der metaphysische Ariadnefaden in der separaten Untersuchung des Willens schwerer aufzuspüren ist, so ließe sich eine anfängliche Entfaltungsstufe zweitens schon 1936/1937 in der potentiell ausweitbaren Strukturanalogie der im Modus der Überschreitung gestifteten, immanenten Selbstbeziehung vorfinden. Auch die darin zum Ausdruck kommende Formalität wirkte in der Schilderung der inhaltlich vollkommen indifferenten Bestandsverwaltung weiter.Während für Heidegger jedoch, wie David Krell zu Recht angemerkt hat, das „Werde, der du bist“-Motiv 1936/1937 hervorstechend war, so kann der Wille später nur noch derjenige werden, der er seit Urzeiten schon war. Hier wird abermals deutlich, wie Heidegger die Wesensbestimmung eines Gedankens im Spiegel des anderen – in diesem Fall ist es der Topos eines Sich-Wollens der Vergangenheit als Zukunft, den Heidegger der ewigen Wiederkehr entlehnt und in den Willen einträgt – wendet. Insofern es bei keinem anderen Haupttitel – und der Wille zur Macht ist sicherlich der wichtigste für Heidegger – ein solch gewandeltes Spektrum des Wirkungsgebietes gibt, erscheint eine Kontinuitätsunterstellung als prinzipiell verengend. Gerade weil sich der Wille in den Gefühlen den Menschen vor sich selbst brachte, war er noch nicht jene rätselhaft ortlose, untergründige und doch in jedem Seienden wirksame Struktur, die die ontische Verwirklichung der Metaphysik Nietzsches vorantrieb. Da die Beleuchtung der Synthese zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr dem 1. Teil dieser Arbeit als zentrales Strukturprinzip zugrunde gelegt wurde, sollen die wesentlichen Wandlungsstufen der Konstellationsgewichtung in diesem Schlusswort noch einmal prägnant versammelt werden. Auf diese Weise kann besonders der Grundtitel des Willens zur Macht eine ab-

 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, S. 31 f.: „Heidegger hat den Willen zur Macht damit zu einem sich aus sich selbst entfaltenden, gleichwohl bei sich bleibenden, ja: letzlich in seinen eigenen Ursprung zurückgehenden metaphysischen Prinzip gemacht. […] Vor allem muß der These Heideggers, Wille zur Macht sei ‚immer Wesenswille, nie Wollen eines Einzelnen, Wirklichen‘, entschieden widersprochen werden.“

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schließende Konkretion erfahren, weswegen er an dieser Stelle das Zentrum der Analyse bilden soll. Die drei übergreifenden Rangerfassungen zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr lassen sich in einer schematischchronologischen Anordnung der Zeitabschnitte und in topologischer Rückanbindung wie folgt darstellen: a) Ebenbürtigkeit zwischen dem Willen zur Macht und der ewigen Wiederkehr: Diese Isonomie weist eine sich von 1936 – 1939 erstreckende Kontinuität auf. Sie reicht bis zur eindeutigen Priorisierung des Willens zur Macht als neuzeitvollendendem, die Subjektivität auf ihren Gipfel führenden Gedanken in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Heidegger die ewige Wiederkehr in dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht (1939) noch einmal nahezu gleichberechtigt neben dem Willen zur Macht positioniert. Es soll freilich nicht verschwiegen werden, dass sich im Hinblick auf Heideggers frühe Nietzsche-Deutung mit gutem Recht auch für den Vorrang der ewigen Wiederkehr plädieren ließe, insofern diese in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst als Wesen des Seins und als Sinn der Seiendheit begriffen wird. Obwohl sich die Sachgebiete mitsamt den Betrachtungsschwerpunkten Heideggers durchaus wandeln, lassen sich innerhalb der Paritätsfiguration vier hauptsächliche Charakterisierungen des Willens zur Macht prononcieren: 1. In der Bezugsorientierung Heideggers auf Sein und Zeit wird der Wille zur Macht als Sein des Seienden verstanden, wohingegen die ewige Wiederkehr als zeitlicher Sinn dieses Seienden als solchen exponiert wird. Diese erste Bestimmung findet sich in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Kunst (1936/37). 2. In der Anwendung der klassischen Titel der Metaphysik erscheint der Wille zur Macht als Wesen (essentia) des in der Übersteigerung bei sich selbst bleibenden Werdens und die ewige Wiederkehr als Seinsweise des Seienden (existentia). Die terminologische Formgebung dieser Verhältnissetzung tritt ab der Vorlesung Die ewige Wiederkehr des Gleichen (1937) hervor. 3. Ontologisch und epistemologisch: Die ewige Wiederkehr wird von Heidegger als Sachgrund des Willens zur Macht nominiert; während der Wille zur Macht als Erkenntnisgrund der ewigen Wiederkehr waltet. Diese Reziprozität des Grundgewährens apostrophiert Heidegger ebenfalls in der Vorlesung zur Ewigen Wiederkehr des Gleichen. 4. Die Einigkeit beider Titel in der duplizierten Vollendung der Metaphysik: In dem Text Die ewige Wiederkehr des Gleichen und der Wille zur Macht hält Heidegger an der Benennung des Willens zur Macht als neuzeitvollendendem Paradigma fest, die er in der unmittelbar vorauslaufenden Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis lanciert hatte. Innerhalb dieses Gefüges der Selbigkeit kommt

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dem „endgeschichtlichen“ Gedanken der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu Beginn von Nietzsche II die nunmehr negativ konnotierte Aufgabe zu, unter der Signatur einer gescheiterten Vereinigung von Sein und Werden die Einkehr in den ersten Anfang zu leisten. Der erste Anfang wird nach Heidegger durch die Lehre der ewigen Wiederkehr in seinem Un-wesen zementiert. b) Die Verschiebung der Konstellation zwischen den beiden Hauptlehren zugunsten des Willens zur Macht: Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche findet ab 1939/40 vornehmlich unter der Signatur des Wertaspektes statt. Weil der Wille zur Macht in den Vorlesungen Der Wille zur Macht als Erkenntnis (1939) und in Der europäische Nihilismus (1940) als Quelle und Maßstab ebenjener Werte sowie als Organisationsgrund des Nihilismus etabliert wird, verlagert sich das Schwergewicht nahezu automatisch zu seinen Gunsten. c) Die endgültige Präeminenz des Willens zur Macht gegenüber der ewigen Wiederkehr: Im Rahmen der entwicklungsgeschichtlichen Studie konnte der Nachweis erbracht werden, dass der Wille zur Macht die ewige Wiederkehr in dem Aufsatz Wer ist Nietzsches Zarathustra? (1953) gänzlich in seine Verfügungsgewalt überführt. Der sich an der entfliehenden Zeit stoßende Wille zur Macht, der zunächst nicht auf das residuale Moment des Vergangenen zurückzugreifen vermag, erzeugt sich die ewige Wiederkehr. Mit ihrer Hilfe kann er die sukzessive Verlaufsform des „Es war“ in ein „So wollte ich es“ umformen. In dem Vollzug des „So werde ich es wieder wollen“ lässt der Wille das vergangene Werden aus der Zukunft auf sich selbst zurücklaufen. 4) Der Nihilismus: Hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Nihilismus ist zu fragen, in welcher Weise Heidegger einen produktiven, sich einer alternativen Nietzsche-Deutung annähernden Weg hätte einschlagen können. Es hätte sich beispielsweise angeboten, Nietzsches Rückdatierung des Nihilismus bis hin zu Parmenides nach Maßgabe des absoluten Geistes bei Hegel als Er-innerung des Willens zur Macht aufzufassen. Diese Anamnese hätte zwar nicht dessen Selbstaufhebung bewirken können, da auch der Interpretierende nach Nietzsche stets in den Willen zur Macht eingebunden bleibt. Die Einsicht in den Hinfall der kosmologischen Werte konnte jedoch eine sich durch die gesamte Metaphysikgeschichte ziehende Antipathie gegenüber dem Werden und eine damit assoziierte Missachtung der Endlichkeit freilegen, die sich in der Vorlesung Der europäische Nihilismus von 1940 in dem Motiv der hyperbolischen Wertsetzung objektivierte. Die aufgedeckte Motivationsgrundlage des Willens zur Macht in allen metaphy-

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sischen Entwürfen könnte die Möglichkeit einer Abstandnahme, Enthaltung und Toleranz gewähren, die besonders Jacques Derrida und Gianni Vattimo bedacht haben.⁹ Außerdem könnte hier der Anknüpfungshorizont für eine vormittägliche Philosophie der nächsten Dinge aufleuchten – Et in Arcadia ego – die Nietzsche besonders in Menschliches, Allzumenschliches in den Vordergrund rückte.¹⁰ In den 50er-Jahren hat Heidegger in Aufsätzen wie Das Ding (1950) und Bauen Wohnen Denken (1951) an ein solches Ethos angeschlossen.¹¹ Obwohl Heidegger mit Nietzsche die Unabwertbarkeit der Welt im Ganzen postulierte, wies er in der Vorlesung Der europäische Nihilismus (1940) darauf hin, dass diese Annihilierung einer endgültigen Bewertung und Gesamtbetrachtung mit der Verabsolutierung der Wertungsgeflechte innerhalb der Welt konvergiere. Die Werte lassen sich nach Heidegger allein unter Einbezug ihres Verhältnisses  Vgl. Derrida, Grammatologie, S. 36 – 37: „Mit der Radikalisierung der Begriffe der Interpretation, der Perspektive, der Wertung, der Differenz und aller ‚empiristischen‘ oder nicht-philosophischen Motive, die die abendländische Philosophie bis heute nicht zur Ruhe kommen ließen, und die nur die eine, allerdings unvermeidliche Schwäche hatten, auf dem Boden der Philosophie gewachsen zu sein, sollte Nietzsche, ohne einfach (mit Hegel und wie Heidegger es möchte) innerhalb der Metaphysik zu bleiben, entscheidend zur Befreiung des Signifikanten aus seiner Abhängigkeit, seiner Derivation gegenüber dem Logos, dem konnexen Begriff der Wahrheit oder eines wie immer verstandenen ersten Signifikats beigetragen haben. Die Lektüre und damit die Schrift, der Text wären für Nietzsche ‚ursprüngliche‘ (wir setzen dieses Wort aus erst später ersichtlichen Gründen in Anführungszeichen) Operationen gegenüber einem Sinn, der nicht allererst zu transkribieren und zu entdecken, der also nicht bezeichnete Wahrheit im eigentümlichen Element und in der Präsenz eines Logos als topos noetos, göttliches Vernehmen oder apriorisch notwendige Struktur wäre.Will man Nietzsche vor einer Lektüre wie der Heideggerschen bewahren, dann darf man keinesfalls eine weniger naive ‚Ontologie‘, eine profunde, an eine Ur-Wahrheit heranreichende ontologische Intuition, also eine ganze, unter dem Gewand eines empiristischen oder metaphysischen Textes verborgene Fundamentalität restaurieren oder auslegen wollen. Die Virulenz des Denkens Nietzsches könnte nicht schlimmer verkannt werden.“ Vgl. darüber hinaus Derrida, Eperons. Les styles de Nietzsche, Paris 1978. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten in Heideggers und Derridas jeweiligen Zugangsweisen zu Nietzsche vgl. besonders Ernst Behler, Apokalyptische Nietzsche-Interpretationen: Heidegger und Derrida, in: Sigrid Bauschinger / Susan Cocalis / Sara Lennox (Hrsg.), Nietzsche heute. Die Rezeption seines Werkes nach 1968, Bern / Stuttgart 1988, S. 105 – 128. Im Zusammenhang mit seiner Konzeption des „schwachen Denkens“ untersucht Gianni Vattimo das Verhältnis zwischen Heidegger und Nietzsche unter der thematischen Signatur des europäischen Nihilismus. Vgl. Gianni Vattimo, Heideggers Nihilismus: Nietzsche als Interpret Heideggers, in: Walter Biemel / F.W. von Herrmann (Hrsg.), Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt a. M. 1989, S. 141– 153. Vgl. auch Gianni Vattimo, Jenseits vom Subjekt. Nietzsche, Heidegger und die Hermeneutik, Wien 1986.  Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Der Wanderer und sein Schatten, KSA 2, Nr. 295, S. 686 – 687.  Vgl. Heidegger, Das Ding, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 165 – 189; Heidegger, Bauen Wohnen Denken, in: Heidegger, Vorträge und Aufsätze, GA 7, S. 145 – 165.

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zum Macht-Wachstum des Wertsetzenden skalieren. Also hätte die Chance einer generellen Aushebelung der in Angriff genommenen Umwertung der Werte nur durch eine Lehre erweckt werden können, welche die zum Vorschein gekommene Unanwendbarkeit der bisherigen Werte auf alle künftigen Wertsetzungen ausdehnte. Auf diese Weise könnte die entfesselte Gesamtentwertung der Welt für immer konserviert werden. Diese Umwertung aller Werte würde sich nicht in der bloßen Akzeptanz des wertenden Prinzips erschöpfen. Insofern diese Umwertungsvariante ihren Ruhepol in der Achtsamkeit und in der Bewahrheitung der seinsmäßigen Sinnlosigkeit finden könnte, hätte sie nur von einer Instanz ausgehen können – der ewigen Wiederkehr. Ihre Doppelstellung als Krisis und Vollendung des Nihilismus würde sich in diesem Fall auch darin bezeugen, dass sie noch das dementieren würde, was aus dem Nihilismus erst als dessen vermeintliche Überwindung emporwuchs. Die ewige Wiederkehr könnte das schöpferische, aus dem Bewusstsein des Willens zur Macht motivierte Setzen wertqualifizierter Ziele seitens des Menschen besänftigen und aufheben. Damit hätte die ewige Wiederkehr in der Immanenz der Gedankenwelt Nietzsches die Funktion einer Eindämmung der Beleuchtung alles Seienden unter dem Wertaspekt erfüllt. Diese verheißungsvolle Rolle behält Heidegger in der Seinsgeschichtlichen Bestimmung des Nihilismus dem Schritt zurück aus dem im Wertdenken vollstreckten Auslassen des Seins vor. Heidegger spricht somit allein seiner eigenen Seinsphilosophie das Potenzial einer sachhaltigen Distanzierung vom Wertparadigma zu. 1940 reichte die ewige Wiederkehr nicht mehr an die metaphysische Tiefendimension des Willens zur Macht heran. Hierin offenbart sich ein Grundproblem in Heideggers Auslegung der ewigen Wiederkehr. Heidegger verteidigt Nietzsche gegen den Vorwurf mangelnder Originalität. In der Einheit der ewigen Wiederkehr mit dem Willen zur Macht möchte Heidegger die neuzeitliche Dimension festhalten. Durch diese Entscheidung exkludiert Heidegger jedoch jenen Aspekt, der Nietzsche unzweifelhaft wichtig war: Die Rückgewinnung einer vorchristlichen Lebenserfahrung diesseits des platonischen Chorismos. Bemerkenswerterweise ist es ausgerechnet Heidegger, der in der Einbindung der ewigen Wiederkehr in den Zwiespalt von Werden und Sein sowie in der Verortung derselben innerhalb der Unterscheidung von essentia und existentia duale Deutungsmuster prolongiert. Wenn er Nietzsche 1953 den Zusammenschluss von Sein und Zeit zuletzt doch zugesteht, markiert er diesen als sublimierten Ausdruck des präsenzontologischen Triumphes. Anders als das bis auf Descartes zurückverfolgte Wesen des Willens entzieht sich die ewige Wiederkehr einer seinsgeschichtlichen Ergründung ihrer neuzeitlichen Provenienz. Deswegen schließt Heidegger die ewige Wiederkehr als eine

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die gesamte abendländische Metaphysik rückwendend überspringende Lehre an den vorplatonischen Anfang an. Diesen Anfang betrachtet Heidegger von vornherein unter dem philosophischen Gesichtspunkt der Seinsgeschichte. Heidegger blendet in der Fokussierung auf die Vorsokratiker jenen ungetrübten, unaufhörlich wiederkehrenden Aufgang der Natur aus, der an die denkerische Vernehmung des Seins noch nicht gebunden ist. In seinem Vortrag zu Hölderlins Hymne Wie wenn am Feiertage… hat Heidegger diesen Aufgang der Physis als Rissziehung zwischen Menschen und Göttern gedeutet. Damit hat er den Ausblick auf das spätere Denken des Gevierts eröffnet, in dem die Geschichte des Seins zurücktritt.¹² Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass sich diese alternativen Interpretationen neben dem von Heidegger tatsächlich bevorzugten Argumentationsgang durchaus angeboten hätten. Es ist jedoch Nietzsche selbst, der die Vorstellung oder Forderung einer Abstinenz der Wertsetzung sowohl als gefährlichselbstzerstörerisches wie auch als naives, weltfremdes und undurchführbares Unterfangen beurteilte. Die Unfähigkeit zu werten ist insofern ein Ausdruck höchster Schwäche, als sie zwar den Niedersturz der bisherigen Werte beobachtet und inkorporiert. Sie bleibt aber hinter den unbewussten Bemühungen früherer Zeitalter um Lebenssicherheit und Orientierung zurück, obwohl sie über diese in der Bewusstwerdung des Wertursprunges hinausgegangen ist.¹³ Trotz klarer theoretischer Erkenntnis fällt die Entscheidung zur Unentschiedenheit im Praktischen hinter das Überkommene zurück. Nietzsche hat dies in den Gestalten des letzten Menschen und in den um den tollen Menschen gruppierten Ungläubigen versinnbildlicht.¹⁴ Auch wenn die früheren Werte als nihilistisch tituliert werden können – weil ihnen nichts in der hiesigen Welt entsprach und weil sie diese in der Behauptung einer Korrespondenz herabsetzten – so müsste eine Ataraxie gegenüber jeder aufkeimenden Wertbildung nicht nur als Verleugnung des Schöpferischen begriffen werden. Ein Verzicht auf die Wertsetzung erschiene auch als bewusste Einwilligung in die Nichtigkeit und Flüchtigkeit der Welt. Diesen unverschleierten Blick in den Abgrund könnten vielleicht einige Wenige ertragen, es ließe sich aber auf diese Weise keine menschenwürdige, stabile Gesellschaft aufbauen und erhalten.

 Vgl. Heidegger, „Wie wenn am Feiertage…“, in: Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 2011, S. 62.  Vgl. zur sowohl stabilisierenden als auch dynamisierenden Funktion der Werte besonders: Andreas Urs Sommer, Werte, S. 167– 172.  Vgl. zum letzten Menschen: Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Zarathustra‘s Vorrede, KSA 4, S. 18 – 20. Zum tollen Menschen vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, Nr. 125, S. 480 – 482.

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Insgesamt kann gesagt werden, dass Heidegger zwar schon 1936/1937 die Umwertung der Werte neben der ewigen Wiederkehr des Gleichen und dem Willen zur Macht als Leitbestimmung der Philosophie Nietzsches anführte. Die Präeminenz der Wertkomponente lässt sich im Rahmen der Auseinandersetzung jedoch erst auf die Jahre 1939/1940 datieren. In der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis standen etwa die Perspektiven trotz der derivierten Ausübung des Kategorienbefehls noch für die Vielschichtigkeit freien und wechselvollen Welterkennens ein. Sie waren fast gänzlich von der wertschöpfend-machtsteigernden Selbsterhaltung des Willens dispensiert. Im Zuge der Applikation des zum Auslegungszentrum avancierenden Wertmotivs (ab der Vorlesung Der europäische Nihilismus) erfuhren die Perspektiven eine maßgebliche Uminterpretation. Heidegger kennzeichnete die Perspektiven schließlich als lichtungsberaubt und ephemer. Anhand der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis konnte demonstriert werden, dass Nietzsche die aus dem praktischen Bedürfnis entspringende, biologische Nötigung des Satzes vom Widerspruch als eine Erkenntnisgrenze behandelte. Diese kognitive Beschränkung verwehrt eine reichhaltige Erfahrung des Chaos. Es wurde transparent, dass Heidegger den Leerraum eines opaken Akteurs, der den Satz vom Widerspruch benutzt, um das als wahr Geltende zu schaffen und in der Horizontbildung zu konservieren, nicht unmittelbar mit dem Willen zur Macht identifiziert hatte. Stattdessen erschloss Heidegger dieses anonyme Befehlszentrum aus der Gerechtigkeit als sich selbst legitimierender Homoiosis. 5) Die Gerechtigkeit: Die Gerechtigkeit lässt als bauende ihren Grund in das Chaos hineinragen, gleicht sich diesem an und übersteigt es zugleich. In ihrer ausscheidend-vernichtenden Manier gebiert sie jene Wertformationen, die als das dem Stärksten Zuträgliche den Willen zur Macht dynamisieren. Die Gerechtigkeit bildet innerhalb der fünf Grundworte diejenige Instanz, deren Kernattribute in den Nietzsche-Vorlesungen am wenigsten variiert werden. Sie durchläuft anders als die anderen Grundworte keine Entwicklung, die sich als Anreicherung, Klärung oder Zurücknahme äußern könnte. Die 1939 in der Vorlesung Der Wille zur Macht als Erkenntnis profilierten Merkmale flossen nahezu unverändert in den Text Nietzsches Metaphysik aus dem Jahre 1940 sowie in die gleichnamige Vorlesung von 1941/42 ein. In der zeitlichen Gesamtüberschau konnte die entwicklungsgeschichtliche Studie die immanente Heterogenität der Grundworte des Übermenschen, der ewigen Wiederkehr, des Willens zur Macht und auch des

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Nihilismus¹⁵ spezifizieren. Es wurde gezeigt, dass die Bedeutungsvielfalt der Grundworte sich maßgeblich aus der eingeschalteten oder ausgeblendeten Interaktion mit einem anderen der ausgewählten Hauptgedanken ergibt – besonders im Falle der ewigen Wiederkehr und des Willens zur Macht. Diese Gesetzmäßigkeit relationaler Gehaltsnuancierung gilt nicht für das Grundwort der Gerechtigkeit. In Heideggers Auslegung der metaphysischen Gerechtigkeit offenbarte sich allerdings ein vielversprechender Kontrast zum Herrschaftswillen. Die Gerechtigkeit erwies sich keineswegs als starre, über den Perspektiven angesiedelte Richtinstanz. Nach Heidegger konstituiert sich die Gerechtigkeit als Movens ihrer Gegenwendigkeit, Überlagerung und Trennung in den Perspektiven selbst. Sie lässt sich einerseits weder auf die Verfolgung eines Gesamtzweckes noch auf die aufglänzende Übermacht des Zufalls festlegen. Die Gerechtigkeit bewegt sich weder in einem ziellosen Kreisen noch hypostasiert sie eine eindimensionale, selbstreferentielle Perspektive zum Weltmaßstab. Andererseits hält sie die gänzliche Verflüchtigung des Werdens auf und schützt die menschlichen Ordnungen vor ihrer vorzeitigen Auflösung. Dergestalt könnte sie mit einer gewissen Plausibilität als Sachwalterin eines Rechts des Stärkeren beurteilt werden. Weil sie sich als „Grundzug des Lebens“¹⁶ und in ihrem „verborgenen Wesen: die Wahrheit des Seienden im Ganzen“¹⁷ durchaus vom Willen zur Macht emanzipiert, muss es in ihrer Rechtsprechung indes nicht zwangsläufig einen Stärkeren geben, dessen Durchsetzung sie zu flankieren hätte. Vielmehr könnte die Gerechtigkeit das Vertrauen zu einem Weltganzen herstellen, das kein höheres Prinzip benötigt. In allen seinen Ausgestaltungen wird der Kosmos durch den Logos in Eines gefügt. Indem die Gerechtigkeit das Sein und das Werden im Geschehen der Wirklichkeit permanent miteinander verflechtet, macht sie deren Auseinanderfall rückgängig. Im Rahmen der von Platon initiierten Aufspaltung beider Pole wurde nach Nietzsche und Heidegger der Widerwille an der Zeit freigesetzt. Dieser konnte schließlich allein durch die Transformation des Werdens in ein immerwährendes oder wiederkehrendes Sein besänftigt werden. Doch gerade in der Gestalt der ewigen Wiederkehr könnte sich jene Gerechtigkeit herauskristallisieren, die das Werden von der Rache erlöst. Die ewige Wiederkehr räumt dem Werden sein

 Diesbezüglich ist zu berücksichtigen, dass Heidegger das Anwendungsfeld und den Herkunftsort des Begriffes des Nihilismus im Spannungsfeld zwischen der Vorlesung Der europäische Nihilismus und der Abhandlung Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus veränderte und diesen mit Hilfe der Unterscheidung von eigentlichem und uneigentlichen Nihilismus von seiner Ursprungsbedeutung bei Nietzsche entfernte.  Heidegger, N I, S. 585.  Heidegger, Nietzsches Metaphysik, GA 50, S. 83.

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Vergehen als in der Weise seiner jeweiligen Vergänglichkeit einzigartiges Geschehnis ein und würdigt es in einer geheimnisvoll und unberechenbar bleibenden Rückkehr immer wieder aufs Neue. In den schaffenden, überwindenden, befehlenden und bauenden Charakteristika, in deren Anwendung die Gerechtigkeit die Unvergleichbarkeit jedes einzelnen Seienden ermöglicht, abgrenzt und sichert, bezeugt sich zwar unbestritten ihre große Nähe zum Willen zur Macht. Dessen vertikalen Überstieg zu seinem Machtwesen könnte sie jedoch als ein Schwergewicht unterbinden, das die horizontale Ebene der Weltgesetzlichkeit verteidigt. Weil sie die entscheidenden Wesenszüge beider Grundlehren in sich vereint und das Seiende nach diesen beiden Hinsichten gestaltet, könnte sie eine Mittelstellung zwischen ihnen einnehmen. Auf diese Weise würde Heideggers Intention berücksichtigt, die Selbigkeit der beiden Lehren in der Öffnung auf den ihre entgegengesetzten Attribute einbehaltenden Einheitsgrund zu honorieren. Im Gegensatz zu dieser verheißungsvollen Deutungsmöglichkeit beurteilte Heidegger die ewige Wiederkehr in seiner in dem Text Die seinsgeschichtliche Bestimmung des Nihilismus entwickelten Interpretation des Nietzsche-Gedichtes An Goethe als mischendes, jede Ausrichtung auf ein endgültiges Ziel verhinderndes Weltrad. Dieses Weltrad drängt den Menschen immer wieder in das vom Willen zur Macht geleitete Welt-Spiel hinein. Heidegger kann Nietzsche die schöpferische Wiederaneignung des ersten Anfanges im Jahre 1946 nicht mehr zugestehen. In einer Verschärfung der neuzeitlichen Willensmetaphysik definiert Heidegger jene Gewalt, die das herrische Welt-Spiel mit der rollenden Spielerin zusammenhält, als Willen zum Willen. Demgegenüber könnte die Gerechtigkeit das Sein und den Schein in einem Welt-Spiel koordinieren, das nichts anderes als sie selbst ist und nur dieses hervorbringt.

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Personenregister Abel, Günter 93, 249, 485, 532 Adorno, Theodor Wiesengrund 135, 522, 710, 718, 738, 750 Alker, Barbara Andrea 135 Anaximander 465, 519, 561 Anders, Günther 553, 554 Angehrn, Emil 696, 780, 782 Apollon 139, 140, 538, 716 – 718 Arendt, Hannah 8, 10, 11, 667, 668, 691 Aristoteles 3, 30, 61, 66, 70, 72, 101 – 102, 112 – 115, 118, 181, 252, 362, 364, 393, 396 – 397, 436, 443, 459, 517, 579, 588, 592, 765 Augustinus 94, 667 Aurel, Marc 525, 526 Babich, Babette 5, 11, 12 Baeumler, Alfred 63 – 64, 81, 84, 340, 344 Balke, Friedrich 443 Baumgartner, Hans Michael 545 Behler, Ernst 795 Berg, Robert Jan 94 Blond, Louis 12 Boethius, Anicius Manlius Severinus 591 – 592 Brock, Eike 14 Buchheim, Thomas 33, 570, 585, 619, 683, 684 Buchner, Hartmut 217, 219 Camus, Albert 448, 473, 662 Capurro, Rafael 141, 194, 225, 232, 258, 264, 265 Casale, Rita 12 – 14, 120, 144, 171, 177, 220, 225, 236, 274 Cichy, Helene 698 Colony, Tracy 8 Courtine, Jean-Francois 675 D’Angelo, Diego 141 David, Pascal 239, 240, 554, 562 Deleuze, Gilles 468 – 469 Derrida, Jacques 70, 177, 484, 658, 759 https://doi.org/10.1515/9783110694253-008

Descartes, René 10, 181, 337, 364, 368, 378 – 379, 387, 454, 563, 580, 646, 649, 650, 697, 721 – 722, 749, 763, 796 Dionysos 47, 300, 306, 348, 535, 537, 538, 539, 540, 700, 717 Duric, Mihailo 253 Duque, Felix 664, 665 Ebeling, Knut 107, 288 Ehrhardt, Walter E. 679 Eliade, Mircea 288 Fichte, Johann Gottlieb 98, 447, 514, 564, 565, 569, 619, 620, 621 – 622, 637, 646 – 647, 672, 682, 690, 749, 750 Figal, Günter 141, 309, 522 Figl, Johann 413 Fink, Eugen 355, 777 Foucault, Michel 484 Frank, Manfred 82, 116, 309, 437, 555 – 557, 742 Franzen, Winfried 9 Fricke, Christel 144 Friedrich, Hans-Joachim 1, 15, 73, 584, 694 Gabriel, Markus 557 – 558, 606, 639 Gadamer, Hans-Georg 5 – 7 Gander, Hans-Helmuth 5, 11, 141, 224, 240, 258, 309, 520, 706, 772 Gawoll, Hans-Jürgen 14, 133, 458, 751 Geijsen, Ludwig 509 Gerhardt, Volker 249 Goethe, Johann Wolfgang von 169, 235, 500, 519, 596, 776 – 777, 800 Greisch, Jean 9 Grondin, Jean 20, 569 – 570, 696 Grosser, Florian 752 Habermas, Jürgen 780, Halfwassen, Jens 557, 690 Halliwell, Stephen 205, 206 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 4, 17, 32, 48, 66, 68, 93, 98, 135, 136, 286, 344,

818

Personenregister

387, 396, 400, 441, 448, 470, 514, 545, 550, 552, 562, 565, 569, 579, 601, 605 – 606, 615 – 616, 639, 646 – 647, 655, 658 – 674, 677, 683, 703, 705, 708, 742, 750, 763 – 768, 794 – 795 Heinz, Marion 1, 2, 11, 77 – 78, 180, 187, 203, 264 – 266, 269 – 270, 271 – 272, 274 – 275, 405, 473 Heraklit 15, 40 – 41, 52 – 53, 55, 59 – 60, 63, 213, 285, 291 – 292, 331, 351, 355 – 359, 368, 387, 396 – 397, 424, 439, 460, 465, 501, 507, 541, 639, 729, 769, 776 – 777 Herrmann, Friedrich-Wilhelm von 2, 9, 35, 43, 94, 102 – 103, 240, 284, 309, 490, 712, 795 Holzhey, Helmut 702 – 703 Horn, Christoph 206, 209 – 210 Husserl, Edmund 3, 773 Hödl, Hans Gerald 539 Höfele, Philipp 548, 594 – 595 Höffe, Otfried 205 – 206, 361, 480, 545, 571, 573 – 574, 630, 633, 642, 645, 669, 674, 678 – 679, 683 Hölderlin, Friedrich 102, 140 – 143, 313, 391, 502, 553, 752, 780, 789, 797 Hühn, Lore 98, 144, 329, 522, 548 – 549, 550, 552, 554, 557, 558 – 559, 578, 584 – 585, 590, 594, 603, 605 – 607, 619, 620, 621, 622, 623, 624, 625, 626, 627, 628, 629, 630, 631, 632, 633, 634, 639, 649, 680, 681, 682, 683, 690, 718, 764 Iber, Christian 329, 508, 569, 645, 665, 683, 684 – 685 Jacobs, Wilhelm G.: 33, 570, 645 Jantzen, Jörg 33, 549, 550, 552, 554, 557 – 558, 571, 573, 578, 584, 585, 603, 605 – 606, 619 – 620, 622 – 634, 639, 649, 680, 690 Jaspers, Karl 55, 81, 133, 431, 552, 577, 715 Jesus Christus 539 Jordan, Stefan 20, 23 Jünger, Ernst 442 – 443, 497, 540, 703, 727, 734, 780 Kang, Hak-Soon 14

Kant, Immanuel 4, 9, 30, 65, 94, 101, 114 – 115, 143, 144, 145, 147, 229 – 230, 231, 284, 362, 364 – 365, 381, 382 – 385, 387 – 389, 485, 514, 564 – 565, 567, 580, 588, 603, 649, 664, 703, 719, 720 – 722, 731, 749, 763 Kaufmann, Sebastian 524, 680 Kaufmann, Walter 7 Keiling, Tobias 773 Kierkegaard, Sören 2, 312, 314, 432, 562, 570, 577, 651, 683, 684 Klages, Ludwig 712 Klostermann, Vittorio 2, 7 Koselleck, Reinhart 20, 22 – 23 Krell, David Farrell 11 – 12, 792 Krings, Hermann 573 – 574, 678, 679 Krämer, Hans 479, 480 Kuhn, Elisabeth 14, 467 Köhler, Dietmar 558, 578, 582, 608, 660, 663 Laruelle, Francois 12 Leibniz, Gottfried Wilhelm 86, 93, 114 – 115, 214, 388, 485, 514, 545, 550, 563 – 564, 566, 580, 598, 601 – 602, 605, 611, 617, 626, 650, 720, 763 Lewis, Delmas 592 Leyte Coello, Arturo 605 Luckner, Andreas 390 Löwith, Karl 3, 5, 8, 44 – 45, 85, 299, 348, 423, 431 – 432, 479, 538, 742, 788, 790 Makkreel, Rudolf Adam 382 – 383 Mann, Thomas 711 Mansfeld, Jaap 367, 387, 396, 439, 458, 501, 514, 541, 542, 777 Marx, Karl 710, 742 Mazzarella, Eugenio 660 Mende, Dirk 474 Meyer, Katrin 2, 7, 150, 172, 177, 225 Moiso, Francesco 678 Morgenstern, Martin 144 Müller-Lauter, Wolfgang 6 – 8, 11, 43, 53, 108, 246 – 247, 518, 772, 790, 792 Neymeyr, Barbara 144 – 145, 346, 764 Nolte, Paul 23 – 24

Personenregister

Ohashi, Ryosuke 584, 641 – 642, 679 – 680 Otsuru, Tadashi 12, 15, 130, 137, 147 – 148 Ottmann, Henning 107, 467, 469 Parmenides 40 – 41, 59 – 60, 66, 70, 314, 351, 367, 424, 457 – 460, 514 – 515, 560, 660, 769, 794 Pauen, Michael 467 Pfotenhauer, Helmut 144 Pieper, Annemarie 545, 571, 573 – 574, 642, 645, 669, 674, 678 – 679, 683 Platon 15, 27 – 29, 37, 40 – 41, 55, 57 – 59, 61, 70 – 72, 79 – 80, 89 – 90, 113, 120, 123 – 132, 134, 137, 141, 151, 165, 167, 178 – 180, 181 – 244, 247 – 252, 257 – 258, 260, 262 – 267, 274, 283, 314, 333, 335 – 336, 346 – 347, 351, 353, 357, 362, 364, 371, 373 – 74, 376, 378 – 379, 391, 392, 402, 404 – 406, 408, 410 – 412, 414, 425 – 426, 428, 435 – 437, 441, 449, 453, 457 – 460, 466, 469, 479, 480, 497, 499, 503, 520, 521, 528, 534 – 538, 540, 554, 557, 560 – 561, 563, 588, 597, 604, 639, 664, 671, 699, 706, 713, 727, 764 – 765, 775, 779, 796 – 797, 799 Plotin 548, 592, 597 Primavesi, Oliver 367, 387, 396, 439, 458, 501, 514, 541, 542, 777 Pöggeler, Otto 7 Riedel, Manfred 224, 520 Safranski, Rüdiger 5 Sandkaulen, Birgit 584 Sallis, John 2, 11, 156, 172 Schmaus, Thomas 757 Schmitt, Carl 480 Schleiermacher, Friedrich 314, 449, 457 Schopenhauer, Arthur 2 – 4, 17, 35 – 36, 54 – 55, 93 – 94, 96, 98, 110 – 111, 115, 118, 133, 143 – 146, 150 – 151, 167, 169, 286, 303, 305, 311, 313, 315, 324, 329, 390, 394, 399, 466, 470, 510, 514, 517, 519 – 520, 522 – 523, 550, 570, 584, 652, 658, 680 – 683, 687, 690, 699, 701 – 703, 706, 715, 717, 718, 732, 735 – 736, 743, 752 – 753, 756, 764, 780, 791

819

Schubert, Andreas 205 Schulz, Walter 554, 557, 686 – 687 Schüßler, Ingeborg 33, 258, 261, 270 – 271, 402, 565, 646 – 647, 728 Schüßler, Ingrid 110, 552, 660 Schwenzfeuer, Sebastian 549, 557 – 558, 584, 639 Seubert, Harald 12 – 14, 20, 120, 147, 151, 160, 177, 379, 382, 491, 524, 533, 536, 543, 555, 562, 565, 569, 646, 660, 664, 696 Seubold, Günter 17, 757 Simmel, Georg 55, 303 Skowron, Michael 14 – 15 Sommer, Andreas Urs 4 – 5, 144, 249, 300, 346, 469, 483, 487, 539, 764, 797 Sommer, Konstanze 553 – 554, 578 – 580, 588 – 589, 591, 608 – 609, 621, 627, 675, 689 – 690 Sokrates 208, 209 Spinoza, Baruch de 306, 378, 423, 451, 621 Stegmaier, Werner 7, 65, 66, 101, 485, 785 Strube, Claudius 309, 569 Sturma, Dieter 382 – 383, 683 Theunissen, Michael 70, 102, 665 Thomä, Dieter 7, 9, 102, 150, 382, 443, 474, 569, 645, 665, 696 – 700, 752, 757, 780, 782 Thukydides 414 Tömmel, Tatjana Noemi 668 Vajda, Mihaly 706 Vattimo, Gianni 795 Vedder, Ben 2, 11, 767 Verdenius, Willem Jacob 128, 210 Vetter, Helmuth 2 – 3, 5, 12 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz 473 Vossenkuhl, Wilhelm 574, 645 Wandinger, Nikolaus 592 – 593 Wieland, Wolfgang 557, 585, 595 – 597, 618 – 619, 637 – 638, 662, 669, 676, 682 Wirtz, Markus 32, 448 Wohlfart, Günter 97, 331 Wrathall, Mark A. 700

820

Personenregister

Yorikawa, Joji 575 Zehnpfennig, Barbara 214, 217

Zimmerman, Michael E.: 7, 443 Žižek, Slavoi 644

Sachregister anderer Anfang 309, 698, 705 Anerkennung 18 – 19, 177, 227, 234, 316, 324, 330, 350, 404, 475, 512, 530, 550, 623, 655, 659, 666 – 669, 673 – 674, 703, 705, 728, 761 Anklang 390, 432, 708, 715, 761, 787 Ankunft 38, 104 – 105, 264, 277, 309, 332, 429, 449, 527, 708, 766 – 767, 769, 771, 774, 781, 782 Anthropologie 249, 577, 702, 723 – 724, 727, 729 Anthropomorphismus 21, 279, 475, 622, 710, 734 Antike 358, 466, 510 Arbeiter 442 – 443, 497, 540, 703, 727, 734, 735, 780 a posteriori 329 a priori 66, 284, 329, 381, 383 Ästhetik 120 – 122, 134 – 138, 140, 144 – 145, 147, 150, 153 – 154, 156, 159 – 160, 165, 172 – 173, 216, 233, 243, 259, 332 Bewusstsein 30, 94 – 95, 117, 162, 314, 326, 331, 378, 398 – 399, 466, 477, 479, 579 – 580, 606, 648, 661, 721, 796 Biologie 138, 380, 723 Biologismus 234, 366, 380, 791 Chaos 10, 27, 30, 31, 160, 164 – 165, 177, 240, 244, 252, 257 – 258, 271, 285 – 287, 299, 324 – 325, 332 – 334, 362 – 363, 371, 380, 384 – 389, 393 – 395, 401 – 402, 404 – 406, 411, 418 – 419, 425, 441, 444, 447, 486, 529, 531, 713 – 714, 717 – 718, 776, 808 Chorismos 28, 57, 124, 194, 230, 380, 405, 410, 457, 796 Christentum 132 – 133, 188 – 189, 227, 247, 304, 307, 457, 468, 678 Denkweg 2, 5, 7, 8, 9, 12, 15, 39, 186, 246 – 247, 338 – 490, 533, 568, 647, 663, 773, 781 https://doi.org/10.1515/9783110694253-009

Dualismus 111, 140 – 141, 148, 189 – 200, 227, 235 – 265, 402, 414, 456, 468, 537, 571, 573, 582 – 583, 624, 712, 749, 769 Dämon 279, 301 – 302, 306, 423, 788 Ego cogito 563, 580 – 581, 646, 649 – 650, 721 Eigentlichkeit 304, 596, 738 Einbildungskraft 381 – 385 Ekstase 68 – 69, 139, 504 – 505, 548, 584, 594 – 595 Empirismus 557 Endlichkeit 9, 15, 18, 19, 32, 66, 282, 284, 292, 297, 329, 382 – 383, 492, 515 – 516, 533 – 534, 569, 576, 588, 594, 597 – 598, 638, 646, 660, 672, 712, 794 Entwicklungsgeschichte 20, 23 Entzug 34, 36, 38, 337, 446, 515, 647, 694, 696, 698, 700, 704 – 784 Epoche 78, 227 – 228, 249, 446, 715, 728, 741 – 742, 773, 790 Ereignis 8, 24, 89, 124, 169, 187 – 188, 265, 309, 465, 468, 471, 527, 558 – 559, 606, 639, 694, 700, 705 – 706, 753, 755 – 757, 767, 781 Erkenntnisgrund 297, 299, 578, 793 Erkenntnistheorie 356 erster Anfang 351, 656, 794 essentia 26, 35, 42, 44, 81, 85 – 86, 89 – 91, 298, 420, 434, 435 – 436, 572, 606, 637, 638, 649, 766, 778, 785, 793, 796 existentia 26, 35, 42, 44, 81, 85 – 86, 89 – 91, 298, 420, 434, 435, 437, 572, 578, 602, 606, 637, 638, 649 – 650, 658, 659, 766, 778, 785, 793, 796 Existenzialanalyse 585, 633 Fundamentalontologie 9, 20, 569 Gefahr 7, 28, 72, 94, 106, 131, 147, 170, 205, 255, 257, 318, 340, 356, 371, 406, 423, 466, 471, 532, 563, 666, 698, 752, 756 – 757, 780, 782 – 783

822

Sachregister

Geist 4, 13, 67, 234 – 235, 281, 284 – 285, 310 – 312, 347, 354, 400, 464, 505, 508, 510 – 513, 515 – 516, 518, 521, 523, 525, 529 – 530, 532, 534 – 536, 585, 608, 610 – 611, 613, 616 – 618, 631, 636, 638, 647, 652 – 654, 658, 666, 674, 679, 684, 686, 693, 706, 710, 712, 724, 749, 750, 763 Gerechtigkeit 12, 15, 31, 45, 63, 130, 137, 147 – 148, 217, 239, 323, 332, 340, 355, 372, 380, 400 – 401, 404, 410, 414 – 420, 424, 441, 445, 447, 465, 468, 473, 480, 506, 507 – 510, 525, 537, 720 – 721, 737, 785 – 786, 798, 799, 800 Gesetzgebung 15, 137, 147, 160, 165, 167, 273, 603, 686 Gestell 390, 429, 780 Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 21, 23 – 24 Gott 15, 95, 116, 180, 189, 206, 208, 209, 210, 215, 267, 278, 301, 306 – 309, 331, 422, 469, 470 – 471, 478, 501, 510, 538, 545, 551, 553, 555, 557, 560 – 561, 567, 571 – 572, 574, 577, 580, 582, 584, 593, 594, 604 – 607, 613, 619, 622, 625, 627, 628, 631, 638 – 639, 641 – 642, 645, 647 – 648, 651, 655 – 657, 670 – 671, 677, 678 – 679, 681, 687 – 688, 692, 750, 767 – 776 großer Stil 153, 156, 159 – 160, 161 – 162, 164 – 166, 171 – 173, 178, 224, 244, 424 Grundfrage 49, 248, 562, 570, 648, 660 Grundworte 15 – 16, 22 – 23, 38, 45, 151, 160, 334, 340, 420, 500, 785 – 800 Hermeneutik 14, 233, 329, 683, 795 Historie 1, 4, 15, 278, 355, 467, 498, 509, 570, 709, 780 Horizontbildung 30, 380, 388, 393, 798 Ichheit 549 – 550, 564 – 565, 568, 613, 620 – 623, 630, 632 – 633, 710, 720 – 723, 727, 749 Idealismus 14, 17, 20, 55, 89, 93 – 94, 98, 113 – 114, 116, 229, 352, 382, 383, 447, 514, 544, 552 – 553, 555, 557, 559, 562 – 570, 574, 577, 582, 588 – 589, 620, 645 –

647, 651, 660, 662, 664 – 665, 673, 690, 696, 74 – 750, 769, 791 Idee 70 – 78, 80 – 90, 115, 137, 145 – 146, 151, 183, 189, 198, 201, 204, 206, 215, 221 – 223, 226, 229, 231, 249 – 250, 263, 337, 351, 357, 380, 391 – 392, 426, 441, 457, 459, 479 – 480, 565, 626, 646 – 647, 664, 680, 682, 775 Kehre 8 – 10, 14, 23, 46, 50, 105, 222, 338, 390, 401, 542, 662, 698, 765, 780 Kosmos 282, 288, 304, 321, 445, 475, 653, 777, 799 Kunstwerk 122 – 123, 143, 148, 150 – 151, 156, 210, 639, 691, 777 Lebensphilosophie 13 Leib 26, 97, 123, 140 – 141, 215, 386 – 388, 409, 724 Leitfrage 41, 49 – 59, 87 – 88, 765 Logos 367, 396, 401, 448, 767, 795, 799 Metaphysikkritik 533 – 554, 578 – 580, 588, 591, 608, 609, 621, 627, 665, 675, 690 Methode 14, 23, 135, 138, 160, 373, 732 Mittelalter 114, 358 Moderne 5, 24, 34, 128, 144, 329, 346, 375, 428, 443, 445, 457, 458, 467, 471, 539, 540, 542, 625, 683, 725, 733, 751, 764, 780, 783 Monade 486, 563, 564, 601 – 602, 606 Monismus 8, 422, 451, 456, 458, 459, 487, 573 Narrativ 24, 33, 47, 59, 83, 189, 199, 201, 272, 307, 328, 334, 344, 500, 513, 538, 586, 650, 685, 703, 712, 736, 755, 764, 786 Naturphilosophie 558, 565, 572, 619, 677 – 678 Naturwissenschaft 135, 138, 390, 748 Negativität 17, 305, 397, 550, 565, 601, 625, 655, 658, 659, 660 – 666, 669, 670, 671 – 672, 682, 689, 693, 701, 703, 705, 708, 747, 749, 756, 772, 780 Neuzeit 118, 136, 332, 336 – 340, 343, 345, 349, 358, 420, 427, 428, 430, 433, 442,

Sachregister

446, 459, 499, 513, 524, 544, 574, 621, 681, 700, 750 Nihilismusdiagnose 443, 727 Not der Notlosigkeit 38, 781 – 782 Objektivation 394 Ontologische Differenz 554, 606, 708 Ontotheologie 544, 559, 561 – 562, 569, 639, 660, 665, 678, 789 Optimismus 725 Organismus 750 Ouroboros 312 Perspektivismus 27, 28, 223 – 275, 326, 444, 481, 486 Pessimismus 55, 123, 150, 169 – 171, 174 – 175, 294, 305, 323, 466 – 468, 470, 488, 520, 725, 756, 784 Physis 41, 102, 338, 350, 351, 358, 373, 396, 397, 401, 421, 423, 427 – 28, 435, 439, 440 – 441, 491, 536, 698, 748, 768, 797 Phänomenologie 3, 68, 93, 309, 400, 470, 550, 605, 660 – 661, 666, 670 – 673 Politik 345, 710 Prinzip 11, 28, 30, 92 – 93, 112, 120, 257, 270, 273, 334, 339, 345, 347 – 348, 350, 360, 363, 398, 413, 421, 427, 438, 462 – 463, 477, 515, 563, 565, 569, 571, 583, 588, 590, 596, 600 – 601, 643, 667, 671, 681, 683 – 685, 700, 709, 716, 723, 730, 736, 743, 748, 750, 760, 763, 766, 792, 799 Psychologie 35, 136, 138 – 139, 366, 422, 453, 711, 723 Rache 13, 32, 67, 168 – 169, 325, 414 – 415, 423, 490, 502, 506 – 513, 515 – 516, 518 – 521, 523 – 525, 527, 529 – 540, 787, 799 Rationalismus 128 Raum 55 – 56, 105, 156, 219, 228, 280, 283 – 285, 323, 330, 393, 415 – 416, 484, 508, 581, 662 Rausch 134, 139 – 142, 147 – 156, 158 – 160, 162 – 163, 165 – 168, 171, 178 – 179, 216, 243, 257, 274 Schaffen 45, 100 – 111, 123, 151 – 153, 157, 160, 168, 178, 180, 187, 190 – 191, 203,

823

205, 231, 237, 239, 242, 245, 259, 264, 265, 266 – 267, 268 – 269, 270, 272, 274, 276, 323, 335, 340, 394, 397 – 398, 418, 713, 724 Schema 22, 48, 82, 131, 169, 180, 203, 206 – 207, 311, 381, 384, 602, 625, 641, 675, 686, 716 Schönheit 27, 121, 143, 145, 147 – 149, 151, 153 – 155, 157 – 161, 166 – 167, 178, 184, 201, 204, 213, 217 – 221, 223 – 224, 238, 244, 285, 316, 478, 507, 666, 717 Schwergewicht 11, 155, 188, 189, 265, 279, 280, 291, 301 – 304, 308, 310, 327, 333, 495, 786, 788, 794, 800 Seele 138, 140, 161, 183, 215, 218, 229 – 300, 322, 348, 381, 386, 391, 392, 423, 450, 480, 494, 503, 515, 526, 602, 615 – 618, 711 – 712 Sein des Seienden 48 – 49, 51 – 52, 54 – 55, 57, 64 – 65, 71, 73, 76 – 78, 80 – 85, 91 – 92, 94, 171, 173, 223, 227, 266, 269, 270 – 273, 343, 357, 512 – 513, 515 – 516, 522 – 525, 529 – 530, 540 – 541, 574, 588, 597, 625, 643, 645, 681, 707 – 708, 758, 761, 763, 765 – 766, 785, 793 Seinsdenken 49, 351, 713 Seinsfrage 7, 15, 48, 51, 442, 560, 562, 569, 726 Seinsgeschichte 9, 21, 62, 78, 334, 460, 492, 562, 606, 646, 664, 700, 703, 707, 715, 749, 750, 757, 773, 781, 797 Seinsprädikate 34, 376, 546, 551, 585 – 589, 599, 600, 620, 665, 685, 715 Seinsverlassenheit 36, 119, 336, 420, 706, 737, 739 – 740, 741 – 742, 744, 746 – 747, 752, 755, 759 – 760, 772, 775 Seinsverständnis 606, 621, 623 Selbstbejahung 34, 93, 270, 300, 348, 514, 518, 546, 551, 584, 587, 589, 590, 598, 599, 620, 676, 706, 731 Seynsfuge 544, 553, 570, 572 – 575, 582, 586, 607, 612, 639, 641 – 643, 647 – 648, 676 Sinn des Seins 39, 48 – 50, 58, 61 – 62, 77 – 78, 80, 83, 85, 465, 549 – 550, 620, 629, 630, 633, 751 Sinnlichkeit 27, 29, 90, 124, 126 – 127, 130 – 132, 141, 187 – 188, 192, 194, 196 – 199,

824

Sachregister

203, 217, 223 – 275, 284, 333 – 334, 346, 374, 381 – 382, 384, 537 – 538, 564, 699, 706 Spiel 3, 112, 145, 167, 209, 246, 263, 288 – 289, 324, 362, 398, 416, 525, 533, 583, 666, 716, 721, 736, 771, 776 – 777, 783, 800 Subjektivität 11, 17, 18, 34, 86, 101, 127, 144, 146, 151, 271, 337 – 338, 340, 396, 426, 428, 442, 489, 514, 523, 528, 538, 541, 543, 545, 550, 555, 558, 566, 569, 577 – 581, 586, 606, 612 – 615, 623, 630, 633, 640, 645, 648, 658, 659, 670, 672, 682 – 685, 689 – 690, 693, 695 – 696, 698, 701, 703 – 704, 708, 710, 733, 744 – 746, 748 – 749, 766, 770 – 771, 774, 778, 787, 793 Substanz 30, 52, 54 – 55, 64, 70, 93, 95, 115, 206, 237, 252, 375, 388, 399, 567, 573, 580, 595 – 597, 604, 664, 670 – 672, 676, 686, 722 – 723, 766, 791 System 63, 403, 476, 544, 550, 558 – 563, 566 – 567, 569, 571, 588, 610, 640 – 651, 667, 675, 679, 680, 684 Technik 19, 47, 72, 390, 420, 500, 542, 621, 663, 693, 698, 700, 703, 710 – 711, 714, 724, 725, 726, 742 – 744, 746 – 749, 752, 754, 780, 790, 795 Umdrehung 27, 130, 178 – 223, 225 – 226, 232, 235, 238, 239, 240, 243, 262, 263, 299, 353, 374, 404, 405, 535 Umwertung (aller Werte) 2, 15, 44 – 48, 60, 172, 296, 347, 373, 425 – 426, 455 – 456, 463, 468, 538, 796 Ungrund 575, 576, 583 – 584, 586, 587, 591, 607 – 609, 614 – 615, 626 – 627, 628 – 629, 631 – 632, 641 – 642, 677 – 680 Ursein 93, 514, 531, 566 – 567, 568, 572, 583 – 585, 588 – 589, 597, 604, 609, 615, 620, 624, 629, 677, 679, 708, 716, 719 Übermensch 15, 20, 45, 65, 78, 235 – 237, 267, 276, 324, 340, 420, 443, 454, 479, 490 – 492, 494, 496 – 499, 501 – 503, 506 – 507, 510, 518, 523 – 524, 525 – 526,

529, 539 – 541, 693, 740, 745 – 747, 760, 785 – 787, 798 Vernunft 10, 95, 98, 101, 111, 114, 121, 128, 145, 194, 229 – 231, 284, 286, 352, 360, 362, 365, 366 – 368, 372, 381 – 382, 384 – 385, 388, 389, 390 – 396, 416, 442 – 443, 455, 457, 461 – 462, 564, 565, 568, 571, 622, 644, 664, 672, 706, 711, 720, 724, 731, 734 Verstand 100, 110 – 114, 116, 163, 381 – 382, 558, 567, 603, 612, 617, 618, 624, 641 – 644, 650, 666, 668, 677, 682, 684, 686, 687, 688, 745, 750 Voluntarismus 17, 37, 54, 93, 94, 112, 286, 547, 558, 607, 693, 696, 763 Vorstellung 14, 17, 33, 66, 93, 95 – 98, 110 – 115, 118, 145, 146, 151, 163, 210, 245, 247, 249, 283, 285, 289, 303, 311, 313, 329, 352, 381, 390, 394, 429, 446, 466, 470, 485, 510, 514, 517, 519, 530, 531, 541, 550, 563, 566, 579, 595, 598, 650, 652, 658, 659, 672, 681, 703, 711, 720, 743, 749, 780, 797 Welt-Spiel 292, 776 – 778, 800 Wertsetzung 51, 120, 121, 133, 188 – 189, 191, 232, 239, 245, 273, 276, 345 – 348, 350, 353, 363, 375, 376, 378, 438, 454, 462 – 464, 473 – 476, 481, 487, 490, 499, 694, 760, 762 – 763, 791, 794, 797 Widerwille 32, 516, 518, 521, 523, 527, 532, 534, 540, 799 Wille der Liebe 514, 546 – 547, 551, 574, 617, 618 – 619, 635, 640, 650, 652 – 654, 656 – 657, 662 – 663, 669, 681 – 682, 684, 689, 698, 703, 734 Wille zum Willen 34 – 36, 119, 272, 675, 688, 694 – 784 Zeitlichkeit 4, 13, 31, 50, 55, 61, 66 – 67, 68 – 69, 84, 312, 319, 322, 331 – 382, 425, 433 – 434, 520, 527, 534, 577, 593 – 597, 623, 633, 638, 662 Zerklüftung 90, 535, 536, 537 Zwiegespräch 2, 10, 16, 20, 22, 123, 334, 382, 500, 503, 522, 544, 554 – 555, 558,

Sachregister

562, 565, 569, 585, 607, 646, 660, 664, 671, 681 – 683, 688, 696, 714 Zwiespalt 19, 27, 29, 127, 129, 132, 138, 178 – 179, 181, 184, 187, 191 – 201, 204, 211 –

825

214, 216, 218 – 224, 235, 237, 242, 258, 261, 263, 265, 266, 270, 275, 353, 379, 684, 783, 796