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German Pages 582 [591] Year 2009
Juraj-D. Ledić Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich Studien zur Grundlegung einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff
Realistische Phänomenologie: Philosophische Studien der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein und an der Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago/Realist Phenomenology: Philosophical Studies of the International Academy for Philosophy in the Principality of Liechtenstein and at the Pontificia Universidad Católica de Chile en Santiago. Band VI/Volume VI
EDITORS Professor Juan-Miguel Palacios With Professor John F. Crosby and Professor Czesław Porębski
ASSISTANT EDITORS Dr. Cheikh Mbacké Gueye Dr. Matyas Szálay
EDITORIAL BOARD Professor Rocco Buttiglione, Rom, Italy Professor Martin Cajthaml, Olomouc, Czech Republic Professor Carlos Casanova, Santiago de Chile Professor Juan-José García Norro, Madrid, Spain Professor Balázs Mezei, Budapest, Hungary Professor Giovanni Reale, Milan, Italy Professor Rogelio Rovira, Madrid, Spain Professor Josef Seifert, Principality of Liechtenstein and Santiago de Chile Professor Tadeusz Styczeń, Lublin, Poland Professor Luis Flores Hernandez, Santiago, Chile
Juraj-D. Ledić
Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich Studien zur Grundlegung einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff
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Siglen zu Heideggers Schriften
EM
Einführung in die Metaphysik
[auch GA 40]
GA
Gesamtausgabe
HD
Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung
[auch GA 4]
Hum
Über den Humanismus
[auch GA 9]
Hw
Holzwege
[auch GA 5]
ID
Identität und Differenz
[auch GA 11]
M
Was ist Metaphysik?
[auch GA 9]
NI
Nietzsche I
[auch GA 6.1]
N II
Nietzsche II
[auch GA 6.2]
SvG
Der Satz vom Grund
[auch GA 10]
TudK
Die Technik und die Kehre
[teilw. GA 7 und teilw. GA 11]
UzS
Unterwegs zur Sprache
[auch GA 12]
VA
Vorträge und Aufsätze
[auch GA 7]
VS
Vier Seminare
[auch GA 15]
WD
Was heißt Denken?
[auch GA 8]
WG
Vom Wesen des Grundes
[auch GA 9]
WiddPh
Was ist das – die Philosophie?
[auch GA 11]
Wm
Wegmarken
[auch GA 9]
ZS
Zur Seinsfrage
[auch GA 9]
ZSD
Zur Sache des Denkens
[auch GA 14].
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ....................................................................................................7 EINLEITUNG .............................................................................................. 11 Allgemeine und methodologische Hinweise und Bemerkungen zu den Quellen....................................................................................................... 11 Die These bzw. die Thesen dieser Arbeit.................................................. 22 Aufbau der Arbeit und Überblick über den Inhalt .................................... 24 ERSTER HAUPTTEIL 1. DAS SEIN SELBST IN SEINER SELBIGKEIT ........................................... 31 1.1 Die Seinsvergessenheit als Wesensmerkmal aller Metaphysik und Weltgeschichte ............................................................... 31 1.2 Identifikation von Seinsvergessenheit/Metaphysik und Nihilismus ................................................................................... 42 1.3 Die Seinsvergessenheit ist kein Mangel, kein Irrtum und kein Fehler................................................................................... 48 1.4 Nähere Verdeutlichung der Seinsvergessenheit anhand der philosophischen Theologie und ihrer Substantivierung von Sein.............................................................................................. 49 1.5 Nähere Verdeutlichung der Seinsvergessenheit anhand des on koinon bzw. ens commune ................................................... 56 1.6 Heideggers Kennzeichnung des Wesens des Seins als Unverborgenheit und die Konfundierung von Sein, Unverborgenheit, Lichtung und Wahrheit ............................................ 63 1.7 Weitere Verdeutlichung des Seins als Unverborgenheit durch die Beziehung von Sein und Seiendem ............................ 73 1.8 Über die unversehen-neue Bedeutung von Heideggers Forderung, den Unterschied von Sein und Seiendem zu denken ......................................................................................... 84 1.9 Weitere Radikalisierung des Seins. Das Sein als reines Geschehnis. Weitere In-eins-Setzungen von Sein, Geschehnis, Ereignis und Entbergung...................................................... 87 1.10 Das Sein des Seienden als spontane Quelle aller Initiative bzw. Selbstvollzug ...................................................................... 95
1.11 Das Geschehnis des Seins des Seienden und die Seinsgeschichte als sich spontan wandelndes Selbstgeschick des Seins ............................................................................................ 97 1.12 Die Wahrheit des Wesens als Wesen der Wahrheit.................. 105 1.13 Das Sein als reines Geschehnis und das Geschick des Seins als Erhellungsgrund für die Gebrochenheit der Metaphysik .... 112 2. DAS SEIN SELBST IN SEINER DIFFERENZ .......................................... 117 2.1 Die ontologische Differenz, was ist das?.................................. 117 2.2 Ontologische Differenz, Seinsverlassenheit, Nihilismus und Verwindung der Seinsverlassenheit angesichts einer übermächtigen Technik .................................................................... 134 2.3 Das »Verhältnis«, das »Verhalten« und die »Verhaltenheit« des Seins oder: Das Sein als Sach-Verhalt ............................... 160 2.4 Zusammenfassung..................................................................... 167 ZWEITER HAUPTTEIL 3. ZUR GESCHICHTE DES SACHVERHALTSBEGRIFFS .......................... 173 3.1 Vorbemerkungen....................................................................... 173 3.2 Der Sachverhalt in Antike und Mittelalter................................ 175 3.2.1 Hinweise auf »Sachverhalte« bei Aristoteles ............... 175 3.2.2 Der Sachverhalt bei Abaelard, Bonaventura und Thomas von Aquin........................................................ 183 3.2.3 Der Sachverhalt bei Adam Wodeham und Gregor von Rimini..................................................................... 185 3.3 Der Sachverhalt im 19. und 20. Jahrhundert ............................ 201 3.3.1 Die juristische Provenienz des Ausdrucks »Sachverhalt«............................................................................... 201 3.3.2 Der Sachverhalt bei Hermann Lotze und Julius Bergmann ...................................................................... 202 3.3.3 Der Sachverhalt bei Carl Stumpf.................................. 204 3.3.4 Kazimierz Twardowskis Bruch mit dem immanentistischen Verständnis von Gedankeninhalten durch die Unterscheidung von Akt, Inhalt und Gegenstand.................................................................... 210 3.3.5 Der Sachverhalt bei Anton Marty................................. 216 3.3.6 Der Sachverhalt als Objekiv bei Alexius Meinong ...... 223
3.3.7 Der Sachverhalt bei Edmund Husserl........................... 230 3.3.8 Der Sachverhalt bei Johannes Daubert und Adolf Reinach.......................................................................... 234 3.3.9 Der Sachverhalt bei Bertrand Russell........................... 238 3.3.10 Der Sachverhalt bei Ludwig Wittgenstein.................... 247 3.3.11 Der Sachverhalt bei Roderick Chisholm ...................... 254 4. ÜBER DAS SOSEIN UND DASEIN VON SACHVERHALTEN ................... 265 4.1 Sprachliche Erscheinungsformen, in denen Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden können................................... 265 4.2 Formale Kennzeichnung der ontologischen Struktur von Sachverhalten ............................................................................ 266 4.3 Unterscheidung zwischen Sachverhalt und »Urteil«................ 271 4.3.1 Allgemeiner Durchgang durch die Unterscheidungen........................................................................... 271 4.3.2 Eingehendere Unterscheidung zwischen Urteilsakt und Urteilsinhalt............................................................ 277 4.3.3 Eingehendere Unterscheidung zwischen Urteilsinhalt und Aussagesatz..................................................... 280 4.3.4 Der Urteilsinhalt als eigentlicher und der Aussagesatz als uneigentlicher Träger von Wahrheit und Falschheit ...................................................................... 282 4.3.5 Eingehendere Unterscheidung zwischen Urteilsinhalt und Sachverhalt...................................................... 285 4.3.6 Eingehendere Unterscheidung zwischen Sachverhalten und Aussagesätzen ............................................. 290 4.3.7 Eingehendere Unterscheidung zwischen Sachverhalten und Urteilsakten ................................................. 291 4.3.8 Der Sachverhalt als das notwendige objektive Korrelat von Urteilsinhalten/Propositionen bzw. Behauptungen ............................................................... 292 4.3.9 Sachverhalt und Urteilswahrheit................................... 296 4.4 Unterscheidung zwischen Sachverhalt und »Sache«................ 301 4.4.1 Sachverhalte im Unterschied zu Gegenständen und deren Attributen ............................................................ 301 4.4.2 Sachverhalt und räumliche Relation............................. 307 4.4.3 Sachverhalt und Ähnlichkeitsrelation........................... 310 4.4.4 Sachverhalt und bewußte Relationen............................ 311
4.5
4.6 4.7
4.8
4.9
4.4.5 Sachverhalt und ontologische Relation. Kritische Anmerkung zu Reinachs Begriff eines »ergänzungsbedürftigen Sachverhaltes«........................................... 313 4.4.6 Unterschied zwischen Sachverhalten und dem »Verhalten« bzw. den Verhaltensweisen einer Sache ............................................................................. 321 4.4.7 Unterschied zwischen Sachverhalten und Zuständen... 324 4.4.8 Unterschied zwischen Sachverhalten und Ereignissen oder Geschehnissen ................................................ 327 Transzendenz der Sachverhalte und Verhältnisbestimmung zwischen Sachen und Sachverhalten ........................................ 333 4.5.1 Die Transzendenz der Sachverhalte gegenüber allem, was in diese eingeht ........................................... 333 4.5.2 Alles Seiende fundiert Sachverhalte............................. 340 4.5.3 Die »Unendlichkeit« der Sachverhalte ......................... 341 Die Teilhabe von Sachverhalten an den Seinsmodifikationen des in sie eingehenden Seienden insbesondere an der Modifikation der Zeitlichkeit.................................................... 345 Der Bestand als spezifische und irreduzible Daseinsform der Sachverhalte ........................................................................ 355 4.7.1 Existenz und Sachverhalt: Eine weitere notwendige Unterscheidung ............................................................. 355 4.7.2 Das »Bestehen« oder der »Bestand« als die irreduzible Art des Realseins von sowohl positiven als auch negativen Sachverhalten....................................... 358 Besondere Zusammenhänge zwischen Sachverhalten und Ursprungsbeziehungen und Sachverhalten und dem Kontradiktionsprinzip........................................................................... 363 4.8.1 Sachverhalte allein stehen in Grund-FolgeBeziehungen, niemals aber in Ursache-WirkungsBeziehungen.................................................................. 363 4.8.2 Sachverhalte und das ontologische Verhältnis der Kontradiktion ................................................................ 368 Argumente für den bewußtseinsunabhängigen objektiven Bestand von negativen Sachverhalten ...................................... 372
5. KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU EINIGEN SACHVERHALTSBEGRIFFEN ......................................................................................... 383 5.1 Kritische Auseinandersetzung mit Ingardens Auffassung von der Seinsheteronomie des Bestandes negativer Sachverhalte ...................................................................................... 383 5.2 Kritikische Anmerkungen zu Chisholms Sachverhaltsbegriff............................................................................................ 406 5.3 Hengstenbergs und Armstrongs unscharfe Unterscheidung oder Verwechslung von Sachen und Sachverhalten................. 409 5.4 Vendlers Sicht der Beziehung zwischen Sachverhalten bzw. »facts« und Ursächlichkeit ............................................... 413 5.5 Süßbauers Unterscheidung von Urteilsinhalten und Sachverhalten durch Unterscheidung ihrer Bestandteile.................. 416 6. NOTWENDIGE SACHVERHALTE UND DIE MÖGLICHKEIT DER ERKENNTNIS DER REZEPTIVEN TRANSZENDENZ UND RESTLOSEN GEWISSHEIT DER ERKENNTNIS ................................................. 421 6.1 Über die allen intentionalen Objekten eignende Transzendenz gegenüber dem sie intendierenden Akt des Bewußtseins und ihre Bedeutung .......................................................... 421 6.2 Die Bedingung der Möglichkeit, den rezeptiven Charakter aller echten Erkenntnis mit unverrückbarer Gewißheit zu erkennen .................................................................................... 430 6.3 Darstellung der Evidenz der Rezeptivität der Erkenntnis am Beispiel von notwendigen Sachverhalten über den Zweifel als intentionalem Akt ................................................................ 437 6.4 Die Tragweite notwendiger Sachverhalte für die Rezeptivität und Gewißheit der Erkenntnis ............................................. 446 7. DIE CHARAKTERISTIKA DER IN NOTWENDIGEN SACHVERHALTEN VORLIEGENDEN NOTWENDIGKEIT ............................................ 451 7.1 Notwendige Sachverhalte und Allgemeinheit überhaupt ......... 451 7.2 Notwendige Sachverhalte und strikte Allgemeinheit ............... 454 7.3 Notwendige Sachverhalte und das formale Verhältnis zwischen allgemeiner Natur und konkretem Einzelfall.................. 455 7.4 Notwendige Sachverhalte und Naturnotwendigkeit ................. 456 7.5 Notwendige Sachverhalte und psychologische Denknotwendigkeit ................................................................................. 459
7.6 Notwendige Sachverhalte und die transzendentale Notwendigkeit Kants ............................................................................. 462 7.7 Zeitlosigkeit und Ewigkeit notwendiger Sachverhalte ............. 473 7.8 Die absolute Unzerstörbarkeit notwendiger Sachverhalte........ 474 7.9 Die absolute Unveränderlichkeit notwendiger Sachverhalte.... 475 7.10 Die unvergleichliche Intelligibilität notwendiger Sachverhalte ........................................................................................... 475 7.11 Notwendige Sachverhalte und apodiktische Gewißheit und Unfehlbarkeit der Erkenntnis.................................................... 478 7.12 Über die Iniudicabilitas notwendiger Sachverhalte.................. 481 8. DIE FUNDIERUNG VON NOTWENDIGEN SACHVERHALTEN IN NOTWENDIGEN SOSEINSEINHEITEN .................................................. 485 8.1 Die Akte des Kennens und des Wissens................................... 485 8.2 Das in sich Widerspruchsvolle und das Chaotische als die beiden Gegensätze zur notwendigen Einheit eines jeden Seienden .................................................................................... 493 8.3 Die »zufällige Soseinseinheit«.................................................. 496 8.4 Die sinnvolle Soseinseinheit des kontingenten »echten Typus«....................................................................................... 499 8.5 Die »notwendige Soseinseinheit«............................................. 503 DRITTER HAUPTTEIL 9. KRITISCHE AUSBLICKE AUF HEIDEGGERS SACH-VERHALTSBZW. SEINSBEGRIFF ........................................................................... 511 9.1 Vorbemerkung........................................................................... 511 9.2 Kritik an Heideggers Sach-Verhalt durch das evidente Bestehen notwendiger Sachverhalte ......................................... 512 9.3 Kritik an Heideggers Sach-Verhalt durch Sachverhalte als Entität sui generis...................................................................... 514 9.4 Konfundierung alles Seienden und die totale Prozessualität allen Seins macht die Zeit und das Werden unmöglich............ 518 9.5 Heidegger selbst entzieht der ontologischen Differenz jede Grundlage, da sich Heideggers Identitäts- und Differenzbegriff wechselseitig unmöglich machen ................................. 523 9.6 Stillschweigende notwendige Voraussetzung eines Sachverhaltes bei Heidegger............................................................. 526
9.7 Weitere Beispiele der stillschweigenden Voraussetzung notwendiger Sachverhalte bei Heidegger und ein Beispiel für eine weniger stillschweigende Vereinnahmung absoluter Notwendigkeit, unvergleichlicher Intelligibilität und absoluter Gewißheit bei Heidegger........................................... 528 9.8 Kritisches Streiflicht auf Heideggers Auffassung, daß alle Erkenntnis und damit alle Wahrheit relativ sei auf die »Konstellation des Seins« ......................................................... 531 9.9 Die Einsicht als zentrale Methode der Philosophie und die Mannigfaltigkeit ihrer adäquaten Gegenstände und die völlige Verarmung des Denkens und Seins bei Heidegger ...... 533 SCHLUßWORT .......................................................................................... 553 LITERATURVERZEICHNIS ....................................................................... 555 NAMENSVERZEICHNIS ............................................................................ 579
VORWORT
Die Quellen der Zitate aus den Schriften HEIDEGGERS werden in dieser Arbeit durch entsprechende Siglen und Seitenzahlen kenntlich gemacht, sofern es sich bei diesen Schriften um Monographien oder sonstige bekannte Einzelveröffentlichungen, wie etwa die Aufsatzsammlungen Holzwege und Wegmarken, handelt. Zusätzlich wird, sofern dies möglich ist, angegeben, wo dieselben Zitate in der Gesamtausgabe der Werke HEIDEGGERS aufzufinden sind. Die Gesamtausgabe wird unter der gängigen Abkürzung »GA«, der Angabe des Bandes und der Seitenzahl zitiert. Diese Zitierweise trägt der Tatsache Rechnung, daß am selben Ort nicht immer sowohl alle Einzelausgaben als auch die Gesamtausgabe der Werke HEIDEGGERS aufgefunden werden können. Wo keine Einzelveröffentlichungen vorliegen, wie etwa im Fall der posthum veröffentlichten Schriften, kann freilich nur die Gesamtausgabe zitiert werden. Auf alle in dieser Arbeit verwendeten weiteren Quellen wird durch Kurzbelege verwiesen. Sowohl selbständige als auch unselbständige Schriften, wie Periodicaartikel, und Texte aus dem Internet, werden durch Angabe des Autorennachnamens, des Erscheinungsjahres in eckigen Klammern und der Seitenzahl zitiert. Die entsprechenden vollständigen bibliographischen Angaben finden sich im Literaturverzeichnis. Von dieser Regel ausgenommen sind »Klassiker« der Philosophiegeschichte wie die Werke antiker und mittelalterlicher Denker oder die Werke von Philosophen wie KANT und HUSSERL. Antike Autoren und Werke wie z.B. Aristot. metaph. werden gemäß den konventionellen altphilologischen Namens- und Titelabkürzungen zitiert. Zur Angabe einer Textstelle innerhalb der entsprechenden Werke wird die jeweils etablierte Abschnittsgliederung verwendet. Werke mittelalterlicher Denker werden gemäß den in der Mediavistik gängigen Standards angeführt. Klassiker wie etwa die Werke KANTS und HUSSERLS werden unter standardisierten Titelsiglen wie KrV, Prol und GMS bzw. unter den Titelsiglen der Werkausgaben wie Hua. und den entsprechenden konventionellen Stellenangaben zitiert. Die Nachnamen und ggf. die Namen sämtlicher Autoren wie etwa »Carl STUMPF«, »Bertrand RUSSELL« oder »BONAVENTURA« und »GREGOR«
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Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich
bzw. »GREGOR VON RIMINI« sind sowohl im laufenden Text als auch im Fußnotenbereich in Kapitälchen gesetzt. Ausgenommen sind Nachnamen innerhalb von Überschriften, sofern deren Gesamtformatierung Kapitälchen nicht vorsieht. Von der obigen Regel sind ferner jene Namen ausgenommen, die lediglich im Rahmen von veranschaulichenden Beispielen genannt werden, gleichviel, ob es sich dabei um die Namen von Philosophen handelt oder nicht. Namen, die innerhalb von Zitaten vorkommen, werden freilich quellengetreu wiedergegeben. Eckige Klammern innerhalb von Zitaten beinhalten entweder das übliche Zeichen für eine vorgenommene Auslassung ([…]) oder eine Anmerkung des Verfassers. Auf einen entsprechenden zusätzlichen Vermerk wie »Anm. d. Verf.« wird verzichtet. Sollten eckige Klammern ausnahmsweise zum Zitat selbst gehören, wird dies im Anschluß an die entsprechende Klammer durch die Bezeichnung [sic] kenntlich gemacht. Zitate werden in aller Regel dann eingerückt und vom laufenden Text abgesetzt, wenn sie in der für sie vorgesehenen Formatierung die Länge einer Zeile überschreiten. Ausgenommen hiervon sind Zitate aus WITTGENSTEINS Tractatus, da viele Punkte dieses Werkes ohnehin in nur einem sehr kurzen Satz bestehen. Ferner ausgenommen sind einige kurze Zitate aus HEIDEGGERS Werken. Durch die eingerückte und abgesetzte Formatierung für Zitate werden sie trotz ihrer Kürze eigens hervorgehoben, was sich in gewissen Zusammenhängen für das Verständnis als nützlich erweisen dürfte. Sachverhalte bilden das zentrale Thema dieser Arbeit. Sachverhalte kommen sprachlich entweder in substantivierten Infinitiven wie das Rotsein-der-Rose oder in daß-Sätzen, wie daß die Rose rot ist, zum Ausdruck. Um gewissen Verwechslungsmöglichkeiten vorzubeugen und so das Lesen eines Großteils der Arbeit zu erleichtern, wurden alle entsprechenden Ausdrücke für Sachverhalte kursiv formatiert. Wo durch dieselben sprachlichen Ausdrücke z.B. aufgrund von materieller Supposition keine Sachverhalte bezeichnet werden, erfolgt auch keine Kursivierung. Die Bezugnahme auf Texte aus dem Internet wurde in dieser Arbeit möglichst vermieden, da die Inhalte dieses Mediums grundsätzlich »flüssig« sind. Für die Ausarbeitung des historischen Kapitels über Sachverhalte erwies sich allerdings das Essay »Theories of Truth in Austrian and Polish Philososphie« von Jan WOLENSKI als hilfreich. In begrenztem
Vorwort
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Maß sind ferner die Inhalte gewisser Artikel der Stanford Encyclopedia of Philosophy eingeflossen. Die hier veröffentlichen Artikel sind auffallend detailliert und stets sowohl mit der Angabe der Autorennamen also auch mit der Angabe des Copyright bzw. des Erscheinungsjahres versehen. Wer sich für das Thema »Sachverhalte« bzw. »states of affairs« insbesondere unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt interessiert, dem können die entsprechenden Artikel durchaus empfohlen werden, zumal durch zahlreiche Verweise auf thematisch benachbarte Artikel und entsprechende weiterführende Links immer ein größerer Zusammenhang hergestellt wird. Die Orthographie und Interpunktion dieser Arbeit entspricht den Regeln vor der deutschen Rechtschreibreform vom Juli 1996, deren endgültige Einführung am 01. August 1998 erfolgte. Ein Teil der in dieser Dissertation verarbeiteten Literatur entstammt dem englischsprachigen Raum. Im Hinblick auf die zweisprachige Ausrichtung der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein wurde von einer Übersetzung der entsprechenden Zitate ins Deutsche meist abgesehen. Ich darf Herrn Prof. Dr. Mariano Crespo für die aufmerksame und geduldige Betreuung danken. Seine Kommentare und Ratschläge waren eine kaum zu überschätzende Hilfe bei der Erstellung dieser Schrift. Frau Mag. Katharina Dlouhy, welche die arbeitsreiche Korrekturlektüre der Arbeit übernommen hat, möchte ich an dieser Stelle den besten Dank aussprechen. Unmittelbar vor der Publikation dieser Arbeit hat Herr Oberstudiendirektor a.D. Alfred Sommer eine letzte Korrekturlesung der Dissertation vorgenommen. Ferner hat mir Dr. Cheikh Mbacké Gueye durch die sachkundige Formatierung der Arbeit gemäß den Vorgaben des Verlags sehr geholfen. Beiden gilt mein besonderer Dank.
EINLEITUNG Allgemeine und methodologische Hinweise und Bemerkungen zu den Quellen
HEIDEGGER nennt das »Er-eignis«, welches seinerseits nichts anderes ist als das »Sein«, den »Sach-Verhalt«. Diese Aussage fordert dazu heraus, sich auf Sachverhalte als solche zu besinnen, um durch die systematische Betrachtung von Sachverhalten die Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung mit HEIDEGGERS Sein als »Sach-Verhalt« zu schaffen. Die Schaffung dieser Grundlage ist das Ziel dieser Arbeit. Das erfordert einerseits eine Darstellung dessen, was HEIDEGGER meint, wenn er das Sein den »Sach-Verhalt« nennt. Andererseits aber ist es unabhängig von HEIDEGGERS Sach-Verhalt vor allem nötig, das Sein von Sachverhalten, d.h. ihr »Sosein« und »Dasein« einer Untersuchung zu unterziehen, und diese Untersuchung als die zentrale Aufgabe dieser Arbeit durchzuführen. Beide Aufgaben sind gemeinsam bereits derart umfangreich, daß sie die Grenzen des hier gesteckten Rahmens erschöpfen. Jedoch soll die kritische Auseinandersetzung deshalb nicht völlig unterbleiben. Vielmehr soll sie in Form »kritischer Ausblicke« den abschließenden Teil dieser Arbeit bilden. Die eingehendere Entwicklung der Kritikpunkte wird die Aufgabe einer in Zukunft zu leistenden Arbeit sein. Allerdings muß gesehen werden, daß das Sosein und Dasein von Sachverhalten überhaupt und insbesondere das Sosein und Dasein notwendiger Sachverhalte die Unmöglichkeit des HEIDEGGERSCHEN »Sach-Verhalts«, hinter dem sich HEIDEGGERS Seinsbegriff verbirgt, deutlich machen. Auf eine Sonderbarkeit dieser Arbeit, die durch die Sonderbarkeit des HEIDEGGERSCHEN Seinsbegriffs und durch die nicht weniger sonderbare, sich in Paronomasien ergehende HEIDEGGERSCHE Terminologie bedingt ist, ist bereits hier ausdrücklich hinzuweisen. Entgegen der in Anbetracht des Titels sich vermutlich einstellenden Erwartung ist – abgesehen von gewissen Bemerkungen in den vorliegenden einleitenden Abschnitten und abgesehen von gewissen »Winken« im Verlauf der den ersten Hauptteil dieser Arbeit ausmachenden Behandlung des HEIDEGGERSCHEN Seinsverständnisses – nur in einem und zwar nur in dem letzten der HEIDEGGERS Denken betreffenden Abschnitte
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Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich
auch ausdrücklich vom »Sach-Verhalt« die Rede. Das liegt daran, daß der Ausdruck »Sach-Verhalt« nur ein anderes Wort für HEIDEGGERS »Ereignis« bzw. das »Sein selbst« ist. Zudem zieht HEIDEGGER den Ausdruck »Sachverhalt« öfter zur Bezeichnung des »Seins« heran als den Ausdruck »Sach-Verhalt«. Um zu verstehen, warum HEIDEGGER das Sein selbst als den »Sach-Verhalt« oder »Sachverhalt« bezeichnet, ist es daher notwendig, zunächst dem HEIDEGGERSCHEN Seinsbegriff selbst nachzugehen. Anschließend kann deutlich werden, das der paronomasierende HEIDEGGER die Ausdrücke »Sach-Verhalt« und »Sachverhalt« als in besonderer Weise »schillernd« ansieht und meint, mit diesem Schillern auch sein überaus »schillerndes« Sein selbst zum Ausdruck bringen zu können. Wenn im Rahmen dieser Arbeit vom »späten« HEIDEGGER die Rede ist, dann geschieht dies deshalb, weil hier so gut wie ausschließlich auf Veröffentlichungen HEIDEGGERS nach Sein und Zeit Bezug genommen wird. Das Werk Sein und Zeit ist hier mit einer Ausnahme nicht thematisch. Die durchgehend zentralen und in ihrer Bedeutung und in ihrem Inhalt gleichbleibenden Themen des späten HEIDEGGER sind die »Seinsverlassenheit«, die »Geschichtlichkeit des Seins« und die »ontologische Differenz«, sofern hier überhaupt von verschiedenen Themen gesprochen werden darf. Es geht in einem Teil dieser Arbeit darum, was mit diesen Bezeichnungen bei HEIDEGGER wesentlich gemeint ist. Die zentrale Beschäftigung und das unausgesetzte Zurückkommen auf diese Themen kennzeichnen unverändert den späten HEIDEGGER bis zu seinem letzten öffentlichen Vortrag im Jahr 1972. Kennzeichnend für den späten HEIDEGGER ist, daß er nicht mehr nur und nicht mehr so sehr von »Seinsvergessenheit«, sondern vielmehr von »Seinsverlassenheit« spricht. Ferner ist kennzeichnend, daß der späte HEIDEGGER nicht mehr darum bemüht ist, die Seinsverlassenheit durch das Denken der Differenz zu überwinden. Vielmehr meint der späte HEIDEGGER, zu der Erkenntnis gekommen zu sein, daß gerade aufgrund des Denkens aus der Differenz die Seinsverlassenheit gar nicht überwunden, sondern lediglich »verwunden« werden kann. Seinsverlassenheit und Verwindung und im wesentlichen Verein damit das Denken aus der Differenz und der Seinsgeschichtlichkeit sind durchgängig das zentrale Thema des späten HEIDEGGER, von dem alles ausgeht und auf das alles immer wieder zurückkommt. Es ist in dieser Arbeit nicht nötig, auf die Frage nach der sogenannten »Kehre« in HEIDEGGERS Denken eigens
Einleitung
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einzugehen. Zu dieser Frage gibt es hinsichtlich der Datierung und hinsichtlich der Frage, ob von einer oder von mehreren Kehren gesprochen werden muß, die unterschiedlichsten Auffassungen.1 Diese Arbeit versteht sich aber nicht als Beitrag zur historischen HEIDEGGERforschung. Hier geht es lediglich um den Versuch, die wesentlichen und sich stets gleichbleibenden Grundgedanken HEIDEGGERS aufzuschließen, welche sein gesamtes Denken nach Sein und Zeit prägen. Jeder, der sich mit HEIDEGGER befassen möchte, muß Geduld mitbringen. Seine Formulierungen können äußerst verwirrend sein. Als solche spiegeln sie das von HEIDEGGER gedachte »Sein«, welches, wie HEI2 DEGGER ausdrücklich betont, selbst »Unfug und Tücke« sein soll. Auf den verwirrenden Charakter der Sprache HEIDEGGERS ist von verschiedenster Seite hingewiesen worden. Nach einer, wie CRITCHLEY unterstreicht, nur »flüchtigen Lektüre« von Was ist Metaphysik? bezichtigt AYER HEIDEGGER der »Scharlatanerie«.3 THOMÄ spricht hinsichtlich des HEIDEGGERSCHEN Vokabulars von »sprachlichen Wolkigkeiten«.4 POISS macht auf »das zweideutige Zeige- und Versteckspiel HEIDEGGERS in und mit der Sprache« aufmerksam5 und darauf, daß »kaum ein Wort in HEIDEGGERS Texten […] nicht einen Hof von Nebenbedeutungen um sich« hat.6 Ferner ist hinsichtlich der HEIDEGGERSCHEN Sprache von »Obskurantismus«7, vom »elitären Sprachgestus«8 und von »hermeneutischer Gewalt und rhetorischer Vereinnahmung« die Rede.9 Und HEIDEGGERS Ausführungen sind in der Tat dunkel, zwingend, »sprachgewalttätig« und in keiner Weise »zitierfreundlich«. Um nachvollziehen zu können, was HEIDEGGER mit der Seinsverlassenheit meint, müssen die entsprechenden Texte im Kontext zahlreicher weiterer Texte gelesen werden. Ein an den Texten inhaltlich 1
2 3 4 5 6 7 8 9
Es gibt bedeutende Äußerungen des späten HEIDEGGER, welche darauf hindeuten, daß die »Kehre« nicht als ein ›Moment‹ seines denkerischen Werdegangs, sondern als ein weiterer Ausdruck für die »Differenz« zu verstehen ist. GA 52, 102. AYER [1982], 228. S. CRITCHLEY [2003], 355, 2. Vgl. INWOOD [o.J.], 8. THOMÄ [2003a], 311, 1. POISS [2003], 67. POISS [2003], 66. CRITCHLEY [2003], 361, 1. DEMMERLING [2003], 367, 1. MARTEN [2003], 325, 2.
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Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich
nachvollziehbarer Gedankengang ergibt sich aber erst, wenn Zitate aus den unterschiedlichsten Werken zusammengetragen werden. Deshalb ergibt es keinen Sinn, sich auf eine oder nur einige wenige Schriften HEIDEGGERS zu beschränken. Wer HEIDEGGERS zentrale Begriffe aufschließen möchte, der muß dazu bereit sein, gleichsam ein Puzzle zusammenzusetzen, dessen Stücke nicht in einer Schachtel beisammen liegen. Vielmehr sind diese Stücke über die Werke HEIDEGGERS verstreut. Deren Auffinden und Zusammensetzen ist mühsam, aber lohnenswert. Denn eine der treffendsten Kritiken an HEIDEGGER besteht vielleicht einfach in der Aufschließung des wesentlich Gemeinten. Ob dies gelungen ist, wird nicht zuletzt der Leser beurteilen müssen. Jeder Leser sei noch einmal darauf hingewiesen, daß alle HEIDEGGER betreffenden und von HEIDEGGER stammenden Texte immer im Gesamtzusammenhang zu sehen sind. Erst im umfassenden Zusammenhang führen sie gewissermaßen zu einer »Übersetzung ihrer selbst«. Aus diesem Grund dürfte auch die Lektüre der hiesigen Ausführungen zu HEIDEGGER vom Leser eine gewisse »Langatmigkeit« verlangen. Allerdings wird man zuversichtlich sein dürfen, daß der nötige Aufwand an Geduld jenes Maß spürbar unterbietet, welches das übliche Studium der Texte HEIDEGGERS und seiner Adepten dem Leser in aller Regel abfordert. Eine weitere Schwierigkeit ist hier zu erwähnen. Wer die Sekundärliteratur zu HEIDEGGERS Denken kennt, weiß, daß gerade jene Werke, welche sich um eine textnahe Interpretation bemühen, einen sonderbaren, sich stets wiederholenden Charakter haben. Dies kann durchaus zu dem Eindruck führen, daß man gleichsam immer irgendwie auf der Stelle tritt und von dieser Stelle nicht fortkommt. Dieser Eindruck dürfte sich auch bei der Lektüre der entsprechenden Kapitel dieser Arbeit einstellen. Es ist schon hier zu betonen, daß eine Interpretation HEIDEGGERS nicht anders als wiederholend sein kann, weil HEIDEGGERS Denken selbst einen äußerst wiederholenden Charakter hat. HEIDEGGERS Denken selbst tritt in einer sonderbaren Weise unausgesetzt auf einer Stelle. Deshalb darf auch der Interpret in einer gewissen Hinsicht gar nicht erst versuchen, Wiederholungen zu vermeiden. Im Gegenteil! Durch einen bestimmten repetitiven Charakter der Interpretation wird deren unmittelbare Nähe zu dem von HEIDEGGER gedachten Seinsbegriff nachgerade verbürgt. Die Wiederholung gehört zur treffenden Interpretation, denn HEIDEGGERS Seinsbegriff ist, wie gesagt, wesentlich auf die Wiederholung
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angewiesen. Ja, man kann sagen, HEIDEGGERS Seinsbegriff ist in einem bedeutenden Sinn ein »Auf-der-Stelle-Treten«. Warum dies so ist und so sein muß, soll im Zuge der Arbeiten am Text immer deutlicher werden. Der methodische Zugang zu HEIDEGGER ist textanalytisch und interpretierend. Von Anfang an wird es darum gehen, anhand einschlägiger Texte zu zeigen, wie sonderbar HEIDEGGER denkt. Alle angeführten Texte dienen letztlich dazu, sich nach und nach gleichsam wechselseitig zu erhellen, so daß die Kernbedeutung des HEIDEGGERSCHEN Vokabulars aus verschiedenen Texten heraus deutlich wird. Dies macht es auch erforderlich, daß einige Texte mehrmals zitiert werden. Beim ersten Mal dient der Text der Darstellung eines Zusammenhangs. Nachdem der Zusammenhang gesehen werden kann, fällt ein neues Licht auf den Text, der ansonsten hätte kaum nachvollzogen werden können. Neben der inhaltlichen Sonderbarkeit des von HEIDEGGER Gemeinten wird sich zeigen, daß und wie die von HEIDEGGER verwendeten Worte wie etwa »Unterschied« oder »Verlassenheit« von der herkömmlichen Bedeutung abweichen. Innerhalb des HEIDEGGERSCHEN Gedankenzusammenhangs haben diese Abweichungen allerdings ihren abermals sonderbaren »HEIDEGGERSCHEN« Sinn, was ebenfalls deutlich werden soll. In Kapitel 3 wird ein historischer Überblick über die Entwicklung des Sachverhaltsbegriffs gegeben. Als Überblick erheben die entsprechenden Ausführungen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Auswahl der Sachverhaltsbegriffe bestimmter Denker soll allerdings insofern repräsentativ sein, als auf eine Reihe herausragender Klassiker von ARISTOTELES über bestimmte mittelalterliche Denker bis hin zu WITTGENSTEIN eingegangen wird. Hier ist ausdrücklich zu betonen, daß gewisse bereits vorliegende historische Arbeiten einen wertvollen Beitrag zur Sichtung und zum Verständnis des Sachverhaltsbegriffs bei antiken, mittelalterlichen und modernen Denkern geleistet haben. Die in dieser Arbeit zum Ausdruck kommende Sensibilisierung für die Sachverhaltsthematik bei ARISTOTELES verdankt sich der eingehenden Untersuchung Aristotle’s Concept of States of Affairs von Peter SIMONS [1987]. Die Sichtung des Sachverhaltsbegriffs bei ABAELARD, THOMAS VON AQUIN und BONAVENTURA verdankt sich insbesondere den Hinweisen von Barry SMITH. Gedeon GÁL O.F.M., Katherine H. TACHAU, Martin LENZ und Hermann WEIDEMANN haben äußerst wertvolle Beiträge zur historischen Erforschung des Sachverhalts-
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begriffs bei bestimmten spätmittelalterlichen Denkern gemacht. Diese Beiträge waren für die Untersuchung des Sachverhaltsbegriffs bei Adam WODEHAM und GREGOR VON RIMINI (Abschnitt 3.2.3) von großem Wert. Namentlich zu erwähnen sind hier die Ausführungen von GÁL in [1977]: »Adam of Wodeham’s Question on the ›Complexe Significabile‹ as the Immediate Object of Scientific Knowledge«, und von TACHAU in [1987]: »Wodeham, Crathorn and Holcot: The Development of the Complexe significabile« und die Ausführungen in dem von derselben Autorin verfaßten Standardwerk [1988]: Vision and Certitude in the Age of Ockham. Optics, Epistemology and the Foundation of Semantics 1250– 1345. Eine weitere bedeutsame Hilfe bei der historischen Untersuchung mittelalterlicher Sachverhaltsbegriffe bilden insbesondere die jüngeren Arbeiten von WEIDEMANN in [1991]: »Satz, Sache und Sachverhalt: Zur Diskussion über das Objekt des Wissens im Spätmittelalter« und LENZ in [2001]: »Adam de Wodeham und die Entdeckung des Sachverhalts«. Die historische Reflexion auf die Entwicklung des Sachverhaltsbegriffs ist vergleichsweise jung. Es dürfte in dieser Hinsicht noch manches zu entdecken sein. Die wichtigste Sekundärliteratur im »Hintergrund« der historischen Abschnitte 3.3.1 bis 3.3.8, in denen es um die Sachverhaltsbegriffe von Hermann LOTZE, Julius BERGMANN, Kazimierz TWARDOWSKI, Anton MARTY, Alexius MEINONG, Edmund HUSSERL, Johannes DAUBERT und Adolf REINACH geht, liefert Barry SMITH. In zahlreichen Veröffentlichungen hat sich SMITH gerade auch um die historischen Gesichtspunkte der Sachverhaltsthematik bemüht. Diese Arbeiten dürften für jeden Interessenten von größtem Wert sein, da SMITH sich fundiert darauf versteht, Ordnung in die teils schwierigen und nicht selten zunächst verwirrenden Zusammenhänge zu bringen. Neben SMITH ist hier auch noch Arthur ROJSZCZAK [2001] zu erwähnen. Dessen gemeinsam mit SMITH verfaßtes Essay »Urteilstheorien und Sachverhalte« hat ebenfalls wesentlich zum Verständnis der in den erwähnten historischen Abschnitten geschilderten Zusammenhänge beigetragen. In den Abschnitten 3.3.9 bis 3.3.11 wird der Sachverhaltsbegriff bei Bertrand RUSSELL, Ludwig WITTGENSTEIN und Roderick M. CHISHOLM erörtert. Insbesondere in den Abschnitten über RUSSELL und WITTGENSTEIN dürfte auffallen, daß ungleich seltener auf die entsprechende Säkun-
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därliteratur zurückgegriffen wird. Dies hat mehrere Gründe: In RUSSELLS Fall wird kein Überblick über alle möglichen Aspekte seines Sachverhaltsbegriffs gegeben. Ein solcher Überblick würde z.B. auch die Unterschiede beim frühen und späten RUSSELL berücksichtigen müssen, womit allerdings der Rahmen dieser Arbeit überschritten würde. Vielmehr werden nur einige wenige bedeutende Aspekte des Sachverhaltsbegriffs, wie er insbesondere im zwölften Kapitel »Truth and Falsehood« von The Problems of Philosophy aufscheint, behandelt. Daher sind die entsprechenden Ausführungen in weit geringerem Maße auf Sekundärliteratur angewiesen. Die Ausführungen über WITTGENSTEIN beziehen sich nur auf den Text des Tractatus. Auch hier müssen aus Platzgründen, und um die gewissermaßen systematische »Färbung« der historischen Betrachtungen zu wahren, Erörterungen über Früh- und Spätphasen unberücksichtigt bleiben. Beim Lesen der Punkte des Tractatus über Sachverhalte und bei der Sichtung gewisser sekundärer Beiträge hat sich überdies herausgestellt, daß letztere den Nachvollzug der Gedanken WITTGENSTEINS des öfteren mehr zu erschweren als zu erleichtern scheinen. Daher wird auch hier von einem Rückgriff auf die Sekundärliteratur eher abgesehen. Der Abschnitt über CHISHOLM berücksichtigt dessen frühen und späten Sachverhaltsbegriff. Auch werden in diesem Abschnitt je verschiedene Texte des frühen und späten CHISHOLM herangezogen und ein größerer Wert auf unterschiedliche Aspekte des Sachverhaltsbegriffs gelegt. Dementsprechend wird auch die Sekundärliteratur wieder stark herangezogen. Als äußerst hilfreich erwies sich eine Reihe von kritischen Essays im 25. Band von The Library of Living Philosophers. Die Kapitel 4 bis 8 widmen sich der systematischen Untersuchung des Soseins von Sachverhalten. Es gehört zu den grundlegenden, notwendigen und einsichtigen Prinzipien der Wissenschaftstheorie, daß der Gegenstand einer Wissenschaft maßgeblich ist für die Methode, durch die der Gegenstand erforscht wird. In sich notwendige Soseinseinheiten, die als solche dem Sosein und Dasein nach auf kein anderes Sosein und Dasein reduzierbare und aus keinem anderen Sosein und Dasein ableitbare Letztgegebenheiten darstellen, bilden den zentralen Gegenstand der Philosophie. Notwendige Soseinseinheiten als solche können allein durch die Einsicht als der zentralen Methode der Philosophie erforscht werden, da sie aufgrund ihrer Nichtreduzierbarkeit und Unableitbarkeit durch Induktionen und
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Deduktionen nicht erreicht werden können. Da auch Sachverhalte als solche eine Letztgegebenheit darstellen, kommt im zentralen systematischen Teil dieser Arbeit auch die zentrale philosophische Methode zur Anwendung: die Einsicht. Bei der Einsicht handelt es sich um dieselbe Methode, die auch zur Erkenntnis z.B. des Kontradiktionsprinzips oder des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten führt. Aber es sind nicht allein die obersten ontologischen und logischen Prinzipien durch die Einsicht erkennbar. Das sogenannte Induktionsprinzip etwa, wonach aufgrund von Induktion gefällte allgemeine Urteile niemals absolute Gewißheit, sondern immer nur mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit beanspruchen können, ist ebenfalls ein Ergebnis der Einsicht in das notwendige Sosein der Induktion. Die absolute ethische Wahrheit, wonach sich die Liebe immer für die intentio benevolentiae entscheiden wird, wenn es zu einem Konfliktfall zwischen der intentio unionis und der intentio benevolentiae kommt, ist ein weiteres Beispiel für eine aufgrund von Einsicht gewonnene Erkenntnis. Allerdings wird insbesondere die Einsicht durch sprachliche Äquivokationen erschwert, wenn nicht sogar vereitelt. Neben offensichtlichen Äquivokationen gibt es auch solche, deren Aufdeckung deshalb einer eigenen Anstrengung bedarf, weil sich die auf dieselbe Weise bezeichneten Gegebenheiten in vielen oder einigen entscheidenden Hinsichten gleichen und daher zum Verwechseln ähnlich sind oder weil die bezeichneten Gegebenheiten in derart engen Zusammenhängen stehen und derart eng »benachbart« sind, daß die Sichtung ihrer Verschiedenheit Schwierigkeiten bereitet. Wird die Äquivokation nicht aufgedeckt, dann verleitet die Selbigkeit eines sprachlichen Ausdrucks und die Ähnlichkeit und/oder der enge Zusammenhang der bezeichneten Sachen leicht dazu, auch die auf dieselbe Weise bezeichneten, aber an sich verschiedenen Dinge miteinander zu verwechseln oder aufeinander zu reduzieren. Freilich kann es aufgrund von Äquivokationen auch dazu kommen, daß die sachlichen Gegebenheiten zwar irgendwie unterschieden werden, aber nur in unscharfer Weise. Äquivokationen können also dazu verleiten, daß gewisse Prädikate, die an sich nur der einen bezeichneten Sache eignen können, der anderen zugesprochen werden und umgekehrt und schließlich entgegen den sach-
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lich vorliegenden (wesentlichen) Unterschieden nicht mehr oder nur unscharf unterschieden wird.10 Daß derartige Fehler diffuse oder gar obskure Begriffe der Dinge ergeben, dürfte leicht nachzuvollziehen sein. Daher muß es ebenfalls zur Methodik des systematischen Teils dieser Arbeit gehören, immer wieder die für die unmißverständliche Erkenntnis von Sachverhalten relevanten Mehrdeutigkeiten einschlägiger Terme herauszustellen. Freilich hat der Aufweis der Mehrdeutigkeit eines Terms letztlich nur dann Sinn, wenn die Verschiedenheit der bezeichneten Sachen an den Sachen selbst ausgewiesen wird. Dies geschieht, indem auf der Grundlage der Einsicht in die einschlägigen Soseinseinheiten gezeigt wird, daß der einen notwendigerweise Prädikate eignen, die der anderen unmöglich eignen können und umgekehrt, womit die wesentliche Verschiedenheit der fraglichen Gegenstände unbeschadet aller Ähnlichkeiten oder engen Zusammenhänge nachgewiesen ist. Die Inhalte der systematischen Kapitel 4 und 6-8 stellen größtenteils keine »neuen Entdeckungen« dar. Vielmehr werden in den vorliegenden Ausführungen insbesondere Erkenntnisse von Denkern wie Adolf REINACH, Alexander PFÄNDER, Dietrich von HILDEBRAND, Josef SEIFERT, Fritz WENISCH und Martin CAJTHAML u.a aufgegriffen und ggf. weiterentwickelt. Diese Denker gehören n.a. zu den realistischen Phänomenologen der sogenannten Göttinger-Münchner Tradition. Es zählt zu den Verdiensten gerade auch dieser philosophischen Tradition, immer wieder die herausragende Tragweite der Sachverhaltsthematik verdeutlicht zu haben. Dementsprechend genießt hier auch die Erforschung von Sachverhalten eine besondere Aufmerksamkeit. Soweit ersichtlich sind insbesondere die Inhalte der Abschnitte 4.3.6 bis 4.4.8 insofern neu, als die hier getroffenen Unterscheidungen zwischen dem »Verhalten« einer Sache und Sachverhalten, zwischen Ereignissen und Sachverhalten und zwischen Zuständen und Sachverhalten und die damit verbundenen Problemlösungen auf das Ganze gesehen und auf diese Weise noch nicht geleistet wurden. Das bedeutet freilich nicht, daß die entsprechenden Erkenntnisse ohne jede Abhängigkeit von anderen bereits bekannten Erkenntnissen gewonnen wurden. Für die 10
Ein weiterer bedeutender Aspekt hinsichtlich der Beschreibung von Letztgegebenheiten hängt mit dem Gebrauch von Analogien zusammen. Auf die diesbezügliche Unerläßlichkeit, aber auch die Gefahr von Analogien geht WENISCH in [1976], 193-195 ein.
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durchgeführten Unterscheidungen in den genannten Abschnitten ist etwa die insbesondere von SEIFERT zur Einsicht gebrachte »Transzendenz« der Sachverhalte von tragender Bedeutung. Diese Arbeit weist inhaltliche Schnittmengen mit einer früheren Arbeit des Verfassers auf, deren zentrale Thematik allerdings epistemologischlogischer Natur war, insofern es um Urteilsinhalte bzw. eine besondere Art von Urteilsinhalten ging.11 Diese inhaltlichen Schnittmengen betreffen erstens die eingehende Unterscheidung von Aussagesätzen, Urteilsakten, Urteilsinhalten und Sachverhalten (Abschnitte 4.3.1-4.3.5), zweitens die Ausführungen zum Begriff der Notwendigkeit bei KANT (Abschnitt 7.6) und drittens die Betrachtungen zur Methode der Einsicht als der zentralen Methode der Philosophie (Abschnitt 9.9). Die Behandlung dieser Punkte stellte sich auch in dieser Arbeit, in der es um Sachverhalte geht, als unerläßlich heraus. Der Grund dafür liegt erstens in dem engen und notwendigen Zusammenhang und der damit gegebenen Verwechslungsmöglichkeit zwischen Sachverhalten, Urteilsinhalten, Urteilsakten und Aussagesätzen, zweitens in dem engen Problemzusammenhang zwischen notwendigen Sachverhalten und dem kritisch-transzendentalen Begriff des synthetischen a apriori bei KANT und drittens in dem notwendigen Zusammenhang zwischen der virtuell unendlichen Anzahl notwendiger Sachverhalte und der Einsicht als der zentralen und eigentlichen Methode der Philosophie. Aussagesätze, Urteilsakte, Urteilsinhalte und Sachverhalte müssen um der konzisen Veranschaulichung des Datums des Sachverhaltes willen auch in dieser Arbeit unterschieden werden. Eine Arbeit, in der notwendige Sachverhalte eine wesentliche Stellung einnehmen, kommt nicht umhin, auch KANTS Position zu berücksichtigen. Eine Skizze der Einsicht als der zentralen Methode der Philosophie und der Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die unter das Formalobjekt dieser Methode fallen, offenbart die äußerste Fragwürdigkeit von HEIDEGGERS Begriff des Denkens und des Seins, durch welche alle Mannigfaltigkeit verschwimmen soll. Obwohl die entsprechenden Abschnitte in dieser Arbeit eine überarbeitete und meist erweiterte Fassung derselben Unterscheidungen und Gegenstände in der früheren Arbeit darstellen, finden sich neben entsprechend zahlreichen inhaltlichen auch sprachliche Übereinstimmungen 11
LEDIĆ [2002]. Abschnitte 2.1.-2.5., Abschnitt 8.1. und Abschnitt 1.1.
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und Übereinstimmungen hinsichtlich der zitierten Autoren und der veranschaulichenden Beispiele. Darauf sei an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen. Der dritte Hauptteil beginnt eine kritische Auseinandersetzung mit HEIDEGGERS Seinsbegriff durch die Anwendung gewisser, in der systematischen Sachverhaltsontologie gewonnener Erkenntnisse. Es muß betont werden, daß mit den Inhalten des letzten Hauptteils kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird. Diese Arbeit stellt ihrem Titel gemäß eine Grundlegung für die kritische Auseinandersetzung mit HEIDEGGERS Seinsbegriff dar. Allerdings wird der Anspruch erhoben, daß bereits durch die vorliegenden kritischen Inhalte der HEIDEGGERSCHE Seinsbegriff in seiner wesentlichen Unmöglichkeit offenbart wird. Dieser wesentlichen Unmöglichkeit entsprechend zeichnet sich der kritische Hauptteil methodisch durch eine besondere Präsenz von indirekten Argumenten aus. Neben der immanenten Kritik wird HEIDEGGER aber auch auf transzendente Weise kritisiert. Dies geschieht insbesondere durch den Nachweis, daß HEIDEGGERS Seinsbegriff notwendige Sachverhalte nicht erreicht. Vorhin war bereits die Rede davon, daß eher wenige Abschnitte »Patentierbares« beinhalten. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß, soweit ersichtlich, die Grundthematik dieser Arbeit durchaus neu ist. Hinter HEIDEGGERS »Sach-Verhalt« verbirgt sich nichts anderes als HEIDEGGERS Seinsbegriff. Dadurch lädt HEIDEGGERS Sach-Verhalts- bzw. Seinsbegriff nachgerade zur Auseinandersetzung auf der Grundlage einer systematischen Sachverhaltsontologie ein. Und es ist diese explizite Zusammenführung von HEIDEGGERS »Sach-Verhalt« einerseits und systematischer Sachverhaltsontologie andererseits, welche in dieser Form allerdings eine Neuheit darstellen dürfte. Freilich sind Sachverhalte eine derart grundlegende Gegebenheit, daß schlechterdings jeder, der irgendeine Behauptung bzw. irgendein Urteil aufstellt, implizit immer schon auf Sachverhalte abzielt. Folglich gründet auch jede Kritik, die wesentlich aus nichts anderem als Behauptungen bestehen kann, notwendigerweise implizit in Sachverhalten oder anders gewendet: Mit jeder kritischen Behauptung werden ontologisch betrachtet immer schon Sachverhalte ins Feld geführt, da das eigentliche korrelative Objekt aller Behauptungen bzw. Urteile notwendigerweise Sachverhalte sind. Aber die Tatsache, daß jedermann mit jeder Behauptung auf Sachverhalte abzielt, bedeutet nicht, daß auch ein explizi-
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tes und thematisches Bewußtsein von Sachverhalten als besonderer Letztgegebenheit vorliegt, und daß die Auseinandersetzung eigens im besonderen Sosein und Dasein von Sachverhalten bzw. in der besonderen Rolle, welche Sachverhalte in der Wirklichkeit und in der Philosophie spielen, gründet. Die These bzw. die Thesen dieser Arbeit HEIDEGGER nennt das von ihm gedachte Sein selbst den »Sach-Verhalt« oder auch schlicht den »Sachverhalt«.12 Dies erfolgt aus drei Gründen. Erstens versteht HEIDEGGER das Sein als »Sach-Verhalt«, weil sich das Sein in dessen »Verhalten« restlos erschöpft, wobei unter »Verhalten« hier nichts anderes als die restlose Prozessualität bzw. Geschichtlichkeit des Seins zu verstehen ist. Zweitens nennt HEIDEGGER das Sein den »SachVerhalt«, weil das Sein sich restlos darin erschöpft, als es selbst »Verhältnis« zu sein, und zwar das »Verhältnis« von Sein und Seiendem. Wohlgemerkt: es steht bei HEIDEGGER das Sein nicht in einem »Verhältnis« zum Seienden, sondern das Sein ist als es selbst das »Verhältnis« von Sein und Seiendem. Die eine und einzige »Sache des Seins« ist es, »Verhältnis« zu sein. Daher ist das Sein der »Sach-Verhalt«. Das Sein ist nicht etwas anderes als das Seiende, sondern das Sein selbst ist »Andersheit« und als solche selbst das Seiende. Das Seiende ist nicht etwas anderes als das Sein, sondern das Seiende als solches ist »Andersheit« und als solche selbst das Sein. Diese »Andersheit« ist es, welche HEIDEGGER, das »Verhältnis« nennt. Deshalb und nur deshalb muß in HEIDEGGERS Augen das »Sein selbst« »Sein des Seienden« sein. Drittens nennt HEIDEGGER das Sein den »Sach-Verhalt«, weil das Sein die Verlassenheit seiner selbst ist. Als Verlassenheit seiner selbst ist das Sein selbst die »Verhaltenheit«, d.h. die 12
In dieser Arbeit wird im Hinblick auf HEIDEGGER des öfteren nur der Ausdruck »Sach-Verhalt« herangezogen. Es darf allerdings nicht vergessen werden, daß, wie noch deutlich werden wird, HEIDEGGER mit Blick auf seinen Seinsbegriff meist vom »Sachverhalt« spricht. Da jedoch der Ausdruck »Sach-Verhalt« ein von HEIDEGGER entworfenes originelles und insofern »unverwechselbares« Graphem darstellt, bietet sich hier dessen vorrangige Verwendung an, zumal auf diese Weise Verwechslungen mit der herkömmlichen Bedeutung des Ausdrucks »Sachverhalt« vermieden werden können.
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Zurückhaltung und der Vorenthalt seiner »gegen« sich selbst. Aus all dem wird bereits deutlich, daß HEIDEGGER den Ausdruck »Sach-Verhalt« (auch »Sachverhalt«), sofern dieser das »Sein selbst« bezeichnen soll, nicht in einem technischen Sinn des Wortes gebraucht. Der Ausdruck scheint HEIDEGGERS unausgesetzter Neigung zur Paronomasie entsprechend eher dafür geeignet zu sein, in einem Wort die zentralsten »Eigenschaften« des von HEIDEGGER gedachten Seins auszudrücken, die da sind: totale Prozessualität oder »Geschichtlichkeit« (»Verhalten«), totale Konfundierung alles Seienden auf das eine und einzige Sein, sofern das Seiende nichts anderes als die »Andersheit« des Seins (»Verhältnis«) ist, und schließlich die Selbstverlassenheit des Seins als »Verhaltenheit« (Vorenthalt, Zurückhaltung) des Seins gegen sich selbst. Die Thesen hinsichtlich der Sachverhaltsthematik lauten: Sachverhalte sind eine Entität sui generis. Als solche sind sie nicht auf andere Entitäten reduzierbar, was nicht heißt, daß zwischen Sachverhalten und anderen Entitäten, wie etwa Sachen und ihren Eigenschaften oder Urteilsinhalten, nicht auch engste und notwendige Beziehungen bestehen. Ferner gibt es neben faktischen und kontigenten Sachverhalten eine virtuell unendlich große Menge absolut notwendiger, überzeitlicher und unvergleichlich intelligibler Sachverhalte, deren Erkenntnis kraft dieser intrinseken Notwendigkeit und unvergleichlichen Intelligibilität zu absoluter Gewißheit führt. Wenn gezeigt werden kann, daß Sachverhalte eine Entität sui generis sind, und wenn gezeigt werden kann, daß es absolut notwendige Sachverhalte gibt, deren Notwendigkeit für den Menschen restlos intelligibel ist, dann ist, man möchte sagen ironischerweise, gezeigt, daß HEIDEGGERS Sach-Verhalt gerade auch an der Nichtreduzierbarkeit von Sachverhalten im allgemeinen und im besonderen an höchst intelligiblen notwendigen Sachverhalten scheitert. Denn als Entität sui generis widersetzen sie sich der Konfundierung mit einem »Sein selbst«, insofern sie nichts anderes wären als dessen »Andersheit«. Notwendige und unvergleichlich intelligible Sachverhalte widersetzen sich auch dem Sach-Verhalt als der angeblichen totalen Prozessualität des Seins. Sie widersetzen sich kraft ihrer unvergleichlichen Intelligibilität auch dem Sach-Verhalt als Verhaltenheit/Selbstverlassenheit des Seins.
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Aufbau der Arbeit und Überblick über den Inhalt Diese Arbeit besteht aus 9 Kapiteln, welche in entsprechende Abschnitte und ggf. Unterabschnitte untergliedert sind. Um nachvollziehen zu können, warum HEIDEGGER das Sein als »Sachverhalt« oder »Sach-Verhalt« bezeichnet, muß dargelegt werden, was HEIDEGGER unter der »Identität« oder dem »Selbst« des »Seins selbst« versteht. Daher befaßt sich das Kapitel 1 mit dem »Selbst« oder der ›Selbigkeit des Seins‹ bei HEIDEGGER. In diesem Kapitel wird es zentral um die Beantwortung der Frage gehen müssen, was HEIDEGGER unter »Seinsverlassenheit« versteht. Die Seinsverlassenheit entpuppt sich durchaus unvermutet nicht als Gegen-, sondern als Schlüsselbegriff zu HEIDEGGERS Sein, weil das von HEIDEGGER gedachte »Sein selbst« paradoxer- und verwirrenderweise gar nichts anderes sein soll als die Verlassenheit seiner selbst. Und um sehen zu können, daß in HEIDEGGERS Augen das Sein selbst die Verlassenheit seiner selbst ist, ist es notwendig herauszuarbeiten, was HEIDEGGER paradoxer- und verwirrenderweise meint, wenn er sagt, daß die Seinsverlassenheit der Metaphysik in der Verwechslung und Nichtunterscheidung von Sein und Seiendem besteht. Das überraschende Ergebnis wird sein, daß HEIDEGGER meint, es werde das Sein in seiner Selbstunterschiedenheit genau dann nicht gesehen, wenn Sein und Seiendes voneinander unterschieden werden. Auf den hier vorliegenden äußerst eigenwilligen Gebrauch der Bezeichnungen »Verwechseln« und »Nichtunterscheiden« wird im Laufe des Kapitels 1 immer wieder eigens zu achten sein. Im Zug dieses Kapitels wird ebenfalls deutlich werden, daß das sonderbare »Selbst« des Seins bei HEIDEGGER völlig in Geschichtlichkeit bzw. Prozessualität aufgeht, da diese völlige Prozessualität bei HEIDEGGER mit dem Begriff der Seinsverlassenheit als Selbstverlassenheit des Seins verschwimmen muß. Das Kapitel 2 trägt den Titel: Das Sein in seiner Differenz. Da das Selbst des Seins für HEIDEGGER darin besteht, die Verlassenheit seiner selbst zu sein, ist das Verständnis dieses sonderbaren selbstverlassenen Selbst zugleich der Schlüssel, um die Differenz oder Nichtselbigkeit des Seins nachzuvollziehen, in welcher, wie HEIDEGGER betont, das Selbst des Seins überhaupt besteht. Der Metaphysik entgeht mit der Differenz des Seins das Sein selbst, weil die Metaphysik nicht sieht, daß ihre Seinsvergessenheit nichts anderes ist als die Selbstvergessenheit bzw. Selbst-
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verlassenheit des Seins. Damit entgeht der Metaphysik in HEIDEGGERS Augen ebenfalls, daß sie selbst nichts anderes ist als das Sein, weil dessen Selbst als Differenz nichts anderes ist als die Verlassenheit seiner selbst, welche sich in der Seinsvergessenheit der Philosophiegeschichte lediglich artikuliert oder »autoperformiert« (JAHRAUS). Vorbereitet durch die Ausführungen in Kapitel 1 und 2 kann nun gezeigt werden, daß und warum HEIDEGGER das Sein als »Sachverhalt« bzw. als »Sach-Verhalt« bezeichnet. Mit diesem letzten Abschnitt des Kapitels 2 ist der erste Hauptteil der Arbeit abgeschlossen. In Abschnitt 2.3 wird der eigenwillige Gebrauch des Ausdrucks »Sachverhalt« bzw. »Sach-Verhalt« bei HEIDEGGER deutlich. Damit wird ebenfalls deutlich, daß HEIDEGGER, den Ausdruck »SachVerhalt« nicht in einem technischen Sinn des Wortes gebraucht. Der zweite Hauptteil der Arbeit wendet sich ganz unabhängig von HEIDEGGER und dessen »Eigenwilligkeiten« der Frage zu, was Sachverhalte ihrem Sosein und Dasein nach eigentlich sind. Da diese Frage von bedeutenden Denkern bereits gestellt worden ist, beginnt der zweite Hauptteil mit dem historischen Kapitel 3. Neben der Blütezeit des Sachverhaltsbegriffs im 19. und frühen 20. Jh. wird hier der Sachverhaltsbegriff gewisser mittelalterlicher Denker besonders berücksichtigt. Seit Hubert ELIES 1936 erschienenem Standardwerk Le complexe significabile ist zwar bekannt, daß es im Mittelalter eine eigene, insbesondere mit den Namen ADAM WODEHAM und GREGOR VON RIMINI verbundene Philosophie der Sachverhalte gab, aber das Ausmaß und die »Reife« des Sachverhaltsbegriffs, wie sie insbesondere bei den eben genannten Scholastikern vorliegt, ist ungleich weniger bekannt und kann daher nur selten entsprechend gewürdigt werden. Das historische Kapitel 3 dient auch als Einführung in die Sachverhaltsproblematik, insofern beispielsweise deutlich wird, von welch herausragender Bedeutung Sachverhalte für die Frage nach dem Wesen der logischen Wahrheit als Korrespondenz mit der Wirklichkeit sind. Denn Sachverhalte werden sich bereits hier als die Entität entpuppen, um die es bei der besagten Wirklichkeit einzig gehen kann. Andererseits wird aber auch insofern in die Sachverhaltsproblematik eingeführt, als deutlich wird, wie leicht und warum Sachverhalte mit irgendwie »benachbarten«, aber völlig verschiedenen Entitäten verwechselt worden sind und verwechselt werden.
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Im darauffolgenden Kapitel 4 beginnt vor allem im Rückgriff auf die oben genannten Denker der Göttinger-Münchner Tradition der Phänomenologie die systematische Untersuchung des Soseins und Daseins von Sachverhalten. In Anbetracht des hier gegebenen Rahmens muß auch diese Untersuchung Einschränkungen vornehmen. Deshalb wird die Untersuchung ausschließlich auf jene Sachverhalte Bezug nehmen, die kategorischen Urteilen entsprechen. Bereits der historische Teil wird gezeigt haben, daß eine Untersuchung über Sachverhalte aufgrund vieler Verwechslungsmöglichkeiten zahlreiche Unterscheidungen erfordert. Mit derartigen Unterscheidungen werden sich, nach einigen Bemerkungen zu sprachlichen Ausdrücken für Sachverhalte und zur formalen Struktur des Soseins von Sachverhalten in 4.1 und 4.2, die Abschnitte 4.3 und 4.4 befassen. Zu beachten ist hier, daß derartige Unterscheidungen keine bloßen Prolegomena zu einer Untersuchung über Sachverhalte als solche darstellen. Vielmehr müssen die entsprechenden Unterscheidungen gerade auch im ausdrücklichen Hinblick auf Sachverhalte als solche erfolgen, so daß im Zuge der Unterscheidungen Sachverhalte als solche bereits thematisch sind. Alle getroffenen Unterscheidungen münden mit dem Abschnitt 4.5.1 schließlich in die Erkenntnis dessen, was sich im Rückgriff auf SEIFERT als die »Transzendenz« der Sachverhalte bezeichnen läßt. Das mit der Transzendenz der Sachverhalte Gemeinte erhellt diese vollends als irreduzible Entitäten sui generis. Im Anschluß daran wird in Abschnitt 4.5.2 deutlich gemacht, daß in bezug auf alles Seiende Sachverhalte bestehen müssen, und daß in diesem Sinn nichts »jenseits« von Sachverhalten sein kann, bzw. daß es kein Seiendes geben kann, ohne daß dieses auch irgendwelche Sachverhalte fundieren würde. Da auch Sachverhalte Seiende sind, kann es auch keinen Sachverhalt geben, der nicht wieder Sachverhalte fundiert. Daraus ergibt sich die Unendlichkeit der Reihe von Sachverhalte fundierenden Sachverhalten, welche auch im Rückriff auf AUGUSTINUS in Abschnitt 4.5.3 dargestellt wird. In Abschnitt 4.7.1 geht es wieder um eine Unterscheidung, und zwar die zwischen Existenz und Sachverhalten. Diese bereitet insbesondere die Einsicht in den »Bestand« als irreduzibler Daseinsform der Sachverhalte vor, auf welche der Abschnitt 4.7.2 zu sprechen kommt. Der Bestand als Daseinsform der Sachverhalte sui generis macht einmal mehr die an sich unverwechselbare Besonderheit der Sachverhalte deutlich, die sich nicht nur ihrem Sosein, sondern auch ihrem Dasein nach
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von anderem Sosein und Dasein unterscheiden. Auf der Grundlage der Einsicht, daß alles Seiende Sachverhalte fundiert, wird in Abschnitt 4.6 gezeigt, daß Sachverhalte auch an den Seinsmodifikationen der in sie eingehenden Sachen teilhaben. Nach einigen allgemeinen Bemerkungen wird insbesondere der Seinsmodus der Zeit berücksichtigt und gezeigt, daß der Bestand und damit das Dasein vieler Sachverhalte zeitlich begrenzt ist. Im Hinblick auf die zeitliche Begrenztheit gewisser Sachverhalte, welche entstehen und vergehen, ergibt auch die zeitliche Einschränkung des ontologischen Widerspruchsprinzips allein einen Sinn. Im Hinblick auf andere Sachverhalte, die weder zu bestehen beginnen noch aufhören können zu bestehen, weil sie unmöglich nicht bestehen können, ist, wie mit SEIFERT zu zeigen sein wird, die zeitliche Einschränkung des Widerspruchsprinzips unnötig. In Kapitel 5 werden auf der Grundlage des in Kapitel 4 Erarbeiteten die Sachverhaltsbegriffe einiger Denker noch einmal kritisch betrachtet. Von besonderem Interesse ist hier INGARDENS Auffassung, daß negative Sachverhalte im Unterschied zu positiven Sachverhalten nicht seinsautonom bestehen können. Daneben werden aber auch noch Denker wie David ARMSTRONG, Zeno VENDLER und Roderick CHISHOLM berücksichtigt. Es wurde allerdings größtenteils darauf geachtet, daß mit den unterschiedlichen Denkern auch unterschiedliche Probleme der Sachverhaltsthematik zur Sprache kommen. So wird es etwa nur bei INGARDEN um die Frage nach der Seinsautonomie des Bestandes negativer Sachverhalte gehen. Entsprechendes gilt, wenigstens größtenteils, für die übrigen Denker. Mit Kapitel 6 beginnt die Betrachtung einer besonderen Art von Sachverhalten, nämlich den notwendigen Sachverhalten, deren Notwendigkeit als solche auch restlos intelligibel ist. Durch die restlose Intelligibilität der Notwendigkeit gewisser Sachverhalte wird bereits deutlich, daß notwendige Sachverhalte hier im Zusammenhang mit den epistemologischen Fragen nach Intentionalität des Bewußtseins, der rezeptiven Transzendenz und der Möglichkeit der absoluten Gewißheit der Erkenntnis untersucht werden. Dementsprechend behandelt Abschnitt 6.1 zunächst die Frage nach der Intentionalität des Bewußtseins, um dann anhand eines klassischen Falls der Täuschung, nämlich der Hallunzination, zu zeigen, daß jede Halluzination das absolute An-sich-Bestehen gewisser Dinge und die notwendigerweise irrtumslose Erkenntnis dieser an sich bestehenden Dinge
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seitens des Halluzinierenden selbst voraussetzt. Diese absolut an sich bestehenden Dinge und die täuschungsfreie Erkenntnis dieser Dinge wie sie an sich, d.h. wie sie als dem Bewußtsein gegenüber transzendente sind, werden sich als die notwendige Bedingung dafür herausstellen lassen, daß eine Halluzination bzw. Täuschung überhaupt eine solche sein kann. Der letzte Abschnitt wird auf der Grundlage der Intentionalität des Bewußtseins und anhand eines intentionalen Täuschungsaktes gezeigt haben, daß das Bewußtsein tatsächlich zu täuschungsfreien Erkenntnissen der Dinge an sich gelangt und daß, wie gerade eine Untersuchung des SichTäuschens zeigt, unmöglich alles eine Täuschung sein kann. Vorbereitet durch diesen Punkt kann sich der folgende Abschnitt 6.2 zunächst mit der Frage befassen, welche Voraussetzungen nötig sind, damit die rezeptive Transzendenz der Erkenntnis ihrereits unmittelbar und zweifelsfrei erkannt werden kann. Nach der Darstellung dieser Voraussetzung wird sich Abschnitt 6.2 zunächst mit der Eigenart jener echten Erkenntnisse befassen, deren Echtheit zwar objektiv vorliegt oder vorliegen kann, aber ohne daß das Vorliegen dieser Echtheit als solche auch ihrerseits mit unverrückbarer Gewißheit erkannt werden kann. Im nachfolgenden Abschnitt 6.3 wird gezeigt, daß rezeptive Transzendenz der Erkenntnis in bestimmten Fällen auch als solche mit apodiktischer Evidenz gegeben sein kann. Diese unmittelbare Gegebenheit der rezeptiven Transzendenz gewisser Erkenntnisse ist abhängig von der Eigenart bestimmter Gegenstände. Anhand des hierfür hervorragend geeigneten Beispiels des Soseins des intentionalen Aktes des Zweifels wird gezeigt, daß in diesem Sachverhalte gründen, die absolut notwendig sind und deren Notwendigkeit restlos intelligibel ist. Durch die Erkenntnis des So-sein-Müssen-und-nicht-Anders-sein-Können dieser Sachverhalte als solcher kommt die Rezeptivität und die Transzendenz der Erkenntnis dieser Sachverhalte selbst zu unmittelbar »anschaulicher« Gegebenheit. Die Erkenntnis der Echtheit gewisser Erkenntnisse als solche gehört zur Tragweite der erkennbaren Notwendigkeit einiger Sachverhalte, worauf in dem das Kapitel abschließenden Abschnitt 6.4 eigens eingegangen wird. Um die besondere und irreduzible Eigenart der Notwendigkeit der notwendigen Sachverhalte herauszustellen, wird in Kapitel 7 unter den Punkten 7.1 bis 7.2 eine Reihe von Unterscheidungen getroffen, durch welche notwendige Sachverhalte von gewissen Daten und »Notwendig-
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keiten« abgehoben werden, mit denen sie leicht verwechselt werden können. In Kapitel 4 wurde bereits deutlich, daß Sachverhalte in bezug auf Sachen bestehen, welche ihrerseits in Sachverhalte eingehen. Dies gilt auch für notwendige Sachverhalte. Diese Sachverhalte gründen ebenfalls in einer Entität, deren koextensive Einheit ihrerseits notwendig ist. Diese Sache läßt sich mit HILDEBRAND als »notwendige Soseinseinheit« bezeichnen und gleichfalls im Rückgriff auf HILDEBRAND von den rein »zufälligen Soseinseinheiten« und der »Soseinseinheit des echten Typus« unterscheiden. Die Darstellung und Unterscheidung dieser drei Arten der Soseinseinheit wird in den Punkten 8.3 bis 8.5 durchgeführt. Vorbereitend geht diesen Abschnitten eine Betrachtung über den Unterschied und den Zusammenhang und die Relevanz der unterschiedlichen Akte des Kennens und Wissens und ihrer intentionalen Korrelate in Abschnitt 8.1 voraus. Im Anschluß folgt in 8.2 eine unterscheidende Betrachtung der beiden Gegensätze zu jeder Einheit, nämlich das in sich Widersprüchliche bzw. Unmögliche und das Chaotische. Alle in den systematischen Kapiteln über Sachverhalte dargestellten Inhalte offenbaren bereits die äußerste Fragwürdigkeit bzw. innere Unmöglichkeit von HEIDEGGERS Sach-Verhalts- bzw. Seinsbegriff. Im Kapitel 9 wird es darum gehen, auf dem Fundament der systematischen Kapitel über Sachverhalte HEIDEGGERS Sach-Verhaltsbegriff kritisch zu beleuchten. Oben wurde bereits angedeutet, daß dies in Form kritischer Ausblicke erfolgen soll. Daher wird auch nicht der Anspruch erhoben, daß die Möglichkeiten, HEIDEGGER auf dem Fundament eines sachlichen Sachverhaltsbegriffs zu kritisieren, in dieser Arbeit ausgeschöpft werden. In Kapitel 9 wird es zunächst darum gehen, eigens herauszustellen, inwiefern Sachverhalte bzw. bestimmte Arten von Sachverhalten eine totale Prozessualität des Seins unmöglich machen (Abschnitt 9.2). Ferner soll deutlich werden, wie HEIDEGGERS Versuch einer Konfundierung alles Seienden auf ein absolut singuläres Sein gerade auch an Sachverhalten scheitern muß (Abschnitt 9.3). Im Anschluß daran soll unter Bezugnahme auf Sachverhalte gezeigt werden, daß HEIDEGGER selbst durch gewisse stillschweigende Voraussetzungen immer wieder seinen eigenen Seinsbegriff untergräbt (Abschnitt 9.4-9.8). Der abschließende Abschnitt 9.9 wird eigens auf die Philosophie, ihre zentrale Methode und ihren zentralen Ge-
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Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich
genstand, nämlich die Erforschung einer virtuell unendlichen Anzahl verschiedenster wesensnotwendiger Sachverhalte eingehen. HEIDEGGER lehnt nicht nur jede Überzeitlichkeit ab, sein Seinsbegriff bringt auch eine totale Verarmung der Wirklichkeit mit sich, denn der wahre Denker, so HEIDEGGER, denke nur einen einzigen Gegenstand.
ERSTER HAUPTTEIL 1.
DAS SEIN SELBST IN SEINER SELBIGKEIT
1.1 Die Seinsvergessenheit als Wesensmerkmal aller Metaphysik und Weltgeschichte Unter »Metaphysik« versteht HEIDEGGER zunächst nicht so etwas wie eine rein theoretische und auf die Wahrheit um ihrer selbst willen gerichtete gesonderte Wissenschaft der prima philosophia des ARISTOTELES, welche etwa die obersten Prinzipien des Seienden, wie den Satz vom Widerspruch, und die transzendentalen Proprietäten des Seienden, wie Einheit und Wahrheit, untersucht. Ebensowenig bedeutet »Metaphysik« für HEIDEGGER in erster Linie eine Untersuchung der verschiedenen Seinsweisen und Kategorien, etwa im Sinn der obersten Gattungen des Seienden, wie Substanz und die unterschiedlichen Akzidentien, oder Potenz und Akt oder das notwendige und kontingente Seiende, denn »Metaphysik« »gilt nicht als Titel einer ›Disciplin‹ der Schulphilosophie«.13 Vielmehr »gebraucht« HEIDEGGER, wie er selber betont, »unbedenklich« die Bezeichnung »Metaphysik« als »Name« zur »Kennzeichnung der ganzen bisherigen Geschichte der Philosophie […].«14 Mehr noch: HEIDEGGER setzt die »Philosophie« mit der so verstandenen »Metaphysik« überhaupt gleich, denn die »Metaphysik« ist »jenes Denken des Seins, das sich den Namen ›Philosophie‹ geben mußte«.15 Wie WEISCHEDEL richtig sieht, begreift HEIDEGGER »unter dem Namen ›Metaphysik‹ […] nicht eine bestimmte Disziplin der Philosophie, sondern diese als Ganze, und zwar in ihrem Grundwesen.«16
13 14 15
16
GA 65, 423. GA 65, 423. Vgl. TRAWNY [2003], 92. N II, 487./GA 6.2, 446. »Das künftige Denken ist nicht mehr Philosophie, weil es ursprünglicher denkt als die Metaphysik, welcher Name das gleiche sagt.« Hum, 56./GA 9, 364. WEISCHEDEL [1998], 1, 458. Vgl. auch WETZ [2003], 284, 2.
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Kapitel 1
Der Grund dafür, daß HEIDEGGER die »Philosophie« und ihre Geschichte als »Metaphysik« versteht, liegt darin, daß diese ausnahmslos seinsvergessen sein soll. Genauer gesagt: »Philosophie« bzw. »Metaphysik« und Seinsvergessenheit sind für HEIDEGGER, wie noch darzulegen ist, dasselbe. Seinsvergessenheit heißt nun zunächst, daß der gesamten »Philosophie« »von Anaximander bis Nietzsche die »Wahrheit des Seins« verborgen«17 geblieben ist, da sie »von ihrem Beginn bis in ihre Vollendung auf eine seltsame Weise in einer durchgängigen Verwechslung von Sein und Seiendem«18
besteht. Anders formuliert: Die »Metaphysik« ist seinsvergessen, weil sie durchgehend den Unterschied zwischen Sein und Seiendem nicht bedenkt. »Die Metaphysik stellt zwar das Seiende in seinem Sein vor und denkt so auch das Sein des Seienden. Aber sie denkt nicht das Sein als solches, denkt nicht den Unterschied beider.«19 »Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit des Unterschiedes des Seins zum Seienden.«20
Das »Sein selbst« entzieht sich der gesamten »Philosophie«, weil das »Sein selbst« in dem von der »Philosophie« bzw. »Metaphysik« nie bedachten Unterschied von Sein und Seiendem besteht. Diesen für HEIDEGGER äußerst bedeutsamen Unterschied als dem bislang ausnahmslos vergessenen »Wesen« oder der »Wahrheit« des Seins nennt HEIDEGGER u.a. die »ontologische Differenz« und die »Zwiefalt von Sein und Seiendem«.21 Das, was HEIDEGGER die »Differenz« nennt, weiß er auch als
17 18 19
20 21
M, 10./GA 9, 369. M, 11./GA 9, 370. Hum, 14./GA 9, 322. »Natürlich ist hier nicht an den Unterschied zwischen der essentia und dem Seienden zu denken, einen solchen kennt die Metaphysik schon; es geht vielmehr um den Unterschied der ontologischen Differenz.« MÖLLER [1952], 114. Hw, 364/336./GA 5, 364. WG, 5./GA 9, 123. VA, 242./GA 7, 255ff. . S. WEISCHEDEL [1998], 1, 461.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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»einzigartigen« und »seltsamen Sachverhalt« oder den »Sach-Verhalt« zu bezeichnen.22 Die Verwechslung bzw. Nichtunterscheidung von Sein und Seiendem bringt es mit sich, daß die Metaphysik »in der Seinsvergessenheit verharrt« und folglich in all ihren Antworten auf die Frage nach dem Sein, sei es beispielsweise als esse subsistens, als Substanz, als to ti hn einai, als ens commune oder als anologia entis »die Frage nach der Wahrheit des Seins nicht nur nicht stellt, sondern verbaut«.23 HEIDEGGER geht aber noch weiter, indem er den Begriff der Seinsvergessenheit bzw. Metaphysik bzw. Philosophie nicht auf den historischen und systematischen Gesamtbestand des Philosophierens beschränkt. Die Seinsvergessenheit bestimmt, wie WEISCHEDEL sich im Hinblick auf HEIDEGGER ausdrückt, »nicht allein den innerphilosophischen Raum«.24 Und da die Metaphysik für HEIDEGGER Seinsvergessenheit ist, kann auch sie nicht auf den innerphilosophischen Raum beschränkt bleiben. Vielmehr gilt: »Jedes Zeitalter, jedes Menschentum ist von je einer Metaphysik getragen«,25 woraus folgt: »Jede Epoche der Weltgeschichte ist eine Epoche der Irre«.26 Da das Wesen der Metaphysik in der Seinsvergessenheit besteht und alle menschlichen Kulturleistungen, jedes »Menschentum«, ja sogar »jedes Zeitalter« von irgendeiner Art von Metaphysik getragen sind, muß die gesamte Weltgeschichte als seinsvergessen und in einem allerdings spezifisch HEIDEGGERSCHEN Sinn »irrig« angesehen werden. Die Seinsvergessenheit betrifft demnach nicht allein die Denkbemühungen aller Philosophen bzw. die gesamte Geschichte des Philosophierens vor und neben HEIDEGGER, und damit nur einen Teil der umfassenderen Kulturgeschichte, sondern jedes bisherige »Menschentum« und damit die Kulturgeschichte überhaupt.27 Aber HEIDEGGER bleibt auch hier nicht stehen. Er befürchtet nämlich, daß seine Rede von der Vergessenheit des Seins einseitig als genitivus obiectivus ausgelegt werden könnte, und daher die Auffassung entsteht, daß HEIDEGGER das Vergessen 22 23 24 25 26 27
ID, 57f./GA 11, 72. ID, 54./GA 11, 69. ZSD, 20. 24./GA 14, 24f. 29. Hum, 37./GA 9, 345. WEISCHEDEL [1988], 1, 461. N II, 33f./GA 6.2, 25. Hw, 338/311./GA 5, 338. S. WEISCHEDEL [1988], 1, 459.
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Kapitel 1
des Seins erstens von einem als selbsteigenem »Ich« bzw. von einem als Person verstandenen Menschen ausgehen läßt und zweitens irgendwie auf den menschlichen Bereich beschränken möchte. Die Rede von der »Seinsvergessenheit« verleitet nämlich dazu, ihren universalen Charakter als »Seinsverlassenheit« zu verkennen. Eine solche Interpretation hält HEIDEGGER aber für einseitig und mißverständlich. Um seine eigene Rede von der Seinsvergessenheit zu deuten, spricht der spätere HEIDEGGER daher von der »Seinsverlassenheit«. »Das Sein selbst bleibt in der Metaphysik als solcher ungedacht. Dies sagt jetzt: das Sein selbst bleibt aus, als welches Ausleiben das Sein selbst west.«28
Durch den Gebrauch dieser Bezeichnung soll deutlich werden, daß das Vergessen des Seins als Seinsverlassenheit nicht im Menschen gründet, sondern vom Sein ausgeht, insofern das Sein selbst als dieses Ausbleiben west, und, wie HEIDEGGER hervorhebt, darüber hinaus nicht nur den Menschen, sondern alles Seiende überhaupt »verläßt«.29 »Wir sagen: Das Seiende ist vom Sein selbst verlassen. Die Seinsverlassenheit geht das Seiende im Ganzen an, nicht nur das Seiende von der Art des Menschen, der das Seiende als solches vorstellt, in welchem Vorstellen sich ihm das Sein selbst in seiner Wahrheit entzieht.«30
Um den umfassenden Charakter der Seinsverlassenheit zu unterstreichen, stellt und beantwortet HEIDEGGER die Frage, »seit wann« die Seinsverlassenheit geschieht. »Das Sein selbst entzieht sich. […]. Die Seinsverlassenheit des Seienden als solchen geschieht. Wann geschieht dies? Jetzt? Heute erst? Oder seit langem? Wie lange schon? Seit wann? Seitdem das Seiende als das Sei28 29
30
N II, 354./GA 6.2, 319. Es muß hier von einer Unterscheidung zwischen Vergessen und Verlassen abgesehen werden. Es ist offensichtlich, daß ein Verlassen statthaben kann, ohne daß etwa die verlassende Person das verlassene Seiende vergessen müßte. Für HEIDEGGER spielen derlei Überlegungen keine Rolle, sie sind vielmehr wieder nur der Ausdruck eines seinsvergessenen Denkens, welches das Sein selbst nicht erreichen kann. N II, 355./GA 6.2, 320.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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ende selbst ins Unverborgene gekommen ist. Seitdem diese Unverborgenheit geschieht, ist die Metaphysik; denn sie ist die Geschichte dieser Unverborgenheit des Seienden als solchen. Seitdem diese Geschichte ist, ist geschichtlich der Entzug des Seins selbst, ist Seinsverlassenheit des Seienden als solchen, ist die Geschichte, daß es mit dem Sein selbst nichts ist. Seitdem und demzufolge bleibt das Sein selbst ungedacht. Seitdem west aber zugleich, diesem Wesen gemäß verborgen, der eigentliche Nihilismus. Wir denken diesen Namen jetzt, insofern er das nihil nennt. Wir denken das Nichts, insofern es das Sein selbst angeht. Wir denken dieses Angehen selbst als Geschichte. Wir denken diese Geschichte als die Geschichte des Seins selbst, wobei sich das Wesende dieser Geschichtlichkeit gleichfalls aus dem Sein selbst bestimmt. Das Wesen des eigentlichen Nihilismus ist das Sein selber im Ausbleiben seiner Unverborgenheit, die als die seine Es selber ist und im Ausbleiben sein ›ist‹ bestimmt.«31
Für HEIDEGGER geht die Seinsverlassenheit also nicht nur das Seiende von der Art des Menschen an, dem sich das Sein entzieht, weil der Mensch »das Seiende als solches vorstellt, in welchem Vorstellen sich dem Menschen das Sein selbst entzieht«. Nein, der Entzug des Seins selbst »geschieht«, wie HEIDEGGER in mehreren aufeinanderfolgenden Sätzen anaphorisch betont, »seitdem« das Seiende als das Seiende selbst geschieht, oder, wie HEIDEGGER sich ausdrückt, »seitdem« es selbst ins Unverborgene kommend geschieht. D.h., der Entzug geschieht nicht erst und nicht nur im Menschen, der das Sein vorstellt. Die Seinsverlassenheit geht also nicht nur einen bestimmten Bereich des Seienden an, andere Bereiche indes nicht. Es sind vielmehr alle Bereiche des Seienden vom Sein selbst verlassen, denn die Seinsverlassenheit »geht« das Seiende als solches selbst »an«. Es gibt keinen einzigen Bereich des Seienden, der nicht vom Sein selbst verlassen wäre, denn das »Sein entzieht sich«, wie HEIDEGGER merkwürdigerweise sagt, gerade »indem es sich in das Seiende entbirgt [Kursiv v. Verf.].«32 Sonderbar mutet auch folgender Satz an: HEIDEGGER betont, daß »das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden.«33 31
32 33
N II, 355f./GA 6.2, 320f. »Der Fortgang des Seins in die Seiendheit ist jene – Metaphysik – genannte Geschichte des Seins, die in ihrem gleichwesentlich ist vom Anfang entfernt bleibt wie in ihrem Ende.« N II, 487./GA 6.2, 446. Hw, 337/310. 311./GA 5, 337. Vgl. auch WEISCHEDEL [1998], 1, 470. GA 65, 111. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 109. »Sein geht auf, indem das Seiende als Seiendes entborgen wird.« GA 67, 161. »Das Sein muß eröffnet wer-
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Kapitel 1
Eines wird indes deutlich: Die Seinsverlassenheit macht keine Ausnahmen. Sie durchgreift schlechthin alles Seiende, da sie das Seiende als Seiendes »angeht«. Um die Tragweite des HEIDEGGERSCHEN Begriffs der Seinsverlassenheit zu ermessen, läßt sich sagen, daß für HEIDEGGER das von ihm so genannte »Sein selbst« und die von ihm so genannte »Seinsverlassenheit« konvertierbar und koextensiv sein sollen. Mit der Seinsverlassenheit meint HEIDEGGER auch nicht, was das herkömmliche Verständnis des Wortes »verlassen« zunächst nahelegt. Daß nämlich das Sein selbst irgendwann in der Zeit zunächst beim Seienden war, um sich dann nach Eintreten eines Punktes in der Zeit oder nach und nach über einen längeren Zeitraum hinweg mehr und mehr vom Seienden abzulösen. Nein, »seitdem« die Unverborgenheit des Seienden geschieht, d.h. »seitdem« das Seiende als solches geschieht, ist die Seinsverlassenheit. Kurzum: Es gibt keinen entsprechenden entgegengesetzten Zustand vor der Seinsverlassenheit. Das Seiende ist als Seiendes vom Sein verlassen und damit immer schon verlassen, als es selbst. Die »Metaphysik« ist, wie HEIDEGGER oben hervorhebt, selbst die gesamte Geschichte dieser schier grenzenlosen Seinsverlassenheit. Die »Metaphysik«, das ist für HEIDEGGER die gesamte Geschichte des »Alls« des Seienden als solchen selbst, dem sich bereits als solchem das Sein entzogen hat. Kurzum: Die Metaphysik und die Seinsverlassenheit in ihrer gesamten Weite sind für HEIDEGGER dasselbe wie das Seiende als Seiendes.34 Wenn auch die »Metaphysik« selbst die gesamte Geschichte des Seienden als solchen als Geschichte der Seinsverlassenheit ist, so bleibt doch die abendländische Geschichte aus einem bestimmten Grund für HEIDEGGER in einem besonderen Sinne vom Sein verlassen, denn die
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den, damit Seiendes erscheine.« HD, 38./GA 4, 41. »Unverborgenheit selbst ist Anwesen. Beide sind dasselbe […]« Hw, 370/341./GA 5, 370. »Dabei versteht HEIDEGGER die gesamte abendländische Geschichte als ein Geschehen zunehmender Seinsvergessenheit, das er auch mit Metaphysik und Philosophie gleichsetzt.« WETZ [2003], 284, 2.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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»metaphysischen Grundstellungen […] sind der Bereich und der Grund dessen, was wir als Weltgeschichte, im besonderen als abendländische Geschichte kennen.«35 »Denn die Metaphysik bestimmt die Geschichte des abendländischen Weltalters. Das abendländische Menschentum wird in allen seinen Verhältnissen zum Seienden, d.h. auch zu sich selbst, nach allen Hinsichten von der Metaphysik getragen und geleitet.«36
Wenn HEIDEGGER hier davon spricht, daß »die Geschichte des abendländischen Weltalters« von der Metaphysik »bestimmt« ist, dann will er nicht so verstanden werden, als sei die Metaphysik auf die abendländische Geschichte zu reduzieren. Die Metaphysik bzw. Seinsverlassenheit ist, wie oben ausgeführt, ungleich universaler zu verstehen. Die »Metaphyik« verhält sich zum »abendländischen Weltalter« eher wie das Allgemeine zum Besonderen. Da die Metaphysik die Seinsverlassenheit des Seienden als solchen ist und das Seiende als solches entsprechend als Metapyhsik »bestimmt« ist, ist das »abendländische Weltalter« als ein Teil des Seienden Teil der Metaphysik. Aber innerhalb des abendländischen Weltalters kommt es in einer unvergleichlichen Weise zur philosophischen Frage nach dem Seienden als solchem. Diese Frage und die Versuche einer systematischen Beantwortung derselben durchziehen und kennzeichnen das Abendland und räumen ihm im Rahmen der Seinsverlassenheit eine besondere Stellung ein. Denn die Seinsverlassenheit kommt jetzt nicht nur mit dem Seienden als Seienden, sondern darüber hinaus im seinsvergessenen Denken des Seienden als Seienden zum Ausdruck. Die Seinsverlassenheit spitzt sich als Seinsvergessenheit zu, da sie sich im menschlichen und insbesondere im abendländischen Weltalter denkerisch vollzieht. Auch hier, im Fall der Bezeichnung »vergessen«, ist abermals der eigenwillige Wortgebrauch HEIDEGGERS zu beachten, denn mit dem Vergessen verhält es sich ganz so wie mit dem Verlassen. So wie es keinen Zustand vor der Verlassenheit gibt, so geht auch dem Vergessen bei HEIDEGGER nicht so etwas wie ein Bewußtsein dessen, was dann irgendwann später vergessen 35
36
N II, 92./GA 6.2,79.»Allein auch das Abendland ist nicht regional als Occident im Unterschied zum Orient gedacht, nicht bloß als Europa, sondern weltgeschichtlich aus der Nähe zum Ursprung.« Hum, 30./GA 9, 338. N II, 343./GA 6.2, 309.
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Kapitel 1
wird, voraus. Im Hinblick auf HEIDEGGERS Verständnis der Seinsvergessenheit betont SCHWEIDLER: »Philosophie hat nicht den Zugang zum Sein und vergisst es dann, sondern sie beginnt mit dem Vergessen des Seins.«37
Um das von HEIDEGGER Gemeinte noch schärfer zu unterstreichen, muß gesagt werden: Seinsvergessenheit und »Philosophie« sind in HEIDEGGERS Augen restlos austauschbar. JAHRAUS macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, in welchem überraschenden und neuen Sinn nun auch HEIDEGGER wieder die »Metaphysik« als »Erste Philosophie« bzw. als das »Erste der Philosophie« zu bezeichnen weiß: »Philosophie beginnt so als Metaphysik [Seinsvergessenheit]. Metaphysik ist der uneinholbare Anfang der Philosophie, der Philosophie auch wieterhin bestimmt. Insofern kann Heidegger auf die traditionelle Kennzeichnung der Metaphysik als erster Philosophie zurückgreifen, wie sie beispielsweise in Descartes Meditationes de prima philosophia anklingt, aber diesen Anfang zugleich als uneinholbar ausweisen: ›Die Metaphysik bleibt das Erste der Philosophie. Das Erste des Denkens erreicht sie nicht‹.«38
Metaphysik ist »erste Philosophie«, weil Philosophie immer schon Metaphysik, d.h. Seinsverlassenheit ist. Anders ausgedrückt. Die Seinsverlassenheit ist immer schon. Und JAHRAUS betont weiter: […] Das ist nun in der Tat die Konzeption einer grandiosen Umdeutung von Philosophiegeschichte […] Worum es ihr [der Philosophie] eigentlich geht, wird nicht irgendwann vergessen, sondern das Vergessen selbst ist der Beginn der Philosophie.«39
Wenn HEIDEGGER also die Metaphysik als »Erste Philosophie« bezeichnet, dann deshalb, weil in der »Philosophie« im Zuge einer »grandiosen Umdeutung« die Metaphysik, und das heißt für HEIDEGGER immer die Seinsverlassenheit bzw. Seinsvergessenheit, bedingungslos »zuerst« kommt, so daß die Seinsvergessenheit und damit die Metaphysik immer 37 38 39
SCHWEIDLER [1987], 162. Vgl. auch JAHRAUS [2004a], 176. JAHRAUS [2004a], 176. JAHRAUS [2004a], 176.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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schon die »erste« Philosophie ist. In diesem Sinn unterstreicht JAHRAUS: »Am Anfang der Philosophie steht die Seinsvergessenheit […] steht also Philosophie als Metaphysik.«40 HEIDEGGER sieht in der »Technik«, welche die gegenwärtige Welt so sehr beherrscht, auch nur eine Weise der Seinsverlassenheit bzw. Metaphysik.41 Er stellt fest, daß die »Herrschaft der Metaphysik […] sich verfestigt […] in der Gestalt der modernen Technik und deren unabsehbaren rasenden Entwicklungen. Es könnte auch sein, daß alles, was sich auf dem Weg des Schrittes zurück ergibt von der [als Technik] fortbestehenden Metaphysik auf ihre Weise als Ergebnis eines vorstellenden Denkens nur genützt und verarbeitet wird.«42 »Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick der in der Vergessenheit ruhenden Wahrheit des Seins [der Metaphysik].«43
Die »Technik« im Sinne HEIDEGGERS darf, wie BALKE zurecht betont, nicht »handwerksmeisterlich« verstanden und damit etwa auf das industrielle und militärische Tun eingeengt werden.44 Die »Technik« ist, wie HEIDEGGER unterstreicht, »etwas wesentlich anderes […] als jeder bisher be-
40 41
42 43 44
JAHRAUS [2004a], 176. Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahrheit.« TudK, 12./GA 7, 13. »Technik ist eine Weise des Entbergens. Die Technik west in dem Bereich, wo Entbergen und Unverborgenheit, wo alhveia, wo Wahrheit geschieht.« TudK, 13./GA 7, 14f. »Die Technik ist in ihrem Wesen ein seinsgeschichtliches Geschick der in der Vergessenheit ruhenden Wahrheit des Seins. Sie geht nämlich nicht nur im Namen auf die tecnh der Griechen zurück, sondern sie stammt wesensgeschichtlich aus der tecnh als einer Weise des alhveuein, das heißt des Offenbarmachens des Seienden. Als eine Gestalt der Wahrheit gründet die Technik in der Geschichte der Metaphysik.« Hum, 32./GA 9, 340. ID, 65./GA 11, 78. S. LANDOLT [1992b] 177. Hum, 32./GA 9, 340. BALKE [2003], 369, 2.
40
Kapitel 1
kannte Werkzeuggebrauch.«45 Dementsprechend gilt es, »daß wir das Wesende in der Technik erblicken, statt nur auf das Technische zu starren.«46 »Alles nur Technische gelangt nie in das Wesen der Technik. Es vermag nicht einmal seinen Vorhof zu erkennen.«47
Die moderne »Technik« ist für HEIDEGGER nichts anderes als eine Manifestation, Artikulationsweise oder ein Moment der Metaphysik und damit gar nicht von dieser zu unterscheiden oder abzusondern. Da die »Technik« ein »Seiendes« ist, kann dies angesichts der obigen Ausführungen ohnehin nicht anders sein. In diesem Sinn muß HEIDEGGER in der für ihn bezeichnenden ambivalenten Art des Formulierens unterstreichen, es sei das »Wesen der Technik ganz und gar nichts Technisches«.48 Die Seinsverlassenheit, welche sich in der Seinsvergessenheit gleichsam verdichtet und mit der Technik den Gipfel der Seinsvergessenheit erreicht, wirkt nun wieder durch die zusehends universale Herrschaft der Technik auf die Weltgeschichte zurück: »Dieses Denken, das des Seins selbst uneingedenk geblieben, ist das einfache und alles tragende, […] Ereignis der abendländischen Geschichte, die inzwischen zur Weltgeschichte sich auszubreiten im Begriffe steht«.49 »Heute scheint sich der Entzug des Wesens des Seins zu vollenden. Heute, sagen wir und meinen das beginnende Atomzeitalter, durch das sich vermutlich die Neuzeit vollendet, insofern sich der anfängliche Grundzug dieser Epoche ins Letzte und uneingeschränkt entfaltet.«50
45 46 47 48 49
50
GA 40, 202. TudK, 32./GA 7, 33. TudK, 46./GA 11, 123. VA, 9./GA 7, 7. Hw, 258f./239f./GA 5, 258f. Diesem Zitat geht folgendes unmittelbar voran: »Uneingedenk des Seins und seiner eigenen Wahrheit denkt das abendländische Denken seit seinem Anfang stets das Seiende als solches. Inzwischen hat es nur in solcher Wahrheit das Sein gedacht, so daß es diesen Namen unbeholfen genug und in einer unentwirrten, weil unerfahrenen Mehrdeutigkeit zur Sprache bringt.« Hw, 258/238f./GA 5, 258. SvG, 100./GA 10, 83.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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Das aber bedeutet, daß die Seinsverlassenheit bzw. die Seinsvergessenheit nicht nur alles bisherige und gegenwärtige Seiende als solches angeht. Vielmehr schickt sie sich an, eine ausnahmslose Weltherrschaft anzutreten.51 HEIDEGGER denkt demnach die »Metaphysik« zunächst als eine universale Seinsverlassenheit des Seienden als solchen. Diese alles Seiende als Seiendes ausmachende Seinsverlassenheit verdichtet sich durch die menschliche und dann durch die abendländische Geschichte. In der abendländischen Philosophiegeschichte erreicht die Seinsverlassenheit einen noch schärferen Grad der Verdichtung. Am vorläufigen »Ende« dieses zunehmenden Verdichtungsprozesses der Metaphysik steht die »Metaphysik« als »Technik«. In seiner Manifestation als Technik erfährt der bisherige metaphysische Verdichtungsprozess eine Ausbreitung der im Abendland gewonnenen Dichte über die Grenzen des Abendlandes hinaus, insofern durch das »Gemächte der Technik«, die verdichtete Seinsvergessenheit bzw. abendländische Metaphysik, sich anschickt, sich in einem »planetarischen Imperialismus«, einer »technischen Herrschaft über die Erde« zu vollenden.52 Es gehört zu den Eigenarten des HEIDEGGERSCHEN Formulierens, daß die Bedeutungen gerade der zentralen Bezeichnungen wie »Metaphysik« oder »Seinsverlassenheit« nicht im strengen Sinn konsequent sind. Einerseits ist es von entscheidender Bedeutung zu sehen, daß die Seinsverlassenheit vom Sein ausgeht und alles Seiende betrifft und daß »Metaphysik« für HEIDEGGER nichts anderes ist als diese restlos universale Seinsverlassenheit der bisherigen Geschichte des Seienden als solchen überhaupt. Andererseits darf nicht erwartet werden, daß HEIDEGGER nun immer unter »Metaphysik« die alles Seiende durchgreifende, weil vom Sein selbst ausgehende Seinsverlassenheit meint. Vielmehr spricht er immer wieder auch von »Metaphysik« und meint damit insbesondere die abendländische 51
52
»Der Mensch ist auf dem Sprunge, sich auf das Ganze der Erde und ihrer Atmosphäre zu stürzen, das verborgene Walten der Natur in der Form von Kräften an sich zu reißen und den Geschichtsgang dem Planen und Ordnen einer Erdregierung zu unterwerfen. Derselbe aufständige Mensch ist außerstande, einfach zu sagen, was ist, zu sagen, was dies ist, daß ein Ding ist. Das Ganze des Seienden ist der eine Gegenstand eines einzigen Willens zur Eroberung. Das Einfache des Seins ist in einer einzigen Vergessenheit verschüttet.« Hw, 372/ 343./GA 5, 372. Hw, 111f./102f./GA 5, 111f. Vgl. dazu SAFRANSKI [2001], 332.
42
Kapitel 1
Geschichte der Philosophie. Diese Inkonsequenz geschieht aber nicht etwa aus Nachlässigkeit. HEIDEGGER kann durchaus bewußt zwischen den Bedeutungen hin und her schwimmen, weil die Metaphysik als Artikulationsmoment der »Metaphysik« in HEIDEGGERS Augen gerade nicht von dieser abgegrenzt werden soll. Die »abendländische Metaphyik« ist ja nichts anderes als die Weise, wie sich die universale »Metaphysik« manifestiert. 1.2 Identifikation von Seinsvergessenheit/Metaphysik und Nihilismus Die Seinsvergessenheit besteht darin, daß das Sein selbst und damit der Unterschied zwischen Sein und Seiendem nicht bedacht und beide immerfort verwechselt werden. Diese Vergessenheit geht aber nicht vom Menschen aus und betrifft nicht nur den Menschen, sondern sie geht, und dies mutet in der Tat ungeheuerlich an, vom Sein selbst als dessen Wesen aus und durchgreift alles Seiende als solches.53 Daher ist die Vergessenheit eigentlich eine Seinsverlassenheit »seitens« des Seins, die sich im Menschen und dessen gesamter Kulturgeschichte lediglich als Seinsvergessenheit artikuliert. Für HEIDEGGER ist die Seinsverlassenheit untrennbar mit dem Nihilismus »verbunden«, »dessen Wesen« daher »eines der zentralsten Themen Heideggers« darstellt, wie WEISCHEDEL treffend unterstreicht.54 Der Nihilismus verlangt, so betont HEIDEGGER, eine »seinsgeschichtliche Bestimmung«, welche dem Nihilismus wirklich auf den Grund geht, indem sie diesen aus dem »Geschick des Seins« denkt.55 Dieser seinsgeschichtlichen Bestimmung gemäß darf der Nihilismus, wie WEISCHEDEL betont, nicht einfach als ein Geschehen und »nicht bloß als ein Ereignis verstanden« werden, »das sich unter Menschen, in der menschlichen Geschichte, begibt.«56 Er darf aber auch nicht als ein Ereignis oder eine Vielzahl von Ereignissen innerhalb der bisherigen menschlichen Geschichte verstanden werden, neben dem es auch noch irgendwelche Vorkommnisse gäbe, die kein Nihilismus wären. Einen derart »begrenzt« verstande53 54 55 56
Hw, 41/43./GA 5, 41. WEISCHEDEL [1998], 1, 470. N II, 335./GA 6.2, 301. Vgl. auch WEISCHEDEL [1998], 1, 471. WEISCHEDEL [1998], 1, 471.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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nen Nihilismus nennt HEIDEGGER den »uneigentlichen Nihilismus«. NIETZSCHES Nihilismus etwa stellt in HEIDEGGERS Augen einen solchen uneigentlichen Nihilismus dar.57 Vielmehr ist der »eigentliche Nihilismus« in HEIDEGGERS Augen die »Geschichte des Ausbleibens des Seins« selbst.58 »Das Wesen des Nihilismus« ist, wie HEIDEGGER fordert, »aus dem Sein selbst« zu denken, und zwar als »eine Geschichte, die sich mit dem Sein selbst begibt.«59 Da aber die Seinsverlassenheit der gesamten bisherigen Geschichte des Seienden als solchen und damit auch der Geschichte des Menschen keine Einschränkung kennt, kennt auch der »Nihilismus« keine Einschränkungen oder Vereinzelungen. Somit sind Seinsverlassenheit und Nihilismus für Heidegger dasselbe! Und da die Seinsverlassenheit vom Sein ausgeht und alles Seiende ausmacht, geht auch der Nihilimus nicht vom Menschen, sondern vom Sein aus und macht alles Seiende aus. Wenn aber »Nihilismus« dasselbe ist wie Seinsverlassenheit und die Seinsverlassenheit dasselbe ist wie »Metaphysik«, dann ist der »Nihilismus« dasselbe wie »Metaphysik«. Metapyhsik ist also für HEIDEGGER nicht eine vom Nihilismus irgendwie zu unterscheidende Seinsverlassenheit, Metapyhsik ist als Seinsverlassenheit der eigentliche Nihilismus. »Das Wesen des eigentlichen Nihilismus ist das Sein selber im Ausbleiben seiner Unverborgenheit, die als die seine Es selbst ist und im Ausbleiben sein ›ist‹ bestimmt.«60 »Die Metaphysik ist als Metaphysik der eigentliche Nihilismus. Das Wesen des Nihilismus ist geschichtlich als die Metaphysik, die Meta-
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58 59 60
»Insofern dieses als Metaphysik geschichtlich gewordene Denken seinem Wesen nach zum Sein selbst gehört, insofern es aus der Unverborgenheit des Seienden als solchen denkt, bestimmt sich auch das Uneigentliche des Nihilismus aus dem Sein selbst. Der uneigentliche Nihilismus ist das Uneigentliche im Wesen des Nihilismus, insofern er das Eigentliche gerade vollendet. In der Wesenseinheit des Nihilismus west ein Unterschied. Das uneigentliche des Nihilismus fällt aus dessen Wesen nicht heraus. Darin zeigt sich: Das Unwesen gehört zum Wesen.« N II, 361f./GA 6.2, 326f. N II, 385./GA 6.2, 348f. Vgl. auch WEISCHEDEL [1998], 1, 471. N II, 362./GA 6.2, 327. Hw, 265/244./GA 5, 265. N II, 356./GA 6.2, 321.
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Kapitel 1 physik Platons ist nicht weniger nihilistisch als die Metaphysik Nietzsches.«61 »Die Metaphysik [Seinsvergessenheit] ist eine Epoche der Geschichte des Seins selbst [Seinsverlassenheit]. In ihrem Wesen aber ist die Metaphysik Nihilismus. Dessen Wesen gehört in die Geschichte, als welche das Sein selber west.«62 »Das Sein selbst bleibt in der Metaphysik wesensnotwendig ungedacht. Die Metaphysik ist die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst wesenhaft nichts ist: Die Metaphysik ist als solche der eigentliche Nihilismus.«63
WEISCHEDEL schreibt: »Die nähere Gestalt, in der sich das Seinsgeschick des Nihilismus darstellt, ist das Ausbleiben des Seins, die Seinsverlassenheit […]. Zwar kann HEIDEGGER diese Momente im Sein auch vom Menschen her betrachten; die Seinsverlassenheit erscheint dann als Seinsvergessenheit, und Nihilismus bedeutet demgemäß: ›in der Vergessenheit des Seins nur das Seiende betreiben‹. doch das ist nur der vordergründige Aspekt. In Wahrheit muß auch die Seinsvergessenheit als vom Sein selber ausgehend betrachtet werden: so nämlich, daß dieses das Seiende und den Menschen verlassen hat, daß diesen gegenüber ausbleibt. Eben der ›Nihilismus‹ nun ist die ›Geschichte des Ausbleibens des Seins‹.«64
Trotz des buchstäblich »ungeheuer« universalen Charakters des eigentlichen Nihilismus als ausnahmsloser bisheriger Geschichte des »Seins selbst« bzw. der Metaphysik und der Seinsverlassenheit kommt dem Nihilismus, insofern er sich als abendländisches Bedenken der Frage nach dem Seienden als solchen manifestiert, abermals eine besondere Bedeutung zu, weil hier trotz des bewußten Bedenkens des Seienden als solchen das Sein selbst nie gedacht wird. So wird der Nihilismus, wie HEIDEGGER formuliert, zur bislang ausnahmslosen »Gesetzlichkeit« der Weltgeschichte. Die abendländische Frage nach dem Seienden stellt einen Sonderfall des »Nihilismus«/der gesamten Geschichte des Seienden als solchen dar. 61 62 63 64
N II, 343./GA 6.2, 309. Hw, 265/245./GA 5, 265. N II, 350./GA 6.2, 315f. Vgl. WEISCHEDEL [1998], 1, 472. WEISCHEDEL [1998], 1, 470.
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Denn als abendändische Frage nach dem Seienden als solchen verdichtet sich der Nihilismus zu einer besonderen Weise seiner selbst. »[…] denn der Nihilismus ist weder nur eine Geschichte, noch auch der Grundzug der abendländischen Geschichte, er ist die Gesetzlichkeit dieses Geschehens, seine ›Logik‹. […] Als Gesetzlichkeit der Geschichte entfaltet der Nihilismus eine Folge verschiedener Stufen und Gestalten seiner selbst.«65
Denn, so fragt HEIDEGGER: »wo ist der eigentliche Nihilismus am Werk? Dort, wo man am geläufigen Seienden klebt und meint, es genüge, das Seiende wie bisher als das Seiende zu nehmen, das es nun einmal ist. Damit weist man aber die Frage nach dem Sein zurück und behandelt das Sein wie ein Nichts (nihil), was es auch in gewisser Weise ›ist‹ sofern es west. In der Vergessenheit des Seins nur das Seiende betreiben – das ist Nihilismus, […].«66
Und da die Seinsvergessenheit bzw. Seinsverlassenheit nichts anderes ist als Metaphysik und diese nichts anderes als Nihilismus, kann HEIDEGGER schließlich sagen: »Nietzsche hat jedoch das Wesen des Nihilismus nie erkannt, sowenig wie je eine Metaphysik vor ihm. Wenn jedoch das Wesen des Nihilismus in der Geschichte beruht, daß im Erscheinen des Seienden als solchen im Ganzen die Wahrheit des Seins ausbleibt, und es demgemäß mit dem Sein selbst und seiner Wahrheit nichts ist, dann ist die Metaphysik als die Geschichte der Wahrheit des Seienden als solchen in ihrem Wesen Nihilismus. Ist vollends die Metaphysik der Geschichtsgrund der abendländischen und europäisch bestimmten Weltgeschichte, dann ist diese in einem ganz anderen Sinne nihilistisch.«67
HEIDEGGER beantwortet die Frage, ob NIETZSCHES Denken ein Nihilismus sei, durchaus mit »Ja«. Aber die Frage, ob sich dieses Denken etwa insofern von anderen Philosophen, ja von der gesamten bisherigen Geschichte des Seienden als solchen unterscheide, insofern diese Ge65 66 67
N II, 278./GA 6.2, 250f. EM, 155./GA 40, 212. Hw, 264/244./GA 5, 264.
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Kapitel 1
schichte kein Nihilismus sei, beantwortet HEIDEGGER entschieden mit »Nein«. Da die gesamte bisherige Geschichte des Seienden als solchen nichts anderes als Seinsverlassenheit ist und diese Seinsverlassenheit nichts anderes als der eigentliche Nihilismus und dieser nichts anderes als Metaphysik ist, kann dies in HEIDEGGERS Augen auch gar nicht anders sein. Denn Nihilismus, Metaphysik und Seinsverlassenheit betrachtet HEIDEGGER als dasselbe. Daher ist nicht nur PLATON ebensosehr Nihilist wie NIETZSCHE, vielmehr ist NIETZSCHE in HEIDEGGERS Augen ebensosehr Metaphyiker wie PLATON. Was aber bedeutet die Selbigkeit von Seinsverlassenheit, Metaphysik und Nihilismus für den von HEIDEGGER doch irgendwie getroffenen Unterschied zwischen dem »eigentlichen« und »uneigentlichen« Nihilismus? Wenn HEIDEGGER NIETZSCHES Denken als uneigentlichen Nihilismus bezeichnet, will er ja nicht zum Ausdruck bringen, daß NIETZSCHES Denken kein Nihilismus sei. Das ist unmöglich, denn in HEIDEGGERS Augen ist alles Seiende als solches Nihilismus, da das Seiende als Seiendes und die Seinsverlassenheit dasselbe sind. Mit dem Ausdruck »uneigentlicher Nihilismus« möchte HEIDEGGER einmal mehr darauf aufmerksam machen, daß jede »Partikularisation« des Nihilismus unstatthaft ist. D.h., es gibt schlechterdings keinen vom Nihilismus ausgenommenen Bereich des Seienden. Keinen! Wenn also NIETZSCHES Denken von ihm selbst oder von irgendeinem Interpreten als der einzige Nihilismus verstanden wird, dann ist der so verstandene Nihilismus in HEIDEGGERS Augen ein »uneigentlicher« Nihilismus, der das wahre Wesen des Nihilismus oder den »eigentlichen« Nihilismus nicht vertritt, sondern gerade verkennt. Denn der uneigentliche Nihilismus besteht darin, irgendwie zwischen nihilistischen Seinsbereichen und nichtnihilistischen Seinsbereichen zu unterscheiden und anzunehmen, daß es Seinsbereiche gibt, welche nicht vom Nihilismus durchgriffen sind. Der uneigentliche Nihilismus verkennt in HEIDEGGERS Augen, daß auch er nur eine Weise des eigentlichen Nihilismus darstellt, da dem ›Eigenen‹ alles dessen, was ist, wesentlich ›eignet‹, ausnahmslos Nihilismus zu sein. NIETZSCHE erkenne, wie HEIDEGGER oben betont, das Wesen des Nihilismus oder den eigentlichen Nihilismus nicht. Der Grund dafür ist, daß Nietzsche den eigenen Nihilismus verabsolutiert. Die Metaphysik erkennt das Wesen des Nihilismus jedoch ebensowenig wie NIETZSCHE, denn die Metaphysiker
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meinen ja gerade keine Nihilisten zu sein. Beide, NIETZSCHE und die Metaphysik, verkennen in HEIDEGGERS Augen, daß alles, was ist und insofern es ist, nichts anderes als »Nihilismus« sein kann. Anders ausgedrückt: Beide verkennen in HEIDEGGERS Augen, daß alles, was ist, ausnahmslos »Metaphysik« ist, denn die »Metaphysik ist als Metaphysik der eigentliche Nihilismus.« So befremdlich und verwirrend das alles klingen mag, die Dinge stehen und liegen bei HEIDEGGER genau so. Überdies ist mit dem soeben Gesagten der Gipfel des Befremdlichen noch nicht erreicht. Denn HEIDEGGER will nun seinerseits nicht so verstanden werden, als würde er den eigentlichen vom uneigentlichen Nihilismus der Sache nach wesentlich unterscheiden. Er betont vielmehr ausdrücklich: »Der uneigentliche Nihilismus ist das Uneigentliche im Wesen des Nihilismus, insofern er das Eigentliche gerade vollendet. […]. Das Uneigentliche des Nihilismus fällt aus dessen Wesen nicht heraus.«68 Mit etwas anderen Worten: Der uneigentliche Nihilismus ist das Uneigentliche im Eigentlichen des Nihilismus, insofern das Uneingentliche das Eigentliche gerade vollendet. Der uneigentliche Nihilismus fällt aus dem Wesen des eigentlichen Nihilismus nicht heraus, d.h. jener ist von diesem nicht nur nicht wesentlich unterschieden, vielmehr soll der uneigentliche Nihilismus gar die Vollendungsgestalt des eigentlichen Nihilismus und damit selber geradezu als uneigentlicher das Eigentliche des eigentlichen Nihilismus sein! Wie diese für das HEIDEGGERSCHE Denken bezeichnende Passage zu verstehen ist, soll erst weiter unten zur Sprache kommen.69 Nur soviel sei bereits gesagt: Auch der uneigentliche Nihilismus kann für HEIDEGGER keinen vom eigentlichen Nihilismus eigens abgezirkelten Seinsbereich darstellen, da für HEIDEGGER alles Seiende »aus dem Sein« zu bestimmen ist, welches selber ja nichts anderes ist als das Nichts bzw. der »eigentliche Nihilismus«.70 Jeder mögliche uneigentliche Nihilismus ist daher nichts anderes als »eine Stufe und Gestalt« (s. oben) des Nihilismus, d.h. des eigentlichen Nihilismus.71 Aber warum soll nun gerade der uneigentliche Nihilismus die Vollendung des Nihilismus sein? Nun, weil das »Sein« als »Nichts« ein sich selbst verlassendes und damit in Unei68 69 70 71
S. das Zitat bei der Fußn. 57. S. Abschnitt 2.2. S. das Zitat bei der Fußn. 57. S. das Zitat bei der Fußn. 57.
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gentlichkeiten verlierendes »Sein« sein muß und nur so »Sein« sein kann. Dies wiederum bedeutet für HEIDEGGER paradoxer- und verwirrenderweise, daß das Sein erst in der eigenen Uneigentlichkeit seine Eigentlichkeit »wahrt«. 1.3 Die Seinsvergessenheit ist kein Mangel, kein Irrtum und kein Fehler Es soll nun durch einige weitere Zitate auf einen besonderen und in HEIDEGGERS Augen äußerst bedeutsamen Umstand hingewiesen werden, ohne daß dieser schon eigens behandelt werden kann. Aus dem bisher Gesagten könnte gefolgert werden, HEIDEGGER halte die Seinsverlassenheit bzw. Metaphysik für eine Verirrung im Sinne eines großen Verfehlens der Wirklichkeit, mithin für eine völlig mangelhafte, irrtümliche und falsche Philosophie.72 Aber das scheint merkwürdigerweise ganz und gar nicht der Fall zu sein, denn ihre [der Metaphysik] »Vergessenheit des Unterschiedes […] ist […] kein Mangel, sondern das reichste und weiteste Ereignis, in dem die abendländische Weltgeschichte zum Austrag kommt. Es ist das Ereignis der Metaphysik.«73 »Diese Verborgenheit ist jedoch nicht ein Mangel der Metaphysik, sondern der ihr selbst vorenthaltene und doch vorgehaltene Schatz ihres eigenen Reichtums.«74 »Die Metaphysik selbst wäre demgemäß kein bloßes Versäumnis einer noch zu bedenkenden Frage nach dem Sein, sie wäre vollends kein Irrtum.«75
72 73
74 75
»Das bedeutet nicht, daß die Metaphysik als Geschichtsgrund um dessentwillen nun einfach abgewertet würde.« WEISCHEDEL [1998], 1, 461. Hw, 365/336./GA 5, 365. »Darum ist auch die Verwechslung des Seienden als Seienden mit dem Sein kein Fehler, sondern ein Ereignis des Seins; denn das Sein, nach dem die Frage geht, west ja in der Geschichte auch und gerade dann, wenn es vergessen wird. Die Geschichte des Seins beginnt mit der Vergessenheit des Seins.« MÖLLER [1952], 115. Hum, 24./GA 9, 332. Hw, 265/244./GA 5, 265.
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Mag sich auch »das Aussagen der Metaphysik […] von ihrem Anbeginn bis in ihre Vollendung auf eine seltsame Weise in einer durchgängigen Verwechslung von Seiendem und Sein«
bewegen. So gilt doch mit einer durch das »freilich« hervorgehobenen merkwürdigen ›Selbstverständlichkeit‹: »Diese Verwechslung ist freilich als Ereignis zu denken, nicht als ein Fehler.«76 1.4 Nähere Verdeutlichung der Seinsvergessenheit anhand der philosophischen Theologie und ihrer Substantivierung von Sein Was meint HEIDEGGER nun genau mit der Seinsvergessenheit als »Verwechslung von Sein und Seiendem«? Diese Frage drängt sich auf, da beispielsweise in der scholastischen Philosophie genau unterschieden wird zwischen einem esse per se subsistens und dem ens, wir könnten auch sagen zwischen dem ens a se und dem ens ab alio, dem notwendigen Sein Gottes und dem kontingenten Seienden oder schlicht zwischen dem, was selbst schlechterdings das Sein »ist« und dem, was das Sein lediglich, um mit HEIDEGGER zu sprechen, »zu Lehen hat«.77 Gott allein ist das Sein schlechthin, die kontingente Welt bildet den Bereich des Seienden, gerade weil sie im Unterschied zu Gott nicht das durch sich subsistierende Sein selber ist, sondern am göttlichen Sein teilhat, und das Eine ist schlechterdings nicht das Andere; es werden beide nicht verwechselt und streng voneinander unterschieden. Wenn aber Sein und Seiendes derart streng voneinander unterschieden und ›gegeneinander‹ abgegrenzt werden, ist es 76
77
M, 11./GA 9, 370. »Die Metaphysik wird durch diese Überwindung der Metaphysik nicht beseitigt sondern bleibt in ihrem Recht – freilich nicht mit ihrem ›Anspruch‹, das Sein zu ergründen – bestehen. Das Denken, das die Wahrheit des Seins denkt, geht wohl über die Metaphysik hinaus, aber es denkt nicht gegen die Metaphysik. Denn diese ist ja in ihrem Grunde selbst Geschehen des Logos und des Seins.« MÖLLER [1952], 118. »Das Wesen der Wahrheit, d.h. der Unverborgenheit, wird von einer Verweigerung durchwaltet. Dieses Verweigern ist jedoch kein Mangel und Fehler, als sei die Wahrheit eitel Unverborgenheit, die sich alles Verborgenen entledigt hat. Könnte sie dieses, dann wäre sie nicht mehr sie selbst.« Hw, 41/43./GA 5, 41. GA 9, 240. Vgl. ANGEHRN [2003], 272, 2.
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dann nicht, wie HEIDEGGER selbst einräumt, »eine offenkundige Torheit, der Metaphysik eine Seinsvergessenheit vorzurechnen«? Und wie kann dann HEIDEGGER sagen, die gesamte Metaphysik sei seinsvergessen, indem sie Sein und Seiendes ständig miteinander verwechselt und den Unterschied beider nicht bedenkt?78 Was genau heißt also »Seinsvergessenheit« oder »das Sein selber denken«, und was genau besagt bei HEIDEGGER »Unterschied«, wenn auch Philosopheme wie das des esse per se subsistens und des ens ab alio mitsamt des strengen Unterschiedes beider im einzelnen und insgesamt seinsvergessen sind? Um diese Frage besser beantworten zu können, soll im Sinne einer Illustration kurz HEIDEGGERS Einschätzung der philosophischen Theologie in den Blick genommen werden. Alle abendländische Metaphysik, d.h. insbesondere alle Philosophie der Seinsvergessenheit, ist für HEIDEGGER zugleich philosophische Theologie und gipfelt in der philosophischen Theologie. HEIDEGGER nennt die Metaphysik daher auch »Onto-Theo-Logie«.79 Ja, die philosophische Theologie ist für HEIDEGGER gleichsam Metaphysik, d.h. Seinsvergessenheit bzw. Seinsverlassenheit in Reinform. Denn hier zeigt sich für HEIDEGGER einmal mehr und in hervorragender Weise einerseits das Bewußtsein der Metaphysik darüber, daß es Seiendes ohne Sein nicht geben kann. Anderseits aber gerät just in dieser Disziplin das Sein selber nie in den Blick. Die Metaphysik stößt hier also irgendwie auf das Sein. Aber dann verkennt sie es auch schon, indem sie das Sein mit Gott identifiziert und ihn als ein mit sich identisches Etwas anderen je selbstidentischen Etwas gegenüberstellt und eben dadurch nur wieder auf ein Seiendes »zurück-« und »umbiegt«80 und damit bloß zu einem weiteren Seienden »vor und 78
79 80
»Man versichert mit gutem Recht, die Metaphysik frage doch nach dem Sein des Seienden; deshalb sei es eine offenkundige Torheit, der Metaphysik eine Seinsvergessenheit vorzurechnen. Denken wir jedoch die Seinsfrage im Sinne der Frage nach dem Sein als solchem, dann wird jedem Mitdenkenden klar, daß der Metaphysik das Sein als solches gerade verborgen, in der Vergessenheit bleibt und dies so entschieden, daß die Vergessenheit des Seins, die selber in die Vergessenheit fällt, der unbekannte, aber ständige Anstoß für das metaphysische Fragen ist.« EM, 14f./GA 40, 21. Vgl. Die entsprechenden Ausführungen in HEIDEGGERS Die Onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik. ID, 31-67./GA 11, 51-79. Vgl. WEISCHEDEL [1998], 1, 460.
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über« oder neben und unter anderen Seienden macht.81 »Das Seyn aber ›ist‹«, wie HEIDEGGER betont, »weder über uns, noch in uns, noch um uns herum, sondern wir sind ›in‹ ihm als dem Ereignis.«82 Deshalb kann HEIDEGGER in Nietzsche II schreiben: »Die Metaphysik anerkennt zwar: Seiendes ist nicht ohne Sein. Aber kaum gesagt, verlegt sie das Sein wiederum in ein Seiendes […].«83
WEISCHEDEL schreibt, HEIDEGGER kommentierend: »Dasjenige Seiende, zu dem sich die Metaphysik in ihrer höchsten Gestalt zurückwendet, ist der Gott. Das Sein ist für sie zwar das Licht, in dem das Seiende zum Erscheinen gelangt. Aber sie fragt in einer seltsamen Umbiegung nicht nach diesem Licht selber […]«, sondern ›nach der seienden Quelle und nach einem Urheber des Lichtes‹. So wird sie zur ›Frage nach dem Göttlichen und dem Gott‹, nach dem ›Gott der Philosophen‹.«84
Dagegen betont HEIDEGGER: »Das ›Sein‹ – das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund.«85 Er meint gegen die Vergessenheit der Metaphysik unterstreichen zu müssen: »[…] auch der Gott ist, wenn er ist, ein Seiender, steht als Seiender im Sein und dessen Wesen, das sich aus dem Welten von Welt ereignet.«86
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84 85 86
Das Sein »ist keine Macht vor und über dem Seienden […] noch gar der ›Gott‹ […].« ZABOROWSKI/BÖSL [2003], 85f. »Heideggers Sein aber ist keine transzendente Ichartigkeit.« SAFRANSKI [2001], 345. »Gott, von dem geglaubt wird, er habe das Sein aus dem Nichts geschaffen, ist bei Heidegger selbst aus dem Nichts geschaffen. Das ekstatische Denken [das Sein selbst] bringt ihn hervor.« SAFRANSKI [2001], 344f. GA 69, 55. N II, 347./GA 6.2, 312. Das Zitat lautet anschließend: »[…], sei dieses das höchste Seiende im Sinne der obersten Ursache, sei es das ausgezeichnete Seiende im Sinne des Subjektes der Subjektivität als der Bedingung der Möglichkeit aller Objektivität, sei es, in der Konsequenz der Zusammengehörigkeit beider Begründungen des Seins im Seienden, die Bestimmung des höchsten Seienden als des Absoluten im Sinne der unbedingten Subjektivität.« WEISCHEDEL [1998], 1, 460. Vgl. M, 7./GA 9, 363. Hum, 23./GA 9, 331. TudK, 45./GA 11, 122. S. auch WEISCHEDEL [1998], 1, 492.
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Deshalb ist Gott aus HEIDEGGERS Sicht immer ein »Gott des Seins«, wobei der hier vorliegende Genitiv streng als genitivus subiectivus zu verstehen ist.87 Alles, auch Gott, geschieht im und durch das Sein und ist so restlos ›von der Gnade‹ des Seins abhängig: »Ob der Gott lebt oder tot bleibt, […] ob Gott Gott ist, ereignet sich aus der Konstellation des Seins und innerhalb ihrer.«88
Aber das »Sein selbst«, aus dem allein sich laut HEIDEGGER Leben und Tod Gottes ereignen, »bleibt aus«. Denn wird das Sein mit einem transzendenten und vollkommenen Gott identifiziert und dann vom ens ab alio unterschieden, dann wird just durch diese Art der Unterscheidung der von HEIDEGGER anvisierte »Unterschied« verkannt, weil Gott für HEIDEGGER trotz all der ihm zugesprochenen »Seinsvollkommenheiten« zu einem mit sich selbst identischen Seienden neben anderem je selbstidentischen Seienden geworden ist, wodurch das Sein abermals auf ein Seiendes unter anderen Seienden umgebogen bleibt. Genau diese Art der strengen Unterscheidung bedeutet für HEIDEGGER paradoxer-, aber auch bezeichnenderweise nichts anderes, als daß zwischen Sein und Seiendem gerade nicht unterschieden wird! HEIDEGGER bringt dies in folgendem Text zum Ausdruck. Zu beachten ist hier, daß die Formulierung »Anwesen des Anwesenden« nur eines der vielen von HEIDEGGER verwendeten sprachlichen »Kostüme« (GIVSAN)89 darstellt, in welche HEIDEGGER in endlosen Wiederholungen ein und dasselbe Sein selbst einkleidet: »Aber die Sache des Seins ist es, das Sein des Seienden zu sein. Die sprachliche Form dieses rätselhaft vieldeutigen Genitivs nennt eine Genesis, eine Herkunft des Anwesenden aus dem Anwesen. Doch mit dem Wesen beider bleibt das Wesen dieser Herkunft verborgen. Nicht nur dies, sondern sogar schon die Beziehung zwischen Anwesen und Anwesendem bleibt ungedacht. Von früh an scheint es, als sei das Anwesen und das Anwesende je etwas für sich. Unversehens wird das Anwesen selbst zu einem 87 88
89
N II, 29./GA 6.2, 21. TudK, 46./GA 11, 123. »Anfänglicher denn jeder Gott ist das Seyn.« GA 69, 132. »Es gibt keinen überzeitlichen Gott in, über oder unter Heideggers Welt. Wenn es einen gäbe, dann könnte es auch ewige […] Wahrheiten geben […].« INWOOD [O.J.], 75. GIVSAN [1996], 438.
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Anwesenden [Kursiv v. Verf.]. Vom Anwesenden her vorgestellt, wird es zu dem über alles Anwesende her [sic] und so zum höchsten Anwesenden. Wenn das Anwesen genannt wird, ist schon Anwesendes vorgestellt. Im Grunde wird das Anwesen als ein solches gegen das Anwesende nicht unterschieden. [Kursiv v. Verf.]. Es gilt nur als das Allgemeinste und Höchste des Anwesenden und somit als ein solches [als ein bloß weiteres Anwesendes. Kursiv v. Verf.]. Das Wesen des Anwesens und mit ihm der Unterschied des Anwesens zum Anwesenden bleibt vergessen. Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit des Unterschieds des Seins zum Seienden.«90
Hier zeigt sich: Gott kann in HEIDEGGER Augen unmöglich das »Sein selbst« sein und das von HEIDEGGER gesuchte »Sein selbst« kann unmöglich Gott sein, da Gott just durch jede Abgrenzung und Unterscheidung von anderem Seienden selbst zu einem weiteren Seienden neben anderem Seienden wird. In HEIDEGGERS Augen wird Gott durch seine vom anderen Seienden unterschiedene Selbstidentität nur wieder ein weiteres selbstidentisches Etwas neben so vielen anderen je selbstidentischen Etwas. Und deshalb werden in HEIDEGGERS Augen Gott (ipsum esse/das Sein selbst) und Welt (ens ab alio/das Seiende) nicht voneinander unterschieden und hoffnungslos miteinander verwechselt. Dabei ist es für HEIDEGGER völlig nebensächlich, ob auch engste Beziehungen zwischen Gott und der Mannigfaltigkeit der kontingenten Welt gesehen werden. Es ist für HEIDEGGER völlig nebensächlich, ob Gott als actus purus ein völlig einzigartiges und das unübersteigbar höchste Wesen ist. Der Unterschied, die ontologische Differenz, auf die es HEIDEGGER einzig ankommt, wird schon verfehlt, indem in der Scholastik oder sonstwo zwischen dem ipsum esse und dem ens ab alio bloß unterschieden wird. Für HEIDEGGER wird durch die und aufgrund der Unterscheidung der Unterschied nicht gesehen! Offensichtlich wird demnach für HEIDEGGER der Unterschied verfehlt, weil unterschieden wird! Wie kann es aber sein, 90
Hw, 364/335f./GA 5, 364. Daß HEIDEGGER Lichtung und Anwesung synonym versteht, wird in folgendem Zitat deutlich: »[…] wir versuchen ihr Eigenstes im Wort dadurch zu verdeutlichen, dass wir statt Anwesenheit Anwesung sagen. Gemeint ist nicht die bloße Vorhandenheit, ja überhaupt nicht das, was nur in der Beständigkeit sich erschöpft, sondern die Anwesung im Sinne des Hervorkommens in das Unverborgene, das Sichstellen in das Offene. Durch den Hinweis auf das bloße Dauern wird die Anwesung nicht getroffen.« Wm 342./GA 9, 272. Vgl. SEIDL [2005], 64.
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daß nicht unterschieden wird, indem unterschieden wird? Von HEIDEGGERS Warte aus muß geantwortet werden: Wenn man unter dem »Anwesen«, d.h. dem »Sein selbst« ein transzendentes und vollkommens göttliches Wesen versteht, dann unterscheidet man es – indem man unterscheidet – gerade nicht von den »Anwesenden«, d.h. der Mannigfaltigkeit der sonstigen je Seienden, weil zu diesen und »neben« sie nur ein weiteres Anwesendes, d.h. je Seiendes tritt, wobei alle ununterschieden gemeinsam [!] haben, je Seiende zu sein. Da sie alle je Seiendes sind und damit voneinander unterschieden sind, deshalb unterscheiden sie sich in HEIDEGGERS Augen gerade nicht voneinander und deshalb wird der Unterschied verfehlt. Noch einmal: »Wenn das Anwesen genannt wird, ist schon Anwesendes vorgestellt. Im Grunde wird das Anwesen als ein solches gegen das Anwesende nicht unterschieden. Es gilt nur als das Allgemeinste und Höchste des Anwesenden und somit als ein solches [Kursiv v. Verf.].«91
Man könnte auch sagen, daß in HEIDEGGERS Augen das Sein vergessen wird, weil das Sein selbst im Sinne des ipsum esse als ein aliud quid gegenüber anderen aliquid betrachtet wird. Wenn aber beide ein aliquid sind, dann unterscheiden sie sich in HEIDEGGERS Augen gar nicht voneinander und werden verwechselt! Es kann kaum ausreichend betont werden, wie bedeutsam es ist, den Gebrauch der Worte »verwecheln« und »nichtunterscheiden« bei HEIDEGGER genau zu sehen. Hinter diesen sonderbaren Sinn zu kommen, ist angesichts der paradoxgeladenen und verwirrenden Formulierungsweise HEIDEGGERS ausgesprochen schwierig. Unmöglich ist es indes nicht. Das Sein selbst aber bleibt damit für HEIDEGGER wieder »ungedacht« bzw. »aus«, gerade weil es als ipsissimum esse per se subsistens von allem ens ab alio in einer Weise unterschieden ist, daß es als ein mit sich identisches »neben« dem anderen jeweils selbstidentischen Seienden steht, woran auch der Umstand nichts ändert, daß Gott (»nur«) als das höchste, vollkommene und ewige Seiende aufgefaßt wird. Durch diese Art der 91
Hw, 364/336./GA 5, 364. »Über euer Seiendes dürft ihr sogar hinausgehen und ihr findet nur die Seiendheit dessen noch einmal, was euch schon als das Seiende galt.« GA 69, 59.
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Unterscheidung wird Gott zu einem Seienden neben anderen Seienden und das Sein selbst bzw. »der Unterschied« von Sein und Seiendem bleibt »aus« und »ungedacht«. Wenn die Metaphysik hier ein ipsissimum esse denkt, dann immer nur als ein weiteres Seiendes neben anderem Seienden bzw. als eine Selbstidentität neben anderen Selbstidentitäten. Im Fall des Gottesbegriffs besagt dies: die Metaphysik weiß Gott als das Sein selbst zu bezeichnen, als das ipsum esse. Aber gerade dadurch wird das Sein selbst verfehlt, denn, was die Metaphysik als ipsum esse bezeichnet, ist doch wieder nur ein Seiendes neben anderen Seienden, d.h. letztlich ein selbstidentisches Etwas »neben« bzw. »über« oder »hinter« anderen je selbstidentischen Etwas. Vor lauter jeweiligen bzw. selbstidentischen Etwas verliert die Metaphysik immer schon den »absoluten Singular«, das »Etwas« des »Seins selbst« aus dem Blick. Es kann nicht oft genug betont werden, daß eine der Grundschwierigkeiten beim Nachvollzug HEIDEGGERSCHER Texte zur Seinsvergessenheit in HEIDEGGERS »Spiel« bzw. in dem ausgesprochen verwirrenden Umgang mit dem Wort »Unterschied« besteht, wobei im Hinblick auf die Seinsvergessenheit und die sie laut HEIDEGGER »verwindende« ontologische Differenz zu beachten ist, daß »Unterschied« einen, wenn nicht den entscheidenden Term des HEIDEGGERSCHEN Denkens darstellt. Wenn HEIDEGGER sagt, die Metaphysik unterscheide Sein und Seiendes nicht, dann stellt sich beim Leser ganz selbstverständlich die Erwartung ein, HEIDEGGER werde zeigen, wie in der Metaphysik das Sein und das Seiende miteinander verschwimmen, ja letztlich miteinander identifiziert werden. Tatsächlich weist HEIDEGGER aber im Zuge seiner Ausführungen zum Nichtunterscheiden der Metaphysik darauf hin, wie scharf diese unterscheidet und wie sehr die metaphysische Ontologie mit Unterschiedenheit bzw. Verschiedenheit zu tun hat. Warum all das äußerst verwirrend wirkt, dürfte offensichtlich sein. Aber damit ist es noch nicht genug. In einem Zug mit der Betonung des Unterscheidens in der Metaphysik behauptet HEIDEGGER, daß eben dieses Unterscheiden kein Unterscheiden sei, und zwar nicht deshalb, weil die Metaphysik in HEIDEGGERS Augen alles im weitesten Sinne Selbstidentische konfundiert. Im Gegenteil! HEIDEGGER ist der Auffassung und unterstreicht, daß eine derartige Konfundierung in der Metaphysik gerade nicht geschieht. Aber gerade diese von ihm gesehene
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unterscheidende Wahrung des je Selbstidentischen nennt HEIDEGGER dann das Nichtunterscheiden schlechthin. Warum nun auch dies verwirren kann, dürfte ebenso offensichtlich sein. Aber auch damit ist es noch nicht genug. Zuletzt behauptet HEIDEGGER, daß das Unterscheiden der Metaphysik ein Nichtunterscheiden ist, weil das Sein etwa durch das ipsum esse zu einem weiteren je Seienden neben anderen je Seienden wird. All diese je verschiedenen Seienden stellen demnach deshalb ein Nichtunterscheiden dar, weil sie alle gemeinsam haben, je Seiende, d.h. voneinander unterschiedene Seiende zu sein. Wenn sich ein Leser diese sonderbare Denkfigur nicht vergegenwärtigt und unausgesetzt gegenwärtig hält, wird der Versuch eines Nachvollzugs dessen, worauf HEIDERGGER mit seiner ontologischen Differenz hinaus will, zu einer buchstäblichen Tortur. Es kann schon allein aufgrund des am Beispiel des Verwirrungspotentials des »Unterschieds« bei HEIDEGGER kaum verwundern, daß so mancher Leser, der um einen Nachvollzug bemüht ist, einerseits in eine intellektuelle Verzweiflung getrieben werden kann und andererseits zahlreiche Schüler HEIDEGGERS, die das vorliegende »Spiel« nachvollzogen haben, meinen, einem geschlossenen quasi-elitären Kreis anzugehören. 1.5 Nähere Verdeutlichung der on koinon bzw. ens commune
Seinsvergessenheit
anhand
des
Es läßt sich also in einer vorläufigen negativen Bestimmung des Seins nach HEIDEGGER anhand des ipsum esse sehen, daß dieses für HEIDEGGER kein mit sich identisches Seiendes neben anderen je mit sich identischen und so von anderen Selbstidentitäten verschiedenen Seienden sein kann. So kommt es, daß sich HEIDEGGER immer wieder gegen mögliche Mißverständnisse wendet. Diese richten sich sowohl gegen ein Sein im Sinne der Substanz und des Akzidenz oder auch gegen ein Sein im Sinne eines konstitutiven Prinzips einer Substanz wie etwa Leib und Seele als den konstitutiven Prinzipien des menschlich-substantiellen Seins als animal rationale.92 Dergleichen Bedeutungen von »seiend« hat HEIDEGGER im 92
»Die Darlegungen über den Ursprung der Subjektivität dürften uns einer Frage nähergerückt [sic] haben, auf die wir an der jetzigen Stelle unserer Überlegungen hinweisen müssen. Die Frage lautet: Ist nicht die jeweilige Auslegung des Menschen und damit das geschichtliche Menschsein jeweils nur die Wesenfolge
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Blick, wenn er betont, »daß das Sein nichts Seiendes ist und kein seiendes Bestandstück des Seienden.«93 Der Wortgebrauch ist auch hier wieder charakteristisch. Denn mit dem Wort »Bestandstück« macht HEIDEGGER auf den »metaphysischen« Charakter der oben exemplarisch genannten Seinsweisen aufmerksam. Sie alle sind, ohne daß sie schon deshalb selbständig existieren müßten, irgendwie durch eine jeweilige Selbstidentität voneinander abgegrenzt, die Substanz vom Akzidenz, der Leib von der Seele, so daß gesagt werden muß, das eine ist doch nicht das andere, da sie allein schon wegen dieser Selbstidentität wie ein irgendwie je gegebenes »Stück« neben dem anderen stehen.94 Der Mensch wird beispielsweise betrachtet als ein Kompositum von Leib und Seele, die für HEIDEGGER insofern »Bestandstücken« gleichen als sie durch eine jeweilige Selbstidentität unterscheidbar sind. Solches Denken aber ist seinsvergessen, denn es bekommt das »Sein selbst« nie in den Blick, insofern es das Sein in einem analogen Sinn ganz in dem je Seienden gleichsam »vergehen« läßt. In der Metaphysik hat »überall Seiendes den Vorrang« und es »beansprucht« das Seiende »jegliches ›ist‹ für sich […], während das […] Sein selbst, vergessen bleibt […]«.95 Für HEIDEGGER gleicht die Metaphysik
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des jeweiligen ›Wesens‹ der Wahrheit und des Seins selbst? Sollte es so stehen, dann kann das Wesen des Menschen niemals zureichend ursprünglich bestimmt sein durch die bisherige, d.h. metaphysische Auslegung des Menschen als animal rationale, mag man dabei die rationalitas (Vernünftigkeit und Bewußtsein und Geistigkeit) in den Vorrang setzen oder die animalitas, die Tierheit und Leiblichkeit, oder mag man zwischen beiden je nur einen erträglichen Ausgleich suchen.« N II, 193f./GA 6.2, 172. »Daß und wie das Wesen der Wahrheit und des Seins und der Bezug zu diesem das Wesen des Menschen bestimmen, so daß weder die Tierheit noch die Vernünftigkeit, weder der Leib, noch die Seele, noch der Geist, noch alle zusammen hinreichen, das Wesen des Menschen anfänglich zu begreifen, davon weiß die Metaphysik nichts und kann sie nichts wissen.« N II, 195./GA 6.2, 173. »[…] denn so etwas wie einen Menschen, der einzig von sich aus nur Mensch ist, gibt es nicht.« TudK, 32./GA 7, 32f. EM, 67./GA 40, 93. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß die Termini »Stück« oder »Bestandstück« treffend zum Ausdruck bringen, wie etwa ARISTOTELES die »Rolle« von Seele und Leib als konstitutiven Elementen der einen Wesenheit »Mensch« versteht. Es geht hier allein darum, anhand dieser von HEIDEGGER mit offensichtlichem Bedacht gewählten Bezeichnungen nachzuvollziehen, was HEIDEGGER unter »Metaphysik« versteht. M, 21./GA 9, 382.
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einem Zustand mangelnder Geistesgegenwart, der unfähig macht, sicher zu stehen und klar zu erkennen: »Die Frage, wie es mit dem Sein steht, enthüllt […] zugleich […], ob wir in der Geschichte stehen oder nur taumeln. Metaphysisch gesehen taumeln wir. Wir sind überall inmitten des Seienden unterwegs und wissen nicht mehr, wie es mit dem Sein steht. Wir wissen erst recht nicht, daß wir es nicht mehr wissen.«96
Die Metaphysik oder, wie HEIDEGGER betont, der »vulgäre Verstand sieht vor lauter Seienden die Welt [das »Sein selbst«] nicht«,97 er bleibt, wie HEIDEGGER sagt, am Seienden »kleben«.98 Wenn auch, wie WEISCHEDEL betont, im Sinne HEIDEGGERS gesehen werden muß, daß das Sein nicht, »als das höchste oder als das fundierende Seiende vorgestellt«99 werden darf, weil das »›Sein‹ […] nicht Gott und nicht ein Weltgrund«100 ist, so darf es ebensowenig als transzendentalallgemeines Sein gedacht werden, welches HEIDEGGER zuweilen als »All des Seienden« und als die »Seiendheit des Seienden« bezeichnet, und womit er auf das on kavolon bzw. on koinon des ARISTOTELES und das esse transcendentale oder ens commune in der mittelalterlichen Philosophie abzielt.101 »Kraft ihres Wesens denkt die Metaphysik das Seiende, indem sie es transzendental-transzendent [gemeint sind das ens commune und das ipsissimum ens] übersteigt, – übersteigt aber nur, um das Seiende selbst vor-zustellen [!], d.h. zu ihm zurückzukehren. Im transzendentaltranszendenten Überstieg wird das Sein vorstellenderweise gleichsam ge96 97
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EM, 154f./GA 40, 211. GA 29/39, 504. Es »zeigt sich […] dieses Verhältnis [von Sein und Seiendem] nun als das Verhältnis von Welt und Ding.« ZSD, 41./GA 14, 46. Zur »Welt« als »Sein« vgl. auch TudK, 42./GA 11, 119f. »Die Erde ist nicht ein Ausschnitt aus dem Seienden im Ganzen. Die Welt ist nicht ein Ausschnitt aus dem Seienden im Ganzen. Das Seiende ist nicht auf diese zwei Abschnitte verteilt. Erde ist Wesung des Seienden im Ganzen. Welt ist Wesung des Seienden im Ganzen.« GA 69, 19. Vgl. auch SEUBOLD [2003], 304, 1. EM, 155./GA 40, 212. WEISCHEDEL [1998], 1, 462. Hum, 23./GA 9, 331. Auch ens in communi oder ens universalissimum. Vgl. dazu ZABOROWSKI/BÖSL [2003], S. 76.
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streift. Das übersteigende Denken denkt am Sein selbst ständig vorbei, nicht im Sinne des Verfehlens, sondern in der Weise, daß es sich auf das Sein als solches, in das Fragwürdige seiner Wahrheit nicht einläßt. Das Denken der Metaphysik läßt sich auf das Sein selbst nicht ein, weil es das Sein schon gedacht hat, nämlich als das Seiende, insofern dieses, das Seiende, ist. Das Sein bleibt in der Metaphysik wesensnotwendig ungedacht. Die Metaphysik ist die Geschichte, in der es mit dem Sein selbst wesenhaft nichts ist: Die Metaphysik ist als solche der eigentliche Nihilismus.«102
HEIDEGGER sieht, daß die Metaphysik einen Unterschied von Sein vom Seienden kennt, indem sie das Seiende auf zweifache Weise übersteigt. Einmal übersteigt sie das Seiende, es auf Gott hin transzendierend und sieht in Gott das ipsum esse. Ferner übersteigt die Metaphysik das Seiende noch auf eine andere Art, nämlich die transzendentale. Beide Arten des Überstiegs sind miteinander verbunden, und in beiden Arten werde, wie HEIDEGGER sagt, das Seiende nur überstiegen, »um das Seiende selbst vorzustellen« und »zu ihm zurückzukehren«. Was will HEIDEGGER damit sagen? Warum ist, um es anders zu formulieren, auch das esse transcendentale eine Weise der Seinsverlassenheit und damit, wie HEIDEGGER meint, Nihilismus/Metaphysik? Wird denn nicht gerade auch hier das Sein als ein alle 102
N II, 350./GA 6.2, 315. »Aus dem Geschick des Seins gedacht, bedeutet das nihil des Nihilismus, daß es mit dem Sein nichts ist. Das Sein kommt nicht an das Licht seines eigenen Wesens. Im Erscheinen des Seienden als solchen bleibt das Sein selbst aus. Die Wahrheit des Seins entfällt. Sein bleibt vergessen. So wäre denn der Nihilismus in seinem Wesen eine Geschichte, die sich mit dem Sein selbst begibt. Dann läge es im Wesen des Seins selbst, daß es ungedacht bleibt, weil es sich entzieht. Das Sein selbst entzieht sich in seine Wahrheit. Es birgt sich in diese und verbirgt sich selbst in solchem Bergen. Im Blick auf das sich verbergende Bergen des eigenen Wesens streifen wir vielleicht das Wesen des Geheimnisses als welches die Wahrheit des Seins west.« Hw, 264f/244./ GA 5, 264f. Deshalb hat auch »Nietzsche […] das Wesen des Nihilismus nie erkannt, so wenig wie je eine Metaphysik vor ihm.« Hw, 264/244.GA 5, 264. »Denn gerade in dem, worin und wodurch Nietzsche den Nihilismus zu überwinden meint, in der Setzung neuer Werte aus dem Willen zur Macht, kündigt sich erst der eigentliche Nihilismus [nämlich die Seinsvergessenheit bedingt durch die Verabsolutierung des Subjektes im »Übermenschen«] an: Daß es mit dem Sein selbst, das jetzt zum Wert [zu einem Seienden] geworden ist, nichts ist.« N II, 340./GA 6.2, 306.
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Gattungen und ein alles jeweilig Seiende Übersteigendes gedacht und als transzendental-allgemeines von diesen unterschieden? »Sagen wir vom Seienden, z.B. von Haus, Pferd Mensch, Stein, Gott, nur dieses aus, es sei seiend, dann wird das Allgemeinste gesagt. Die Seiendheit nennt daher das Allgemeinste dieses Allgemeinsten: das Allerallgemeinste, to koinotaton, die oberste Gattung (genus), das ›Generellste‹. Im Unterschied zu diesem Allerallgemeinsten, im Unterschied zum Sein, ist das Seiende dann je das Besondere, so und so ›Geartete‹ und ›Einzelne‹.«103
Seinsvergessenheit besteht darin, das Sein wie ein Seiendes zu behandeln, und das geschieht für HEIDEGGER gerade auch durch die Vorstellung des ens commune, denn dieses ist eine Abstraktion von und im Hinblick auf eine Mannigfaltigkeit zumal konkret unterschiedener Seiender aber auch der voneinander unterschiedenen Gattungen des Seienden wie Substanz und Akzidenz, Akt und Potenz etc.104 Die Betonung liegt für den auf den Unterschied bedachten HEIDEGGER stets auf der Art und Weise, wie Unterschiedenheit gedacht wird. Das ens commune geht von der Verschiedenheit der Seienden als je mit sich identischen Gegebenheiten aus und verallgemeinert, um deutlich zu machen, was schlechterdings allen je selbstidentischen Gegebenheiten als solchen »eignet«: Sein. Das esse transcendentale ergibt daher nur im Hinblick auf diese Art von Verschiedenheit Sinn und verweist auf diese zurück. »Dem Wortgebrauch nach stammt die Bezeichnung transzendental aus der Scholastik des Mittelalters. Sie betrifft das transcendens, womit ein modus bezeichnet wird, eine Weise und ein Maß, wodurch omne ens qua ens bemessen wird: z.B.: omne ens est unum, jedes Seiende ist ein Seiendes und als dieses nicht das andere. Genauer wird dieser modus des Seienden bestimmt als modus generaliter consequens omne ens. Consequens ist hier gedacht als Gegenbestimmung zu antecendens. Das zu beachten ist wichtig. Die allgemeinsten Bestimmungen jedes Seienden als solchen folgen dem Seienden und ergeben sich aus ihm. In solchen Sinne
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N II, 211./GA 6.2, 188. Zum esse transzendentale als »radikalster Abstraktion« bzw. »radikal abstraktem Begriff« s. SEIFERT [1970], 304-307, s. auch bis 311, und SEIFERT [2001], 175.
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passieren sie, durchschreiten (transcendere) sie das, was zu jedem Seienden gehört; sie heißen darum ‹Transzendentalien›.«105
Das esse transcendentale »folgt« jedem ens qua ens. Mit dem ens ist je jedes Seiende gemeint, ganz gleich, ob es etwa der gedanklichen oder der konkret realen Sphäre angehört, ganz gleich, ob es sich um eine Substanz oder ein Akzidens, ganz gleich um welches Exemplar welcher Gattung es sich handeln mag. Das Seiende ist stets kraft seiner jeweiligen Selbstidentität von den anderen Seienden unterschieden. HEIDEGGER bezieht sogar die transzendentale Proprietät des unum nicht so wie die Scholastik auf die Integrität eines jeden Seienden »nach innen«, sondern auf dessen Unterschiedensein »nach außen« (SEIFERT) gegenüber anderen Seienden, obschon, scholastisch betrachtet, nicht das unum, sondern das aliquid diese transzendentale Proprietät zum Ausdruck bringen soll.106 »Der spätere Satz des Schulphilosophie: omne ens est unum, darf nun nicht etwa gleichgesetzt werden mit dem aus unserer Besinnung erwachsenen Leitwort: Das Sein ist die Einzigkeit. Denn jener Satz handelt vom Seienden (ens), nicht vom Sein als solchen und sagt in Wahrheit dieses, daß das Seiende immer mannigfaltiges ist. Der Satz meint: Jedes Seiende ist je eines und als das eine je das eine zu einem anderen; daher ist jedes Seiende je auch das andere zum je einen. Omne ens est unum, können wir auch übersetzen durch den Satz: Seiendes ist mannigfaltig.«107
Das ist für HEIDEGGER, dessen Denken so sehr von dem Gedanken »des Unterschiedes« im Unterschied zu den Unterschieden und dem Unterscheiden der Metaphysik bzw. Seinsverlassenheit dominiert ist, durchaus bezeichnend. Wenn HEIDEGGER betont, daß die allgemeinsten Bestimmungen, wie etwa das unum transcendentale, dem Seienden folgen und nicht vorausgehen, dann kann das durchaus in einem zweifachen Sinn verstanden werden. Die Proprietäten »folgen«, insofern sie sich ergeben und in diesem Sinne vom Seienden »abgeleitet« sind, und sie »folgen«, 105 106
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SvG, 135./GA 10, 116. Unnötig hervorzuheben, daß die folgenden Aussagen HEIDEGGERS auf sämtliche Transzendentalien angewendet werden müssen. Zur Einheit und zum Etwassein und dem damit verbundenen Innen- bzw. Außenaspekt jedes Seienden s. SEIFERT [1973], XLIIf. S. zum klassischen Verständnis der Transzendentalien auch SEIFERT [1996], 64-68. GA, 51, 72.
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insofern sie stets dem Seienden gleichsam »hinterhergehen«, um darauf zu verweisen, was »zu jedem Seienden« gehört. Damit ist auch das esse transcendentale seinsvergessen, denn es bleibt das je und je Seiende Ausgangs- und Zielpunkt der Frage nach dem Sein. Nie ist hier das »Sein selbst« das »Befragte«, sondern stets das Seiende. »Denkt die Metaphysik das Sein selbst? Nein und niemals. Sie denkt das Seiende hinsichtlich des Seins. Das Seiende ist das zuerst und zuletzt Antwortende auf die Frage, in der stets das Seiende das Befragte bleibt. Das Sein als solches ist nicht das Befragte. Darum bleibt das Sein selbst in der Metaphysik ungedacht, und zwar nicht beiläufig, sondern ihrem eigenen Fragen gemäß […].«108
Wenn das Seiende »eines« ist, dann deshalb, weil jedes Seiende je eine Integrität besitzt, die vom Sandkorn über den Sandhügel bis hin zu Gott alles Seiende jeweils als solches auszeichnet. Wenn das Seiende »etwas« ist, dann deshalb, weil jedes Seiende je eine Quidität, je ein »Was« oder »Wesen« ist. Damit steht es, wie SEIFERT sich ausdrückt, »im Gegensatz zum Nichts« und ist von jedem aliud quid verschieden, d.h., es »ist etwas, das von anderen Dingen verschieden ist«.109 Unnötig zu sagen, worin angesichts dieser Lehre in HEIDEGGERS Augen die Seinsvergessenheit des Satzes der Identität bestehen muß, der sich auf jedes »Etwas überhaupt« (HUSSERL) bezieht, da er jedes Seiende im eminentesten Sinne, wie HEIDEGGER formuliert, »auf sich zurückbiegt«. Unnötig zu sagen, worin die Seinsvergessenheit des Satzes vom Widerspruch besteht, da er Sein und Nichtsein voneinander ausschließt und damit ebenfalls ausschließt, daß verschiedene Selbstidentitäten als solche ineinander verschwimmen oder aufgehoben werden können. »Der Metaphysik bleibt keine Wahl« als die Seinsvergessenheit, wie HEIDEGGER in Wegmarken (Wm, 208./GA 9, 379f.) schreibt, »denn sie stellt das Seiende […] stets nur in dem vor, was sich als Seiendes […] schon von diesem her gezeigt hat.« 108
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N II, 345f./GA 6.2, 311. »Der Name [Metaphysik] soll sagen, daß das Denken des Seins das Seiende im Sinne des Anwesend-Vorhandenen zum Ausgang und Ziel nimmt für den Überstieg zum Sein, der zugleich und sogleich wieder zum Rückstieg in das Seiende [Gott und auch die vielen je Seienden] wird.« GA 65, 423. SEIFERT [1996], 64.
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1.6 Heideggers Kennzeichnung des Wesens des Seins als Unverborgenheit und die Konfundierung von Sein, Unverborgenheit, Lichtung und Wahrheit HEIDEGGER bezeichnet das Sein gegen das Vergessen der Metaphysik als das »Licht […] selbst«.110 Dieses Licht-selbst-sein-des-Seins darf aber – wie HEIDEGGER am Beispiel des esse subsistens zeigt – nicht als mit sich selbst identisches Seiendes neben oder hinter anderen mit sich selbst identischen Seienden vorgestellt werden und auch nicht als transzendentalanaloge Proprietät der je mit sich identischen Seienden als solchen. Deshalb spricht HEIDEGGER auch von der »Lichtung des Seins«, ein Ausdruck, der durch seine verbale Konnotation eine ›substantivierende‹ Verständnistendenz zu vermeiden sucht.111 »Sie [die Seinsvergessenheit/Metaphysik/der Nihilismus] denkt vom Seienden aus und auf dieses zu, im Durchgang durch einen Hinblick auf das Sein. Denn im Lichte des Seins steht schon jeder Ausgang vom Seienden und jede Rückkehr zu ihm. […] Das sagt: die Wahrheit des Seins als die Lichtung selber bleibt der Metaphysik verborgen. […]. Die Lichtung selber aber ist das Sein.«112
»Licht« des Seins meint also »Lichtung« des Seins, denn »Licht« bedeutet für HEIDEGGER »Hervorkommen ins Lichte im Sinne der Unverborgenheit«.113 Und so liegt es nur in der Konsequenz des HEIDEGGERSCHEN Denkens, wenn gesagt wird: »Die Lichtung selber aber ist das Sein«, denn »Sein heißt: aufgehendes Erscheinen, aus der Verborgenheit heraustreten.«114 HEIDEGGER konfundiert hier »Licht«, »Lichtung«, »aufgehendes Erscheinen« und »aus der Verborgenheit heraustreten«. Was aber erscheint und sich lichtet, indem es ein Aus-der-Verborgenheit-Heraustreten ist, entbirgt sich und ist Unverborgenheit.
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M, 7./GA, 9, 365. Hum, 19./GA 9, 327. Hum, 25./GA 9, 331f. UzS, 134./GA 12, 127. EM, 87./GA 40, 122.
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Kapitel 1 »Das Sein selbst begabt sich, indem es sich in die Unverborgenheit seiner selbst begibt – und nur so ist Es das Sein […].«115 »Das il y a übersetzt das ›es gibt‹ ungenau. Denn das ›es‹, was hier ›gibt‹, ist das Sein selbst. Das ›gibt‹ nennt jedoch das gebende, seine Wahrheit gewährende Wesen des Seins. Das Sichgeben ins Offene mit diesem selbst ist das Sein selbst.«116
Das Sein ist als Licht selbst nicht irgendwie vom Vorgang der Lichtung zu unterscheiden. Das Licht oder »das ›Sein‹ ist eben dieser Vorgang der Lichtung«, wie WEISCHEDEL treffend bemerkt.117 Wenn das Sein dasselbe ist wie Licht und das Licht dasselbe wie Lichtung, dann ist das Sein dasselbe wie Lichtung. Wenn das Sein dasselbe wie Lichtung ist, und die Lichtung dasselbe ist wie das In-die-Unverborgenheit-Treten oder die Unverborgenheit des Seins selbst, dann ist das Sein/die Lichtung dasselbe wie das In-die-Unverborgenheit-treten bzw. die Unverborgenheit. Sein, Lichtung und Unverborgenheit sind folglich dasselbe. Aber für HEIDEGGER wäre es ein metaphysisches Mißverständnis, wenn man nun Unverborgenheit als Eigenschaft des Seins und das Sein als Träger dieser Eigenschaft verstünde und beide entsprechend unterscheiden würde. Das Licht des Seins ist, wie BOHRMANN richtig hervorhebt, in HEIDEGGERS Augen »nicht von einer lichtspendenden Substanz.«118 So ist es nicht verwunderlich, wenn HEIDEGGER gegen gewisse Mißverständnisse betont: Die »Unverborgenheit« ist es, »als welche das Sein selbst west.«119 Auch hier 115 116
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N II, 358./GA 6.2, 323. Hum, 26./GA 9, 334. »Zugleich wird das ›es gibt‹ gebraucht, um vorläufig die Redewendung zu vermeiden: ›das Sein ist‹; denn gewöhnlich wird das ›ist‹ gesagt von solchem, was ist. Solches nennen wir das Seiende. Das Sein ›ist‹ aber gerade nicht das ›Seiende‹. Wird das ›ist‹ ohne nähere Auslegung vom Sein gesagt, dann wird das Sein allzuleicht als ein Seiendes vorgestellt nach der Art des bekannten Seienden, das als Ursache wirkt und als Wirkung gewirkt ist. […] Aber weil das Denken dahin erst gelangen soll, das Sein in seiner Wahrheit zu sagen, statt es wie ein Seiendes aus Seiendem zu erklären, muß für die Sorgfalt des Denkens offenbleiben, ob und wie das Sein ist.« Hum, 26f./GA 9, 334f. WEISCHEDEL [1990], 336. BOHRMANN [1983], 28. »Das ekstatische Wesen der Existenz wird deshalb auch dann noch unzureichend verstanden, wenn man es nur als ›Hinausstehen‹ vorstellt und das ›Hinaus‹ als das ›Weg von‹ dem Innern einer Immanenz des Bewußtseins und des
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wird einmal mehr die eben angedeutete Identifikation von Sein selbst, Lichtung und Unverborgenheit deutlich. Sein ist »aufgehendes Erscheinen« und »Sein selbst« west als »Unverborgenheit«. Sein/Licht »west« also als Lichtung, Lichtung »west« als Unverborgenheit, Unverborgenheit »west« als »Sein selbst« und d.h.: »Sein«, »Licht«, »Lichtung«, »Unverborgenheit« sind dasselbe, wenn anders es zu einem seinsvergessenen sozusagen »mannigfältigen Einerlei« (es gibt Verschiedenstes aber doch nur je und je Seiendes) und Nebeneinander verschiedener Selbstidentitäten kommen soll, und sei dies nur im Sinne der Unterscheidung von Träger und Eigenschaft. Von der »Unverborgenheit« sagt nun HEIDEGGER, sie sei das »Wesen« der Wahrheit, denn Wahrheit ist für HEIDEGGER »alhveia« und das heißt Unverborgenheit. WEISCHEDEL weiß HEIDEGGERS Sicht treffend zu verdichten, wenn er dessen sprachliche Wendungen zusammenfügend sagt: »›Die Wahrheit […] als Unverborgenheit‹« ist »›der Grundzug des Seins selbst.‹«120 Und HEIDEGGER selbst unterstreicht: »Das Sein selbst ist das Sein in seiner Wahrheit, welche Wahrheit zum Sein gehört.«121 Wenn Sein Lichtung ist und Lichtung Unverborgenheit und Unverborgenheit Wahrheit, dann ist Sein Wahrheit. Die Terme dieses hypothetischen Syllogismus können beliebig gesetzt werden, denn hier ist alles dasselbe. HEIDEGGER hebt hervor: »Das Sein lichtet sich als die Ankunft des Ansichhaltens der Verweigerung seiner Unverborgenheit. Was mit ›lichten‹, ›ankommen‹, ›ansichhalten‹, ›verweigern‹, ›entbergen‹, ›verbergen‹ genannt wird, ist das Selbe und Eine Wesende: das Sein [!].«122
MIKULIĆ bemerkt treffend: »Die Begriffe Sein und Wahrheit fallen somit in dem von Heidegger herausgestellten Verständnis des Ausdrucks Lichtung zusammen. Die
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Geistes auffaßt; denn so verstanden, wäre die Existenz immer noch von der ›Subjektivität‹ und der ›Substanz‹ her vorgestellt, während doch das ›Aus‹ als das ›Auseinander‹ der Offenheit des Seins selbst zu denken bleibt. Die Stasis des Ekstatischen beruht, so seltsam es klingen mag, im Innestehen im ›Aus‹ und ›Da‹ der Unverborgenheit, als welche das Sein selbst west.« M, 14./GA 9, 374. Zit. nach WEISCHEDEL [1998], 1, 463. Vgl. Fußn. 190. Hw, 266/245./GA 5, 266. N II, 389./GA 6.2, 353.
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Kapitel 1 Wahrheit ist für Heidegger wesentlich das Geschehen des Seins selbst, in dem das Sein überhaupt besteht […] .«123
Auch JAHRAUS hebt hervor: » […] Wahrheit ist kein zweiter Ansatz neben dem Sein, sondern Wahrheit ist jener Ansatz, dessen Thematisierung den Selbstvollzug [Kursiv v. Verf.] des Seins selbst noch einmal auf den Begriff bringt.«124
VOLKMANN-SCHLUCK betont aus einer eher historischen Sicht: »Weil aber das Wort ›Wahrheit des Seins‹ ebenfalls verschiedene Mißverständnisse hervorrufen kann, indem man unter ›Wahrheit‹ sogleich versteht: Richtigkeit des Urteils über das Sein, ist Heidegger dazu übergegangen, es durch die Wortverbindung ›Lichtung des Seins‹ zu ersetzen, also durch einen Ausdruck, der in der Metaphysik nicht vorkommt. Aber auch diese Kennzeichnung erweist sich als nicht eindeutig, weil diese Lichtung des Seins sogleich mit dem Licht gleichgesetzt wird, und wir dadurch wiederum in die Lichtmetaphysik einbiegen können, also abermals einen Rückfall in das metaphysische Denken erleiden können. Aus diesem Gunde geht Heidegger dazu über, von dem Ereignis zu sprechen.«125
Diese Art von In-eins-Setzung ist für HEIDEGGER im übrigen nicht ungewöhnlich. Daher sollen hier noch zwei weitere In-eins-Setzungen wichtiger »Bestimmungen« des Seins mit der Wahrheit/Unverborgenheit/Lichtung des Seins angeführt werden. In Was ist Metaphysik? wendet sich HEIDEGGER gegen Mißverständnisse, welche die Lektüre von Sein und
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MIKULIĆ [1987], 310. JAHRAUS [2004a], 159. » […] denn es handelt sich bei der Frage nach dem Sein und der Frage nach der Wahrheit eigentlich nicht um zwei Fragen, die eng miteinander zusammenhängen, sondern um eine einzige, für die die andere jeweils das Interpretament abgibt. Die begriffliche Differenzierung von Sein und Wahrheit löst sich auf, weil die entsprechenden Fragen wechselseitig aufeinander bezogen und ineinander übersetzt werden müssen, so dass sie sich letztlich als eine Frage erweisen. Die eigentliche Verhältnisbestimmung von Sein und Wahrheit führt nicht zu einer thematischen Abgrenzung, sondern mitten in den Selbstvollzug der Philosohie.« JAHRAUS [2004a], 155. VOLKMANN-SCHLUCK [1996], 87.
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Zeit bei zahlreichen Lesern wachruft.126 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen kommt es zu weiteren Identifikationen wie der zwischen »Wahrheit des Seins« und »Sinn des Seins«. Es handelt sich hier um eine bedeutsame Aussage, denn bekanntlich ist die Frage »nach dem Sinn von Sein« die Frage von Sein und Zeit überhaupt, ganz so wie die Frage »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« die Frage von Kants Kritik der reinen Vernunft ist. »Der Bereich, der sich im Entwerfen als offener zustellt, damit in ihm etwas (hier das Sein) sich als etwas (hier das Sein als es selbst in seiner Unverborgenheit) erweise, heißt der Sinn […]. ›Sinn von Sein‹ und ›Wahrheit des Seins‹ sagen das Selbe.«127
Der »Sinn« von Sein und die »Wahrheit« des Seins »sagen« dasselbe. Der Sinn des Seins selbst ist dasselbe wie Unverborgenheit, Unverborgenheit dasselbe wie Wahrheit. Folglich ist der Sinn von Sein dasselbe wie die Wahrheit/Unverborgenheit/Lichtung des Seins.128 Oder kurz: Der Sinn des Seins und das Sein selbst sind dasselbe. Da Wahrheit und Unverborgenheit für HEIDEGGER nichts anderes sind als der Lichtungsprozess des Seins, identifiziert er auch die Wahrheit mit dem »Wesen«, wenn er sagt: »Das Wesen der Wahrheit ist die Wahrheit des
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»Einen deutlicheren Beleg für die Macht der Seinvergessenheit, in die alle Philosophie versunken ist, […], konnte die Philosophie nicht leicht aufbringen als durch die nachtwandlerische Sicherheit, mit der sie an der eigentlichen und einzigen Frage von S. u. Z. vorbeiging. Darum handelt es sich auch nicht um Mißverständnisse gegenüber einem Buch, sondern um unsere Verlassenheit vom Sein.« M, 17./GA 9, 378. »Und welcher Wust von Mißdeutungen hat sich in den Da-seins-begriff in ›Sein und Zeit‹ angesammelt. Zuletzt Jaspers, die ödeste Nivellierung. Woher dann noch ein Ohr und Auge und – Herz?« GA 69, 9. M, 17./GA 9, 377. Vgl. JAHRAUS [2004a], 155, der eigens die hier vorgenommene Gleichsetzung hervorhebt. Vgl. auch Hum, 29./GA 9, 337. »Man könnte nun versuchsweise, um den Gesamtzusammenhang deutlich zu machen, über HEIDEGGER hinausgehen und diese Unverborgenheit wiederum mit ›Selbstvollzug‹ übersetzen. Dann träte Wahrheit unter diesen Bedingungen einer veränderten, radikalisierten Fundamentalontologie an die Stelle von Sinn, weil Wahrheit nun selbst zum Ausdruck des Seins wird, also Ausdruck des Selbstvollzuges des Seins ist. Wahrheit ist das Prozessieren des Seins.« JAHRAUS [2004a], 157.
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Wesens.«129 Das Wesen im verbalen Sinne des Wesenden oder der »Wesung« kann für HEIDEGGER nichts anderes sein als der Selbstvollzug des Seins bzw. das Sein, dessen »Selbst« bzw. dessen »Identität« im Vollziehen seiner selbst besteht, denn »Wesen ist Wesung«.130 »Die Auslassung ist als wirkliche Geschichte und geschieht als diese aus der Wesenseinheit des Uneigentlichen im Nihilismus mit dem Eigentlichen. Diese Geschichte ist nichts neben dem ›Wesen‹. Sie ist dieses selbst und ist nur dieses.«131 »Der Satz denkt im verbal verstandenen Wort (verbum) ›Wesen‹ das Sein selbst in dem, wie Es, das Sein, ist.«132 »Denken wir das Wesen des Nihilismus in der versuchten Weise, dann denken wir ihn aus dem Sein selbst als dessen Geschichte [Kursiv v. Verf.], als welche das Sein selbst Sein ›ist‹.«133 »Wird aber ihr Wesen als Lichtung erkannt, dann ist die Wahrheit ›des‹ Seyns nicht ›Wahrheit über…‹, sondern das Seyn selbst und zwar in seiner Wesung.«134 »Das Seyn er-eignet das Seiende in das Er-eignis (die Wesung der Wahrheit).«135 »Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe.«136 »Das Seyn ist die Wahrheit als Lichtung des Ereignisses.«137 »Das Sein ist das, was aus seinem Wesen her einzig dieses Wesen zu denken gibt. Daß Es, das Sein zu denken gibt, und zwar nicht bisweilen und nach irgendeiner Hinsicht, sondern stets und nach jeder Hinsicht, 129 130 131 132 133 134 135 136 137
S. dazu Abschnitt 1.12. GA 69, 136. N II, 374./GA 6.2, 338. N II, 362./GA 6.2, 327. N II, 362./GA 6.2, 327. GA 69, 145. GA 69, 154. Vgl. auch SCHWEIDLER [1987]. 172. GA 67, 22.
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weil wesenhaft, daß Es, das Sein, das Denken seinem Wesen übergibt, – dies ist ein Zug [ein Vollzug] des Seins selbst.«138
In derselben Schrift rechtfertigt HEIDEGGER den Titel Sein und Zeit mit weiteren In-eins-Setzungen, von denen er meint, daß viele seiner Leser sie nicht gebührend beachten: »Weil nun aber die Frage nach der Existenz jederzeit nur im Dienste der einzigen Frage des Denkens steht, nämlich der erst zu entfaltenden Frage nach der Wahrheit des Seins als dem verborgenen Grunde aller Metaphysik, deshalb lautet der Titel der Abhandlung, die den Rückgang in den Grund der Metaphysik versucht, nicht ›Existenz und Zeit‹, auch nicht ›Bewußtsein und Zeit‹, sondern ›Sein und Zeit‹. Dieser Titel läßt sich aber auch nicht in der Entsprechung zu den sonst geläufigen denken: Sein und Werden, Sein und Schein, Sein und Denken, Sein und Sollen. Denn hier ist überall das Sein noch eingeschränkt vorgestellt, gleich als gehörten ›Werden‹, ›Schein‹, ›Denken‹, ›Sollen‹ nicht zum Sein, während sie doch offenkundig nicht nichts sind und darum zum Sein gehören. ›Sein‹ ist in ›Sein und Zeit‹ nicht etwas anderes als ›Zeit‹, insofern die ›Zeit‹ als der Vorname für die Wahrheit des Seins genannt wird, welche Wahrheit das Wesende des Seins und so das Sein selbst ist.«139
HEIDEGGER bleibt konsequent, wenn er auch Wahrheit, Logos und Physis identifiziert. »Der Logoj ist das Selbe wie das, worauf nach Spruch 112 das legein geht – alhtea [sic] – das Unverborgene -, nämlich die Unverborgenheit, die in der Verbergung gründet. Die Unverborgenheit, ist aber dasselbe wie das, worauf das poiei n geht, die fusij, das in sich zurückgehende Aufgehen. Der Logoj ist als die ursprüngliche Gegend der alles wahrenden Gegenwart in sich die in der Verbergung wesende Entbergung, ist das in sich zurückgehende Aufgehen. Alhteia, Fusij, Logoj sind das Selbe, nicht in der leeren Gleichförmigkeit, sondern als das ursprüngliche Sichversammeln in das unterschiedsreiche Eine: to JEn. Das JEn, das ursprünglich einigende Eine – Einzige, ist der Logoj als die Alhteia, als Fusij.«140
138 139 140
N II, 372./GA 6.2, 336. M, 15f./GA 9, 375f. GA 55, 371.
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Kapitel 1 »Denn o Logoj ist der Name für das Sein des Seienden.«141 »Daher muß das Denken fünfzig und hundert Mal das Selbe er-denken und auf die Stelle des Selben zu kommen versuchen, bis einmal ein Einfaches gelingt.«142
Es lohnt sich, insbesondere den unmittelbar auf Sein und Zeit bezogenen Text im Hinblick auf die Seinsvergessenheit zu betrachten. HEIDEGGER bemerkt hier, es dürfe das Sein nicht »eingeschränkt« vorgestellt werden. Sein und Werden, Schein, Denken und Sollen schränken aber das Sein ein, wenn sie irgendwie als vom Sein unterschiedene betrachtet werden, etwa wenn man meint, ein Etwas sei zunächst einmal und werde zudem. Derlei Differenzierungen widerstreben dem Sein, das, um es mit HEIDEGGERS Worten zu sagen, kein irgendwie »seiendes Bestandstück« von etwas irgendwie anderem ist, ja diese Auffassungen behandeln, wie HEIDEGGER pointiert meint, das Werden, den Schein etc. im Grunde genommen wie etwas, das außerhalb des Seins ist, sie machen es zu einem Nichts. Dabei sind sie doch, wie HEIDEGGER sich ausdrückt »nicht nichts« und »gehören« zum Sein, nur nicht im Sinne einer beispielsweise ›seinsnichtenden‹ Inhärenz.143 »Wenn wir ›Sein‹ sagen, werden wir fast wie unter einem Zwang fortgetrieben zu sagen. Sein und….Das ›und‹ meint nicht nur, dass wir ein Weiteres beiläufig dazusetzen und anfügen, sondern wir sagen solches dazu, wogegen das ›Sein‹ sich unterscheidet: Sein und nicht….«144 »Hier walten Mächte, die das Seiende, seine Eröffnung und Gestaltung, seine Verschließung und Verunstaltung beherrschen und behexen. Das Werden – ist es nichts? Der Schein – ist er nichts? Das Denken – ist es nichts? Das Sollen – ist es nichts? Keineswegs. Wenn jedoch all das, was in den Scheidungen dem Sein gegenüber steht, nicht nichts ist, dann ist es [das Sein] selbst seiend, am Ende sogar seiender als das, was man gemäß der be-schränkten Wesensbestimmung des Seins für seiend hält. Aber in welchem Sinne von Sein ist dann das Werdende, Scheinende, das
141 142 143 144
VA, 220./GA 7, 233. Vgl. POISS [2003], 68. GA 69, 30. Zur eigenwilligen Bedeutung des Ausdrucks »Zusammengehören« bei HEIDEGGER s. Fußn. 271. 348. Vor allem s. den gesamten Abschnitt 2.2. EM, 71./GA 40, 100. Vgl. SEIDL [2005], 142.
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Denken und das Sollen seiend? Keinesfalls in dem Sinne von Sein, gegen den sie sich absetzen. Dieser Sinn von Sein ist jedoch der von altersher geläufige. Also reicht der bisherige Begriff des Seins nicht zu, um all das zu nennen, was ›ist‹. […] die Scheidungen selbst bestimmen, beherrschen und durchsetzen in ihrer vielfachen Verflechtung seit langem unser Dasein und halten es in der Verwirrung des ›Seins‹.145
Man könnte meinen, HEIDEGGER verstehe in diesen Zitaten das Sein im Sinne des ens commune und betone deshalb, daß Werden, Schein usw. insofern sie Seiende sind, nicht von diesem allgemeinsten Sein ausgeschlossen werden könnten. Aber auch die obigen Zitate formuliert HEIDEGGER immer gegen die Seinsvergessenheit der Metaphysik und damit auch gegen das esse transcendentale. Denn für HEIDEGGER schränkt just das esse transcendentale das Werden gegen das Sein usw. ein, weil es von je irgendwie mit sich identischen Gegebenheiten ausgeht und so Sein und Werden unterscheiden kann, ohne sie zu identifizieren. Nur wenn das Sein und das Werden schlechterdings identisch sind, findet in HEIDEGGERS Augen keine gegenseitige Einschränkung mehr statt. HEIDEGGERS Wortwahl »spielt« zwar mit dem ens commune, aber es geht ihm gerade nicht 145
EM, 155f./GA 40, 212f. »Verstehen wir den formelhaften Titel ›Sein und Schein‹ in der ungeschmälerten Kraft der anfänglich durch die Griechen erkämpften Scheidung, dann wird nicht nur der Unterschied und die Ausgrenzung des Seins gegen den Schein verständlich, sondern zugleich ihre innere Zugehörigkeit zu der Scheidung ›Sein und Werden‹. Was sich im Werden aufhält, ist einerseits nicht mehr das Nichts, es ist aber auch noch nicht das, was zu sein es bestimmt ist. Gemäß diesem ›nicht mehr und noch nicht‹ bleibt das Werden vom Nichtsein durchsetzt. Gleichwohl ist es kein reines Nichts, sondern nicht mehr dieses und doch noch nicht jenes und als solches ständig ein anderes. Darum sieht es bald so aus, bald so. Es bietet einen in sich unständigen Anblick. Werden ist, so gesehen, ein Schein des Seins. So muß denn das Werden bei der anfänglichen Erschließung des Seins des Seienden ebenso wie der Schein dem Sein entgegengestellt werden. Andererseits gehört jedoch das Werden als ›Aufgehen‹ zur fusij. Wenn wir beides griechisch verstehen, Werden als Indie-Anwesenheit-kommen und aus ihr Weg-gehen, Sein als aufgehend-erscheinendes Anwesen, Nichtsein als Abwesen, dann ist der wechselweise Bezug von Aufgehen und Untergehen das Erscheinen, das Sein selbst. Wie das Werden der Schein [das Erscheinen, das Licht, die Lichtung] des Seins, so ist der Schein als das Erscheinen ein Werden des Seins [d.h. da das Sein bei HEIDEGGER nichts anderes ist als Erscheinen/die Lichtung/die Wahrheit ist das Sein nichts anderes als das pure Werden!].« EM, 87f./GA 40, 122f.
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Kapitel 1
um dieses. Es geht ihm um eine restlose Reduzierung von allem auf das eine und einzige »Sein selbst«, wobei er ständig mit entspechenden sprachlichen Mitteln das Gegenteil einer Unterscheidung von Sein und Seiendem ins Spiel bringt, ohne daß dem Leser mitgeteilt wird, daß »Unterschied« hier – gelinde gesagt – keinesfalls im herkömmlichen Sinn des Wortes verstanden werden darf. Weiter unten wird noch zu zeigen sein, wie HEIDEGGER, wenn er das Sein als »Geschehnis und nichts außerdem« bezeichnet, diese totale In-eins-Setzung von allem noch verschärfter zum Ausdruck bringt. Ebenso wie mit dem Werden etc. verhält es sich mit der Zeit. Sie ist der »Vorname« für die Wahrheit des Seins, welche aber das Sein selbst ist.146 Es muß daran erinnert werden, daß HEIDEGGER das Sein nicht nur als Substanz, sondern auch als Bestandstück-Sein verwirft, da hier eines irgendwie vom anderen unterschieden wird, wobei das eine dann als Sein angesehen werden muß, das andere aber nicht. Fazit: Das Sein wird zu einem Seienden, wenn es neben anderem Seienden – mag es wie auch immer geartet sein – steht. Es gilt sich dies immer vor Augen zu halten, da die In-eins-Setzungen HEIDEGGERS sonst als unverständlich erscheinen können.147 146
147
»Vorname« ist hier im Sinne von »vorläufiger Bezeichnung« (vor-Name) und nicht im Sinne des englischen »first name« zu verstehen, da HEIDEGGER die Zeit nicht metaphysisch mißverstanden wissen will. »›Sein‹ ist in ›Sein und Zeit‹ nicht etwas anderes als ›Zeit‹, insofern die ›Zeit‹ als der Vorname für die Wahrheit des Seins genannt wird, welche Wahrheit das Wesende des Seins und so das Sein selbst ist.« M, 16./GA 9, 376. »Aber die hier zu denkende Zeit ist nicht erfahren am veränderlichen Ablauf des Seienden. Zeit ist offenbar noch ganz anderen Wesens, das durch den Zeitbegriff der Metaphysik nicht nur noch nicht gedacht, sondern niemals zu denken ist.« M, 16./GA 9, 376f. Eine weiteres bedeutsames Beispiel einer In-eins-Setzung von Seiendem, Sein, Wahrheit und Nichts findet sich in folgendem Text: »Wir sind gewohnt, aus dem Namen Nihilismus einen Mißton herauszuhören. Bedenken wir aber das seinsgeschichtliche Wesen des Nihilismus, dann kommt in das bloße Hören des Mißtones alsbald etwas Mißliches. Der Name Nihilismus sagt, daß in dem, was er nennt, das nihil (nichts) wesentlich ist. Nihilismus bedeutet: es ist mit allem in jeder Hinsicht nichts. Alles, das meint das Seiende im Ganzen. In jeder seiner Hinsichten steht das Seiende aber, wenn es als das Seiende erfahren ist. Nihilismus bedeutet dann, daß es ist dem Seienden als solchem im Ganzen nichts ist. Aber das Seiende ist, was es ist und wie es ist, aus dem Sein. Gesetzt, daß am Sein alles ›ist‹ liegt, dann besteht das Wesen des Nihilismus darin, daß es mit
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1.7 Weitere Verdeutlichung des Seins als Unverborgenheit durch die Beziehung von Sein und Seiendem Oben wurde gezeigt, daß das Denken des Seienden für HEIDEGGER nur dann seinsvergessen ist, wenn man das Sein irgendwie zu einem Seienden macht, indem man das Seiende gegen das Sein und dieses gegen das Seiende identifiziert oder ein Sein denkt, das von einer Mannigfaltigkeit von Etwasseienden abhängig und von diesen ausgehend und auf diese hin abstrahiert ist. Das Sein selber denken heißt in HEIDEGGERS Augen das Sein des Seienden denken und zwar so, daß – freilich in einem ontologisch und nicht etwa räumlich gemeinten Sinne des Wortes – »im« Seiend-Sein das Sein selber zur Lichtung kommt. Es steht also das Seiende für HEIDEGGER in einer sehr sonderbaren »Beziehung« zum Sein. Für die gegebene Thematik ergibt sich nun die Notwendigkeit, die »Beziehung«, die Sein und Seiendes eint, ins Auge zu fassen. Nur so kann weiter deutlich werden, was für HEIDEGGER das Sein und schließlich die ontologische Differenz bedeutet. Wenn das nach HEIDEGGER ›geordnete‹ Verständnis des Seienden das Seiende als das sieht, als was sich das »Sein selbst« entbirgt, dann bedeutet auch und gerade das »Seiende« »unverborgen sein«, denn »Seiend« ist die Weise, wie »Sein selbst« Unverborgenheit/Lichtung/Wahrheit ist. »Wie nun, wenn hier und dort [sowohl auf ›Seiten‹ des Seins als auch auf ›Seiten‹ des Seienden] das Ungedachte [die Unverborgenheit] jedesmal das Selbe wäre? Dann wäre die ungedachte Unverborgenheit des Seienden das ungedachte Sein selbst. Dann west das Sein selbst als diese Unverborgenheit [des Seienden] – als die Entbergung.«148
In diesem Text deutet HEIDEGGER eine für das Verständnis der ontologischen Differenz bedeutsame Denkfigur an. Er spricht von einer »ungedachten Unverborgenheit des Seienden«, und zwar offensichtlich im Unterschied zu der gedachten Unverborgenheit des Seienden, wie sie in der
148
dem Sein selbst nichts ist. Das Sein selbst ist das Sein in seiner Wahrheit, welche Wahrheit zum Sein gehört.« Hw, 265f/ 245f./GA 5, 265f. N II, 352./GA 6.2, 317. Im Zuge einer Deutung des ersten Satzes des IV. Buches der Metaphysik sagt HEIDEGGER: »Das on ist fusij tij, dergleichen wie ein von-sich-her-Aufgehen.« SvG, 136./GA 10, 117.
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Seinsvergessenheit bzw. Metaphyik oder dem Nihilismus gedacht wird. Diese ungedachte Unverborgenheit des Seienden ist nun für HEIDEGGER nichts anderes als die ungedachte Unverborgenheit des Seins selbst. Kurzum: Das Seiende ist nicht, was es als Metaphysik zu sein scheint, nämlich die Mannigfaltigkeit der wie auch immer gearteten Etwasseienden, sondern all diese vermeintlich durch ihr jeweiliges Etwassein und die damit »einhergehende« jeweilige Identität voneinander unterschiedenen Etwasseienden sind nichts anderes als das eine einzige »Sein selbst«. Das Ungedachte seitens des Seins ist, daß es das Seiende ist, und das Ungedachte seitens des Seienden ist, daß es das Sein ist. Daher ist das Ungedachte »hier« und »da« »jedesmal das Selbe«! Kurzum: Das, wie HEIDEGGER meint, bislang ungedachte »Sein selbst«, d.h. die bislang ungedachte Unverborgenheit/Lichtung/Wahrheit ist das »Seiende« bzw. ist »jedes« Seiende. Und das bislang ungedachte »Seiende« ist für HEIDEGGER das Sein selbst. Und im Hinblick auf dieses ungedachte Sein und das ungedachte Seiende selbst betont HEIDEGGER: »Das Sein ist einzig, der absolute Singular in der unbedingten Singularität.«149 »Indem sie [die Metaphysik] das Seiende als solches denkt, streift sie denkenderweise das Sein, um es auch schon zugunsten des Seienden zu übergehen, zu dem sie zurück – und bei dem sie einkehrt. Darum denkt die Metaphysik zwar das Seiende als solches, aber das ›als solches‹ selbst bedenkt sie nicht. Im ›als solches‹ wird gesagt: das Seiende ist unverborgen. Das h im on h on, das qua im ens qua ens, das ›als‹ im ›Seienden als Seiendes‹ nennen die in ihrem Wesen ungedachte Unverborgenheit. […]. Das ›als solches‹ streift nennend die Unverborgenheit des Seienden in seinem Sein. Weil jedoch das Sein selbst ungedacht bleibt, bleibt auch die Unverborgenheit des Seienden ungedacht.«150
Die Metaphysik bedenkt zwar das Seiende als solches. Dieses Bedenken führt dazu, daß die Seienden voneinander unterschieden werden, daß ein 149 150
SvG, 143./GA 10, 125. S. LANDOLT [1992a], 28. N II, 351./GA 6.2, 317. Im Zusammenhang einer sehr aufschlußreichen Bestimmung des »Menschen« in seinem »Wesen« sagt HEIDEGGER: »Er [der Mensch bzw. das Dasein, Anm. v. mir] steht in der Unverborgenheit des Seienden als der verborgenen Ortschaft, als welche das Sein aus seiner Wahrheit west.« N II, 358./GA 6.2, 323. Es ist mit anderen Worten das Seiende die Ortschaft, als welche das Sein west. Hier gilt es wieder, mit Begriffen wie Unverborgenheit, Lichtung, Wahrheit, Sinn des Seins synoptisch zu lesen. Vgl. GA 67, 217f.
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absolutes Seiendes von kontingenten Seienden unterschieden wird und daß das transzendental-analoge Sein immer nur gleichsam die je Seienden bestätigt. Wenn man sich aber angesichts des Seienden als solchen dem als solchen selbst zuwendet, dann trifft man, wie HEIDEGGER meint, auf nichts anderes als die ungedachte Unverborgenheit des Seins. Das Seiende ist als solches nichts anderes als das eine und einzige Sein selbst! Die Unverborgenheit des Seienden, d.h. das Seiende als solches ist das ungedachte Sein selbst als Sein des Seienden. Deshalb kann auch die Metaphysik nicht als ein Fehler oder Irrtum vom Sein selbst abgespreizt werden. »Die Ankunft hält das Seiende als solches in seiner Unverborgenheit und läßt ihm diese als das ungedachte Sein des Seienden. Was geschieht, ist die Geschichte des Seins, ist das Sein als die Geschichte des Ausbleibens [seiner selbst als Seiendes].«151
Wer wissen möchte, was das »Sein selbst« ist, der darf sich wie HEIDEGGER hier implizit betont, nicht vom Seienden abwenden. Im Gegenteil, er muß sich dem Seienden zuwenden, und zwar dem bislang ungedachten Seienden und sich damit auch der Metaphysik zuwenden, um sie in einer Weise zu verstehen, wie sich diese niemals selbst hat verstehen können. Dann läßt sich das Seiende und auch die Metaphysik auf eine neue Weise sehen. Dann entpuppt sich jedes Seiende als das Sein selbst und das Sein selbst als jedes Seiende. BRETSCHNEIDER sieht dieses mit HEIDEGGERS Kerngedanken der ontologischen Differenz unmittelbar zusammenhängende Verständnis von Unverborgenheit, wenn er sagt: »Wenn Heidegger sagt, das Sein bleibt in der Metaphysik ungedacht, so meint er die Unverborgenheit des Seienden, die dieser selbst verschlossen bleibt; denn die Unverborgenheit des Seienden ist in ihrem Ungedachtsein das ungedachte Sein selber. Dieses gilt es zu erfahren, wenn das
151
N II, 388./GA 6.2, 352. »Das Seiende, was ist es, was eignet ihm und nur ihm [Kursiv v. Verf.]? Anwort: das Sein. Das Seiende ist hier gemeint im Sinne von: das Seiende als solches. On h on – in diesem h on wird gleichsam das Seiende festgenommen und festgehalten, damit nur es selbst sich zeige und sage, wie es um es steht.« GA 33, 25.
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Kapitel 1 Wesen der Metaphysik als ihre Wahrheit und Geschichte vom Sein her gedacht werden soll.«152
Jedes Einzelding und jede Soseinseinheit, jede Substanz und jedes Akzidens etc. ja, jede Gegebenheit, die im weitesten Sinn »Wesen« genannt werden kann, insofern sie nur irgendwie von anderem zu unterscheiden ist, verliert dann ihr ›schon Gedachtes‹, weil jeweiliges Etwassein, und es wird, wie HEIDEGGER meint, deutlich, daß sie alle nichts weiter sind als das bislang ungedachte eine Sein selbst. WEISCHEDEL schreibt sehr richtig, daß hier »festzuhalten« ist: »Seiend sein heißt für Heidegger nicht: irgendwie vorhanden sein. Seiend sein heißt vielmehr: unverborgen sein, im Lichte stehen, in die Erscheinung getreten sein. […]. Seiend, nämlich unverborgen, wird das Seiende erst vom Sein her. […]. Das Seiende kann Seiendes – nämlich unverborgenes Seiendes – nur sein, wenn das Sein als Unverborgenheit west.«153
HEIDEGGER selbst schreibt gar: »Das Seiende, was ist es? Als was gibt es sich und gibt es sich uns? Als das, was wir das Sein nennen. Das Seiende ist, […] – das Seiende ist das Sein […]. Das Seiende ist, gerade dann, wenn wir es als das Seiende nehmen, es ist das Sein [sic]. So verstehen wir die Gleichsetzung: das Seiende – das Sein. Diese Gleichsetzung ist bereits die erste entscheidende Antwort auf die Frage, was das Seiende sei, – eine Antwort, die die ungeheuerste philosophische Anstrengung verlangte, hinter der alles nachkommende Bemühen zurückbleibt. Und so verstehen wir zugleich: Wenn nach dem Seienden als solchen gefragt wird, wenn das Seiende als solches in die Frage gestellt wird, dann ist gefragt nach dem Sein. Aber was ist das Seiende? Und das heißt jetzt: was ist das Sein? […] Eben dieses Eine […]: to on to en – das Seiende, das ist eben dieses Eine: das Sein; das Sein ist das Eine, was das Seiende als solches ist.«154
Nun nimmt es nicht mehr Wunder, wenn HEIDEGGER gegen die Seinsvergessenheit meint betonen zu müssen, »daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein.«155 An dieser Stelle darf wieder darauf hingewiesen werden, 152 153 154 155
BRETSCHNEIDER [1965], 170. WEISCHEDEL [1998], 1, 464. GA 33, 23. M, 41./GA 9, 306.
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daß HEIDEGGER hier mit Sein das von ihm »in die Acht« genommene »Sein selbst« meint und gerade nicht ein mit sich selbst identisches höchstes Sein oder ein in einer Vielzahl von Selbstidentitäten gründendes und von diesen abstrahiertes allgemeines ens commune jenseits aller Gattung. Er spricht hier vom »Sein selbst«, und es muß die Aussage ganz buchstäblich verstanden werden. Es »ist« niemals Seiendes ohne »Sein«. Mehr noch: »Das Seiende ist, was es ist und wie es ist, aus dem Sein« und zwar in dem Sinne, »daß am Sein alles ›ist‹ liegt«156 und dieses »›ist‹« ist immer Sein des Seienden. In diesem Fall stünde zu erwarten, daß HEIDEGGER vom Sein sagt, es sei »niemals ohne« das Seiende. Und tatsächlich: auch das Sein »west nie ohne das Seiende«,157 denn »die Sache des Seins ist es, Sein des Seienden zu sein«,158 nicht obwohl, sondern gerade weil gilt: »Das Sein allein ist.«159 »Ohne das Sein, […], bliebe alles Seiende in der Seinlosigkeit.«160 »Denn dem Seienden wird das ‹es ist› und das ‹ist› nur insofern zugesprochen, als das Seiende hinsichtlich seines Seins angesprochen wird. Im ‹ist› wird ‹Sein› ausgesprochen; das, was in dem Sinne ‹ist›, daß es das Sein des Seienden ausmacht, ist das Sein.«161
156 157
158 159 160 161
Hw, 266/245./GA 5, 266. »Wo immer und wie weit auch die Forschung das Seiende absucht, nirgends findet sie das Sein. Sie trifft immer nur das Seiende, weil sie zum voraus in der Absicht ihres Erklärens beim Seienden beharrt. Das Sein jedoch ist keine seiende Beschaffenheit an Seiendem. Das Sein läßt sich nicht gleich dem Seienden gegenständlich vor- und herstellen. Dies schlechthin Andere zu allem Seienden ist das Nicht–Seiende. Aber dieses Nichts west als das Sein. […] wir müssen uns auf die einzige Bereitschaft rüsten, im Nichts die Weiträumigkeit dessen zu erfahren, was jedem Seienden die Gewähr gibt, zu sein. Das ist das Sein selbst. Ohne das Sein, dessen abgründiges, aber noch unentfaltetes Wesen uns das Nichts in der wesenhaften Angst zuschickt, bliebe alles Seiende in der Seinlosigkeit. Allein auch diese ist als die Seinsverlassenheit wiederum nicht ein nichtiges Nichts, wenn anders zur Wahrheit des Seins gehört, daß das Sein nie west ohne das Seiende, daß niemals ein Seiendes ist ohne das Sein.« Wm, 101f./ GA 9, 305f. Hw, 364/335./GA 5, 364. N II, 485. /GA 6.2, 444. Wm, 102./GA 9, 306. TudK, 44./GA 11, 121f.
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Jetzt kann verständlich werden, warum HEIDEGGER eine Aussage wie die obige gerade gegen das esse transendentale ausspricht, obschon dem Wortlaut nach viel eher eine »Bestätigung« des esse transcendentale vorzuliegen schient. »Was eigentlich ist, d.h. eigens im Ist [sic] wohnt und west, ist einzig das Sein. Nur das Sein ‹ist›, nur im Sein und als Sein ereignet sich, was das ‹ist› nennt; das, was ist, ist das Sein aus seinem Wesen.«162 »Das, was ist, nimmt man gewöhnlich als das Seiende. Denn vom Seienden wird das ‹ist› [sic] ausgesagt. Jetzt aber hat sich alles gekehrt. […] Das, was ist, ist keineswegs das Seiende. Denn dem Seienden wird das ‹es ist› und das ‹ist› nur insofern zugesprochen, als das Seiende hinsichtlich seines Seins angesprochen wird. Im ‹ist›, wird ‹Sein› ausgesprochen; das, was in dem Sinne ‹ist›, daß es das Sein des Seienden ausmacht, ist das Sein.«163
Jedes »Ist«, sei es ein Denkakt oder ein Denkinhalt, sei es ein Urteil von irgendeiner Qualität und Quantität, seien es die durch Urteile anvisierten Sachverhalte, sei es der Baum da draußen vor dem Fenster oder die konkreten Menschen in dieser Stadt ist für HEIDEGGER »einzig das Sein« in seinem »Wesen« (als »prozessualer Selbstvollzug« oder »Autoperformanz«, JAHRAUS), denn alles, »was das ist nennt«, ereignet sich als Selbstartikulation des »absoluten Singulars« des Seins selbst. Mit der Unverborgenheit des Seienden als der Unverborgenheit des Seins und umgekehrt, konfundiert derselbe HEIDEGGER, der auf dem Unterschied von Sein und Seiendem insistiert und betont, daß die Metaphysik das Sein und das Seiende unausgesetzt verwechselt und so das »Sein selbst« nicht erblickt, das Sein selbst restlos mit dem Seienden, denn »das Seyn ist nicht das Andere zum Seienden, sondern ist dieses selbst und ist es allein!«164 162 163 164
TudK, 43./GA 11, 120f. TudK, 44./GA 11, 121f. GA 69, 53. Wie noch zu zeigen sein wird, darf HEIDEGGERS Aussage, wonach das Sein nicht das Andere zum Seienden sei, bei HEIDEGGER nicht verabsolutiert werden. Das wäre seinsvergessen. Vielmehr kann HEIDEGGER, und muß HEIDEGGER auch sagen, daß das Sein das Andere zum Seienden ist, weil HEIDEGGER ja auf die Differenz hinaus will, eine Differenz, die sich durch die Metaphysik selbst vollzieht und unausgesetzt gelichtet wird und gleichzeitig verborgen bleibt. Freilich muß dann abermals darauf geachtet werden, was
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Max MÜLLER erkennt in seiner Besprechung von HEIDEGGERS Einführung in die Metaphysik richtig: »Aus der Einführung wird auch deutlicher, was Heidegger mit dem ›Sein als solchem‹ meint. Dieses ist keine Macht vor und über dem Seienden, weder das ›Umgreifende‹ noch das ›Transzendente‹ (das Jaspers ›Transzendenz‹ nennt) noch gar der ›Gott‹ oder der alles Seiende durchwaltende ›Geist‹ oder der es zusammenfügende ›Wille zu Macht‹. Sein ist vielmehr das Walten des Seienden selbst, in welchem dieses und sofern dieses nichts anderes als die Wirklichkeit des Überwältigenden [des »Seins selbst«] ist, das nur ist als diese Wirklichkeit des Seienden. Das Sein ist das ›Seiend‹ des Seienden selbst: seine Mächtigkeit, Würde, seine Hoheit, sein Rang, der nur Rang, Hoheit, Würdigkeit, Macht ist im Geschehnis der Auseinandersetzung, der ›Entscheidung‹, wie Heidegger sagt, im Verhältnis zu allem anderen. Nur in dieser Auseinandersetzung [des »Seins selbst«] ist Seiendes seiend und wirklich. Es gibt Seiendes, aus dem das Sein gewichen ist, sich zurückgezogen hat: das bloß noch Vorliegende, das nun restlos verfügbar ist, nur noch Gegenstand ist, der alles, was er ist, nur noch empfängt aus seinem Nutzen und seiner Brauchbarkeit für uns. Und es gibt Seiendes, in dem das Sein selbst noch da ist: das seine eigene Wahrheit hat, das heißt in dem die Welt waltet, welche weder ein Umgreifendes über ihm noch ein Seiendes außer ihm ist. Seiendes, das in seiner Schönheit sichtbar macht, was der Unterschied von hoch und niedrig, edel und gemein, wirklich und unwirklich sei; das den Rang erscheinen läßt und im Rang das Geschehnis der Auseinandersetzung und der ordnenden Fügung: des Polemos und des Logos.«165
Mit den Begriffen Polemos und Logos sind zwei herakliteische Kategorien angeklungen.166 Auch andere Interpreten sehen HERAKLIT und HEI-
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166
Andersheit hier des Näheren überhaupt besagen soll. Zur Kennzeichnung von HEIDEGGERS Sein als »prozessualem Selbstvollzug« oder als »Autoperformanz« bei JAHRAUS s. Fußn. 124, 234, 236, 237, JAHRAUS [2004a], 156f. 206-209. »Nichts anderes ist Sein als […] dieses« Geschehen, »wobei dieses Geschehen, was wiederholt werden muß, nicht über und außerhalb dem [sic!] Seienden, […], geschieht: sondern in der Einheit von Seiendem […] als dessen Welt, waltet.« ZABOROWSKI/BÖSL [2003], 85f. Beachtenswert ist hier die mehrbödige Formulierung nach HEIDEGGERS Sprachart. Denn die »Einheit von Seiendem« ist das Sein selbst, welches als »dessen Welt«, und d.h. als Welt des Seienden und nichts außerdem waltet. Das Seiende ist das Sein und das Sein ist nichts außerdem! »Einmal jedoch, im Beginn des abendländischen Denkens, blitzte das Wesen der Sprache im Lichte des Seins auf. Einmal, als Heraklit den Logoj als Leitwort dachte, um in diesem Wort das Sein des Seienden zu denken. Aber der
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in dem einen Anliegen vereint, das En Panta zu denken. So ist etwa STEINER der Auffassung, daß der Kern von HEIDEGGERS Denken in zwei Behauptungen verkörpert sei. Beide Behauptungen werden von HEIDEGGER in Was ist das – die Philosophie? entweder im Rückgriff oder im Zuge einer Erläuterung von HERAKLITS Begriff des sofon aufgestellt. Die erste Behauptung besteht darin, »daß ›Eines Alles‹ ist« und die zweite, so STEINER, in HEIDEGGERS Wort: »[…] Das Sein ist das Seiende.«167 DEGGER
»Selbst jemand, der von HEIDEGGER nur summarische oder aus einem Lexikon bezogene Kenntnisse hat, wird wissen, daß diese beiden Behauptungen, die tatsächlich identisch und untrennbar [Kursiv v. Verf.] voneinander sind, das Wesen von Heideggers Lehre darstellen.«168
Damit bringt STEINER zum Ausdruck, wie bei HEIDEGGER alle vermeintlich verschiedenen Seienden zu einem einzigen Sein konfundiert werden. Alles »ist«, ist dieses eine identische Sein und es kann »daneben« buchstäblich nichts anderes geben. Neben diesem gibt es keine weiteren davon verschiedenen Selbstidentitäten. »Da Heidegger«, wie WETZ betont, »[…] das Seiende von vornherein als etwas Sichtbares auffaßt – als eine Welt des Augenscheins aus Meer und Gebirge, Erde und Himmel, Mensch und Tier – kann es nicht überraschen, daß er diese naturhafte Ursprungsmacht als alles fügende Lichtung, Unverborgenheit oder Offenheit bezeichnet, die einer Verbergung oder Dunkelheit entstamme, aus der
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Blitz verlosch jäh. Niemand faßte seinen Strahl und die Nähe dessen, was er erleuchtete.« VA, 221./GA 7, 233. Vgl. LANDOLT [1992a], 27, einschl. Fußn. 5. Die entsprechende Passage lautet bei HEIDEGGER: »Der anhr filosofoj liebt das sofon. Was dieses Wort für Heraklit sagt, ist schwer zu übersetzen. Aber wir können es nach Heraklits eigener Auslegung erläutern. Demnach sagt to sofon dieses, En Panta, ›Eines (ist) Alles‹. ›Alles‹, das meint hier: Panta ta onta, das Ganze, das All des Seienden. En, das Eins meint: das Eine, Einzige, alles Einigende. Einig aber ist alles Seiende im Sein. Das sofon sagt: Alles Seiende ist im Sein. Schärfer gesagt: Das Sein ist das Seiende.« WiddPh, 13./GA 11, 14. Vgl. Fußn. 314. STEINER [1989], 73f. Die in STEINERS Aussage insinuierte Möglichkeit, daß »Jedermann« selbst nach oberflächlicherem Studium diese beiden Behauptungen als den Kern der Lehre HEIDEGGERS identifizieren kann, scheinen freilich von einer zu großen Selbstverständlichkeit gekennzeichnet zu sein. Völlig unbeschadet davon aber bleibt die korrekte Erkenntnis des Seins als ausschließlichem Sein des Seienden bei HEIDEGGER.
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sie selbst wiederum hervorgehe. Als die alles Seiende verfügende Unverborgenheit sei das im besinnlichen Denken erahnte Sein selbst nichts Seiendes, weder ein außerweltlicher Gott noch eine absolute Vernunft. Am ehesten läßt es sich wohl noch mit pantheistischen Ursprungskräften vergleichen, wie etwa der Weltseele Heraklits oder der Weltvernunft der Stoiker sowie der natura naturans Spinozas, die eine dem Kosmos innewohnende anonyme oder unpersönliche Macht der Hervorbringung und Lenkung alles Seienden darstellen.«169
Im Hinblick auf HEIDEGGER läßt sich sagen, daß die Metaphysik eine Art der Unverborgenheit kennt, nämlich die Unverborgenheit des Seienden im Lichte des Seins. Sie sieht aber nicht, daß die Unverborgenheit des Seienden das Licht bzw. die Lichtung des Seins selbst ist, vielmehr hält sie in HEIDEGGERS Augen jedes Seiende durch das ihm zugedachte Etwassein für mit sich selbst identisch und damit von der Selbstidentität eines jeden anderen Seienden bzw. Etwas unterschieden. Im Zuge dieser Unterscheidung degeneriert (gleichzeitig ist diese Degeneration zugleich innigster Ausdruck für das Wesen des Seins als sich selbst fremdes bzw. nicht mit sich identisches) in HEIDEGGERS Augen das Sein selbst nicht nur zum Abstraktum des ens commune, d.h. dieses allen gemeine Sein gibt es dann, wie sich im Anschluß an HEIDEGGER formulieren läßt, als »es selbst« gar nicht. Überdies geht das ens als transzendentale Proprietät notwendig mit der jeweiligen Selbstidentität aller Seienden einher, so daß gesagt werden muß: ens et aliquid convertuntur. Das Sein »selbst« kommt hier aber, wie HEIDEGGER meint, gar nicht in den Blick, es bleibt aus, wird vergessen, weil die Metaphysik immer vom Etwas ausgeht, das Sein untrennbar mit diesem verbunden sieht und so immer wieder beim Etwas einkehrt. Wenn sie das Sein selbst als »es selbst« in den Blick zu nehmen meint, dann nur, indem sie es wiederum im ens absolutum als esse per se subsistens hypostasiert und so wieder nur zu einem weiteren Etwas »neben«, »unter«, oder »hinter« und damit im Unterschied zur Unterschiedenheit aller übrigen Etwasseienden macht. Die »Metaphysik« sieht nicht, daß das Sein selbst »hier und da« nicht mit einer Mannigfaltigkeit von Etwasseienden einhergeht, sondern jedesmal ein und dasselbe »Etwas« ist. Das Sein selbst bleibt aus. Deshalb ist die Metaphysik für HEIDEGGER der eigentliche
169
WETZ [2003], 285, 2.
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Nihilismus. Aber dieser Nihilismus ist kein Fehler, weil ja das Sein selbst sich als Nihilismus vollzieht und damit selbst dieser Nihilismus ist. Es ist von entscheidender Wichtigkeit zu sehen, was HEIDEGGER mit der Rede vom »Sein« als »Unverborgenheit«, »Anwesen«, »Lichtung«, »Wahrheit«, »Wesen« meint. Das Sein, das sich in allem rein prozessual zu verstehenden Seienden rein prozessual autoperformiert. JAHRAUS schreibt treffend: »Wo Wahrheit […] differenzlos als Unverborgenheit [des Seins als Seiendes und umgekehrt] gedacht wird, kann Wahrheit als Geschehen der Entbergung und der Lichtung und somit als Vollzug ihrer selbst gesehen werden.«170
Auch BRETSCHNEIDER trifft den einschlägigen Punkt, wenn er sagt: »Denn das Ausbleiben des Seins, das sich als das ungedachte Unverborgensein des Seienden im Ganzen darstellt, ist die Geschichte, durch die sich das Sein in seine Wahrheit gestellt hat, die aber als diese Wahrheit nicht erfahren wurde. Die Wahrheit des Seins west in der Geschichte als Unwahrheit, als die Verborgenheit der Unverborgenheit des Seienden. Die Wahrheit des Seins ist in der Geschichte nur als die Einheit von Wahrheit und Unwahrheit […]. Die Unverborgenheit des Seienden im Ganzen blieb als das Wesende des Seins in der Verbergung. Die Wahrheit selbst kommt nicht zum Scheinen, sondern west in ihrer Unwahrheit, das so als das der Wahrheit vorwesende Wesen genannt sein kann.«171
Wenn es freilich die Wahrheit des Seins sein soll, alles Seiende zu sein, alles Seiende aber nichts weiter sein soll als die sich performierende Seinsverlassenheit, dann wird nachvollziehbarer, warum das Sein bei HEIDEGGER so viele schillernde Bedeutungen annehmen kann. Das kann gar nicht anders sein, weil es, das Sein selbst, ja alles Seiende und damit auch alle möglichen Bedeutungen ist oder als diese west und waltet, beispielsweise auch als die Urteilswahrheit oder ein transzendental-analoges Sein. Nichts von dem meint HEIDEGGER ausschließen zu müssen, vielmehr will er einen Weg finden, all dies in (s)einem Seinsbegriff einzuschließen,
170 171
JAHRAUS [2004a], 208. BRETSCHNEIDER [1965], 172.
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und zwar nicht trotz, sondern aufgrund der ontologischen Differenz.172 POISS fragt pointiert: »Wie passt all dies zum Denker der Gelassenheit und des Seinlassens? Nahtlos, weil Heideggers Grundgedanke, die Totalisierung von Heraklits logos, gar keinen Raum lässt, diese Frage auch nur zu stellen: ›Im legein als dem homologein west das eigentliche Hören‹, lautet die von HEIDEGGER aus Heraklit, Frg. 50., kondensierte Formel für den intellektuellen Kurzschluß, die sich in das Deutsch Heideggers etwa so übersetzen lässt: Im Sagen/Versammelt-vorliegen-Lassen als dem Entsprechen/DasSelbe-Sagen ereignet sich achtsames Denken. Weil aus Heideggers Konzeption wesentlichen Denkens jeder Rest von Reflexion vorweg ausgeschlossen ist, gibt es keinen Raum, das Wesen vom Unwesen zu unterscheiden [Kursiv v. Verf.]. 173
172
173
»Der hier entwickelte Wahrheitsbegriff meint als ein eksistenzialer primär ein Geschehen des Sichzeigens, Erscheinens, im Offenen sich Offenbarens und solcherart im Lichte Stehens: Der Wahrheitsbegriff ist somit aus seiner Grundbedeutung her rückverwiesen in den Phänomenbegriff, in dessen Wortstamm pha die Bedeutung phos mitklingt und ›zum entscheidenden Erschließungs- und Bedeutungsgrund des Wortes (wird), und zwar so fundamental, daß alle Grundworte Heideggers, d.h. alle wesentlichen Hinblicke des Denkens selbst, versammelt und verwoben sind im Charakter des Lichts: Lichtung, Lichten, Unverborgenheit, Entbergen, Offenbare, Physis, Aufgang, Schein, Scheinen usw. und die entsprechenden Gegenbegriffe.‹« VORLAUFER [1994], 103. POISS [2003], 65f. »[…] HEIDEGGER akzentuiert an Heraklit folgende Aspekte: (1) Das Aufgehen und Sich-Verbergen des Seins, d.h. ›griechisch gedacht‹ der physis – so Heideggers Auslegung von Frg.16 DK; (2) deren Strukturidentität mit dem logos – so Heideggers Auslegung von Frg. 50 DK, dessen strikte Verbindlichkeit (3) für alle – nach Frg. 1 DK – auch dadurch verbürgt wird, dass (4) das Eins-Alles mit dem Namen Zeus benannt werden will und auch nicht, d.h., dass der gesamte Prozeß des Aufgehens, Sich-Auseinandersetzens (polemos) und Versammelns (logos/kosmos) immer nur andeutungsweise als Gott oder göttlich anzusprechen ist, und dass (5) der Blitz, das herkömmliche Attribut des Zeus, die erhellende wie steuernde Gewalt des einen Gesamtprozesses hervortreten lässt. Wollte man all dies in eine Gleichung pressen, müßte diese lauten: Sein = physis = logos/ Logos [sic] = Gott (oder auch nicht) = Blitz/Feuer – Streit bzw. Kampf (eris/polemos).« POISS [2003], 65f.
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1.8 Über die unversehen-neue Bedeutung von Heideggers Forderung, den Unterschied von Sein und Seiendem zu denken HEIDEGGERS Denken birgt viele »Überraschungen«. Er sagt, die Seinsvergessenheit besteht darin, daß die Metaphysik Sein und Seiendes verwechselt und somit den Unterschied beider nicht denkt. Er fordert, das »Sein selbst« ins Auge zu fassen. Daher scheint es, als ob sein Denken in Abgrenzung von der Metaphysik vom Seienden absehen und sich dem Sein selbst zuwenden wird. Aber es kommt ganz anders. Der Leser sieht sich einerseits aufgefordert, von jedwedem Seienden abzusehen und anderseits wird er gerade im Hinblick auf das »Sein selbst« auf eine äußerst radikale Weise erneut »an« bzw. »auf« das Seiende verwiesen. Die Metaphysik denke, so HEIDEGGER, den Unterschied von Sein und Seiendem nicht, aber Sein und Seiendes sind für HEIDEGGER nicht nur nicht voneinander zu scheiden, sie sind schlechterdings dasselbe. Die Metaphysik, so HEIDEGGER, verwechsle Sein und Seiendes, aber das Sein ist für HEIDEGGER immer das Sein des Seienden, und Seiendes ist niemals ohne Sein. Das »Selbst« des Seins ist dasselbe wie das »Selbst« des Seienden. Das Seiende als Unverborgen-sein ist dasselbe wie die Unverborgenheit des Seins selbst und es ist nichts anderes, und das heißt, alles Seiende ist nichts anderes als das eine und einzige »Sein selbst«. Das hindert aber gerade nicht, daß die Metaphysik für HEIDEGGER notwendigerweise seinsvergessen sein muß und nichts anderes als seinsvergessen sein kann, weil und indem sie Sein und Seiendes verwechselt und den Unterschied beider nicht bedenkt. Denn für HEIDEGGER liegt die Nichtunterscheidung gerade darin, daß so streng unterschieden wird, insofern jedem Seienden eine jeweilige Identität zugesprochen wird. Der Weg für den eigentlichen Unterschied im Sinne HEIDEGGERS ist aber erst dann offen, wenn gesehen wird, daß es bei ihm zwischen dem Sein und dem Seienden keinen Unterschied geben kann. Diese Denkart durchzieht HEIDEGGERS gesamten Gedanken von der Seinsvergessenheit und macht dieses Philosophem so paradox, verwirrend und schwer verständlich. Denn »Sein« und »Seiend« bedeutet für HEIDEGGER jeweils zweierlei. Daraus aber folgt, daß auch »Unterschied« jeweils zweierlei bedeutet. Sieht man die verschiedenen Bedeutungen, dann kann man verstehen, warum HEIDEGGER meint, die Metaphysik denkt den »Unterschied« nicht,
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seinerseits aber Sein und Seiendes nicht in der zunächst zu erwartenden Weise unterscheidet. Die Metaphysik verwechselt nämlich für HEIDEGGER nicht etwa deshalb das Sein mit dem Seienden, weil sie beide identifiziert oder nicht »auseinander halten« kann, sondern gerade weil sie das je und je Seiende und das Sein auseinanderhält und sie nicht identifiziert. Denn für HEIDEGGER ist das Sein der Metaphysik entweder Gott als das höchste Seiende oder die transzendentale Proprietät des ens, welche transzendental ist, weil sie alle Gattungen übersteigt. Da Gott aber mit sich identisch und so von anderen Selbstidentitäten unterschieden ist, ist er doch nur wieder eine weitere Selbstidentiät neben anderen. So wird, was die Metaphysik das ipsum esse nennt, gerade weil die Metaphysik darin ein selbstidentisches Sein sieht, mit dem Seienden verwechselt, welches aus lauter je selbstidentischen Gegebenheiten besteht. Das Sein im Sinne der transzendentalen Proprietät verwechselt in HEIDEGGERS Augen wegen des transzendentalen Charakters ebenfalls das Sein selbst mit dem Seienden. Denn das ens commune übersteigt alle Gattungen und Arten und jedes einzelne Seiende ja nur deshalb, weil es nicht auf eine Gattung, eine Art oder ein Seiendes unter anderen eingegrenzt werden darf, sondern allen in einem analog verschiedenen Sinne aber als solchen in ihrer je eigenen Identität »eignet«. Für sich genommen gibt es das ens commune nicht. Es ist eine Abstraktion, die von den Seienden ausgeht und »auf diese als solche« zurückverweist. Für HEIDEGGER wird das Sein selbst so in der Mannigfaltigkeit der je mit sich identischen Gattungen, Arten und einzelnen Seienden verflüchtigt und »verdunstet« gewissermaßen als diese. Kurzum: Das Sein wird wieder mit dem Seienden verwechselt. HEIDEGGER sieht, daß der analoge Charakter des ens transzendentale alles Seiende gerade nicht in einer einzigen Identität und in diesem Sinne univok verschwimmen läßt. Vielmehr wird die Mannigfaltigkeit der je mit sich identischen Seienden »bestätigt« und auf diese »zurückverwiesen«. Aber gerade deshalb »verwechselt«, wie HEIDEGGER meint dieses Wort gebrauchen zu müssen, die Metaphysik das Sein mit dem Seienden. Es, das Sein selbst, geht in der Vielheit der je mit sich identischen Seienden unter. Dies bedeutet für HEIDEGGER aber, daß die Unterscheidung und Nichtverwechslung von Sein und Seiendem in dem von ihm eingeforderten Sinn verwirrender- und auch überraschender Weise die völlige Identifikation beider voraussetzt. Das Sein findet sich nicht analog verschieden in jedem
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Seienden als jeweiliges Seiendes. Das Sein sei, wie HEIDEGGER sich auzudrücken weiß, »nur einzig seines Wesens.«174 Das Sein ist als »absoluter Singular in der absoluten Singulariät« nur eine restlose Selbigkeit. Es gibt keine je mit sich identischen und voneinander verschiedenen Seienden. Sie alle sind ein und dasselbe Sein selbst. Die Metaphysik hingegen verwechselt in HEIDEGGERS Augen Sein und Seiendes, weil sie nicht sieht, daß sie ein und dasselbe sind. Sie denkt nicht den Unterschied beider, weil sie ohne eine Mannigfaltigkeit von Selbstidentitäten nicht auskommt. Sie denkt nicht den Unterschied beider, weil sie nicht sieht, daß der gesuchte »Unterschied« nicht irgendwie zwischen zwei je mit sich identischen liegt, sondern in der einen und einzigen Identität oder dem einen und einzigen »Selbst« des »Seins selbst«. Diese Identität ist in HEIDEGGERS Augen als solche eine »Differenz« oder, um auf einen Ausdruck HEGELS zurückzugreifen, eine »Nichtidentität«,175 und nur durch sie kann es inmitten der Seinsverlassenheit zu deren Überwindung kommen. Mit seinem »Unterschied« will HEIDEGGER nicht sagen, die Metaphysik unterscheide nicht, sondern sie vergißt, daß das Sein selbst als Unverborgenheit des Seienden, als es selbst nicht es selbst ist. Das Sein begabt sich, indem es sich immer schon in das Seiende begibt und zwar das Sein selbst. Paradoxerweise muß gesagt werden: Der Grund dafür, daß die Metapyhsik in HEIDEGGERS Augen nicht unterscheidet, ist, daß sie unterscheidet, und der Grund dafür, daß sie verwechselt, ist, daß sie nicht verwechselt, da sie, wie HEIDEGGER wohl weiß, durch die Begriffe ens, aliquid und ipsum esse keine gigantische Konfundierung aller je mit sich identischen Gegebenheiten zu einem »absoluten Singular« des »Seins selbst« vornimmt. Erst wenn verstanden wird, daß Sein und Seiendes dasselbe sind, kann auch HEIDGGERS vielbeschworene »ontologische Differenz« in den Blick kommen. 174 175
GA 69, 97. Zu HEGELS Terminologie s. unter Fußn. 926. In den folgenden Ausführungen wird immer wieder auf den Ausdruck »Nichtidentität« und »nichtidentische Identität« zurückgegriffen, da HEIDEGGER, wie deutlich werden soll, mit der »ontologischen Differenz«, welche in seinen Augen nichts anderes ist als das »Sein selbst«, die nichtidentische Identität des »Seins selbst« im Blick hat, dessen »Selbst« darin bestehen soll, als solches nicht es selbst zu sein.
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1.9 Weitere Radikalisierung des Seins. Das Sein als reines Geschehnis. Weitere In-eins-Setzungen von Sein, Geschehnis, Ereignis und Entbergung Um die ontologische Differenz als Differenz zu verstehen, muß zunächst gesehen werden, daß es für HEIDEGGER keinerlei »Nebeneinander« oder »Über- und untereinander« von je irgendwie mit sich identischen und eben dadurch unterscheidbaren Gegebenheiten irgendeiner Art geben kann und daß alles Seiende seiend ist nur als Weise des einen identischen Seins selber, daß es, um mit HEIDEGGER zu sprechen, »aus dem Sein« ist oder »zum Sein gehört«, weil das Sein HEIDEGGERS in diesem und nicht etwa im transzendental-analogen Sinne immer Sein des Seienden ist. HEIDEGGERS Haltung gegenüber der Metaphysik und ihren Unterscheidungen wird vor allem auf dem Fundament dieser Erkenntnis zugänglich. Diese Erkenntnis ihrerseits wird gewonnen durch das Verständnis dessen, was HEIDEGGER Seinsvergessenheit nennt. HEIDEGGER sagt, die Metaphysik, welche die Seinsvergessenheit ist, habe das Sein nie in den Blick bekommen. Das esse subsistens kann für HEIDEGGER nicht das Sein selbst erreichen, da es als subsistierendes lediglich zu einem weiteren Seienden einerseits neben anderen andererseits wird. Gott als ipsissimum ens kann nicht das Sein selbst sein, weil er als subsistierender von anderen subsistierenden Seienden bei aller Abhängigkeit seitens der übrigen Seienden verschieden ist.176 D.h. für HEIDEGGER: Gott ist ein »Seiendes« und in Folge dessen gerade nicht das Sein selbst. Freilich geht es nicht allein um den Unterschied zwischen Gott und Welt. Es geht um jeden möglichen Unterschied, sofern »Unterschied« bedeutet, daß ein Etwas überhaupt kraft seiner Selbstidentität nicht ein anderes Etwas ist. Es geht mithin nicht nur um den Unterschied zwischen Gott und Welt, zwischen notwendigem und kontingentem Seienden, zwischen Sache und Sachverhalt, Substanz und Akzidenz, sondern etwa auch um die Unterschiede einzelner Akzidenzien untereinander, insofern die Qualität nicht Quantität, diese nicht Relation usf. ist und auch um den Unterschied zwischen allen konkreten Einzeldingen. Das ist im Hinblick auf die »innere Folge« der Gedanken HEI176
Der dreifaltige Gott der christlichen Offenbarung beispielsweise kann in HEIDEGGERS Augen a fortiori nicht das Sein sein, weil die drei göttlichen Personen sich realiter voneinander unterscheiden.
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auch durchaus konsequent. Wenn zwei jeweils mit sich selbst identische Seiende nebeneinander stehen, dann wird das Sein selbst vergessen, insofern die Trennung beider Seiender für HEIDEGGER auch das Sein »abtrennt« und letztlich wieder zu einem höchsten Seienden macht und/oder zu einem analog-allgemeinen Sein. HEIDEGGER nennt jedwede Art von Scheidung im Sinne der Unterscheidung bezeichnenderweise »jene Mächte, die dem Sein entgegenstehen« und es in der »Verirrung« des seinsvergessenen »Seins« »halten«: DEGGERS
»Das Sein muß deshalb von Grund aus und in der ganzen Weite seines möglichen Wesens neu erfahren werden, wenn wir unser geschichtliches Dasein als ein geschichtliches ins Werk setzen wollen. Denn jene Mächte, die dem Sein entgegenstehen, die Scheidungen selbst bestimmen, beherrschen und durchsetzen in ihrer vielfachen Verflechtung seit langem unser Dasein und halten es in der Verwirrung des »Seins«.177
Das ens commune aber ist als Abstraktion völlig von der realen Mannigfaltigkeit des Seienden abhängig und muß so das Sein des Seienden gleichfalls verfehlen, denn es ist im Sinne HEIDEGGERS ja nicht das »Sein selbst«. Das Sein wird daher auch durch jede Art von Analogie des Seins verfehlt, denn diese bedarf der Analogata und dieser Umstand »reduziert« in HEIDEGGERS Augen das Sein wieder auf das Seiende im Sinne voneinander unterschiedener Selbstidentitäten. »Die Unterscheidung des Seins und des Seienden wird in die Harmlosigkeit eines nur vorgestellten Unterschiedes (eines ›logischen‹) abgeschoben, wenn überhaupt innerhalb der Metaphysik dieser Unterschied selbst als ein solcher ins Wissen kommt, was strenggenommen ausbleibt und ausbleiben muß, da ja das metaphysische Denken nur im Unterschied sich hält, aber so, daß in gewisser Weise das Sein selbst eine Art des Seienden ist.«178
177 178
EM, 155f. /GA 40, 213. GA 65, 423. »Wenn die ›Metaphysik‹ Platons und in seinem Gefolge die europäische Philosphie das Sinnliche vom Übersinnlichen, den Materialismus vom Idealismus unterscheidet, so ›hält sie sich im Unterschied‹ des Seins vom Seienden, ist aber nicht in der Lage, den ›Unterschied‹ selbst zu interpretieren. Anstatt das Sein selbst und das Seiende in ihrem Unterschied zu verstehen, kann
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Die Ausführungen zum einen Sein des Seienden bei HEIDEGGER sind bedeutsam gerade im Hinblick auf die von uns zu untersuchende ontologische Differenz, denn diese ist - wie unten noch eingehender zu zeigen sein wird – nicht die Differenz zwischen mindestens zwei jeweils irgendwie mit sich identischen und daher voneinander verschiedenen Gegebenheiten, sondern die Differenz innerhalb einer und innerhalb der einzigen »Identität«, und nur diese. Sie ist eine Differenz »in« ein und demselben »Sein selbst«, welches sonderbarerweise nur kraft dieser Differenz es selbst, welches nur Kraft dieser »nichtidentischen Identität« es selbst ist. So kann HEIDEGGER im unmittelbaren Anschluß an das soeben angeführte Zitat schreiben: »So erwächst aus dem ursprünglichen Durchfragen der […] Scheidungen die Einsicht: das Sein, das durch sie eingekreist [und damit »de-finiert« und »ausgeschlossen« wird, um zum Seienden gemacht zu werden] ist, muß selbst zum umkreisenden Kreis und Grund alles Seienden verwandelt werden.«179
Durch das Denken eines Gottes als des subsistierenden Seins einerseits und das Denken des transzendentalen Seins als eines »radikal abstrakten Begriffs«, welcher den reinen Seinsgehalt meint, und durch dessen Inhalt »etwas in allen Seienden getroffen« wird, »was dem Nichts entgegengesetzt ist (SEIFERT)«,180 »kreist«, wie HEIDEGGER unermüdlich betont, die Metaphysik das Sein ständig »ein« und ›zirkelt‹ es damit ›ab‹. Gott ist von der Welt verschieden und das (endliche) Seiende ist von Gott verschieden und das Seiende ist untereinander verschieden. Das »Sein selbst« bleibt auf der Strecke. Dies ist für HEIDEGGER eine gleichsam »heillose« Situation, die zugleich »kein Fehler« sein kann, sondern »das reichste und weiteste Ereignis« des Seins selbst, weil dadurch offenbar wird, daß das Sein Unheil bzw. daß das »Wesen« des Seins ein »Unwesen« ist. Dagegen will HEIDEGGER auf ein Sein hinaus, das in allen Seienden dasselbe ist, und er
179 180
das metaphysische Denken stets nur Derivate dieser drei eine Einheit konstituierenden Elemente hervorbringen.« TRAWNY [2003], 116f. EM, 156./GA 40, 213. SEIFERT arbeitet auch treffend heraus, daß das »reine Sein« im Sinne des esse transcendentale »nicht selbst existieren (sein)« bzw. nicht selbst subsistieren kann. S. Quellenangaben in Fußn. 104.
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will auf einen »Unterschied« hinaus, der nichts mehr authentisch unterscheiden darf, weil er nichts anderes ist als das Sein selbst. Statt das Sein durch den Gottesbegriff und als in den je und je Seienden verwirklicht je einzukreisen und abzuzirkeln, will HEIDEGGER, daß das Sein selbst zum »umkreisenden Kreis« des Seienden wird. Man könnte sagen: Eine der zentralen Auffassungen HEIDEGGERS ist: Das Sein selbst ist die Definition des Seienden. Das, was ausnahmslos alles Seiende ist, ist nichts anderes als das Sein selbst. Dieses Sein selbst ist damit weder transzendent noch transzendental-analog. Die ursprüngliche Scheidung, deren Innigkeit und ursprüngliches Auseinandertreten die Geschichte trägt, ist die Unterscheidung von Sein und Seiendem. […] Soll daher das Sein selbst in seiner ursprünglichen Unterscheidung zum Seienden eröffnet und gegründet werden, dann bedarf es der Eröffnung einer ursprünglichen Blickbahn.«181
HEIDEGGER geht es um »das Sein selbst in seiner ursprünglichen Unterscheidung« und damit um ein Sein, dessen Selbst darin besteht, »zerklüftet« und »zerrissen« zu sein. Daher ist es für das Verständnis der Differenz nötig, zunächst die Identität des Seins im Sinne HEIDEGGERS eingehend zu betrachten. Eine weitere Radikalisierung der Identität des Seins findet sich in HEIDEGGERS Ausführungen zum Sein als reinem Geschehnis. Mit dem Sein als reinem Geschehnis wird deutlicher, warum HEIDEGGER das Wort »Wesen« vornehmlich verbal verstanden wissen will, und er der Auffassung ist, daß Sein und Werden schlechterdings und in jeder Hinsicht nicht voneinander »getrennt«, d.h. unterschieden werden dürfen, in dem Sinne, daß jedes Werden als getragene Wirklichkeit ein es tragendes Seiendes voraussetzt. Mit dem »Geschehnis« ist jedes wie auch immer geartete »Etwas überhaupt« konfundiert und schlechterdings auf das Sein bzw. Geschehnis »und nichts außerdem« zurückgeführt. Wenn HEIDEGGER davon spricht, daß das Sein sich lichtet und entbirgt, dann dürfte das unvoreingenommene Verständnis zunächst den Eindruck gewinnen, daß in der Lichtung und Entbergung mit dem Sein etwas geschehe, daß das Sein zwar einer Veränderung unterworfen werde, aber 181
EM, 156./GA 40, 213.
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als Sein. Das Sein gehe m.a.W. nicht im Geschehen auf. Das setzt freilich voraus, daß das Sein als tragende Wirklichkeitsschicht, als Geschehendes ein Geschehen oder eine Veränderung als getragene Wirklichkeitsschicht trägt. Dieses Verständnis aber muß HEIDEGGER ausdrücklich zurückweisen. »Was geschieht in der Geschichte des Seins? Wir können so nicht fragen, weil dann ein Geschehen wäre und ein Geschehendes. Aber das Geschehen selbst in das einzige Geschehnis. Das Sein allein ist. Was geschieht? Nichts geschieht, wenn wir nach einem Geschehenden im Geschehen fahnden. Nichts geschieht, das Ereignis er-eignet.«182 »Was ist, ist das, was geschieht.«183
Von Bedeutung ist hier im Übrigen die weitere Identifizierung von Geschehnis und Ereignis.184 In Holzwege betont HEIDEGGER im Hinblick auf die Unverborgenheit des Seienden, die, wie bereits gezeigt wurde, nichts anderes ist als die Unverborgenheit des Seins selber und nichts anderes als diese sein kann: »Unverborgenheit des Seienden, das ist nie ein nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis.«185
Womit auch eine für HEIDEGGER kohärente Identifikation von Unverborgenheit, Geschehnis, Ereignis vollzogen wird. Wenn HEIDEGGER also vom »Sein« als einem »Grundgeschehnis«186 spricht, dann kann und muß er auch vom »Ereignis« sprechen, »worin das Sein west.«187 WEISCHEDEL betont: »Auch hier ist entscheidend: Es gibt nicht ein sich Ereignendes und dazuhin noch das Ereignis, das sich mit jenem vollzöge.«188
182 183 184 185 186 187 188
N II, 485./GA 6.2, 444. N II, 388./GA 6.2, 351. »Statt des Ausdrucks ›Geschehnis‹ verwendet HEIDEGGER auch das Wort ›Ereignis‹.« WEISCHEDEL [1998], 1, 465. Hw, 41/42./GA 5, 41. EM, 153./GA 40, 153f. N II, 485./GA 6.2, 443. WEISCHEDEL [1998], 1, 465.
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Kapitel 1 Vielmehr gilt laut HEIDEGGER: »Das Sein verschwindet im Ereignis.«189
HEIDEGGER schreibt auch: »Sichentbergen ist ein Grundzug des Seins. Aber schon dieser Satz bleibt in der Weise, wie wir ihn geradewegs aussagen für unser gewöhnliches Hören und Sprechen immer mißverständlich. Sichentbergen ist ein Grundzug des Seins. Dies hört sich so an: Es gibt Sein, und dieses Sein hat außerdem noch die Beschaffeneheit, daß es sich entbirgt. Aber Sein ist nicht mit der Beschaffenheit ausgestattet, daß es sich entbirgt, sondern das Sichentbergen gehört zum Eigenen des Seins. Sein hat sein Eigenes im Sichentbergen [Kursiv v. Verf.]. Sein ist nicht zuvor etwas für sich, das dann erst ein Sichentbergen bewerkstelligt. Sichentbergen ist keine Beschaffenheit des Seins, sondern Sichentbergen gehört in die Eigenschaft [Kursiv v. Verf.] des Seins. […]. Die Eigenschaft meint dann jenes, worin ‹Sein› das eigene Wesen als sein Eigentum wahrt. Sichentbergen gehört in die Eigenschaft des Seins. Doch selbst diese Rede ist noch schief. Streng gedacht, müssen wir sagen: Sein gehört in die Eigenschaft des Sichentbergens. Aus diesem, dem Sichentbergen, und als dieses spricht sich uns zu, was ‹Sein› heißt.«190 »Das Seyn west – das will sagen: das Seyn west allein das Wesen seiner selbst (Ereignis).«191 »Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe.«192
Daher kann und muß HEIDEGGER so nachdrücklich unterstreichen: »Das Ereignende ist das Ereignis selbst – und nichts außerdem [Kursiv v. Verf.].«193 Der Kreis der Identifikationen HEIDEGGERS schließt sich zudem einmal mehr, wenn HEIDEGGER vom »Ereignis der Entbergung«194 spricht und vom »Ereignis, worin das Sein west.«195 Es wurde schon klar und soll 189 190 191 192 193 194 195
ZSD, 22./GA 14, 27. SvG, 120f./GA 10, 102. GA 65, 473. Vgl. AUGSBERG [2003], 112. ZSD, 25./GA 14, 29. Vgl. SCHWEIDLER [1987]. 172. UzS, 258./GA 12, 247. TduK, 32. Vgl. WEISCHEDEL [1998], 1, 465. N II, 485./GA 6.2,443 . WEISCHEDEL [1998], 1, 465.
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noch klarer werden, daß für HEIDEGGER »Unverborgenheit«, »Entbergung«, »Wesen«, »Wahrheit«, »Lichtung«, »Sein« der Sache nach stets dasselbe sind. Wenn das Sein als zugrundeliegende Wirklichkeitsschicht das Geschehen trägt, ohne mit diesem konfundiert zu werden, und sich derart von diesem unterscheidet, dann wird es in HEIDEGGERS Augen von der getragenen Wirklichkeitsschicht abgespreizt, weil irgendwie unterschieden. Dann aber wird das Sein schon allein deshalb für HEIDEGGER zu einem Seienden »neben« anderem Seienden und das Geschehen – weil es nicht das »Sein selbst« ist — zu einem gewissermaßen »schlechten Nichts«. Das kann HEIDEGGER auf der Grundlage seines Seinsverständnisses unmöglich zulassen. So kommt es, daß durch die Betonung des Seins als reinem Geschehnis zum einen das eine »Sein«, das »allein ist«, oder, wie HEIDEGGER sich ausdrückt, an dem »alles ist liegt«, gewahrt bleibt. Anderseits aber wird deutlich, wie für HEIDEGGER das eine »Sein selber« seinen restlos prozessualen Charakter gewinnt, da es völlig in dem Geschehen, das es selber ist, aufgeht und somit als ein Sein west, das immer schon im Seienden verschwimmt (die »Wesung«) oder schärfer gesagt, das immer schon als das Seiende verschwimmt. Im Hinblick darauf weiß HEIDEGGER zu sagen: »[…] die Lichtung, ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt. Vielmehr geschieht die Lichtung […]. Unverborgenheit des Seienden, das ist nie ein nur vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis. Unverborgenheit (Wahrheit) ist weder eine Eigenschaft der Sachen im Sinne des [seinsvergessen begriffenen] Seienden, noch eine solche der Sätze.«196
Ferner wird verständlich, wie das Denken eines unveränderlichen Seins oder auch bestimmter unveränderlicher Seiender in der Geschichte der Metaphysik, wenigstens in HEIDEGGERS Augen, seinsvergessen sein muß, gerade aufgrund seiner es kantenscharf identifizierenden Unveränderlichkeit, welche es zu einem Seienden neben anderen – nämlich veränderlichen – Seienden macht, wobei es nicht allein um den Unterschied zwischen Gott und Welt geht, sondern etwa auch um den Unterschied zwischen 196
Hw, 41/42f./GA 5, 41.
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notwendigen Soseinseinheiten und Soseinseinheiten des echten Typus im Sinne HILDEBRANDS. Eine Philosophie, die also in irgendeiner Weise dazu führte, irgendein Sein oder Sosein oder einen Seinsbereich als unveränderlichen von veränderlichen zu unterscheiden, verfiele notwendigerweise der Seinsvergessenheit. Max MÜLLER schreibt: »Die Wahrheit und die Welt und das Seiende sind ›wahrhaft‹ [d.h. geschehnishaft, ereignishaft, lichtungshaft etc.] gemischt: Sie sind ›wahrhaft‹ Einheit von Sein und Werden, Sein und Schein, Sein und Sollen, nicht aber das Eine im Gegensatz zum Anderen. Sie sind wahrhaft Einheit von Aufgang und Untergang, von Entbergung und Verbergung, von Vorgang und Rückgang, von Heraustreten und Sich-zurückbehalten, d.h. aber: Geschichte. Der Dualismus [zwischen Sein und Seiendem] der klassischen Metaphysik zerreißt ihr Zusammengehören; damit wird Sein als Geschehnis und Geschichte nicht mehr verstanden und als Unverstandenes vergessen.«197
WEISCHEDEL hebt treffend die Bedeutung des Geschehnisgedankens für das Verständnis des von HEIDEGGER gemeinten Seins hervor: »Einen weiteren Schritt in der Richtung auf das zu, was für HEIDEGGER ›Sein‹ bedeutet, führt die Einsicht, daß mit alldem, was bisher darüber erörtert worden ist, nichts Statisches gemeint ist. Es gibt nicht das im Lichte der Unverborgenheit stehende Seiende und dazuhin noch eine beständige und gleichbleibende Unverborgenheit als ein gleichsam konstantes Licht. Sein, Unverborgenheit, Lichtung, Wahrheit, Differenz, Zwiefalt sind vielmehr solches, was geschieht. Das einzusehen ist für das Verständnis des Seinsbegriffes Heideggers von höchster Bedeutung. Das Sein ist ein Geschehen: jenes Geschehen nämlich, in dem das Seiende in die Unverborgenheit tritt und in dem so diese [die Unverborgenheit des Seienden bzw. des mit diesem identischen Seins] selber sich [Kursiv v. Verf.] vollzieht.«198
197
198
ZABOROWSKI/BÖSL [2003], 87. Die ethischen Implikationen sind offensichtlich weittragend. Alles Sein des Seienden – mithin alle Historie – soll sein, was beispielsweise jede Tyrannei einschließt. WEISCHEDEL [1998], 1, 464.
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Ebenso betont VAIL: »Being itself cannot be static and eternal, for the character of the ontological lies not in an inert state of light and clarity but rather in an ongoing, an opening of the illuminative clearing.«199
Im Zusammenhang der Erhellung kommender Philosopheme HEIDEGGERS wird wieder auf das Sein als reines Geschehnis zurückzukommen sein. Auf dem Fundament des Seins als reinem Geschehnis und der Seinsvergessenheit, die, wie gezeigt wurde, darin besteht, das »Sein selbst« nicht ausschließlich als Sein des Seienden zu denken, sondern als irgendwie selbständig über oder neben dem Seienden, werden weitere Gedanken HEIDEGGERS erst zugänglich. An dieser Stelle soll wieder auf folgende Implikation des Seins als reinem Geschehnis hingewiesen werden. So, wie bei HEIDEGGER das Sein selbst immer Sein des Seienden ist, so gibt es kein Geschehendes und dazu ein Geschehen, in welchem das Geschehende nicht restlos aufginge. Es gibt nur das Geschehnis. In diesem Sinne kann es auch keinen seinsvergessenen Unterschied zwischen Lichtung und Gelichtetem, Ereignis und Ereignetem, und Entbergung und Entborgenem geben. D.h. es kann keinen authentischen Unterschied gleich welcher Art zwischen Sein und Seiendem geben. Dasselbe muß freilich auch für die Wahrheit und Unverborgenheit und die ontologische »Differenz« etc. gelten, wenn anders HEIDEGGER die Seinsvergessenheit zu »verwinden« sucht. 1.10 Das Sein des Seienden als spontane Quelle aller Initiative bzw. Selbstvollzug In den vorausgegangenen Abschnitten wurde der Versuch unternommen, auf dem Fundament von HEIDEGGERS Verständnis der Seinsvergessenheit zu zeigen, wie HEIDEGGERS »Sein selbst« immer und notwendigerweise Sein des Seienden ist und wie für HEIDEGGER das Seiende als solches notwendigerweise dasselbe ist wie die Unverborgenheit des Seins. Zuletzt hat die Betrachtung des Seins als reines Geschehnis, Ereignis und als reine Entbergung und nichts außerdem zu einem vertieften Verständnis der 199
VAIL [1972], 114.
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Kapitel 1
restlos prozessualen Radikalität des »Selbst« in HEIDEGGERS gesuchtem »Sein selbst« geführt. Da HEIDEGGERS »Sein selbst« sich restlos als Prozess vollzieht, kann HEIDEGGER sagen, daß es »sich in die Unverborgenheit seiner selbst begibt.«200 Wenn dem aber so ist, dann ist das Sein sich selbst die Quelle »seiner eigensten Spontaneität« und aller »Initiative«, da, wie WEISCHEDEL korrekt betont, dieses »Ereignis« »sich von sich selbst her« »vollzieht«. »Mit der Kennzeichnung des Seins als Geschehen, als Ereignis und als Entbergung ist ausgesprochen, daß dem Sein im Ganzen des Prozesses des Unverborgenwerdens des Seienden die eigentliche Initiative zukommt. Nicht das Seiende, sondern das Sein inauguriert das Geschehen, in dem Seiendes ins Licht tritt; dieses Ereignis vollzieht sich von sich selber her, gleichsam aus seiner eigensten Spontaneität.«201
Es wird mithin verständlich, warum HEIDEGGER – ohne seinerseits der Seinsvergessenheit zu verfallen – sagen kann und muß: »Das Seiende kann als Seiendes nur sein, wenn es in das Gelichtete dieser Lichtung herein- und hinaussteht.«202
Das Seiende kann ja als Unverborgensein nichts anderes sein als das Geschehen der Unverborgenheit und d.h. als das Geschehnis des rein prozessualen Selbstvollzugs des Seins selbst. In diesem Sinne kann HEIDEGGER zu weiteren Formulierungen finden wie: »Jenes muß ins Offene kommen, was das Seiende im Ganzen trägt und durchherrscht. Das Sein muß eröffnet werden, damit das Seiende erscheine.«203
Ferner kann HEIDEGGER, wiederum gegen jedes mögliche seinsvergessene Verständnis dieses Wortes im Sinne des besagten Selbstvollzugs
200 201 202 203
N II, 358./GA 6.2, 323. WEISCHEDEL [1998], 1, 465. Hw, 40/41f./GA 5, 40. HD, 38./GA 4, 41.
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des Seins sagen, »das Seiende sei dank dem Sein und niemals das Sein dank dem Seienden.«204 1.11 Das Geschehnis des Seins des Seienden und die Seinsgeschichte als sich spontan wandelndes Selbstgeschick des Seins Mit »Metaphysik« meint HEIDEGGER nicht in erster Linie eine bestimmte Philosophie oder einen bestimmten Philosophen, sondern die Seinsverlassenheit überhaupt, die freilich in der eigens nach dem Sein fragenden Philosophie und deren Seinsvergessenheit eine besonders scharfe Kontur annehmen muß. Seinsvergessen ist für HEIDEGGER sowohl die antike, die mittelalterliche als auch die neuzeitliche Philosophie. Seinsvergessen ist daher jeder zu diesen Epochen gehörende Philosoph von »Anaximander bis Nietzsche«. Ja, die gesamte Weltgeschichte ist seinsvergessen. Die philosophische Seinsvergessenheit artikuliert diesen Zustand gleichsam ex professo. Wenn nun aber das Sein selbst immer Sein des Seienden ist und dieses reines Geschehen, dann ist alle Natur- und Weltgeschichte im allgemeinen und die Philosophiegeschichte im besonderen als Geschichte des Seienden schlechthin dasselbe wie die Geschichte des Seins selbst. In diesem Sinne kann und muß HEIDEGGER von einer »Seinsgeschichte« sprechen.205 Dies wird durch die Ablehnung einer Unterscheidung zwischen Geschehen und Geschehendem, Licht und Lichtung, Entbergung, Entbergendem und Entborgenem etc. kurzum durch das Verständnis des Seins als reinem Geschehnis oder Ereignis und nichts außerdem nachdrücklich zum Ausdruck gebracht. Folglich muß alle Metaphysik und d.h. alle Seinsvergessenheit vom Sein her als Geschehnisweise eines sich selbst verlassenden Seins verstanden werden. Die Seinsvergessenheit als Seinsverlassenheit oder das, wie WEISCHEDEL sich im Hinblick auf die Seinsverlassenheit ausdrückt, »gebrochene« Verhältnis der Metaphysik zum Sein ist das gebrochene Verhältnis des Seins zu sich selbst.206
204 205 206
N II, 338./GA 6.2, 304. Dabei bleibt freilich zu beachten, daß der Ausdruck »niemals« von HEIDEGGER nicht »metaphysisch« verstanden wird. N II, 489./GA 6.2, 447. WEISCHEDEL [1998], 1, 460.
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Kapitel 1 »Aristoteles sagt: Sein ist das von sich her Offenkundigere. Aber dieses von ihm selbst her Offenkundigere ist zugleich für uns, d.h. von der Art und Richtung unseres gewohnten Vernehmens her gesehen, das weniger Offenkundige. Für uns gilt als offenkundiger das jeweils Seiende. Also liegt es, möchte man meinen, nur an uns Menschen, daß das Sein, das von sich aus Offenkundigere, für uns das weniger Offenkundige ist und zwar zugunsten des Seienden. Daß das Sein weniger offenkundig ist, geht, so möchte man folgern, zulasten von uns Menschen. Aber diese anscheinend richtige Überlegung denkt zu kurz. Was heißt denn hier ‹zulasten von uns Menschen›, wenn das Wesen des Menschen darin beruht, daß es vom Sein beansprucht wird? Daß für uns das jeweilig Seiende das mehr Offenkundige ist und das Sein das weniger Offenkundige, dies kann nur am Wesen des Seins liegen, nicht an uns, ‹an uns› so gemeint, daß wir uns gleichsam für uns ins Leere und Bezuglose [der Ichheit, Person oder Subjektivität] stellen. Wir sind jedoch außerhalb des Anspruches des Seins niemals diejenigen, die wir sind. Demnach ist es nicht irgendeine Beschaffenheit des anthropologisch [d.h. personal oder als »Ichheit«] vorgestellten Menschen, die es verursacht, daß das Sein für uns weniger offenkundig ist als das jeweilig Seiende. Vielmehr liegt es im Wesen des Seins, das als das Sichentbergen sich so entbirgt, daß zu diesem Entbergen ein Sichverbergen und d.h. Sichentziehen gehört. Dies sagt der Spruch des Heraklit, den man als Fragment 123 zählt: fusij kruptesvai filei . ‹ Zum Sichentbergen gehört ein Sichverbergen›. Sein als lichtendes Sichzuschicken ist zugleich Entzug. Zum Geschick des Seins gehört der Entzug.«207 »Aber nicht oft genug [Kursiv v. Verf.] kann vor unseren inneren Blick gebracht werden, was hier Entzug besagt. So wenig wie das Sichentbergen die erst hinzukommende Beschaffenheit eines sonst bereits irgendwie [Kursiv v. Verf.] bestehenden ‹Seins› ist, so wenig gilt dies vom Entzug und Sichentziehen. Wäre dies eine Beschaffenheit des Seins, dann besagte dies: Durch den Entzug bleibt das Sein einfach weg. Es gäbe dann dem so verstandenen Entzug zufolge kein Sein. Man verstünde hier Entzug in einem Sinne, der ein Verfahren meint, durch das man z.B. einem Wein die Säure entzieht, damit er sie nicht mehr hat. Aber Sein ist kein Ding, das irgendwer uns wegnimmt und beseitigt, sondern das Sichentziehen ist die Weise, wie Sein west, d.h. als An-wesen sich zuschickt. Der Entzug bringt das Sein nicht auf die Seite, sondern das Sichentziehen gehört als Sichverbergen in die Eigenschaft des Seins [d.h. »in« das »Sein selbst« oder in das Eigenste des Seins selbst]. Sein wahrt sein Eigenes im Sichentbergen, insofern es sich als dieses zugleich
207
SvG, 121f./GA 10, 103.
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verbirgt. Das Sichverbergen, der Entzug, ist eine Weise, in der Sein als Sein währt, sich zuschickt, d.h. sich gewährt.«208
Und da der späte HEIDEGGER Metaphysik/Seinsvergessenheit mit Philosophie identifiziert, gilt: Philosophie ist allzumal die Geschichte des Seins selber und umgekehrt. Wer hier »Geschichte macht« ist nicht der Philosoph als denkende menschliche Person, vielmehr »schreibt« das Sein sich selbst als Geschichte, als diese und jene Epoche, als diese und jene denkenden »Personen«, denn es ist nur das Geschehnis oder Ereignis des Seins des Seienden und es ist nichts außerdem.209 Es ist insofern mißverständlich, davon zu sprechen, daß das Sein seine eigene Geschichte »in« diesen Epochen bzw. Denkern schreibt, da dies einen seinsvergessenen Unterschied zwischen Sein und Seiendem herbeiführt, insofern jenes in diesem ist, wie ein Streichholz in einer Schachtel oder, wie HEIDEGGER sich gerne ausdrückt, ein »Ding in einem Behältnis«.210 So sagt denn HEIDEGGER: »Die Geschichte des Seins ist darum kein abrollender Verlauf von Verwandlungen eines losgelöst für sich bestehenden Seins. Die Geschichte
208 209 210
SvG, 122./GA 10, 104. »Das Selbst ist nie ›Ich‹.« GA 65, 322. »Die Selbstheit ist ursprünglicher als jedes Ich und Du und Wir.« GA 65, 320. »Allein auch jetzt noch möchten wir einem weiteren Vorurteil huldigen und also meinen: gut, fusij ist das reine Aufgehen, in dessen Offenem und Lichten alles erscheint. Das Erscheinende sind dann Berg und Meer, Pflanze und Tier, Häuser und Menschen, Götter und Himmel, so nämlich, wie wir uns inzwischen dieses Seiende vorstellen. Wir lassen zwar die fusij in der gemäßen griechischen Bedeutung des reinen Aufgehens gelten, nehmen dieses jedoch wie ein riesiges, allumgreifendes Behältnis und packen in dieses Behältnis die von uns modern vorgestellten Dinge als die Seienden hinein. Aber jetzt verfehlen wir erst recht das Entscheidende: denn die fusij als das ständige Aufgehen ist nicht ein neutrales Behältnis, ein sogenanntes ›Umgreifendes‹, so, wie ein Lampenschirm über die Lampe übergreift, wobei die Lampe bleibt, was sie ist, ob sie der Schirm ›umgreift‹ und ›umdeckt‹ oder nicht. Das reine Aufgehen durchwaltet die Berge und das Meer, die Bäume und die Vögel; deren Sein selbst wird durch die fusij und als fusij bestimmt und nur so erfahren. Berge und Meer und jegliches Seiende bedarf nicht des ›Umgreifenden‹, weil es, sofern es ist, ›ist‹ in der Weise des Aufgehens.« GA 55, 102.
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Kapitel 1 des Seins ist kein gegenständlich vorstellbarer Prozeß, über den man ‹Seinsgeschichten› erzählen könnte.«211
Das Sein »rollt« demnach nicht »losgelöst« von der Geschichte des Seienden ab. Die Seinsgeschichte ist kein abrollender Verlauf eines für sich bestehenden Seins, weil dieses dann wieder zu einem Seienden »gegen« andere Seiende würde. Es kann daher auch nicht losgelöst als dessen Objekt »vor« irgendein Subjekt gestellt werden, welches dann – wie HEIDEGGER sich pointiert ausdrückt – im Stande wäre, »Seinsgeschichten« »über« dieses Objekt erzählen zu können. Daher gilt auch: »Die Seinsgeschichte ist weder die Geschichte des [anthropologisch vorgestellten] Menschen und eines Menschentums noch die Geschichte des menschlichen Bezugs zum Seienden und zum Sein. Die Seinsgeschichte ist das Sein selbst und nur dieses.«212
Wieder ist es WEISCHEDEL der den HEIDEGGERSCHEN Gedanken auf den Punkt bringt: »Das gilt in betontem Sinne. Es gibt nicht zunächst ein selbständiges Sein, das dann auch noch eine Geschichte hätte oder in eine Geschichte einginge. […]. Das Sein ist als seine Geschichte und es ist in keiner anderen Weise.«213
Und diese Geschichte des Seins ist nichts anderes als die Geschichte des Seienden, da das Sein immer Sein des Seienden sein muß. Um zu bekräftigen, daß das Sein immer Sein des Seienden ist, spricht HEIDEGGER vom Sein als reinem Geschehnis. Ähnlich im Fall der Seinsgeschichte. Um zu bekräftigen, daß diese Geschichte als die Geschichte des Seins selbst und der Selbstvollzug des Seins als spontan und initiatorisch gedacht werden muß, spricht HEIDEGGER auch vom »Geschick des Seins«,214 vom »Seinsgeschick«215 und vom »Geschick des Entbergens«:216 »Zum Ge211 212 213 214 215 216
SvG, 157./GA 10, 140. N II, 489./GA 6.2, 447. WEISCHEDEL [1998], 1, 468. M, 12./GA 9, 371. SvG, 150./GA 10, 131. VA, 32./GA 7, 29.
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schick kommt das Sein, indem es, das Sein, sich gibt.«217 Demnach ist das Seinsgeschick das sich als »Seiendes« rein prozessual vollziehende »Sein«. Das Seiende ist »dank dem Sein«,218 sofern dieses als jenes sein »Selbst« bzw. sein »Ereignis«, »Geschehnis«, seine »Unverborgenheit«, seine »Wahrheit«, sein »Wesen« ist. D.h., wenn das Sein sich als das Seiende »schickt«, dann gehört zu dieser Spontaneität, daß das Sein, insofern es sich in das Seiende begibt, nicht sich selbst in seinsvergessener Weise einem davon irgendwie distinkten Seienden zuschickt, sondern als Schickung seiner selbst identisch ist mit der Schickung und dem Geschick des Seienden. HEIDEGGER unterstreicht immer wieder, daß das Sein als Geschick »sich zuschickt«:219 »Daß […] die Lichtung als Wahrheit des Seins selbst […] sich ereignet, ist die Schickung des Seins selbst.«220
Das, was also im Sinne HEIDEGGERS eigentlich eine Geschichte hat, ist das, was sich als Geschichte »schickt«. Es geht folglich nicht um die Geschichte der Natur oder des Menschen im Unterschied etwa zum völlig ungeschichtlichen höchsten Seienden, sondern es geht das Sein selbst als Seiendes bzw. als Sein des Seienden, als Geschichte um, denn das Sein ist nur als das Seiende es selbst. HEIDEGGER muß folglich hervorheben: »Die Geschichte ist Geschichte des Seins.«221 HEIDEGGER bringt die Identität des
217 218 219 220
221
Hum, 27./GA 9, 335. »Das Sichgeben ins Offene mit diesem selbst ist das Sein selber.« Hum, 26./GA 9, 334. Vgl. Fußn. 204. SvG, 109./GA 10, 91. Hum, 24./GA 9, 332. Übrigens darf auch hier nicht Sein, Schickung und Lichtung irgendwie voneinander getrennt werden. HEIDEGGER will gerade nicht sagen, daß ein irgendwie subsistierendes Sein Licht verschickt an anderes subsistierendes Sein, um dieses etwa zu erleuchten oder zu beleuchten. Die obige Aussage muß auf dem Fundament der Selbigkeit von Sein/Geschehnis/Ereignis ganz buchstäblich genommen werden: Das Ereignis der Lichtung der Wahrheit des Seins selbst, ist die Schickung des Seins selbst und umgekehrt. Schickung, Ereignis, Geschehnis, Sein sagen dasselbe. Hinsichtlich des Seins als Lichtung muß gesagt werden: Der Leuchter, das Licht, das Leuchten und das Beleuchtete sind dasselbe. N II, 28./GA 6.2, 20. »Das Seyn verschenkt in der Wesung seiner Wahrheit das Wesen der Geschichte, die, solchen Wesens, seine Geschichte ist. […] Die Ge-
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Seins als Schickung seiner selbst und der Schickung und dem Geschick des Seienden in dem für ihn bezeichnenden Sprachgebrauch zum Ausdruck, wenn er sagt: »[…] die Geschichte des Seins […] ist die eigentlich seiende Geschichte […].«222 Und diese »Geschichte« ist »nach ihrer Wesensherkunft aus dem Geschick zu denken.« Im Hinblick auf mögliche Mißverständnisse seines Geschick- und Geschichtsverständnissen sagt HEIDEGGER in Die Technik und die Kehre: »Noch sind wir zu unerfahren und zu unbedacht, um das Wesen des Geschichtlichen aus Geschick und Schickung und Sichschicken zu denken. Noch sind wir zu leicht geneigt, weil gewohnt, das Geschickliche aus dem Geschehen und dieses als einen Ablauf von historisch feststellbaren Begebenheiten vorzustellen. Wir stellen die Geschichte in den Bereich des Geschehens, statt die Geschichte nach ihrer Wesensherkunft aus dem Geschick zu denken. Geschick aber ist wesenhaft Geschick des Seins, so zwar, daß das Sein selber sich schickt und je als ein Geschick west und demgemäß sich geschicklich wandelt.«223
M.a.W.: Das, was schickt, das, was geschickt wird und der »Ort«, »wohin« und der »Empfänger« der Schickung sind dasselbe! Dies nicht zu sehen heißt für HEIDEGGER, den Unterschied oder die Differenz des Seins als der Selbstscheidung des Seins versäumen. Die Geschichte als Geschick des Seins zu denken heißt, das Sein aus seiner eigensten Spontaneität heraus als sich je geschicklich und geschichtlich wandelnd zu denken. Dieser »geschickliche« Wandlungsgang des Seins des Seienden erhellt in HEIDEGGERS Augen nicht allein, aber in besonderer Weise aus dem, wie DESCARTES sich ausdrückt, bellum omnium contra omnes in der Philosophiegeschichte. All die verschiedenen Positionen, Konzeptionen und entgegengesetzten Philosopheme können in ihrer Unterschiedlichkeit und Gegensätzlichkeit nur als das so wesende »Selbst« des Seins des Seienden »ursprünglich« verstanden werden. So kommt es auch, daß HEIDEGGER
222
223
schichte ist erwest vom Seyn und das Seyn bringt sich in dieser Erwesung zu seiner Wahrheit.« GA 69, 96. N II, 385./GA 6.2, 349. D.h. sowohl, daß die eigentliche Geschichte die Geschichte des Seins des Seienden ist als auch, daß die Geschichte der Seienden, wenn das Seiende eigentlich gedacht wird, die Geschichte des Seins ist. In jedem anderen Fall verfiele HEIDEGGER selbst der Seinsvergessenheit. TudK, 38./GA 11, 115f.
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von einem »Wesenswandel der Wahrheit« spricht.224 Dabei ist die Wahrheit als eine Eigenschaft von »Sätzen« bzw. Urteilsinhalten als deren Trägern nur als äußerst sekundäres Phänomen zu verstehen. Vielmehr meint HEIDEGGERS Wahrheitsbegriff immer zunächst das Sein als »Wesen« d.h. »Autoperformanz« (JAHRAUS), welches seinerseits nichts anderes ist als verbergende Unverborgenheit und als solche Wahrheit und Geschehnis und Ereignis und Geschichte und Geschick und Wesen (verbal) und umgekehrt, und das als ein solches »Wesen« je der Wandlungsgang der seienden Geschichte als seiner eigenen Geschichte ist. So ist es nur konsequent, wenn HEIDEGGER auf der Grundlage des Seins als Geschick »alles Widerlegen« einer beliebigen philosophischen Position für »töricht« hält. Keine Widerlegung kann treffen, denn alles ist nichts anderes als das sich schickende Sein und eine beliebige Meinung nur scheinbar die eines »anthropologisch« vorgestellten Menschen als Person und Subjekt: »Was aus ihr [der Geschichte der Wahrheit des Seins] stammt, läßt sich nicht durch Widerlegungen treffen oder gar beseitigen. Es läßt sich nur aufnehmen, indem seine Wahrheit anfänglicher in das Sein selbst zurückgebogen und dem Bezirk einer bloß menschlichen Meinung entzogen wird. Alles Widerlegen im Felde des wesentlichen Denkens ist töricht. Der Streit zwischen den Denkern ist der ‹liebende Streit› der Sache selbst. Er verhilft ihnen wechselweise in die einfache Zugehörigkeit zum Selben, aus dem sie das Schickliche finden im Geschick des Seins.«225
Das »Selbst« des Seins vereinigt für HEIDEGGER in einem, wie er meint, sich ausdrücken zu müssen, »liebenden Streit« die gesamte Geschichte und insbesondere die Philosophiegeschichte im Ereignisgang des spontanen Selbstgeschehnisses des Seins. Die Wahrheit west (verbal), gemäß der sich spontan wandelnden Schickung des Seins selbst als diese »und nichts 224 225
N I, 174./GA 6.1, 150. S. dazu auch WEISCHEDEL [1998], 1, 467 Hum, 28./GA 9, 336. »[…] c) das ›Wieder‹ sagt: daß im Grunde eh und je dasselbe gedacht wird, und daß die wechselweise Unwiderlegbarkeit nicht die schlechthinnige Unvereinbarkeit meint, sondern nur das Anzeichen dafür, daß stets dasselbe gefragt ist; was aber zugleich jeden Ausgleich und jede Abschwächung ausschließt. d) das Gefragte – Wahrheit des Seyns – ist das Einfachste und dieses das Schärfste, was keine Abschwächung duldet, so daß die wesentliche Einheit der Denker gerade in ihrer gegenseitigen Unwiderlegbarkeit und Getrenntheit besteht.« GA 69, 14.
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außerdem«. Der Streit zwischen den Denkern ist mitnichten ein Streit zwischen den Meinungen verschiedener Personen. Von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Positionen ist mitnichten nur eine notwendigerweise wahr. Denn »es gibt Sein nur je und je in dieser und jener geschicklichen Prägung: Fusij, Logoj, En, Idea, Energeia, Substantialität, Objektivität, Subjektivität, Wille, Wille zur Macht, Wille zum Willen.«226
ANGEHRN betont: »Der Wandel der Theorien und Praxisformen ist nicht die Sukzession unterschiedlicher Weisen, die Welt zu beschreiben und zu gestalten, sondern variierender Formen der Selbstgestaltung, Selbstauslegung, Entbergung ›des Seins‹ selbst.«227
Daher gilt es »[…] mit der Verschiedenheit der Sache des Denkens zugleich die Verschiedenheit des Geschichtlichen im Gespräch mit der Geschichte der Philosophie ans Licht zu heben.«228
Da die »Sache des Denkens« die Selbigkeit oder das Geschehnis des Seins als Denkendes und Gedachtes meint, und das Geschichtliche nichts anderes ist als das Geschehnis des Seins selbst, bringt das »Gespräch« mit der Geschichte der Philosophie die gesuchte Differenz in die Sicht. »Die Auseinandersetzung der Denker verhandelt nicht kritisch darüber, ob das Gesagte richtig oder unrichtig ist, Ihre Auseinandersetzung ist die wechselseitige Aussprache darüber, inwiefern das Gedachte anfänglich gedacht ist und dem Anfang sich nähert, oder ob es sich von ihm entfernt, so zwar, daß es auch noch in der Entfernung wesentlich bleibt und im Grunde das Eine und das Selbe, was jeder Denker denkt. Die ›Originaliät‹ eines Denkers besteht darin, daß es ihm gegeben ist, in der höchsten
226 227 228
ID, 58./GA 11, 72f. Vgl. LANDOLT [1992b] 187. ANGEHRN [2003], 274, 2. ID, 36./GA 11, 56. Vgl. LANDOLT [1992b] 110.
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Reinheit das Selbe und nur das Selbe zu denken, was die früheren Denker ›auch schon‹ gedacht haben.«229
POISS sagt dazu: »HEIDEGGER hat in seine Philosophie das Wahrheitsgeschehen von Anfang an die Gefahr des Sichverrennens miteinbezogen und dafür auch gleich einen Persilschein ausgestellt: Die Größe des Irrtums rechtfertigt diesen. Die Kriterien, nach denen man die Irre beurteilen darf, sind eben nicht Richtig/Falsch –oder gar Unschuldig/Schuldig –, sondern ›Anfänglichkeit‹.«230
BRETSCHNEIDER meint: »Die Geschichte der Metaphysik als Geschichte des Nihilismus entläßt aus sich die verschiedenen Weisen, in denen die Wahrheit sich darstellt. Insofern diese Geschichte eine Geschichte des ausbleibenden Seins ist, sind die verschiedenen Wahrheitsbegriffe die Zeugnisse, die in ihrem Bezug zu dem Bereich, der ihnen zugrunde liegt, das Ausbleiben selber bezeugen und so den Nihilismus kundtun.«231
Die Verschiedenheit von wahr und falsch, schuldig und unschuldig, gut und böse, ist für HEIDEGGER ein bloßer Schein. Wahr und falsch können nicht verschieden sein, denn ihr »ist« ist das eine und einzige Sein. 1.12 Die Wahrheit des Wesens als Wesen der Wahrheit In Wegmarken findet sich ein Satz HEIDEGGERS, der nicht nur bei der ersten Lektüre sonderbar und befremdlich wirkt. Dieser Satz lautet: »Die Wahrheit des Wesens ist das Wesen der Wahrheit.«232 Die hier vorangegangenen Ausführungen erlauben es nun, diesen für HEIDEGGER sehr bedeutungsvollen Satz in dem von ihm gemeinten Sinn nachzuvollziehen. Es ist deutlich geworden, daß die Bezeichnungen »Wesen« und »Wahrheit« bei HEIDEGGER eine sehr eigentümliche Bedeutung haben. Das HEIDEGGERSCHE »Wesen« ist stets verbal im Sinne einer »Wesung« zu ver229 230 231 232
GA 55, 41. POISS [2003], 77. BRETSCHNEIDER [1965], 188. Wm, 96./GA 9, 201.
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stehen. Die HEIDEGGERSCHE »Wahrheit« ist stets im HEIDEGGERSCHEN Sinn der »Unverborgenheit« zu verstehen und diese als der rein prozessuale Selbstvollzug des Seins selbst. Da das Sein jedoch gleichfalls als nichts anderes west denn als Geschehnis und rein prozessualer Selbstvollzug, sind Wesen, Unverborgenheit und Sein nicht voneinander zu unterscheiden, denn sie alle thematisieren nichts anderes als das Sein als rein prozessualen Selbstvollzug. Wird der Satz »Die Wahrheit des Wesens ist das Wesen der Wahrheit« jetzt noch einmal ins Auge gefaßt, dann zeigt sich einerseits deutlich, warum HEIDEGGER eine so befremdliche Aussage treffen kann, andererseits aber tritt der befremdlich tautologische Charakter des damit Gemeinten zu Tage. Die Aussage »Die Wahrheit des Wesen ist das Wesen der Wahrheit« ist nämlich eine versteckte Tautologie so wie etwa das Urteil »Jeder Greis ist ein alter Mann« eine versteckte Tautologie darstellt. Löst man letztere auf, so ergibt sich »Jeder alte Mann ist ein alter Mann«. Diese Aussage stellt als Tautologie gewissermaßen einen »Zirkel« dar, insofern der Prädikatbegriff lediglich den Subjektbegriff analysiert. Löst man nun HEIDEGGERS Aussage auf, so ergibt sich: »Der Selbstvollzug des Selbstvollzuges ist der Selbstvollzug des Selbstvollzuges« oder »Das Prozessieren des Prozessierens ist das Prozessieren des Prozessierens« oder das »Wesen des Wesens ist das Wesen des Wesens« oder das »Sein des Seins ist das Sein des Seins«. Auch hier liegt ein »tautologischer Zirkel« vor. Wieder einmal stößt der Nachvollzug HEIDEGGERS auf befremdende Sonderbarkeiten. JAHRAUS widmet sich ebenfalls der sonderbaren Implikation von HEIDEGGERS Aussage. Obwohl sich JAHRAUS HEIDEGGERS Denken, soweit ersichtlich, durchaus verpflichtet fühlen dürfte, entfernt er sich von einer weitgehend wenig erhellenden Reproduktion des HEIDEGGERSCHEN »Sprachspiels«. Im Hinblick auf die »Wahrheit des Wesens als Wesen der Wahrheit« schreibt JAHRAUS: »Es gehört zur Eigentümlichkeit von Heideggers Denken, anstelle einer Entflechtung einer Problemstellung diese zusätzlich zu verschärfen. Er verbindet die Problemstellung [eines differenzlos zu denkenden Seins des Seienden bzw. einem differenzlos zu denkenden »Verhältnis« von Sein und Denken des Seins233] – in dem Aufsatz Vom Wesen der Wahrheit – mit dem Problem der Wahrheit, mit dem Begriff des ›Wesens‹, mit der 233
JAHRAUS [2004a], 205.
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Metaphysik und mit der ontisch-ontologischen Differenz. […] In diesem Rahmen geht es um das Wesen des Seins, und dieses Wesen muss zumindest, um nicht schon einer anfänglichen Vergegenständlichung des Seins anheimzufallen, prozessual gedacht werden. Das Wesen des Seins ist seine Prozessualität. Dies wiederum bestimmt HEIDEGGER als ›Wahrheit‹. Die Wahrheit des Seins ist sein Wesen, bzw.: Das Wesen des Seins ist Wahrheit. Umgekehrt wird aber damit auch Wahrheit als prozessuales Geschehen charakterisiert. So kann HEIDEGGER die Wahrheit des Wesens mit dem Wesen der Wahrheit gleichsetzen (WM 198). HEIDEGGER hat auch dieses Begriffspiel mit ›Wahrheit‹, ›Wesen‹ und ›Sein‹ so weit getrieben, dass alle diese Begriffe nahezu völlig unbestimmbar geworden sind, was durchaus ein erwünschter Effekt zu sein scheint. Gerade in dieser mangelnden Bestimmbarkeit erfolgt eine letzte Bestimmung dadurch, dass alle Begriffe sich zirkulär selbst bestimmen. Man könnte eine Formel angeben: ›x von y ist z‹ und die Variablen beliebig mit den Begriffen ›Wahrheit‹, ›Wesen‹ und ›Sein‹ füllen. Im Gegensatz dazu ist Vergegenständlichung, wie sie im Zuge der Erkenntnis sich als Vorstellen vollzieht, ›Unwesen […] , das menschliche Erkenntnis mit dem Wesen treibt‹ (WM 125).«234
JAHRAUS arbeitet hier eine Reihe für den Nachvollzug HEIDEGGERS wichtiger Punkte heraus. Er sieht zunächst, wie das »Wesen« des Seins bei HEIDEGGER reine Prozessualität ist, da es ansonsten vergegenständlicht und als Vergegenständlichtes zu einem Seienden – »neben« irgendwie anderen Seienden – würde. Entgegen dem ersten Anschein darf ja bereits hier »Wesen« nicht im Sinne der essentia oder eines Soseins gedeutet und dieses dann etwa im Unterschied zu existentia oder möglichen akzidentellen Bestimmungen und den damit verbundenen Vergegenständlichungen gesehen werden. Schon hier ist »Wesen« restlos verbal zu verstehen, da dem Nachvollzug ansonsten zu entgehen droht, daß dieses Wesen als »Wesung« des Seins nichts anderes ist als rein prozessualer Vollzug.235 Weiter unter234
235
JAHRAUS [2004a], 206f. »Es ist die Auslegung des »Selbst‹ der Gegnet als die ›andere‹ Seite der Gegnet selbst, d.h. des ›Selben ihrer selbst‹ (›[…] die Gegnet selbst und ihr Wesen können nicht zwei verschiedene Dinge sein. […] Das Selbst der Gegnet ist […] ihr Wesen und das Selbe ihrer selbst.‹) In der Geschichte des Denkens ist dies eine der kühnsten Formulierungen des Wesens des ›Seins‹, des Wesens der ›Wahrheit‹, auch wenn sie geschichtliche Herkunft hat, die nämlich aus der hegelschen Lehre von Sein und Nicht-sein.« LANDOLT [1992a], 39f. »Bisher verstanden wir das Wort ‹Wesen› in der geläufigen Bedeutung. In der Schulsprache der Philosophie heißt ‹Wesen› jenes, was etwas ist, lateinisch:
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streicht JAHRAUS, daß das »Wesen des Seins« als Prozessualität nichts anderes ist als HEIDEGGERS »Wahrheit«. In diesem Sinn besteht, JAHRAUS sieht dies mit aller Deutlichkeit, die »Wahrheit« des Seins in seinem »Wesen«, womit, um es anders auszudrücken, die »Wahrheit des Seins« und dessen Wesung verschwimmen. Demzufolge kann HEIDEGGER auch sagen, es sei das »Wesen des Seins« dessen »Wahrheit«, womit auch die Wahrheit als prozessuales Geschehen charakterisiert ist, da dieses nichts anderes ist als das »Wesen« bzw. die »Wesung«.236 Dieses »Begriffsspiel«, JAHRAUS wählt im Hinblick auf den gegebenen größeren Zusammenhang
236
quid. Die quidditas, die Washeit gibt Antwort auf die Frage nach dem Wesen. Was. z.B. allen Arten von Bäumen, der Eiche, Buche, Birke, Tanne, zukommt, ist das selbe Baumhafte. […] Ist nun das Wesen der Technik, das Ge-stell, die gemeinsame Gattung für alles Technische? […] Aber das Wort, das Ge-stell, meint jetzt kein Gerät oder irgendeine Art von Apparaturen. Es meint noch weniger den allgemeinen Begriff solcher Bestände. […] Das Ge-stell ist eine geschickhafte Weise des Entbergens, nämlich das herausfordernde. […] So ist denn das Ge-stell als ein Geschick der Entbergung zwar das Wesen der Technik, aber niemals Wesen im Sinne der Gattung und der essentia [Kursiv v. Verf.]. Beachten wir dies, dann trifft uns etwas Erstaunliches: die Technik ist es, die von uns verlangt, das, was man gewöhnlich unter ‹Wesen› versteht, in einem anderen Sinne zu denken. Aber in welchem? Schon wenn wir ‹Hauswesen›, ‹Staatswesen› sagen, meinen wir nicht das Allgemeine einer Gattung, sondern die Weise, wie Haus und Staat walten, sich verwalten, entfalten und verfallen [Kursiv v. Verf.]. […] Nun ist aber auf keine Weise jemals zu begründen, daß das Währende einzig und allein in dem beruhen soll, was Platon als die idea, Aristoteles als to ti hn einai (jenes, was jegliches je schon war), was die Metaphysik in den verschiedensten Auslegungen der essentia denkt. Alles Wesende währt, aber ist das Währende nur das Fortwährende? Währt das Wesen der Technik im Sinne des Fortwährens einer Idee, die über allem Technischen schwebt, so daß von hier aus der Anschein ertsteht, der Name ‹die Technik› meine ein mythisches Abstraktum? Wie die Technik west, läßt sich nur aus jenem Fortwähren ersehen, worin sich das Ge-stell als ein Geschick des Entbergens ereignet [Kursiv v. Verf.].« TudK, 29ff./GA 7, 30ff. »Das Wesen des Seins muß […] prozessual gedacht werden, und dies wiederum bestimmt HEIDEGGER als Wahrheit. Die Wahrheit des Seins ist sein Wesen, bzw.: Das Wesen des Seins ist Wahrheit. Umgekehrt wird aber damit auch Wahrheit als prozessuales Geschehen charakterisiert. Und so kann HEIDEGGER die ›Wahrheit des Wesens‹ mit dem ›Wesen der Wahrheit‹ gleichsetzen […]. Dagegen ist Vergegenständlichung, wie sie im Zuge der Erkenntnis sich als Vorstellen vollzieht, ›Unwesen […], das menschliche Erkenntnis mit allem Wesen treibt‹.« JAHRAUS [2004b], 698.
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gar den Ausdruck »sprachliche Manipulation«,237 wird »so weit getrieben«, daß »Wesen«, »Wahrheit« und »Sein«, wie JAHRAUS vermutet, erwünschtermaßen »nahezu unbestimmbar« geworden sind. Freilich ist nicht recht nachzuvollziehen, warum JAHRAUS sein Urteil über die Unbestimmbarkeit durch den Zusatz »nahezu« abmildert. Denn in HEIDEGGERS Augen vermag nur eine seinsvergessene Philosophie irgendeinen authentischen Unterschied zwischen Wesen, Wahrheit und Sein anzunehmen. Da aber »Wahrheit«, »Wesen« und »Sein« bei HEIDEGGER als solche unbestimmbar sind und sein müssen, kommt es auch hier zu einer totalen Konfundierung von der Art, wie sie bereits bei HEGEL vorliegt, wo das Sein und das Nichts kraft ihrer Unbestimmbarkeit zusammenfallen sollen. Aber gerade die obige mangelnde Bestimmbarkeit führt, wie JAHRAUS herauszuarbeiten weiß, zu einer letzten zirkulären Selbstbestimmung aller Begriffe. JAHRAUS’ Beobachung ausfaltend läßt sich sagen: In HEIDEGGERS Augen ist die »Bestimmung« des »Seins« das »Wesen« und die »Bestimmung« des »Wesens« das »Sein« und die »Bestimmung« des »Seins« die »Wahrheit« und die »Bestimmung« der »Wahrheit« das »Wesen« etc. Originellerweise spricht JAHRAUS abschließend von der Möglichkeit, eine Formel nach Art einer mathematischen Funktion oder Abbildung anzugeben, aber so, daß Wahrheit, Wesen und Sein nicht nur zu Variablen werden, sondern zu völlig variabel einsetzbaren Variablen. Ob es nun heißt »Wesen von Wahrheit ist Sein« oder »Sein von Wesen ist Wahrheit« oder »Wahrheit von Sein ist Wesen« ist völlig beliebig, da hier alles dasselbe sein soll. POISS macht ebenso wie JAHRAUS auf die Austauschbarkeit der vielen Grundbegriffe HEIDEGGERS aufmerksam, wenn er schreibt: »Wollte man all dies in eine Gleichung pressen, müßte diese lauten: Sein = physis = logos/Logos [sic] = Gott (oder auch nicht) = Blitz/Feuer – Streit bzw. Kampf (eris/polemos).«238
237 238
JAHRAUS [2004a], 206. POISS [2003], 65f. »Heidegger setzt jeweils das eine für das andere, also Nichts für Sein (und für Sein Anwesen) und umgekehrt, und betreibt so permanente Übersetzungen (Über-setzungen), also auch für Nichts jetzt Unverborgenheit , das Offene und die Lichtung. In die Reihe solcher Entsprechungen (Gleichungen) gehört auch noch Wahrheit im Sinne von Sein, von Nichts, von Unverborgenheit. […]. Derartig offensichtliche Entsprechungen, die Heideggers
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Damit müssen Urteile HEIDEGGERS wie »Das Sein lichtet sich«, »Das Sein ist Unverborgenheit«, »Das Sein ist Wahrheit«, »Das Sein ist Ereignis« etc. letztlich insofern als Tautologien verstanden werden, als immer nur vom Selben dasselbe gesagt wird. HEIDEGGER selbst betont: »Das Ereignis ereignet. Damit sagen wir vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe.«239
Auf diesem Hintergrund müssen auch die sonderbaren Verdichtungen gesehen werden, mit denen HEIDEGGER zuweilen meint, das Sein adäquat formulieren zu können. Auf die Frage, was das Ereignis sei, meint HEIDEGGER antworten zu müssen: »Das Ereignis ereignet.« Auf die Frage, was die Welt sei, meint HEIDEGGER antworten zu müssen »Die Welt weltet.«240 Auf die Frage, was das Sein sei, meint HEIDEGGER antworten zu müssen »Das Sein ist es selbst.« »Zu denken ist somit: esti ga r einai – ›anwest nämlich Anwesen‹. Eine neue Schwierigkeit erhebt sich: das ist eine offenbare Tautologie. In der Tat! Es ist eine echte Tautologie: nur einmal dasselbe nennt sie und zwar als es selbst. […] Anwesend: Anwesen selbst [Seiendes: Sein selbst].«241
Auf die Frage, was die Zeit sei, meint HEIDEGGER antworten zu müssen: »Die Zeit zeitigt«242, und auf die Frage, was das Ding sei, antwortet er: »Das Ding dingt.«243 »Vom Raum läßt sich sagen: der Raum räumt.«244 Mit all diesen Formulierungen soll zum Ausdruck gebracht werden, daß immer »nur vom Selben her auf das Selbe zu das Selbe« gesagt werden kann,
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Werk unübersehbar durchziehen und wesentliche Gestaltungsfaktoren darstellen, haben stets seinen großen Hauptgedanken, das Nichts, im Auge […]. ›[…] Es gehört zum Anwesen [Sein] [sic]. Sein und Nichts gibt es nicht nebeneinander. Eines verwendet sich für das Andere in einer Verwandtschaft, deren Wesensfülle wir noch kaum bedacht haben‹.« MAY [1989], 40. ZSD, 24./GA 14, 29. Vgl. SCHWEIDLER [1987]. 172. Vgl. GA 79, 77. VS, 135./GA 15, 397. Vgl. SINN [1990], 155ff. UzS, 213./GA 12, 201. Vgl. GA 79, 73. UzS, 213./GA 12, 201. Vgl. SINN [1990], 316ff.
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denn »Selbes im Selben wohnend liegt in ihm selbst«.245 Das gilt gerade auch dann, wenn verschiedene Worte zum Einsatz kommen sollten, wie in der bezeichnenden und konsequenten Formulierung »Das Seyn ist die Wahrheit als Lichtung des Ereignisses.«246 Dies kann bei HEIDEGGER kaum anders sein, denn grundsätzlich gilt ihm: »Sein: Nichts: Selbes.«247 Es muß, wie HEIDEGGER sagt, »durchaus anerkannt werden, daß die Tautologie die einzige Möglichkeit ist, das zu denken«, was das Sein des Seienden ist.248 »Das gewohnte Vorstellen [das Denken, das verschiedene Seiende als je identische voneinander unterscheidet] ärgert sich an solcher Rede, und dies mit Recht. Denn es bedarf, um sie zu verstehen, der denkenden Erfahrung dessen, was Identität heißt [es bedarf der Erfahrung dessen, das es neben der Identität des Seins selbst als absolutem und unbedingten Singular keine andere Identität geben kann, weil das Sein selbst das als ist, von dem im Seienden als Seienden die Rede ist].«249
Die mit allen Formulierungen HEIDEGGERS intendierte »Tautologie« ist in der Tat befremdlich und sonderbar. Aber auf der Grundlage des bisher Gesagten wird deutlich, warum HEIDEGGERS Philosophie eine derartig gigantische verborgene und zuweilen sogar offene »Tautologie« im Sinne einer Selbstentfaltung des Selben sein muß, derart, daß HEIDEGGERS gesamtes schriftstellerisches Werk als »Selbstausfaltung« dieser »verborgenen Tautologie« verstanden werden muß. Nie kommt etwas Neues hinzu, weil es das authentisch Andere bei HEIDEGGER gar nicht geben kann. Somit entpuppt sich der tautologische Charakter von HEIDEGGERS Philososphie als notwendige Folge seiner Ontologie, in der alles nichts weiter ist als eine Selbstauseinanderlegung ein und desselben und ein und dasselbe nichts weiter ist als seine eigene Selbstauseinanderlegung. Sie steht als solche aber als eine unter vielen anderen Befremdlichkeiten des HEIDEGGERSCHEN Denkens.
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»Dieser Vers ist selber eukukloj, überreich und überfließend; er sagt die vollkommene Tautologie in ihr selbst.« VS, 136./GA 15, 398. GA 67, 22. VS, 101./GA 15, 363. VS, 138./GA 15, 400. UzS, 213./GA 12, 201.
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1.13 Das Sein als reines Geschehnis und das Geschick des Seins als Erhellungsgrund für die Gebrochenheit der Metaphysik Eingangs wurde bereits deutlich, daß HEIDEGGER die Seinsvergessenheit nicht als einen Fehler verstanden wissen will. Das erscheint auf dem Hintergrund seiner oft hart anmutenden Aussagen, ja schon auf dem Hintergrund des Wortes »Seinsvergessenheit« sehr sonderbar zu sein. Denn seinsvergessen sind für HEIDEGGER zwar nicht nur, aber doch insbesondere die nach dem Sein fragenden Philosophen. Sie alle hätten trotz ihrer Fragen nach dem Sein ausnahmslos das Sein vergessen. Wie kann es sein, daß HEIDEGGER dies betontermaßen weder für einen »Mangel« und ein »Versäumnis« noch für einen »Fehler« und »vollends« nicht für einen »Irrtum« hält, sondern gar für »das reichste und weiteste Ereignis«.250 Die vom jetzigen Erörterungsstand gesehen entferntere, aber insgesamt letzte Antwort darauf lautet: HEIDEGGER sieht in der Seinsvergessenheit weder einen Mangel oder ein Versäumnis noch einen Fehler oder Irrtum, weil er das Sein aus der ontologischen Differenz, bzw. weil er das Sein als ontologische Differenz denkt und nichts außerdem.251 Allerdings soll jetzt noch nicht gesondert auf diese »geheimnisvolle« »Differenz« eingegangen werden. Vorab ist es nötig, HEIDEGGERS Verständnis der Seinsvergessenheit im Rahmen seines Verständnisses von Seinsgeschick und Seinsgeschichte eigens zu betrachten. Die zunächst näherliegende Antwort, die in diesem Abschnitt illustriert werden soll, lautet daher: HEIDEGGER sieht in der Seinsvergessenheit weder einen Mangel oder ein Versäumnis noch einen Fehler oder Irrtum, weil auch die Seinsvergessenheit, so wie 250 251
S. Fußn. Nr. 73. 76. »Die Seinsvergessenheit ist die Vergessenheit des Unterschiedes des Seins zum Seienden.« Hw, 364/336./GA 5, 364. »Wir sprechen von der Differenz zwischen Sein und dem Seienden. Der Schritt zurück geht vom Ungedachten, von der Differenz als solcher, in das zu-Denkende. Das ist die Vergessenheit der Differenz [gen. subj. Anm. v. Verf.] Die hier zu denkende Vergessenheit ist die von der lhvh (Verbergung) her gedachte Verhüllung der Differenz als solcher, welche Verhüllung ihrerseits sich anfänglich entzogen hat. Die Vergessenheit gehört zur Differenz, weil diese jener zugehört. Die Vergessenheit befällt nicht erst die Differenz nachträglich zufolge einer Vergeßlichkeit menschlichen Denkens. Die Differenz von Seiendem und Sein ist der Bezirk, innerhalb dessen die Metaphysik, das abendländische Denken im Ganzen seines Wesens das sein kann, was sie ist [nämlich Seinsvergessenheit].« ID, 40f./GA 11, 59f.
Das Sein Selbst in seiner Selbigkeit
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alles Geschehen des Seienden, das Geschehnis des Seins ist.252 Das Sein gerät somit insofern in eine höchste Einfachheit, als es sich in der Seinsvergessenheit selbst entgegensteht, durch solches Entgegenstehen jedoch keinesfalls eine Scheidung erfährt, die es zu einem irgendwie selbstidentischen Seienden neben anderen machte.253 Nicht einmal das so gedachte »Wesen« der Seinsvergessenheit verwundet die Selbigkeit des Seins des Seienden. HEIDEGGER sagt nun über die Seinsvergessenheit, daß sie, wie viele andere seiner Gedanken, mißverstanden werden kann, wenn man »nach der Gewohnheit« denkt und das »Vergessen« »auf menschliches Tun und Lassen« reduziert: »Nach der Gewohnheit nehmen wir Vergessen und Vergeßlichkeit ausschließlich als eine Unterlassung, die man häufig genug als einen Zustand des für sich vorgestellten Menschen antreffen kann. Von einer Bestimmung des Wesens der Vergessenheit bleiben wir noch weit entfernt. Doch wir geraten selbst dort, wo wir das Wesen der Vergessenheit in seiner Weite erblickt haben, allzu leicht in die Gefahr, das Vergessen nur als menschliches Tun und Lassen zu verstehen. Die Seinsvergessenheit hat man denn auch vielfach so vorgestellt, daß, um es im Bilde zu sagen, das Sein der Schirm ist, den die Vergeßlichkeit eines Philosophieprofessors irgendwo hat stehen lassen.«254
Bei der »Bestimmung des Wesens der Vergessenheit« geraten wir »leicht in die »Gefahr«, es als einen Zustand eines für sich, d.h. vom Sein 252
253
254
»Und sie kennt es [das Sein] nicht deshalb nicht, weil sie das Seyn selbst als Zudenkendes abwehrt, sondern weil das Sein selbst ausbleibt. Steht es so, dann kommt das ›ungedacht‹ nicht vom Denken, das etwas unterläßt.« GA 67, 219. S. N II, 353./GA 6.2, 318. »Wie sollen wir dies verstehen, daß das Seyn selbst ausbleibt? Etwa so, daß das Seyn selbst sich nach der Art eines Seienden irgendwo aufhält und dabei aus irgendwelchen Gründen, weil ihm vielleicht der Weg verlegt ist, nicht ankommt? […] Inzwischen wurde aber deutlicher: Das Seyn selbst west als die Unverborgenheit, in der das Seiende anwest. […] Es bleibt bei der Verborgenheit des Seyns selbst, so zwar, daß diese Verborgenheit selbst sich in sich selbst verbirgt. Das Ausbleiben des Seyns ist das Seyn selbst als dieses Ausbleiben. Das Seyn ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt zudem dann noch aus, sondern das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Seyn selbst.« GA 67, 219. Fast wörtlich dasselbe sagt HEIDEGGER in N II, 353f./GA 6.2, 319f. ZS, 34f./GA 9, 415.
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auf seinsvergessene Weise unterschiedenen Menschen zu denken. Dieser Mensch muß dann als »für sich Seiend« »vor-« und damit »gegen« das Sein »gestellt« werden. Dabei gilt es doch von der »fast unausrottbaren Gewöhnung, ›das Sein‹ wie ein für sich stehendes und dann auf den Menschen erst bisweilen zukommendes Gegenüber vorzustellen«, Abschied zu nehmen.255 Daher ist die Vergessenheit auch kein »menschliches Tun und Lassen«. Derart »entfernt« man sich »weit« von einem Verstehen der Vergessenheit. Denn alldergleichen seinsvergessene Zugänge machten, wie HEIDEGGER wieder pointiert sagt, das Sein letztlich zu einem »Schirm«, den ein »zerstreuter Philosophieprofessor« »irgendwo« stehen lassen kann, weil dieser etwas völlig von jenem Verschiedenes ist. Die Seinsvergessenheit ist vielmehr Geschick des Seins selbst und somit das Sein in seiner eigenen Vergessenheit. Das »Geschick des Seins« selbst hat sich »weltgeschichtlich als die abendländische Metaphysik entfaltet«,256 denn »diese Geschichte der Metaphysik ist als die Geschichte der Unverborgenheit des Seienden als solchen« und d.h. als die Geschichte der Seinsverlassenheit bzw. Seinsvergessenheit, »die Geschichte des Seins selbst.«257 Im vorausgegangenen Abschnitt ist deutlich geworden, inwiefern HEIDEGGER von einem Wesenswandel der Wahrheit/des Seins/der Unverborgenheit etc. spricht und sprechen muß. Im Hinblick auf die verschiedenen Formen der Seinsvergessenheit als Weisen des Seins selbst – sie entsprechen der Verschiedenheit der Philosophien von »ANAXIMANDER bis NIETZSCHE« – sagt HEIDEGGER denn auch, daß die Metaphysik als Geschichte des Seins immer wieder anders ›west‹ bzw. sich anders schickt:
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257
ZS, 30./GA 9, 411. Hw, 369/340./GA 5, 369. »Abendland« meint – daran sei noch einmal erinnert – bei HEIDEGGER nicht einfach den territorial und historisch betrachteten Okzident. Sondern das »Land«, in dem das Licht des Seins verdunkelt ist. D.h. für HEIDEGGER die gesamte bisherige und vielleicht auch künftige »technisch« dominierte Weltgeschichte. S. Fußn. 35. N II, 379./GA 6.2, 343.
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»In jeder Phase der Metaphysik wird jeweils ein Stück eines Weges sichtbar, den das Geschick des Seins in jähen Epochen der Wahrheit über das Seiende sich bahnt.«258
Freilich gehört zur Seinsvergessenheit, daß sich das Sein als sich schickende Metaphysik selbst vergißt. Es ist nicht so, daß das Sein, um sich selber wissend, sich lediglich vor anderen – etwa den Metaphysikern – »versteckt« und insofern von diesen absondert: »Es bleibt bei der Verborgenheit des Seins, so zwar, daß diese Verborgenheit sich in sich selbst verbirgt. Das Ausbleiben des Seins ist das Sein selbst als dieses Ausbleiben. Das Sein ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt überdies noch aus, sondern: Das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Sein selbst. Im Ausbleiben verhüllt sich dieses mit sich selbst. Dieser zu sich selbst entschwindende Schleier, als welcher das Sein selbst im Ausbleiben west, ist das Nichts als das Sein selbst.«259
Das Sein als Metaphysik bleibt als es selbst in sich selbst und vor sich selbst aus. Es, das Sein selbst, ist Ausbleiben seiner selbst. Das, was ausbleibt und dasjenige, dem ›gegenüber‹ das Ausbleibende ausbleibt und das Ausbleiben sind dasselbe. Es, das Sein selbst, ist Metaphysik und sich als Metaphysik selbst verborgen und unbekannt. »Das Sein selbst bleibt in der Metaphysik als solcher ungedacht. Dies sagt jetzt: das Sein selbst bleibt aus, als welches Ausbleiben das Sein selbst west.«260
HEIDEGGER wird nicht müde zu betonen, daß die Vergessenheit das Sein nicht befällt, d.h. »von außen« gleichsam auf es einstürzt, sondern wie HEIDEGGER sich ausdrückt, zu seinem »Wesen« gehört:
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Hw, 210/193./GA 5, 210. N II, 353f./GA 6.2, 319. Vgl. GA 67, 219. »Wenn von ‹Seinsgeschichte› gesprochen wird, dann hat diese Rede nur einen Sinn, wenn wir Geschichte aus dem Geschick als Entzug denken […].« SvG, 120./ GA 10, 101. N II, 354./GA 6.2, 319.
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Kapitel 1 »Indessen befällt die Vergessenheit als anscheinend von ihm Getrenntes nicht nur das Wesen des Seins. Sie gehört zur Sache des Seins selbst, waltet als Geschick seines Wesens.«261
HEIDEGGER wird ferner nicht müde, darauf hinzuweisen, daß der Metaphysik zweierlei unbekannt ist. Zum einen ihr eigentliches Wesen als Geschick und Geschehnis des Seins und zum anderen der selbstvergessende Charakter dieses Seinsgeschickes: »Darum bleibt für die Metaphysik und durch sie das verborgen, was in ihr und was als sie selbst eigentlich geschieht.«262
Der Metaphysik kann die Seinsvergessenheit in diesem doppelten Aspekt unmöglich zu Bewußtsein kommen, da ihre Vergessenheit das Ausbleiben oder die Vergessenheit des Seins selbst ist. Alles, was die Metaphysik ist, ist sie als Weise des Seins. Da es das Sein selbst ist, das sich als Seiendes verläßt und dann in der Kulturgeschichte vergißt, kann die Metaphyik, sofern darunter unbedarft und bloß die abendländische Philosophie und deren Philosophen verstanden werden, unmöglich von sich aus auf das Sein stoßen, da es das Subjekt eines solchen ›von sich aus‹ in HEIDEGGERS Augen gar nicht geben kann. Die Metaphysik kann sich gewissermaßen nicht nehmen, was sie nicht hat, und alles, was sie hat und ist, ist sie als Selbstverlassenheit und Selbstvergessenheit des Seins, außer dem nichts anderes ist. Aus dem »Sein selbst« her gedacht besagt die Seinsvergessenheit der Metaphysik in ihrem doppelten Aspekt: Das Sein ist sich selbst nicht bewußt, daß es sich zum einen als Metaphysik schickt, und sich dergestalt zum anderen »mit« sich selbst verhüllt, was wiederum heißt, daß es sich selbst als Verbergung seiner selbst unbekannt ist. Das Sein bleibt bei alledem aber durchaus spontan. Nur ist diese Spontaneität in HEIDEGGERS Augen nicht Ausdruck des Selbstbesitzes eines personalen Wesens. Auch die Spontaneität, oder um es in HEIDEGGERS Worten zu formulieren, das Geschickhafte des Seins muß aus der »Differenz« gedacht werden.
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ZS, 35./GA 9, 415. Hw, 217/200./GA 5, 217.
2. DAS SEIN SELBST IN SEINER DIFFERENZ 2.1 Die ontologische Differenz, was ist das? Aus dem oben Gesagten läßt sich nun nachvollziehen, was die ontologische Differenz für HEIDEGGER ist. Sie ist das »Sein selbst«, dessen »Selbigkeit« darin besteht, in sich als es selbst »Verschiedenheit« zu sein, oder besser: dessen »Selbigkeit« sich als rein prozessuales Geschehen ihrer »Nichtselbigkeit« autoperformiert. Das einzige Selbst, das es gibt, das »Sein selbst«, west nur, lichtet sich nur, ereignet sich nur, trägt sich nur aus, entbirgt sich nur, performiert sich selbst nur als ein sich als Weltgeschichte des Seienden, genauer Geschichte alles Seienden als solchen auseinanderlegendes Sein, welches aber im Unterschied zu HEGEL nicht mit Notwendigkeit auf wenigstens einen Moment absoluter Erkenntnis und Einigkeit zusteuert. Das Sein selbst ist geschichtlich, weil es für HEIDEGGER nichts anderes ist als die Geschichte des eigenen Nichtseins als Seiendes. Ja, in HEIDEGGERS Augen ist das Sein nichts anderes als geschichtlicher Selbstvollzug des eigenen Nichtseins als Seiendes und die Geschichte ist daher nichts anderes als ein weiterer Name für die ontologische Differenz. Deshalb nennt, wie BOHRMANN deutlich zu zeigen weiß, HEIDEGGER die Lichtung, das Sein, oder, was dasselbe ist, das Ereignis, die »Aus-einander-setzung«,263 »denn es gibt für Heidegger«, wie LANDOLT betont, »nur ein Sein […]: das Sein des Seienden.«264 »Immer noch auf die Differenz blickend […] können wir sagen: Sein des Seienden heißt: Sein, welches das Seiende ist.«265 »Der Unterschied von Sein und Seiendem oder kurz: das Sein des Seienden […].«266
Oder noch kürzer: das »Sein selbst«.
263 264 265 266
BOHRMANN [1983], 31. LANDOLT [1992a], 31. ID, 56./GA 11, 70f. Vgl. LANDOLT [1992b], 113. GA 29/30, 518.
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Kapitel 2 »Ihr [der Differenz] gemäß west ein Seiendes im Sein [d.h. im »Wesen«, welches als einziges west] , und Sein west als Sein eines Seienden.«267 »Aus diesem dem Sichentbergen, und als dieses [!] spricht sich uns zu, was ‹Sein› heißt.«268
Deshalb ist das »Sein selbst« als »Sein des Seienden« ein Sein, welches sein Selbst dann und nur dann »wahrt«, wenn es als Seiendes »nicht« es selbst ist, denn, so betont HEIDEGGER: »Im Selben erscheint die Verschiedenheit«.269 Abermals muß hervorgehoben werden, daß »Lichtung«, »Entbergung«, »Sein«, »Physis«, »Welt«, »Zwiefalt«, »Differenz«, »Logos« etc. für HEIDEGGER ein und dasselbe sind und just auf dem Hintergrund seines Verständnisses von Seinsverlassenheit bzw. Seinsvergessenheit bzw. der »Verwechslung« von Sein und Seiendem »durch« die Metaphysik, nichts anderes sein können als dasselbe! Das Sein ist als Differenz rein prozessuale »Selbstauseinanderlegung« als das rein prozessual zu denkende Seiende bzw. Sein des Seienden. M.a.W.: »Sein«, »Seiendes« und »Differenz« dürfen nicht wieder in seinsvergessener Weise voneinander unterschieden werden. Sein und Seiendes bilden eine »Zwiefalt«, weil das Sein als Seiendes Differenz ist, d.h. als Identiät oder insofern es identisch ist, Nichtidentität bzw. nicht-identisch ist. Hier wird, wie HEIDEGGER abermals das Wort »zusammengehören«, es im Sinne von »identifizieren« gebrauchend, sagt: »Die Zusammengehörigkeit von Identität und Differenz […] als das zu Denkende gezeigt.«270 Für HEIDEGGER muß die Identität des Seins als solche paradoxerweise immer ein »Zusammengehören« sein, d.h. diese Identität kann in HEIDEGGERS Augen nur sein, wenn sie als solche Nicht-Identität ist. »Zusammengehören« kann für HEIDEGGER auf keinen Fall besagen, daß zwei distinkte Identitäten in eine Relation treten und so aufgrund ihrer Verschiedenheit überhaupt von einem Zusammengehören die Rede sein kann, wie es die herkömmliche Bedeutung des Wortes ja nahelegt,271 weil das »Zusammen« in »Zusammengehören« 267 268 269 270 271
WD, 134./GA 8, 225. Vgl. WEISCHEDEL [1998], 1, 464. SvG, 121./GA 10, 102. Vgl. SCHWEIDLER [1987], 166. ID, 35./GA 11, 55. ID, 8./GA 11, 29. »Das vorwaltende Zusammengehören von Mensch und Sein verkennen wir hartnäckig, solange wir alles nur in Ordnungen und Vermittlungen, sei es mit
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119
»mehr und anderes meint als das Aneinanderschweißen von zwei sonst getrennten Stücken.«272 HEIDEGGER betont in einer für ihn bezeichnenden Ausdrucksweise die »in sich bleibende Entfaltung der Innigkeit des Seyns selbst« und nennt diese die »Zerklüftung« des Seins.273 TRAWNY sieht treffend, wie buchstäblich auch HEIDEGGERS Rede vom »Grundriß« im Bau der Metaphysik verstanden werden muß: »Der Philosoph spricht daher einfach von einer ›Differenz als Differenz‹. Sie sei ›der Grundriß im Bau der Metaphysik‹, ohne doch von dieser als sie selbst gedacht werden zu können. Mit der Freilegung dieses ›Grundrisses‹ hat die ›Überwindung der Metaphysik‹ ihren leitenden Gedanken gefunden. […] das Wort ›Grundriß‹ hat noch eine […] , sozusagen ›wörtlichere‹ Bedeutung. Der ›Grund‹ des ›Seins‹, auf dem wir als Dasein existieren müssen, wird von einem ›Riss‹ charakterisiert – oder der ›Grund‹ ist ein ›Riss‹. […] Diese Differenz ist der Identität nicht mehr unterzuordnen – was die Tradition der europäischen Philosophie stets versuchte –, sondern ist, insofern es überhaupt ›Seiendes‹ gibt, bei allen, […] im Spiel. Wollte man den ›Riss‹ im ›Grund‹ verschwinden lassen, würde man den ›Grundriß‹ der gesamten Geschichte der Philosophie vernichten müssen.«274
Die »Innigkeit des Seyns«, das ist das »Seyn selbst«. Diese Innigkeit oder das Seyn entfaltet sich so, daß die Entfaltung »in sich bleibt«, d.h. in der Innigkeit des Seyns und d.h. die Entfaltung vollzieht sich so, daß keine wie auch immer differenten oder distinkten Selbstidentitäten hervorgebracht werden, sondern es »zerklüftet« sich hier das Seyn selbst als Seiendes und »bleibt« nur als Zerklüftetes es selbst. Das Seiende ist das Sein, weil sich dieses als eine Art Selbstteilung oder besser als ein Auseinanderreißen seiner selbst autoperformieren muß. Es gilt, wie HEIDEGGER immer und immer wieder, wenn auch unter Verwendung unterschiedlich-
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oder ohne Dialektik vorstellen. Wir finden dann immer nur Verknüpfungen, die entweder vom Sein oder vom Menschen her geknüpft sind und das Zusammengehören von Mensch und Sein als Verflechtung darstellen. Wir kehren noch nicht in das Zusammengehören ein. Wie aber kommt es zu einer solchen Einkehr? Dadurch, daß wir uns von der Haltung des vorstellenden Denkens absetzen« ID, 19f./GA 11, 40f. Vgl. ID, 20f./GA 11, 41f. SvG, 175./GA 10, 157. GA 65, 244. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 79. TRAWNY [2003] , 86.
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Kapitel 2
ster sprachlicher Wendungen, unterstreicht, »den Unterschied […] als das Seyn selbst zu denken und in ihm das Seyende des Seyns.«275 »Wir haben gesehen, daß dieser Unterschied nie vorhanden ist, sondern daß das, was er meint, geschieht. […] wagen wir den wesentlichen Schritt, uns in das Geschehen dieses Unterscheidens, in dem er geschieht, zu versetzen […].«276
Die von HEIDEGGER mit der »Differenz« oder »Zerklüftung« oder dem »Grundriß« des Seins/Seyns gedachte Nichtidentität liegt nicht »zwischen« wenigstens zwei je selbst identischen, sondern ist als Nichtidentität das Selbst des einzigen Selbst, des Seins selbst, d.h. der einzigen »Identität« überhaupt. Das geheimnisvolle Sein selbst soll nach HEIDEGGER diese identische Nichtidentität sein. Anders ausgedrückt: Die Nichtidentität ist die Identität des Seins, und die Identität des Seins west oder vollzieht sich selbst oder prozessiert unausgesetzt als Nichtidentität. Daher ist das Sein als Nicht-Sein das Seiende und das Seiende als Nicht-Seiendes das Sein. Das Nichts des Seins ist das Seiende, und das Nichts des Seienden ist das Sein, da das Sein nur ist, wenn es das Nichts bzw. Nicht-Sein ist bzw. das Seiende, und es ist das Seiende nur, wenn es Nichts bzw. Nicht-Seiendes bzw. das »Sein selbst«, d.h. »ontologische Differenz« ist. »Das Nichts ist das Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene Sein.«277 »Das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Sein selbst [als das Seiende]. Im Ausbleiben verhüllt sich dieses [das Sein] mit sich selbst [als Seiendes]. Dieser zu sich selbst entschwindende Schleier, als welcher das Sein selbst im Ausbleiben west, ist das Nichts als das Sein selbst.«278
Bei HEIDEGGER sind also das Sein und das Nichts identisch, weil das Sein eine nichtidentische Identität sein soll. BRETSCHNEIDER sieht diesen 275
276 277 278
Und damit, wie es im unmittelbaren Anschluß heißt, gerade »nicht mehr als Sein von Seiendem.« GA 9, 134. Vgl. auch GA 67, 68. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 76 GA 29/30, 524. WG, 5./GA 9, 123. N II, 353f./GA 6.2, 319. Vgl. GA 67, 219.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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Zusammenhang zwischen dem Sein des Seienden und dem Nichts, wenn er schreibt: »Für ein Denken an die Wahrheit des Seins bleibt das Nichts der verborgene Grund, der dem Seienden die Möglichkeiten seines Seins schenkt, der diesem die Ermöglichung eines Offenbarwerdens und den Bereich einer verstehenden Bewahrung eröffnet. Für ein Denken aus der Wahrheit des Seins ist das Nichts die Wahrheit des Seins selbst. Das Nichts west als das Sein, als das Geheimnis des Seienden [Kursiv v. Verf.], das diesem Grund und Ermöglichung seines Bestehens verleiht.«279
Freilich ist auch das »Seiende« im Sinne HEIDEGGERS, d.h. das nicht seinsverlassene Seiende nicht als das Differente zu bestimmen, d.h. als Nebeneinander einer Vielzahl von Selbstidentitäten, oder um mit HEIDEGGER zu sprechen, als das Nebeneinander einer Vielzahl von »Einerlei« und »faden Leeren«. Vielmehr besteht die Differenz der Seienden nicht darin, daß sie je distinkte sind oder differente, sondern darin, daß sie alle das Selbe bzw. identisch sind, weil sie alle das einzige Sein sind, außer dem nichts ist. Daran ändert auch die Differenz, in welcher das Sein als es selbst ja bestehen soll, nichts. Denn gerade weil das Sein nichts anderes ist als Differenz, ist es selbst immer schon alle Andersheit und weil es selbst immer schon alle Andersheit ist, deshalb ist jeder authentische Unterschied zwischen welchen Gegebenheiten auch immer ausgeschlossen. Für den Nachvollzug des HEIDEGGERSCHEN Seinsbegriffes und den Nachvollzug seiner Texte ist es entscheidend zu sehen, daß und wie bezeichnend paradoxerweise der Unterschied der ontologischen Differenz alles identifiziert und so konfundiert, und daß in HEIDEGGERS Augen Nichtunterscheiden oder Verwechseln der seinsverlassenen Metaphysik nichts anderes ist als deren Unterscheiden. Was auch immer man von HEIDEGGERS verwirrenden und »orakelhaften« Sprachgebrauch halten mag, so stehen und liegen die Dinge bei ihm. Erst wenn diese sonderbare Denkfigur gesehen wird, erschließt sich die eigentliche Intention des HEIDEGGERSCHEN Denkens. Die Differenz läßt sich auch so formulieren: Das Sein ist nur es selbst, wenn es als dieses »es selbst«, selbst das Andere seiner selbst ist. Und das
279
BRETSCHNEIDER [1965], 163.
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Kapitel 2
Andere ist nur das Andere, wenn es als Anderes dasselbe ist wie das, dessen Anderes es ist. HEIDEGGER unterstreicht: »Das Sein ist als solches ein Anderes als es selbst, so entschieden ein Anderes, daß es nicht einmal ›ist‹.«280
Das Sein ist um es selbst sein zu können völlig darauf angewiesen, als Seiendes nicht es selbst zu sein. Es ist so entschieden ein Anderes seiner selbst, daß es als Sein das Nichts ist oder, wie HEIDEGGER sagt, »nicht einmal ›ist‹«. »Nur weil das Seyn nichthaft west, hat es zu seinem Anderen das Nichtsein. Denn dieses Andere ist das Andere seiner selbst. Als nichthaftes wesend ermöglicht und erzwingt es zugleich [als »es selbst«] Andersheit.«281
Deshalb hebt BOHRMANN treffend hervor: »Bei Heidegger trägt eine Sache seines Denkens [das Sein selbst] immer sein anderes in sich, bzw. mit seinem ihm anderen ist eine Sache erst sie selbst. […] Neben der Lichtung [dem Sein selbst] gibt es nicht noch eine Nicht-Lichtung, in der sie enthalten wäre, in der Lichtung allein entscheidet sich das Lichten oder Nicht-Lichten, das Entbergen oder das Verbergen.«282
HEIDEGGER selbst betont: »Das Nichts […] gibt nicht den Gegenbegriff zum Seienden her, sondern gehört ursprünglich zum Wesen [im verbalen Sinn als Selbstvollzug]
280 281
282
N II, 354f./GA 6.2, 320. A 65, 267. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 113. »Von irgend einem Seienden her das Seyn abheben wollen, ist unmöglich, zumal ›irgend ein Seiendes‹, wenn es nur als Wahres erfahren wird, je schon das Andere seiner selbst ist, nicht etwa irgend ein Anderes als dessen zugehöriges Gegenteil, sondern das Andere meint jenes, was als Bergung der Wahrheit des Seins Seiendes ein Seiendes sein läßt.« GA 65, 264. BOHRMANN [1983], 30.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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selbst. Im Sein des Seienden geschieht das Nichtsen des Nichts [des Seins selbst].«283
Es ist wichtig zu sehen, warum HEIDEGGER sagen kann, daß das Nichts nicht den Gegenbegriff zum Seienden hergibt. Das Seiende ist ja für HEIDEGGER nichts anderes als das Nichts des Seins und als Nichts des Seins ist das Sein selbst, da das Sein Sein des Seienden sein muß. HEIDEGGER wäre aber auch im Stande zu sagen, daß das Nichts den Gegenbegriff zum Seienden hergibt, denn das Nichtsein des Seienden ist das Sein. Die durch die ontologische Differenz bezeichnete identische Nichtidentität erlaubt und »erzwingt«, wie HEIDEGGER meint, in ihm die Überzeugung vom wechselseitigen Einschluß von Sein und Nichts und entsprechend gestaltet sich HEIDEGGERS Sprache. HEIDEGGER, der in sich das Sein sich ahnen sieht, fragt: »Ahnen wir, wie das Wesende des jetzt zu denkenden Nichts von der leeren Nichtigkeit unendlich veschieden bleibt?«284
Das Sein und das Seiende weisen, wie ANGEHRN sich im Hinblick auf HEIDEGGER ausdrückt, ineinander als »in ihr Eigenes«, d.h. sie müssen je in das Andere ihrer selbst gewiesen werden, weil sie nur so sie selbst sind bzw. nur so der absolute Singular des Seins sind. AUGSBERG betont: »Das Sein und das Seiende – der Satz klingt nun in einer anderen Tonart. Nicht länger nennt das ›Und‹ das Separierende, sondern Sein und Seiendes je in ihr Eigenes weisend sowohl Scheidende wie Verbindende; es zeigt in die herauszustellende ›Einheit‹ der Unterscheidung (vgl. GA 9, 134a) […] als ›Innigkeit des Seienden und des Seyns‹ (GA 65, 46). Lag metaphysisch (un-)gedacht der Unterschied zwischen […] der Seiendheit qua eigentlich Seiendem, und dem […] Seienden […] intendiert seinsgeschichtliches Denken die Überwindung dieses cwrismoj, der ebenso statischen wie scheinhaften Differenz: ›nicht indem es zwischen dem Seyn (der Seiendheit) und dem Seienden als gleichsam vorhandenen Ufern eine Brücke schlägt, sondern indem es das Seyn und das Seiende
283 284
M, 32./GA 9, 115. N II, 354./GA 6.2, 319.
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Kapitel 2 zugleich in ihre Gleichzeitigkeit [Kursiv v. ANGEHRN] verwandelt (GA 65, 14).‹«285
Die »ontologische Differenz« ist, – im Gegensatz zu jeder von AUGSBERG so bezeichneten »scheinhaften Differenz« – um mit HEIDEGGERS eigenen Worten zu sprechen, nicht eine »Brücke« oder ein »Steg«, der zwei einander gegenüber liegende je mit sich identische und so voneinander unterschiedene »Ufer« verbindet.286 Daher ist, anders gewendet, die »Kluft« kein »Spalt« der zwei gegenüber liegende je identische Klippen trennt.287 So sieht es nur die Metaphysik, wobei die eine Klippe etwa Gott und die andere die Abstraktion des ens commune mitsamt der es fundierenden Mehrzahl von Selbstidentitäten ist. Deshalb bedeutet das Denken des »Unterschieds« zwischen Sein und Seiendem nicht einmal das Denken einer wie auch immer kleinen Mehrzahl von Selbstidentitäten oder distinkten oder differenten Gegebenheiten gleich welcher Art. In diesem Fall würden zwei Differente gedacht und just dadurch die »Differenz« versäumt, deren »zwischen« in HEIDEGGERS Augen niemals zwei Differente voneinander trennt, sondern für HEIDEGGER gerade als Differenz des Seins des Seienden alles identifiziert und so konfundiert. In der Meta285 286
287
AUGSBERG [2003], 108. »Das ist im Bilde gesprochen und legt die Vorstellung nahe, als lägen und ständen Seiendes und Sein auf verschiedenen Ufern eines Stromes, den wir nicht benennen und vielleicht niemals benennen können. Denn worauf sollen wir uns dabei stützen, was soll, im Bilde verbleibend, noch als Strom zwischen dem Seienden und dem Sein strömen, was weder Seiendes ist noch zum Sein gehört? Doch lassen wir uns durch keine Unverläßlichkeit der ›Bilder‹ von dem Erfahren dessen abhalten, was wir die Unterscheidung nennen [Kursiv v. Verf.].« N II, 246./GA 6.2, 220. »Wir sagten, die Unterscheidung sei der Steg, der uns überall in allem Verhalten und standig in jeglicher Haltung vom Seienden zum Sein und vom Sein zum Seienden führte. Das ist im Bilde gesprochen und legt die Vorstellung nahe, als lägen und stünden Seiendes und Sein auf verschiedenen Ufern eines Stromes, der wir gar nicht benennen und vielleicht, im Bilde verbleibend, niemals benennen können. Denn worauf sollten wir uns dabei stützen, was soll noch als Strom zwischen dem Seienden und dem Sein strömen, was weder Seiendes ist noch zum Sein gehört?« GA 48, 322. HEIDEGGER spricht diesbezüglich auch vom Sein als »Fuge«: »Die Fuge nennen wir das Seyn, worin alles Seiende west.« GA 52, 100. Wichtig ist hier: Die Fuge liegt nicht zwischen Sein und Seiendem. Vielmehr ist das Sein als Sein des Seienden selbst die Fuge, womit Sein und Seiendes restlos konfundiert werden.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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physik bleibt man angeblich am Schein oder »Schleier« des vermeintlich Differenten »kleben« und sieht nicht, daß alles vermeintlich Differente lediglich die Weise der Selbstartikulation »des Unterschieds schlechthin«, der ontologischen Differenz, d.h. des »Seins selbst« ist. Im Hinblick auf das ens commune der Metaphysik sagt HEIDEGGER daher: »Insofern die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen denkt, stellt sie das Seiende aus dem Hinblick auf das Differente der Differenz vor, ohne auf die Differenz als Differenz zu achten.«288
In der Metaphysik als abendländischer Philosophie vollendet sich die Seinsverlassenheit, insofern das Sein selbst als denkendes seiner eigenen Selbstverlassenheit als Seiendes verfällt und sich nun auch denkend nicht von der eigenen Verlassenheit als Seiendes lösen kann. Sie stellt in HEIDEGGERS Augen »das Seiende aus dem Hinblick auf das Differente der Differenz vor«, d.h. sie nimmt die mit den Seienden zum Ausdruck kommende Nichtidentität als Nichtidentität je mit sich identischer Seiender und vermag nicht auf die Differenz als Differenz zu achten, d.h. die mit den Seienden gegebene Nichtidentität als Nichtidentität des identischen Seins selbst aufzufassen. Diese Seinsvergessenheit führt dann zum Denken eines weiteren Seienden, nämlich Gott, gerade weil dieser als das ipsissimum ens aufgefaßt wird. »Das Differente zeigt sich als das Sein des Seienden im Allgemeinen und als das Sein des Seienden im Höchsten.«289
So unterscheidet denn die Metaphysik, weil sich ihr der Unterschied, wie HEIDEGGERS ihn versteht, nicht auftut, unausgesetzt und »verwechselt« durch dieses Unterscheiden Sein und Seiendes, weil sich ihr das Sein selbst als der absolute Singular in der unbedingten Singularität nicht auftut. JAHRAUS bemerkt treffend: »Das Problem [der Metaphysik] besteht aber nicht eigentlich in der Differenz, sondern darin, dass das Differenzierte für die Differenz selbst 288 289
ID, 62f./GA 11, 76. Vgl. LANDOLT [1992b], 120. ID, 63./GA 11, 76. Vgl. LANDOLT [1992b], 120.
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Kapitel 2 genommen wird. Metaphysik führt die Differenz auf das Differenzierte zurück, sieht die Differenz nicht als solche, sondern immer nur im Differen(zier)ten. Demgegenüber will HEIDEGGER die Differenz als Differenz denken.«290 »Der metaphysische Sündenfall findet nun überall dort statt, wo es solche Differenzierungen im Zuge einer Bestimmung gibt. Überall dort, wo es zu einer Zweiteilung kommt, die konstitutiv für das in ihr Aufgeteilte wird, wirkt Metaphysik.«291
Aber die »Differenz« selbst verweigert sich jeder Vielheit von je mit sich selbst identischen und damit nebeneinanderliegenden Bestimmungen. Vielmehr besteht die Bestimmung des Seins gegen alle metaphysischen »Abschnürungen« im Sein, dessen »Bestimmung« als es selbst das Seiende ist. Demensprechend formuliert JAHRAUS: »Die ontisch-ontologische Differenz ist damit nichts anderes als der Ausdruck der Bestimmung des Seins durch das Seiende.«292
Die ontologsiche Differenz ist das Sein, insofern es nichts anderes ist als das Sein des Seienden. HEIDEGGER betont, daß die Differenz keine »Zutat« ist. In diesem Fall würde die Differenz, d.h. das »Sein des Seienden« selbst wieder der Seinsvergessenheit verfallen, weil sie als »Zutat« einer Brücke zwischen zwei Ufern oder einem Spalt zwischen zwei Klippen gleicht und damit das Sein und das Seiende irgendwie zu distinkten Gegebenheiten machen würde. Im Hinblick auf solche Seinsvergessenheit muß HEIDEGGER betonen: »Wir treffen dort, wohin wir die Differenz als angebliche Zutat erst mitbringen sollen, immer schon Seiendes und Sein in ihrer Differenz an. Es ist hier wie im Grimmschen Märchen vom Hasen und Igel: Ick bünn all hier.«293
Man kann die Differenz, wie HEIDEGGER unausgesetzt zu betonen weiß, nicht zum Sein »hinzutun«, denn das Sein ist das Sein des Seienden, d.h. es 290 291 292 293
JAHRAUS [2004a], 195. JAHRAUS [2004a], 195. JAHRAUS [2004a], 192. ID, 54./GA 11, 69. Vgl. LANDOLT [1992b] 152.
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ist als solches immer schon die Differenz. Man kann die Differenz auch nicht zum Seienden hinzutun, denn dieses ist das Seiende des Seins, d.h. es ist als solches immer schon die Differenz. Ein Außerhalb oder Jenseits zu diesem Sein gibt es nicht und kann es nicht geben. Auch das »Nichts« ist nicht ausgeschlossen, denn dieses ist nichts anderes als die Differenz selbst, weil diese ist, was sie ist, nämlich das »Sein« als Seiendes bzw. das »Nichts selbst«. Nicht trotz, sondern wegen der ontologischen Differenz kann und muß HEIDEGGER sagen: »Das Seyn und das Seiende« sind »gar nicht unmittelbar zu unterscheiden, weil überhaupt unmittelbar zueinander bezogen«.294 Die ontologische Differenz ist bzw. »west« und ist das einzige, sie »bedarf gar nicht der Abhebung und der Unterschiede, nicht einmal des Unterschieds zum Seienden.«295
AUGSBERG schreibt dazu: »Der Unterschied ist nichts dem Sein selbst gegenüber Heteronomes, das ihm noch von außen zukäme; als schmerzhafte Zerrissenheit führt es [das Sein] ihn mit sich als innerstes Gesetz seines Ereignens. Die ununterschieden-unterscheidende Einzigkeit des Seins aber begründet seine ›Einsamkeit‹, gemäß der es einzig nur das Nichts [d.h. sich selbst als Seiendes, Anm. d. Verf.] um sich wirft […].«296
Daher läßt sich das Sein wegen und nicht etwa trotz der Differenz nicht »absondern«, wie HEIDEGGER betont, und bleibt dennoch im »Unterschied« zum Seienden. Daher sagt er im Hinblick auf das von ihm gemeinte »Sein selbst« und nicht etwa im Hinblick auf das ipsissimum ens und ens commune: »Wovon sollte sich das Sein auch je absondern? Vom Seienden nicht, das im Sein beruht, obzwar das Sein zum Seienden im Unterschied verbleibt. Vom Sein nicht als welches das Sein selbst Es selber ›ist‹.«297
294 295 296 297
GA 65, 477. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 113. GA 65, 471. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 113. AUGSBERG [2003], 113. Vgl. GA ,65, 471. N II, 357./GA 6.2, 322.
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Kapitel 2 »Das Geschick des Seins ist nämlich nicht nur kein an sich ablaufender Prozeß, es ist auch nichts, was uns gegenüberliegt, vielmehr ist es eher als Gegeneinanderüber von Sein und Menschenwesen [Metaphysik als Denkgeschichte] das Geschick selber. Wir sagen mit Bedacht ‹eher›, weil auch so der Verdacht nicht beseitigt ist, Sein wese als etwas vom Menschenwesen Abgetrenntes.«298
Das Sein, das als Geschick nichts anderes ist als rein prozessuale Autoperformanz (JAHRAUS), west als Gegeneinanderüberliegen von Sein und Seiendem und damit auch von Sein und Menschenwesen, wobei auch der Ausdruck »Gegeneinanderüberliegen« nie so verstanden werden darf, daß er irgendeine Art von Abgetrenntsein, d.h. bei HEIDEGGER irgendeine Art von jeweils identifizierbaren und daher »distinkten« und »differenten« Gegebenheiten meint. Es gibt keine »distinkten« oder »differenten« Gegebenheiten. Das »Selbst« des »Seins selbst« ist »es selbst« nur als Gegeneinanderüberliegen des »Seins selbst« als Seiendem, als Gegeneinanderüber seines Selbst als seiner Andersheit. Die Differenz ist das Sein selbst, insofern es sich selbst als Seiendes gegeneinanderüberliegt und so nichtidentische Identität ist. Die ontologische Differenz ist kurzum die sich prozessierend selbst vollziehende »Identität der Identität und Nichtidentität«, womit sich eine der zentralen HEGELSCHEN Bestimmungen des Absoluten auch für HEIDEGGERS Sein heranziehen läßt, oder die sich prozessierend selbst vollziehende Selbigkeit der Selbigkeit und Nichtselbigkeit oder um es mit einer HEIDEGGERSCHEN Kurzformel zu sagen: Die ontologische Differenz ist der »Unterschied von Sein und Seiendem oder kurz: das Sein des Seienden […].«299 »Ick bünn all hier.« Will man das Sein »definieren«, muß man sagen: das Seiende. Will man das Seiende »definieren«, muß man sagen: das Sein. Will man das Sein des Seienden »definieren«, muß man sagen: ontologische Differenz. Die ontologische Differenz, das ist die sich prozessual vollziehende unausgesetzt als Seiendes ›verscheidende‹, sich aber gerade dadurch konstituierende strenge Selbigkeit (des Seins) selbst.
298 299
SvG, 158./GA 10, 140. GA 29/30, 518.
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So wie HEIDEGGERS Identität des Seins dessen Nichtidentität als Seiendes sein soll, so ist HEIDEGGERS Differenz des Seins differenzlos. Auf diesen Punkt macht auch JAHRAUS aufmerksam, wenn er schreibt: »Zugespitzt könnte man sagen, dass Heideggers Wahrheitsbegriff zusätzlich die Funktion und Bedeutung hat, das Verhältnis von Sein und Seiendem in der ontologischen Differenz gerade nicht als Differenz zu denken. […] An dieser Stelle führt Heidegger explizit den Begriff des ›Seyns‹ als Einheit der Differenz, ›als den waltenden Unterschied zwischen Sein und Seiendem‹ ein. Der Begriff »Walten« bedeutet, wie das prädikative »wesen« konstitutiv prozessual bedingt und verfasst zu sein.«300 »Und die Einheit der ›Unterschiedenen‹ ist die Wahrheit ›des‹ Seyns selbst, in die je das Seiende entborgen hinein west.«301
Daher liegt das, was bei der Lektüte HEIDEGGERS die bedeutendste Verwirrung stiftet und den entscheidenden Grund der Unverständlichkeit darstellt, just in der ontologischen Differenz bzw. im »Spiel« der identischen Nichtidentität oder differenzlosen Differenz oder differenzierten Differenzlosigkeit begründet. Wenn HEIDEGGER sagt, daß der Unterschied nicht gedacht wird, dann meint er damit nicht, daß Sein und Seiendes als zwei differente oder distinkte zu denken sind. Genau darin liegt verwirrenderweise für HEIDEGGER die Seinsvergessenheit, d.h. die Verwechslung und Nichtunterscheidung von Sein und Seiendem, daß Sein und Seiendes als Differente oder daß das Sein in Abhängigkeit von Differentem gedacht wird, d.h. HEIDEGGER ist verwirrenderweise der Auffassung, daß die Metaphysik den Unterschied von Sein und Seiendem nicht bedenkt, weil und indem sie durch Distinktionen und Differenzierungen unterscheidet. Und wenn HEIDEGGER sagt, daß die Metaphysik Sein und Seiendes verwechselt, dann meint er damit verwirrenderweise nicht, daß die Metaphysik das Sein und das Seiende für dasselbe hält. Er meint vielmehr, daß sie genau diese Identifizierung unterläßt, indem sie 300
301
JAHRAUS [2004a], 207. Was sich in Anlehnung an JAHRAUS die »differenzlose (ontologische) Differenz« nennen läßt - JAHRAUS spricht im gegebenen Zusammenhang ausdrücklich von »Differenzlosigkeit« - nennt AUGSBERG die »ununterschieden-unterscheidende Einzigkeit des Seins«. AUGSBERG [2003], 113. GA 69, 22.
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Kapitel 2
dem Sein irgendwie eine Selbstidentität neben anderen Selbstidentitäten zuweist. Für HEIDEGGER werden Sein und Seiendes nur dann verwechselt, wenn man das Sein zu einem weiteren differenten Seienden neben anderen untereinander differenten Seienden macht und das Seiende als eine Vielzahl je mit sich identischer Gegebenheiten ansieht, um dann, von diesen ausgehend und auf diese hin, das Sein als ens commune zu abstrahieren. In diesem Fall wird das Sein, insofern es nicht dasselbe ist wie das Seiende, nur zu einem weiteren Seienden mehr, und deshalb und nur deshalb wird für HEIDEGGER das Sein mit dem Seienden »verwechselt«. Damit liegt aber auch der verwirrende Gebrauch der Bezeichnung »Seinsvergessenheit« just in der ontologischen Differenz begründet. Das Denken der Differenz darf nämlich nicht dazu führen, daß man, wie jeder unvoreingenommene Leser wohl immer wieder meinen muß, die Seinsvergessenheit nun auf die Seite bringt oder gleichsam vorwärtsblickend hinter sich läßt. Will man zur Differenz vordringen, so darf man nicht versuchen, die Metaphysik zu »überklettern«,302 man darf keinen Schritt weg oder vorwärts, sondern man muß, wie HEIDEGGER immer wieder betont, »den Schritt zurück« und »hinein« in die Seinsvergessenheit vollziehen! Warum? Weil die Seinsvergessenheit nur die Weise ist, wie sich die Seinsverlassenheit als jene Art des Seienden selbst vollzieht, welches »Denken« genannt wird. Die Seinsverlassenheit ist aber nichts anderes als das stets sich selbst verlassende Sein, das nur als ein sich verlassendes bei sich bleibt. Der tiefere Grund für HEIDEGGERS unausgesetzte Beschäftigung mit der Philosophiegeschichte als Seinsvergessenheit liegt genau darin, daß die Seinsverlassenheit/ontologische Differenz sich just in der Seinsvergessenheit verschärft oder verdichtet auslebt, insofern diese Vergessenheit in denkbar radikaler Weise die Selbstverlassenheit des Seins selbst ist. »Wie sollen wir dies verstehen, daß das Seyn selbst ausbleibt? Etwa so, daß das Seyn selbst sich nach der Art eines Seienden [!] irgendwo aufhält und dabei aus irgendwelchen Gründen, weil ihm vielleicht der Weg verlegt ist, nicht ankommt? […] Inzwischen wurde aber deutlicher: Das Seyn selbst west als die Unverborgenheit, in der das Seiende anwest. […] Es bleibt bei der Verborgenheit des Seyns selbst, so zwar, daß diese Ver302
Hw, 264/243./GA 5, 264.
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borgenheit selbst sich in sich selbst verbirgt. Das Ausbleiben des Seyns ist das Seyn selbst als dieses Ausbleiben. Das Seyn ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt zudem dann noch aus, sondern das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Seyn selbst.«303
Deshalb ist das Denken der Differenz bei HEIDEGGER unlösbar mit dem Bedenken der Metaphysik verschmolzen und nahtlos damit verschweißt. Deshalb bedenkt HEIDEGGER die Differenz stets ›innerhalb‹ anderer Denker und der Denkgeschichte bzw. die Differenz als diese Denker und als die Denkgeschichte als Weise der Autoperformanz der Differenz selbst, was unausgesetzt verwirren muß, weil der Leser ja meint, die Differenz sei gerade hier nicht zu finden. Aber das Gegenteil ist für HEIDEGGER der Fall. HEIDEGGER thematisiert die Seinsvergessenheit in endlosen Wiederholungen, um seine Differenz zu thematisieren. Die Differenz offenbart just als Seinsvergessenheit, welch ungeheuerliches »Ding« sie ist, und diese Sonderbarkeit durchgreift und färbt alle entsprechenden Formulierungen HEIDEGGERS. »Der Entzug als welcher das Sein selbst west, raubt dem Seienden nicht das Sein. Gleichwohl steht das Seiende, gerade wenn es als ein solches ist und nur so ist, im Entzug des Seins selbst.«304
Durch den Entzug des Seins kann das Seiende in HEIDEGGERS Augen unmöglich des Seins beraubt sein, da das Seiende selbst nichts anderes ist als das Sein als Entzug. Diese Verwirrung liegt für HEIDEGGER aber nicht darin, daß er den Leser sua sponte würde verwirren wollen, sondern sie liegt für HEIDEGGER im Walten bzw. Selbstvollzug der ontologischen Differenz selbst als HEIDEGGER begründet. HEIDEGGER Ausführungen sind, wie er meint, in ihrer verwirrenden Erscheinungsweise nichts anderes als das sich als HEIDEGGER autoperformierende Sein selbst, welches sich als HEIDEGGER lichtet. Und da das Sein, wie die Seinsvergessenheit zeigt, selber ›irr‹ west, beirrt es trotz der »Verwindung« seiner Vergessenheit als HEIDEGGER gerade auch im und durch den Prozeß dieser Verwindung. HEIDEGGER sieht sich so in seinem Sein, Denken, Reden und Tun gewissermaßen durch das Sein selbst gerechtfertigt, sofern es überhaupt Sinn 303 304
GA 67, 219. N II, 355./GA 6.2, 320.
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macht, hier von »Rechtfertigung« zu sprechen. Es gibt nämlich keine Unterschiede im Sinne des Differenten, es gibt nur den »Unterschied« im Sinne der »Differenz«, und diese Differenz ist nichts anderes als das Sein selbst. Weil Unterschied aber ständig im Sinne des Differenten gedacht wird, wird die Differenz vergessen. Dieses Denken und Vergessen aber ist ein Denken und Vergessen des Seins selbst, das sich selbst so denkt und vergißt, weil dessen Identität nur als Differenz und dessen Differenz nur als Identität wesen und walten kann. Das besagt: das Sein ist sich als Seiendes selbst »fremd« und verfällt aufgrund dieser Fremdheit selbst der Vergessenheit seiner selbst, indem es sich als Seiendes und als Menschenwesen gegeneinanderüberliegt.305 Dadurch erscheint das Sein als Differentes und es erscheint sich selbst als Differentes, obschon es das authentisch Differente an sich nicht gibt. Das Sein verschleiert sich mit sich selbst vor sich selbst. M.a.W. die Verwirrung gründet darin, daß das Sein selbst buchstäblich verwirrt ist und sich daher »verwirrend« auslegt, oder wie HEIDEGGER sagt, die Verwirrung gründet darin, daß Sein selbst »die Irre« ist. Deshalb ist die Vergessenheit des Seins für HEIDEGGER weder Fehler, Mangel noch Irrtum. Die Seinsvergessenheit, das ist schlicht das Sein selbst. Vielmehr kommt in der Seinsvergessenheit in unvergleichlichem Maße die Differenz zum Ausdruck, gerade weil sie als solche durch das Sein selbst, dessen Denken nichts anderes ist als dessen Selbstvollzug, nicht gedacht wird, gerade weil in ihr die Identität als Differenz, das Sein als rein prozessuale Autoperformanz der Selbstentfremdung geschieht. Daher ist die Seinsvergessenheit das reichste und weiteste Ereignis der Weltgeschichte, weil sie der Austrag, das Ereignis, die Wahrheit, die Unverborgenheit der Differenz als Differenz ist.
305
»Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal. Darum ist es nötig, dieses Geschick seinsgeschichtlich zu denken. Was Marx als in einem wesentlichen und bedeutenden Sinne von Hegel her als die Entfremdung des Menschen erkannt hat, reicht mit seinen Wurzeln in die Heimatlosigkeit des neuzeitlichen Menschen zurück. Diese wird, und zwar aus dem Geschick des Seins in der Gestalt der Metaphysik hervorgerufen, durch sie verfestigt, und zugleich von ihr als Heimatlosigkeit verdeckt. Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der Geschichte der übrigen Historie überlegen.« Hum, 31f./GA 9, 339f.
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»Worein sich das Seyn verschenkt (wesenhaft), ist die Verarmung in die Armut, der sein einfachster Reichtum anheimgegeben. […].«306 »Dabei zeigt sich, daß solche Wege [der Seinsverlassenheit/-vergessenheit] selber zum Sachverhalt gehören. Je näher wir der Sache [des Seins selbst] kommen, um so be-deutender wird der Weg.«307 »Was ist, das ist nämlich nicht das Aktuelle und nicht das Gegenwärtige [nicht das je und je Seiende]. Was ist, ist das aus dem Gewesen und als dieses ankommende. Dieses Ankommende ist längst schon unterwegs […]«308
Ein Fehler, Irrtum, Mangel wäre die Seinsvergessenheit nur dann, wenn es Urteile gäbe, die als von den in ihnen thematisierten Sachverhalten differente, aufgrund ihres Differentseins den Sachverhalt verfehlen könnten. Aber die Urteile der Seinsvergessenheit werden durch den »Sachverhalt« der »ontologischen Differenz« selbst gefällt, indem sich der Sachverhalt der ontologischen Differenz als diese Urteile und die von ihnen thematisierten Sachverhalte selbst performiert und damit immer schon deren Übereinstimmung sein soll. Und das Thema des hier urteilenden »Sachverhalts« ist nicht ein von diesem urteilenden Sachverhalt differenter Sachverhalt, vielmehr sind der Urteilende, der Akt des Urteilens, der Urteilsinhalt und der Urteilsgegenstand ein und dasselbe. In der Seinsvergessenheit legt sich das sich selbst vergessene Sein selbst aus. Daher sieht sich HEIDEGGER außer Stande, in der Seinsvergessenheit einen Fehler zu sehen und jedes Widerlegen im Felde des Denkens bleibt ihm töricht. HEIDEGGER denkt nicht wegen der Differenz gegen die Seinsvergessenheit, um diese zu überwinden, sondern er bedenkt immer wieder die Seinsvergessenheit, weil sich in ihr das Sein als Differenz in eminentester Weise artikuliert. Die ontologische Differenz ist aus HEIDEGGERS Sicht weder eine Distinktion noch eine Differenzierung. Die letzteren verbauen vielmehr die Differenz als solche, welche keine Distinktion und keine Differenzierung 306 307 308
GA 69, 116. SvG, 94./GA 10, 77. SvG, 138./GA 10, 119.
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beinhalten kann. Alle Distinktionen sind lediglich Weisen der Differenz, was bei HEIDEGGER bedeutet, daß alles eines ist im herakliteischen Sinne des e n panta. Wenn Sein und Seiendes in irgendeiner Weise distinkt wären, dann wäre ihre Differenz eine seinsvergessene »Zutat«, denn zum Sein würde neben diesem das Seiende hinzukommen. 2.2 Ontologische Differenz, Seinsverlassenheit, Nihilismus und Verwindung der Seinsverlassenheit angesichts einer übermächtigen Technik Der Grund, warum HEIDEGGER immer und immer wieder der Seinsvergessenheit nachspürt, ist nicht darin zu suchen, daß er der Metaphysik unausgesetzt Vorwürfe zu machen hat. Was wie ein Vorwurf der Mangelhaftigkeit klingen mag, kann für HEIDEGGER unmöglich ein Vorwurf sein. Die Seinsvergessenheit ist kein Fehler noch gar ein Versäumnis des Menschen. HEIDEGGER betont das mit allem Nachdruck, mag der vordergründige Augenschein mancher Äußerungen auch trügen. BRETSCHNEIDER hebt hervor: »Wenn die Metaphysik die Geschichte ist, in der es mit dem Sein nichts ist, und dieses Nichtsein des Seins als Ungedachtsein zu denken ist, so liegt das keineswegs an der Metaphysik. Diese denkt weder falsch noch in ihrem Bemühen zu kurz, noch läßt sie eigens nicht zu, daß das Sein nicht gedacht wird; etwa indem sie sich vom Sein abwendet und es mißachtet. Das Ungedachtsein des Seins liegt einzig und allein am Sein selber. […]«309
Vielmehr spürt HEIDEGGER der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit nach, weil der Genitiv in dem Ausdruck Verlassen des Seins und Vergessen des Seins für HEIDEGGER immer ein subjektiver und objektiver Genitiv zugleich sein soll. Es ist das »Sein selbst« dasjenige, das verläßt, und es ist dasselbe »Sein selbst« dasjenige, das verlassen wird. Es ist das »Sein selbst« dasjenige, das vergißt, und es ist dasselbe »Sein selbst« dasjenige, das vergessen wird. Das Subjekt und Objekt des Verlassens und Vergessens sind dasselbe. Warum? Weil das Sein die ontologische Differenz ist. Das Sein ist in HEIDEGGERS Augen nur es selbst, wenn es als Sei309
BRETSCHNEIDER [1965], 170f.
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endes zerrissene Selbigkeit oder als Seiendes nicht es selbst ist. Und so muß HEIDEGGER sagen, daß »das Sein das Seiende verläßt, besagt: das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden.«310
Die Offenbarkeit/Unverborgenheit des Seienden ist, wie bereits gezeigt, nichts anderes als die Unverborgenheit des Seins. D.h. das Sein ist das Seiende. Daß das Sein sich in der Offenbarkeit des Seienden verbirgt, besagt daher nicht, daß das Sein vom Seienden getrennt und so vor dem Seienden verborgen sei, sondern es besagt, daß das Sein als Seiendes in sich, dem einen und einzigen Selbst, die »Verborgenheit« seiner selbst ist. M.a.W., daß das Sein das Seiende verläßt, besagt in HEIDEGGERS Augen verwirrender- und paradoxerweise nichts anderes, als daß das Sein das Seiende ist. Denn die Seinsverlassenheit ist das Seiende als Selbstverlassenheit des Seins. Anders gewendet: Das Selbst des Seins ist die Verlassenheit seiner selbst als das Seiende, oder: Das Selbst des Seins ist das Seiende als Selbstverlassenheit des Seins. Diese Denkfigur HEIDEGGERS läßt sich auch so formulieren: Das Sein verläßt sich selbst nicht obwohl, sondern weil es es selbst ist. Das Sein verläßt als es selbst sich selbst, da außer dem Sein nichts ist, was verlassen werden könnte, d.h. es ist nur als Sein des Seienden. Deshalb ist die Metaphysik für HEIDEGGER das »reichste und weiteste Ereignis, in dem die abendländische Weltgeschichte« und damit das sich vergessende Sein »zum Austrag kommt.« Daher läßt sich, wie HEIDEGGER unterstreicht, die Metaphysik »nicht wie eine Ansicht abtun«, man kann sie nicht wie »eine nicht mehr geglaubte und vertretene Lehre hinter sich bringen.«311 Die Metaphysik ist keine nicht mehr geglaubte und vertretene Lehre, sie ist das Sein selbst, das als notwendig sich zerreißendes und verlassendes Selbstverlassenheit als Seiendes und damit Metaphysik sein muß. HAEFFNER 310
311
GA 65, 111. Vgl. auch AUGSBERG [2003], 109. »Unverkürzt, in ihrem vollen kehrigen Sinne angesprochen, nennt Bergung demnach das zur Wahrheit des Seins gehörende, sie mitausmachende Geschehen ihres Sichbergens und Geborgenwerdens im Seienden, welches wiederum durch solche Bergung erst seiend […], d.i. zu seinem jeweiligen Sein bestimmt wird. Bergung ist Bergung in und als Offenbarkeit des Seienden.« AUGSBERG [2003], 110. GA 7, 69. TRAWNY [2003], 117.
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betont zu Recht, daß bei HEIDEGGER das, was die Metaphysik ist, dasselbe ist wie das Sein selbst. »Entscheidend ist nun aber zu beachten, daß es sich in beiden Fällen [das Sein der Metaphysik und Heideggers Sein selbst] um dasselbe ›Sein‹ handelt. Wäre dies nicht so, dann stünden das Denken der Metaphysik und Heideggers Denken beziehungslos nebeneinander. Aufgrund der Selbigkeit des Seins jedoch kann Heidegger ebenso im Durchgang durch die Sache der Metaphysik zu seiner eigenen Sache kommen wie er umgekehrt das Wesen der Metaphysik von seinem eigenen Denken her erhellen kann.«312
HEIDEGGER befaßt sich mit der Seinsverlassenheit oder Metaphysik, um zu zeigen, was das von ihm intendierte Sein selbst/die ontologische Differenz ist, und er thematisiert das Sein/die Differenz, um zu zeigen, wie diese gerade in der Metaphysik zum Austrag kommt. Er will zeigen, wie das Selbstverhalten der »Sache« des Seins verfaßt sein muß, damit es selbst Selbstverlassenheit und Selbstvergessenheit sein kann. Dieses Selbstverhalten des Seins ist nichts anderes als dessen »Differenz«. Dieses Sein, das Metaphysik [Seinsverlassenheit] sein muß, um als Sein es selbst sein zu können, ist, wie HEIDEGGER hervorhebt, so »einzig in seiner Art, daß wir sogar sagen müssen: Das Sein, was jedem beliebigen Seienden zukommt und sich so in das Geläufige verstreut, ist das Einzigartigste, was es überhaupt gibt.«313
312
313
HAEFFNER [1974], 59. »Diese Geschichte [des Seins selbst] ist materialiter mit der Geschichte der Metaphysik identisch, weil […] die Metaphysik gerade darin besteht, sich diesem Anspruch des Seins gehorchend zu unterstellen, indem sie das Seiende in seinem Seiendsein bestimmt.« HAEFFNER [1974], 59. »Die Besonderheit von Heideggers Philosophie besteht darin, dass sie sich selbst als Teil der Philosophiegeschichte begreift, aber als letzter und insofern als besonderer Teil, weil in ihr das Problem der Philosophie als Problem ihrer eigenen Geschichte offenbar geworden ist. Philosophiegeschichte wird selbst zum Problem der Philosophie, ja zu dem Problem der Philosophie schlechthin, wie sie HEIDEGGER versteht. Geschichte und Gegenstand, historische und systematische Dimension fallen zusammen.« JAHRHAUS [2004a], 162. EM, 60./GA 40, 84.
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»Wir verstehen noch nicht und fassen überhaupt noch nicht die vorlogische Offenbarkeit des Seienden, wenn wir sie als das gleichzeitige Offenbarsein von vielerlei Seienden nehmen.«314 »Die Art, wie die Sache des Denkens, das Sein [die ontologische Differenz], sich verhält, bleibt ein einzigartiger Sachverhalt.«315
Und: »Daß somit in der Metaphysik als solcher das Sein selbst ungedacht bleibt, ist ein Ungedachtbleiben eigener, ausgezeichneter und einziger Art.«316
HEIDEGGER sieht sich gerufen, das Ungedachte dieses Seins zu denken oder dieses Sein in dem zu verstehen, was es sein muß, wenn es sich als das Seiende selbst performierend immer schon verläßt bzw. sich als Menschheitsgeschichte und menschliche Denkgeschichte manifestierend immer schon vergißt oder als es selbst immer schon Metaphysik ist. Es besteht daher die Gelegenheit »das Ausbleiben der Unverborgenheit des Seins als solchen als eine Ankunft des Seins selbst zu erfahren und das so Erfahrene zu bedenken.«317
Anders formuliert: HEIDEGGER erfährt sich als jenen Moment des Seins selbst, in dem angesichts der Tatsächlichkeit seiner Selbstvergessenheit das Sein zur »Erinnerung« seiner selbst durchdringt, indem es gewahrt, daß es selbst das Verlassen seiner selbst ist.318 Anders ausgedrückt läßt sich auch sagen: HEIDEGGER sieht sich als jenen Moment des Durchgangs des Seins durch die eigene Andersheit, in dem sich die Metaphysik/Seinsverlassenheit/Differenz/das Sein selbst »einholt« (SCHWEIDLER).319
314 315 316 317 318
319
GA 29/30, 505. ID, 57f./GA 11, 72. N II, 346./GA 6.2, 312. N II, 367./GA 6.2, 332. »Philosophie [d.h. Metaphysik, d.h. Seinsverlassenheit/Nililismus, d.h. das Sein selbst] vollendet sich in ihrer eigenen Selbstdurchdringung.« JAHRAUS [2004a], 162. S. dazu SCHWEIDLER [1987], 136.
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HEIDEGGER bleibt konsequent. Das Ausbleiben des Seins darf nicht so mißverstanden werden, wie ein Zug, der ausbleibt, weil er nicht im Bahnhof ankommt. »Das Ausbleiben ist«, wie BRETSCHNEIDER bemerkt, »nicht so zu denken, daß das Sein sich irgendwo aufhält und dann dem Menschen vorenthält, indem es wegbleibt aus dem Erfahrungsbereich der Metaphysik.«320
»Das Ausbleiben« des Seins ist »eine Ankunft des Seins«, was HEIDEGGER durch die Kursivierung von das Ausbleiben als eine Ankunft hervorhebt. Das Sein bleibt nicht deshalb aus, weil es relativ zum Seienden »woanders« bliebe. Das Ausbleiben des Seins ist Ankommen des Seins, weil das Sein ontologische Differenz ist oder weil das Ausbleiben des Seins gegenüber dem Seienden nichts anderes ist als das Sichselbstgegenüber des Seins als Seiendes. BRETSCHNEIDER formuliert dies treffend, wenn er sagt: »Das Sein ist in der verborgenen Unverborgenheit des Seienden anwesend. Dieses Erscheinen des Seins in der Unverborgenheit des Seienden ist sein Ausbleiben, d.h. das Sein bleibt aus, indem es sich in der Unverborgenheit des Seienden darstellt, welche Unverborgenheit von der Metaphysik aber nicht gesehen wurde und nicht gesehen werden konnte. In der Unverborgenheit des Seienden hat sich das Sein dargestellt und west so in der Weise seines Ausbleibens. Das Ausbleiben ist nicht etwas Fehlendes, durch das das Sein Abstriche erhält. Es ist das Sein selber im Wie seines Wesens [Kursiv v. Verf.]. Das Sein bleibt aus, sagt jetzt, das Sein hat sich in der Unverborgenheit des Seienden entborgen, aber so, daß dieses Entbergen nicht gesehen werden kann und verhüllt bleiben muß. Das Sein west in der Weise des Verbergens und ist in der Einheit des entbergenden Verbergens […]. Das Sein west als sich entziehendes, ist aber im Entzug anwesend.«321
Daher muß HEIDEGGER betonen, es müsse jede Verwindung der Seinsvergessenheit auch »erst einmal auf die Seinsvergessenheit achten […] lernen«.322 HEIDEGGERS Auffassung nach
320 321 322
BRETSCHNEIDER [1965], 171. BRETSCHNEIDER [1965], 172. M, 12./GA 9, 371.
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»kann die Notwendigkeit und die eigene Art der in der Metaphysik und durch sie vergessenen Frage nach der Wahrheit des Seins nur so ans Licht kommen, daß inmitten der Herrschaft der Metaphysik die Frage gestellt wird: ›Was ist Metaphysik?‹«323 »Darum muß das Denken, um der Verwindung der Metaphysik zu entsprechen, zuvor das Wesen der Metaphysik verdeutlichen. Einem solchen Versuch erscheint die Verwindung der Metaphysik zunächst wie eine Überwindung, die das ausschließlich metaphysische Vorstellen nur hinter sich bringt […] . Aber in der Verwindung kehrt die bleibende Wahrheit der anscheinend verstoßenen Metaphysik als deren nunmehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück.«324 »Der Schritt zurück wirft die Metaphysik nicht auf die Seite. Eher hat das Denken im Umkreis der Erfahrenen des Seienden als solchen jetzt erst das Wesen der Metaphysik vor sich und um sich. die seinsgeschichtliche Herkunft der Metaphysik bleibt das zu Denkende. So ist ihr Wesen als das Geheimnis der Geschichte des Seins gewahrt.«325
Wohlgemerkt: Das Wesen der Metaphysik ist das »Geheimnis« der Geschichte des Seins selbst. Was HEIDEGGER hier zum Ausdruck bringt, kann mit Fug als »ungeheuerlich« bezeichnet werden.326 Die Überwindung der Metaphysik kann nicht darin bestehen, das »metaphysische Vorstellen hinter sich« zu bringen. Wer HEIDEGGER so versteht, erreicht das von HEIDEGGER Gedachte nicht. »Überwindung« ist für HEIDEGGER »Verwindung«. Im Zuge dieser Verwindung muß es darum gehen, das Wesen der Metaphysik zu verdeutlichen. Die Verdeutlichung des Wesens der Metaphysik kann aber nicht darin bestehen, einzelnen, mehreren oder allen philosophierenden Menschen die Seinsvergessenheit als Fehler »vorzurechnen«, und diese dann von sich zu stoßen und schließlich, wie HEIDEGGER sagt, zu »überklettern«. In der Rede von der Seinsvergessenheit wird die Metaphysik mitnichten verstoßen. Denn in der Verwindung der Metaphysik kehrt die bleibende Wahrheit der Metaphysik als deren nun323 324 325 326
Hum, 14./GA 9, 322. ZS, 35./GA 9, 416. Vgl. JAHRAUS [2004a], 172. N II, 390./GA 6.2, 353. Vgl. Hw, 41/43./GA 5, 41. »Diese dialektisch scheinenden Aussagen müssen zunächst befremden. doch durch die Einsicht in das waltende des Seins und die Art seiner Anwesenheit verliert sich der Schein des Befremdenden.« BRETSCHNEIDER [1965], 172.
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mehr angeeignetes Wesen erst eigens zurück. Die bleibende Wahrheit der Metaphysik als Seinsverlassenheit ist aber, daß die Seinsverlassenheit nichts anderes ist als die Selbstverlassenheit des Seins als Seiendes, welches daher etwas wie das Subjekt und Objekt des Verlassens zugleich sein soll. Das Sein und die Metaphysik oder das Sein und die Seinsverlassenheit stehen sich nicht als distinkte gegenüber, sie sind vielmehr ein und dasselbe, denn in HEIDEGGERS Augen ist das Sein nur als »Andersheit« seiner selbst es selbst. FRÄNTZKI betont daher völlig zu Recht: »Weder stehen Verborgenheit und Unverborgenheit beziehungslos nebeneinander, noch sind sie so aufeinander bezogen, daß sie eine Einheit bilden und als Einheit das Ganze der Wahrheit ausmachen. Aber wie verhalten sie sich dann? Antwort: Das Unwesen ist dergestalt das Wesen, daß es überhaupt das Wesen ist; die Unwahrheit ist dergestalt die Wahrheit, daß sie überhaupt die Wahrheit ist; die Un-ent-borgenheit ist dergestalt die Entborgenheit, daß sie und ihre Offenheit überhaupt die Entborgenheit ist. Unwesen, Unwahrheit, Unentborgenheit und Verborgenheit, die je anders das Selbe sagen, machen je für sich das Ganze aus. […] Die Offenheit der Verborgenheit des Seins ist für sich das Ganze: ist das Wesen, die Wahrheit, die im rechten Sinn verstandene Entborgenheit.«327
Die bleibende Wahrheit der Metaphysik als Seinsvergessenheit ist, daß das Sein selbst, indem es sich als Mensch und dessen Denken selbst vollzieht, sich weiterhin derart verläßt, daß es keinen Schimmer hat, daß die Metaphysik nichts anderes ist als der Selbstvollzug ihrer selbst. »Insofern die Metaphysik das Seiende als solches im Ganzen denkt, stellt sie das Seiende aus dem Hinblick auf das Differente der Differenz vor, ohne auf die Differenz als Differenz zu achten.«328
Vom Menschen aus gesehen kommt dies darin zum Ausdruck, daß er keine Ahnung hat, was sein Denken, was er selbst und was das von ihm gedachte Seiende als Seiendes eigentlich ist: die Autoperformanz des Seins oder der Selbstvollzug der ontologischen Differenz. Es ist nun einmal so, daß die Menschen
327 328
FRÄNTZKI [1985], 92. ID, 62f./GA 11, 76. Vgl. LANDOLT [1992b], 120.
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»der Metaphysik zufolge und der Auslegung derselben als Kultur und Menschenleistung, das Sein des Seienden je als Gedankengebilde und Begriff und Meinung und Lehre nehmen. Erst aus der Überwindung [als Verwindung] der Metaphysik erfahren wir […] das Sein – als das Wesende der Wahrheit des Seienden und der Verbergung seiner selbst.«329
Das durch die Verhaftung an das Seiende gebrochene Verhältnis der Metaphysik zum Sein ist das gebrochene Verhältnis des Seins zu sich selbst, insofern sich dieses Sein selbst als Seiendes unausgesetzt selbst verläßt und doch nur so es selbst ist.330 Wird dies und die darin liegende Differenz eigens gesehen, dann ereignet sich die Überwindung bzw. Verwindung der Metaphysik und der »andere Anfang« des Denkens hebt an, wie HEIDEGGER meint. Die Metaphysik kann nicht verstoßen werden, weil in ihr als Selbstverlassenheit des Seins, das Sein selbst bzw. das Sein als Differenz zu erblicken ist. Allein aufgrund dieses Zusammenhangs kann SCHWEIDLER im Rückgriff auf HEIDEGGER betonen: »Die Frage nach dem Sein ist als Frage nach dem Wesen der Philosophie mit der Frage nach der Metaphysik identisch.«331 »Wir verstehen noch nicht und fassen überhaupt noch nicht die […] Offenbarkeit des Seienden, wenn wir sie als das gleichzeitige Offenbarsein von vielerlei Seienden nehmen.«332
HEIDEGGER bedenkt unausgesetzt die Seinsverlassenheit als universale »Zwiefalt« des Seins als Seiendes und die Seinsvergessenheit als besondere Form der universalen Metaphysik, d.h. die Metaphysik oder die Philosophie, und zwar insbesondere im Hinblick auf die sich in ihrem Lauf ergebenden Zweierstrukturen als Manifestationen der Zwiefalt des Seins, wie auch JAHRAUS richtig sieht.333 Sein und Schein, Ich und Nichtich, 329 330
331 332 333
GA 69, 152. »Das Sein selbst bleibt aus und hält sich in seinem Sein zurück. Nicht die Metaphysik ist es, durch die das Sein für das Denken ausgeschlossen ist, sondern das Sein selber verschließt sich und ist so das eigentlich Geschehende, das anderes aus sich entläßt und zumal metaphysisches Vorstellen in sich begreift.« BRETSCHNEIDER [1965], 171. SCHWEIDLER [1987], 140. GA 29/30, 505. S. Fußn. 291.
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Subjekt und Objekt, Ding für uns und Ding an sich, transzendentales Ich und empirisches Ich, ipsissimum esse und esse transzendentale, res cogitans und res extensa, Geist und Materie, Substanz und Akzidenz, Essenz und Existenz, Form und Stoff, Akt und Potenz, Sein und Sollen, Sein und Werden, Noumenon und Phainomenon, Sein und Seiendes. Für HEIDEGGER sind diese Zweierstrukturen keine Zufälle. Mit ihnen entbirgt sich Verbergung, d.h. das Sein vollzieht sich als Verlassenheit seiner selbst schlicht selbst. »Das Differente zeigt sich als das Sein des Seienden im Allgemeinen und als das Sein des Seienden im Höchsten.«334
Es sind just diese »zwiefältigen« Strukturen, welche die Gebrochenheit des Seins zum Ausdruck bringen, weil das Sein selbst, indem es sich als diese Zweierstrukturen und der geschichtliche Prozess dieser Strukturen lichtet bzw. selbst performiert, sich zugleich selbst mit ihnen verwechselt, indem es die Paarglieder für distinkte Gegebenheiten hält und nicht sieht, daß es selbst Differenz ist und die vermeintlich differenten Gegebenheiten lediglich Performationsmomente dieser Differenz und gerade deshalb nicht distinkt oder different voneinander sind. Die Metaphysik und alle mit ihr einhergehenden Unterscheidungen sind, was sie sind, nur als Manifestationen der ontologischen Differenz. »Die Differenz von Seiendem und Sein ist der Bezirk, innerhalb dessen die Metaphysik, das abendländische Denken im Ganzen seines Wesens, das sein kann, was sie ist.«335
Denn: »Erst wenn wir uns denkend dem schon Gedachten [den zwiefältigen Artikulationen der Differenz] zuwenden, werden wir verwendet für das noch zu Denkende [die Differenz als solche].«336
334 335 336
ID, 63./GA 11, 76. Vgl. LANDOLT [1992b], 120. ID, 41./GA 11, 60. Vgl. LANDOLT [1992b], 110. ID, 30./GA 11, 50. Vgl. LANDOLT [1992b], 113.
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»Das schon Gedachte erst bereitet das noch Ungedachte, das immer neu in seinem Überfluß einkehrt.«337
HEIDEGGER will die Differenz als, »das durchgängig Selbe aller Metaphysik in den Blick zu bringen […] als den entscheidenden Grund […].«338
Denn daß »die Metaphysik das Sein durchgängig in derselben Weise denkt, wenngleich das Sein des Seienden in dem Spielraum von Anwesen verschiedenartig ausgelegt wird, muß im Wesen der Metaphysik [im Sein selbst] seinen Grund haben.«339
Deshalb sucht er »die Kraft des früheren Denkens nicht im schon Gedachten, sondern in einem Ungedachten, von dem her das Gedachte seinen Wesenraum empfängt.«340
Deshalb gilt: »Die Unterscheidung von Seiendem und Sein erweist sich als jenes Selbe, aus dem alle Metaphysik entspringt, dem sie freilich auch sogleich im Entspringen entgeht, jenes Selbe, […] was sie nicht eigens mehr bedenkt […] . Die Unterscheidung von Seiendem und Sein ermöglicht alles Benennen und Erfahren und Begreifen des Seienden als eines solchen.«341
Warum? Weil sich die Differenz des Seins als Metaphysik selbst manifestiert oder autoperformiert, aber so, daß just die Differenz oder »Zwiefalt«, welche das Sein selbst als Seiendes ist, vom Sein selbst nicht gesehen wird. Genauer: das Sein selbst, das sich als ens qua ens und damit auch als die entsprechenden Philosophen und deren Philosophie manifestiert, kann als Selbstverlassenheit nicht wissen, daß es sich lediglich selbst als die 337 338 339 340 341
ID, 38./GA 11, 57. Vgl.LANDOLT [1992b], 112. N II, 210./GA 6.2, 187. N II, 210./GA 6.2, 187. ID, 38./GA 11, 57. Vgl. LANDOLT [1992b], 112. N II, 208./GA 6.2, 185.
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Geschichte alles Seienden und damit auch dieser Philosopheme »schickt«. Das heißt, dem Sein selbst bleibt verborgen, daß es sich als Seiendes nur selbst manifestiert, denn das Sein ist Selbstverlassenheit. Das Sein selbst als Metaphysik meint z.B., daß Subjekt und Objekt usw. voneinander verschieden sind und sieht nicht, daß beide nur Weisen sind, wie es selbst, das »Sein selbst« als »zerrissenes«, »zerklüftetes« oder als Differenz ist. Um zu verdeutlichen, was es selber ist, lasse das von HEIDEGGER gedachte Sein ihm, dem wesentlichen Denker, wie dieser meint, keine Wahl als unausgesetzt der Seinsvergessenheit und Seinsverlassenheit nachzudenken, denn das Sein selbst ist nichts anderes als seine Geschichte und d.h. es ist nichts anderes als die Geschichte der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit. Und weil das Sein als Differenz Zwiefalt ist und als solche immer die identische Nichtidentität oder das Sein des Seienden, muß es sich auch in der Geschichte der Seinsvergessenheit ständig in zwiefältigen Strukturen autoperformieren. HEIDEGGERS »anderer Anfang« des Denkens kann daher die Metaphysik oder den Nihilismus nur verwinden, wenn der »Schritt zurück« in die Metaphysik, den Nihilismus bzw. die Seinsverlassenheit und deren Moment die Seinsvergessenheit als sich selbst performierendes Sein vollzogen wird.342 342
Dem Sein entgegendenken heißt nachvollziehen, was der Nihilismus eigentlich ist: das Sein selbst als Sein des Seienden. »An dieser Wesensherkunft des metaphysisch gemeinten Nihilismus liegt es, daß sich der Nihilismus nicht überwinden läßt. Allein er läßt sich nicht deshalb nicht überwinden, weil er unüberwindlich ist, sondern weil alles Überwinden-wollen seinem Wesen ungemäß bleibt.« N II, 389./GA 6.2, 352. »Das geschichtliche Verhältnis des Menschen zum Wesen des Nihilismus kann nur darin beruhen, daß sein Denken darauf eingeht, dem Ausbleiben des Seins selbst entgegenzudenken. […] Das Denken vollzieht den Schritt zurück aus dem metaphysischen Vorstellen.« N II, 389./ GA 6.2, 352. »Schritt zurück« bedeutet Schritt zurück aus dem metaphysischen in das, was die Metaphysik eigentlich ist. Oder den Schritt zurück vom uneigentlichen Nihilismus in den eigentlichen Nihilismus des Seins selbst. Diesen Schritt zurück vollzieht nicht der Mensch, insofern er eine denkende Person ist, von sich aus, sondern das Seins selbst vollzieht in HEIDEGGERS Augen als HEIDEGGER diesen Schritt. »Mit diesem Hinweis sei die andere naheliegende Mißdeutung des Titels ‹Schritt zurück› [sic] ferngehalten, die Meinung nämlich, der Schritt zurück bestehe in einem historischen Rückgang zu den frühesten Denkern der abendländischen Philosophie. Das Wohin freilich, dahin der Schritt zurück uns lenkt, entfaltet und zeigt sich erst durch den Vollzug des Schrittes.« ID, 42./GA 11, 61.
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»Wodurch kann, wenn das Sein das Einzigartige des Seienden ist, das Sein noch übertroffen werden? Nur durch sich selbst, nur durch sein Eigenes und zwar in der Weise, daß es in sein Eigenes eigens einkehrt. Dann wäre das Sein das Einzigartige, das schlechthin sich übertrifft (das transcendens schlechthin). Aber dieses Übersteigen geht nicht hinüber und zu einem anderen hinauf, sondern herüber zu ihm selbst und in das Wesen seiner Wahrheit zurück. Das Sein durchmißt selbst diesen Herübergang und ist selbst dessen Dimension.«343
Die Verwindung der Metaphysik kann in HEIDEGGERS Augen nur darin bestehen, daß die Metaphysik als das sich selbst performierende oder sich selbst manifestierende Sein gesehen wird. Die Verwindung kann nur darin bestehen, daß die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit als Selbstverlassenheit des Seins gesehen wird. Die Verwindung kann nur darin bestehen, daß die Metaphysik als Selbstvollzug der ontologischen Differenz gesehen wird. Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit sind nämlich nichts anderes als der Selbstvollzug der ontologischen Differenz, wobei die Differenz in keiner Weise von ihrem Vollzug unterschieden werden darf, sondern sich völlig in diesem erschöpft. Durch sie wird deutlich, wie radikal das Sein sich als Seiendes selbst nichtet und damit als das Nichts des Seienden immer schon als Verlassen seiner selbst west, weil es Differenz ist. HEIDEGGER denkt die Seinsvergessenheit nicht als Fehler, weil sich die ontologische Differenz in eminentester Weise als Seinsvergessenheit vollzieht und damit das Wesen der Differenz des Seins selbst sich erst erschließt, wenn gesehen wird, daß das Sein des Seienden selbst nichts anderes ist als der Selbstvollzug des Sichverlassens gerade auch dann, wenn das Sein sich als menschliches Denken manifestierend und, obschon es sich in diesem Denken unausgesetzt nur selbst begegnet, keine Ahnung davon hat, das es sich so verhält. HEIDEGGER betont, die Verlassenheit und Vergessenheit des Seins könne nicht ohne die ontologische Differenz geschehen. Beide »gehören« zueinander. Das »zueinander gehören« darf aber, wie HEIDEGGER betont, nicht wieder so mißverstanden werden, als seien die Vergessenheit des Seins und die Differenz irgendwie differente Seiende, die bloß »verfloch-
343
Hw, 310/286./GA 5, 310.
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ten«,344 »verknüpft«,345 »zugeordnet«346 oder verbunden sind, denn das Zusammengehören bezeichnet bei HEIDEGGER stets das, was »im Selben zueinandergehört.«347 D.h. die »Zusammengehörigkeit« mit dem Sein ist für HEIDEGGER nichts anderes als »die Selbigkeit mit dem Sein«, weil »hier das Zusammen mehr und anderes meint als das Aneinanderschweißen von zwei sonst getrennten [!] Stücken. [Kursiv. v. Verf.]«348 »Wir sprechen von der Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden. Der Schritt zurück geht vom Ungedachten, von der Differenz als solcher, in das zu-Denkende. Das ist die Vergessenheit der Differenz. Die hier zu denkende Vergessenheit ist die von der lhvh (Verbergung) her gedachte Verhüllung der Differenz als solcher, welche Verhüllung ihrerseits sich anfänglich [immer schon] entzogen hat. Die Vergessenheit gehört zur Differenz, weil diese jener zugehört. Die Vergessenheit befällt nicht erst die Differenz nachträglich zufolge einer Vergeßlichkeit des menschlichen Denkens [Kursiv v. Verf.]«349
Das, was die Metaphysik im ganzen ihres Wesens ist, ist der selbstvergessene Selbstvollzug des »Seins selbst«. Die ontologische Differenz ist 344 345 346 347 348
349
ID, 19./GA 11, 40. ID, 19./GA 11, 40. ID, 16. 18./GA 11, 38. 39. ID, 17./GA 11, 38. »[…] in eine Zusammengehörigkeit, d.h. in die Selbigkeit mit dem Sein.« SvG, 174./GA 10, 156. »[…] Wenn wir fragen, inwiefern Sein und die gegabelte ratio dasselbe seien, d.h. zusammengehören […].« SvG, 175./GA 10, 157. »Das eigentlich Dunkle und Fragwürdige bleibt gerade das Zusammengehören. Dies Zusammengehören muß aus dem zum Vorschein kommen, was von sich aus in das Zusammen gehört, gesetzt daß hier das Zusammen mehr und anderes meint als das Aneinanderschweißen von zwei sonst getrennten Stücken.« SvG, 175./GA 10, 157. Daß HEIDEGGER verwirrenderweise unter »zusammen gehören« von Sein und Seiendem nichts Anderes versteht als »dasselbe sein« bzw. unter »Zusammengehörigkeit« nichts Anderes versteht als die »Selbigkeit« von Sein und Seiendem, erschwert einmal mehr den Nachvollzug. Verliert man jedoch diese sonderbare Bedeutung von »zusammen gehören« bei HEIDEGGER nicht aus dem Blick, dann verflüchtigt sich die »Mystizität« der entsprechenden Stellen. Freilich gebraucht HEIDEGGER den Ausdruck »Zusammengehören« nicht zufällig oder unbedacht. Es muß auch keine betrügerische Absicht vorliegen. Vielmehr gründet HEIDEGGERS Rede vom »Zusammengehören«, welches ja einen »Unterschied« andeutet, in der »Differenz« des Seins! ID, 40f./GA 11, 59f. Vgl. LANDOLT [1992b], 121.
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es, die »macht«, daß dieser Selbstvollzug ist, was er ist. Schärfer formuliert: Die Seinsverlassenheit ist die gesuchte Differenz des Seins und umgekehrt, da die Differenz des Seins dessen notwendige Selbstverlassenheit oder Selbstzerrissenheit als Seiendes ist. Da aber die Metaphysik nichts anderes ist als der Selbstvollzug des Seins, und das »Sein selbst« nichts anderes ist als die ontologische Differenz, ist die Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit nichts anderes als der Selbstvollzug der Differenz selbst. Das Sein selbst ist als nichtidentische Identität ein unausgesetzt sich selbst verlassendes Sein. Deshalb kann auch keine Rede davon sein, daß die Vergessenheit die Differenz infolge einer Vergeßlichkeit des menschlichen Denkens die Differenz »erst nachträglich befällt«. Wenn HEIDEGGER also davon spricht, daß die Differenz der »Bezirk« ist, »innerhalb« dessen Metaphysik ist, was sie ist, dann darf dies nicht so verstanden werden, als sei die Metaphysik in der Differenz wie ein Streichholz in der Schachtel. Denn in diesem Fall würde die Seinsvergessenheit nicht aus der Differenz gedacht, sondern beide auf seinsvergessene Weise wie Differente behandelt. »Wie sollen wir dies verstehen, daß das Seyn selbst ausbleibt? Etwa so, daß das Seyn selbst sich nach der Art eines Seienden irgendwo aufhält und dabei aus irgendwelchen Gründen, weil ihm vielleicht der Weg verlegt ist, nicht ankommt? […] Inzwischen wurde aber deutlicher: Das Seyn selbst west als die Unverborgenheit, in der das Seiende anwest. […] Es bleibt bei der Verborgenheit des Seyns selbst, so zwar, daß diese Verborgenheit selbst sich in sich selbst [weil das Seiende nichts weiter ist als das Sein] verbirgt. Das Ausbleiben des Seyns ist das Seyn selbst als dieses Ausbleiben. Das Seyn ist nicht irgendwo abgesondert für sich und bleibt zudem dann noch aus, sondern das Ausbleiben des Seins als solchen ist das Seyn selbst [als Seiendes bzw. als Sein des Seienden].«350
Da aber das »Sein selbst« Differenz ist und die Metaphysik der Selbstvollzug des Seins ist, ist Selbstvollzug des Seins der Selbstvollzug der Differenz. Es gilt: »[…] die Differenz als Austrag so zu denken, daß deutlicher wird, inwiefern die onto-theologische Verfassung der Metaphysik ihre Wesens350
GA 67, 219.
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Kapitel 2 herkunft im Austrag hat […] jedoch überall als der Austrag verborgen und so vergessen bleibt in einer selbst sich noch entziehenden Vergessenheit.«351
Dazu schreibt VOLKMANN-SCHLUCK: »Man kann daher sagen: In aller überlieferten Philosophe ist die ontologische Differenz von Sein und Seiendem vorgängig gegenwärtig […] aber niemals, indem sie selbst Thema wird.«352
Deshalb kann man auch sagen, daß für HEIDEGGER das Denken der Differenz darin besteht, die Seinsverlassenheit und Vergessenheit durch »den Schritt zurück« von der Metaphysik in das »Wesen« als »Wesung« der Metaphysik,353 d.h. in ihr eigentliches Wesen im Sinne der Autoperformanz der »Seinsdifferenz« selbst sachlicher zu denken, d.h. die Seinsverlassenheit/ Metaphysik als die Selbstverlassenheit des »Seins selbst« zu denken. SCHWEIDLER schreibt daher: »Sie [die Metaphysik] zu überwinden heißt, allen Bisherigen die Augen über sich selber zu öffnen und sie dadurch zu ihrer eigensten Bestimmung zu bringen. HEIDEGGER hat für seine Weise dieses Strebens das Bild vom 354 Schritt zurück entworfen […].«
351 352 353 354
ID, 60./GA 11, 74. Vgl. LANDOLT [1992b], 122. VOLKMANN-SCHLUCK [1996], 89. »Der Schritt zurück bewegt sich daher aus der Metaphysik in das Wesen der Metaphysik.« ID, 41./GA 11, 60. SCHWEIDLER [1987], 156. SCHWEIDLER (156f.) schreibt dazu auch: »Was bedeutet es, wenn Metaphysik einerseits wieder als Selbstverbergung andererseits aber in solcher Eindeutigkeit als Inbegriff bisheriger Philosophie im geschichtlichen Sinne verstanden wird? Das Unterlassen, aus dem die Verschüttung des Seinsverständnisses entstanden ist, kann dann nur darin bestehen, daß die bisherige Philosophie nicht nach der bisherigen Philosophie gefragt hat. Daß sie die Frage nach sich selbst als ihrer Geschichtlichkeit nicht gestellt hat, kann nicht als Folge oder Fehler ihrer inhaltlich begrenzten Erkenntnisse verstanden werden. Der Metaphysikbegriff basiert auf der Überzeugung, daß nur durch das Unterlassen der Frage nach sich selbst die bisherige Philosophe zur bisherigen Philosophie werden konnte.«
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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HEIDEGGER bringt in den unterschiedlichsten sprachlichen Wendungen immer wieder zum Ausdruck, daß alles Seiende als Selbstverlassenheit des Seins das Sein selbst ist: »Wo immer der Mensch sein Auge und Ohr öffnet, sein Herz aufschließt, sich in das Sinnen und Trachten, Bilden und Werken, Bitten und Danken freigibt, findet er sich überall schon ins Unverborgene gebracht […]. Wenn der Mensch auf seine Weise innerhalb der Unverborgenheit das Anwesende entbirgt, dann entspricht er nur dem Zuspruch der Unverborgenheit, selbst dort, wo er ihm widerspricht.«355
Das Sein ist, insofern es sich immer schon (»anfänglich«) als Seiendes selbst verlassen muß, Seinsverlassenheit, und derart immer schon in sich selbst als es selbst zerrissen. Es ist, um es mit dem Titel eines Werkes von ALKER auszudrücken, immer schon Das Andere im Selben.356 Von dieser Seinsverlassenheit kann aufgrund dieser Selbstverlassenheit das Sein selbst nichts wissen. Indem das Sein sich als Mensch und damit als Denkfähigkeit selbst ereignet, kommt es aber nicht zur Selbsterkenntnis des Seins. Für HEIDEGGER kommt es nicht einmal zu einem der Seinsverlassenheit gegenüber fortgeschrittenen Zustand, sondern zur stetigen Verschärfung der Situation, die sich schließlich nach Durchlaufen der gesamten Weltgeschichte in der Technik übermächtig aufgipfelt. Nachdem das Sein sich als Denken ereignet, kommt es sich in HEIDEGGERS Augen also nicht immer näher, sondern wird sich selbst noch und immer fremder. Die Nichtidentität des Seins, d.h. dessen Seinsverlassenheit gipfelt sich als sich unausgesetzt verschärfende Seinsverlassenheit immer mehr auf. Mit dem Sein geht es in HEIDEGGERS Augen im Unterschied etwa zu HEGELS oder DE CHARDINS Auffassung nicht aufwärts, sondern stets abwärts. »Die Negativität behält«, wie AUGSBERG betont, bei HEIDEGGER »die Oberhand«.357 Das Sein ist nicht die Verlassenheit seiner selbst und kommt im Lauf der Geschichte immer mehr zu sich, vielmehr ist das Sein wesentlich 355 356
357
TudK, 18./GA 7, 19. S. auch HAEFFNER [1974], 60. ALKER [2007]. ALKERS Buch erscheint allerdings erst im Lauf des 3. Quartals. Daher kann der Titel hier nur als passende Entlehnung Verwendung finden. Die Verwendung des Titels impliziert keine Aussage darüber, welche interpretative Position ALKER etwa gegenüber der Seinsverlassenheit und Differenz bei HEIDEGGER einnimmt. AUGSBERG [2003], 113.
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Kapitel 2
Selbstverlassenheit, und es verläßt sich das Sein immer mehr. Das Sein durchläuft sich nicht als Prozeß eines mehr oder weniger stetigen Abbaus seiner Selbstverlassenheit, sondern es durchläuft sich als Prozeß einer zunehmenden Verschärfung seiner Selbstverlassenheit. Angesichts der Seinsvergessenheit als Verschärfung der Seinsverlassenheit stellt sich aber auch verschärft die Frage, woher angesichts einer totalen Aufgipfelung von Seinsverlassenheit die Verwindung derselben überhaupt kommen soll. Anders ausgedrückt: Im Angesicht von HEIDEGGERS Sein als Selbstverlassenheit erhebt sich die Frage, wie es überhaupt dazu kommen kann, daß das Sein von der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit übergeht in einen Zustand, in dem es seiner selbst als Selbstverlassenheit gewahr wird. Woher soll so etwas wie Verwindung der Seinsverlassenheit kommen, wenn das Sein nichts anderes als die Verlassenheit seiner selbst ist und alles »Ist« restlos am Sein liegt oder das »Ist« des Seins selbst ist? Es gilt sich immer wieder zu vergegenwärtigen: »Das, was eigentlich ist, ist keineswegs dieses oder jenes Seiende. Was eigentlich ist, d.h. eigens im Ist wohnt und west, ist einzig das Sein. Nur das Sein ‹ist›, nur im Sein und als Sein ereignet sich, was das ‹ist‹ nennt; das, was ist, ist das Sein aus seinem Wesen.«358
Dieses Zitat steht in HEIDEGGERS Die Technik und die Kehre in unmittelbarem Zusammenhang mit seinen Ausführungen über das »Wesen« der Technik, welche, wie oben bereits gezeigt, ganz und gar nichts Technisches ist und nicht »handwerksmeisterlich« verstanden werden darf, sondern als Metaphysik nichts anderes ist als das Sein selbst, dessen Wesen darin besteht, als Seiendes die Verlassenheit seiner selbst zu sein.359 Dieses 358
359
TudK, 43./GA 11, 120f. »Das, was ist, nimmt man gewöhnlich als das Seiende. Denn vom Seienden wird das ‹ist› [sic] ausgesagt. Jetzt aber hat sich alles gekehrt. […] Das, was ist, ist keineswegs das Seiende. Denn dem Seienden wird das ‹es ist› und das ‹ist› nur insofern zugesprochen, als das Seiende hinsichtlich seines Seins angesprochen wird. Im ‹ist›, wird ‹Sein› ausgesprochen; das, was in dem Sinne ‹ist›, daß es das Sein des Seienden ausmacht, ist das Sein.« TudK, 44./GA 11, 121f. TudK, 32./GA 7, 33. »Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel. Die Technik ist eine Weise des Entbergens. Achten wir darauf, dann öffnet sich uns ein ganz anderer Bereich für das Wesen der Technik. Es ist der Bereich der Entbergung, d.h. der Wahrheit.« TudK, 12./GA 7, 13. »Zum Wesen der modernen Technik
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Zitat stellt nur eine der schier endlos und in den verschiedensten sprachlichen Wendungen wiederkehrenden Vergegenwärtigungen dar, daß alles, was ist, ein und dasselbe Sein bzw. der Selbstvollzug ein und desselben Seins ist. Und so darf es nicht verwundern, wenn HEIDEGGER vom Sein selbst sagt: »Dieses Sein selber aber west als das Wesen der Technik.«360 Wie ebenfalls bereits gezeigt, ist die Technik der Inbegriff der Metaphysik, insofern sich das Sein als Selbstverlassenheit und diese als Technik ins Äußerste augegipfelt hat. HEIDEGGER nennt die Technik »die Gefahr«. Und ebenso wie die Technik das eine und einzige Sein selbst als Technik ist, so ist die Gefahr das eine und einzige Sein als Gefahr, denn »die Gefahr im Sein« ist, wie HEIDEGGER betont, nichts anderes als »das Sein selbst«.361 »Wo aber ist die Gefahr? Welches ist der Ort für sie? Insofern die Gefahr das Sein selber ist, ist sie nirgendwo und überall. Sie hat keinen Ort als etwas anderes zu ihr selber. Sie ist selbst die ortlose Ortschaft alles Anwesens. Die Gefahr ist die Epoche des Seins, wesend als das Gestell.«362
Die Selbstverlassenheit des Seins als Technik ist nicht irgendeine Gefahr, sondern die Gefahr schlechthin. Durch die Technik gefährdet ist »der Schritt zurück« in das Wesen der Technik bzw. in das Wesen des Seins als Selbstverlassenheit und damit »der Schritt zurück« in das eigentliche
360 361
362
gelangt HEIDEGGER in Abhebung von der traditionellen Auffassung, welche die Technik ›instrumental‹ und ›anthropologisch‹, d.h. als ›ein Mittel‹ und ‹ein menschliches Tun‹ versteht (VA, 10)[GA 7, 8]. Gegen die instrumentelle Auffassung rekurriert HEIDEGGER auf den griechischen Begriff der tecnh, der im Umkreis der poihsij, aber auch der episthmh steht. Als solche ist die Technik zunächst nicht ein Verwenden von Mitteln, sondern ein Hervorbringen: Sie läßt Dinge zur Erscheinung kommen, die sich […] nicht selbst hervorbringen; sie hat darin am ursprünglichen Prozeß des Entbergens, des Ausschließens und Entstehenlassens der Welt teil.« ANGEHRN [2003], 271, 1. TudK, 43./GA 11, 120. TudK, 38./GA 11, 116. Die »[…] Gefahr« ist, wie HEIDEGGER ausdrücklich sagt, »das in der Wahrheit seines Wesens sich gefährdende Sein selbst […].« TudK, 7./GA 11, 115. Vgl. GUEST [1990] 127ff. In diesem Sinn kann HEIDEGGER auch sagen: »Das Gefährliche ist nicht die Technik. Es gibt keine Dämonie der Technik, wohl dagegen das Geheimnis ihres Wesens. Das Wesen der Technik ist als ein Geschick des Entbergens die Gefahr.« TudK, 27f./GA 7, 29. TudK, 41f./GA 11, 119.
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Kapitel 2
Wesen des Seins selbst.363 Für HEIDEGGER ist klar, daß die als Technik sich manifestierende Selbstverlassenheit des Seins sich nicht durch den Menschen meistern läßt. »Wenn das Wesen der Technik, das Gestell als die Gefahr im Sein, das Sein selbst ist, dann läßt sich die Technik niemals durch ein bloß auf sich gestelltes menschliches Tun meistern, weder positiv noch negativ. Die Technik, deren Wesen das Sein selbst ist, läßt sich vom Menschen niemals überwinden. Das hieße doch, der Mensch sei der Herr des Seins.«364
Da aber auch das »Ist« des Menschen nichts anderes »Ist« als das Sein selbst, ist das Sein nicht nur der ›Herr‹ Gottes bzw. der Götter, sondern auch der ›Herr‹ des Menschen.365 Die Rettung vor der Gefahr kann mithin nur vom Sein kommen, sie beruht im Geschick des Seins, an dem »alles ist liegt«. Freilich stellt sich nun in verschärfter Form die obige Frage erneut: Wenn die Seinsverlassenheit die Selbstverlassenheit des Seins ist und die Technik nichts anderes ist als die Aufgipfelung der Selbstverlassenheit, dann ist das Sein selbst die Technik und als Technik selbst nichts anderes als die Gefahr. Woher soll so etwas wie Verwindung der Gefahr kommen, wenn das Sein nichts anderes als die Gefahr seiner selbst ist und alles »Ist« restlos am Sein liegt oder das »Ist« des Seins selbst ist? Die Antwort HEIDEGGERS auf diese Frage offenbart eine weitere Sonderbarkeit seines Denkens. 363
364 365
»Das Wesende der Technik bedroht das Entbergen, droht mit der Möglichkeit, daß alles Entbergen im Bestellen aufgeht und alles sich nur in der Unverborgenheit des Bestandes darstellt.« TudK, 34./GA 7, 34. TudK, 38./GA 11, 116. »Es darf doch nicht im Belieben des Daseins liegen, wieweit es sich auf sein Sein einläßt. Dies kann genau deshalb nicht der Fall sein, weil die Art, wie sich jemand zu seinem Sein verhält, kein fremdes Einsprengsel, sondern selbst Teil dieses Seins sein muß – jedenfalls dann, wenn das Sein nicht als äußeres, abgetrenntes Ziel oder substanzielles Etwas aufgefaßt werden soll, sondern – wie HEIDEGGER ja immer betont – im ›Vollzug‹ des Daseins selbst waltet. Genau dann muß das ›Sein‹ eben auch in den Formen walten, in denen das Dasein es verfehlt oder findet. Die Spielräume der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit dürfen nicht der Vorhof sein, auf dem über den Zugang zum Sein entschieden wird, sie müssen ihm schon angehören. Der Vollzug des Sich-Einlassens oder Sich-Entschließens ist dem Sein nicht äußerlich vorgelagert, sondern ein Modus desselben.« THOMÄ [2003b], 138,1.
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»Ist überhaupt Rettung? Sie ist erst und ist nur, wenn die Gefahr ist. Die Gefahr ist, wenn das Sein selbst ins Letzte geht und die Vergessenheit, die aus ihm selbst kommt, umkehrt.«366
Wenn die Selbstverlassenheit des Seins als Technik sich selbst als höchste Gefahr aufgegipfelt hat, dann »erst« und »nur« dann kehrt sich die Verlassenheit bzw. Vergessenheit um. M.a.W. Es kehrt sich die Seinsverlassenheit irgendwie selbst um, und zwar genau dann, wenn sie das Äußerste ihrer Möglichkeiten erreicht hat. Dies soll genau dann der Fall sein, wenn die Selbstvergessenheit des Seins als verschärfte Manifestationsform der Selbstverlassenheit des Seins sich als Technik unüberbietbar aufgegipfelt hat. »Wenn die Gefahr als die Gefahr ist, ereignet sich mit der Kehre der Vergessenheit die Wahrnis des Seins, ereignet sich Welt.«367 »Im Wesen der Gefahr, wo sie als Gefahr ist, ist die Kehre zur Wahrnis, ist diese Wahrnis selbst, ist das Rettende des Seins.«368
Das Sein als Selbstverlassenheit wird nicht umgekehrt, vielmehr kehrt sich das selbstverlassene Sein durch seine Selbstverlassenheit selbst um, und zwar nicht durch etwas anderes als diese selbst und auch nicht etwa dann, wenn sich die »Seinsselbstverlassenheit« in so etwas wie einem gleichsam geschwächten Zustand befindet, sondern genau dann, wenn sie stärker nicht sein kann. »Ist die Gefahr als Gefahr, dann ereignet sich eigens ihr Wesen.«369 »Im Negativen und aus ihm heraus ereignet sich die ›Kehre der Vergessenheit des Seins in die Wahrheit des Seins‹«.370 »Im Wesen der Gefahr verbirgt sich darum die Möglichkeit einer Kehre, in der die Vergessenheit des Wesens des Seins sich so wendet, daß mit
366 367 368 369 370
Hw, 373/343./GA 5, 373. TudK, 42./GA 11, 119f. TudK, 42./GA 11, 120. TudK, 42./GA 11, 119. GA 79, 73. Vgl. ANGEHRN [2003], 276, 2.
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Kapitel 2 dieser Kehre die Wahrheit des Wesens des Seins in das Seiende eigens einkehrt.«371
Dasselbe sagt HEIDEGGER in folgendem längeren Zitat: »Die Gefahr ist aber das Nachstellen, als welches das Sein selber in der Weise des Gestells der Wahrnis des Seins mit der Vergessenheit nachsetzt. Im Nachstellen west dies, daß das Sein seine Wahrheit in die Vergessenheit ent-setzt, dergestalt, daß das Sein sein Wesen verweigert. Wenn sonach die Gefahr als die Gefahr ist, dann ereignet sich eigens das Nachstellen, als welches das Sein selber seiner Wahrheit mit der Vergessenheit nachstellt. Wenn dieses mit-Vergessenheit-Nachstellen eigens sich ereignet, dann kehrt die Vergessenheit als solche ein. Dergestalt durch die Einkehr dem Entfallen entrissen, ist sie nicht mehr Vergessenheit. Bei solcher Einkehr ist die Vergessenheit der Wahrnis des Seins nicht mehr die Vergessenheit des Seins, sondern einkehrend kehrt sie sich in die Wahrnis des Seins. […] Das mit Vergessenheit sich nachstellende Sichverweigern der Wahrheit des Seins birgt die noch ungewährte Gunst, daß dieses Sichnachstellen sich kehrt, daß in solcher Kehre die Vergessenheit sich wendet und zur Wahrnis des Wesens des Seins wird, statt dieses Wesen in die Verstellung entfallen zu lassen.«372
Trotz dieses mit paronomastischen Wortspielen geladenen Abschnitts sagt HEIDEGGER hier nichts weiter, als daß die Vergessenheit verwunden wird, wenn das Mit-Vergessenheit-Nachstellen sich eigens ereignet. Kurzum: Die Selbstverlassenheit des Seins als Seinsvergessenheit kehrt sich durch die Selbstverlassenheit des Seins als Seinsvergessenheit. Einmal mehr stößt der Leser auf den sonderbar »tautologischen« Charakter HEIDEGGERSCHER Philosopheme. HEIDEGGER betont hier aber auch, daß das, was einkehrt, wenn das Mit-Vergessenheit-Nachstellen sich eigens ereignet, die Vergessenheit als solche ist. D.h. das selbstverlassene Sein gewahrt sich nun oder erblickt sich nun kraft äußerster Selbstverlassenheit eigens als selbstverlassenes Sein. Das Sein wird sich bewußt, daß es selbst die ontologische Differenz oder daß es das Sich-selbst-gegenüber-Sein-alsSeiendes ist. Anders formuliert: Das Sein selbst wird sich bewußt, daß es notwendig ein selbstverlassenes/selbstvergessenes Sein ist.
371 372
TudK, 40./GA 11, 118. TudK, 42./GA 11, 119f.
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In diesem Sinn beantwortet HEIDEGGER auch auf die Frage, wohin sich mit der Kehre die Selbstverlassenheit des Seins kehrt: »Wohin ereignet sich die Einkehr? Nirgendwo anders hin [Kursiv v. Verf.] als in das bislang aus der Vergessenheit seiner Wahrheit wesende Sein selber.«373
Durch die Selbstverwindung der Selbstverlassenheit des Seins kehrt das Sein nur »wieder« in sich selber ein, aber so, daß es jetzt nicht nur Selbstverlassenheit ist, sondern sich auch, wenigstens in einigen wenigen Denkern wie HEIDEGGER, als Selbstverlassenheit und Selbstvergessenheit weiß.374 SCHWEIDLER sagt daher zur Recht: »Heideggers Kehre versucht die Überwindung der Metaphysik als Erfüllung ihres innersten Wesens zu denken.«375
Die Metaphysik/Seinsverlassenheit, so weiß SCHWEIDLER die HEIDEGGERSCHE Position frappant zu formulieren, »verstellt sich ihre eigene Vollendung, solange sie ihre Überwindung nicht mit ihrem Wesen identifiziert.«376
Die Seinsverlassenheit bringt ihre eigene Überwindung bzw. Verwindung hervor, »weil« die Seinsverlassenheit nichts anderes ist als das Sein, das sich als das Seiende hervorbringt. HEIDEGGER ist, wie JAHRAUS sagt, davon überzeugt, »dass es zum Wesen, zum eigentlichen Vollzugsmoment von Metaphysik gehört, dass sie sich selbst überwindet und dass also dort, wo sich die 373 374
375 376
TudK, 43./GA 11, 120. »So birgt denn, was wir am wenigstens vermuten, das Wesende der Technik den möglichen Aufgang des Rettenden in sich. Darum liegt alles daran, daß wir den Aufgang bedenken und andenkend hüten. Wie geschieht dies? Vor allem so, daß wir das Wesende in der Technik erblicken, statt nur auf das Technische zu starren. Solange wir die Technik als Instrument vorstellen, bleiben wir im Willen hängen, sie zu meistern. Wir treiben am Wesen der Technik vorbei.« TudK, 32./GA 7, 33. JAHRAUS [2004a], 172. JAHRAUS [2004a], 183.
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Kapitel 2 Metaphysik vollendet […], auch ihre eigene Überwindung durch Verwindung als Möglichkeit und Wesen aufscheint. Gerade deshalb, weil die Überwindung ein Moment der Metaphysik selbst ist, spricht Heidegger von Verwindung.«377 »Heideggers Plan einer Verwindung der Metaphysik besteht nun gerade darin, dieses Moment der Selbstüberwindung der Metaphysik als ihr Wesen, als ihre eigene Vollendung herauszustellen.[…] Das macht das Wesen der Metaphysik aus: dass Höhepunkt, Vollendung und Überwindung zusammenfallen und ihrerseits Metaphysik begründen.«378
Die Antwort auf die Frage »Woher soll so etwas wie Verwindung der Gefahr kommen, wenn das Sein nichts anderes als die Gefahr seiner selbst ist und alles ›Ist‹ restlos am Sein liegt oder das ‹ist› des Seins selbst ist?« muß demnach lauten: Das Sein »schlägt um« (HEGEL), oder wie HEIDEGGER sagt, das Sein »kehrt sich«, wenn es als Technik die äußerste Negationsform seiner selbst erreicht hat. Dabei packt sich die Negativität förmlich beim eigenen Schopf und zieht sich selbst aus der Negativität in die »Positivität« der Selbsterkenntnis des Seins als Seinsverlassenheit. Die Negativität der Seinsverlassenheit soll durch sich selbst sein Anderes hervorbringen. Wenn das Sein sich selbst als Seinsverlassenheit erblickt hat, erblickt es sich selbst eigens als Metaphysik, Nihilismus und Technik.379 Deshalb besteht, was nicht oft genug betont werden kann, die Verwindung der Seinsverlassenheit bei HEIDEGGER in der Einkehr in die Seinsverlassenheit. ANGEHRN bemerkt, daß HEIDEGGERS Vorstellung davon, wie es zur Selbstverwindung der Metaphysik/Selbstverlassenheit des Seins kommen kann, nach dem Muster »einer doppelten Negation verfaßt« ist. Die Metaphysik als Weise, wie das Sein selbst sich negiert, negiert sich abermals selbst und stößt derart zu sich selbst durch.
377 378
379
JAHRAUS [2004a], 182. JAHRAUS [2004a], 183. »Nicht nur will man die Metaphysik zu sich selbst bringen, sondern zu sich selbst gebracht zu werden ist zugleich ihr wesentlicher Inhalt.« SCHWEIDLER [1987], 140. »Der Schritt zurück aus der Metaphysik in das Wesen der Metaphysik ist, von der Gegenwart her gesehen und aus dem Einblick in sie übernommen, der Schritt aus der Technologie und technologischen Beschreibung und Deutung des Zeitalters in das erst zu denkende Wesen der modernen Technik.« ID, 42./GA 11, 61.
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»Das eine ist die Figur der Transzendenz [des »Überstiegs« des Seins zu sich selbst] selbst, die nach der Logik einer doppelten Negation verfaßt ist: Das Hindurchgegangensein durch die absolute Negativität ist Voraussetzung für das Aufsprengen der Immanenz und den Einbruch des Anderen. So ist die ›Vollendung der Metaphysik‹ Vorbedingung ihrer Überwindung, das Eingehen in die äußerste Seinsvergessenheit ist Voraussetzung für das Lichten des Unterschieds von Sein und Seiendem (VA74). Im Negativen und aus ihm heraus ereignet sich die ›Kehre der Vergessenheit des Seins in die Wahrheit des Seins.«380
Es »erscheint«, wie ANHGEHRN betont, bei HEIDEGGER, »das Negative als eines, das durch sich selbst sein Anderes hervorgehen läßt, in gewisser Weise das Andere ist: ›Die Gefahr selber ist, wenn sie als die Gefahr ist, das Rettende‹«381
Das Sein, dessen Identität Nichtidentität und dessen Nichtidentität Identität ist, manifestiert sich als solche gerade auch als Mensch in der Seinsvergessenheit, welche ihrerseits nur eine weitere Manifestation der nichtidentischen Identität des Seins selbst sein soll. Aber HEIDEGGER denkt die ontologische Differenz ja nicht einfach nur als Zerklüftung des Seins. Das Andere des Seienden oder die »Andersheit« des Seienden ist ja immer das Andere des Seins und damit das Sein, dessen Selbst in HEIDEGGERS Augen nichts anderes als Andersheit ist. Somit steckt für HEIDEGGER gerade auch in der ontologischen Differenz die Möglichkeit, Selbsterkenntnis hervorzubringen. Diese Selbsterkenntnis bedarf jedoch als Manifestation der »Identität« der Vermittlung der Nichtidentität. Da die Selbsterkenntnis der Inbegriff der Identität ist, bedarf ihr Zu-Tage-Treten des Inbegriffs der Nichtidentität der Identität, welchen HEIDEGGER in der Technik erblickt. Die Technik reißt das Ruder des Seins herum, es kommt zur »Kehre« der Seinsvergessenheit in den anderen Anfang der »Erinnerung« in das Sein. Man muß sagen: Da das Sein »nichtidentische Identität«/»selbstverlassenes Selbst« oder »differenzlose Differenz« ist, ist das Sein je »identischer«, je »nichtidentischer« es ist und »differenzloser«, je »differenter« es ist. Angewendet auf die Technik als Vollendung der Metaphysik bedeutet dies: Es, das Sein, er-innert sich seiner selbst, kehrt 380 381
ANGEHRN [2003], 275, 2f. Vgl. auch JAHRAUS [2004b], 698. ANGEHRN [2003], 276, 1. S. GA 79, 72. Vgl. auch SEUBOLD [2003], 305, 1.
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Kapitel 2
bewußt in sich ein, wenn die Seinsvergessenheit ins Äußerste ihrer Möglichkeiten tritt. Die äußerste Möglichkeit der Seinsvergessenheit erblickt HEIDEGGER in der Technik, die für HEIDEGGER nicht etwas anderes ist als Metaphysik, sondern die Metaphysik in ihrer mächtigsten Aufgipfelung. Warum also kann das Sein umschlagen? Weil es derart uneinig mit sich selber ist, daß es auch in der eigenen Verlassenheit nicht ruhen kann. Anders ausgedrückt läßt sich sagen: Die Uneinigkeit des Seins »betrifft« sogar die eigene Uneinigkeit, so daß diese in HEIDEGGERS Augen im Moment äußerster Uneinigkeit in jene »Einigkeit« umschlagen muß oder sich in jene Einigkeit »kehren« muß, die darin besteht, daß die gesamte Geschichte des Seienden als solchen sich als Seinsdifferenz oder als Selbstverlassenheit des Seins eigens erblickt. Und zwar erblickt sich das Sein als Selbstverlassenheit zum ersten Mal freilich in HEIDEGGER oder besser ausgedrückt als HEIDEGGER. Gegen Ende des Abschnitts 1.2 wurde die Frage aufgeworfen, wie sich bei HEIDEGGER das Verhältnis zwischen dem »eigentlichen« und »uneigentlichen« Nihilismus gestaltet. Nach der obigen Betrachtung der ontologischen Differenz läßt sich die Antwort auf diese Frage nachvollziehen. Der »eigentliche« Nihilismus verhält sich zum »uneigentlichen« Nihilismus wie das »Sein« zum »Seienden«. Schärfer noch: Das Verhältnis des »eigentlichen« zum »uneigentlichen« Nihilimus ist nichts anderes als das Verhältnis zwischen HEIDEGGERS »Sein« und HEIDEGGERS »Seienden«. Der eigentliche Nihilismus ist ja nichts anderes als das Sein selbst. Der uneigentliche Nihilismus ist nichts anderes als das Seiende, welches als solches ja nichts anderes ist als die Selbstverlassenheit oder Selbstzerrissenheit des Seins. So wenig, wie das Sein ohne das Seiende auskommen kann und umgekehrt, so wenig kann der eigentliche Nihilismus (das »Sein« als »Nichts«) ohne den uneigentlichen Nihilismus (das »Seiende« als Selbstverlassenheit/-vergessenheit des Seins) auskommen und umgekehrt. Denn das Sein ist nur dann es selbst und eigentlich oder in seiner Eigentlichkeit, wenn es als Seiendes nicht es selbst und uneigentlich ist und sich, zumal im ›Modus‹ der Vergessenheit, selbst fremd und unbekannt ist. Der uneigentliche Nihilismus kann für HEIDEGGER ja nicht darin bestehen, daß er eigentlich kein Nihilismus wäre. Vielmehr besteht er darin, daß er sein eigenes Wesen als Moment und Stufe des Seins selbst als Nihilismus nicht gewahrt. Aber just dieses Nichtgewahren muß in HEI-
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DEGGERS Augen
zur Wesung des Seins als Unwesung gehören, denn nur so kann das Sein als »Unterschied« (»Differenz«) es selbst sein. Das Sein ist nur deshalb der eigentliche Nihilismus und als Sein das Nichts, weil es als Seiendes bzw. als uneigentlicher Nihilimus seiner Eigentlichkeit nicht gewahr wird. Deshalb kann HEIDEGGER die bereits angeführten äußerst befremdlichen Sätze verfassen: »Insofern dieses als Metaphysik geschichtlich gewordene Denken seinem Wesen nach zum Sein selbst gehört, insofern es aus der Unverborgenheit des Seienden als solchen denkt, bestimmt sich auch das Uneigentliche des Nihilismus aus dem Sein selbst. Der uneigentliche Nihilismus ist das Uneigentliche im Wesen des Nihilismus, insofern er das Eigentliche gerade vollendet. In der Wesenseinheit des Nihilismus west ein Unterschied. Das Uneigentliche des Nihilismus fällt aus dessen Wesen nicht heraus. Darin zeigt sich: Das Unwesen gehört zum Wesen.«382
Das Befremdliche dieser Sätze liegt gerade auch darin, daß HEIDEGGER vom »uneigentlichen Nihilismus« spricht, welcher den eigentlichen vollendet und davon, daß der uneigentliche Nihilimus aus dem Wesen des eigentlichen Nihilismus nicht herausfällt. Wie kann das sein? Nun: Wenn das Sein – welches ja nur deshalb der eigentliche Nihilismus sein kann, weil es immer schon Nichts, d.h. als Seiendes das eigene Nichtsein sein muß – nur als Seiendes »vollendet« sein kann, dann kann auch die Wesung des eigentlichen Nihilismus nur als Unwesung des uneigentlichen Nihilismus sie selbst sein! Ferner verhalten sich der eigentliche und der uneigentliche Nihilismus zueinander wie das Sein und die Technik. Wenn die schärfste Metaphysik bzw. der schärfste Nihilismus bzw. die schärfste Selbstverlassenheit des Seins in der Technik besteht oder besser sich als Technik vollzieht, dann ist die Technik, sofern sie ja nichts von ihrer eigentlichen Wesung weiß, auch des Nihilismus schärfste Uneigentlichkeit. Da aber in HEIDEGGERS Augen just diese schärfste Uneigentlichkeit aus sich das Verstehen ihres eigentlichen »Wesens« gebären soll, findet das eigentliche Sein gerade in der schärfsten eigenen Uneigentlichkeit zur Vollendung seiner selbst.
382
N II, 361f./GA 6.2, 326f.
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Kapitel 2
2.3 Das »Verhältnis«, das »Verhalten« und die »Verhaltenheit« des Seins oder: Das Sein als Sach-Verhalt HEIDEGGER spricht im Hinblick auf die Sache des Denkens, welche nichts anderes sein soll als das Sein selbst als Selbstverlassenheit oder die ontologische Differenz in auffallender Weise von einem »Sachverhalt«. »Die Art, wie die Sache des Denkens, das Sein sich verhält, bleibt ein einzigartiger Sachverhalt. Unsere geläufige Denkart kann ihn zunächst immer nur unzureichend verdeutlichen, […] da es für das Wesen des Seins nirgends im Seienden ein Beispiel gibt […]«383
Die ontologische Differenz als Selbstverhalten des Seins ist, wie HEIDEGGER betont, nicht nur »einzigartig«, sondern sie stellt auch den »seltsamen Sachverhalt« dar, »daß Seiendes und Sein je schon aus der Differenz und in ihr vorgefunden werden.«384
Das »Zusammengehören« bzw. die Selbigkeit/Identität des Seins »und« des Seienden als Sein des Seienden ist ein Sachverhalt, dessen Vergegenwärtigung Schwierigkeiten bereitet. Der »Sachverhalt« des Zusammengehörens »ist freilich seiner Einfachheit wegen schwer im Blick zu behalten.«385
Dieser Sachverhalt verlangt als Sache des Denkens dem Denken eine große Anstrengung ab, wenn es sich in diesem Sachverhalt halten möchte. Die Sache des »Seins selbst« »verlangt […], daß es die Sache in ihrem Sachverhalt aushalte, ihm durch eine Entsprechung standhalte, indem es die Sache zu ihrem Austrag bringt.«386
383 384 385 386
ID, 57f./GA 11, 72. Vgl. LANDOLT [1992b] 117. ID, 54./GA 11, 69. Vgl. LANDOLT [1992b] 121. ID, 17./GA 11, 38. Vgl. LANDOLT [1992b] 127. ID, 35f./GA 11, 55f. Vgl. LANDOLT [1992a], 21. Vgl. LANDOLT [1992b] 99.
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Im Hinblick auf seine umfassenden Betrachtungen der Philosophiegeschichte, die für Umwege gehalten werden könnten, macht HEIDEGGER darauf aufmerksam, daß diese Wege selber zum gedachten Sachverhalt gehören. »Dabei zeigt sich, daß solche Wege selber zum Sachverhalt gehören. Je näher wir der Sache [dieses Sachverhaltes] kommen, um so be-deutender wird der Weg.«387
HEIDEGGER sagt hier nichts anderes, als daß die gesamte Geschichte des Seienden als Geschichte (der Selbstverlassenheit) des Seins zu dem einen Selbstverhalten des Seins »gehören«. Da dieses Selbstverhalten schlechterdings nichts anderes ist als das Sein, ist die gesamte Geschichte des Seienden als solchen der »Sachverhalt«, welcher das Sein ist. LANDOLT betont, daß Sein und Zeit deshalb unvollendet bleibt, weil der Sachverhalt, in dem der »Sinn« und das »Wesen« des »Seins« besteht, nicht zur Sprache gebracht werden konnte. »Die Dürftigkeit der Sprache, gerade ihre Unangemessenheit dem Sachverhalt, dem ›Wesen des Seins‹ hinsichtlich des ihm eigenen Sinnes gegenüber, es zu nennen und auszudrücken, hinderte die Fortsetzung von ›Sein und Zeit‹«.388
Der Sinn des Seins ist, wie bereits gezeigt, die Wahrheit des Seins, und diese ist das Wesen (als Wesung) des Seins, und dieses ist das Selbstverhalten, in dem sich das Sein erschöpft, und dieses Selbstverhalten ist nichts anderes als die Differenz, d.h. die nicht-identische Identität des Seins. Kurzum: der Sachverhalt, von dem hier die Rede ist, ist die Differenz und damit das Sein selbst als ›Sach-verhalt‹. HAEFFNER bezeichnet HEIDEGGERS ontologische Differenz treffend als »Differenz-Identität« und diese als »eigenartigen Sachverhalt « oder auch »wesenhaften Sachverhalt«, welcher der Grund für die Einheit und Vielheit des Seienden sei.389 Das Selbstverhalten des Seins ist dessen Differenz. Deshalb ist der eine und einzige »Sachverhalt«, um den es HEIDEGGER 387 388 389
SvG, 94./GA 10, 77. LANDOLT [1992a], 32. HAEFFNER [1974], 64. 66.
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Kapitel 2
stets geht, die ontologische Differenz. Diese ist als Selbstverhalten des Seins selbst der gesuchte »Sachverhalt«. MARX betont, daß für HEIDEGGER nach der Kehre der »›einzigartige Sachverhalt‹« der ontologischen Differenz, »daß und wie aus dem Geschehen der Differenz ›Sein‹ das ›Seiende‹ ermöglicht, »die ›Sache‹ seines Denkens« wird.390 Dieser Sachverhalt trägt einen Namen: »Ontologische Differenz«. Die ontologische Differenz als das Sich-selbst-gegenüber-liegen-des-Seins-als-Seiendes (oder als das Sein als Seinsgeschichte bzw. Geschichte des Seienden als solchen). Es gilt zu beachten, daß gemeinhin von Sachverhalten als dem Selbstverhalten der Sachen gesprochen wird. Mit dem Sein als rein prozessualer Autoperformanz hat HEIDEGGER nun nichts anderes im Blick als das Selbstverhalten des Seins. Die rein prozessuale Autoperformanz ist gewissermaßen die Antwort auf die Frage: Wie verhält sich das Sein? Und das Sein verhält sich so, daß es sich rein prozessual autoperformiert. Ja, das Sein selbst erschöpft sich völlig in seinem Selbstverhalten, es ist nichts anderes als dieses Selbstverhalten! Sein ist Zeit. In diesem Sinn ist HEIDEGGERS Sein selbst als »Seinsverhalt« nichts anderes als der Sachverhalt schlechthin. Daher spricht HEIDEGGER von der Art und Weise, wie das Sein sich verhält, als von einem »einzigartigen Sachverhalt«, d.h. dieser Sachverhalt ist der eine und einzige »Sachverhalt«, neben dem es keinen anderen »Sachverhalt« geben kann. In diesem Sinn spricht er auch davon, daß die Wege der Philosophiegeschichte alle ausnahmslos »zum Sachverhalt« gehören. Denn die gesamte Geschichte des Seienden als solchen und damit auch die gesamte Philosphiegeschichte sind in HEIDEGGERS Augen der Selbstvollzug des Selbstverhaltens, die ›Selbstverhaltensartikulationen‹ des einen und einzigen ›Seinsverhalts‹, wobei abermals zu beachten ist, daß sich das Sein in seinem Verhalten erschöpft. M.a.W., die Sache des Seins ist nichts anderes als ein bzw. der Sachverhalt. Auch hier gilt es einmal mehr zu beachten, daß HEIDEGGER das Wort »Sachverhalt« gleichsam zu einer »Vokabel« des »HEIDEGGERISCHEN« macht. Das Sein selbst ist für HEIDEGGER ferner auch »Verhältnis«, insofern sich das Sein, so abwegig es auch klingen mag, »in sich oszillierend
390
MARX [1961], 131.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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zwischen Polen« (SEIDL)391 als Seiendes gleichsam oszillierend polarisiert, und zwar gerade so, daß sich weder Sein und Seiendes noch irgendein Seiendes von anderem Seienden »seinsvergessen« unterscheiden läßt. Einen Ausdruck HEIDEGGERS entlehnend läßt sich auch sagen: Das Sein »verschwebt« als Seiendes und das Seiende »verschwebt« unausgesetzt als Sein. Das Sein des Seienden ist in sich nichts anderes als das unausgesetzte Verschweben in sich selbst, d.h. in der Andersheit, welche Andersheit aber nichts anderes ist als die Selbigkeit/Identität des Seins selbst. In HEIDEGGERS Welt gibt es nicht einmal zwei wirklich verschiedene Dinge, schon gar nicht gibt es mehr als zwei verschiedene Dinge. Das alles sind lediglich »vorverwundene« Denkformen. Authentischer Unterschied, verschiedene Substanzen, Gott als esse subsistens, in Ähnlichkeit und damit in Verschiedenheit gründende Analogie des Seins sind lediglich Weisen, wie sich das Sein sich selbst vorenthält.392 Da sind nicht das Sein a se und das Seiende ab alio als zwei verschiedene, die in eine Relation treten, und da sind auch keine authentisch verschiedenen Seienden, vielmehr soll die Relation die beiden Relaten überhaupt erst hervorbringen, sie er-eignet alles »Eigene« aber nur als Er-eignis seiner selbst. »Das Sein verschwindet im Ereignis.«393
391 392
393
SEIDL [2005], 142. »Die Analogie des Seins – diese Bestimmung ist keine Lösung der Seinsfrage, ja nicht einmal eine wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung, sondern der Titel für die härteste Aporie, Ausweglosigkeit, in der das antike Philosophieren und damit alles nachfolgende bis heute eingemauert ist.« GA 33, 46. ZSD, 22./GA 14, 27. »Das Ereignen ist kein Ergebnis (Resultat) aus anderem, aber die Er-gebnis, deren reichendes Geben erst dergleichen wie ein ›Es gibt‹ gewährt, dessen auch noch ›das Sein‹ bedarf, um als Anwesen in sein Eigenes zu gelangen.« UzS, 258./GA 12, 247. »Ereignis ist nicht der umgreifende Oberbegriff, unter den sich Sein und Zeit einordnen ließen. Logische Ordnungsbeziehungen sagen hier nichts. Denn, indem wir dem Sein selbst nachdenken und seinem Eigenen folgen, erweist es sich als die durch das Reichen von Zeit gewährte Gabe des Geschickes von Anwesenheit. Die Gabe von Anwesen ist Eigentum des Ereignens. Sein verschwindet im Ereignis. In der Wendung: ›Sein als das Ereignis‹ meint das ›als‹ jetzt: Sein, Anwesenlassen geschickt im Ereignen, Zeit gereicht im Ereignen. Zeit und Sein ereignet im Ereignis. Und dieses selbst? Läßt sich vom Ereignis noch mehr sagen?« ZSD, 22f./GA 14, 27. »Allein die einzige Absicht […] geht dahin, das Sein selbst als das Ereignis in den Blick zu bringen.« ZSD, 22./GA 14, 26.
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Kapitel 2 »Nunmehr zeigt sich: Was beide Sachen zueinander gehören läßt, was beide Sachen nicht nur in ihr Eigenes bringt, sondern in ihr Zusammengehören verwahrt und darin hält, der Verhalt beider Sachen, der SachVerhalt, ist das Ereignis. Der Sach-Verhalt kommt nicht nachträglich als aufgestocktes Verhältnis zu Sein und Zeit hinzu. Der Sach-Verhalt ereignet erst Sein und Zeit aus ihrem Verhältnis in ihr Eigenes, und zwar durch das im Geschick und im lichtenden Reichen sich verbergende Ereignen. Demnach bezeugt sich das Es, das gibt, im Es gibt Sein, Es gibt Zeit, als das Ereignis.«394
»Der Sach-Verhalt ereignet erst Sein und Zeit aus ihrem Verhältnis in ihr Eigenes.« Sein und Zeit sind nicht je für sich etwas Eigenes, sondern werden erst durch ein »Verhältnis« in ihr Eigenes ereignet.395 Da sind also nicht zwei je »eigene« d.h. verschiedene, die in einem Verhältnis stehen, sondern ein »Verhältnis« »ver-hält« die beiden überhaupt erst in einer alle authentische Verschiedenheit irgendwie ausschließenden Reziprozität zu sich selbst. Dieses allerdings äußerst sonderbare »Verhältnis« ist das Ereignis, im Sinne von dem, was »beider« »Eigen« überhaupt erst er-bringt und stiftet. Damit wird der Ausdruck »Sachverhalt« bei HEIDEGGER nur wieder ein anderes »Kostüm« (GIVSAN) für das Sein des Seienden neben Ausdrücken wie »Differenz«, »Ereignis«, »Zeit«, »Geschehnis«, »Gegnet«, »Unverborgenheit«, »Lichtung«, »Anwesen«, »Seyn«, »Offenheit«, »Wesen«, »Wahrheit«, das »Seiende« etc.396
394 395
396
ZSD, 20./GA 14, 24. Man muß beachten, daß hier für Zeit bei HEIDEGGER auch das Seiende eingesetzt werden kann und muß, denn: »Die Zeit zeitigt. Zeitigen heißt: reifen, aufgehenlassen. Das Zeitige ist das Aufgehend-Aufgegangene [d.h. das Sein des Seienden]. Was zeitigt die Zeit? Antwort: das Gleich-zeitige [das Sein »und« das Seiende], d.h. das auf dieselbe einige Weise in ihr Aufgehende.« UzS, 213./ GA 12, 201. Vgl. BRETSCHNEIDER [1965], 182. »Das Seyn west – das will sagen: das Seyn west allein das Wesen seiner selbst (Ereignis).« GA 65, 473. Vgl. AUGSBERG [2003], 112.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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»Es – das Ereignis – eignet.«397 »Das Ding dingt.«398 »Die Welt weltet.«399 »Die Zeit zeitigt.«400 »Das Sein ist es selbst« »Sein: Nichts: Selbes.«401
Die Bezeichnung »Sachverhalt« für das Sein selbst kommt HEIDEGGER in noch anderer Hinsicht entgegen. Denn in dem Wort Sachverhalt ist zum Teil dasselbe Wort enthalten wie in dem Substantiv »Verhaltenheit« im Sinne der Zurückhaltung und des Vorenthaltens. Wollte man die sich hinter HEIDEGGERS Gebrauch des Ausdrucks »Sach-Verhalt« liegende Intention in einem Satz zusammenfassen, so ließe sich in einer verschärft paronomastischen Weise vielleicht sagen: Der »Sach-Verhalt«, den es auszuhalten gilt, ist die »Verhaltenheit des Seins« als das Vorenthalten seiner selbst, welches nichts anderes ist als die gesamte Geschichte des »Selbstverhaltens« des »Selbstverhältnisses«. Schärfer noch: Das Sein ist Sach-Verhalt, weil dessen Selbstverhalten Selbst-Verhaltenheit, Selbst-Vorenthalt und Selbst-Zurückhalt ist. Allerdings ist an dieser Stelle folgendes zu betonen: HEIDEGGER spricht, soweit ersichtlich, nicht direkt von dem »SachVerhalt« als der »Verhaltenheit« der Sache des Seins. HEIDEGGER selbst unterstreicht vielmehr: »Das Sein selber ist das Verhältnis […]« und bezieht sich damit auf das Verhältnis der »Ek-sistenz« zwischen Sein und Dasein. Aber von diesem »Verhältnis« sagt HEIDEGGER in der hier zugrundeliegenden Ausgabe von Über den Humanismus, welcher auch die Randbemerkungen HEIDEGGERS aus seinen Handexemplaren beigefügt sind: »Verhältnis aus Verhaltenheit (Vorenthalt) der Verweigerung (des Entzugs).«402 Wenn nun das »Verhältnis« zwischen Sein und Dasein gerade auch als »Verhaltenheit« im Sinne des »Vorenthalts« und des »Entzugs« des Seins zu lesen ist, dann zwingt sich geradezu die Annahme auf, daß HEIDEGGER die Bezeichnung »Sachverhalt« und »Sach-Verhalt« auch im Sinn von »Sach-Verhaltenheit« und »Sach-Vorenthalt« verwendet, zumal er »Sachverhalt« und »Sach-Verhalt« ausdrücklich als »Verhältnis« und als »Verhalten« versteht. Das Verhalten des Seins besteht just darin, das es ein 397 398 399 400 401 402
UzS, 259./GA 12, 247. Vgl. GA 79, 73. Vgl. GA 79, 77. UzS, 213./GA 12, 201. VS, 101./GA 15, 363. S. Hum, 24./GA 9, 332, Fußn. a.
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Sich-selbst-Vorenthalten und Selbstverhaltenheit ist. Der Sachverhalt, den es, wie HEIDEGGER betont, auszuhalten gilt, ist das sich entbergende Sein, dessen Entbergung immer auch Verbergung ist. Weil es die Sache des Seins ist, Selbstverhaltenheit zu sein und sich vorzuenthalten, deshalb ist HEIDEGGERS Sein auch der »Sachverhalt« oder »Sach-Verhalt«, den es auszuhalten gilt. Für HEIDEGGER ist das Sein Sach-Verhalt, weil das Sein Selbstverhalten ist und sich restlos in diesem erschöpft. Dieses Selbstverhalten, in dem und als welches sich das Seiende erschöpft, ist nichts anderes als die Zeit, in dem sich das Sein erschöpft, weil das Sein als Ereignis nichts anderes ist als sein eigenes Geschehen. Das Verhältnis, welches in das Eigene ereignet, ist aber in HEIDEGGERS Augen nichts anderes als die Differenz. Diese Differenz ist das Sein, welches sich als Seiendes »zu sich ver-hält«. Imgleichen ist dieses Geschehen wesentlich die Selbstzurückhaltung bzw. die Verhaltenheit. Als wesentliche Verhaltenheit seiner selbst ist das Sein Sach-Verhalt. Wovor sich das Sein zurückhält, oder gegenüber was sich das Sein in Verhaltenheit hüllt, ist wieder nur das Sein selbst. Hier gilt dasselbe wie im Fall der Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit. Als Seiendes hält sich das Sein sich selbst gegenüber zurück. In der eigenen Andersheit des Seienden ist das Geschehnis sich selbst gegenüber stets verhaltenes Geschehnis. HEIDEGGER nennt demnach das Ereignis (das Sein) »Sach-Verhalt«, weil das Sein in seinem eigenen Verhalten, d.h. seiner eigenen Prozessualität aufgeht. HEIDEGGER nennt ferner das Sein (das Ereignis) »Sachverhalt«, weil das Sein als Seiendes nichts anderes ist als »Selbstverhältnis« des Seins als differenter Identität. Schließlich nennt HEIDEGGER das Sein (das Ereignis) »Sachverhalt«, weil das Sein als Verlassenheit seiner selbst die Zurückhaltung oder die Verhaltenheit oder der Vorenthalt seiner selbst ist. Das Sein ist die »Sache«, welche sich sich selbst gegenüber in Verhaltenheit zurückhält. oder welche sich sich vorenthält. Kurzum: Das Sein/das Ereignis ist für HEIDEGGER Sachverhalt/Sach-Verhalt, weil das »Selbst« des Seins darin besteht, »Verhalten« (Prozessualität) »Verhältnis« (Differenz), und »Verhaltenheit« (Verlassenheit seiner selbst) zu sein, und zwar so, daß auch diese Aspekte koinzidieren. In diesem Sinn muß gesagt werden, daß das von HEIDEGGER gedachte Sein selbst nur als »Sach-Verhalt« es selbst sein kann.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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2.4 Zusammenfassung Erstens: Wenn HEIDEGGER davon spricht, daß die Metaphysik Sein und Seiendes verwechselt und beide nicht unterscheidet, dann will er damit verwirrenderweise nicht sagen, daß die Metaphysik das Sein und das Seiende für dasselbe hält und irgendwie konfundiert. HEIDEGGER macht ausdrücklich darauf aufmerksam, daß die Metaphysik Sein und Seiendes streng unterscheidet. Wenn die Metaphysik unter dem Sein selbst Gott als das esse per se subsistens versteht, dann wird Gott klar von allem Seienden als dem ens ab alio unterschieden. Wenn die Metaphysik unter dem Sein selbst den äußerst abstrakten Begriff des esse transzendentale versteht, dann wird dieses als Begriff und Abstraktion eindeutig von allem konkret Seienden unterschieden, von denen es als Begriff abstrahiert ist. HEIDEGGER versteht aber genau dieses strenge Unterscheiden und Nichtverwechseln paradoxerweise als Nichtunterscheiden und Verwechseln von Sein und Seiendem, womit er all diese Ausdrücke in einer äußerst eigenwilligen und verwirrenden Weise gebraucht. Warum hält HEIDEGGER das Unterscheiden für ein Nichtunterscheiden und das Nichtverwechseln für ein Verwechseln? Wenn Gott als esse subsistens von allen Seienden als ens ab alio unterschieden wird, dann wird in HEIDEGGERS Augen durch die Unterscheidung das Sein selbst (Gott) zu einem Sein »neben« den vielen verschiedenen Seienden. Damit wird unter dem Sein selbst aber nur wieder zu den ohnehin schon als verschieden angesehenen Seienden ein weiteres davon verschiedenes Seiendes hinzugedacht. Weil aber das so verstandene Sein selbst von dem Seienden verschieden ist, ist es in HEIDEGGERS Augen bloß wieder ein weiteres je Seiendes neben anderen je Seienden. Als ein weiteres je Seiendes ist es bloß wieder »dasselbe« wie die anderen verschiedenen je Seienden. Alle diese verschiedenen Seienden werden also deshalb »nicht« voneinander unterschieden bzw. miteinander »verwechselt«, weil durch die strenge Unterscheidung aller alle nur wieder je Seiende sind. Man kann sagen, daß für HEIDEGGER genau dann alle Katzen grau sind, wenn jede ihre eigene unverwechselbare Farbe hat. Wenn die Metaphysik unter dem Sein selbst das esse transzendentale versteht und dieses auch von den Seienden unterscheidet, dann wird in HEIDEGGERS Augen abermals gerade nicht unterschieden. Denn in HEIDEGGERS Augen ist das esse transzendentale nur wieder ein Indikator für die Verschieden-
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heit der Seienden. Das ens commune gründet in dieser Verschiedenheit und weist auf diese Verschiedenheit zurück. Kurzum: Der Sache nach gibt es doch nur wieder verschiedene »Seiende«. Alle »Seienden« sind somit für HEIDEGGER »dasselbe«, nämlich je verschiedene Seiende. Das ens commune als abstrakter Begriff macht da keine Ausnahme. Als Begriff und Abstraktion ist es ja wesentlich verschieden von den Ausgangspunkten der Abstraktion, welche ihrerseits keine Begriffe sind. Folglich ist es selbst auch nur wieder ein Seiendes neben anderem Seienden. Dieses sonderbare, paradoxe und verwirrende »Spiel« mit den Worten »verwechseln« und »nichtunterscheiden« bzw. »nichtverwechseln« und »unterscheiden« bildet den Grundtenor von HEIDEGGERS Denken. Der Nachvollzug dieses »Spiels« ist unerläßlich für den Nachvollzug HEIDEGGERS. Es bildet den hermeneutischen Schlüssel zu HEIDEGGERS Seinsbegriff schlechthin. Zweitens: Für HEIDEGGER sind nicht nur Metaphysik, Nihilismus, Technik und Seinsverlassenheit dasselbe, vielmehr sind Metaphysik, Nihilismus und Seinsverlassenheit dasselbe wie das Sein selbst. In der Seinsverlassenheit ist nicht das Sein gewissermaßen »weggegangen«, um sich »woanders« aufzuhalten, und es ist auch nichts und niemand vom Sein »weggegangen«, um sich jetzt ohne das Sein »woanders« aufzuhalten, sondern das Selbst (die Identität) des Seins besteht in nichts anderem, als Verlassenheit (Differenz) seiner selbst zu sein. Der Genitiv im Ausdruck Seinsverlassenheit ist in HEIDEGGERS Augen subjektiver und objektiver Genitiv zugleich. Das Verlassende und das Verlassene werden von HEIDEGGER restlos miteinander konfundiert. Diese sonderbare Denkfigur stellt einen der weiteren Gründe für die äußerste Schwerverständlichkeit und den verwirrenden Charakter des HEIDEGGERSCHEN Denkens dar. Drittens: Die Metaphysik, welche HEIDEGGER so sehr zu kritisieren scheint, ist in HEIDEGGERS Augen das von ihm anvisierte Sein selbst, weil dieses als es selbst die Verlassenheit seiner selbst und damit die Metaphysik sein muß. Wer dies eigens zu sehen in der Lage ist, in dem hat sich, so HEIDEGGER, das Sein selbst verwunden. Weil das Sein selbst als Verlassenheit seiner selbst die Metaphysik ist, deshalb kann diese auch, wie HEIDEGGER immer wieder betont, kein wirklicher Fehler, Mangel oder
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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Irrtum sein. Die Metaphysik ist zwar die »Irre«, aber nur deshalb, weil das Sein selbst diese »Irre« und der »Unfug« ist.403 Viertens: Das Sein ist deshalb Seinsverlassenheit, weil es Sein des Seienden ist. Seinsverlassenheit und Sein des Seienden sind wieder ein und dasselbe. Denn das Sein ist nur deshalb die Verlassenheit seiner selbst, weil es als Seiendes die Andersheit seiner selbst ist. Das Sein ist bei HEIDEGGER nichts anderes als die Andersheit seiner selbst als Seiendes. Deshalb sind Sein und Seiendes für HEIDEGGER schlechterdings dasselbe. Deshalb ist HEIDEGGER aber auch in der Lage, einmal zu sagen, das Sein sei das Seiende und ein andermal, das Sein sei nicht das Seiende. Da das Seiende bloß die Andersheit des Seins ist und umgekehrt, sind Sein und Seiendes dasselbe, denn das Sein ist Sein des Seienden, d.h. es ist die Andersheit (Verlassenheit) seiner selbst. Da jedoch das Seiende die Andersheit des Seins ist und umgekehrt, sind beide »nicht« dasselbe, denn als Andersheit seiner selbst ist das Sein immer schon als Seiendes das eigene »Nichts«. HEIDEGGER sieht sich nachgerade gezwungen zu sagen, das Sein sei nicht das Seiende, gerade weil beide dasselbe sind, denn die Selbigkeit des Seins ist es, Andersheit (Differenz) zu sein. HEIDEGGERS Sein des Seienden ist ein »Januskopf«404 und ein »Zwieselwesen«.405 Nur wenn man immer wieder auf diese sonderbare Denkfigur hinweist, läßt sich das in HEIDEGGERS Texten Gemeinte aufschließen. Bei HEIDEGGER ist die Verschiedenheit des Seins vom Seienden nichts anderes als die Selbstverschiedenheit des Seins als Seiendes, welche Selbstverschiedenheit wiederum das Selbst des Seins ist. Diese Denkfigur läßt sich auch so formulieren: Das Seiende ist in Heideggers Augen gerade deshalb nichts anderes als das Sein, weil es dessen Andersheit (Nichts) ist! Das Sein ist in HEIDEGGERS Augen deshalb nichts anderes als das Seiende, weil das Sein die Andersheit des Seienden, und die Andersheit nichts anderes als das Selbst des Seins ist. HEIDEGGERS Selbigkeit (Identität/Sein selbst) ist Andersheit (Differenz/das Seiende) und Andersheit ist Selbigkeit. Deshalb gilt: »Sein: Nichts: Selbes« oder »Das Sein ist Sein des Seienden.« Kurzum: Das Seiende ist nichts anderes als das Sein, gerade weil es die Andersheit des Seins ist, in welcher Andersheit 403 404 405
Vgl. GA 52, 102. Vgl. ZSD, 57./GA 14, 63. Vgl. zum Ausdruck »Zwiesel« SvG, 174./GA 10, 156.
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das Selbst-Sein des Seins besteht. Da die Technik nichts anderes ist als Seinsverlassenheit, und die Seinsverlassenheit nichts anderes ist als das Sein (es ist, noch einmal, deshalb nichts anderes, weil es die Andersheit des Seins ist), ist die Technik nichts anderes als das Sein selbst. Deshalb nennt HEIDEGGER die Technik einen »Januskopf«,406 wobei stets zu beachten ist, daß die Technik als Januskopf nichts anderes ist als die Janusköpfigkeit oder Zwieselhaftigkeit des Seins selbst. Als Technik verschärft sich das Sein als Selbstverlassenheit (als Seiendes) derart, daß die Selbstverlassenheit aufhört. Die Selbstverlassenheit des Seins bringt ihr Ende aus nichts anderem als aus sich selbst hervor. Dies unterstreicht HEIDEGGER immer wieder dadurch, daß er sagt, daß nur die schärfste Selbstverlassenheit die Kehre oder den Umschlag bewerkstelligt. Fünftens: Wenn es nur eine einzige Sache gibt, nämlich das Sein selbst, wie kann HEIDEGGER dann verwirrenderweise und immer wieder sagen: Das Sein ist zwar das »Ist« des Seienden, aber selbst kein Seiendes oder: Das Sein ist zwar das Dinghafte am Ding, aber selber kein Ding? Man muß sich gegen die von HEIDEGGER ins eigene Sein geschlagenen zahlreichen »Holzwege« immer wieder vor Augen halten, was HEIDEGGER unter dem »Seienden« oder dem »Ding« versteht. Seiend ist für HEIDEGGER gleichbedeutend mit verschiedene Seiende. »Ein Seiendes sein« heißt für HEIDEGGER ein von irgendeinem anderen Seienden irgendwie verschieden sein! Anders ausgedrückt: Von einem Seienden kann bei HEIDEGGER nur da gesprochen werden, wo es »neben« diesem mindestens noch ein in irgendeiner Weise anderes und weiteres Seiendes gibt. Da es aber in HEIDEGGERS Augen überhaupt keine, auch nicht die leiseste authentische Verschiedenheit von zwei verschiedenen Dingen oder Seienden gibt, deshalb ist das Sein, gerade weil es der absolute Singular ist, in HEIDEGGERS Augen kein Seiendes, will sagen: das Sein steht nicht neben einem anderen Sein bzw. Seienden, weil es ja nichts voneinander Verschiedenes gibt. Deshalb sagt HEIDEGGER immer wieder, und kann HEIDEGGER immer wieder in verwirrender Weise sagen: Das Sein ist kein Seiendes. Aber gerade, weil es in HEIDEGGERS nichts voneinander Verschiedenes gibt, kann HEIDEGGER im verwirrenden selben Atemzug sagen: Das Sein ist das Seiende, schärfer: das »Ist« eines jeden vermeintlich je mit sich identi406
ZSD, 57./GA 14, 63.
Das Sein Selbst in seiner Differenz
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schen Seienden ist das eine absolut und unbedingt singuläre Selbst des Seins selbst. Erst wenn man sieht und sich unausgesetzt vor Augen hält – was angesichts des HEIDEGGERSCHEN »Versteckspiels mit der Sprache« nicht einfach ist – daß das von HEIDEGGER vom Sein selbst abgespreizte Seiende Verschiedenheit mindestens zweier irgendwie verschiedener Seiender besagt, sieht man auch, warum für HEIDEGGER das Sein und das Seiende restlos dasselbe sind und sein müssen! Wie bereits gegen Ende des ersten Teils deutlich wurde, verwendet HEIDEGGER den Ausdruck Sach-Verhalt nicht in einem technischen Sinn. Wenn er den Ausdruck Sach-Verhalt verwendet, dann spricht er gewissermaßen »heideggerisch«, und es gilt nun den Ausdruck aus dem »Heideggerischen« zu übersetzen. Sach-Verhalt ist für HEIDEGGER ein anderer Name für das Sein selbst, welches wiederum nichts anderes ist als »Er-eignis«, »Seinsverlassenheit«, »Seinsgeschichtlichkeit« bzw. »ontologische Differenz« etc. Es wurde ebenfalls bereits deutlich gemacht, daß HEIDEGGER aus insbesondere drei Gründen Sach-Verhalt als einen weiteren Namen für das Sein/die Differenz gebraucht. Das Sein ist Sach-Verhalt, weil es sich in seinem Verhalten, d.h. in seiner Prozessualität erschöpft. Das Sein ist SachVerhalt, weil es nichts anderes ist als das sonderbare »Verhältnis« des Seins zu dessen eigener Andersheit als Seiendes und das Verhältnis des Seienden zu dessen eigener Andersheit als Sein. Schließlich ist Sach-Verhalt ein anderes Wort für das Sein, weil dieses als Verlassenheit seiner selbst Selbst-Verhaltenheit, Selbstvorenthalt (Zurückhaltung) ist. Offensichtlich trifft gerade auch für das Wort »Sachverhalt« bzw. »Sach-Verhalt« zu, was für so gut wie »alle« von HEIDEGGER gebrauchten Worte zutrifft. Es hat einen »Hof von Nebenbedeutungen« (POISS). Nun stellt sich angesicht des heideggerschen Sach-Verhalts die kritische Frage, was Sachverhalte als solche überhaupt sind, und es stellt sich die Frage, ob HEIDEGGERS Sach-Verhalt (das Sein/das Ereignis/die Differenz) Sachverhalte überhaupt erreicht, oder, anders gewendet, es stellt sich die Frage, inwiefern gerade Sachverhalte im allgemeinen und eventuelle besondere Arten von Sachverhalten HEIDEGGERS Sach-Verhalt unmöglich machen. Um die Grundlage für eine entsprechende Kritik zu schaffen, müssen Sachverhalte als solche untersucht werden. Dies ist die Aufgabe des zweiten Teils der Arbeit. Dieser Teil der Arbeit wird bereits zeigen, daß
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»ironischerweise« gerade Sachverhalte HEIDEGGERS »Sein« als »SachVerhalt« unmöglich machen.
ZWEITER HAUPTTEIL 3. ZUR GESCHICHTE DES SACHVERHALTSBEGRIFFS 3.1 Vorbemerkungen Es wird im folgenden historischen Überblick in dreierlei Hinsicht kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Erstens können hier nicht alle Denker berücksichtigt werden, die sich in der Vergangenheit mit Sachverhalten befaßt haben. Darüber hinaus müssen auch viele unmittelbar zeitgenössische Denker unberücksichtigt bleiben, in deren Philosophie Sachverhalte thematisiert werden. Zweitens erheben die Ausführungen zu den einzelnen Denkern weder den Anspruch, deren Sachverhaltsbegriff erschöpfend darzustellen noch kann hier immer der eventuell wechselvolle Werdegang des Sachverhaltsbegriffs bei einem einzelnen Denker verfolgt werden. In all diesen Hinsichten stellt der durch den gegebenen Rahmen begrenzte historische Überblick lediglich eine vergleichsweise bescheidene Auswahl dar. Besonders berücksichtigt wird hier allerdings der Sachverhaltsbegriff gewisser mittelalterlicher Denker. In der zeitgenössischen Literatur zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs wird zwar in der Regel darauf aufmerksam gemacht, daß Sachverhalte nicht erst im 19. Jh. entdeckt worden sind. Aber die meist nur flüchtigen Hinweise werden der Bedeutung und dem Ausmaß der Einsichten, wie sie etwa bei ADAM WODEHAM und bei GREGOR VON RIMINI vorliegen, nicht gerecht. Der historische Überblick dient nicht allein einem rein geschichtlichen Interesse. Vielmehr soll dieser Überblick gleichzeitig zu Sachverhalten als eminent philosophischer Thematik hinführen. So wird etwa der Problemzusammenhang zwischen Sachverhalten und der Frage nach dem Wesen der logischen Wahrheit deutlich zu Tage treten. Daneben soll der historische Überblick auch einen Eindruck von dem authentisch philosophischen Bemühen zahreicher Denker vermitteln, die Frage zu lösen: »Was ist das eigentlich, der Sachverhalt?« Dieses Bemühen gründet in einem authentischen und oft genialen Problembewußtsein dieser Philosophen. Im Unterschied zu diesen Denkern spricht HEIDEGGER zwar vom »Sachverhalt« bzw. »Sach-Verhalt«, und insofern er diesen mit dem Sein des Seienden identifiziert, ist der Begriff in gewisser Hinsicht auch überaus
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Kapitel 3
bedeutungsgeladen. Aber die Frage, was Sachverhalte als Sachverhalte eigentlich sind, wird bei HEIDEGGER nicht gestellt. Vielmehr wird der Sach-Verhalt in der für HEIDEGGER typischen schwimmenden sprachlichen und begrifflichen Vagheit, welche ja in HEIDEGGERS Augen nur der Ausdruck für die sich verbergende Selbstverhaltenheit des Seins sind, mal mit Verhältnis (Differenz), Verhalten (Prozessualität) und schließlich mit Verhaltenheit (Selbstverlassenheit) im Sinne der Zurückhaltung assoziiert. Wenn HEIDEGGER von Sein, Ereignis, Unverborgenheit und schließlich von Sach-Verhalt spricht, dann interessiert ihn immer nur das eine und einzige Sein selbst. Die Frage, was Sachverhalte als solche seien, gehört in HEIDEGGERS Augen in die zu verwindende Seinsverlassenheit und betrifft damit immer schon das eine und einzige Sein des Seienden und nicht etwa Sachverhalte als solche. Wenn man indes nicht mit HEIDEGGER an den Dingen vorbei und durch sie hindurch auf deren vermeintliche Andersheit beschränkt ist, dann leuchtet gerade aufgrund des Soseins von Sachverhalten die Fragwürdigkeit von HEIDEGGERS Sach-Verhalt und damit die Fragwürdigkeit von HEIDEGGERS Sein selbst auf. Durch den abschließenden Teil der Arbeit soll ein Ausblick darauf gegeben werden, wie gerade durch das Sosein und Dasein von Sachverhalten bzw. bestimmten Sachverhalten HEIDEGGERS Sach-Verhalt fragwürdig wird. Dem aufmerksamen Leser könnte sich in Anbetracht des soeben Gesagten dennoch die Frage nach dem genauen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Hauptteil der Arbeit stellen. Wenn HEIDEGGER von »Sachverhalt« oder vom »Sach-Verhalt« spricht, damit jedoch nicht Sachverhalte als solche im Blick hat, sondern sein »Sein selbst« und der zweite Teil von Sachverhalten als solchen handelt, ohne auf die Seinsfrage als solche gerichtet zu sein, welche Gemeinsamkeit soll dann noch beide Teile verbinden? Die Antwort auf diese Frage lautet zunächst: In gewisser Hinsicht haben die beiden Haupteile »nichts« gemein. Der Grund dafür liegt in der soeben aufgezeigten Bedeutungsverschiedenheit des Ausdrucks »Sachverhalt«. Es ist in beiden Haupteilen in der Tat zunächst von je Verschiedenem die Rede. Aber HEIDEGGERS Sach-Verhalts-Begriff soll als Seinsbegriff ja alles Seiende betreffen. Wenn nun herausgestellt wird, daß Sachverhalte als solche und als eine Art des Seienden von HEIDEGGERS Sach-Verhalts- bzw Seinsbegriff nicht erreicht werden können, dann scheitert HEIDEGGERS »Sach-Verhalt« ironischerweise gerade an Sachverhalten
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
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als solchen. In diesem Sinn haben der erste und zweite Hauptteil der Arbeit in eminentester Weise miteinander zu tun. 3.2 Der Sachverhalt in Antike und Mittelalter 3.2.1 Hinweise auf »Sachverhalte« bei Aristoteles Das späte 19. und frühe 20. Jh. stellen ohne Zweifel eine herausragende Blütezeit des Sachverhaltsbegriffs dar. SIMONS spricht im Hinblick auf diese Phase vom »heyday« des »concept of state of affairs«.407 Diese späte Blütezeit des Sachverhaltsbegriffs und die unten noch zu berücksichtigende Tatsache, daß der erste philosophische Gebrauch der sprachlichen Ausdrücke »Sachverhalt« oder »state of affairs« allem Anschein nach ebenfalls an diese Zeit gebunden sind, können allerdings dazu führen, in Sachverhalten einen rein modernen Gegenstand zu sehen. »It is«, wie sich SIMONS ausdrückt, »tempting to regard the concept in its philosophical employment as a thoroughly modern invention.«408 Aber der Gegenstand, der durch die verschiedenen sprachlichen Ausdrücke »Sachverhalt« und »state of affairs« bezeichnet und durch denselben Begriffsinhalt gemeint ist, war, wenn auch unter anderen Ausdrücken, bereits im Mittelalter Thema philosophischer Überlegungen. Und da mittelalterliche Denker, wie SIMONS hervorhebt, in aller Regel bemüht waren, ihre Auffassungen irgendwie auf ARISTOTELES zu beziehen und im Zusammenhang mit dem Denken dieser für sie herausragenden Autorität zu sehen, steht zu erwarten, wie SIMONS, der diesbezüglich von NUCHELMANS409 inspiriert ist, meint, daß sich auch beim Stagiriten so etwas wie ein Sachverhaltsbegriff finden läßt.410
407 408 409 410
SIMONS [1987], 9. SIMONS [1987], 9. SIMONS [1987], 21, Fußn. 4. »Nevertheless, a similar concept was known to medieval philosophy, and the medievals in question – as was usual then – referred back to the authority of Aristotle, in support of their views. I claim that those medievals who ascribed something like a concept of state of affairs to Aristotle were right.« SIMONS [1987], 9.
176
Kapitel 3
Es kann an dieser Stelle keine Untersuchung über den Sachverhaltsbegriff in Antike und Mittelalter vorgelegt werden. Daher dienen auch die folgenden Bemerkungen einem skizzenhaften historischen Überblick, der in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Eine entsprechende historische Betrachtung dürfte eine eigenständige oder gar mehrere eigenständige Arbeiten erfordern. SIMONS widmet sich in seiner Untersuchung Aristotle’s Concept of State of Affairs der Frage, ob sich so etwas wie »Sachverhalte« der Sache nach bereits bei ARISTOTELES irgendwie auffinden lassen. Um diese Frage beantworten zu können, wendet SIMONS eine bemerkenswerte Methode an. Er stellt zunächst gewisse besondere Eigenschaften von Sachverhalten heraus und sucht dann bei ARISTOTELES nach einer Gegebenheit, der alle diese besonderen Eigenschaften ebenfalls zukommen. Um gewissen Mißverständnissen möglichst vorzubeugen, betont SIMONS allerdings, daß »Aristotle’s discussion […] so compressed« ist, »and so full of ambiguities that no interpretation can be uncontroversial. In discussing semantic matters, Aristotle uses no specially developed terminology, and he is also sparing in his usage of examples. It is no accident that medieval commentators on these writings of Aristotle […] diverged widely in their interpretations.«411
Bereits die einschlägige Terminologie des ARISTOTELES, die sprachlich sehr »sparsam« und daher äußerst mehrdeutig ist, gebietet nicht nur Vorsicht bei der Suche von Sachverhalten in den entsprechenden Texten der antiken Klassik, sondern: »it would be futile for us to expect to find, sitting in his work, a concept of states of affairs unambiguously coinciding with the one specified […]«412
Aber auf dem Hintergrund seines spezifizierten Sachverhaltsbegriffs fördert SIMONS Untersuchung der Texte dennoch ein durchaus überraschendes Ergebnis zu Tage:
411 412
SIMONS [1987], 13. SIMONS [1987], 13.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
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»But while Aristotle may not have a fully-fledged modern concept of state of affairs, it is surprising […] how close he comes to one.«413
Die von SIMONS spezifizierten Eigenschaften von Sachverhalten, auf welche hin er die ARISTOTELISCHEN Texte untersucht, lauten: Sachverhalte sind »objects of thoughts but not their contents or subjects«, Sachverhalte sind »objects of sentences but not their senses or subjects«, Sachverhalte sind »truth-makers but not truth-bearers«, Sachverhalte sind »not individual things (res)« und Sachverhalte sind eine Gegebenheit »for which there is an ontological difference between states of affairs corresponding to truth and those (if any) corresponding to falsehood.«414 SIMONS vermag nun anhand bestimmter Texte des Stagiriten überzeugend nachzuweisen, daß ARISTOTELES unter dem Term pragma u.a. eine Gegebenheit versteht, welcher alle von SIMONS angeführten Eigenschaften von Sachverhalten zukommen. Zunächst zeigt SIMONS, daß ARISTOTELES unter pragma zuweilen eine Gegebenheit versteht, welche weder allein durch das Zeichen für die positive oder negative Kopula noch allein durch den Subjekt- oder Prädikaterm eines Aussagesatzes getroffen werden kann. Die pragma als objektives Korrelat eines Satzes wie z.B. »Sokrates ist ein Mensch« oder »Sokrates ist nicht ein Perser« kann weder durch die Terme »ist« oder »ist nicht«, noch durch die Terme »Sokrates« oder »Mensch« oder »Perser« als solche bezeichnet werden. Und dies wiederum bedeutet, daß die pragma auch nicht durch die entsprechenden Begriffsinhalte als solche gemeint werden kann. Der Text, in dem ARISTOTELES die entsprechende Überlegung hinsichtlich der Kopula äußert, lautet: »Bloß für sich ausgesprochen sind die Tätigkeitsworte auch Benennungen und deuten auf etwas hin – wer sie ausspricht, richtet das Verstehen fest auf einen Punkt, und wer sie hört, macht sich daran fest – nur, ob das nun ist oder nicht, zeigt dies noch nicht an: denn ›sein‹ oder ›nicht sein‹ sind nicht Anzeiger eines Gegenständlichen, auch nicht, wenn man ›seiend‹ bloß für sich sagt. Als dieses selbst ist es nämlich nichts, es bezeichnet
413 414
SIMONS [1987], 13. SIMONS [1987], 12f.
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Kapitel 3 aber eine Verbindung mit, die ohne die verbundenen Stücke nicht zu denken ist.« [Übers. ZEKL]415
Das Gleiche sagt ARISTOTELES auch von den anderen Termen eines Urteils als solchen: »Die bloßen Namen und Handlungworte für sich gleichen nun dem Denkinhalt ohne Verknüpfung und Trennung, z.B. ›Mensch‹ oder ›weiß‹, wenn nicht ewas hinzugesetzt wird: da liegt nirgends wahr oder falsch vor. Beleg dafür ist: Auch ›Bockhirsch‹ bezeichnet ja etwas, nur noch nicht Wahres oder Falsches, – solange man noch nicht ›sein‹ oder ›nicht sein‹ dazusetzt, entweder einfach oder auf Zeit.« [Übers. ZEKL]416
Mit SIMONS läßt sich anhand dieser Texte feststellen, daß die pragma als Gegenstand einer Aussage für ARISTOTELES durch keinen der einzelnen Terme der Aussage bezeichnet werden kann. Und da ARISTOTELES der Auffassung ist, daß die pragma durch keinen dieser Ausdrücke bezeichnet werden kann, läßt sich mit SIMONS annehmen, daß bei ARISTOTELES ein anderer Ausdruck als Zeichen für die fragliche pragma auftaucht.417 Um zu zeigen, daß ARISTOTELES nicht in irgendeinem der Teile, sondern tatsächlich im Aussagesatz als ganzem das adäquate Zeichen für die pragma sieht, weißt SIMONS auf folgenden Text hin: »Auch ist das, wovon Behauptung und Verneinung ausgesagt wird, nicht selbst Behauptung und Verneinung: Behauptung ist eine zusagende Rede, Verneinung eine absprechende Rede; von den Gegenständen aber, die 415
416
417
»auta men oun kav auta legomena ta rhmata onomata esti kai shmainei ti, isthsi ga r o legwn thn dianoian, kai o akousaj hremhsen, all ei estin h mh oupw shmainei: ou ga r to einai h mh einai shmei on esti tou pragmatoj, oud ea n to on eiphj yilon. auto men ga r ouden estin, prosshmainei de ounvesin tina, hn aneu twn sugkeimenwn ouk esti nohsai.« Aristot. de int. 16b. »ta men oun onomata auta kai ta rhmata eoike tw aneu sunvesewj kai diairesewj nohmati, oion to anvrwpoj h leukon, otan mh prostevh ti : oute gar yeu doj oute alhtej pw. shmei on d esti toude: kai ga r o tragelafoj shmainei men ti, oupw de alhvej h yeudoj, ea n mh to einai h mh einai prostevh h aplwj h kata cronon.« Aristot. de int. 16a. »The passage at De int. 16b 22 where Aristotle says that not even the positive or negative Kopula is the sign of a pragma suggests that something is indeed a sign of it.« SIMONS [1987], 16.
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behauptet oder von denen verneint wird, ist keiner eine Rede; man sagt aber auch davon, daß es einander entgegengesetzt sei, so wie Behauptung und Verneinung; auch dabei ist die Weise der Entgegensetzung die gleiche: Wie denn wohl Behauptung gegen Verneinung steht, z.B. ›sitzt‹ – ›nicht sitzt‹, so ist auch der unter jedes von beiden fallende Tatbestand entgegengesetzt: ›sitzen‹ – ›nicht sitzen‹. – [sic]« [Übers. ZEKL]418
Hier spricht ARISTOTELES also ausdrücklich von einer durch die Sätze bezeichneten Sache. Das »Problem« dieses Textes besteht aber darin, wie SIMONS bemerkt, daß der hier von ARISTOTELES als pragma identifizierte Gegenstand durch einen Infinitiv mit Artikel bezeichnet wird. D.h. ARISTOTELES könnte hier den Ausdruck pragma auf eine Gegebenheit beziehen, die nicht jenseits der zehn Kategorien anzusiedeln sei, sondern auf ein Akzidens, welches der Kategorie der Lage unterfalle, nämlich »das Sitzen« (his sitting) als solches.419 D.h. ARISTOTELES könnte dann unter pragma »a res rather than a state of affairs« verstehen.420 Aber SIMONS fördert noch einen weiteren Text aus der Metaphysik zu Tage. In der in diesem Fall vergleichsweise freien Übersetzung von BONITZ lautet der Abschnitt: »Nicht darum nämlich, weil unser Urteil, du seiest weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist (to se einai leukon), sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten.« [Übers. BONITZ]421
418
419 420 421
»ouk esti de oude to upo th n katafasin kai apofasin katafasij kaiapofasij: h men gar katafasij logoj esti katafatiko j kai h apofasij logoj apofatikoj, twn de upo thn katafasinh apofasin ouden esti logoj. legetai de kai tauta antikei svei allhloij wj katafasij kai apofasij: kai gar epi toutwn o tropoj th j antivesewj o autoj: wj gar pote h katafasij pro j th n apofasin antikeitai, oion to kavhtai [hier steht im Text ein Bindestrich.] ou kavhtai, outw kai to uf ekateron pragma antikeitai, to kavh svai – mh kavh svai.« Aristot. cat. 12b 4-15. Auf dieses Zitat bezieht sich SIMONS, wenn er sagt, daß es eine Passage gibt, in welcher »while a pragma is still called the subjekt of a sentence, it is apparently not something signified by the terms, but by the sentence as a whole, i.e. it is a sentence-object in our sense.« SIMONS [1987], 15. SIMONS [1987], 16. SIMONS [1987], 16. »ou ga r dia to hmaj oiesvai alhvwj se leukon einei ei su
180
Kapitel 3
Bedeutsam ist hier der Ausdruck, den ARISTOTELES selbst als Gegenstand der Aussage »Du bist weiß« gebraucht. Dieser lautet auf Griechisch to se einai leukon, welchen SIMONS mit der englischen Wendung »the you to-be pale« wiedergibt. Auffällig ist hier, wie SIMONS scharfsinnigerweise beobachtet, daß dieser Gegenstand an dieser Stelle offensichtlich als eine ausgesprochen komplexe Gegebenheit angesehen wird, dessen sachliche Verfassung den Komponenten des Aussagesatzes entspricht bzw. dem Aussagesatz als Ganzem entspricht.422 Eine objektive Entität von der Art the you to-be pale, welche nicht deshalb ein objektiv Seiendes ist, weil das Urteil wahr ist, sondern umgekehrt, ließe sich nun schwerlich einer der zehn Kategorien zuordnen. Daher läßt sich diese Passage mit SIMONS als Ausdruck dafür deuten, daß bei ARISTOTELES Sachverhalte als das spezifische objektive Korrelat von Aussagen bzw. Urteilen aufscheinen. Freilich ist der englische Ausdruck »the you to-be pale« gerade in der englischen Hochsprache ausgesprochen ungebräuchlich. Er stellt lediglich SIMONS Versuch dar, den altgriechischen Ausdruck möglichst wörtlich zu übersetzen. Die »most unforced English translation« wäre indes, wie SI423 MONS ausführt, »the fact of your being pale«. Im Deutschen besteht der entsprechende Ausdruck in einem substantivierten Infinitiv wie »Das-deinweiß-Sein« oder »die Tatsache deines Weiß-seins«. Dies deutet zusätzlich darauf hin, daß der von ARISTOTELES gebrauchte griechische Ausdruck auch grammatikalisch völlig korrekt den eigentlichen Gegenstand von Aussagesätzen bzw. Urteilsinhalten wiedergibt. Aber da es ARISTOTELES in dem obigen Zitat offensichtlich nicht um grammatikalische Phänomene geht, sondern um eine bestimmte wahrmachende Entität, kann man hier in Anschluß an SIMONS so etwas wie eine erste, wenn auch gleichsam verhaltene prise de consience von Sachverhalten erblicken.
422
423
leukoj, alla dia to se eineileukon hmei j oi fantej touto alhveuomen.« Aristot. metaph. 1051b 6. Die der griechischen Grammatik nähere englische Übersetzung bei SIMONS lautet: »It is not on account of our truly thinking you to be pale, that you are pale, but on account of your being pale that we who say this have the truth.« SIMONS [1987], 16. »[…] so we have items corresponding to all the components of the sentence ›You are pale‹ […]. [… and we have at least reasonable evidence that a pragma is signified by a whole declarative sentence.« SIMONS [1987], 16. SIMONS [1987], 16. 17.
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Bereits in den obigen Zitaten wird aber nicht nur zum Ausdruck gebracht, daß bereits bei ARISTOTELES die pragma als so etwas wie der spezifische Gegenstand von Aussagesätzen bzw. Urteilen aufscheint, welcher als solcher keine individuelle res ist und daher keiner der zehn Kategorien zugeordnet werden kann, sondern es wird zudem deutlich, daß ARISTOTELES in dieser pragma auch den Wahrmacher von Aussagen bzw. Urteilen sieht. Damit haben sich die ersten vier der von SIMONS angeführten Eigenschaften von Sachverhalten auch als Eigenschaften der ARISTOTELISCHEN pragma herausstellen lassen. Die letzte von SIMONS angeführte Eigenschaft besteht darin, daß der Sachverhalt bzw. die pragma einen ontologischen Unterschied zulassen muß, der auch der möglichen Falschheit von Aussagen bzw. Urteilen Rechnung trägt. Ein entsprechender ontologischer Unterschied läßt sich mit SIMONS ebenfalls am Text ausweisen.424 Um seine Auffassung zu verteidigen, daß zwar dieselbe Substanz, nicht aber dieselbe Rede (derselbe Aussagesatz) und dieselbe Meinung (derselbe Urteilsgedanke) Veränderungen unterworfen sein kann, so daß dieselbe Rede oder Meinung einmal wahr und einmal falsch sein könnte, so wie etwa derselbe Sokrates einmal sitzen und einmal stehen kann, schreibt ARISTOTELES: »Rede und Meinung werden nicht deshalb als für Konträres empfänglich bezeichnet, weil sie selbst ein Konträres aufnehmen, sondern deshalb, weil ein anderes von diesem Vorgang betroffen wird. Denn darum, weil das Ding (pragma) ist oder nicht ist, wird auch die Rede als wahr oder falsch bezeichnet, und nicht darum, weil sie etwa selbst für Konträres empfänglich wäre.« [Übers. ROLFES]425
424 425
SIMONS [1987], 14f. »o gar logoj kai h doxa ou tw auta decesvai ti twn enantiwn einai dektika legetai, alla tw peri e teron ti to pavoj gegenh svai: tw gar to pragma einai h mh einai, toutw kai o logoj alhvhj h yeudhj einai legetai, ou tw auton dektikon einai twn enantiwn:« Aristot. cat. 4b 5-9. ZEKL übersetzt die Stelle gar folgendermaßen: »Denn von Rede und Meinung wird nicht deswegen, daß [sic] sie einen der Gegensätze annehmen, gesagt, sie könnten das, sondern deswegen, weil an einem von ihnen Verschiedenen dies Ereignis aufgetreten ist, – aufgrund davon, daß der (jeweilige) Sachverhalt besteht oder nicht besteht, wird auch der (ihn beschreibende) Satz wahr oder falsch genannt, nicht deswegen, weil er selbst fähig wäre, diese Gegensätze an sich zu nehmen.«
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Kapitel 3
Die pragma ist nicht nur der Wahrmacher, sondern der ontologische Unterschied zwischen Sein und Nichtsein einer pragma entscheidet auch über die Falschheit einer Rede oder Meinung. Modern ausgedrückt müßte man sagen: ein Urteilsinhalt ist wahr, wenn der behauptete Sachverhalt besteht. Ein Urteilsinhalt ist falsch, wenn der behauptete Sachverhalt nicht besteht. Alle diese aristotelischen Texte dürfen allerdings nicht überstrapaziert und unabhängig vom Kontext anderer Aussagen über die pragma gelesen werden. Ein kantenscharfer und expliziter Sachverhaltsbegriff ließe sich bei ARISTOTELES nur nachweisen, wenn eindeutig und zweifelsfrei gezeigt werden könnte, daß die Rede und die Meinung bei ARISTOTELES einen spezifischen und unaustauschbaren Gegenstand von der Art des to se einai leukon hätte und daß dieses Objekt/Korrelat weder der ersten noch zweiten Substanz noch einer der Akzidenzkategorien unterfällt. Es wäre, wie SIMONS sich ausdrückt, nötig »to show decisively that they are sentence- and thought-objects, and not individuals.« All dies wird durch die Texte des Stagiriten aber allenfalls »suggested«, wie SIMONS betont, »but not placed beyond doubt.«426 Das ändert freilich nichts an dem bedeutsamen Umstand, daß gewisse Aussagen des ARISTOTELES einen Sachverhaltsbegriff »implizieren« (SIMONS) oder wenigstens andeuten,427 der trotz gewisser Unschärfen vorliegt, und daß sich z.B. der Ausdruck to se einai leukon, wie bereits angedeutet, als eine gewisse Vorwegnahme der modernen Erkenntnis lesen läßt, daß Sachverhalte sprachlich in substantivierten Infinitiven zum Ausdruck kommen. Den Hauptgrund dafür, warum die pragmata des ARISTOTELES Sachverhalte lediglich und nur zuweilen implizieren, erblickt SIMONS zu Recht »in the ambiguity of the crucial term ›pragma‹.«428 Denn bei ARISTOTELES kann mit pragma auch jede konkrete Gegebenheit gemeint sein und damit alles, was einer der zehn Kategorien unterfällt. Dieser Sinn des Ausdrucks pragma ist im Unterschied zur pragma als »Sachverhalt« bei ARISTOTELES
426
427 428
SIMONS [1987], 16. »The notion of that which underlies a sentence […] is much too vague […] and it would be nice to have more evidence. Unfortunately, everything we have is somewhat conjectural.« SIMONS [1987], 16. SIMONS [1987], 19. SIMONS [1987], 16.
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viel eindeutiger gegeben.429 Nun könnte es freilich sein, daß ARISTOTELES zwar nur einen Ausdruck verwendet, aber die verschiedenen Bedeutungen selber derart eindeutig unterscheidet, daß so etwas wie ein »Sachverhalt« als Gegenstand der Rede »explizit« und ausschließlich gemeint wird. Dies ist aber auch in SIMONS Augen nicht der Fall.430 3.2.2 Der Sachverhalt bei Abaelard, Bonaventura und Thomas von Aquin Bei gewissen mittelalterlichen Denkern fallen, wie sich im Rückgriff auf SMITHS Ausführungen zeigen läßt, in verschiedenen Zusammenhängen besondere Ausdrücke auf, durch die spezifische Gegenständlichkeiten von bestimmten Akten bezeichnet werden. ABAELARD betont ausdrücklich, daß das objektive Korrelat von Aussagesätzen nicht in irgendwelchen Dingen zu sehen ist, sondern im modus se habendi: Denn es »ist offenkundig«, wie ABAELARD in seinem logischen Hauptwerk Dialectica betont, »daß das, was die Sätze sagen, kein Ding ist, da es ja offenbar von keinem Ding prädiziert werden kann; denn wovon könnte wohl gesagt werden, es sei ›Sokrates ist ein Stein‹ oder ›Sokrates ist kein Stein‹? Die Sätze müßten ja zweifellos Namen sein, wenn sie die Dinge selbst bezeichnen und darlegen würden, wo sie sich doch von allem (anderen) sprachlichen Ausdrücken darin unterscheiden, daß sie darlegen, daß etwas etwas anderes ist oder nicht ist. Daß aber irgendein Ding (etwas) ist oder nicht ist, (dies) ist ganz und gar nichts dinghaft Seiendes. (nulla est omnino rerum essentia). Sätze bezeichnen somit nicht einfachhin irgendwelche Dinge, wie Namen (dies tun); vielmehr legen sie dar (proponunt), wie (die Dinge) sich zueinander verhalten, ob (diese) also zueinander passen oder nicht, wobei sie dann wahr sind, wenn es auf seiten der Dinge so ist, wie sie aussagen. Falsch hingegen dann, wenn es auf seiten 429 430
Zu den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks pragma bei ARISTOTELES vgl. DE RIJK [1987], 36-39. S. auch SIMONS [1987], 16. S. Fußn. 426. 412. Allerdings ist SIMONS durchaus der Auffassung, daß (nachträgliche und) die entsprechenden Kontexte beachtende Unterscheidungen (17 oben) der Bedeutungen des Ausdrucks pragma bei ARISTOTELES zur Erkenntnis führen, »that Aristotle possesses a [›implicit‹] concept of state of affairs.« S. dazu SIMONS [1987], 17ff. Diskussion möglicher Einwände. »If this is right, then for all that the concept of state of affairs is not mentioned explicitly, it is still implicit in Aristotle’s mature definition of truth. It can hardly be claimed that this is an unimportand place to find it.« SIMONS [1987], 19.
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Kapitel 3 der Dinge nichts so ist. Und gewiß ist es auf seiten der Dinge so, wie ein wahrer Satz es sagt, ohne daß das, was er sagt, (deshalb) irgendein Ding wäre. Daher wird gewissermaßen so etwas wie die Art und Weise, in der es sich mit den Dingen verhält, durch die Sätze ausgedrückt, nicht (aber werden) irgendwelche Dinge (durch sie) bezeichnet (Unde quasi quidam rerum modus se habendi se per propositiones exprimitur, non res aliquae designantur). [Übers. WEIDEMANN]«431
An diesen Ausführungen ABAELARDS ist überaus bemerkenswert, mit welcher Ausdrücklichkeit der doctor palatinus betont, daß der Gegenstand der »Sätze« »kein Ding« sei und auch keine Eigenschaft eines Dinges (»weil es von keinem Ding prädiziert werden kann«), und daß es diese sonderbare objektive (»auf Seiten der Dinge« so oder nicht so sein) aber der Art nach nichtdingliche Gegenheit sei, welche »Sätze« wahr macht. Auch BONAVENTURA spricht vom modus se habendi als dem besonderen Gegenstand von Urteilen und unterscheidet dieses objektive Korrelat des Urteils ausdrücklich vom Ding, auf das ein Urteil nicht abzielen kann. »Das Aussagbare bezeichnet nicht ein Ding, sondern die Weise [seines] Sichverhaltens […]. [Übers. SMITH]«432
431
432
»Patet insuper ea que propositiones dicunt nullas res esse, cum videlicet nulli rei predicatio eorum aptari posit; de quibus enim dici potest quod ipsa sint ›Socrates est lapis‹ vel ›Socrates non est lapis‹? Iam enim profecto nomina oporteret esse, si res designarent ipsas ac ponerent propositiones, que quidem ab omnibus in hoc dictionibus differunt quod aliquid esse vel non esse nulla est omnino rerum essentia. Non itaque propositiones res aliquas designant simpliciter, quemadmodum nomina, immo qualiter sese ad invicem habent, utrum scilicet sibi conveniant annon, proponunt; ac tunc quidem vere sunt, cum ita est in re sicut enuntiant, tunc atem false, cum non est in re ita. Et est profecto ita in re, sicut dicit vera propositio, sed non est res aliqua quod dicit. Unde quasi quidam rerum modus habendi se per propositiones exprimitur, non res alique designnantur.« ABAELARD [1970], 160, 23-36. S. WEIDEMANN [1991], 145. SMITH übersetzt den letzten Part dieses Zitates folgendermaßen: »Deshalb setzen die Sätze irgendwelche Dinge nicht einfach hin, wie die Namen, sondern setzen, wie sie sich zueinander verhalten, ob sie zueinander passen (d.h. miteinander übereinstimmen) oder nicht. Daher drücken die Sätze gewissermaßen eine bestimmte Art und Weise des Sichverhaltens der Dinge aus und bezeichnen nicht irgendwelche Dinge.« SMITH [1988], 12, Fußn. 16. »Enuntiabile non significant rem, sed modum se habendi […].« In I Sent. Dist. 41, art. 2, q. 2 (Quaracchi, 740). S. SMITH [1988], 12, Fußn. 17.
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THOMAS VON AQUIN spricht ebenfalls nicht einfach vom Ding oder der res, sondern von der dispositio rei als der causa für die Wahrheit von Meinungen (Urteilsinhalten) und Aussagen (Aussagesätzen).433 Damit weist THOMAS nicht nur implizit auf einen spezifischen Gegenstand von Aussagesätzen bzw. Urteilen hin, sondern er hebt ausdrücklich hervor, daß dieser spezifische Gegenstand die »Ursache« und damit nichts anderes als der Wahrmacher wahrer Urteile sei. 3.2.3 Der Sachverhalt bei Adam Wodeham und Gregor von Rimini Eine der wichtigsten philosophischen Debatten, mit denen sich gewisse Denker in Oxford in den zwanziger und dreißiger Jahren des 13. Jh. befassen, dreht sich um die Frage nach dem unmittelbaren Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis.434 Damit stellt, wie LENZ zeigt, »vor allem die spätmittelalterliche Wissenschaftstheorie« den »Kontext« dar, in dessen Rahmen es zur Thematisierung von Sachverhalten kommt.435 Im gegebenen Zusammenhang sind insbesondere ein Oxforder Denker der ersten Generation nach WILLIAM VON OCKHAM und WALTER CHATTON von Interesse, der sich kritisch mit diesen auseinandersetzt, nämlich ADAM WODEHAM. LENZ formuliert pointiert das die Oxforder Denker bewegende wissenschaftstheoretische Problem, indem er schreibt: »Wenn Wissen wahres Wissen sein soll, Wahrheit und Falschheit aber nicht Sachen, sondern Sätzen eignen, dann – so scheint es – ist das, was wir wissen, ein Satz. Gleichwohl scheint man einräumen zu müssen, daß wir mit dem Wissen eines Satzes, der eine Aussage über Dinge darstellt, ein Wissen von Sachen haben. Die Frage nach dem Sachverhalt stellt sich somit im Rahmen […] der Thematisierung dessen, was eine Behauptung als ganzer Satz bezeichnet. Eine zeitgemäße Antwort auf die Frage nach
433
434 435
»Non enim ideo tu es albus, quia nos vere existimamus te esse album; sed e converso, ideo existimamus te album, quia tu es albus. Unde manifestum est, quod dispositio rei [Kursiv. v. Verf.] est causa veritatis in opinione et oratione.« Sent. Met. lib. 9, l. 11, n. 3. Vgl. zum Terminus »dispositio rei« De ver. q. 1, a. 1, arg. 5. S. SMITH [1988], 12. Vgl. HABBEL [1959], 127. S. AURÉLIEN, Robert [2005]: »William Crathorn« http://plato.stanford.edu/entries/crathorn/, 06.04. 2007, § 4. LENZ [2001], 99.
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Kapitel 3 diesem Was, dem significatum propositionis, erforderte jedoch ein Absehen von gebräuchlichen ontologischen Schemata.«436
Der Versuch, eine Antwort auf diese, wie WEIDEMANN betont, »heftig umstrittene«437 Frage zu finden, »was das Objekt eines Wissensaktes ist«438 und worauf sich eine wahre Behauptung als ganze bzw. ein wahrer »Urteilakt«439 als ganzer beziehe, führt schließlich zu drei konkurierenden Theorien, nämlich der, wie LENZ sich ausdrückt, »Complexum-Theorie«, der »Res-Theorie« und der »Complexe-significabile-Theorie«.440 In Anlehnung an LENZ lassen sich die ersten beiden Standpunkte folgendermaßen zusammenfassen: OCKHAM vertritt die Complexum-Theorie, wonach der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis oder des Wissens in wahren Sätzen bzw. Urteilen zu erblicken ist. Da Sätze wesenhaft komplexe aus Subjekt, Prädikat und Kopula bestehende Gebilde sind, ist der gefolgerte wahre Satz als logisches Komplexum das eigentliche Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis. CHATTON hingegen verficht gegen OCKHAMS comlexum die Res-Theorie. Zwar sind es Sätze als komplexe Gegebenheiten, die wahr oder falsch sind, der »wahre« und unmittelbare Gegenstand wissenschaftlichen Erkennens sind sie nicht. In den wissenschaftlichen Aussagen geht es 436
437 438 439
440
LENZ [2001], 99. »Aber wie verhält sich das, was man weiß, zu den entsprechenden Sätzen? Ist der einem bestimmten Wissen entsprechende Satz selbst das Objekt des Wissens, d.h. das, was von jemandem, der dieses Wissen besitzt, gewußt wird? Ist der Gegenstand, über den der betreffende Satz etwas aussagt, das Objekt des fraglichen Wissens?« WEIDEMANN [1991], 129. 131f. S. dazu auch die Darstellung der Streitfrage bei GÁL [1977], 66f. WEIDEMANN [1991], 129. S. auch GÁL [1977], 66. LENZ [2001], 99. LENZ [2001], 100. Im Rückgriff auf ARISTOTELES werden im gegebenen Zusammenhang drei Arten von Sätzen unterschieden, der gesprochene, geschriebene und der gedankliche Satz (proposition vocalis, scripta, mentalis). Wenn vom complexum oder vom complexum in mente gesprochen wird, ist die proposition mentalis gemeint. Diese ist der eigentliche Träger von Wahrheit oder Falschheit, weil sie nicht aus konventionellen und von Sprache zu Sprache variierenden Zeichen besteht, sondern aus Begriffen, welche ihre Gegenstände auf natürliche Weise (naturaliter) bezeichnen und bei allen Menschen dieselben sind. S. dazu LENZ [2001], 101f. Zur Terminologie s. LENZ [2001], 100. »Utrum actus sciendi habeat pro obiecto immediato res vel signa, id est complexum in mente vel res significata per complexum.« WODEHAM: Lect. sec. d. 1, q. 1. Siehe den gesamten lateinischen Text der Lectura secunda d. 1, q. 1 bei GÁL [1977], 72-102.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
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um extramentale Dinge wie Sterne, Planetenbahnen, Dreiecke, Substanz, Akzidenz etc. als solche. Da es wahren Aussagen um Dinge als solche geht, sind diese und nicht die wahren Aussagen der eigentliche Gegenstand des Wissens.441 Mentale Sätze sind, wie TACHAU ausführt, in CHATTONS Augen lediglich das Mittel, durch welches (mediante quo) man sich auf extramentale Dinge bezieht.442 Hinter dieser Position steht CHATTONS Überzeugung, daß sich ausnahmslos alle Glieder eines gedanklichen Satzes buchstäblich der Reihe nach und »sukzessiv« auf ein und denselben durch den Subjektbegriff gemeinten Gegenstand richten.443 Dies gilt auch für negative Urteile, weshalb gerade auch der Qualität nach verschiedene negative und positive mentale Sätze auf ein und denselben Gegenstand bezogen sein sollen. Die beiden der Qualität nach verschiedenen kontradiktorisch entgegengesetzten mentalen Sätze »Sokrates ist ein Grieche« und »Sokrates ist kein Grieche« haben, wie SCHABEL zeigt, bei CHATTON nicht etwa sich ausschließende und daher verschiedene objektive Korrelate, sondern sie beziehen sich beide auf nichts anderes als ein und denselben Sokrates als solchen.444 Der Franziskaner ADAM WODEHAM, ein Schüler OCKHAMS und CHATTONS, weist deren Positionen allerdings zurück und entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit diesen den Ausdruck »significabile per complexum«.445 Das significabile per complexum meint das obiectum oder significatum totale eines mentalen Satzes, d.h. diejenige Gegebenheit, die nur als Ganze das objektive Korrelat sein könne, worauf sich Urteile als complexum in mente beziehen, und weder der mentale Satz noch dessen Subjektsgegenstand, sondern das authentische (und ganze) objektive Korrelat des Satzes als Ganzem, das significabile per complexum oder das, was nur »auf komplexe Weise bezeichnet werden kann«, könne den spezifischen und unmittelbaren extramentalen Gegenstand wissenschaft441 442 443
444 445
LENZ [2001], 100. 103f. 105f. S. TACHAU [1988], 204f. S. LENZ [2001], 103f. 108. 111. LENZ schreibt im Hinblick auf CHATTONS Position: »Wenn ich einen Satz der Form ›a ist F‹ bilde, dann richten sich demnach Subjekt (a), Kopula (ist) und Prädikat (F) auf das zuerst durch das Subjekt bezeichnete Ding.« LENZ [2001], 108. S. SCHABEL, Christopher [2001]: »Gregory of Rimini«. In: http://plato.stanford.edu/entries/gregory-rimini/, 06.04.2007, §, 5. Lect. sec. d. 1, q. 1 (§59). S. WEIDEMANN [1991], 131. 132.
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licher Erkenntnis bilden.446 Obwohl das significabile per complexum weder ein complexum in mente wie OCKHAMS Satz noch eine res significatae per complexum im Sinne CHATTONS ist, muß mit WEIDEMANN und TACHAU gesehen werden, daß WODEHAMS significabile per complexum auch aus einer gewissen Zustimmung zu den Positionen seiner Lehrer hervorgeht. In WODEHAMS Augen hat OCKHAM nämlich insofern Recht, als dieser eine komplexe Gegebenheit für den eigentlichen Gegenstand des Wissens hält. CHATTON ist insofern Recht zu geben, als der Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis nicht der Satzkomplex in mente, sondern ein extramentales Etwas ist, worauf der Satz als auf sein korrelatives Objekt abzielt.447 Demnach stellt WODEHAM’S Position in einem gewissen Sinn eine »via media« zwischen der Complexum- und der Res-Theorie dar, wie TACHAU treffend herausstellt.448 WODEHAM führt eine Reihe von Argumenten an, um zu zeigen, daß allein das significabile per complexum der spezifische Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis oder schlicht des Wissens sein kann. Im Zuge dieser Argumente wird auf eine geradezu erstaunliche Weise deutlich, daß WODEHAM mit dem significabile per complexum tatsächlich das im Blick hat, was modern gesprochen als »Sachverhalt« bezeichnet wird. Im gegebenen Rahmen kann freilich nicht die gesamte Argumentation verfolgt 446
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»[…] primo, non videtur mihi quod [OCKHAMS] complexum sit obiectum totale actus sciendi.« Lect. sec. d. 1, q. 1. (§26) »Secundo dico quod obiectum adaequatum assensus non est Deus ipse nes aliqua res simplex.« Lect sec. d. 1, q. 1. (§40). »Sexta conclusio est quod immediatum obiectum actus assentiendi est obiectum totale complexi, necessitantis ad assensum, loquendo de assensu simpliciter evidenti. Vel generaliter loquendo eius obiectum immediatum totale est obiectum totale seu significatum totale propositionis immediate sibi conformis, concausatis illum et necessario sibi praesuppositae, vel obiectum totale multarum propositionum talium.« Lect. sec. d. 1, q. 1. (§49). S. WEIDEMANN [1991], 136. S. TACHAU [1988], 303. »Mit der Auffassung, daß die Gesamtbedeutung eines Satzes das Objekt des Wissens bildet, vertritt Wodeham in der Tat einen Standpunkt, der weder mit den Nachteilen der einen noch mit den Nachteilen der anderen der beiden von ihm verworfenen Auffassungen behaftet ist, sondern statt dessen die jeweiligen Vorteile dieser beiden Auffassungen in sich vereinigt.« WEIDEMANN [1991], 136. 136f. »[…] one perhaps slightly on Chatton’s side of the path.« TACHAU [1988], 308. S. auch GÁL [1977], 67f.
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werden. Hier sind lediglich die bedeutendsten Gedanken, durch welche das significabile per complexum sachlich erhellt wird, zu berücksichtigen. Den, wie TACHAU sich ausdrückt, »crucial point«449 gegen OCKHAMS Idee, daß wahre Sätze den Gegenstand des Wissens bilden, macht WODEHAM im sechsten seiner Gegenargumente geltend: »Eine Zustimmung zu einem Satz setzt eine Zustimmung zu der durch den Satz bezeichneten Sache voraus; denn zuerst wird zugestimmt, daß es sich der Sache nach so verhält, wie durch den Satz angegeben wird, erst dann, daß der Satz wahr ist. Also hat eine Zustimmung, die durch einen Satz bewirkt wird, der eine Sache bezeichnet, nicht jenen Satz als Objekt, sondern die durch ihn bezeichnete Sache.« [Übers. WEIDEMANN]450
Um verstehen zu können, was WODEHAM meint, muß man sich vergegenwärtigen, was genau er unter Zustimmung (assensus) versteht. Zustimmung ist in WODEHAMS Augen nichts anderes als der Akt des Wissens selbst, insofern dieser wesentlich darin bestehen soll, eine Zustimmung zu dem zu sein, »was im Vollzug des Aktes gewußt wird«, wie WEIDEMANN sich im Hinblick auf WODEHAM ausdrückt.451 Daher muß gesagt werden, daß WODEHAM »Wissen« (actus sciendi) und »Zustimmen« geradezu synonym versteht, wenn er vom »assensus, qui est actus sciendi« spricht.452 WODEHAM macht oben gegen OCKHAM deutlich, daß der
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TACHAU [1988], 303. »[…] that we assent ›that things are in reality as they are denoted to be by the proposition‹ before we assent to the truth of the proposition itself, was for Wodeham a trenchant criticism of Ockham’s view, that the object of assent was the mental proposition itself.« TACHAU [1988], 304. »Sexto sic: assensus propositioni praesupponit assensum ipsi rei significatae per propositionem, quia prius assentitur sic esse in re sicut denotatur per propositionem quam quod propositio sit vera. Igitur assensus causatus per propositionem quae significat rem aliquam, non habet propositionem illam pro obiecto sed rem significatam per eam.« Lect. sec. d. 1, q. 1. (§14). S. WEIDEMANN [1991], 132. Dieses Argument formuliert WODEHAM im Rückgriff auf einen Gedanken CHATTONS. S. dazu TACHAU [1988], 205f. WEIDEMANN [1991], 132. »Secundum articulus est inquirere utrum actus sciendi habeat pro obiecto sic esse sicut significatur per unam propositionem tantum, puta per conclusionem vel sicut significatur per ipsam et per praemissas simul iunctas syllogistice. Et hoc esset secundum aliam viam, ponentem complexum obiectum assensus, quaerere an assensus, qui est actus sciendi, habeat pro totali obiecto suo con-
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Mensch, wenn er in der Wissenschaft wahre Urteile fällt, keine Urteile über diese Wahrheit fällt bzw. nicht primär um die Wahrheit der Urteile weiß. Worauf das Wissen/die Zustimmung des Menschen zuerst gerichtet sei, wenn er wahr urteilt, ist der Gegenstand des Urteils, und das ist, so sagt LENZ im Hinblick auf WODEHAM, »daß es sich der Sache nach so verhält […], wie es durch den Satz denotiert wird«.453 Und erst wenn der Wissende um das Bestehen des Sachverhaltes als eines solchen wisse, könne er überhaupt eigens wissen (und nicht bloß meinen oder annehmen), daß das diesen Sachverhalt bezeichnende Urteil wahr ist. Kurzum: Was WODEHAMS Meinung nach in der Wissenschaft gewußt wird, kann nicht in erster Linie die Wahrheit von mentalen Sätzen sein. Vielmehr sei das, worauf wissenschaftliche Erkenntnis bzw. das Wissen in erster Linie abzielt, das sic esse a parte rei, d.h. die Art und Weise, wie die Sache sich verhält. Das Wissen um die Wahrheit von Sätzen ist gegenüber dem Wissen um die von den Sätzen bezeichneten Sachverhalte völlig sekundär. Daher kann es auch nicht das unmittelbare Objekt des Wissens oder der wissenschaftlichen Erkenntnis sein.454 Sehr vereinfacht ausgedrückt argumentiert WODEHAM gegen CHATTON insbesondere folgendermaßen: Ein wahrer Satz, der irgendwie Gott betrifft, kann nicht Gott als solchen als Gegenstand der Zustimmung oder des Wissens haben. Etwas Einfaches wie Gott kann weder etwas Komplexes wie ein Satz noch das obiectum totale eines Satzes sein, welches sich allein auf komplexe Weise bezeichnen läßt. Denn ein wahrer Satz hat nicht nur einen Subjektbegriff und einen Prädikatbegriff, sondern auch eine Kopula, welcher eine spezifische Bedeutung eignet, und das heißt, wie WEIDEMANN sich im Hinblick auf WODEHAMS Position ausdrückt, »daß sich seine [des Satzes] Bedeutung nicht in der Bedeutung seines Subjektes und seines Prädikats erschöpft.«455 Gegenstand des mentalen Satzes könne
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clusionem tantum vel etiam simul praemissas seu totam demonstrationem.« Lect sec. d. 1, q. 1. (§79). LENZ [2001], 103. S. LENZ [2001], 103. WEIDEMANN [1991], 133. Auf WODEHAMS äußerst differenziertes Problembewußtsein hinsichtlich der Bedeutung der Kopula für die Bestimmung des eigentlichen Objektes der Propositionen kann hier nicht näher eingegangen werden. S. dazu Lect. sec. d. 1, q. 1. (§22-§24). Zur hier bloß angerissenen einschlägigen
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nur dessen significatum totale sein, d.h. das Ganze, worauf sich der mentale Satz als Ganzer bezieht. Um zu zeigen, daß sich die Zustimmung, in der das Wissen wesentlich bestehen, und welche insbesondere in wahren mentalen Sätzen zum Ausdruck kommen soll, auf einen besonderen vom logischem Complexum und von der Res unterschiedenen Gegenstand richtet, beruft sich WODEHAM auch auf die Erfahrung. Diese Bezugnahme ist mit WEIDEMANN eigens zu unterstreichen, da sie einmal mehr auf die extramentale Objektivität des WODEHAMSCHEN significabile per complexum als sic esse a parte rei verweist. Denn die Erfahrung lehre, wie WODEHAM betont, daß der assensus sich häufig auf das Sich-so-und-so-Verhalten einer Sache bezieht. »Die Erfahrung lehrt, daß die Zustimmung oft das So-sein seitens der Sache betrifft. Bespielsweise stimme ich dem zu, daß ihr hier sitzt. Und die Zustimmung betrifft nicht einen mentalen Satz (complexum), sondern sie betrifft im strengsten Sinn (potissime) und unmittelbar das So-sein seitens der Sache.« [Übers. Verf.]456
Um zu zeigen, worauf sich die »Wissenszustimmung« bezieht, macht WODEHAM hier auf den konreten Fall seines Wissens um die Anwesenheit seiner Hörer aufmerksam. Dieses Wissen und die damit gegebene Zustimmung betreffe nichts anderes als das Complexum, daß ihr hier sitzt. Dieses daß ihr hier sitzt sei, wie WODEHAM äußerst nachdrücklich durch den Superlativ potissime betont, eine sachliche Gegebenheit, die darin besteht, wie WEIDEMANN sich ausdrückt »daß es sich mit ihnen [den Schülern] in Wirklichkeit so verhält.«457
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Auseinandersetzung um die Kopula s. LENZ [2001], 108-112, insbes. 110f. S. auch WEIDEMANN [1991],133f. »Item, experientia dat quod frequenter assensus cadit supra sic esse a parte rei, puta assentio quod vos sedetis ibi, et quasi non fertur super complexum sed potissime [!] directe ad sic esse in re.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§27). S. dazu WEIDEMANN [1991], 135. Vgl. TACHAU [1988], 304f. WEIDEMANN [1991], 135. »Das, wozu man seine Zustimmung gibt, wenn man etwas weiß oder glaubt, kann nichts anderes [sic] sein als etwas, das entweder selbst eine propositio (d.h. ein Aussagesatz) ist oder aber das vollständige Objekt einer propositio bildet. Etwas wissen heißt nicht, den Gegenstand x wissen – denn man kann zwar über einen bestimmten Gegenstand etwas wissen, aber nicht den betreffenden Gegenstand selbst –, sondern etwas wissen heißt
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Alle Argumente, welche WODEHAM gegen OCKHAM und CHATTON ins Feld führt, bringen immer wieder zum Ausdruck, daß WODEHAM allein im significatum totale einer wahren propositio das unmittelbare Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis sieht. Dieses significatum totale ist in WODEHAMS Augen zugleich das einzig mögliche unmittelbare Objekt einer jeden propositio. Überdies sieht WODEHAM im significatum totale auch den Wahrmacher der propositio. Dieses besondere Totum ist, wie WODEHAM ausdrücklich sagt, nichts anderes als das »sic esse vel sic non esse sicut per propositionem denotatur« und dies ist, darauf macht WEIDEMANN zu Recht aufmerksam, »nichts anderes als der in einem [mentalen] Satz ausgesagte Sachverhalt.«458 WODEHAM hebt wiederholt mit Nachdruck hervor, daß das unmittelbare Objekt eines Satzes wie »homo est albus« einzig und allein das »hominem esse album« oder z.dt. das Weiß-sein-des-Menschen als Totum und nur als Totum ist. Und WODEHAM sieht im Unterschied zu CHATTON auch deutlich, daß positive und negative mentale Sätze auch deshalb unmöglich denselben unmittelbaren Gegenstand haben können, weil das Objekt und der Wahrmacher eines negativen mentalen Satzes einzig ein negativer Sachverhalt sein könne. Das unmittelbare Objekt der propositio oder der mit ihrer Wahrheit zum Ausdruck kommenden Wissenszustimmung »homo non est asinus« könne einzig im hominem non esse asinum als significatum totale der propositio bestehen, d.h. in dem jetzt negativen Sachverhalt des Nicht-Esel-sein-des-Menschen.459
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entweder, den Satz p wissen, oder aber, wissen, daß p. Das Wort ›wissen‹ – darüber ist sich Wodeham im klaren – gehört ebenso wie das Wort ›glauben‹ zu denjenigen Verben, die eine propositionale Einstellung, eine propositional attitude, wie wir heute sagen, zum Ausdruck bringen.« WEIDEMANN [1991], 133f. WEIDEMANN [1991], 136. »Ad primum istorum dicendum quod obiectum totale propositionis est eius significatum; eius autem significatum est sic esse vel sic non esse sicut per propositionem denotatur. Puta, obiectum huius ›Deus est Deus‹ est ›Deum esse Deum‹; et huius ›homo est albus‹ vel ›homini inest albedo‹ significatum est ›hominem esse album‹ vel ›homini inesse albedinem‹. […] Et sicut dixi de affirmativis, ita dico de negativis. Huius ›homo non est asinus‹ obiectum est ›hominem non esse asinum‹.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§57). S. WEIDEMANN [1991], 136.
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Ebenso ausdrücklich unterstreicht WODEHAM, daß die Realität des significatum totale sowohl der positiven als auch der negativen propositiones in keiner Weise ein sprachliches oder seelisches Phänomen ist. Es handelt sich hier, wie WEIDEMANN betont, »um eine Größe, die nicht nur nicht zu den konventionellen Sprachzeichen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache gehört, sondern auch nicht zu den natürlichen Sprachzeichen [Begriffen] der Mentalsprache. Wodeham weist auf diesen Umstand mit großen Nachdruck hin.«460
Denn selbst dann, so WODEHAM, wenn es keinerlei Sätze gäbe, und keine Seele hinsichtlich der Tatsachen mentale Sätze bildete, gäbe es das sic esse oder sic non esse, da das eine wie das andere a parte rei sei. WODEHAM betont sogar, daß das Sein des negativen significatum totale, daß der Mensch kein Esel ist, ebensowenig von der propositio abhängt wie das Sein des Menschen und des Esels als solches.461 Dies gilt a fortiori vom entsprechenden positiven Sachverhalt. Damit stellt WODEHAM positive und negative Sachverhalte hinsichtlich ihrer Objektivität auf dieselbe ›Stufe‹. »Angesichts der von Wodeham«, wie WEIDEMANN unterstreicht, »so stark betonten Sprachunabhängigkeit dessen, was er das vollständige Objekt eines Satzes oder dessen vollständiges Signifikat nennt«, oder 460 461
WEIDEMANN [1991], 137. S. WODEHAMS entsprechende Aussagen unter Fußn. 461. »Nec hae sunt propositiones, quia si nulla propositio esset in rerum nature, nihilominus Deus esset Deus, et homo esset albus vel homini inesset albedo. […] Nec ›hominem non esse asinum‹ est propositio nisi sumendo materialiter vel simpliciter, pro signo scilicet, quia si nulla propositio esset, adhuc homo non esset asinus. Nec plus dependet a propositione quod homo non sit asinus quam dependeat a propositione homo vel asinus. [Kursiv. v. Verf.].« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§57). Noch deutlicher spricht WODEHAM gleich im Anschluß: »Ex hoc arguo ad propositum: ›sic esse a parte rei‹ vel ›sic non esse‹ non dependet ab actu animae vel ab aliquo signo.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§58). »Das heißt, die als Tatsachen bestehenden Sachverhalte, die in wahren Sätzen ausgesagt werden (oder ausgesagt werden können), und die als das vollständige Objekt solcher Sätze auch das vollständige Objekt des Wissens bilden, bestehen unabhängig davon als Tatsachen, ob die sie bezeichnenden (oder sie bedeutenden) Sätze von irgend jemandem gebildet werden oder nicht.« WEIDEMANN [1991], 137. Vgl. LENZ [2001], 115f.
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anders gewendet, in Anbetracht einer derart vehement vertretenen selbsteigenen Objektivität des significatum totale »stellt sich natürlich die Frage, was« dieses besondere Totum quod homo est albus oder hominem esse album »›auf seiten der (außersprachlichen) Realität‹ (a parte rei […]) eigentlich ist.«462 WODEHAM formuliert insbesondere einen möglichen Einwand gegen die extramentale Objektivität der Sachverhalte. Seine Antwort auf diesen Einwand soll zugleich eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Sachverhaltes sein. Gegen das vollständige Signifikat eines mentalen Satzes lasse sich nämlich einwenden, daß es »entweder etwas oder nichts« ist. »Wenn es nichts ist, ist also nichts Objekt eines Zustimmungsaktes. Dies ist sicherlich falsch. Wenn es etwas [ist], so Gott oder ein Geschöpf. Und in beiden Fällen ist es also eine Substanz oder ein Akzidenz. Und alles Derartige kann durch das Subjekt eines Satzes bezeichnet werden.« [Übers. WEIDEMANN]463
Dieser Einwand läßt sich auch so formulieren. Wenn der Sachverhalt »etwas« im Sinne einer extramentalen Realität ist, dann muß er irgendwie den zehn aristotelischen Kategorien unterfallen, also entweder eine Substanz oder ein Akzidenz sein bzw. eine Substanz, die ein bestimmtes Akzidenz trägt. Denn alles, was extramental »etwas« ist, muß einer der zehn Kategorien unterfallen. Und da der Sachverhalt als extramentales Objekt des Zustimmungsaktes offensichtlich nicht nichts, vielmehr offensichtlich »etwas« ist, muß er auch irgendwie unter die Prädikamente fallen.464 WODEHAM erwidert diesen Einwand, auf eine zunächst sonderbar anmutende Weise, indem er darauf hinweist, daß der Sachverhalt weder 462 463
464
WEIDEMANN [1991], 137. »Idem, quidquid tu posueris eium obiectum totale, illud aut est aliquid aut nihil. Si nihil, igitur nihil est obiectum actus assentiendi. Certum est quod falsum est. Si aliquid: vel Deus vel creatura. Et sive sic sive sic, igitur est substantia vel accidens. Et omne tale potest significari per subiectum alicuius propositionis.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§54). S. WEIDEMANN [1991], 138. »Dices: adhuc remanet eadem quaestio. Quid enim est ›Deum esse Deum‹ a parte rei vel ›hominem esse animal‹ a parte rei? Aut comlexum aut incomeplexum. Si complexum, hoc negas. Si incomplexum, aut substantia aut accidens.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§59. 61.).
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nichts ist noch etwas, noch eine Substanz oder ein Akzidens. D.h. WODEHAM lehnt »die [obige] Alternative«, so WEIDEMANN, »als falsche Alternative« ab.465 Der Sachverhalt »Sinnenwesen-sein-des-Menschen«, »ist nicht etwas, sondern« vielmehr ein »Etwas-sein-des-Menschen«.466 Auch ist der Sachverhalt, wie WODEHAM sagt, »keine Substanz, sondern« vielmehr »das Substanz-sein-des-Menschen«.467 Im Sinne WODEHAMS läßt sich auch sagen, daß der Sachverhalt Weiß-sein-des-Menschen kein Akzidens ist, sondern dieses sonderbare, aber objektive komplexe Etwas-sein, daß dem Menschen ein Akzidens inhäriert. Damit weist WODEHAM eine Reduktion von Sachverhalten auf Substanzen und Akzidentien vehement zurück. Sonderbar mutet an, daß er Sachverhalte auch nicht für »etwas« halten mag, obwohl er an deren extramentalen Sein dezidiert festhält. Diesen Punkt wird GREGOR VON RIMINI, der im Übrigen mit WODEHAMS Auffassung von Sachverhalten weitestgehend übereinstimmt, einer differenzierenden Kritik unterwerfen. Sonderbar kann aber im Hinblick auf das mittelalterliche Bemühen um Wesensdefinitionen auch anmuten, daß WODEHAM auf die Frage nach dem Wassein von Sachverhalten keinerlei Wesensdefinition bietet und auch gar nicht den Versuch einer derartigen Bestimmung unternimmt. Gegen den Einwand, daß Sachverhalte als extramentale Realität den Prädikamenten angehören und in diesem Sinn auch »etwas« sein müssen, führt er »nur« wiederholt Gegenüberstellungen von Substanzen, Akzidentien und entsprechenden Sachverhalten an. Ja, es scheint, als halte WODEHAM den Verweis darauf, daß der Sachverhalt nicht etwas sei, sondern ein Etwas-sein, (non est quid, sed est esse quid),468 für eine derart umittelbare Vergegenwärtigung des Unterschiedes, daß 465
466
467 468
»Wodeham verteidigt seine Auffassung gegen diesen Einwand, indem er die Alternative, vor die sein Opponent ihn stellt, als eine falsche Alternative zurückweist.« WEIDEMANN [1991], 138. »Dices: ›hominem esse animal‹ aut est aliquid aut nihil. Dico quod neutrum est dandum, sed quod non est aliquid sed est hominem esse aliquid, ut dictum est.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§61). »Ad secundum dicendum quod ›hominem esse animal‹ non est […] substantia, sed est […] hominem esse substantiam […].« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§60). »Dices: quid igitur est? Respondendum quod est ›animal rationale esse substantiam animatam sensibilem.‹ Magis stamen proprie respondetur quod ›hominem esse animal‹ non est ›quid‹, sed est ›esse quid‹.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§61).
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Schuldefinitionen ebensowenig notwendig und möglich sind wie im Fall der zwei verschiedenen Farben rot und blau, deren Verschiedensein letztlich nur durch ein unmittelbares Hinblicken auf die sich darbietenden Gegebenheiten hinreichend offenbar werden kann. Anders ausgedrückt darf wohl gesagt werden: In WODEHAMS Augen ist das esse aliquid ein ebenso undefinierbares und nicht weiter zurückführbares Datum wie das aliquid selbst.469 Im Zuge von WODEHAMS Analysen erscheint demnach das sic esse vel sic non esse a parte rei, d.h. modern gesprochen sowohl der positive als auch negative Sachverhalt als das unmittelbare und spezifische extramentale Objekt der entsprechenden Propositionen und darüber hinaus, wie TACHAU herausstellt, auch als das unmittelbare Objekt des Wissensaktes. Der Sachverhalt erscheint auch als der spezifische und unverwechselbare Wahrmacher (causa) von Propositionen.470 Positive und negative Sachverhalte werden hinsichtlich ihrer extramentalen Objektivität ausdrücklich gleichgestellt – beide Sachverhaltstypen bestünden auch dann, wenn es keine urteilende Seele gäbe – und durchaus scharf vom extramentalen Sein gemäß der zehn Kategorien unterschieden. Bemerkenswert ist auch, daß WODEHAM sich, wenn er »korrekt« und »ausführlich« von Sachverhalten spricht, nicht auf positive Sachverhalte beschränkt, sondern vom sic esse vel sic non esse a parte rei spricht und überhaupt bei der beispielorientierten Analyse fast immer den negativen Sachverhalt berücksichtigt. Bemerkenswert ist ferner auch die explizite Identifikation der beiden grundsätzlichen sprachlichen Bezeichnungen für Sachverhalte, nämlich die quod-Sätze, welche den deutschen daß-Sätzen entsprechen, und die A.c.i.Konstruktionen, welche den deutschen substantivierten Infinitiven entsprechen.471 Der nachgerade zum Fachausdruck avancierte Terminus »complexe significabile« für das sic esse a parte rei als significatum totale der propositio wird zwar als solcher erst von GREGOR VON RIMINI 469 470
471
Dieser Absatz versteht sich als Weiterentwicklung und Vertiefung der entsprechenden Ausführungen bei WEIDEMANN [1991], 138. »Wodeham’s solution to the question of the object of knowledge and belief, this solution is also his simultaneous answer to the two further problems of establishing the bearer of truth and falsity, and what a mental proposition signifies.« TACHAU [1988], 303. Vgl. TACHAU [1987], 162. Vgl. dazu LENZ [2001], 115.
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geprägt.472 Aber selbst dieser Term wird, wie GÁL in kritischer Auseinandersetzung mit ELIE zeigt, insofern von WODEHAM vorweggenommen als der Oxforder Denker ausdrücklich vom significatum totale als »quoddam significabile per complexum« spricht.473 Der italienische Augustinereremit GREGOR VON RIMINI übernimmt diese differenzierte Position WODEHAMS und verficht dann, ebenfalls in kritischer Auseinandersetzung mit OCKHAM, einen spezifischen Gegenstand von Urteilen unter der Bezeichnung des tantum complexe significabile, d.h. dem, was nur auf kompexe Weise signifizierbar oder nur auf komplexe Weise bezeichnet werden kann.474 Gerade weil das complexe significabile in GREGORS Augen für die Wahrheit eines Urteils verantwortlich ist, sind auch für ihn weder Konklusionen bzw. Urteile noch die Dinge der Außenwelt als solche die eigentlichen Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern das complexe significabile selbst.475 Durch den doctor acutus oder authenticus hat der Begriff auch eine gewisse weitere Verbreitung und Bekanntmachung erfahren. So setzt sich GREGORS Ordensbruder PAULUS VENETUS eingehend und kritisch mit dem Begriff des complexe significabile auseinander.476 Es dürfte bereits deutlich geworden sein, daß GREGOR VON RIMINI nicht als der Entdecker der Sachverhalte bezeichnet werden kann. Diese Auffassung ist des öfteren vertreten worden. Diese falsche Annahme geht auf den Pionier und Altmeister der historischen Complexe-significabileForschung, Hubert ELIE, zurück, der sie 1936 in seinem bahnbrechenden Werk Le Complexe Significabile vertreten hat.477 Im Gegensatz dazu hat GÁL 1977 auf die enge inhaltliche und teilweise enge sprachliche Abhängigkeit des doctor acutus von WODEHAM hingewiesen und diese Abhängigkeit u.a. durch eine Synopse untermauert.478 472 473 474 475 476 477
478
S. WEIDEMANN [1991], 140. Lect. sec. d. 1, q. 1 (§59). S. Fußn. 478. Vgl. SCHABEL, Christopher [2001]: »Gregory of Rimini«, http://plato.stanford.edu/ entries/gregory-rimini/, 17.04.2007. S. unter Fußn. 479. S. WEIDEMANN [1991], 142. ELIE nennt GREGOR VON RIMINI den »esprit originale s’il en fut, puisque le premier il vit nettement dans le ›signifiable par complex‹ le signifié adéquat de la proposition […].« ELIE [1936], 9. S. GÁL [1977], 66-71.
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Überhaupt bestätigt GREGOR VON RIMINI weitgehend die Position WODEHAMS, was von GÁL und TACHAU auch herausgestellt wird.479 Eigens erwähnenswert ist daher insbesondere ein Punkt in WODEHAMS Analyse, der GREGOR auffallend widerstrebt. Dieser Punkt betrifft WODEHAMS Aussage, wonach das aliquid esse zwar nicht nichts, aber auch nicht etwas sei.480 Die in der Aussage, daß das esse aliquid kein aliquid sei, liegende »Paradoxie« (WEIDEMANN), löst GREGOR VON RIMINI durch eine, wie ELIE sich ausdrückt, »célèbre distinction« auf, indem er drei verschiedene Bedeutungen des Wortes aliquid und der damit synonym zu verstehenden Worte res und ens unterscheidet.481 GREGOR betont, daß die Bezeichnungen aliquid, res und ens dreideutig seien, insofern sie in einem weitesten (communissime), und außerdem, wie WEIDEMANN sich im Hinblick auf WODEHAMS Position ausdrückt, in »einem eingeschränkteren« und einem »ganz engen Sinn« gebraucht werden können. WODEHAM selber gebraucht den Ausdruck aliquid äquivok, wenn er davon spricht, daß das aliquid esse weder nihil noch aliquid sei, versäumt es aber, die Äquivokation aufzudecken. Gebrauche man nämlich die Worte aliquid, ens und res im weitesten Sinn, so 479
480
481
»(Conclusiones tres contra opinionem Ockham) Ista opinio non apparet mihi vera, ideo contra eam et pro responsione ad articulum istum pono conclusiones tres: prima est quod conclusio demonstrationis non es obiectum scientiae acquisitae per demonstrationem. Secunda est quod nec res extra. Tertia, quod significatum totale conclusionis est obiectum scientiae;« I Lectura prol. q. 1 [I: p. 3 lin. 31 – p. 4 lin. 5]. »Suppono quod ›sic esse‹ vel ›non sic esse‹ non est propositionem enuntiantem ›sic esse‹ vel ›non sic esse‹ esse veram. Et haec suppositio nota est, et patet etiam per Philosophum in Praedicamentis capitulo De priori, ubi vult quod quamvis ist ad invicem convertantur secundum convertentiam, nihilominus tamen ›sic esse‹ est causa quod propositio sit vera, et non econverso, et per consequens ›sic esse‹ non est propositionem enuntiantem ›sic esse‹ esse veram. Item suppono quod ›sic esse‹ non est propositio enuntians ›sic esse‹ et hoc etiam dicit Philosophus […].« I Lectura prol. q. 1 [I: p. 5 lin. 17–29]. »Rimini’s divergences from Wodeham mark the route of an independent mind rethinking views that it largely accepts.« TACHAU [1988], 367. S. auch TACHAU [1988], 274. 365f. S. GÁL [1977], 70. »Dices: ›hominem esse animal‹ aut est aliquid aut nihil. Dico quod neutrum est dandum, sed quod non est aliquid se est hominem esse aliquid, ut dictum est. […] Magis tamen proprie respondetur quod ›hominem esse animal‹ non est ›quid‹ sed est ›esse quid‹.« Lect. sec. d. 1, q. 1 (§61). ELIE [1936], 9. S. WEIDEMANN [1991], 140.
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bezeichneten sie sowohl alles Komplexe und damit auch das significatum totale der propositio als auch alles Inkomplexe, also alle Gegebenheiten, die unter die zehn Kategorien fallen. Hinsichtlich des complexe significabile, so betont GREGOR nachdrücklich, gilt dies nicht nur für das significatum totale wahrer, sondern auch für das significatum totale falscher Sätze. Im weitesten Sinn gebraucht bezeichnet aliquid etc. also »nicht nur« die »bestehenden Sachverhalte« bzw. die Sachverhalte, die auch Tatsachen sind, »sondern auch alle Sachverhalte, die nicht als Tatsachen bestehen« (WEIDEMANN). Gebrauche man aliquid im eingeschränkteren Sinn, dann bezeichne es hinsichtlich des complexe significabile nur die Sachverhalte, die Gegenstände wahrer positiver und wahrer negativer mentaler Sätze sind, d.h. sie bezeichneten nur die positiven und negativen Sachverhalte, die auch Tatsachen sind. Im ganz engen Sinn gebraucht bezeichneten aliquid, res und ens nur die im Sinn der Prädikamente existierenden Dinge.482 Auf die Frage, ob Sachverhalte nun »etwas […] oder nichts« seien, »kann GREGOR daher eine«, wie WEIDEMANN hervorhebt, »differenzierte Antwort geben«.483 Überhaupt »scheint«, wie WEIDEMANN begründet vermutet, GREGOR »die paradox klingende Behauptung Wodehams […] als anstößig empfunden zu haben.«484 Sowohl Tatsachen als auch Dinge sind in GREGORS Augen ein extramentales Etwas, nur bedeute »Etwas« in beiden Fällen nicht dasselbe. Spricht man von »etwas« ausschließlich im Sinn der zehn Kategorien, dann ist auch für GREGOR der Sachverhalt tatsächlich nichts. Aber die Bedeutung von aliquid, ens und res darf in GREGORS Augen nicht auf die zehn Kategorien beschränkt werden. 482
483 484
»Dicendum quod hoc nomen ›aliquid sicut et ista alia sibi synonyma ›res‹ et ›ens‹ possunt accipi tripliciter: uno modo communissime secundum quod omne significabile incomplexe vel complexe, et hoc vere vel false dicitur res et aliquid. […]. Alio modo summuntur pro omni significabile complexe vel etiam incomeplexe, sed vere, id est per veram enuntiationem. […]. Tertio modo sumuntur ista ut significant aliquam essentiam seu entitatem existentem. […]. Nunc ad argumentum, cum quaritur, utrum illud totale significatum sit aliquid vel nihil, dico quod, si ›aliquid‹ sumatur primo vel secundo modo, est aliquid; si vero terio modo sumatur, non est aliquid.« I Lectura prol. q. 1 [p. 8 lin. 4 – p. 9 lin. 23]. S. dazu die Darstellung bei WEIDEMANN [1991], 140f. WEIDEMANN [1991], 141. WEIDEMANN [1991], 140.
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Deshalb gilt ihm auch der Sachverhalt, ohne ein Seiendes im Sinn der Prädikamente zu sein, als ein wirkliches und objektiv Seiendes, und das Wissen hat somit auch ein seiendes Objekt.485 Diese Unterscheidungen GREGORS sind insofern bedeutsam, als der doctor acutus sie nur auf der Grundlage einer wenigstens impliziten Einsicht in eine eigene Daseinsform der Tatsachen treffen kann, die man modern als »Bestand« bezeichnet, wofür GREGOR allerdings keine eigene Bezeichnung formuliert. Mit dem »Bestand« handelt sich auch tatsächlich nicht nur um einen anderen Ausdruck für »Existenz«, sondern um eine Daseinsform sui generis, worauf unten noch eigens einzugehen ist. Insbesondere anhand der Complexe-significabile-Theorien WODEHAMS und GREGORS wird deutlich, daß die Auffassung, wonach Sachverhalte eine genuin moderne Entdeckung des späteren 19. Jahrhunderts sind, berichtigt werden muß. Allerdings sind sowohl Sachverhalte als auch deren zentrale philosophische Bedeutung bereits gegen Ende des Mittelalters wieder in Vergessenheit geraten, wie GÁL betont. Erst ELIE hat 1936 den mittelalterlichen Sachverhalt wiederentdeckt und damit gezeigt, daß es sich bei den modernen Theorien zunächst um Wiederbelebungen eines um Jahrhunderte älteren Themas handelt. Daher schreibt GÁL zu Recht: »The warm reception of this [ELIES] work was fully justified because it called to the attention of historians of philosophy a problem which, after being hotly debated during the 14th and 15th centuries, had been completely forgotten until the end of the 19th century, when it was revived – in a modified form – in Alexius Meinong’s theory of objects. No one had suspected, least of all Meinong himself, that at least part of his ›new theory‹ was more than 500 years old.«486
SMITH betont, daß mit den Begriffen aliqualiter (ita sic) esse, modus se habendi, tantum complexe significabile – hinzufügen lassen sich noch sic esse vel sic non esse in re,487 sic esse vel sic non esse a parte rei,488 485 486
487 488
»Denn das Wissen, so Gregor, hat sehr wohl ein Objekt, aber eben eines, das kein Seiendes im engeren Sinne dieses Wortes ist.« WEIDEMANN [1991], 140f. GÁL [1977], 66. Es soll in dieser Arbeit noch deutlich werden, daß zunächst BERGMANN und dann STUMPF, nicht aber MEINONG, als die modernen Wiederbeleber des Sachverhaltsbegriffs gelten müssen. S. LENZ [2001], 112. S. LENZ [2001], 112, Fußn. 28.
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201
significabile per complexum, enuntiabile complexe, significatum/obiectum totale propositionis mentalis489 – insbesondere »im späteren Mittelalter« der »Sachverhalt als Korrelat des Satzes klar zum Vorschein« kommt.490 Die Beantwortung der sich angesichts der mittelalterlichen Entdeckung des Sachverhaltes ergebenden Frage, ob »zwischen diesen ComplexumTheorien und der Reaktivierung der Sachverhalts-Ontologie vor 100 Jahren Zusammenhänge bestehen«, rechnet SMITH zu den »open problems« der historischen Sachverhaltsthematik.491 Entsprechende eingehende Untersuchungen stehen auch zum heutigen Zeitpunkt noch aus. 3.3 Der Sachverhalt im 19. und 20. Jahrhundert 3.3.1 Die juristische Provenienz des Ausdrucks »Sachverhalt« SMITH hebt in seinem Überblick über die Geschichte des Sachverhaltsbegriffs hervor, daß sowohl das deutsche Wort »Sachverhalt« als auch das englische »states of affairs« letztlich von dem lateinischen juristischen Fachausdruck status im Sinne des status rerum abgeleitet zu sein scheinen.492 Vom status rerum wird im Hinblick auf den Stand, Zustand oder die Verfassung der Dinge gesprochen. Der status rerum ist dabei vom status hominum als dem Stand eines Menschen als z.B. Sklave oder freier Mann zu unterscheiden.493 Dem Deutschen und Englischen entsprechende weitere Ableitungen des lateinischen status finden sich erwartungsgemäß in romanischen Sprachen. So spricht man etwa in der französischen Sprache von état des choses und im Italienischen vom stato di cose. Aber auch an einer slawischen Sprache wie der kroatischen, wo Sachverhalt stanje stvari heißt, läßt sich der Einfluß des lateinischen status noch ablesen. Überdies spielen die entsprechenden Worte in all diesen Sprachen immer noch eine bedeutende Rolle in der Jurisprudenz. Allerdings wird, wie SMITH zeigt, der lateinische Term status in juristischen Zusammenhängen nicht immer 489 490 491 492 493
S. LENZ [2001] 106, Fußn. 18. SMITH [1988], 12. SMITH [1988], 12f. 30. Diese Frage »muß derzeit noch offen bleiben.« SMITH [1988], 13. SMITH [1988], 25. SMITH [1988], 9. 25.
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eindeutig gebraucht, und SMITH vermutet, daß gerade diese in der lateinischen Sprache vorliegende Vieldeutigkeit zur Formung des deutschen Wortes »Sachverhalt« geführt haben könnte.494 In der lateinischen Literatur wird, wie SMITH zeigt, status zuweilen nicht nur im Sinne des obigen Sachstandes, sondern auch im Sinne von dem, was in Frage steht oder dem in Frage stehenden gebraucht, so daß der status als eine questio zu verstehen ist. Wenn sich in einem Rechtsstreit die Behauptung der Anklage »A hat B getötet« und die Behauptung der Verteidigung »A hat B nicht getötet« gegenüber stehen, so ergibt sich aus diesen Behauptungen die Frage, ob A B getötet hat. Diese Frage, ob A B getötet hat, wird nun als der status bezeichnet.495 Diese Vieldeutigkeit des status als Sachstand einerseits und als Frage nach dem Sachstand anderereits habe, wie SMITH vermutet, »auch bei der Prägung des deutschen Ausdrucks ›Sachverhalt‹ hereingespielt«. Denn »als Substantiv« sei das Wort »Verhalt« im deutschen völlig »ungebräuchlich«. Daß es dennoch mit dem Wort »Sache« zur Formung des Wortes »Sachverhalt« kombiniert wurde, könnte, wie SMITH zeigt, darin gründen, daß das Wort »Sachverhalt« eine zu einem Substantiv umgemünzte Frage danach ist, »wie die Sache sich verhält [Kursiv. V. Verf.]«.496 In diesem Fall würde die Vieldeutigkeit des lateinischen status als »Sache« und »Frage« wesentlich zur Ethymologie des deutschen Wortes »Sachverhalt« gehören. 3.3.2 Der Sachverhalt bei Hermann Lotze und Julius Bergmann Der Ausdruck »Sachverhalt« kommt 1874 in Hermann LOTZES Logik vor. Allerdings »taucht« er hier »nur en passant […] auf«, wie ROJSZCZAK und SMITH betonen.497 In seiner Logik vertritt LOTZE die Ansicht, daß Urteile nicht irgendwelche, sondern spezifische Gegenstände betreffen. Unter Urteilen versteht LOTZE Relationen zwischen Vorstellungen, welche er von Verhältnissen zwischen Dingen oder sachlichen Verhältnissen unterscheidet und diesen gegenüberstellt. Nur
494 495 496 497
SMITH [1988], 10f. SMITH [1988], 10. SMITH [1988], 10f. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 22.
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»deshalb, weil man dieses sachliche Verhältnis […] als bestehend schon voraussetzt«, »kann man es in einem Satze abbilden.«498
Das »sachliche Verhältnis« von Dingen ist es, das bei LOTZE den spezifischen Gegenstand eines Satzes bzw. Urteils ausmacht. Dieser spezifische Zielgegenstand des Urteils gilt diesem gegenüber als transzendent, wie SMITH und ROJSZCZAK zeigen.499 Mit LOTZES beiläufigem Gebrauch des Ausdrucks »Sachverhalt«, der hinter dem »sachlichen Verhältnis« zurücksteht, sind genau diese den Urteilen gegenüber transzendenten »Relationen zwischen Dingen« gemeint.500 Immerhin läßt sich sagen, daß LOTZE bei aller Beiläufigkeit im Gebrauch des Ausdrucks »Sachverhalt« unter diesen reale und denkunabhänige Relationen zwischen Dingen versteht. In seinem 1879 veröffentlichten Werk Allgemeine Logik scheint, wie SMITH im Rückgriff auf MULLIGAN vermutet, der LOTZE nahestehende deutsche Philosoph Julius BERGMANN zum ersten Mal das Wort »Sachverhalt« eigens als philosophischen Ausdruck gebraucht zu haben.501 Vermutlich unabhängig davon und mit einer ungleich bedeutenderen Wirkungsgeschichte verwendet 1888 auch der Philosoph Carl STUMPF das Wort Sachverhalt als philosophischen Term.502 Bei beiden Denkern steht der Sachverhalt in unmittelbarem Zusammenhang mit der Wahrheitstheorie bzw. der Urteilstheorie. BERGMANN vertritt die Korrespondenztheorie der Wahrheit, welche in dem sog. adaequatio dictum bzw. der klassischen Definition veritas est adaequatio intellectus et rei zum Ausdruck kommt. BERGMANN hebt hervor, daß die res, um die es hier geht, stets ein Sachverhalt ist, womit der Sachverhalt als der gegenständliche Part angesehen wird, mit dem der Intellekt bzw. das Denken übereinstimmen muß. Erkennen sei, so BERGMANN, ein Denken »dessen Gedachtes mit dem Sachverhalt übereinstimmt, 498 499 500
501 502
LOTZE [1880], 57f., § 36. S. SMITH [1988], 13, Fußn. 18. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 22. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 22. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 22. Dennoch ist, wie SMITH betont, »the role of Lotze […] important here, since not only was he associated with Bergmann in Göttingen but his lectures were attended also by Stumpf, Frege, and Marty, all of whom have a role to play in the story that follows.« SMITH [1988], 26f. SMITH, [1988], 26. MULLIGAN [1985], 145, Fußn. 1. SMITH [1988], 26.
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d.i., welches wahr ist.«503 Schon in dieser Formulierung fällt auf, daß BERGMANN irgendwie zwischen dem »Denken« als einer seelischen Tätigkeit und dem »Gedachten« als dem, was dieses Denken beinhaltet und dem Sachverhalt als dem Gegenstand, mit dem das Gedachte, wenn es wahr ist, übereinstimmt, unterscheidet. Das, was mit dem Sachverhalt übereinstimmen muß, um wahr sein zu können, ist nicht die seelische Tätigkeit eines Denkens oder ein Denkakt, sondern das Gedachte oder der Denkinhalt. Und der Sachverhalt ist als das »womit« der Übereinstimmung von dem Übereinstimmenden oder dem, was übereinstimmt, zu unterscheiden. Der Sachverhalt ist hier etwas anderes als der ihn betreffende Denkinhalt und steht diesem gegenüber. Daher betont SMITH, daß der Sachverhalt für BERGMANN »ein urteilstranszendentes gegenständliches Korrelat« darstellt.504 Der kompakten Formulierung BERGMANNS eignet hinsichtlich der Unterscheidung von Denktätigkeit, dem darin Gedachten und dem Gegenstand des Gedachten eine »Präzision«, die angesichts der späteren Verwechslungen und Nichtunterscheidungen durchaus überraschen kann. 3.3.3 Der Sachverhalt bei Carl Stumpf BERGMANN, so scheint es, gebraucht das Wort Sachverhalt zum ersten Mal als philosophischen Term und sieht auch den Zusammenhang zwischen der Urteils- bzw. Wahrheitstheorie einerseits und Sachverhalten andererseits. Aber eine bedeutende Wirkungsgeschichte entfaltet sich erst im Anschluß an die Auffassungen von STUMPF, welche von BERGMANN unabhängig sein dürften.505 Im Rückgriff auf die von SMITH dargestellten historischen Zusammenhänge ist hinsichtlich des Werdegangs des Ausdrucks Sachverhalt folgende einigermaßen komplizierte Situation zu beachten. STUMPFS Auffassungen zum Sachverhaltsbegriff lassen sich im Sommer des Jahres 1888 zum ersten Mal schriftlich fassen. Allerdings handelt es sich bei diesen schriftlichen Fassungen nicht um Publikationen, sondern um Vorlesungsinhalte, welche STUMPF lithographieren und dann für seine Hörer im Sinne eines Leitfadens vervielfältigen läßt.506 Heute ist 503 504 505 506
BERGMANN [1879], 2–5. 19. 38. S. SMITH [1988], 13. S. SMITH [1990a], 130. SMITH [1988], 14. S. SMITH [1988], 13. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 23. S. SMITH [1988], 13 und ebd. Fußn. 20. S. SMITH [1998], 40.
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von dieser Lithographie nur noch das eine Exemplar bekannt, welches STUMPF seinem Schüler HUSSERL zukommen läßt.507 Im Jahr 1907, und damit neunzehn Jahre später, läßt STUMPF seine Sachverhaltsphilosophie erstmals in einer Monographie für die Berliner Akademie veröffentlichen.508 Zu diesem Zeitpunkt hat STUMPFS seit 1888 greifbare Arbeit am Sachverhaltsbegriff aber bereits eine überaus bedeutende Wirkungsgeschichte entfaltet. So findet sich die »first important appearence« des Sachverhaltsbegriffs »in philosophical print« im 1900 erschienenen ersten Band von Edmund HUSSERLS Logischen Untersuchungen, welche HUSSERL seinem Lehrer STUMPF widmet.509 Ebenso wie bei BERGMANN erscheint auch bei STUMPF der Sachverhaltsbegriff im Zusammenhang mit der Urteils- und Wahrheitstheorie. Rückblickend schreibt STUMPF 1907, daß er die Bezeichnung Sachverhalt 1888 eingeführt habe für »den spezifischen Urteilsinhalt«, der »dem Urteil […] entspreche« und »der vom Vorstellungsinhalt (der Materie) zu scheiden sei und sprachlich in ›Daß-Sätzen‹ oder in substantivierten Infinitiven ausgedrückt wird.«510
STUMPF führt hier nicht nur den Term »Sachverhalt« ein, sondern er kennzeichnet auch erstmals ausdrücklich die beiden grundlegenden grammatikalischen Ausdrucksformen für Sachverhalte. Der Sachverhalt, der dem Urteil »Die Rose ist rot« entspricht, kann sprachlich in dem daßSatz zum Ausdruck kommen, daß die Rose rot ist. Ebenso läßt sich der einschlägige Sachverhalt durch einen substantivierten Infinitiv wie das Rot-sein-der-Rose ausdrücken. Es ist zu beachten, daß STUMPF die Bezeichnungen »spezifischer Urteilsinhalt« oder »Urteilsinhalt« und »Sachverhalt« synomym gebraucht, da es für STUMPF keinen sachlichen Unterschied zwischen Urteilsinhalten und Sachverhalten gibt.511 Damit unterscheidet er sich von BERGMANN, der ausdrücklich zwischen Urteilsinhalten als Denkinhalten einerseits und Sachverhalten andererseits 507 508 509 510 511
S. SMITH [1988], 13, Fußn. 20. S. SMITH [1978], 41. SMITH [1978], 40f. STUMPF [1907a], 29f. S. SMITH [1990a], 134f. S. SMITH [1988], 13. S. SMITH [1990b], 116.
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unterscheidet. In folgendem Zitat kommt STUMPFS Identifikation von Urteilsinhalten und Sachverhalten noch deutlicher zum Ausdruck. Um den oben anklingenden Unterschied zwischen den Vorstellungsinhalten bzw. der Materie des Urteils und spezifischen Urteilsinhalten bzw. Sachverhalten zu verdeutlichen, schreibt STUMPF: »Von der Materie des Urteils unterscheiden wir seinen Inhalt oder den im Urteil ausgedrückten Sachverhalt. Z.B. ›Gott ist‹ hat zur Materie Gott, zum Inhalt das Sein Gottes. ›Es gibt keinen Gott‹ hat dieselbe Materie, aber den Inhalt ›Nichtsein Gottes‹.«512
Etwas vereinfacht läßt sich sagen, daß die Stelle, welche bei BERGMANN durch Sachverhalte eingenommen wird, insofern diese die dem Urteilsakt und dem wahren Urteilsinhalt gegenüberstehende unabhängige res darstellen, von STUMPF durch die »Urteilsmaterie« besetzt ist. Wenn STUMPF dennoch davon spricht, daß der Sachverhalt »dem Urteil entspreche«, dann versteht er unter der Bezeichnung »Urteil« eine bestimmte seelische Funktion, d.h. einen bestimmten seelischen Akt, und unter dessen Entsprechung den von der seelischen Funktion zwar zu unterscheidenden, aber gleichsam im Innenraum dieser Funktion verbleibenden Urteilsinhalt. Der »Sachverhalt« ist bei STUMPF nichts anderes als dieser Urteilsinhalt.513 Und da die seelische Funktion des Urteilens den Sachverhalt buchstäblich beinhaltet, kann der Sachverhalt niemals »jenseits« dieses Funktionsinhalts angetroffen werden. Sachverhalte seien daher »ebenso von den Funktionen selbst wie von den Erscheinungen (und weiterhin den Gegenständen), worauf sie sich beziehen«514
zu unterscheiden. Damit seien Sachverhalte »Tatsachen überhaupt nur als Inhalte von Funktionen«.515 Der Sachverhalt soll mithin derjenige seelische Inhalt sein, wodurch sich eine bestimmte Funktion der Seele, auf den außerseelischen Gegenstand bezieht. Keinesfalls aber ist, wie bei BERGMANN, der Sachverhalt das der Seele und ihren Inhalten gegenüber512 513 514 515
Zit. nach SMITH [1988], 13. S. SMITH [1990b], 116f. STUMPF [1907a], 30. S. SMITH [1988], 14. STUMPF [1907a], 30. S. SMITH [1988], 14.
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stehende Datum, worauf sich ein Akt durch einen Inhalt bezieht. Der Sachverhalt kann deshalb für STUMPF »nicht für sich allein, unabhängig von irgendeiner Funktion unmittelbar gegeben und damit auch real sein«516
Die Sachverhalte »treffe« die denkende und insbesondere urteilende Person »nicht irgendwo abgesondert […] an einem übersinnlichen Ort als für sich seiende Wesen […]. Sie existieren nicht als tote Präparate, als Petrefakten, sondern im Verbande des lebendigen seelischen Daseins«.517
Sachverhalte bzw. Urteilsinhalte findet die urteilende Person damit immer nur innerhalb ihrer Seele und ihres lebendigen, d.h. tätigen oder »funktionierenden« Daseins vor.518 Es gibt Sachverhalte nur als Inhalte seelischer Funktionen. Im Unterschied zu BERGMANN, bei dem Sachverhalte als »urteilstranszendente« Gegebenheiten fungierten, seien Sachverhalte für STUMPF eine »urteilsimmanente« Gegebenheit, wie SMITH zu Recht betont.519 Dieser, wie SMITH sich ausdrückt, »immanentist strain« in STUMPFS Auffassung gründe darin, daß für ihn die Ontologie überhaupt nur als »a branch of psychology« anzusehen sei.520 Und STUMPFS Begriff der Psychologie läßt sich mit SMITH folgendermaßen zusammenfassen: »Psychology itself has to do with three sorts of entities: functions, appearances [Erscheinungen], and formations [Gebilden], […]. Functions are just mental acts and processes; apprearences are, roughly speaking, the sense data of old; formations are (for example) concepts, states of affairs and values, which are not entities existing of themselves somewhere in the world, but rather the contents of corresponding functions – and only as such can they be described and investigated. Appearences and formations together make up the totality of what is given in mental acts and processes. They differ in that, as Stumpf puts it, appearances are given to us in ›logical independence‹ of the associated 516 517 518 519 520
STUMPF [1907a], 30. S. SMITH [1988], 14. STUMPF [1907b], 34. S. SMITH [1988], 14. S. SMITH [1990b], 116. SMITH [1988], 14. SMITH [1990b], 116.
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Kapitel 3 functions, that is, they are given as if they originate in some separate shere. Formations on the other hand, are given to us only in ›logical dependence‹ on the corresponding functions. Moreover, formations are immanent; they exist only ›in the context of the living being of the mind‹. The peculiarity of this view is seen most clearly in the fact that Stumpf reckons not only concepts to the category of immanent formations, but also states of affairs and even collectives or sums (›Inbegriffe‹). Gestalt qualities too, belong to this category; they are conceived by Stumpf as special cases of Inbegriffe, manely those where there are real relations between the elements summed. Where sense data as such are given to us independent of the mind, sense data qua organised or collected are, Stumpf argues, taken up into consciousness in such a way that they are given to us as existing only as immanet parts of the relevant acts.«521
STUMPFS Sachverhalte gehören als »Gebilde« zu den »logisch abhängigen« Gegebenheiten. Und als solche finden sie sich nur innerhalb der Funktionen bzw. innerhalb der seelischen Tätigkeiten. Bei den Gebilden kann für STUMPF überhaupt keine Rede davon sein, daß sie gleichsam »draußen« in der bewußtseinsunabhängigen Welt zu deren »Inventar« gehören. Ihr Sein erschöpft sich vielmehr darin, Inhalt entsprechender Funktionen zu sein. Nur die puren und gewissermaßen »nackten«, von allen subjektiven Zutaten entblößten »elementaren« Sinnesdaten können sich als bewußtseinsunabhängig darstellen, sie allein sind in »logischer Unabhängigkeit« gegeben.522 Das weiter oben angeführte Zitat, in dem STUMPF von Gott als Urteilsmaterie spricht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß er, wie SMITH betont, »fest der empiristischen Tradition verhaftet« ist und daher »vor allem die Sinnesdaten als typische Beispiele von Gegenständen der Vorstellungen […] und auch als Beispiele für die »Materie« der Urteile« ansieht.523 Aber sobald diese elementaren Daten überhaupt eine »Organisation« – SMITH führt die Melodie als Bespiel einer solchen Organisation an – aufweisen, die als solche weder ein pures Sinnesdatum ist noch sein kann, handelt es sich um »Gebilde«, die als solche durch das Bewußtsein »kolligiert« (SMITH) sind und so nur als bewußtseinsimmanente Daten gegeben sein können.524 Freilich kann nun 521 522 523 524
SMITH [1990b], 116f. Vgl. SMITH [1990a], 135. SMITH [1990a], 135. S. SMITH [1988], 27. S. SMITH [1990a], 135.
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ein Sachverhalt wie das Rot-sein-der-Rose als empirischer Sachverhalt und Korrelat des aposteriorischen Urteils »Die Rose ist rot« letztlich in elementaren Sinnesdaten gründen. Aber als Sachverhalt stellt er in STUMPFS Augen eine sinnlich nicht wahrnehmbare bewußtseinsimmanente Organisationsform von Sinnesdaten dar. Damit verhält er sich ähnlich wie Inbegriffe und Gestaltqualitäten. »Ein Stumpfscher Sachverhalt existiert« so SMITH, »darum nur als der immanente Inhalt eines Akts des Urteilens; er wird sozusagen erst durch das Urteilen aufgebaut und aktualisiert.«525
Obwohl STUMPF den Gedanken einer dem Bewußtsein gegenüber transzendenten Gegebenheit von Sachverhalten zurückweist und, wie bereits erwähnt, die Ausdrücke »Sachverhalt« und »Urteilsinhalt« synonym gebraucht, »stellt STUMPFS Werk über Sachverhalte«, so ROJSZCZAK und SMITH, doch »einen Meilenstein«526 im Werdegang des Sachverhaltsbegriffs dar. »Denn es war vor allem Stumpfs Verwendung des Terminus ›Sachverhalt‹ in seiner Logik-Vorlesung des Sommersemesters 1888, welcher letzten Endes all die verschiedenen Sachverhaltsontologien zu verdanken sind, die um die Jahrhundertwende von anderen Brentanisten entwickelt wurden und die sich nicht zuletzt auch in Wittgensteins Logischphilosophischer Abhandlung nachweisen lassen.«527
Man wird in Anlehnung an SMITH sagen können, daß STUMPFS Wahl des Wortes »Sachverhalt« bereits über dessen eigene Auffassung hinausweist, insofern der bloße Ausdruck die Unzufriedenheit mit immanentistischen Auffassungen herausfordert. »Stumpfs coinage of ›Sachverhalt‹ does, however, mark a step forward in the ontology of judgment, since it led philosophers to look for something
525 526 527
Vgl. SMITH [1990a], 135. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 24. SMITH [1990a], 131.
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Kapitel 3 on the side of the things [die ›Sachen‹] themselves, some ›fact‹ or ›objektive‹, to serve as that in virtue of which a judgment is true.«528
Es bleibt STUMPFS Verdienst, daß der »Sachverhalt« aus der Frage nach den Korrelaten von Urteilen und dem Wesen der logischen Wahrheit künfig nicht mehr wegzudenken ist, ganz gleich, welche Stellung verschiedene Denker im einzelnen einnehmen mögen. 3.3.4 Kazimierz Twardowskis Bruch mit dem immanentistischen Verständnis von Gedankeninhalten durch die Unterscheidung von Akt, Inhalt und Gegenstand Der in Wien geborene und aufgewachsene Pole Kazimierz TWAR529 DOWSKI ist ein unmittelbarer Schüler von Franz BRENTANO. Aber er ist mit dem immanentistischen Verständnis von Gedankeninhalten à la STUMPF und auch mit dem bei BRENTANO vorliegenden Immanentismus bezüglich der intentionalen Korrelate des Denkens unzufrieden und vollzieht einen bedeutenden »Bruch« (ROJSZCZAK/SMITH) mit diesem Immanentismus. Auf diese bedeutende Ausnahmestellung TWARDOWSKIS und auf dessen Verabschiedung des Immanentismus machen ROJSZCZAK und SMITH zu Recht eigens aufmerksam.530 Im Jahr 1894 veröffentlicht 528
529 530
SMITH [1990b], 117. SMITH führt ein treffendes Beispiel für den defizitären Charakter von STUMPFS Auffassung an, wenn er sagt: »Vor allem konnte Stumpf der Tatsache nicht gerecht werden, daß z.B. ein empirisches Urteil dadurch wahr ist, daß es entsprechende dem Bewußtsein transzendente Objekte gibt, die es wahr machen.« SMITH [1990a], 135. S. SMITH [1990a], 135. S. SMITH [1990a], 135. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 24f. Auf den hier einschlägigen Immanentismus bei BRENTANO soll hier nicht näher eingegangen werden, da es bei BRENTANO trotz der herausragenden Stellung von Urteilen in seinem Denken keinen expliziten Sachverhaltsbegriff gibt. Nur so viel sei dazu gesagt: Die Auseinandersetzungen von BRENTANOschülern wie TWARDOWSKI, MARTY, MEINONG und HUSSERL um den ontologischen Status der objektiven Korrelate von Urteilen entzünden sich gerade auch an BRENTANOS immanentistischem Verständnis der Gedankeninhalte bzw. an dem mit BRENTANOS Intentionalitätsbegriff verbundenen Immanentismus bezüglich der objektiven Korrelate der Denkakte. Denn trotz BRENTANOS verdienstvoller Wiederentdeckung der Intentionalität des Bewußtseins bedeutet, wie SMITH zeigt, Intentionalität für BRENTANO weder, daß jede Aktart auf einen spezifischen Gegenstand abzielt
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
211
TWARDOWSKI seine Abhandlung Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen: Eine psychologische Untersuchung. Dieses Werk beginnt mit einer Untersuchung der Mehrdeutigkeit der Ausdrücke »Vorstellung« und »Vorgestelltes« und führt schließlich auf die Herausarbeitung von Akten, Inhalten und Gegenständen als dreier zusammenhängender, aber voneinander verschiedener Gegebenheiten. TWARDOWSKIS Hauptgedanken lassen sich im Anschluß an ROJSZCZAK und SMITH folgendermaßen zusammentragen: Zunächst zeigt TWARDOWSKI, daß die Bezeichnung »Vorstellung« mehrdeutig ist, da sie sich einmal auf die seelische Aktivität des Vorstellens und ein andermal auf das, was vorgestellt wird, bezieht, wobei das eine nicht das andere sei.531 Der Ausdruck »Vorgestelltes« sei ebenfalls mehrdeutig, da er sich ebenso wie »Vorstellung« einmal auf den denkimmanenten Inhalt und ein andermal auf das nichtimmanente selbsteigen existierende Ding außerhalb jedes Bewußtseins bezieht.532 Diese ver-
531
532
noch, daß die intentionalen Gegenstände die sie intendierenden seelischen Prozesse transzendieren. Gegenstände, seien es sinnliche oder begriffliche, sind bei BRENTANO »immanente Gegenstände des Denkens«. Daher verwendet BRENTANO auch die Ausdrücke Denkinhalt und Denkgegenstand synonym, was die Diskussionen seiner Schüler zusätzlich verständlich macht. Im strengen Sinne real ist in BRENTANOS Augen nur der Denkakt. BRENTANOS Denkinhalten/-gegenständen eignet, wie SMITH betont, »nur insofern ein Sein, als der Akt, der ihn denkt, existiert.« Diese Position BRENTANOS beeinflußt verständlicherweise die Auseinandersetzungen seiner Schüler gerade auch hinsichtlich der Frage nach den Urteilsinhalten und den Urteilsgegenständen. S dazu SMITH [1990a], 131134. S. ferner SMITH [1989], u. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 17f. S. dazu BRENTANOS Bemerkungen in BRENTANO [1962], 87f. BRENTANO [1973], 125. Eine ausführlichere Darstellung seiner diesbezüglichen Position formuliert BRENTANO in Deskriptive Psychologie [1982], 10-27. »Danach hat man den Gegenstand, worauf sich unser Denken ›gleichsam richtet‹, von dem immanenten Object [sic] oder dem Inhalt der Vorstellung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht immer gemacht […] worden. Die Sprache erleichtert, wie so häufig, auch hier die Verwechslung von Verschiedenartigem, indem sie sowol [sic] den Inhalt als auch den Gegenstand ›vorgestellt‹ sein lässt.« TWARDOWSKI [1982], 4. 12. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f. »Es wird sich auch zeigen, dass [sic] der Ausdruck ›Vorgestelltes‹ in ähnlicher Weise zweideutig ist, wie der Ausdruck ›Vorstellung‹. Dieser dient ebensowol [sic] zur Bezeichnung des Actes und des Inhaltes, wie jener zur Bezeichnung des Inhaltes, des immanenten Objectes, und zur Bezeichnung des nicht imma-
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Kapitel 3
schiedenen Bedeutungen gründen darin, daß sich eine Bezeichnung (»Vorstellung« und auch »Vorgestelltes«) auf völlig verschiedene Gegebenheiten bezieht. Gebraucht man nun die Bezeichnungen, ohne die verschiedenen Bedeutungen sauber zu unterscheiden, kann es dazu kommen, daß seinsmäßig völlig verschiedene Gegebenheiten nicht auseinandergehalten werden und miteinander zu verschwimmen drohen. TWARDOWSKI möchte in seinem Werk derartigen Verwirrungen aus dem Weg räumen, indem er zum einen auf die Vieldeutigkeit hinweist und zum anderen zeigt, daß die fraglichen Gegebenheiten als solche völlig verschiedene Eigenschaften haben und daher nicht miteinander zu verwechseln sind.533 TWARDOWSKI sucht durch folgende Überlegungen den Unterschied zwischen Inhalt und Gegenstand zu verdeutlichen: Zunächst einmal gibt es Eigenschaften des Vorgestellten im Sinne eines bewußtseinsunabhängig existierenden Dinges, die unmöglich Eigenschaften der Vorstellung/des Vorgestellten im Sinne des gedachten Inhalts sein können. Wenn TWARDOWSKI auch das folgende Beispiel nicht gebraucht, so kann doch in seinem Sinn gesagt werden, daß etwa ein Schiff Tausende von Bruttoregistertonnen wiegen kann. Aber dem Vorstellungsinhalt oder dem Begriff »Schiff« kann unmöglich irgendein Gewicht zukommen.534 Zweitens könne ein Gegenstand unabhängig von jedem Denkakt existieren oder auch nicht existieren. Ein Denkinhalt hingegen sei immer von den ihn hervorbringenden Akten abhängig.535 Gibt es einen bestimmten Denkinhalt nicht, dann deshalb, weil er nicht gedacht wird.
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nenten Objectes, des Gegenstandes der Vorstellung.« TWARDOWSKI [1982], 4. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f. »Die vorliegende Untersuchung wird sich damit befassen, die Trennung des Vorgestellten in dem einen Sinne, wo es den Inhalt bedeutet, vom Vorgestellten im anderen Sinne, in dem es zur Bezeichnung des Gegenstandes dient, kurz des Vorstellungsinhaltes vom Vorstellungsgegenstande im Einzelnen durchzuführen und das gegenseitige Verhältnis beider zu betrachten.« TWARDOWSKI [1982], 4. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f. »[…] der Inhalt der Vorstellung eines schiefwinkligen Quadrates ist weder schiefwinklig noch quadratisch; wol [sic] aber ist es das schiefwinklige Quadrat selbst, der Gegenstand dieser Vorstellung. Und so ergibt sich auch unter diesem Gesichtspunkte die Verschiedenheit von Vorstellungsinhalt und Vorstellungsgegenstand.« TWARDOWSKI [1982], 31. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25. »Wenn nämlich Inhalt und Gegenstand einer Vorstellung nicht in realer, sondern bloß in logischer Weise voneinander verschieden wären, so wäre es nicht
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Drittens könnten sich völlig verschiedene Denkinhalte auf ein und denselben Gegenstand beziehen.536 Würden sich, so läßt sich an dieser Stelle ergänzend bemerken, Inhalt und Gegenstand nicht unterscheiden, dann könnte man entweder die offensichtlich verschiedenen Inhalte nicht unterscheiden, oder man müßte sagen, daß es sich je um völlig verschiedene Gegenstände handelt. Viertens ließen sich die verschiedensten Gegenstände durch einen einzigen Inhalt vorstellen, wie etwa im Fall des Allgemeinbegriffs Mensch. Dies muß als völlig unmöglich gelten, wenn Inhalt und Gegenstand nicht voneinander unterschieden sind.537 Fünftens ließen sich, wie TWARDOWSKI betont, völlig wahre Urteile über Gegenstände fällen, die nicht existieren. Das Urteil »Pegasus hat Flügel« ist ein wahres Urteil, obwohl es weder Pegasus noch dessen Flügel
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möglich, dass der Inhalt etwa existiere, während der Gegenstand nicht existiert. Gerade dies ist aber oft der Fall. Wer ein wahres Urteil fällt, welches einen Gegenstand leugnet, der muss [sic] doch den Gegenstand, den er in verwerfender Weise beurteilt, vorstellen. […] Wären Inhalt und Gegenstand in Wahrheit dasselbe, so könnte nicht das Eine existieren und das Andere im selben Augenblicke nicht existieren. Aus diesem Verhältnisse […] schöpfen wir demnach das wirksamste Argument für die reale Verschiedenheit beider.« TWARDOWSKI [1982], 30. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25. »Einen ferneren Beweis für die reale, nicht blos [sic] logische Verschiedenheit von Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen liefern die sogenannten Wechselvorstellungen. Unter diesen versteht man der üblichen Definition gemäss [sic] Vorstellungen, die denselbeu [sic] Umfang, aber verschiedenen Inhalt haben. Solche Wechselvorstellungen sind z.B. die an Stelle des römischen Juvavum gelegene Stadt und: der Geburtsort Mozarts. Die beiden Namen bedeuten etwas Verschiedenes, aber sie nennen beide dasselbe. Da nun, […], die Bedeutung eines Namens mit dem Inhalte der durch ihn bezeichneten Vorstellung zusammenfällt, das durch den Namen Genannte aber der Gegenstand der Vorstellung ist, so lassen sich die Wechselvorstellungen auch definieren als Vorstellungen, in welchen ein verschiedener Inhalt, durch welche aber derselbe Gegenstand vorgestellt ist. Damit ist aber schon die Verschiedenheit von Inhalt und Gegenstand gegeben. […]; der Gegenstand der Vorstellungen ist derselbe; das, was beide Vorstellungen unterscheidet, ist ihr verschiedener Inhalt.« TWARDOWSKI [1982], 31f. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f. »Die allgemeine Vorstellung als Vorstellung, unter die eine Mehrzahl von Gegenständen falle, habe ja trotzdem nur einen einzigen Inhalt und liefere dadurch den Beweis, dass Inhalt und Gegenstand strenge zu unterscheiden seien.« TWARDOWSKI [1982], 34. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f.
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gibt. Wenn sich Inhalt und Gegenstand nicht unterschieden, könnte es derartige Urteile gar nicht geben, da es in Folge der Nichtexistenz des Gegenstandes auch keinen Inhalt geben könnte.538 Den Inhalt einer Vorstellung beschreibt dann TWARDOWSKI treffend als »jenes Bindeglied zwischen dem Vorstellungsact [sic] und dem Vorstellungsgegenstand, kraft dessen sich ein Act eben auf diesen bestimmten und keinen anderen Gegenstand bezieht.«539
Der Vorstellungs- oder Denkinhalt ist demnach ein Medium, durch das hindurch die Denktätigkeit einer Person sich auf einen Gegenstand bezieht. Der Denkakt vermag diese mediale Funktion nicht zu leisten, und der mediale Inhalt kann unmöglich selbst eine Denktätigkeit sein. Damit sind nicht allein Gegenstand und Inhalt zu unterscheiden, sondern auch Denkinhalt und Denkakt. Der Denkakt ist eine Tätigkeit der Seele, aber der Inhalt, das durch die Tätigkeit Gedachte ist selber keine vorstellend tätige Seele. Und da sich die »hinter« einem Inhalt stehende Denktätigkeit in keiner Weise im Inhalt selbst finden lassen kann, sind beide streng voneinander verschieden. TWARDOWSKI versteht unter dem Vorgestellten im Sinne des Gegenstands also den »bewußtseinstranszendenten Zielpunkt« des Aktes, wie sich mit SMITH sagen läßt.540 Unter der Vorstellung/dem Vorgestellten im Sinne des Inhalts verstehe er, wie SMITH sich ausdrückt, »eine Art mentales Bild oder eine Repräsentation« des Gegenstands.541 Die Vorstellung/das Vorgestellte im Sinn der mentalen Repräsentation ist für TWARDOWSKI wiederum radikal von der Vorstellung im Sinn der seelischen Tätigkeit zu unterscheiden, da das mentale »Bild« keine tätige Seele ist. Jeder Akt habe, wie TWARDOWSKI betont, sowohl einen Inhalt als auch einen Gegenstand, wobei es keinesfalls nötig sei, daß dieser Gegenstand auch extramental existiert. Auch nichtexistente Gegenstände hätten bestimmte Eigenschaften, etwa die völlige Bewußtseinsunabhängigkeit der
538 539 540 541
S. Fußn. 535. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f. TWARDOWSKI [1982], 31.S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 25f. SMITH [1990a], 136. SMITH [1990a], 136.
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Nichtexistenz, die sie immer noch eindeutig von Inhalten und deren Existenz unterschiede.542 1894 schreibt TWARDOWSKI auch Urteilsakten als einer besonderen Form von Vorstellung einen spezifischen Inhalt zu (die Existenz des Gegenstands im Sinne BRENTANOS). ROJSZCZAK und SMITH weisen allerdings nach, daß TWARDOWSKI zu diesem Zeitpunkt noch nicht der Auffassung ist, daß sich die Urteilsakte durch ihre besonderen Inhalte auch auf einen besonderen Gegenstand beziehen. Der Urteilsakt erbe, wie TWARDOWSKI sich ausdrückt, seinen Gegenstand (inheriting its object) vielmehr von den im Urteil kombinierten einfachen Vorstellungen.543 Aber im Jahr 1897 schlägt TWARDOWSKI in einem Brief an MEINONG vor, daß nicht nur von einem besonderen Inhalt des Urteils, sondern auch von einem besonderen Gegenstand des Urteils ausgegangen werden sollte.544 So verallgemeinert TWARDOWSKI das Dreierschema Vorstellungsakt (die das Schiff betreffende Denktätigkeit), Vorstellungsinhalt (Repräsentation eines Schiffes) Vorstellungsgegenstand (Schiff) auf ein entsprechendes Dreierschema Urteilsakt (seelische Tätigkeit der Anerkennung oder Verwerfung des Schiffes im Sinn BRENTANOS), Urteilsinhalt (die Existenz des Schiffes) und den Sachverhalt (ein Schiff existiert) als Urteilsgegenstand.545 Durch diese scharfsinnigen Unterscheidungen nimmt TWARDOWSKI eine herausragende Stellung insbesondere unter den unmittelbaren BRENTA542 543
544
545
TWARDOWSKI [1982], 29f. Vgl. auch 20-29. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 27. S. auch SMITH [1988], 32. Allerdings sagt TWARDOWSKI bereits 1894: »Die Annahme liegt nahe, dass Urteile bezüglich der Unterscheidung von Inhalt und Gegenstand Aenliches [sic] aufweisen werden, wie die Vorstellungen. Wenn es gelingt, auf dem Gebiete des Urteilens auch eine Verschiedenheit des Inhaltes vom Gegenstande des Phaenomens [sic] aufzudecken, so dürfte dies für die Klärung des analogen Verhältnisses bei den Vorstellungen von Vorteil sein.« TWARDOWSKI [1982], 5. TWARDOWKI schreibt MEINONG am 11. Juli 1897: »Ich gedenke mich während der nunmehr beginnenden Ferien an die Ausarbeitung einer von mir schon lange geplanten Urteilstheorie […] zu machen. Ich wäre Ihnen äusserst [sic] verbunden, wenn Sie mir gestatten würden, mir gegebenenfalls bei Ihnen kritische Ratschläge einzuholen. Hauptgedanke meiner Ansicht ist: In jedem Urteil ist zu unterscheiden 1. Act […] 2. Inhalt […] 3. Gegenstand (der beurteilte Sachverhalt […]).« MEINONG [1965], 143f. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 27. S. SMITH [1988], 32f. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 28. S. SMITH [1990a], 136.
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NOschülern
ein. Er schafft durch seine Unterscheidungen eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Grundlage für die Einsicht, daß Sachverhalte weder in der psychologischen noch in der logischen, sondern in der ontologischen Sphäre anzusiedeln sind. 3.3.5 Der Sachverhalt bei Anton Marty Bei dem Schweizer Anton MARTY, einem weiteren BRENTANOschüler der ersten Generation,546 läßt sich so etwas wie ein eindeutiger Unterschied zwischen Urteilsinhalten als den Trägern der Wahrheit und Sachverhalten als Wahrmachern ebenfalls nicht finden.547 Auch bei ihm sind in aller Regel Urteilsinhalt und Sachverhalt grundsätzlich zwei verschiedene Worte, mit denen er dieselbe Sache bezeichnen möchte. Aber die in Frage stehende Sache selbst wird bei MARTY weit weniger bewußtseinsimmanent verstanden als etwa bei STUMPF, und so stellen MARTYS Überlegungen einen weiteren Schritt in Richtung auf Sachverhalte als einer Gegebenheit sui generis dar, welche letztendlich von Urteilsinhalten an sich streng zu unterscheiden sind. Um MARTYS Begriff des Urteilsinhalts/Sachverhalts eingehender nachvollziehen zu können, muß ein Blick auf seine »Ontologie der Irrealia« (SMITH) geworfen werden. Der wichtigste Grund, eine solche Ontologie der Irrealia zu vertreten, ist, wie SMITH zeigt, MARTYS Interesse am Wesen der Sachverhalte oder Urteilsinhalte. Letztere wiederum interessierten MARTY vor allem im Hinblick auf die Ausarbeitung einer »defensible correspondence theory of truth.«548 Im Unterschied zum späten BRENTANO werde das Sein für MARTY ähnlich wie für ARISTOTELES »auf vielfache Weise ausgesagt«, wie SMITH 546 547 548
SMITH [1990b], 113. SMITH [1988], 29. »[…] entweder sind […] ([…] die Urteilsinhalte überhaupt) Worte ohne Sinn, oder wir besitzen nur einen Begriff von ihrer Bedeutung, der geschöpft ist aus der Reflexion auf das Urteilen […], und die Erkenntnis der Existenz von etwas uns Fremden ist stets untrennbar geknüpft an die Erkenntnis von uns selbst als richtig Urteilenden und nur in dieser Begleitung d.h. in einer mit der Selbstperzeption verbundenen Komperzeption möglich.« MARTY [1908], 315. »Marty’s most important reason for embracing an ontology of irrealia relates undoubtedly to the category of states of affaires or ›judgment-contents‹ and to the problem of developing a defensible correspondence theory of truth.« SMITH [1990b], 130.
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betont.549 So sei »Sein« bei MARTY einerseits in einem, wie SMITH sich ausdrückt, »strict and proper« und andererseits in einem »wider« Sinn zu verstehen.550 »Sein« im strengen Sinn bezeichnet MARTY als »Realität«. Das »Sein« im weiteren Sinn nennt MARTY »Existenz«. »Existenz« unterteilt MARTY wiederum in »reale« und »nichtreale« Existenz.551 Zur Realität im Sinne MARTYS gehören, wie SMITH herausstellt, alle psychischen und physischen Substanzen und Akzidenzien, die hier und jetzt in der Gegenwart und nur in der Gegenwart da sind.552 MARTY findet noch eine weitere Kennzeichnung. Zur Realität gehöre all das, was in Kausalrelation stehen kann,553 wobei für MARTY wiederum nur das in Kausalrelation stehen kann, was entsprechend der obigen Einschränkung hier und jetzt in actu wirklich ist. Für MARTY sind daher alle »realen« Entitäten entweder psychische oder physische Substanzen und Akzidenzien.554 Der Begriff der »nichtrealen« Existenz läßt sich bei MARTY nur durch eine Reflexion auf das erhellen, was als wahres affirmatives Urteil 549 550 551
552 553
554
»As for Aristotle, so also for Marty, ›being‹ is ›said in many ways‹.« SMITH [1990b], 113. SMITH 1990], 113. »Dementsprechend zerfällt uns das Gebiet des Existierenden oder mit Wahrheit Anerkenntlichen in zwei Bezirke, dasjenige was existiert und real ist und dasjenige was existiert, ohne real zu sein. Ich sage, das Gebiet des Existierenden zerfalle usw. Denn daß das, was nicht existiert, auch nicht real ist, ist selbstverständlich. […] Aber nicht alles Nichtreale ist ein Nichtseiendes, und nicht alles Seiende ein Reales.« MARTY [1908], 317. S. SMITH [1990b], 113. SMITH [1990b], 113f. »Neuere haben statt dessen betont, daß das Reale wirke, während dies von Nichtrealem nicht gelte, und in der Tat kann man – wie mir scheint – diesen Charakterzug als durchschlagend betrachten; […].« MARTY [1908], 319f. S. SMITH [1990b], 114. »Den Begriff des Seienden gewinnen wir, wie schon oben ausgeführt wurde, durch Reflexion auf das richtige Urteilen. Der des Realen dagegen ist abstrahiert aus der Betrachtung gewisser Gegenstände des Urteils, und er muß vor allem klar gemacht werden durch Hinweis auf solche Beispiele und im Gegensatz dazu auch durch Hinweis auf solche Gegenstände, die, obwohl sie in aller Wahrheit anerkannt zu werden verdienen, doch ein Nichtreales sind. Beipiele des Nichtrealen wurden eben schon angedeutet. Solche des Realen dagegen sind Bäume, Qualitäten (resp. Räumliches, Qualitatives); Vorstellen, Urteilen, Lieben, Hassen (resp. ein Vorstellendes, Urteilendes) usf. Nebenbei bemerkt nenne ich das Vorstellen, Urteilen usw. selbst das psychische Reale.« MARTY [1908], 317f. 316-322. S. SMITH [1990b], 113f. 119.
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verstanden wird. Der Urteilsakt selbst gehört als Akzidens der urteilenden Psyche nicht zur nichtrealen Existenz, sondern zur Realität, aber der Inhalt eines Urteilsakts, also das, womit das Urteil in MARTYS Augen übereinstimmen muß, um wahr zu sein, ist der nichtrealen Existenz zuzurechnen.555 Sucht man also zu verstehen, was bei MARTY unter Sein im Sinn der nichtrealen Existenz zu verstehen sei, müsse man sich, wie SMITH betont, den Urteilsakten zuwenden und über diese deren Inhalten.556 Der so verstandenen Existenz unterfällt bei MARTY u.a. das, was bereits bei BRENTANO als Gegenstand der Übereinstimmung wahrer Urteile fungiert, nämlich Gegebenheiten wie etwa Die Existenz der Tischuhr oder Die Nichtexistenz eines Berges aus purem Gold. Beide Gegebenheiten »existieren«, auch wenn sie nicht »real« sind. Anders ausgedrückt: Sie sind »nicht real«, »existieren« aber im Sinn der »nichtrealen Existenz«. Damit verstünden, wie SMITH unterstreicht, sowohl MARTY als auch BRENTANO unter »existenten Objekten« »everything that can serve as the subject of a true affirmative judgement.«557 Wie oben bereits gesagt, gehört MARTYS ens reale immer das Hier und Jetzt, also das im strengen zeitlichen Sinn gegenwärtige Realsein. Dasselbe gilt in MARTYS Augen aber auch für die nichtreale Existenz. Auch die existierenden Irrealia existieren im zeitlichen Sinn hier und jetzt. Was nicht im Hier und Jetzt real ist und existiert, ist sowohl irreal als auch nichtexistent.558 Bei diesen Überlegungen muß im Auge behalten werden, daß es MARTY nicht zuletzt um die Rechtfertigung der logischen Wahrheit als einer Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit geht. Durch die obige Unterscheidung sieht sich MARTY in die Lage versetzt, einerseits die Urteilsinhalte/Sachverhalte als Gegenstand der Übereinstimmung wahrer Urteilsakte als etwas Wirkliches zu verstehen, insofern sie ja »existieren«. Als derart Existierende vermag er sie zudem vom Bewußtsein bzw. dem Urteilsakt als etwas »Realem« zu unterscheiden und so die gesuchte Grundlage für die zu erhellende Korrenspondenz von Denken und Wirk555 556 557 558
S. Fußn. 548. 551. 554. SMITH [1990b], 118. SMITH [1990b], 118. MARTY [1908], 334f. »For Marty, as for Brentano, however, […] everything that exists exists now, in the present moment. Thus according to Marty, the real and the non-real exist in the same time.« SMITH [1990b], 114.
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lichkeit zu schaffen. Gleichzeitig muß er aber nicht von den Urteilsinhalten/Sachverhalten als etwas Seiendem im strengen Sinn der Realität sprechen.559 Damit sucht sich MARTY von STUMPF und BRENTANO und deren immanentistischen Verständnis der Urteilsinhalte/Sachverhalte bzw. der Denkinhalte/-gegenstände abzusetzen. »Wenn der Begriff des Urteilsinhaltes im Unterschied von anderen Begriffen […] eine innere Berechtigung haben soll, so muß er etwas meinen, was von der Existenz eines Urteilenden unabhängig ist, aber selbst die Bedingung bildet für die mögliche Richtigkeit des Urteilens. Mit anderen Worten: die natürliche Fassung des Begriffes des Urteilsinhaltes scheint mir zu sein, er sei das, was die Richtigkeit unseres Urteilens objektiv begründet oder genauer gesagt: dasjenige, ohne welches jenes Verhalten [des Urteilsaktes als richtigem, Anm. d. Verf.] nicht richtig oder adäquat sein könnte.«560
Das Urteil habe, wie MARTY hervorhebt, »um wahr zu sein, sich nach ihm [dem Urteilsinhalt/Sachverhalt] zu richten« und die »›Objektivität‹« des Urteilsinhalts/Sachverhalts, »muß ein vom Bewußtsein unabhängiges Dasein bedeuten.«561 SMITH hebt hervor, daß MARTY mit STUMPF die Auffassung vertreten kann, daß Sachverhalte/Urteilsinhalte keine »Dinge« (»things«) sind wie z.B. diese Person, dieser Baum, dieser Farbton oder dieses Hoffen, Zweifeln und Urteilen im Sinne der entsprechenden seelischen Tätigkeiten und Prozesse.562 MARTY unterstreicht dies zusätzlich, wenn er die Möglichkeit ablehnt, Sachverhalten/Urteilsinhalten irgendwelche räumliche Eigenschaften zuzuweisen. Es gilt »daß die Sachverhalte und Werte nicht ›Wesen‹ sind (denn darunter pflegt man gemeiniglich etwas Reales zu verstehen) und daß sie auch nicht an einem Ort, weder einem sinnlichen, noch übersinnlichen, sind, da ihnen kein räumlicher Charakter zukommt«563
Aber um die Objektivität der Wahrheit herausstellen zu können, wendet sich MARTY gegen STUMPFS Idee von Sachverhalten/Urteilsinhalten als 559 560 561 562 563
S. SMITH [1990b],117. MARTY [1908], 295. S. SMITH [1988], 15. MARTY [1908], 404. S. SMITH [1988], 15. SMITH [1990b], 117. MARTY [1908], 401. Vgl. SMITH [1990b], 117.
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»Gebilden«, die sich ausschließlich innerhalb der Denkprozesse auffinden lassen. Vielmehr sind Sachverhalte, wie MARTY ausdrücklich gegen STUMPFS Gebilde betont, »etwas für sich und unabhängig«. Ausdrücklich hebt er hervor, daß Sachverhalte/Urteilsinhalte auch keine Produktionen von irgendwelchen Denk- und Urteilsvorgängen sind. »Aber sie sind auch nicht unsere ›Gebilde‹. Dieser Name gebührt etwa den Akten des Urteilens und Wertens; aber die Inhalte, falls sie überhaupt sind, sind etwas für sich und unabhängig vom Verbande des lebendigen seelischen Daseins Bestehendes. Nicht freilich, als ob sie etwas durch dieses Leben Erzeugtes und dann wie ›Residuen‹ desselben Fortbestehendes wären; vielmehr sind sie eher als ein sachliches Prius anzusehen für die Möglichkeit gewisser ausgezeichneter Akte desselben, nämlich derjenigen, die auf dem Gebiete des Urteils und des Interesses den Charakter der Richtigkeit haben. Sie existieren also nicht als Abfälle sondern als Bedingungen gewisser psychischer Lebensformen.«564
MARTYS Sachverhalte sind demnach denkunabhänige und wirklich daseiende Entitäten, die den Urteilsakten seinsmäßig vorausgehen müssen, damit ein Urteil überhaupt auf sie treffen kann. Diese »materiale Prioriät« der Sachverhalte/Urteilsinhalte ist die »Bedingung der Möglichkeit« für die Wahrheit von Urteilen. MARTYS Sachverhalte/Urteilsinhalte dürfen also keinesfalls verwechselt werden mit denkimmanenten Gegebenheiten im Sinne STUMPFS noch gar mit irgendwelchen »Produkten« oder Erfindungen der Seele, und schon gar nicht dürfen sie mit dem verwechselt werden, was nicht existiert, wie etwa einem Gebirge aus Gold. MARTY untermauert seine Überzeugung von der denkunabhängigen Existenz der Sachverhalte/Urteilsinhalte als einem ens irreale auf der Grundlage einer weiteren Überlegung, die oben bereits angeklungen ist. In Kausalbeziehung – und d.h. freilich in den entsprechenden denkunabhängigen Relationen – stehen kann für MARTY nur das daseiende ens reale. Sachverhalte als ens irreale hingegen könnten unmöglich »direkt« in 564
MARTY [1908], 401. »Ich sage: sie sind unabhängig von diesen Akten, als objektive Bedingungen ihrer Möglichkeit. […]« MARTY [1908], 401f. Denn »die Lehre von der Unabhängigkeit des Seins gewisser Urteils- und Interesseinhalte von irgendwelchen entsprechenden psychischen Funktionen« scheint »etwas wohl Begründetes, ja unerschütterlich Feststehendes zu sein.« MARTY [1908], 402.
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wirkursächlichen Beziehungen stehen. Dennoch seien auch Sachverhalte bzw. gewisse Sachverhalte dem Werden im Sinne des Entstehens und Vergehens unterworfen, wobei dieses Werden in einer besonderen Beziehung zu dem Werden in der Sphäre des ens reale stehe, das mit den kausalen Vorgängen in diesem Bereich notwendig einhergehe. »Vom Realen gelte, daß ihm ein Wirken und Gewirktwerden und in diesem Sinne ein selbständiges Entstehen und Vergehen zukomme, während das Nichtreale ein bloßes Mitwerden habe, d.h. werde und vergehe, indem das Reale gewirkt wird und vergeht.«565
Bei der Existenz bzw. den existierenden Gegebenheiten »haben wir es mit etwas zu tun, was – wenn es wird – nicht gewirkt wird und wenn es vergeht, nicht direkt infolge des Aufhörens eines Wirkens vergeht.«566
Was MARTY hier vor Augen hat, läßt sich folgendermaßen veranschaulichen. Eine menschliche Person wird ein ens reale, wenn sie gezeugt wird. Die Zeugung geht als Wirkung aus der ursächlichen Handlung der Eltern dieser Person hervor. Der Sachverhalt, daß eine bestimmte Person existiert, oder, um es mit BRENTANO und MARTY zu sagen, die Existenz einer bestimmten Person, der erst mit der Zeugung dieser Person zu bestehen beginnt, wird nicht durch die Eltern gezeugt. Er entsteht zwar mit der Zeugung der Person mit, aber nicht als ein von den Eltern gezeugter und damit nicht als verursachter. Mit SMITH läßt sich hier sagen: »[…] the state of affairs that Jim exists (the existence of Jim) begins to exist with the birth of Jim and ceases to exist when Jim dies […].«567 Dieses Entstehen und Vergehen erfolgt aber nicht als Wirkung jener Ursachen, die Jims Leben und Tod bedingen. Der Sachverhalt ist in seinem Entstehen und Vergehen also abhängig von dem Werden, dem Jim als ens reale unterworfen ist, jedoch nur im Sinn eines indirekten »bloßen Mitwerdens«. Was MARTY »Mitwerden« nennt, erfolge mithin völlig »discrete«, wie SMITH sich treffend ausdrückt. D.h., ein Sachverhalt wie, 565 566 567
MARTY [1908], 320. S. SMITH [1990b], 114. MARTY [1908], 321. S. SMITH [1990b], 114. SMITH [1990b], 115.
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daß Jim existiert, verändere sich nur insofern, als er »begins to exist […] and will cease to exist«.568 Dies geschieht ganz im Unterschied zu Jims kontinuierlich sich wandelnden Lebensvollzügen, wie etwa dem Heranwachsen und Altwerden. Bei MARTY könnten Sachverhalte/Urteilsinhalte auch deshalb keine denkimmanenten Gegebenheiten sein (wie bei STUMPF u.a.), weil ihr »coming and going […] in its relation to the activities of consciousness, an entirely autonomous affair« sei, welche einzig von den denkunabhängigen entia realia und deren Werden (changes) bzw. Kausalbeziehungen abhänge, wie SMITH zu Recht hervorhebt.569 Man wird MARTY das Verdienst zuschreiben dürfen, mit diesen letzten Überlegungen eine geniale Grundlage für REINACHS spätere Einsicht geschaffen zu haben, wonach Sachverhalte unmöglich in Kausalbeziehungen stehen können. Es dürfte auch durchaus berechtigt sein, in MARTYS Rede vom »Mitwerden« von Sachverhalten so etwas wie eine erste Grundlage für die spätere Einsicht in die »Transzendenz« (SEIFERT) von Sachverhalten als auch in die Einsicht, daß »alles Seiende wieder in Sachverhalte eingeht« (SEIFERT), zu sehen. Gewisse Sachverhalte/Urteilsinhalte seien demnach einem Werden im Sinne des »Mitwerdens« unterworfen. Von diesen unterscheidet MARTY aber auch jene Sachverhalte/Urteilsinhalte, die keinerlei Werden unterworfen sein können. Der von SMITH veranschaulichend angeführte Sachverhalt der Nichtexistenz eines runden Vierecks etwa ist ein solches denkunabhängig existierendes ens irreale in MARTYS Sinn. Dieser Sachverhalt kann weder beginnen zu bestehen, noch aufhören zu bestehen. Für MARTY existiert ein solcher Sachverhalt/Urteilsinhalt weder lediglich zu bestimmten Zeiten noch, wie SMITH sich ausdrückt, überzeitlich (timeless), sondern »at all times«.570 568 569 570
SMITH [1990b], 114. SMITH [1990b], 115. SMITH [1990b], 115. »Es gibt – wie unter anderen Leibniz betont hat – vérités de fait und vérités de raison; mit anderen Worten unter dem Seienden ist manches der Art, daß es an und für sich bloß tatsächlich, anderes dagegen so, daß es notwendig anzuerkennen ist, und ebenso ist unter dem Nichtseienden das eine bloß als tatsächlich nichtseiend, das andere dagegen als unmöglich zu verwerfen. Den ersteren Sachverhalten sind also – meine ich – die assertorischen, den letzteren nur die apodiktischen Urteile völlig adäquat. Und so rechne ich Notwendigkeit resp. Unmöglichkeit als konstituierende Momente zum Urteils-
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Da MARTY in den Urteilsakten die Träger der Wahrheit erblickt, kennt er keine überzeitlichen oder ewigen Wahrheiten. Jede logische Wahrheit sei bei MARTY ebenso vergänglich und, so SMITH, »flüchtig«, wie es die Urteilsakte sind.571 Damit kann beispielsweise auch nicht von zwei verschiedenen urteilenden Personen ein und dasselbe wahre Urteil gefällt werden, da ja die Akte notwendigerweise verschiedene sind. Im Anschluß an ROJSZCZAK und SMITH läßt sich ferner als bemerkenswert herausstellen, daß MARTY keinen Unterschied zwischen Sachverhalten und Tatsachen kennt. MARTY versteht »Sachverhalt« und »bestehender Sachverhalt« synonym. Sachverhalte, die dem Sosein nach Sachverhalte sind, die jedoch nicht bestehen oder da sind, kann es in MARTYS Augen nicht geben.572 3.3.6 Der Sachverhalt als Objekiv bei Alexius Meinong Ebenso wie MARTY ist auch Alexius MEINONG ein unmittelbarer Schüler BRENTANOS. In seinem 1902 erschienenen Werk Über Annahmen unterscheidet MEINONG grundsätzlich zwei Arten von Gegenständen, die Objekte und die von ihm so genannten »Objektive«. Die Objektive unterteilt MEINONG in das positive und negative »Seinsobjektiv«, daß A ist und daß A nicht ist, und in das positive und negative »Soseinsobjektiv«,
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inhalt, so oft es sich um apodiktische Urteile handelt.« MARTY [1908], 297. S. MARTY [1908], 328f. »Ich meine, wenn die Dinge wechseln, kann die Wahrheit über sie nicht dieselbe bleiben.« MARTY [1908], 329. »Auch Marty bleibt jedoch insofern im Immanentismus befangen, als er als Korrelat dieser für die Wahrheit unserer Urteile maßgebenden Sachverhalte immer noch ausschließlich psychische Tätigkeiten des Urteilens in Erwägung zieht. Es fehlt bei ihm also jeder Begriff eines propositionalen Sinns oder sonstigen objektiven Moments des Urteils, das in jener Relation zu den Sachverhalten stehen könnte, die man sonst ›Wahrheit‹ nennt. Die Wahrheit ist für Marty grundsätzlich eine flüchtige Relation.« SMITH [1990a], 138. »Man [MEINONG] hat allerdings behauptet, es gebe ein Sosein ohne ein Dasein. Aber das scheint mir offenkundig unmöglich.« MARTY [1908], 324. 352f. »Wieter ist klar, daß es nach Martys Auffassung (im Gegensatz etwa zu der von Bolzano, Twardowski oder Meinong) nur dort Sachverhalte geben kann, wo sie mit wahren Urteilen in Korrespondenz stehen können. Es gibt in Martys Ontologie keine ›nicht-bestehenden Sachverhalte‹.« SMITH [1990a], 137f. S. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 39.
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daß A B ist und daß A nicht B ist.573 In den Objektiven erblickt MARTY die eigentlichen Gegenstände von Urteilen: »Objektive stehen den Urteilen und Annahmen gegenüber wie der eigentliche Gegenstand den Vorstellungen.«574
Nicht nur Objekte als Gegenstände von Vorstellungen können völlig denkunabhängig existieren. Wenn ein Objekiv (Sachverhalt) tatsächlich besteht, dann ist dieser Bestand für MEINONG ebenso bewußtseinsunabhängig gegeben wie die reale Existenz eines Objekts. »Ohne jede Rücksicht auf erfassendes Subjekt und dessen Erlebnisse läßt sich konstatieren, daß jedem Gegenstande eine allgemeine und besondere Natur eigen, und dieser natürlichen Beschaffenheit nach zerfallen die Gegenstände in die beiden großen Gruppen Objekte und Objektive.«575
Dementsprechend bestimmt MEINONG die logische Wahrheit auch als Korrespondenz zwischen Urteil und einem real seienden, d.h. tatsächlich vorliegenden Objektiv. Als Träger der Wahrheit gilt hier zunächst der Urteilsakt. Auf die durch das »auch« und das »zunächst« angedeutete Einschränkung ist weiter unten noch einzugehen. »Wahr«, so MEINONG, »ist ein Urteil, wenn es ein seiendes Objektiv erfaßt.«576 Das Objektiv sei des Urteils(akts) »eigentlicher Gegenstand«.577 Hier wird deutlich, daß »Objektiv« MEINONGS Bezeichnung für Sachverhalte ist. Aber auf dem Hintergrund der Annahme MARTYS, daß überhaupt nur bei bestehenden Sachverhalten von Sachverhalten die Rede sein kann, und auf dem Hintergrund der schon durch den sprachlichen Ausdruck »Sachverhalt« nahegelegten Möglichkeit, alle Sachverhalte bzw. Objektive auf Tatsachen einzuengen, lehnt MEINONG den Ausdruck »Sachverhalt« ab, »da sein natürliches Anwendungsgebiet zu eng ist« und »seine Anwendbarkeit für untatsächliche Objektive ganz und gar zu versagen« scheine.578 Man kann 573 574 575 576 577 578
MEINONG [1902], 163. S. SMITH [1988], 16. MEINONG [1988], 5. MEINONG [1902] 61. S. HABBEL [1959], 23. 43. MEINONG [1988], 17. MEINONG [1902] 46. S. HABBEL [1959], 22. MEINONG [1910], 101. S. SMITH [1988], 16.
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sagen, daß MEINONG MARTYS ausschließliche Verwendung des Ausdrucks »Sachverhalt« für »Tatsachen« für berechtigt hält, da das Wort Sachverhalt als solches auf eine tatsächliches und denkunabhäniges Gegeben-Sein der bezeichneten Sache hinzuweisen scheint. Aber gerade weil der Terminus im Hinblick auf nicht tatsächliche (»untatsächliche«) Objektive, wie MEINONG meint, »versagen muß« insofern er gewissermaßen deren gesondertes In-den-Blick-Nehmen behindert, »rejects« er, so SMITH, »the term ›Sachverhalt‹ since he finds it inappropriate.«579 MEINONGS Begriff Objektiv ist demnach, wie SMITH unterstreicht, »wider than that of Martian judgement-contents [Sachverhalte] in admitting objectives which do not obtain.«580 Anders ausgedrückt: auch Sachverhalte, die keine Tatsachen sind, wie etwa, daß ein Berg aus purem Gold existiert, oder, daß Oslo die Hauptstadt von Finnland ist, seien, wenn ihnen auch kein Dasein bzw. Bestand eignet, dem Sosein nach doch Sachverhalte bzw. Objektive.581 Trotz MEINONGS Argumenten, wird sich sein Ausdruck »Objektiv« gegenüber der Bezeichnung »Sachverhalt« »als Fachausdruck nicht durchsetzen«, wie HABBEL richtig feststellt.582 MEINONG arbeitet ferner heraus, daß es Gegenstände gibt, »[...] die auf andere Gegenstände gleichsam aufgebaut sind, die daher Gegenstände höherer Ordnung heißen müssen im Gegensatze zu den ihnen zugrunde liegenden Gegenständen niederer Ordnung.«583
Für MEINONG gehören insbesondere Objekive zu den von ihm so genannten »Gegenständen höherer Ordnung«, welche sich auf anderen Gegenständen »aufbauen«. Auf den existierenden Gegenstand rote Rose etwa baut sich demgemäß notwendigerweise das bestehende Objektiv auf, daß die Rose rot ist. Einen Gegenstand wie das Objektiv, daß die Rose rot 579 580 581
582 583
SMITH [1988], 29, Fußn. 55. SMITH [1988], 29. »So wenig das Vorstellen darum eines Gegenstandes ermangelt, weil in diesem Fall das Vorgestellte nicht existiert, ebensowenig fehlt dem betreffenden Urteile sein Objektiv deshalb, weil dieses nicht tatsächlich ist […] so wenig eine Vorstellung ohne Objekt, so wenig ein Urteil ohne Objektiv.« MEINONG [1902], 61. Vgl. HABBEL [1959], 23. HABBEL [1959], 22. Vgl. dazu auch sie Anmerkung von REINACH [1989], 117, Fußn. 1. MEINONG [1923], 115.
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Kapitel 3
ist, nennt MEINONG ein »Superius« oder »Superior«, weil es sich der roten Rose gegenüber um einen »höheren« Gegenstand handelt. Einen zugrundeliegenden »niedrigeren« Gegenstand, wie die rote Rose, nennt MEINONG ein »Inferior«.584 MEINONG betont, daß sich nicht nur über einem einfachen Gegenstand wie der roten Rose ein Superior aufbaut. Vielmehr baue sich über diesem Superior ein weiterer Superior auf und dies gehe so weiter ad infinitum. »Superiora geben jederzeit inferiora zu wieder höheren Superioren ab: die so gebildeten Ordnungsreihen bleiben nach oben stets unabgeschlossen. Dagegen müssen sie in der entgegengesetzten Richtung jederzeit auf Infima führen.«585
Über dem Superior und bestehenden Objektiv, daß die Rose rot ist, baut sich das darauf relative Superior und Objektiv auf, daß dieses Objektiv besteht. Und auf diesem höheren bestehenden Objektiv vom bestehenden Objektiv baut sich das wiederum höhere bestehende Objektiv vom bestehenden Objektiv vom bestehenden Objektiv auf u.s.w. ad infinitum. Die Reihe der Objektive »bleibt nach oben stets unabgeschlossen«, d.h. diese Reihe ist bei MEINONG nach oben hin unendlich. Daher nennt MEINONG den Inhalt des letzten Zitats auch das »Gesetz der obligatorischen Infima«.586 Für MEINONG besteht zwischen Objekten und Objektiven hinsichtlich der Möglichkeit, völlig denkunabhängig da zu sein, kein Unterschied. Aber hinsichtlich ihrer Seinsweise unterscheiden sie sich wesentlich voneinander. Als Seinsweise der denkunabhängig daseienden Objekte gilt ihm die Existenz. Denkunabhängig gegebene Objektive hingegen würden nicht existieren, sondern »bestehen« und ihre Seinsweise sei deshalb der von der Existenz zu unterscheidende »Bestand«.587 Eines der entscheidenden Unterscheidungsmerkmale zwischen der Seinsweise der Existenz und der Seinsweise des Bestands sieht MEINONG darin, daß Existenz nicht schon als solche ewig oder zeitlos sein kann. Bestände hingegen seien »an keine 584 585 586 587
MEINONG [1923], 115. MEINONG [1923], 115. S. SMITH [1988], 29. MEINONG [1923], 118. MEINONG [1902], 61. S. Fußn. 859. Vgl. HABBEL [1959], 43.
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Zeitbestimmung gebunden« und »in diesem Sinn ewig, oder besser zeitlos«.588 Bestehende Objektive bestünden dementsprechend »in alle Zukunft und Vergangenheit.«589 Jedes bestehende Objektiv sei »nicht weniger zeitlos, als daß etwa der rechte Winkel größer ist als der spitze.«590 Diese Auffassung MEINONGS muß durchaus überraschen. Bereits die Gründe für seine Ablehnung der Bezeichnung »Sachverhalt« lassen durchaus erwarten, daß MEINONG auch zwischen zeitlich begrenzt bestehenden Objektiven und zeitlos bestehenden Objektiven unterscheiden würde.591 Immerhin kommt MEINONG das Verdienst zu, inhaltlich auf einen bedeutsamen Unterschied in der Seinsweise hinzuweisen, und diesen Unterschied auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen. Oben ist bereits angeklungen, daß MEINONG die Wahrheit im logischen Sinn lediglich unter anderem als eine Eigenschaft von Urteilsakten betrachtet und in Objektiven lediglich unter anderem die Wahrmacher dieser Urteile sieht. Vielmehr ist es so, daß MEINONG auch immer wieder faktische Objektive selbst für im logischen Sinn wahr hält, womit, wie HABBEL sich ausdrückt, MEINONGS »Sachverhaltsbegriff etwas eigentümlich Schwankendes an sich« hat.592 Einerseits sollen Objektive Wahrmacher sein und andererseits sollen sie dasjenige, was irgendwie wahr gemacht wird bzw. die Träger der Wahrheit sein.593 So fragt MEINONG: »Was hat aber das unter diesen Umständen eventuell angewendete Epitheton ›Wahrheit‹ zu bedeuten? Man bleibt mit dem gesunden Menschenverstand nicht minder als mit altehrwürdiger Tradition in bestem Einklang, wenn man antwortet: was einer behauptet, ist wahr, wenn es mit dem übereinstimmt, was ist, oder, wie nach früherem deutlicher gesagt sein wird, mit dem, was tatsächlich ist. Im wesentlichen wird hier also das irgendwie als pseudoexistierend vorausgesetzte Objektiv mit
588 589 590 591 592 593
MEINONG [1902], 61. S. Fußn. 859. Vgl. HABBEL [1959], 43. MEINONG [1902], 61. S. Fußn. 859. Vgl. HABBEL [1959], 43. MEINONG [1902], 61. S. Fußn. 859. Vgl. HABBEL [1959], 43. Darauf wird im Abschnitt. 4.6 noch näher einzugehen sein. HABBEL [1959], 42. MEINONGS Objektiven eigne, wie SÜßBAUER sich treffend ausdrückt, eine »Doppelstellung« als »Zwitterwesen«. SÜßBAUER [1987], 15.
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Kapitel 3 dem sozusagen reinen Objektiv auf seine Tatsächlichkeit hin konfrontiert.«594
Der erste Teil des Zitats kann noch als klassisch bezeichnet werden. Entscheidend aber für das von MEINONG Gemeinte ist der zweite Teil. Hier führt MEINONG aus, daß Wahrheit im wesentlichen dann vorliegt, wenn ein irgendwie als existierend angenommenes Objektiv an sich auch ein faktisch bestehendes »reines Objektiv« sei. MEINONG meint damit, daß ein faktisch bestehendes reines Objektiv selbst zum Träger der Wahrheit im logischen Sinn wird, wenn es auch der Zielgegenstand einer entsprechenden Bestandsbehauptung ist. »Es ergibt sich daraus, dass Wahrheit unter sonst günstigen Umständen Objektiven zunächst nur dann zugeschrieben werden kann, wenn man sie als durch ein geeignetes Erlebnis erfasst in Betracht zieht. Was jemand behauptet oder bestreitet, glaubt oder ›nicht glaubt‹, vermutet oder auch nur annimmt, wird eventuell in ungezwungenster Weise als wahr zu bezeichnen sein. Insofern ist Wahrheit die Eigenschaft von Erfassungsobjektiven, die, sofern das erfassende Erlebnis existiert, auch als pseudoexistent bezeichnet werden dürfen; als erfassende Erlebnisse kommen natürlich in erster Linie die Urteile und nur nebenbei, gewissermassen in mehr äusserlicher Weise, die Annahmen in Betracht. Zusammenfassend ist also zu sagen: wahr im, wie mir scheint, natürlichsten Wortsinne heissen Objektive, sofern sie Erfassungsobjektive sind, denen zugleich Tatsächlichkeit zukommt.«595
Wahrheit ist demnach eine Bestimmung von Objektiven, und zwar dann, wenn sie bestehen und als bestehende angenommen werden. Wahr im »natürlichsten Wortsinne« ist nicht die Annahme oder das Urteil, sondern das faktische Objektiv, wenn es als faktisch angenommen wird. WOLENKI bemerkt treffend:
594 595
MEINONG [1902], 94. MEINONG [1972] 40.
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»Ontologically speaking truth is a modal property of objectivs, namely its factuality, provided that the Objective in question is assumed in the act of judging.«596
Man wird sehen müssen, daß MEINONGS Auffassungen im Kontext von Auseinandersetzungen etwa auch mit MARTY entstehen. Für MARTY ist die Wahrheit eine flüchtige Relation, die nur dann vorliegt, wenn auch eine menschliche Seele gerade urteilend tätig ist. Ewige oder zeitlose Wahrheiten kann es daher nicht wirklich geben. MEINONG lehnt diese Auffassung ab, da er die Gegebenheit zeitloser Wahrheiten bejaht. Aber beide, MARTY und MEINONG, sehen in Urteilsakten die Träger der Wahrheit. Da MEINONG die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit von Urteilsakten nicht entgeht, muß er, um die zeitlosen Wahrheiten zu retten, einen Träger suchen, der zeitlos ist, und diesen meint MEINONG im bestehenden Objektiv gefunden zu haben. Offensichtlich fehlt auch bei MEINONG die Unterscheidung zwischen den drei völlig verschiedenen 596
WOLENSKI [o.J.], § 4. WOLENSKI sieht auch deutlich, daß MEINONG die Wahrheit als adaequatio letztlich zurückweisen muß, da bei ihm von einer Übereinstimmung zwischen zwei verschiedenen Gegebenheiten nicht wirklich die Rede sein kann. »For Meinong, the traditional correspondence theory sees the nature of truth in a correspondence between something which has or is a mental content and something which is extramental. This view is rejected by Meinong; we have here the next attack on the formula veritas est adequatio [sic] rei et intellectus in the Brentano school. […] He develops a view of truth as consisting in equality (coincidence) of intended (pseudo-existent) objective and factual objective. If an objective is true, both coincide, that is, they are equal. Now, an objective is false, if it is pseudo-existent and non-factual. One can claim that since an intended (pseudo-existent) objective is something mental or pseudomental, truth is a relation of something mental (or pseudo-mental) to a factual objective which is extramental, and that this satisfies Aristotle’s intuitions, but it is not certain whether Meinong would agree with such reading of his view.« WOLENSKI [o.J], § 4. »The ambiguous function of Meinong’s objectives as at once truth-bearers and truth-makers is displayed on the one hand by his claim that they can be true or false and on the other by his definition of truth, according to which a judgement is true iff [sic] the corresponding objective subsists (besteht), which is the only mode of being for an objective. Meinong therefore identifies a subsisting objective with a factual objective or fact, and he also calls such a ›true objectiv‹. Being factual and being true differ only in that true involves reference to a judgement whereas ›factual‹ does not.« MORSCHER [1987], 33.
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Kapitel 3
Gegebenheiten Urteilsakt, Urteilsinhalt und Sachverhalt, so daß dem Sachverhalt eignen muß, was dem Akt nicht zukommen kann. MEINONGS Rede vom »Erfassungsobjektiv« weist zwar implizit irgendwie in die Richtung von Urteilsinhalten als Gegebenheit sui generis, aber diese Gegebenheit wird als solche nicht gesehen. SMITH hat völlig Recht, wenn er sagt, daß die »Unterscheidung zwischen Satz und Proposition im Sinn der Logik und Sachverhalt im Sinn der Ontologie« bei MARTY und MEINONG »nicht ganz klar« ist.597 Daher weist bereits REINACH zu Recht darauf hin, daß »sein [MEINONGS] Objektivbegriff die durchaus verschiedenen Begriffe von Satz […] und Sachverhalt ungeschieden enthält.«598 3.3.7 Der Sachverhalt bei Edmund Husserl HUSSERL endeckt Sachverhalte als eine, wie SMITH sich ausdrückt, »universale Kategorie« von Gegenständen sui generis.599 Sachverhalte sind insbesondere die spezifischen Gegenstände und objektiven Korrelate von Urteilen. »Im Urteil erscheint uns, oder sagen wir deutlicher, ist uns intentional gegenständlich ein Sachverhalt. […] Das Objektive des urteilenden
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599
SMITH [1988], 16. 29. REINACH [1989], 114, Fußn. 1. »Der fundamentalste Einwand, den man gegen Meinong erheben muß, scheint mir der zu sein, daß sein Objektivbegriff die durchaus verschiedenen Begriffe von Satz (im logischen Sinne) und Sachverhalt ungeschieden enthält. Es genügt nicht, wie Meinong es tut, den Satz als ein ›erfaßtes, womöglich sogar ausgesprochenes, mindestens sozusagen in Worten formuliert vorliegendes Objektiv‹ zu bezeichnen.« REINACH [1989], 114, Fußn. 1. »In seinen Schriften betrachtet Meinong Objektive einerseits als Objektive (Ziele) von geistigen Aktivitäten wie Urteilen oder Annahmen, andererseits aber auch als Bedeutungen der betreffenden Ausdrücke. Manchmal behandelt er das Objektiv der Phrase, daß Joseph der Mann von Maria ist, als Entität, die Stumpfs Sachverhalten gleicht, d.h., die Phrase steht für den spezifischen Inhalt eines Urteils. In anderen Fällen behandelt er das Objektiv, daß Joseph der Mann von Maria ist, jedoch als Gegenstand höherer Ordnung. In vielen Kontexten bleibt unklar, welche Deutung Meinong vorschwebt, und höchstwahrscheinlich war ihm der Unterschied zwischen den beiden Deutungen nicht wirklich klar. Für ihn gehören Bedeutungen und Gegenstände (›jenseits von Sein und Nichtsein‹) ein und derselben Kategorie an.« ROJSZCZAK/SMITH [2001], 37. SMITH [1988], 17.
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Vermeinens nennen wir den beurteilten Sachverhalt; wir unterscheiden ihn in der reflektierenden Erkenntnis vom Urteilen selbst, als dem Akte, in dem uns dies oder jenes so oder anders zu sein scheint.«600
HUSSERLS Endeckung der Gegenstandskategorie Sachverhalt führt ihn, wie SMITH zeigt, unter anderem zu der Konzeption und Forderung einer universalen formalen Ontologie, welche zuweilen auch als »formale Gegenstandstheorie« bezeichnet wird. Diese formale Ontologie soll das Korrelat oder »Gegenstück« (SMITH) der formalen Logik sein.601 SMITH hebt ferner HUSSERLS Einsicht hervor, daß Sachverhalte nicht nur als Korrelate von Urteilen fungieren können. Vielmehr können sie auch Gegenstände von Begriffsakten sein. »Vollziehen wir ein Urteil […], so scheint uns irgend etwas zu sein oder nicht zu sein, z.B. S ist P. Aber dasselbe Sein, das uns hierbei vorstellig ist, wird uns offenbar in ganz anderer Weise vorstellig, wenn wir sagen: das P-sein des S. Ebenso kommt uns der Sachverhalt S ist p in ganz anderer Weise in einem Urteil zum Bewußtsein, in dem wir schlechthin aussagen S ist p und im Subjektsakte eines anderen Urteils, wie wenn wir sagen die Tatsache, daß S P ist, oder einfach daß S P ist – hat zur Folge […] ist erfreulich, ist zweifelhaft […]. In all diesen Fällen ist uns der Sachverhalt […] in einem anderen Sinne gegenständlich «602
als es beim Urteil der Fall ist,
600 601
602
Hua. 19/1, 5, §28. Vgl. SMITH [1988], 17. SMITH [1988], 17. Was unter »formaler Ontologie« im Sinne HUSSERLS zu verstehen ist, beschreibt SMITH in treffender Weise wie folgt: »We owe the idea of a formal ontology to the philosopher Edmund Husserl, whose Logical Investigations (1900/01) draws a distinction between formal logic on the one hand and formal ontology on the other. Formal logic deals with the interconnections of truth (or of propositional meanings in general) – with inference relations, with consistency and validity. Formal ontology deals with the interconnections of things, with objects and properties, parts and wholes, relations and collectives. As formal logic deals with inference relations which are formal in the sense that they apply to inferences in virtue of their form alone, so formal ontology deals with structures and relations which are formal in the sense that they are exemplified, in principle, by all matters, or in other words by objects in all material spheres or domains of reality.« SMITH [1998], 20. Hua. 19/1, 5, § 33. S. SMITH [1988], 17.
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Kapitel 3 »und er ist offenbar gegenständlich in einem ähnlichen Sinn wie das Ding […] – obschon ein Sachverhalt kein Ding ist.«603
Was HUSSERL hier sagen möchte, wird an Ausdrücken wie »daß S P ist, hat zur Folge« oder »daß S P ist, ist zweifelhaft« ungleich deutlicher als an dem eher mißverständlichen Ausdruck »das P-sein des S«. Denn in Urteilen wie »daß S P ist, ist zweifelhaft« wird, wie HUSSERL zu Recht hervorhebt, einsichtig, daß der gemeinte Sachverhalt S ist P nicht der eigentliche Gegenstand des Urteils ist, sondern vielmehr als Gegenstand des Subjektbegriffs des Urteils gemeint ist. Aber dies offenbart evidentermaßen, daß Sachverhalte auch Korrelate eines rein begrifflichen Aktes sein können. HUSSERL arbeitet auch noch in einen anderen Sinn heraus, daß Sachverhalte nicht allein als Gegenstände von Urteilsakten auftreten. Er zeigt, daß ein und derselbe Sachverhalt auch das gegenständliche Korrelat von Akten des Wünschens und Fragens sein kann. »Wieder ist, um eine andere wichtige Klasse von Fällen zu illustrieren, in dem Satze das Messer liegt auf dem Tische das Messer zwar der Gegenstand ›über‹ den geurteilt wird oder ›von‹ dem ausgesagt wird; aber gleichwohl ist es nicht der primäre Gegenstand nämlich nicht der volle des Urteils, sondern nur derjenige des Urteilssubjekts. Dem ganzen Urteil entspricht als voller und ganzer Gegenstand der geurteilte Sachverhalt, der als identisch derselbe in einer bloßen Vorstellung vorgestellt, in einem Wunsch gewünscht, in einer Frage gefragt, in einem Zweifel bezweifelt sein kann usw.«604
HUSSERL zeigt aber nicht nur, daß Sachverhalte die objektiven Korrelate von Akten des Wünschens und Zweifelns sein können. Er zeigt darüber hinaus, daß sich bestimmt Akte, wie etwa die des Wünschens, notwendigerweise auf einen Sachverhalt beziehen müssen. Mit dem Wunsch »das Messer sollte auf dem Tisch liegen […] wünsche ich nicht das Messer, sondern dies, daß das Messer auf dem Tisch liege, daß sich die Sache so verhalte. Und dieser Sachverhalt ist offenbar nicht zu verwechseln mit dem bezüglichen Urteil oder gar mit der Vorstellung des Urteils – ich wünsche ja nicht das Urteil oder irgendeine Vorstellung. 603 604
Hua. 19/1, 5, § 33. S. SMITH [1988], 17f. Hua. 19/1, 5, § 17. S. SMITH [1988], 18.
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Ebenso geht die entsprechende Frage das Messer an, aber erfragt ist nicht das Messer (was ja gar keinen Sinn gibt), sondern das auf dem Tische liegen des Messers, es ist gefragt, ob es so sei.«605
HUSSERL unterscheidet immer wieder zwischen Urteilsakten, Urteilsinhalten und Sachverhalten. In Sachverhalten erblickt er die objektiven Wahrmacher der Urteilsinhalte, und nur die Urteilsinhalte sind in seinen Augen die eigentlichen Wahrheitsträger. Aber trotz dieser Unterscheidungen findet sich in HUSSERLS Prolegomena auch eine Aussage wie diese: »Wissenschaftliche Erkenntnis ist als solche Erkenntnis aus dem Grunde. Den Grund von etwas erkennen, heißt die Notwendigkeit davon, daß es sich so und so verhält, einsehen. Die Notwendigkeit als objektives Prädikat einer Wahrheit (die dann notwendige Wahrheit heißt) bedeutet soviel wie gesetzliche Gültigkeit des bezüglichen Sachverhalts. Also einen Sachverhalt als gesetzmäßigen oder seine Wahrheit als notwendig geltende einsehen, und Erkenntnis vom Grunde des Sachverhaltes bzw. seiner Wahrheit haben, das sind äquivalente Ausdrücke.«606
Hier bezieht HUSSERL das Prädikat Wahrheit offensichtlich nicht auf Urteile, sondern auf Sachverhalte. Wenn ein Sachverhalt notwendig ist, dann gelte »seine Wahrheit als notwendig«. Gerade im Hinblick auf die sonst dominierenden Unterscheidungen HUSSERLS, müßte HUSSERL eigentlich davon sprechen, daß gewisse Urteile notwendig wahr sind, und zwar jene Urteile, die einen notwendig bestehenden Sachverhalt thematisieren. Dieser ist nicht der Träger der notwendigen Wahrheit, sondern er macht, daß dem Urteil, das ihn thematisiert, notwendig Wahrheit eignet, da es »wahr sein muß und unmöglich falsch sein kann« (WENISCH). Sachver-
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Hua. 19/1, 5, § 17. S. SMITH [1988], 18. Hua. 18, § 63. »Sometimes, Husserl nevertheless also ascribes to his states of affairs the property of being true or false, which means that he sometimes takes them to be not only truth-makers but also truth-bearers, a confusion of two functions which his pupil Reinach criticized strongly.« MORSCHER [1987], 32. Zu REINACHS Kritik an HUSSERL s. REINACH [1989], 116, Fußn. 1. SMITH macht darauf aufmerksam, daß sich in REINACHS Nachlaß die Aussage findet: »Alle Österreicher verwechseln Satz und Sachverhalt beständig.« SMITH [1990a], 138, Fußn. 43.
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Kapitel 3
halte sind, wie HUSSERL sonst klar unterscheidet, nicht die Wahrheitsträger, sondern die selber weder wahren noch falschen Wahrmacher. 3.3.8 Der Sachverhalt bei Johannes Daubert und Adolf Reinach Im Juli des Jahres 1902 hält Johannes DAUBERT vor Schülern des Münchner Philosophen und Psychologen Theodor LIPPS einen Vortrag unter dem Titel Zur Psychologie der Apperzeption und des Urteils. Mit diesem Vortrag möchte DAUBERT den Schülern LIPPS’ HUSSERLS Logische Untersuchungen vorstellen.607 Dieser Vortrag markiert den Beginn der so genannten »phänomenologischen Bewegung«.608 In diesem Vortrag spricht DAUBERT auch über Sachverhalte als einer Realität, die vom Urteilsakt und vom Urteilsinhalt unterschieden werden muß.609 SMITH hebt hervor, daß sich DAUBERTS Bemühen um den Sachverhaltsbegriff ab 1902 in weiteren Manuskripten niederschlägt.610 Obwohl DAUBERT Urteilsakte, Urteilsinhalte und Sachverhalte voneinander unterscheidet, sei er, wie SCHUHMANN und SMITH hervorheben, weder der Auffassung, daß Sachverhalte einen gesonderten Wirklichkeitsbereich darstellen noch meine er, daß Sachverhalte die dingliche Sphäre irgendwie transzendieren.611 Für DAUBERT ent-
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609
610 611
S. SMITH [1988], 18. DAUBERT ist selber ein Schüler LIPPS. Er erkennt sehr früh die herausragende Bedeutung von HUSSERLS Werk und setzt sich immer wieder für dessen Verbreitung ein, insbesondere unter seinen Münchner Mitschülern. Dieses Engagement macht ihn, wie SMITH sich ausdrückt, zur éminence grise der Münchener Phänomenologie. SMITH [1989], 69, Fußn. 43. »[…] it can be said without exaggeration that, by introducing Husserls’s work in Munich and propagating it for more than a decade among his fellow students, Daubert in fact became one of the founders of the phenomenological movement.« SCHUHMANN/SMITH [1987], 357. »Mein Urteil ›dieser Tisch ist viereckig‹ kann wahr oder falsch sein. Der reale Sachverhalt ist niemals wahr oder falsch. Er ist schlechthin, was er ist. Das Urteil ferner kann beliebig oft in den verschiedensten Zusammenhängen mit anderen Urteilen auftreten. Der Sachverhalt ist nur einmal da, und er bleibt immer in seinem bestimmten realen räumlich-zeitlichen Zusammenhange.« Zit. nach SMITH [1988], 18. SMITH [1988], 18f. »[…] judgings and questionings are correlated – in different ways – with sui generis objectual formations called Sachverhalte or states of affairs. Such states
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stünden, so SCHUHMANN und SMITH weiter, Sachverhalte als Resultat jenes besonderen In-die-Acht-nehmens eines Dinges und seiner Eigenschaften wie sie etwa in Urteilen vorliege. Durch diese besondere Art des bewußten Gerichtetseins werde eine bestimmte Realität gleichsam in ein »quasigrammatical« Gewand gekleidet und der Sachverhalt so konstituiert.612 SMITH charakterisiert DAUBERTS diesbezügliche Position, wenn er schreibt: »Der Sachverhalt entsteht dadurch, daß durch pointierte Beachtung bestimmte Eigenschaften eines Dings herausgehoben werden. Er kann so als eine Entfaltung von Merkmalen aufgefaßt werden, die im Ding liegen. […] Sachverhalte bilden also keine ontologische Kategorie autonomer Entitäten neben der Kategorie der Dinge (oder Gegenstände), denn Sachverhalte sind doppelseitig abhängig von Dingen und von Urteilsintentionen: sie sind Ergebnis der Aneignung und Verarbeitung der Wirklichkeit […].«613
Aber Sachverhalte spielen bei DAUBERT nicht nur im Zusammenhang mit der Urteilstheorie eine Rolle. Überdies ist DAUBERT ein eigenständiger Denker, der trotz seines, wie SCHUHMANN und SMITH sich ausdrücken, »enthusiastic support« für die Logischen Untersuchungen HUSSERLS Lehren kritisiere »whenever he found the latters views to be inadequate«.614 Wie oben bereits ausgeführt, sieht HUSSERL in Sachverhalten nicht nur den spezifischen Gegenstand von Urteilen, sondern auch das objektive Korrelat von Wünschen, Fragen und Akten des Zweifels. Allerdings vertritt HUSSERL die Auffassung, daß sich hinter dem grammatikalischen Phäno-
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of affairs do not belong to a special realm, separate from or transcendent to the realm of things. « SCHUHMANN/SMITH [1987], 366. »It is as if the act of perception focusses on a certain slice or segment of the material world. Through its constituent meaning-acts the judging act then imposes a certain quasi-grammatical form upon this segment.« SCHUHMANN/SMITH [1987], 367. SMITH [1988], 19. »Ein Sachverhalt ist wahrmachender Ausschnitt der Wirklichkeit, der durch einen Urteilsakt ›offenbar‹ gemacht wird. Ein Daubertscher Sachverhalt ist deshalb für seine Abgrenzung bewußtseinsabhängig; dennoch ist er ein objektiver Teil der Natur im dem Sinne, daß das, was abgegrenzt wird – was wir den Stoff des Sachverhalts nennen können – unabhängig vom Akt existiert, der seine Abgrenzung bewirkt.« ROJSCZCAK/SMITH [2001], 51. SCHUHMANN/SMITH [1987], 357.
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men des Fragesatzes eigentlich ein Urteilsinhalt verbirgt, so daß die Frageinhalte in HUSSERLS Augen auf Urteilsinhalte zu reduzieren sind.615 Dies bedeutet freilich auch, daß der in einer Frage in Frage stehende Sachverhalt als deren objektives Korrelat auf das objektive Korrelat eines Urteilsinhalts zu reduzieren ist.616 DAUBERT hält diese Reduktion für irrig. Wie SMITH zeigt, unterscheidet DAUBERT im Zuge seiner Kritik an HUSSERL als erster zwischen Sachverhalten je nachdem, ob sie Objekte von Erkenntnis-, Frage-, Wunsch-, Befehls-, oder Vermutungsakten sind.617 Überhaupt zähle insbesondere DAUBERTS Theorie der Fraugeakte, Frageinhalte und Fragegegenstände, so SCHUHMANN und SMITH, zu den »most detailed and successful accounts of phenomena of the given sort.«618 Man wird ohne Übertreibung sagen können, daß die philosophische Untersuchung der Sachverhalte in den Werken Adolf REINACHS einen Höhepunkt erreicht. Als ein Schüler von Theodor LIPPS in München erkennt auch er, nicht zuletzt durch DAUBERTS Einfluß, die Bedeutung der Logischen Untersuchungen und der damit verbundenen philosophischen Probleme.619 Im Hinblick auf die Sachverhaltsproblematik nimmt insbesondere REINACHS 1911 veröffentlichte Schrift Zur Theorie des negativen Urteils eine herausragende Stellung ein.620 REINACH arbeitet den Sachverhalt als eine Gegebenheit sui generis heraus, indem er ihn von Daten unterscheidet, mit denen Sachverhalte gerne verwechselt werden. So zeigt REINACH, daß Sachverhalte etwas ganz Anderes sind als die Sachen, auf die sie sich beziehen.621 REINACH zeigt auch, daß Sachverhalte sich zwar auf alle möglichen Relationen beziehen, aber unmöglich selber Relationen sein können, was REINACH insbesondere an negativen Sachverhalten verdeutlicht. Auf diese Weise widerlegt REINACH auch die Auffassung,
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SMITH [1988], 20. S. zur Auseinandersetzung DAUBERTS mit der HUSSERLSCHEN Position SCHUHMANN/SMITH [1987], 363f. S. SMITH [1988], 20. S. SMITH [1988], 20. SCHUHMANN/SMITH [1987], 354. S. SMITH [1988], 19. REINACH [1989], 95-140. REINACH [1989], 113. 114.
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welche in Relationen die eigentlichen Gegenstände von Behauptungen erblickt.622 REINACH sieht nicht nur, daß der Ausdruck »Urteil« insofern vieldeutig ist, als mit ihm völlig verschiedene Gegebenheiten wie Aussagesätze und Propositionen etc. bezeichnet werden. Der Ausdruck »Urteil« sei auch insofern vieldeutig, als mit ihm verschiedene Gegebenheiten wie Akte des Behauptens und Akte des Überzeugtseins gemeint sein können. Die Verwischung dieses Unterschiedes komme zum Ausdruck, wenn etwa BRENTANO (aber auch RUSSELL und CHISHOLM) die Ausdrücke »Glaube« und »Urteil« bzw. belief und judgement synonym gebrauchen. REINACH zeigt, daß das Urteil im Sinn des Behauptens und das Urteil im Sinne des Überzeugtseins gemeinsam haben, beide notwendigerweise auf Sachverhalte bzw. auf denselben Sachverhalt bezogen zu sein. Aber REINACH weiß auch das Behaupten als episodischen und zeitlich »punktuellen« Akt streng von den zuständlichen sich über weitere Zeiträume erstreckenden »andauernden« Akten des Überzeugtseins zu unterscheiden.623 Behauptung und Überzeugung verhielten sich nun so zueinander, daß jede authentische Behauptung durch eine entsprechende auf denselben Sachverhalt bezogene Überzeugung fundiert sein müsse.624 Der Sachverhalt sei somit das, was vom »Urteil« im Sinn des Glaubens oder Überzeugtseins geglaubt und durch das »Urteil« im Sinne des Behauptens behauptet wird. REINACH zeigt ferner, daß es Sachverhalte sind, die im Ursprungsverhältnis von Grund und Folge stehen. Da Sachverhalte streng von Dingen und ihren Attributen verschieden sind, können sie auch niemals in Ursache-Wirkungs-Verhältnissen stehen.625 Daraus, daß Sachverhalte in Grund-Folge-Verhältnissen stehen, meint REINACH folgern zu müssen, daß die logischen Schlußgesetze »nichts anderes als allgemeine gesetzmäßige Beziehungen von Sachverhalten« sein können.626 Die logischen Urteilsgesetze fänden ihre Begründung in den Sachverhaltsgesetzen derart, daß
622 623 624 625 626
REINACH [1989], 110. 112. 120. 122. REINACH [1989], 99f. 120. S. SMITH [1988], 19. REINACH [1989], 100. 125. S. SMITH [1988], 19. REINACH [1989], 114f. S. SMITH [1988], 19. REINACH [1989], 115.
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»große Teile der traditionellen Logik sich ihrem Fundament nach als allgemeine Sachverhalts-Lehre herausstellen werden.«627 In der ontologischen Sphäre seien Sachverhalte ferner diejenigen Gegebenheiten, die ausschließlich in den ontologischen Modalitäten der Notwendigkeit, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit stehen können. Das, was im Bereich der bewußtseinsunabhängigen Wirklichkeit im strengen Sinn des Wortes möglich, wahrscheinlich und notwendig sein kann, seien Sachverhalte, und nur Sachverhalte.628 Schließlich arbeitet REINACH heraus, daß sich das ontologische Widerspruchsprinzip auf das Verhältnis kontradiktorisch entgegengesetzter positiver und negativer Sachverhalte bezieht bzw. sich auf das Verhältnis zwischen dem Bestand oder Nichtbestand dieser Sachverhalte bezieht.629 Wie SMITH herausstellt, ist REINACH auch der erste Denker, der sich eingehend dem Problem negativer Sachverhalte widmet.630 REINACH arbeitet sorgfältig heraus, daß wahre negative Urteile durch nichts anderes als den objektiven und bewußtseinsunabhängigen Bestand eines entsprechenden negativen Sachverhaltes wahr gemacht werden. Daß negative Sachverhalte hinsichtlich ihres bewußtseinsunabhängigen Bestandes dem Bestand der positiven Sachverhalte gleichgestellt sind, weist REINACH auch an der notwendigen und völlig bewußtseinsunabhängigen Gültigkeit und dem Sinn des ontologischen Kontradiktionsprinzips aus. Wenn ein positiver Sachverhalt nicht besteht, dann muß sein negativer kontradikorischer Part bestehen. Und wenn der negative Sachverhalt nicht besteht, muß der entsprechende positive Part bestehen.631 3.3.9 Der Sachverhalt bei Bertrand Russell Es ist Georg Frederick STOUT, der, wie ROJSZCZAK und SMITH hervorheben, Bertrand RUSSELL eine Besprechung von MEINONGS Urteilstheorie vorschlägt und so dessen Interesse für die Urteilstheorie und die Sachverhalts- bzw. Objektivproblematik weckt. Im Jahr 1904 veröffentlicht 627 628 629 630 631
REINACH [1989], 138, Fußn. 1. S. SMITH [1988], 19. REINACH [1989], 115f. S. SMITH [1988], 19f. REINACH [1989], 116f. S. SMITH [1988], 19. SMITH [1978], 39. REINACH [1989], 130f. 137f.
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RUSSELL unter dem Titel Meinong’s Theorie of complexes and assumptions seine erste kritische Arbeit über die entsprechenden Theorien bei MEINONG. In seinem Werk On Denoting aus dem Jahr 1905 sucht sich RUSSELL dann überhaupt mit MEINONGS Theorie der nicht-existierenden Gegenstände kritisch auseinanderzusetzen. Auf dem Hintergrund der in RUSSELLS Augen »allzu großzügigen Ontologie« (ROJSZCZAK/SMITH) MEINONGS veröffentlicht RUSSELL 1912 das über Fachkreise hinaus berühmte Buch Die Probleme der Philosophie.632 Im 12. Kapitel dieses Werkes unter dem Titel Truth and Falsehood entwickelt RUSSELL eine Urteils- bzw. Wahrheitstheorie. Im Zuge dieser Theorie weist RUSSELL die Kohärenztheorie der Wahrheit zurück, um das Wesen der Wahrheit in einer Korrespondenz zwischen belief oder judgement einerseits und fact andererseits zu suchen. Zu bemerken ist hier, daß RUSSELL belief und judgement ebenso synonym versteht wie BRENTANO Glaube und Urteil.633 Die Wahrheit als Korrespondenz zwischen belief und fact erfordere, wie RUSSELL betont, Klarheit über das, was unter facts zu verstehen ist. »Hence we are driven back to correspondence with fact as constituting the nature of truth. It remains to define precisely what we mean by ›fact‹, and what is the nature of the correspondence which must subsist between belief and fact, in order that belief may be true.«634
In folgendem Zitat formuliert RUSSELL die für ihn entscheidenden Charakteristika der facts. »If we take such a belief as ›Othello believes that Desdemona loves Cassio‹ we will call Desdemona and Cassio the object-terms, and loving the object-relations. If there is a complex unity ›Desdemona’s love for Cassio‹, consisting of the object-terms related by the object-relation in the same order as they have in the belief, then this complex unity is called the fact corresponding to the belief. Thus a belief is true when there is a corresponding fact, and false when there is no corresponding fact. […]
632 633 634
ROJSZCZAK/SMITH [2001], 42f. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 35. RUSSELL [1999], 89.
240
Kapitel 3 What makes a belief true is a fact, and this fact does not […] in any way involve the mind of the person who has the belief.«635
Zunächst ist zu bemerken, daß das RUSSELLSCHE fact nicht einfach mit Objektiven bzw. Sachverhalten als solchen gleichzusetzen ist. Von einem fact kann nur im Fall von bestehenden Objektiven gesprochen werden. Facts sind demnach Tatsachen im strengeren Sinn des Wortes. Daher betont RUSSELL, daß ein Glaube/Urteil nur dann wahr sein kann, wenn es mit einem fact oder bestehenden Sachverhalt korrespondiert. Wenn RUSSELL unterstreicht, daß die fragliche Tatsache »does not […] in any way involve the mind of the person who has the belief«, dann kommt darin zum Ausdruck, daß er facts, Tatsachen oder bestehende Sachverhalte für völlig mindunabhänig und d.h. bewußtseinsunabhängig vorhandene Gegebenheiten hält, auf welche ein wahres Urteil »immer schon« trifft. Ferner hält er facts für komplexe Einheiten, die sich aus mehreren Elementen aufbauen, wobei die Elemente als solche diesen Komplex konstituieren. Wenn der Sachverhalt Desdemona’s love for Cassio ein fact wäre, dann würde es sich durch die Elemente »Desdemona«, »Cassio« und die Relation »Liebe« aufbauen. An dieser Stelle ist es wichtig, zu sehen, daß RUSSELL unter dem fact nicht etwas versteht, das von der Person Desdemona selbst, deren Akt der Liebe oder ihrem Lieben und der Person Cassio selbst als Objekt dieser Liebe wesentlich zu unterscheiden wäre. Vielmehr ist das fact nichts anderes als die Person Desdemona, ihre Liebe zu Cassio und Cassio selbst im komplexen »Verein«. In der Einleitung der 1910-1913 erstmals veröffentlichen Principia mathematica befassen sich RUSSELL und WHITEHEAD mit der Wahrheit und Falschheit bestimmter Urteilstypen. Auch hier ist die Rede von »Komplexen« als den Wahrmachern dieser Urteile. RUSSELL und WHITEHEAD nennen auch Beispiele für solche Komplexe. So sei etwa die Qualität q von a (z.B. die Qualiät rot von der Rose) ein Komplex, welches ein es betreffendes Urteil wie etwa »Die Rose ist rot« wahr mache. Ferner sei auch die Relation R zwischen a und b (z.B. die Liebe einer Person zu einer anderen) ein wahrmachender Komplex. Da RUSSELL größten Wert auf Relationen legt, die mehr als zwei Relations-
635
RUSSELL [1999], 93f.
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241
terme umfassen, stellt auch die Relation S zwischen a, b und c etc. einen wahrmachenden Komplex dar.636 Dementsprechend sei »ein elementares Urteil wahr, wenn es einen entsprechenden Komplex gibt, und falsch, wenn es keinen entsprechenden Komplex gibt.«637
Kurzum: Facts sind für RUSSELL Wahrmacher und als solche bewußtseinsunabhängige Gegebenheiten. Facts sind ferner eine komplexe Einheit von Dingen, oder, anders ausgedrückt, Sachverhalte stellen einen »Verein« von Sachen als solchen dar.638 Soweit ist RUSSELLS Auffassung durchaus nachvollziehbar. Zieht man nun aber auch die mit den facts unmittelbar zusammenhängende Urteilslehre in Betracht, kommt es zu Sonderbarkeiten, aus denen man sich kaum einen Reim zu machen vermag. »In every act of judgement there is a mind which judges, and there are terms concerning which it judges. We will call the mind the subject in the judgement, and the remainig terms the objects. Thus, when Othello judges that Desdemona loves Cassio, Othello is the subject, while the objects are Desdemona and loving and Cassio. The subject and the objects together are called the constituents of the judgement.«639
RUSSELL sagt hier zunächst, daß jeder Urteilsakt einerseits ein urteilendes Bewußtsein erfordert und andererseits beurteilter Gegenstände bedarf. In diesem Sinn muß gesagt werden, daß jeder Urteilsakt eines Subjekts bedarf, welches urteilend tätig ist. Aber dann sagt RUSSELL, daß er »the mind« als das Subjekt »in the judgement« ansieht, wobei die übrigen Inhalte des Urteils die Objekte des Urteils bilden sollen. Im Anschluß geht RUSSELL so weit zu sagen, daß das urteilende Subjekt und die beurteilten Objekte gemeinsam das Urteil konstituieren. Das urteilende Subjekt gehöre
636 637 638
639
WHITEHEAD/RUSSELL [1986], 65. S. SIMONS [2001a], 199. WHITEHEAD/RUSSELL [1986], 65. S. SIMONS [2001a 199. »Grob gesprochen ist ein Komplex jedes Ding, das in der Welt vorkommt und nicht einfach ist.« RUSSELL/WHITHEAD [1986], 65. »[…] wenn ein Gegenstand komplex ist, so besteht er aus untereinander in Beziehung stehenden Teilen.« RUSSELL/WHITHEAD [1986], 63. RUSSELL [1999], 91.
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Kapitel 3
demnach mitsamt seiner Tätigkeit zum Inhalt des Urteils selbst. Dem entspricht die oben bereits angeführte Aussage RUSSELLS: »If we take such a belief as ›Othello believes that Desdemona loves Cassio‹ we will call Desdemona and Cassio the object-terms and loving the object-relations.«640
RUSSELL spricht auch vom Urteil als einer komplexen Einheit, zu der das urteilende Bewußtsein als konstitutives Moment gehöre: »Judging or believing is a certain complex unity of which a mind is a constituent; if the remaining constituents, taken in the order which they have in the belief, form a complex unity, then the belief is true; if not, it is false.«641
und »What is called belief or judgement is nothing but this relation of believing or judging, which relates a mind to several things other than itself. An act of belief or of judgement is the occurrence between certain terms at some particular time, of the relation of believing or judging.«642
Wenn das, was man Glaube/Urteil nennt, tatsächlich nichts anderes ist als die Relation des Glaubens/Urteilens, in der ein Bewußtsein zu anderen Dingen in Beziehung gesetzt wird und ein Akt des Urteilens das Vorkommen dieser Relation ist, dann kommt es zu der äußerst sonderbaren Situation, daß im Fall eines Urteils nicht nur ein urteilendes Subjekt erforderlich ist, sondern es ist erforderlich, daß dieses urteilende Subjekt auch zu dem gehört, das geurteilt wird! M.a.W., das Urteil, welches der Tatsache, daß Desdemona Cassio liebt, entspricht, ist nicht, »Desdemona liebt Cassio« sondern »Othello glaubt/urteilt, daß Desdemona Cassio liebt.« Othello bzw. Othello und sein Glaube/Urteil bilden das »Subjekt« des Urteils und der Rest dessen »Objekt«. Der Urteilsakt ist nichts anderes als eine Relation des Urteilenden und seines Urteilens zu den Urteilsgegenständen. Damit gehören für RUSSELL aber der Agierende und dessen Akt 640 641 642
RUSSELL [1999], 93. RUSSELL [1999], 93. RUSSELL [1999], 91.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
243
zum Urteil selbst. Schärfer formuliert wird man sagen müssen: Bei RUSSELL ist der Akt immer auch sein eigener Inhalt. »We spoke of the relation called judging or believing as knitting together into one complex whole the subject and the objects.[…]When an act of believing occurs, there is a complex, in which believing is the uniting relation, and subject and objects are arranged in a certain order by the sense of the relation of believing.«643
Hier wird nicht allein die RUSSELLSCHE Unfähigkeit deutlich, den Urteilsinhalt als solchen in den Blick zu bekommen, sondern es zeigt sich auch die Tragweite einer solchen Vernachlässigung. Wenn etwa Peter urteilt, »daß die Rose rot ist«, so ist das Urteil, um das es geht, in RUSSELLS Augen nicht »Die Rose ist rot«, sondern »Peter urteilt, daß die Rose rot ist«. So kommt es zu der absurden Situation, daß das urteilende Subjekt in jedem seiner Urteile selbst als Konstitutionsmoment des Urteils enthalten ist. »Wenn ein Urteil vorliegt, so ist es ein gewisses komplexes Etwas, bestehend aus dem Verstand und den verschiedenen Gegenständen des Urteils.«644
Da es bei RUSSELL keinen vom Urteilsakt verschiedenen Inhalt gibt, der selber keine Tätigkeit des Denkens ist, muß man RUSSELL in diesem Punkt wenigstens noch eine gewisse Konsequenz zugestehen. Denn wenn das Urteil im Sinne des Aktes die Wahrheit trägt, wie RUSSELL ausdrücklich sagt, dann gehört der Agierende durch seinen Akt selber zum Wahrheitsträger und er selbst und sein Akt damit zum fraglichen »Urteil«. Man kann sagen, daß RUSSELL hier den Gedanken von Urteilakten als Wahrheitsträgern konsequent zu Ende zu denken sucht. RUSSELL sieht aber nicht, und dies muß als sehr sonderbar erscheinen, daß die beiden Urteile »Peter urteilt, daß die Rose rot ist« und »Die Rose ist rot« zwei völlig verschiedene Urteile sind, wobei sich das zweite auch unmöglich auf das erste zurück643 644
RUSSELL [1999], 92. RUSSELL/WHITHEAD [1986], 64. »Das heißt, wenn wir etwa urteilen ›dies ist rot‹, so liegt eine Relation von drei Termen vor, nämlich von Verstand, ›dies‹ und rot.« RUSSELL/WHITHEAD [1986], 64.
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Kapitel 3
führen läßt. Denn das Urteil »Peter urteilt, daß die Rose rot ist« kann falsch sein, während das Urteil »Die Rose ist rot« gleichzeitig wahr sein kann und umgekehrt. Die Wahrheitswerte beider Urteile sind völlig unabhängig voneinander. Das Urteil »die Rose ist rot« mag in der Tat ein durch Peter gefälltes Urteil sein. Aber das Urteil »Peter urteilt, daß die Rose rot ist«, wird in aller Regel nicht Peters Urteil, sondern das Urteil einer zweiten Person sein, es sei denn, Peter spricht von sich selbst in der dritten Person. Aber selbst dann ist das »Peter« im Urteil nicht die Person Peter und das »urteilt« im Urteil ist kein Urteilen, sondern »Peter« und »urteilt« sind Begriffsinhalte, denen als solchen keine Behauptungsfunktion zukommt, welche wesentlich zu jedem Urteil gehört. Freilich wirkt sich diese Sicht auch sonderbar auf die facts oder bestehenden Sachverhalte als Wahrmacher aus. Das Urteil »Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt«, soll nämlich, wie RUSSELL meint, genau dann wahr sein, wenn es ein Faktum ist, daß Desdemona Cassio liebt. »Wenn ein Urteil vorliegt, dann ist es ein gewisses komplexes Etwas, bestehend aus dem Verstand und den verschiedenen Gegenständen des Urteils. Wenn das Urteil wahr ist, so liegt […] ein entsprechender Komplex bloß von Gegenständen des Urteils vor. Falschheit besteht […] im Fehlen eines entsprechenden, allein aus Gegenständen zusammengesetzten Komplexes.«645
Der Komplex bzw. Sachverhalt, daß Desdemona Cassio liebt, kann jedoch ein Urteil wie das obige überhaupt nicht wahr machen, da sich dieses überhaupt nicht auf jenen beziehen läßt. Denn der Gegenstand des Urteils »Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt«, das »gemeinte Gegenständliche« (REINACH), welches durch die Behauptung als bestehend angesetzt wird, ist einzig und allein, daß Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt, und keinesfalls, daß Desdemona Cassio liebt. Wie könnte auch der Sachverhalt, daß Desdemona Cassio liebt, der Wahrmacher des Urteils »Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt« sein, wenn dieses Urteil wahr sein kann, auch wenn der Sachverhalt, daß Desdemona Cassio liebt, nicht besteht. Das wäre genau dann der Fall, wenn der davon ganz verschiedene Sachverhalt, daß Othello glaubt, daß Desdemona Cassio 645
RUSSELL/WHITHEAD [1986], 64.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
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liebt, besteht. Die Bestände oder Nicht-Bestände der beiden hier einschlägigen Sachverhalte sind mithin ganz unabhängig voneinander. Es kann der Sachverhalt, daß Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt, bestehen, während der Sachverhalt, daß Desdemona Cassio liebt, nicht besteht und umgekehrt. Es kann auch der Fall sein, daß beide Sachverhalte bestehen oder daß keiner von beiden besteht! Anders gewandt: Das Urteil »Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt«, kann wahr sein gerade auch dann, wenn der Sachverhalt, daß Desdemona Cassio liebt, nicht besteht.646 Und genau das ist im Rahmen der von Shakespeare literarisch entworfenen fiktionalen Welt ironischerweise auch der Fall, denn Cassios vermeintliche Liebe zu Desdemona ist eine verleumderische Erfindung Jagos, der vor Othello gegen Cassio intrigiert.647 Die Verwechslungen, die RUSSELL hier unterlaufen, sind durchaus erstaunlich. Kurzum: RUSSELLS facts können die von RUSSELL angesetzten entsprechenden beliefs überhaupt nicht wahr machen. RUSSELL sieht völlig richtig, daß die logische Wahrheit in einer Korrespondenzrelation mit einem bestehenden Sachverhalt besteht. Aber die von RUSSELL angeführten beliefs und facts können unmöglich miteinander korrespondieren, da the mind in RUSSELLS Augen immer zu den consti646
647
Ebenso kann es der Fall sein, daß das Urteil »Desdemona liebt Cassio« wahr ist, auch wenn der Sachverhalt, daß Othello glaubt, daß Desdemona Cassio liebt, überhaupt nicht besteht. Es könnte aber auch sein, daß beide Urteile wahr und beide Urteile falsch sind bzw. beide Sachverhalte bestehen bzw. nicht bestehen. Überhaupt muß gesagt werden, daß RUSSELLS Beispiel aus zwei Gründen verwirrend wirkt. Erstens, weil es sich grundsätzlich um fiktive Urteile und Sachverhalte aus einer der Tragödien Shakespeares handelt. Diese fiktiven Urteile sind ohnehin keine wahrhaften Urteile, und diese fiktiven Sachverhalte sind ohnehin keine Fakten, sondern allenfalls »Quasi-Urteile« und »Quasi-Fakten« im Sinne INGARDENS. Zweitens, weil RUSSELLS Bezugnahme auf Othellos Glauben nahelegt, daß dieser in der Fiktion ein wahrer Glaube ist, obwohl Othello von Jago hinters Licht geführt wird. Was gesagt werden muß, ist, daß Othellos Akt (innerhalb des fiktionalen Weltentwurf) wirklich und in diesem Sinne wahrhaft ein Glaube ist. Aber dieser Glaube ist innerhalb des Dramas gerade nicht wahr, da Desdemona Cassio nicht liebt. Othello kann freilich wirklich glauben, daß Desdemona Cassio liebt, ohne das sein Glaube auch der »Wirklichkeit« entsprechen muß. Der Akt Glaube und der Glaube im Sinne eines Glaubensinhaltes haben in dem hier relevanten Sinn nichts miteinander zu tun. Aber gerade dies entgeht RUSSELL, weil er in dem Akt auch diejenige Gegebenheit erblickt, die im logischen Sinn wahr sein soll.
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tuents des beliefs gehört. Urteilsakt und Urteilsinhalt sind hier in einer Weise miteinander verschmolzen, daß ein belief gar nicht mehr mit dem korrespondieren kann, was RUSSELL als das entsprechende fact identifiziert.648 »When the belief is true, there is another complex unity, in which the relation which was one of the objects of the belief relates the other objects. Thus, e.g., if Othello believes truly that Desdemona loves Cassio, then there is a complex unity, ›Desdemona’s love for Cassio‹, which is composed exclusively of the objects of the belief, in the same order as they had in the belief, with the relation which was one of the objects occuring now as the cement that binds together the other objects of the belief. On the other hand, when a belief is false, there is no such complex unity composed only of the objects of the belief. If Othello believes falsely that Desdemona loves Cassio, then there is no such complex unity as ›Desdemona’s love for Cassio‹.«649
Für RUSSELL, der Urteilsakt und Urteilsinhalt irrtümlicherweise miteinander verschmilzt, gehört the mind zu den constituents eines beliefs. Vergleicht man nun belief und fact, so wie RUSSELL diese versteht, so besteht der Unterschied darin, daß das fact nicht durch the mind mitkonstituiert wird. Der belief hingegen habe neben dem mind einen anderen Teil. Wenn nun dieser Teil des beliefs so strukturiert ist, daß ihm auf der Objektseite die Struktur des facts entspricht, dann korrespondierten belief und fact, wie RUSSELL meint. RUSSELL entgeht aus den oben genannten Gründen, daß zwischen seinem belief und fact keine Korrepondenz bestehen kann. Ferner muß gesehen werden, daß facts als Komplexe bei RUSSELL nichts anderes sind als ein Ganzes, dessen reale Teile auf eine bestimmte Weise 648
649
»Thus a belief is true when it corresponds to a certain associated complex, and false if it does not. Assuming, for the sake of definiteness, that the objects of the belief are two terms and a relation, the terms being put in a certain order by the ›sense‹ of the believing, then if the two terms in that order are united by the relation into a complex, the belief is true; if not, it is false. This constitutes the definition of truth and falsehood that we were in search of. Judging of believing is a certain complex unity of which a [sic] mind is a constituent; if the remaining constituents, taken in the order which they have in the belief, form a complex unity, then the belief is true; if not, it is false.« RUSSELL [1999], 93. RUSSELL [1999], 92f.
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strukturiert oder aufeinander bezogen sind. Damit ist das Faktum, daß Desdemona Cassio liebt, teilweise die Person Desdemona, teilweise die Person Cassio und teilweise die Relation der Liebe, welche die Teile auch auf eine bestimmte Weise strukturiert. Auf den irrtümlichen Charakter eines derartigen Sachverhaltsbegriffs wird unten noch einzugehen sein. 3.3.10 Der Sachverhalt bei Ludwig Wittgenstein Etwa zu Beginn des ersten Weltkriegs fängt Ludwig WITTGENSTEIN an, sich in seinen Notizbüchern mit der Sachverhalts- bzw. Tatsachenproblematik auseinandersetzen.650 Frucht dieser Auseinandersetzung ist die schon 1918 fertiggestellte Logisch-philosophische Abhandlung. Diese erscheint 1921 erstmals auf Deutsch. 1922 erscheint unter dem Titel Tractatus logico-philosophicus eine neue und zweisprachige Ausgabe (deutsch-englisch). Zu den Eckpfeilern dieses Werkes gehört der Begriff »Sachverhalt« bzw. »Tatsache«. Der bestehende Sachverhalt sei das, was der Fall ist, und das, was der Fall ist, sei eine Tatsache. »2
Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.«
WITTGENSTEIN betont, daß es die Gesamtheit aller bestehenden Sachverhalte sei, welche die Welt ausmache, und nicht etwa die Gesamtheit der »Gegenstände«, »Dinge« oder »Sachen«. »2.04
Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte ist die Welt.«
»1.1
Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.«
»1.11
Die Welt ist durch die Gesamtheit der Tatsachen bestimmt und dadurch, dass es alle Tatsachen sind.«
Die »Welt« kann nicht die Gesamtheit der Gegenstände sein, weil damit nichts vom Verbundensein der Gegenstände zum Ausdruck kommt. Der Weltbegriff impliziert aber für WITTGENSTEIN die Verbindungen, Verkettungen und Zusammenhänge der Dinge. Deshalb muß die Welt die 650
S. SMITH [1978], 40.
248
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Gesamtheit nicht der Gegenstände, Dinge oder Sachen, sondern der bestehenden Sachverhalte sein, denn Sachverhalte sind hier nichts anderes als Verbindungen von Gegenständen. »2.01
Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.)«
Außerdem spricht WITTGENSTEIN noch von Sachverhalten als von »Konfigurationen« von Gegenständen. »2.0272 Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt.«
WITTGENSTEIN spricht im Hinblick auf das Verhältnis von Sachverhalten und Gegenständen/Sachen nicht nur von Verbindungen und Konfigurationen, sondern auch von »Ketten« und ihren »Gliedern«.651 Gleich im Anschluß daran spricht WITTGENSTEIN auch davon, daß in Sachverhalten ein bestimmtes Zueinanderverhalten von Gegenständen vorliegt, denn »2.03
Im Sachverhalt hängen die Gegenstände ineinander, wie die Glieder einer Kette.«
»2.031 Im Sachverhalt verhalten sich die Gegenstände in bestimmter Weise zueinander.«
Schließlich spricht WITTGENSTEIN von der »Struktur des Sachverhaltes« als der »Art und Weise«, wie die Gegenstände als Verbindungs-, Ketten-, Konfigurationsglieder oder als Sich-zueinander-Verhaltende miteinander zusammenhingen. »2.032 Die Art und Weise, wie Gegenstände im Sachverhalt zusammenhängen, ist die Struktur des Sachverhaltes.«
Mit Begriffen wie Verbindung, Verkettung (Glieder einer Kette), Konfiguration etc. erläutert WITTGENSTEIN auf eine durchaus sinnfällige Weise, was er unter dem Wesen der Sachverhalte versteht. Die Gegenstände seien in Sachverhalten verbunden wie die Glieder einer Kette. Da die Glieder 651
Vgl. BECKERMANN [1995], 533.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
249
einer Kette Teile der Kette sind, bilden die Gegenstände, Dinge oder Sachen die Teile der Sachverhalte, welche ihrerseits ein aus diesen Teilen bestehendes Ganzes darstellen soll. Wenn ein Sachverhalt »mehr« ist als die ihn konstituierende Verkettung von Gegenständen, dann nur in dem Sinn, in dem auch eine Kette mehr ist als die bloße Summe ihrer Teile. ROJSZCZAK und SMITH schreiben dazu: »Wittgenstein bietet eine sehr klare Erklärung der Relation zwischen Sachverhalten und Gegenständen, d.h., es ist die Relation zwischen einem komplexen Ganzen und den einfachen Teilen, aus denen dieses besteht.«652
WITTGENSTEIN spricht auch ausdrücklich von den Gegenständen oder Dingen als den »Bestandteilen« von Sachverhalten. Kombinierte oder verkettete Gegenstände ergeben Sachverhalte. »2.011
Es ist dem Ding wesentlich, der Bestandteil eines Sachverhaltes sein zu können.«
Wie oben bereits angedeutet, spricht WITTGENSTEIN im Fall eines bestehenden Sachverhaltes von einer positiven Tatsache und im Fall eines nichtbestehenden Sachverhaltes von negativen Tatsachen. Die Gesamtheit der positiven und negativen Tatsachen bilde »die Wirklichkeit«. »2.06
Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit. (Das Bestehen von Sachverhalten nennen wir auch eine positive, das Nichtbestehen eine negative Tatsache.)«
Entgegen dem sonst eher üblichen Gebrauch des Ausdrucks »Tatsache« als eines bestehenden Sachverhaltes und des Ausdrucks »negative Tatsache« als eines bestehenden negativen Sachverhalts will WITTGENSTEIN durch seinen Ausdruck »negative Tatsache« gerade auch den Bestand negativer Sachverhalte zurückweisen. »Negative Tatsachen« sind für WITTGENSTEIN ausschließlich gar nicht bestehende positive Sachverhalte. Anders ausgedrückt: Negative Tatsachen (bestehende negative Sachverhalte) können für WITTGENSTEIN nicht bestehen, vielmehr sollen insbesondere alle 652
ROJSZCZAK/SMITH [2001], 54.
250
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positiven Sachverhalte, die nicht bestehen, »negative Tatsachen« sein.653 Der Ausdruck »Tatsache« ist bei WITTGENSTEIN mithin mehrdeutig, da er kein Synonym für bestehende Sachverhalte darstellt, sondern im Fall von »negativen Tatsachen« ausschließlich nichtbestehende positive Sachverhalte meint, da negative Sachverhalte ohnehin nicht bestehen können. Im Hinblick auf diesen sonderbaren Gebrauch des Ausdrucks »Tatsache« sagt SIMONS: »Es ist richtig, daß Wittgenstein sehr wohl über negative Tatsachen spricht, doch will er damit nicht sagen, daß es negative Tatsachen gibt [bzw. das diese bestehen] […].«654
Kurzum: Die »negativen Tatsachen« WITTGENSTEINS sind insbesondere alle nichtbestehenden positiven Sachverhalte und nicht etwa bestehende negative Sachverhalte. Negative Sachverhalte können in WITTGENSTEINS Augen ohnehin nicht bestehen. WITTGENSTEIN meint ferner, daß Sachverhalte nicht allein in der ontologischen Sphäre angesiedelt und aufzufinden sind. Denn für WITTGENSTEIN sind sowohl die Propositionen als Bilder der »weltlichen« Sachverhalte wie auch die Aussagesätze, welche die Propositionen bezeichnen, 653
654
Wie SIMONS zeigt, entwickelt WITTGENSTEIN diese Position im Zusammenhang mit der Frage nach den Wahrmachern positiver und negativer Propositionen. Positive Propositionen sind in WITTGENSTEINS Augen dann wahr, wenn der entsprechende positive Sachverhalt (positive Tatsache) besteht. Die kontradiktorisch entgegengesetzte negative Proposition hingegen ist nicht deshalb falsch, weil der entsprechende negative Sachverhalt nicht besteht, da ein solcher Sachverhalt für WITTGENSTEIN ohnehin nicht bestehen kann. Sie ist falsch, weil der positive Sachverhalt besteht. Eine negative Proposition ist wahr, nicht deshalb, weil der negative Sachverhalt besteht, sondern deshalb, weil die (falsche) kontradiktorische positive Proposition überhaupt keinen Wahrmacher hat, d.h., weil deren entsprechender positiver Sachverhalt nicht besteht. Bei WITTGENSTEIN können also nur positive Propositionen einen Wahrmacher haben, und sie haben einen solchen, wenn sie wahr sind. Wahre Negative Propositionen hingegen können keinen Wahrmacher haben, bzw. ihr »Wahrmacher« kann nicht eine bestehende negative Proposition sein, da es so etwas nicht geben kann. Vielmehr hat die kontradiktorische positive Proposition überhaupt keinen Wahrmacher, und genau dies ist der Grund, warum die negative Proposition wahr ist. S. dazu SIMONS [2001a], 204f. SIMONS [2001a], 204.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
251
ihrerseits selber Sachverhalte bzw. Tatsachen. Um diesen Gedankengang nachvollziehen zu können, muß WITTGENSTEINS Bildbegriff in den Blick genommen werden. Dann ist zu zeigen, daß Aussagesätze hier nicht etwas anderes als Bilder sind, sondern eine Art von Bild darstellen. Bild und Satz verhalten sich zueinander wie Gattung und Art. Alle Inhalte, durch die das Denken einer Person auf die Welt bezogen ist, müssen in WITTGENSTEINS Augen bildhafte Repräsentationen oder »Modelle« im buchstäblichen Sinn sein. »2.1
Wir machen uns Bilder der Tatsachen.«
»2.11
Das Bild stellt die Sachlage im logischen Raume, das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten vor.«
»2.12
Das Bild ist ein Modell der Wirklichkeit.«
Insofern eine Person gerade durch ihr Urteilen auf Sachverhalte bezogen ist, stellen auch die Urteile »im logischen Raume« ein Bild, d.h. für WITTGENSTEIN ein »Modell« der Sachlage oder ein Modell des Bestehens und Nichtbestehens von Sachverhalten dar. Damit ein Urteil als Bild eines Sachverhaltes überhaupt dessen Modell sein kann, muß jedem Gegenstand ein es modellhaft vertretendes Bildelement entsprechen.655 »2.13
Den Gegenständen entsprechen im Bilde die Elemente des Bildes.«
»2.131 Die Elemente des Bildes vertreten im Bild die Gegenstände.« »4.0311 Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und untereinander sind sie verbunden, so stellt das Ganze – wie ein lebendes Bild – den Sachverhalt vor.«
Jedem Gegenstand, der in dem abgebildeten Sachverhalt als dessen Glied verkettet ist, soll demnach ein Bildelement des Sachverhaltsabbildes oder Sachverhaltsmodells entsprechen. Das aus den einzelnen Bildelementen zusammengesetzte Gesamtmodell muß nun aber auch dem Sachverhalt 655
Vgl. BECKERMANN [2001], 534f.
252
Kapitel 3
als solchen modellhaft entsprechen, damit es nicht nur Bilder der Kettenglieder enthält, sondern auch ein Bild der Verkettung bzw. des Sachverhaltes als solchen ist. »2.14
Das Bild besteht darin, dass sich seine Elemente in bestimmter Art und Weise zu einander verhalten.«
Das Bild im obigen Zitat ist das Bild der Verkettung oder des Sachverhaltes. Dieses »Gesamtbild« besteht darin, daß sich seine Bild(ketten)glieder als Gedankendinge in bestimmter Art und Weise zueinander verhalten oder in einer bestimmten Art und Weise zusammenhängen bzw. konfiguriert, verkettet sind. »4.22
Der Elementarsatz besteht aus Namen. Er ist ein Zusammenhang, eine Verkettung, von Namen.«
»2.15
Daß sich die Elemente des Bildes in bestimmter Weise zu einander verhalten, stellt vor, daß sich die Sachen so zu einander verhalten. Dieser Zusammenhang der Elemente des Bildes heiße seine Struktur und ihre Möglichkeit seine Form der Abbildung.«
M.a.W., die Art und Weise, wie sich die Elemente des Bildes zueinander verhalten entspricht der Weise, wie sich die Gegenstände als Kettenglieder bzw. Sachverhaltsglieder zueinander verhalten. »2.161 In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.«
Und das Identische im Bild und Abgebildetem besteht darin, daß auch das Bild eine Tatsache bzw. ein Sachverhalt ist, insofern es eine Verkettung und Konfiguration von gedanklichen Bildelementen darstellt. »2.141 Das Bild ist eine Tatsache.«
Daher kann WITTGENSTEIN sagen: »2.16
Die Tatsache muß, um Bild zu sein, etwas mit dem Abgebildeten gemeinsam haben.«
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
253
D.h., auch ein Bild ist eine Tatsache, und zwar genau dann, wenn es die sachlichen Verkettungen und Konfigutationan »widerspiegelt«. Aber WITTGENSTEIN geht noch weiter. Für ihn sind nicht nur die gedanklichen Bilder von Sachverhalten selber Sachverhalte. Auch die Sätze im Sinne der sinnlichen wahrnehmbaren Zeichen sind Tatsachen bzw. Sachverhalte. »3.14
Das Satzzeichen besteht darin, dass sich seine Elemente, die Wörter, in ihm auf bestimmte Art und Weise zueinander verhalten. Das Satzzeichen [der Satz als Zeichen, Anm. v. Verf.] ist eine Tatsache.«
WITTGENSTEIN beschreibt recht anschaulich, warum er auch Satzzeichen für Sachverhalte bzw. Tatsachen hält. »3.14
Um das Wesen des Satzes zu verstehen, denken wir an die Hieroglyphenschrift, welche die Tatsachen, die sie beschreibt, abbildet. Und aus ihr wurde die Buchstabenschrift, ohne das Wesentliche der Abbildung zu verlieren.«
Satzzeichen sind demnach ebenfalls Sachverhalte bzw. Tatsachen, weil auch sie nichts anderes sein sollen als eine Konfiguration von Zeichenelementen, welche die Konfigurationen der Dinge »abmalen«, ganz so wie die Hieroglyphen, zumal es sich bei diesen teilweise um Ideogramme handelt, welche Konfigurationen der Dinge anschaulich abmalen. Die »Buchstabenschrift« bzw. Lautschrift ist im wesentlichen nichts anderes als ein »Abmalen« der Konfiguration von Dingen und damit selbst eine Konfiguration von Dingen, allerdings handelt es sich hier gewissermaßen um eine äußerst »abstrakte Kunst«. Für WITTGENSTEIN sind demnach sowohl die Verkettungen von Sachen als auch die Urteile als gedankliche Abbildungen von Sachen als auch der Satz als hörbare oder geschriebene Verkettung von Zeichen Tatsachen bzw. bestehende Sachverhalte, denn sie alle stellen Konfigurationen von »Dingen« dar, wobei die beiden letztgenannten Gegebenheiten abgebildete Konfigurationen von Dingen darstellen. Jede Abbildung eines Sachverhaltes, sei sie eine Gedachte oder Geschriebene, muß in WITTGENSTEINS Augen selber ein Sachverhalt sein.
254
Kapitel 3
3.3.11 Der Sachverhalt bei Roderick Chisholm Der frühe CHISHOLM entwickelt seine Theorie über Sachverhalte, Ereignisse und Propositionen insbesondere in seiner 1976 veröffentlichten Monographie Person und Object und in den beiden Essays Events Propositions and States of Affairs und Object and Persons: Revision and Replies aus dem Jahr 1979.656 In den Augen des frühen CHISHOLM verhalten sich Sachverhalte einerseits und Ereignisse und Propositionen andererseits zueinander wie Gattung und Art bzw. Arten. Er »will attempt to show that propositions and events are subspecies of states of affairs.«657 Ereignisse und Propositionen sind nicht etwas anderes als Sachverhalte, sondern ebenso Sachverhalte wie etwa Dromedare und Trampeltiere Kamele sind. Damit sucht CHISHOLM auch zu zeigen, daß es sich mit Sachverhalten, Propositionen und Ereignissen nicht um drei verschiedene Gegebenheiten je »eigenen Rechts« handelt. »If the view to be defended here is correct, there is no need to assume that, in addition to states of affairs, there are such things as propositions and events.«658
Alle Eigenschaften, die der Gattung Sachverhalt eignen, sollen somit auch den Ereignissen und Propositionen als deren Arten eignen. Die Eigenschaften der Sachverhalte sind laut CHISHOLM, daß Sachverhalte abstrakte Entitäten seien, die notwendig und ewig existierten, und deren Existenz in keiner Weise abhängig sei von irgendwelchen konkreten Einzeldingen. »States of affairs are here understood as abstract entities which exist in every possible world and which are such that some but not all of them obtain. They are in no way dependent for their being upon the being of
656 657
658
S. BRANDL [1997], 460. CHISHOLM [1979], 27. 39. »Events will be said to constitute one type of state of affairs and propositions another.« CHISHOLM [1976], 114. CHISHOLM [1976], 126. CHISHOLM [1979], 27. CHISHOLM [1976], 115.
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255
concrete, individual things. Even if there were no concrete, individual things, there would be indefinitely many states of affairs.«659
Neben der Existenz von Sachverhalten ist aber auch davon die Rede, daß sie »bestehen« (obtain), »vorkommen« (occur), »geschehen« und »stattfinden« (take place).660 Während jedoch alle Sachverhalte notwendig existierten, könne, so CHISHOLM, nur bei einigen Sachverhalten davon gesprochen werden, daß sie bestehen, vorkommen, geschehen oder stattfinden, und bei einigen müsse davon gesprochen werden, daß sie nicht bestehen oder gar unmöglich bestehen können.661 Ein bestimmter Sachverhalt mag demnach nicht bestehen, nicht vorkommen oder geschehen, obwohl er gleichzeitig notwendigerweise existieren muß. Innerhalb der Gattung Sachverhalte unterscheidet CHISHOLM nun zwischen den Propositionen und den Nichtpropositionen. Zu den Nichtpropositionen gehören die Ereignisse. Wie Propositionen und Ereignisse als zwei Arten von Sachverhalten voneinander zu unterscheiden sind, bringt CHISHOLM in folgendem Zitat zum Ausdruck: »Thus the state of affairs which is John walking at 3 P.M., E.S.T., on February 5, 1970, will be a proposition, for it is necessarily such that either it or its negation does not occur. But that state of affairs which is John walking will be an event; for it is contingent, it is possibly such that both it and its negation occur, and it implies change.«662
659
660 661 662
CHISHOLM [1979], 27. CHISHOLM [1976], 114. »What we have said implies that states of affairs, like properties or attributes, exist in every possible world. Thus Whitehead said that all propositions, whether true or false, are ›eternal objects‹ and Husserl said that all states of affairs (Sachverhalte), including those that are impossible and absurd, are ›ideal unities‹ that neither come into being nor pass away. To say of a state of affairs that it exists is not to say, of course, that it obtains. For there are state of affairs that do not obtain. And there are states of affairs which cannot possibly obtain; an example is there being round squares. There are also states of affairs which obtain in every possible world; an example is there being no round squares. But all such states of affairs, whether or not they obtain and whether or not they can possibly obtain, exist in every possible world.« CHISHOLM [1979], 32. CHISHOLM [1976], 118. 119. S. unter Fußn. 659. S. auch CHISHOLM [1976], 119. CHISHOLM [1970], 20. S. BRANDL [1997], 461.
256
Kapitel 3
Wenn ein Sachverhalt so verfaßt ist, daß entweder er oder seine Negation besteht oder vorkommt bzw. nicht besteht oder nicht vorkommt, ohne daß die Möglichkeit besteht, daß der andere Part jemals besteht oder vorkommt, dann soll es sich um den Sachverhaltstyp handeln, der eine Proposition ist. Wenn ein Sachverhalt aber kontingent ist, d.h. wenn die Möglichkeit besteht, daß ein Sachverhalt und dessen Negation überhaupt vorkommen und die fraglichen Sachverhalte prozessual verfaßt sind, dann handle es sich um Ereignisse. In CHISHOLMS Augen muß der Sachverhalt, daß John an einem ganz bestimmten Tag zu einer ganz bestimmten Uhrzeit spazieren geht, eine Proposition sein, weil der Sachverhalt, wenn er besteht, die Möglichkeit ausschließt, daß sein negativer Part jemals wird bestehen können. Im Fall des Sachverhalts, daß John spazieren geht, so betont BRANDL im Hinblick auf CHISHOLM, gelte, daß er lediglich nicht gleichzeitig neben seinem negativen Part bestehen oder vorkommen kann. Dieser Sachverhalt sei jedoch gerade deshalb ein Ereignis in CHISHOLMS Sinn, weil er und sein Gegenteil zu verschiedenen Zeiten beide bestehen können. BRANDL faßt CHISHOLMS Auffassung zusammen, wenn er sagt: »Chisholm’s treatment of negation allows him to say that both a state of affairs and its negation may obtain. In fact that is characteristic of an event. Of course, this can only mean that a state of affairs and its negation may obtain at different times, otherwise this would involve a contradiction. The state of affairs expressed by (2) [that John is walking] obtains temporarily, not however the state of affairs expressed by (1) [that John is walking at 3 P.M., on February 5, 1970]; hence the first [2] is an event and the second [1] is a proposition.«663
CHISHOLM sieht allerdings deutlich, daß etwa seine Rede von »vorkommenden« oder »bestehenden Propositionen« den gängigen sprachlichen Konventionen keinesfalls entspricht. »Propositions, however, are said to be true or false and not to occur or obtain. And states of affairs – or some of them – are said to occur or obtain and not to be true or false. Moreover, propositions are eternally true or eternally false, but states of affars, or some of them, are such that
663
BRANDL [1997], 462.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
257
they may occur or obtain at certain times and fail to occur or obtain at other times.«664
Der gängige Sprachgebrauch legt, wie auch CHISHOLM vermutet, nahe, daß es sich bei Sachverhalten und Propositionen – bei allen notwendigen Zusammenhängen, die bestehen mögen – doch um völlig verschiedene Daten handelt, insofern der ausschließliche Gebrauch der Prädikate wahr/falsch für Propositionen und bestehen/nicht bestehen für Sachverhalte auf den sachlichen Unterschied verschiedener und nicht »austauschbarer« Eigenschaften verweist, womit die Träger dieser Eigenschaften völlig verschiedene Gegebenheiten sein müssen. Allerdings ist CHISHOLM der Auffassung, daß die Annahme eines Sachverhaltes wie das Sterblichsein-des-Sokrates als einer Gegebenheit, die völlig verschieden ist von der Proposition »daß Sokrates sterblich ist« oder »Sokrates ist sterblich« dem Okkhamschen Rasiermesser zum Opfer fallen muß, weil hier Entitäten überflüssigerweise vervielfältigt werden. »Yet ist would seem that we are multiplying entities beyond necessity if we say that, among the things that exist in all possible worlds, there is not only the state of affaires of Sacrates being mortal, but also the proposition that Socrates is mortal. Can we reduce one to the other?«665
Die Frage nach der Reduzierbarkeit von Propositionen auf Sachverhalte beantwortet CHISHOLM mit Ja.666 »I will suggest in what follows that concrete events, like facts and propositions, may be reduced to states of affairs.«667
Die Reduzierbarkeit von Propositionen auf Sachverhalte zeigt sich in CHISHOLMS Augen, wenn man sich die Unveränderbarkeit des Wahrheitswertes einer Proposition vergegenwärtigt. Ist eine Proposition wahr, so ist sie immer wahr und kann niemals falsch werden. Dasselbe gilt entsprechend für eine falsche Proposition. Nun gebe es aber gewisse Sachverhalte, 664 665 666 667
CHISHOLM [1979], 42. CHISHOLM [1979], 42. CHISHOLM [1976], 120. CHISHOLM [1976], 122. 124.
258
Kapitel 3
die »either […] always […] or never« bestünden. Die Invariabilität des Wahrheitswertes der Propositionen ist nun in CHISHOLMS Augen nichts anderes als die Invariabilität des Bestandes bestimmter positiver bzw. negativer Sachverhalte. »We could say that a proposition is a state of affairs which is necessarily such that either it always obtains or it never obtains. Or we could say alternatively that a proposition is a state of affairs which is incapable of being such that it obtains at certain times and fails to obtain at other times. […] A true proposition may now be defined as a proposition that obtains and a false proposition as one that does not obtain. And a fact may be said to be a proposition that is true.«668
Demnach sei eine wahre Proposition nichts anderes als jene besondere Art von Sachverhalten, die bestehen, ohne daß ihr Negativum würde bestehen können. Ein fact ist konsequenterweise in CHISHOLMS Augen nicht etwa ein bestehender Sachverhalt im Unterschied zu einem wahren Urteil. Vielmehr ist ein bestehender Sachverhalt nichts anderes als eine wahre Proposition. VAN DER SCHAAR schreibt treffend: »On Chisholm’s account, the predicates being true and obtaining do not apply to different types of entities; for him, propositions are merely a special case of states of affairs. […] A state of affairs expressed by a certain declarative sentence obtains, or a proposition is true, if and only if the object (which may be a set consisting of objects) denoted by the subject term exemplifies the property (which also may be a relation) expressed by the predicate.«669
CHISHOLM reduziert Propositionen auf Sachverhalte, indem er die Invariabiltät der Wahrheitswerte auf invariable Bestände reduziert. Wenn die Proposition »John geht an einem bestimmten Tag zu einer bestimmte Zeit spazieren« wahr ist, kann sie niemals falsch werden. Sie lasse sich auf den Sachverhalt reduzieren, daß John an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Zeit spazieren geht, weil dieser, wenn er bestehe, niemals nicht bestehen könne.
668 669
CHISHOLM [1979], 42f. VAN DER SCHAAR [1997], 297.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
259
In dem Essay On the Positive and Negative States of Things aus dem Jahr 1985/86 stellt CHISHOLM zum erstem Mal ein neues ontologisches Fundament für eine neue Ereignistheorie vor. Am »vollständigsten« (most complete) ausgearbeitet findet sich die neue Theorie, wie ZIMMERMANN hervorhebt, in dem Essay Events without Times: An Essay in Ontology aus dem Jahr 1990.670 Grundlegend für diese neue Theorie ist, wie sich mit BRANDL herausstellen läßt, CHISHOLMS Einteilung alles Seienden in kontingentes und nichtkontingentes und in abhängiges und unabhängiges Seiendes.671 In Folge dieser Einteilung sehe es CHISHOLM jetzt als unmöglich an, daß irgendein Seiendes zugleich in einer Hinsicht ewig und notwendig und in einer anderen Hinsicht kontingent sein kann. Damit wird, wie BRANDL richtig sieht, sowohl CHISHOLMS ehemaliger Sachverhaltsbegriff, demgemäß Sachverhalte ewig existieren und als Ereignisse kontingent bestehen können als auch CHISHOLMS frühere Reduktion von Ereignissen auf Sachverhalte unmöglich, da Ereignisse als wesentlich kontingente Entität nichts Ewiges und Notwendiges an sich haben können. Um der jetzt angenommenen restlosen Kontingenz dessen gerecht werden zu können, was CHISHOLM bislang states of affairs oder facts nannte, führe CHISHOLM nun die neue Kategorie der states ein.672 Mit den Sachverhalten des frühen CHISHOLM haben states zunächst zwei Dinge gemeinsam. Erstens verhalten sie sich zu Ereignissen wie die Gattung zur Art.673 Zweitens werden sie ebenso wie Sachverhalte durch gerundive Ausdrücke wie »x-being F« bezeichnet (s.u.). Im Unterschied zu den Sachverhalten des frühen CHISHOLM gilt, so unterstreicht BRANDL im Hinblick auf des späten 670 671 672
673
ZIMMERMAN [1997], 74. BRANDL [1997], 467. S. CHISHOLM [1989], 162ff. CHISHOLM [1990], 418. »At the center of this new theory we find two dichotomies that cut across each other: all entities are divided into contingent and noncontingent things, as well as into dependent and independent ones […]. No place is left here for entities, like states of affairs, which exist eternally, but obtain only contingently. Whatever is contingent is ›possibly such that it ceases to be‹ […]. Events are contingent entities, hence they cannot be [und können auch nicht reduziert werden auf] eternally existing things. A new cateroy has to be introduced. This new category is the category of states.« BRANDL [1997], 467. CHISHOLM [1985/86], 98. 102. »A subset of states may be said to constitute the class of events […].« CHISHOLM [1985/86], 103. S. ZIMMERMAN [1997], 74.
260
Kapitel 3
CHISHOLMS states, daß »they are contingent«, und das »means that they come into being and pass away«, und daß »they are dependent«, was »means that they cannot exist by themselves; they necessarily exist at something else.«674 States sind kontingent, weil sie entstehen und vergehen können. Sie sind abhängige Entitäten, weil sie ganz so wie die ARISTOTELISCHEN Akzidentien nicht selbständig, sondern nur an etwas anderem existieren können. CHISHOLM beschreibt states des weiteren folgendermaßen: »For every x, there is the state x-being F if and only if x exemplifies being-F.«675
Wenn also irgendein x being-F exemplifiziert, dann gibt es einen state x-being F.676 Und für jeden state gibt es ein x und die Eigenschaft being-F, derart, daß being-F durch x exemplifiziert ist.677 Das exemplifizierende x eines states nennt CHISHOLM dessen »Substrat«, und die exemplifizierte Eigenschaft being F bezeichnet er als den »Inhalt« (content) des state.678 674
675 676 677
678
BRANDL [1997], 467. »We also make use of the concept of a contingent state: There are therefore two types of contingent things: (1) contingent states; and (2) contingent substances. Noncontingent things may be in contingent states. The attribute blue, for example, may be in the contingent state of being exemplified. And if there were no contingent substances, then all noncontingent things would be in indefinitely many contingent states – for example, in the state of being such that nothing is blue.« CHISHOLM [1985/86], 103. »States are ontologically dependent upon their substances: A4 If x is a state of y, then x is necessarily such that it is a state of y.« CHISHOLM [1985/86], 100. »As a being of another thing, a state is not an ens per se. We may express this fact by saying that states are ontologically dependent on the things of which they are states […].« CHISHOLM [1989], 150. CHISHOLM [1989], 150. CHISHOLM [1985/86], 99. S. BRANDL [1997], 467. CHISHOLM [1990], 417. S. ZIMMERMAN [1997], 74. »There are, therefore, three categories to be distinguished in the case of any thing x which is blue: (1) there is the contingent substance x which is blue; (2) there is the attribute being blue which x exemplifies; and (3) there is that state which is x being blue.« CHISHOLM [1985/86], 98. »[…] if x-being F is a state of x, then three different entities are involved: (1) there is the thing x, which we have called the ›substrate‹ of the state; (2) there is the attribute, being-F, which we will call the ›content‹ of the state; and there is the state x-being-F.« CHISHOLM [1985/86], 99. CHISHOLM [1990], 419. S. ZIMMERMAN [1997], 74.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
261
Wenn eine Rose rot ist, dann exemplifiziert die Rose das Rot-sein. Damit handelt es sich um den state Rose-being-red oder das Rot-sein-der-Rose. Die Rose ist das »Substrat« des state und Rot-sein dessen »Inhalt«. Damit ist, wie sich mit ZIMMERMAN betonen läßt, »the essential structure of the complex« nichts anderes als »the holding of these exemplification relations«, d.h. jeder state ist wesentlich die Exemplifikation einer Eigenschaft durch etwas bzw. die Exemplifikation eines Inhalts durch ein Substrat.679 Anders gewendet: States sind das Substrat, dessen Inhalt und die Exemplifikation des Inhalts durch das Substrat im komplexen Verein. Ereignisse oder events sind nun in CHISHOLMS Augen nichts anderes als jene states, deren Substrate irgendwelche kontingenten Dinge und deren Inhalte Eigenschaften sind, die lediglich kontingenterweise von ihren Substraten exemplifiziert werden.680 »D12 x is an event = Df There is a y such that y is a contigent substance and x is a contingent state of y.«681
Damit sind, wie ZIMMERMAN richtig beobachtet, CHISHOLMS states und events ebenso wie RUSSELLS facts oder WITTGENSTEINS Sachverhalte eine auf eine bestimmte Weise »strukturierte Komplexe«. Wie sich im weiteren Rückgriff auf ZIMMERMAN sagen läßt, sind diese Entitäten komplex, »for each must be composed of at least two constituents: namely, a thing and one of its properties.« Sie seien strukturiert, »inasmuch as a state is never identifiable with the simple sum of its constituents; it depends not just upon the existence of its constituents, but also upon their being related or ›structured‹ in a certain way.«682 »Chisholm’s states, Russell’s facts, Arthur W Burks’s ontological compounds, and D. M. Armstrong’s states of affairs all seem to satisfy the 679
680 681 682
S. Fußn. 683. ZIMMERMAN macht darauf aufmerksam, daß in Events without Times die These, daß jeder state die Exemplifikation einer Eigenschaft durch etwas ist, nicht ausdrücklich formuliert wird. In Substances, States, Processes, and Events setzten die Grundsätze A4 und A5 jedoch eben dies voraus. ZIMMERMAN [1997], 94, Fußn. 5. CHISHOLM [1990], 419. ZIMMERMAN [1997], 74. CHISHOLM [1985/86], 103. ZIMMERMAN [1997], 75f.
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Kapitel 3 following characterization of ›structured complex‹: a structured complex is a whole made up of things-exemplifying-properties, or propertiesbeing-exemplified-by-things. Every constituent of a structured complex is related by exemplification or its converse to another constituent, and the holding of these exemplification relations comprises the essential structure of the complex; if they were to cease to obtain, the whole would cease to be.«683
Laut CHISHOLM werden durch seinen neuen Statebegriff facts bzw Sachverhalte überflüssig, da states im Stande seien, alle Funktionen von Sachverhalten zu übernehmen. »Given our assumption that there are states, we need not also assume that there are ›facts‹. For states may perform all the theoretical functions commonly assigned to facts.«684
Da eine der »Rollen« von facts darin liege, Wahrmacher von Urteilen zu sein, aber states in der Lage seien, alle Funktionen von Wahrmachern zu übernehmen, seien states auch die neuen Wahrmacher von Urteilen. »The states of a thing may also play the role of ›truth makers‹ – those things in virtue of which beliefs, sentences and assertions may be said to be true. An obvious answer to the question, ›What is it in virtue of which the statement that John is standing is true?‹, would be: ›In virtue of that state which is John standing‹. To be sure, we could also answer the question by saying: ›In virtue of the fact that John is standing‹. But […] if we have the concept of a state we need not assume that there are also such things as ›facts‹.«685
States sind in CHISHOLMS Augen aber nicht nur ein strukturiertes Ganzes von Teilen und diese strukturierten Komplexe sind nicht nur die Wahrmacher von Urteilen. Eine besondere weitere Eigenschaft von states er683 684 685
ZIMMERMAN [1997], 76. CHISHOLM [1985/86], 104. CHISHOLM [1985/86], 98. »For every sentence S of the form ›a is F‹, S expresses a state of a if and only if S is true.« BRANDL [1997], 467. »The primary role of a state is that of being a truth-maker. Further, states are the entities which are related by causation. The judgement ›I have a toothache‹ is made true by my state of having a toothache […].« VAN DER SCHAAR [1997], 302.
Zur Geschichte des Sachverhaltsbegriffs
263
blickt CHISHOLM darin, daß sie die Entitäten sind, die in Kausalrelationen treten. »The necessity for making use of the concept of the state of a thing is most clear in the case of causation. An individual thing may be said to enter into causal relations via its states. For example, we may say of a person that his good health contributes causally to his winning the race. In such a case the contributing cause is the person’s being in good health and the effect is his winning the race. We may generelize and say that there exists an x such that x being in good health contributed causally to x winning the race. The terms in our generalization – namely, ›x being in good health‹ and ›x winning the race‹ – can be reinterpretad only as refering to states of the person designated by ›x‹. The contributing cause is neither that contingent substance which is the person nor that abstract object which is the attribute of being in good health.«686
Damit sind für den späten CHISHOLM dieselben Entitäten, welche Urteile wahr machen, auch die für wirkursächliche Beziehungen in Frage kommenden Relate.
686
CHISHOLM [1985/86], 98.
4. ÜBER DAS SOSEIN UND DASEIN VON SACHVERHALTEN 4.1 Sprachliche Erscheinungsformen, in denen Sachverhalte zum Ausdruck gebracht werden können Es gibt, wie SEIFERT richtig bemerkt, »viele Redeweisen«, durch die Sachverhalte bezeichnet werden.687 STUMPF hat bereits deutlich herausgestellt, daß Sachverhalte sprachlich einerseits in daß-Sätzen und andererseits in substantivierten Infinitiven zum Ausdruck kommen. Bei MEINONG wird insbesondere deutlich, daß positive und negative Sachverhalte durch daß-Sätze ausgedrückt werden. Diese beiden sprachlichen Ausdrucksformen für Sachverhalte, wie daß die Rose rot ist und das Rot-seinder-Rose, stellen in der deutschen Sprache ein ganz selbstverständliches und »natürlich gewachsenes« Phänomen dar und dürften die beiden grundlegendsten sprachlichen Bezeichnungen für Sachverhalte sein. Dementsprechend zielen Redewendungen wie »daß etwas ist« oder »daß etwas nicht ist«, »daß es so« oder »daß es nicht so ist«, auf Sachverhalte ab, wie SEIFERT zeigt. SEIFERT macht aber zu Recht darauf aufmerksam, daß noch mehr sprachliche Ausdrücke auf Sachverhalte abzielen. So werden auch durch die Ausdrücke »Tatsache« und »Fakten« (in aller Regel) »bestehende Sachverhalte« bezeichnet.688 Allerdings ist hier eigens zu beachten, daß durch diese Ausdrücke nicht Sachverhalte überhaupt, sondern bestehende Sachverhalte bezeichnet werden. Ein Sachverhalt, der nicht besteht, ist aufgrund seines Nichtbestehens keine Tatsache bzw. kein Faktum. Die Ausdrücke »bestehender Sachverhalt« und »Tatsache« bzw. »Fakt(um)« werden mithin synonym gebraucht. Wird z.B. eine Gegebenheit, deren Sosein von der Art b-sein oder nicht-b-sein-des-A z.B. bloß gedacht, fingiert, geträumt oder halluziniert, dann handelt es sich zwar um einen Sachverhalt, aber nicht um eine Tatsache oder ein Faktum. Tatsache oder Faktum ist ein Sachverhalt, der als solcher auch »der Fall« ist, als Sachverhalt auch »existiert« oder besser besteht. GROSSMAN schreibt dazu treffend:
687 688
SEIFERT [1996], 340. SEIFERT [1996], 340.
266
Kapitel 4 »A fact is a state of affairs which exists. To this category belongs the state of affairs that the earth is round, but not the state of affairs that the earth is flat.« 689
Mit dem, was »der Fall« ist, tritt noch ein weiterer möglicher Ausdruck für Sachverhalte ins Blickfeld. Es sei daher auch in Wendungen wie »Es ist der Fall, daß…« von Tatsachen die Rede, wie SEIFERT zu Recht sagt.690 Zu beachten ist hier, daß mit dem Ausdruck »Tatsache« und »Faktum« in aller Regel bestehende positive und negative Sachverhalte gemeint sind, gerade auch im herkömmlichen Sprachgebrauch. WITTGENSTEINS Reservierung des Ausdrucks »Tatsache« auf bestehende positive Sachverhalte entspricht durchaus nicht dem Sprachgebrauch. Auch seine Reservierung des Ausdrucks »negative Tatsache« für positive Sachverhalte, die nicht bestehen, ist Ausdruck einer ontologischen Reflexion, welche sich wohl bewußt von den Implikationen der sprachlichen Konvention absetzt. Ferner bezeichneten, wie SEIFERT bemerkt, Ausdrücke wie »Begebenheiten«, »Begebnisse«, »Ereignisse«, »Geschehen« und »Geschehnisse« bestehende Sachverhalte. Ebenso könnten Wendungen wie »Es gibt X« oder »Es gibt X nicht« Sachverhalte bezeichnen.691 Allerdings können gerade Ausdrücke wie »Ereignis«, »Begebnis«, »Geschehen« auch Anlaß zu gravierenden Verwechslungen geben. Solch eine Verwechslung liegt etwa dann vor, wenn man mit CHISHOLM meint, daß Ereignisse oder Geschehnisse nichts anderes seien als Sachverhalte bzw. eine Art von Sachverhalten. Gerade angesichts des Ausdrucks »Ereignis« erweist sich eine sachgemäße Vergegenwärtigung nicht etwa der Bezeichnung, sondern der bezeichneten Daten als notwendig. 4.2 Formale Kennzeichnung der ontologischen Struktur von Sachverhalten Soeben ist deutlich geworden, durch welche sprachlichen »Gewänder« auf Sachverhalte abgezielt wird oder abgezielt werden kann. Aber gerade im Hinblick auf die Verschiedenheit der sprachlichen Ausdrücke für Sach689 690 691
GROSSMANN [1983], 328. SEIFERT [1996], 340. SEIFERT [1996], 340.
Über das Sosein und Dasein von Sachverhalten
267
verhalte und im Hinblick darauf, daß sich Worte im Laufe der Zeit zu ändern pflegen oder dieselben bleiben, aber prinzipiell andere Bedeutungen annehmen können, zeigt, daß kein sprachlicher Ausdruck, mag man ihn aufgrund von »Gewohnheit« mit noch so großer »Natürlichkeit« auf ein bestimmtes außersprachliches Datum beziehen, notwendigerweise auf dieses Datum bezogen ist. Wäre ein notwendiger Zusammenhang zwischen einem sprachlichen Zeichen und dessen Gegenstand gegeben, so müßte es auch in allen faktisch gegebenen und faktisch denkbaren Sprachen einen identischen Ausdruck geben. Wäre ein notwendiger Zusammenhang zwischen vielen sprachlichen Zeichen einer Sprache oder den vielen Zeichen aus den verschiedensten Sprachen und deren Gegenstand gegeben, so könnten alte Bezeichnungen nicht verloren gehen und neue nicht gebildet werden. Derartige Notwendigkeiten zu behaupten, wäre offenkundig falsch. Deshalb darf eine Untersuchung der in Frage stehenden Gegenständlichkeit keinesfalls an den sprachlichen Zeichen, welche bloß auf diese Gegenständlichkeiten verweisen, »hängen« bleiben. Man kann noch so sehr auf einen sprachlichen Ausdruck als solchen, wie »daß Peter daheim ist«, blicken. Alles, was man endecken wird, sind Laute, Buchstaben und Silben. Am sprachlichen Ausdruck als solchem findet sich nichts vom Sachverhalt. Vielmehr ist es notwendig, daß man von der Bezeichung zum Bezeichneten übergeht bzw. nicht an der Bezeichnungen hängen bleibt und sich das in Frage stehende sachliche Datum möglichst deutlich zur Gegebenheit bringt. Gerade auch im Fall von Sachverhalten gilt PLATONS Wort im Dialog Kratylos, wonach »man die Dinge nicht aus den Worten, sondern viel mehr aus sich selbst kennen lernen und erforschen soll als aus den Worten.« [Übers. DEUSCHLE]692
Diese Notwendigkeit wird bereits deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß es sich bei daß-Sätzen einerseits und substantivierten Infinitiven andererseits um zwei völlig verschiedene grammatikalische, d.h. zwei völlig verschiedene sprachliche Phänomene handelt. Von einer Identität kann hier keine Rede sein. Aber das, was zwei verschiedene sprachliche 692
»o ti ouk ex onomatwn alla polu mallon auta ex ou twn kai mavhteon kai zhthteon h ek twn onomatwn.« Plat. Krat. 439b.
268
Kapitel 4
Ausdrücke wie »daß die Rose rot ist« und »Rot-sein-der-Rose« auf verschiedene (nichtidentische) Weise bezeichnen, ist ein und derselbe Sachverhalt. Hier, auf der sachlichen Seite, läßt sich eine und nur eine Gegebenheit identifizieren. Und es ist dieses sachliche Datum des Sachverhalts, das in Frage steht und nach einer Untersuchung verlangt. MEINONG formuliert im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen Seinsobjektiven und Soseinsobjektiven eine von konkreten Inhalten absehende und allgemeine Kennzeichnung von Sachverhalten. Sowohl bei den Seinsals auch bei den Soseinsobjektiven unterscheidet MEINONG zwischen einer positiven und einer negativen Form, wie oben bereits deutlich gemacht. Positive Seinsobjektive kennzeichnet MEINONG als »daß A ist« und negative als »daß A nicht ist«. Entsprechend spricht MEINONG von positiven Soseinsobjektiven als »daß A B ist« und von negativen als »daß A nicht B ist«. REINACH kennzeichnet positive Sachverhalte im Bemühen um eine genaue Abgrenzung als das »b-sein-des-A« und negative Sachverhalte als das »nicht-b-sein-des-A«.693 Damit sieht REINACH ebenso wie MEINONG von jeder Materie und jedem konkreten Sachverhalt ab. Mit diesen Formeln werde, so SEIFERT, nur die »allgemeinste Seinsform« und »formalontologische Struktur« des Sachverhalts beschrieben.694 SEIFERT bemerkt aber zu Recht, daß diese Kennzeichnung(en) trotz ihrer Präzision »noch nach größerer Präzision verlangt.«695 Denn aufgrund der Verschiedenheit von positiven und negativen Sachverhalten stellt sich die Frage, wie Sachverhalte überhaupt zu kennzeichnen sind, so daß die mögliche Positivität und Negativität der Sachverhalte bereits eingeschlossen ist. Hierzu schreibt SEIFERT treffend: »Eine einzige Formel für diese originäre, nicht ableitbare ontologische Struktur des Sachverhalts zu finden, die der Tatsache Rechnung trüge, daß Sachverhalte sowohl positiv als auch negativ sein können, ist schwer zu finden.«696
693 694 695 696
REINACH [1989], 114. 116. SEIFERT [1996], 329. SEIFERT [1996], 329. SEIFERT [1996], 329.
Über das Sosein und Dasein von Sachverhalten
269
SEIFERT macht darauf aufmerksam, daß die einfache Formel b-sein-des A, sofern man durch sie Sachverhalte überhaupt zu kennzeichnen sucht, schlicht unberücksichtigt läßt, daß es neben positiven auch negative Sachverhalte gibt (nicht-b-sein-des-A). Die Formel b-sein des A gleichsam als Einheitsformel zu verwenden, welche negative Sachverhalte einschließen soll, sei, wie SEIFERT betont, »irreführend«.697 Noch irreführender wäre es, die negative Formel als Formel für Sachverhalte überhaupt heranzuziehen, wie sich ergänzend bemerken läßt. Daher schlägt SEIFERT als Kennzeichnung der ontologischen Struktur der Sachverhalte eine disjunktive Formel vor, die tatsächlich von »größerer Präzision« ist. Sachverhalte überhaupt sind demnach als »das a-sein oder nicht-a-sein eines B« zu bezeichnen.698 Wenn im folgenden von Sachverhalten gesprochen wird, dann ist jenes Datum oder jene Art von Gegebenheit gemeint, deren Struktur durch das b-sein-oder-nicht-b-sein-des-A beschrieben werden kann. Im folgenden soll, je nachdem, ob ein positiver oder negativer Sachverhalt im Blick steht, der Einfachheit halber die entsprechende einfache positive oder negative Formel verwendet werden, falls es nicht ohnehin zu einer um Beispiele bemühten »materialen« Darstellungsweise kommt. So sehr auch alle obigen Strukturkennzeichnungen von Sachverhalten, diese von allen anderen möglichen und wirklichen Wesen abgrenzen sollen und damit im weitesten Sinn des Wortes Definitionen darstellen, gilt doch von allen, was REINACH im Hinblick auf seine Kennzeichnungen der postiven und negativen Sachverhalte sagt: Es handelt sich nicht um Definitionen im »schulgemäßen« Sinn. Durch die obigen Formeln werden Sachverhalte nicht nach nächstliegender Gattung und spezifischer Differenz eingekreist und abgegrenzt. Eine schulgemäße Definition sei, so REINACH, hinsichtlich ihrer Leistungskraft im Fall von Sachverhalten ebenso fragwürdig wie im Fall anderer »letzter gegenständlicher Gebilde […] wie Ding oder Vorgang« (s.u.). Der ernstgemeinte Versuch, Sachverhalte entsprechend abzugrenzen, würde in der Tat bereits darauf hindeuten, daß man nicht erfaßt hätte, um welche Art von Gegenstand es geht. Denn Sachverhalte stellen so sehr eine Gegebenheit sui generis dar, daß ihre ein-
697 698
SEIFERT [1996], 329f. SEIFERT [1996], 330.
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Kapitel 4
deutige Erfassung und Abgrenzung wesentlich vom unausgesetzten Blick auf diese selbst abhängt. Daher schreibt REINACH: »Entscheidend in solchen Fragen kann nur das unmittelbare Ins-AugeFassen der Phänomene sein […].«699
Erst dieser Blick auf Sachverhalte selbst und die unausgesetzt auf die Sache blickende »Beschreibung« des Vergegenwärtigten versetzt den Betrachter in die Lage, Sachverhalte von allen Phänomenen, mit denen sie verwechselt werden oder verwechselt werden können, eindeutig abzugrenzen.700 Daher muß im Hinblick auf Strukturkennzeichnungen von der Art, wie sie oben dargestellt wurden, dasselbe gesagt werden wie das, was REINACH im Hinblick auf Kennzeichnungen und Abgrenzungen wie »Sachverhalte sind das, ›was im Urteil geglaubt und behauptet wird […]‹«, sagt: »Schulgemäße Definitionen des Sachverhaltes sind sie freilich nicht, aber es fragt sich, ob Definitionen für solche letzte gegenständliche Gebilde, wie Sachverhalt, Ding oder Vorgang, überhaupt möglich sind, und was sie, falls sie möglich wären, zu leisten vermöchten. Das, was uns in solchen Problemzusammenhängen einzig zu fördern vermag, ist, daß wir solche Gebilde aus der Sphäre bloßen Meinens oder inadäquaten Vorstellens heraus uns so nahe als möglich rücken.«701
699 700
701
REINACH [1989], 127. Gerade auch im Hinblick auf Sachverhalte gilt REINACHS Feststellung: »Man kann nur auffordern, hinzusehen und sich von seiner Einzigkeit zu überzeugen.« REINACH [1989], 129. REINACH, [1989], 117. Auch SEIFERT sieht trotz der »größeren Präzision« der disjunktiven Formel eine Restunschärfe: »Auch diese Formel für die allgemeine ontologische Struktur des Sachverhalts kann als solche weder den positiven noch den negativen Sachverhalt korrekt definieren, sondern bedarf noch zusätzlicher Klärungen.« SEIFERT [1996], 330. Hinsichtlich der Unmöglichkeit, Sachverhalte zu »definieren«, gilt dasselbe, was SEIFERT von der Nichtdefinierbarkeit des Seins und der Erkenntnis sagt: »This impossibility of defining should not be interpreted […] as excluding any statements which give the essential characteristics of these data and deliniate them from other things. In this sense we can ›define‹ even the most irreducible things.« SEIFERT [1987], 14. Auf die philosophisch äußerst bedeutsame Thematik des Zusammenhangs zwischen schlechterdings nichtreduzierbaren Gegebenheiten (»Urphänomenen«) und Definierbarkeit und auf die hier zu berücksichtigende Vieldeutigkeit des Terms
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Zum Gegenstand dieser Arbeit gehört nicht die Untersuchung aller möglichen Typen von Sachverhalten, ja nicht einmal die Untersuchung verschiedener Typen von Sachverhalten. Von Interesse sind hier die grundlegenden Wesenseigenschaften von Sachverhalten überhaupt. Deshalb werden im Mittelpunkt dieser Arbeit immer wieder Sachverhalte von der grundlegenden Form, daß A b ist oder daß A nicht b ist, stehen. Es handelt sich mithin um jene Sachverhalte, die durch positive und negative kategorische Urteile thematisiert werden. Daß der Sachverhalt eine Gegebenheit sui generis darstellt, werden die nachfolgenden Untersuchungen zeigen. So soll deutlich werden, daß Sachverhalte z.B. nicht auf Sachen reduziert werden können, deren »Verhalten« in Sachverhalten zum Ausdruck kommt. Vielmehr sind Sachverhalte etwas völlig anderes als Sachen und deren Verhalten. Ja, die Bezeichnung »Sachverhalt« legt die Äquivokation nahe, daß Sachverhalte nichts anderes sind als eine Sache und ihr Verhalten. Ferner soll etwa zum Ausdruck kommen, daß Sachverhalte nicht ein Verhältnis, eine Beziehung und damit eine Relation sind. Das Wort Sachverhalt könnte ja dazu verleiten, sie selbst als ein Verhältnis und damit als eine Relation zwischen irgendwelchen Relaten anzusehen. Wenn dem so wäre, müßte man sagen: »Sachverhalte sind nichts anderes als Relationen.« Wenn es hoch kommt, sind sie vielleicht als eine besondere Art von Relation anzusehen. In diesem Fall wäre ein Sachverhalt irgendwie nichts anderes als ein Verhältnis zwischen irgendwelchen Sachen. Daß Annahmen wie diese unzutreffend sind, wird unten darzustellen sein. Gleichzeitig soll durch alle sachlich nötigen Unterscheidungen die Gegebenheit sui generis herausgestellt werden, die »Sachverhalt« genannt wird. 4.3 Unterscheidung zwischen Sachverhalt und »Urteil« 4.3.1 Allgemeiner Durchgang durch die Unterscheidungen Aussagesätze, Urteilsakte und Urteilsinhalte sind drei völlig verschiedene Gegebenheiten. Sie hängen zwar eng miteinander zusammen, dürfen »Definition« kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. S. dazu etwa SEIFERT [1996], 103-124.
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aber gerade deshalb nicht miteinander verwechselt werden.702 Und so wenig, wie diese drei Gegebenheiten untereinander verwechselt werden dürfen, darf irgendeine von ihnen mit Sachverhalten verwechselt werden. Aber im lebendigen Sprachgebrauch und selbst in systematischen Untersuchungen wird ein und derselbe Ausdruck »Urteil« immer wieder sowohl für Aussagesätze, Urteilsakte und Urteilsinhalte herangezogen. Wie im historischen Teil bereits deutlich geworden sein dürfte, werden sogar Sachverhalte insofern als »Urteile« bezeichnet, als sie, wie etwa bei STUMPF, MARTY und zuweilen bei MEINONG, für »Urteilsinhalte« gehalten werden. Derselben Verwechslung erliegt aber auch FREGE, wenn er schreibt: »Facts, facts, facts cries the scientist if he wants to bring home the necessity of a firm foundation for science. What is a fact? A fact is a thought that is true.«703
WITTGENSTEIN nennt auch Aussagesätze ausdrücklich Tatsachen, d.h. er hält Aussagesätze für eine Art von bestehenden Sachverhalten. Das macht deutlich, wie wichtig eine Unterscheidung derart verschiedener Gegebenheiten wie Aussagesatz, Urteilsakt, Urteilsinhalt und Sachverhalt ist. GROSSMAN macht auf die Verschiedenheit der genannten Gegebenheiten treffend aufmerksam, wenn er schreibt: »On our view […] we have one of three different things in mind when we spreak of an assertion, a judgment, an assumption, etc., namely, we may mean the individual mental act, or we may mean its content, or thirdly we may mean its object, a certain state of affairs. All of these entities must be distinguished, furthermore, from the inscription and noises which we use to communicate.«704
In sämtlichen Fällen, in denen abgelehnt wird, daß es Urteilsinhalte als »Bedeutungen« von Aussagesätzen bzw. mit Urteilsakten nicht zu verwechselnde Urteilsinhalte überhaupt gibt, aber gleichzeitig daran festgehal702
703 704
»Propositions are to be distinguished from three phenomena to which they are related: Declarative sentences, acts of judgment and states of affairs.« WENISCH [1988], 112f. Zit. nach. MCGRATH [2005], § 9. GROSSMANN [1983], 341.
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ten wird, daß die Wahrheit irgendwie in einer Korrespondenz besteht, können Sachverhalte rasch zu »Lückenbüßern« für Urteilsinhalte werden, wie dies je auf verschiedene Weise bei STUMPF, MARTY und MEINONG der Fall ist. Die folgenden Ausführungen über den wesentlichen Unterschied zwischen Aussagesätzen, Urteilsakten, Urteilsinhalten und Sachverhalten erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Hier wird lediglich behandelt, was für die gegebene Thematik bedeutsam und unerläßlich ist. Die nötigen Unterscheidungen sollen zunächst in einem Überblick getroffen werden. Dies erfolgt vorwiegend im Rückgriff auf die entsprechenden Ausführungen bei WENISCH, denn diese sind ungemein eingängig gestaltet.705 Zu den wesentlichsten Formen der geistigen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit gehört es, Feststellungen zu machen oder genauer, Behauptungen aufzustellen bzw. Urteile zu fällen. Werden die aufgestellten Behauptungen sprachlich artikuliert, so geschieht dies durch Sätze, welche der Grammatiker als »Aussagesätze« bezeichnet.706 Im gegebenen Zusammenhang läßt sich der Aussagesatz mit WENISCH folgendermaßen veranschaulichen: Eine Person, deren Muttersprache Deutsch ist, könnte den Aussagesatz »Wien ist eine große Stadt« formulieren. Würde nun eine Person, welche die deutsche Sprache in keiner Weise beherrscht, mit diesem Aussagesatz konfrontiert, so könnte sie den gesprochenen Satz zwar hören, aber sie könnte nicht verstehen, was der Aussagesatz bedeutet. Wenn der Aussagesatz schriftlich vorliegt, dann könnte diese Person den Satz sogar lesen bzw. ablesen. Vorausgesetzt wäre lediglich, daß die Person das lateinische Alphabet beherrscht. Dasselbe gilt im Fall einer schriftlichen Vorlage. Es wäre einer Person, welche der deutschen Sprache nicht mächtig ist, ein Leichtes, den deutschen Aussagesatz nieder- bzw. abzuschreiben. Da diese Person die Bedeutung des Satzes nicht versteht, würde 705
706
S. WENISCH [1988], 112-116. Dies betrifft die Abschnitte 4.3.1-4.3.5. Diese Abschnitte folgen WENISCH auch insofern, als zunächst ein allgemeiner Überblick und dann die detaillierteren Unterscheidungen folgen. WENISCH [1988] ist in Englisch geschrieben. Gewisse Inhalte, wie etwa der Bezug auf die englische Sprache, wurden für die vorliegenden Zwecke entsprechend modifiziert. Bekanntlich spricht der Grammatiker von »Aussagesatz« im Unterschied zu entsprechenden anderen Satzformen, wie Befehls-, Wunsch- und Fragesätzen. S. auch WENISCH [1988], 113. S. auch PFÄNDER [2000]. 31.
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sie freilich auch nicht verstehen, daß es sich um einen Aussagesatz handelt. Aber selbst wenn diese Person die Bedeutung des Aussagesatzes nicht verstünde, könnte sie etwa das Artikulieren des Satzes so lange üben, bis jeder, der Deutsch spricht, dessen Bedeutung versteht und damit auch versteht, daß es sich um einen Aussagesatz handelt.707 Es ist also für das Vorliegen, Aussprechen und Niederschreiben eines Aussagesatzes gar nicht maßgebend, daß er in seiner Bedeutung und grammatikalischen Eigenart verstanden wird. So wird deutlich: Der Aussagesatz ist ein sprachliches Zeichen. Als Zeichen verweist er auf etwas anderes, er bezeichnet dieses Andere und ist als dessen Bezeichnung von diesem verschieden. Der Urteilsakt »is«, wie WENISCH sich ausdrückt, »the individual psychological event occuring in the mind of a given person who utters or reads or formulates in his mind the sentence ›Vienna is a large town‹ […].«708 Anders gewendet: der »Urteilsakt« ist die geistseelische oder psychische Aktivität des Urteilens oder der seelische Prozeß selbst, der sich vollzieht, wenn geurteilt wird.709 Für das Vorliegen eines Urteilsaktes ist, wie sich mit WENISCH zeigen läßt, insbesondere zweierlei notwendig: Erstens kann nur dann ein Urteilsakt vorliegen, wenn die Person, welche einen Aussagesatz äußert (utters), liest (reads) oder rein gedanklich formuliert (formulates in his mind the sentence) auch dessen Bedeutung versteht (clearly understands its meaning). Zweitens muß der Urteilende der Überzeugung sein, daß das, was der Aussagesatz bedeutet, auch wahr ist (he also assents to the truth of this meaning). Daher betont WENISCH auch zu Recht:
707
708 709
»This declarative sentence can be seen (if it is written) or heard (if it is spoken) also by a person who does not know English at all […]. If he does not know English at all, he will neither understand the sentence (in spite of the fact that, in a significant sense, he sees or hears exactly the same as a person who understands the sentence, as is borne out by the fact that he can learn to repeat the sentence such that everyone capable of understanding English will also understand the particular sentence repeated by this person in parrot fashion) nor be able to understand it as a declarative sentence.« WENISCH [1988], 113. WENISCH [1988], 113. Die Bezeichnungen »psychologisch«, »seelisch« und »geistseelisch« werden hier synonym verwendet.
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»There would be no act of judgement if a person would, for example, merely utter the sentence such that he understands its meaning, but not also assent that what is meant is true.«710
Der »Urteilsakt ist« demnach »der individuelle, einmalige psychische Akt einer Person«, der nur vorliegen kann, wenn diese Person auch »ein bestimmtes Urteil fällt.«711 Die Aktivität einer seelichen Urteilssetzung impliziert also notwendigerweise ein »Behauptungsmoment« (PFÄNDER) und das Verständnis des Geurteilten. Es kann demnach zu grammatikalisch völlig tadellosen Äußerungen von Aussagesätzen kommen, ohne daß diese Verlautbarungen mit der Denktätigkeit des Urteilens oder dem Urteilsakt einhergehen müßten. Freilich können auch Urteile gefällt, aber in keiner Weise zur Sprache gebracht werden. Aber während das Äußern eines Aussagesatzes nicht mit Notwendigkeit an das Verständnis seiner Bedeutung gebunden ist, ist das Vorliegen eines Urteilsaktes untrennbar mit dem inhaltlichen Verständnis des Geurteilten und mit der »behauptenden Setzung« (PFÄNDER) dieses Inhaltes verbunden. Der Urteilsinhalt ist nun die Bedeutung (meaning) eines Aussagesatzes oder der »Gedanke« (PFÄNDER), der durch den Aussagesatz als sprachlichem Mittel der Kommunikation bezeichnet werden kann. Wichtig ist: Die Bedeutung des Aussagesatzes besteht nicht in der Denk- bzw. Urteilstätigkeit der Psyche. Die Bedeutung des Satzes besteht vielmehr im Gedachten oder dem Inhalt des Urteilsaktes. Durch den Urteilsakt wird »etwas« gedacht. Dieses gedachte Etwas (Urteilsinhalt) ist selber aber nicht mehr eine Denktätigkeit (Urteilsakt), da das Gedachte seinerseits nicht wieder etwas denken kann, und das Geurteilte kein Urteilen ist. Urteilsinhalte werden demnach durch Urteilsakte gedacht und durch Aussagesätze sprachlich zum Ausdruck gebracht. »The proposition may be described as the meaning of the declarative sentence or as the content of the act of judgement. The relationship between declarative sentences and propositions is such that propositions are expressed by means of declarative sentences.«712
710 711 712
WENISCH [1988], 113. WENISCH [1976], 28. WENISCH [1988], 113.
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Die Urteilsinhalte sind als das, was geurteilt wird, auch notwendigerweise die eigentlichen Träger von Wahrheit und Falschheit. Wenn von der Wahrheit oder Falschheit eines Aussagesatzes gesprochen wird, dann liegt ein abgeleiteter Wortgebrauch vor, wie WENISCH zeigt, da ein Aussagesatz für sich betrachtet weder wahr noch falsch, sondern höchstens grammatikalisch korrekt oder nicht korrekt ist. »The proposition is the entity of which truth and falsity are primarily predicated. Truth and falsity may only in a derived sense be predicated of declarative sentences.«713
Wenn in dieser Arbeit von »Urteilen« gesprochen wird, dann immer im Sinne des Urteilsinhaltes. Eventuelle Ausnahmen werden ausdrücklich hervorgehoben.714 Der Sachverhalt schließlich ist das, von dessen Bestehen oder Nichtbestehen die Wahrheit oder Falschheit eines Urteils(-inhaltes) abhängt. »Truth and falsity of propositions are dependent on states of affairs in the following way: A proposition is true if the state of affairs posited by the proposition obtains; a proposition is false if this state of affairs does not obtain.«715
Daher bezeichnet HUSSERL den Sachverhalt auch als »Wahrmacher«. Der Sachverhalt ist mithin das adäquate objektive Korrelat oder der eigentliche Gegenstand des Urteils. Dieser Zusammenhang betrifft sowohl positive als auch negative Urteile. Ein negatives Urteil ist ebenfalls nur dann wahr, wenn genau der negative Sachverhalt, auf den es behauptend abzielt, auch selbsteigen und unabhängig vom Urteil besteht.716 Aufgrund dieses Zusammenhangs kann ausschließlich bei wahren Urteilen beider Qualitäten von »Korrespondenz« die Rede sein. Bei falschen Urteilen kann just aufgrund ihrer Falschheit keine Korrespondenz vorliegen. Das falsche Urteil visiert zwar kraft der wesentlich implizierten Behauptung notwen713 714
715 716
WENISCH [1988], 113. Während der Ausdruck »Urteil« ausgesprochen vieldeutig sein kann, werden die Ausdrücke »Urteilsinhalt« und »Proposition« in dieser Arbeit synonym gebraucht. Dies entspricht der in aller Regel allgemein üblichen Verwendung. WENISCH [1988], 114. S. dazu die entsprechenden Inhalte des Abschnitts 4.9.
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digerweise einen Sachverhalt als bestehend an. Als Urteil erhebt es, wie CAJTHAML sich im Rückgriff auf PFÄNDER ausdrückt, »den Anspruch darauf, daß der Sachverhalt, dessen Sein bzw. Bestehen durch das Urteil behauptet wird, wirklich so ist, wie er durch das Urteil behauptend gesetzt wird.« Aber dieser »Anspruch braucht selbstverständlich nicht immer erfüllt zu sein.«717 Da im Fall eines falschen Urteils bzw. einer falschen Behauptung dieser als bestehend anvisierte Sachverhalt gerade nicht besteht, steht die Behauptung auch in keiner Übereinstimmung mit dem von ihr als bestehend intendierten Sachverhalt. 4.3.2 Eingehendere Unterscheidung zwischen Urteilsakt und Urteilsinhalt Trotz enger, ja notwendiger Zusammenhänge sind der Urteilsakt und der Urteilsinhalt doch zwei völlig voneinander verschiedene Gegebenheiten. Der Urteilsakt ist notwendigerweise ein Denken, und zwar ein Denken an etwas. Der Urteilsinhalt hingegen wird zwar gedacht, kann seinerseits aber unmöglich ein Denken oder eine Denktätigkeit bzw. ein Urteilen oder ein Urteilsakt sein, und schon gar nicht denkt der Urteilsinhalt an oder urteilt der Urteilsinhalt über etwas. Durch den Urteilsakt wird der Urteilsinhalt »Peter ist daheim« gedacht. Die urteilende Person denkt (»an«) den Inhalt »daß Peter daheim ist« aber der gedachte Inhalt kann unmöglich denken bzw. urteilen, »daß Peter daheim ist«. Eine Psyche vermag zu denken und zu urteilen, aber die durch eine Psyche gedachten Inhalte und mit ihnen die Urteilsinhalte sind keine Psychen und können als solche auch unmöglich jemals lebendiges Denken sein.718 Selbst dann, wenn eine Psyche an eine denkende Psyche denkt, kann die gedachte denkende Psyche unmöglich ihrerseits ein Denken sein und an etwas denken! Selbst dann, wenn eine 717
718
CAJTHAML [2003], 154f. »Jedes Urteil erhebt den Anspruch auf Wahrheit. Es ist nicht ein Urteil und macht dann außerdem noch den Anspruch auf Wahrheit. Sondern ohne solchen Anspruch ist es überhaupt kein Urteil.« PFÄNDER [2000], 78. S. auch ebd. 69. Diese Einsichten werden hier freilich nicht zum ersten Mal formuliert. Vielmehr handelt es sich hier um eine Anwendung des schon oft herausgestellten notwendigen Sachverhalts, daß Gedanken unmöglich reale Bestandteile des Denkens sein können, auf die Gedankenart Urteilsinhalt und die Denkform Urteilsakt. S. dazu etwa PFÄNDER [2000], 15ff.
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Psyche ein Urteil über einen Urteilsakt fällt, kann diese gedachte Urteilstätigkeit unmöglich ein Urteilen oder eine Urteilstätigkeit sein. Es wird deutlich, daß Akte und deren Inhalte bzw. Urteilsakte und deren Urteilsinhalte völlig verschiedene und wechselseitig nicht mitteilbare Eigenschaften besitzen. Folglich müssen sie wesentlich voneinander verschieden sein. Die wesentliche Verschiedenheit von Urteilsakt und Urteilsinhalt läßt sich darüber hinaus in der folgenden Weise zur Einsicht bringen. Die Akte bzw. Urteilsakte verschiedener Psychen oder besser verschiedener Personen sind notwendigerweise voneinander verschieden. So wenig wie zwei Psychen oder Personen je ein und dieselbe Psyche bzw. Person sein können, so wenig können die jeweiligen Akte dieser Personen jemals identisch sein. WENISCH schreibt dazu: »In order to grasp the difference between propositions and acts of judgment, it must be remembered that, if two persons judge ›2 + 2 = 4‹, there are two individual acts of judgment occuring in different minds. Even if one and the same person judges today and tomorrow that ›2 + 2 = 4‹, there are two different acts of judgement, occuring in the same mind at different times.«719
Wenn z.B. zwei Personen das Urteil »a2 + b2 = c2« fällen, dann kann das Denken dieses Inhaltes durch die beiden Personen unmöglich dasselbe sein. Von der Selbigkeit der Denkakte kann auch dann nicht gesprochen werden, wenn ein und dieselbe Person »today and tomorrow« das Urteil »a2 + b2 = c2« fällt. Schon hier ist unmittelbar einsichtig, daß die fraglichen Akte als Akte verschieden sind, denn entweder handelt es sich, wie WENISCH treffend sagt, um »different acts of judgment occuring in different minds« oder um »different acts of judgment occuring in the same mind at different times«. Fällen mehrere Personen das Urteil »a2 + b2 = c2«, dann liegen auch mehrere Urteilsakte vor. Fällt eine Person mehrmals das Urteil »a2 + b2 = c2«, dann liegt auch eine entsprechende Anzahl verschiedener Urteilsakte vor. Im Unterschied dazu eignet Urteilsinhalten notwendigerweise die Eigenschaft, daß ein und derselbe identische Urteilsinhalt von den verschiedensten Personen und deren entsprechenden verschiedenen Akten 719
WENISCH [1988], 115.
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oder von einer Person in verschiedenen Akten gedacht werden kann. WENISCH betont zu Recht, daß »[…] it would be completely meaningless to say that two persons, each of whom judges ›2 + 2 = 4,‹ state two different ›truth‹ (that is true things), or that I state a new true thing if I state today, as I did yesterday, that ›2 + 2 = 4‹. There is only one true thing, no matter how many persons or at how many times or places ›2 + 2 = 4‹ is judged. The true thing is the proposition, and there is only one proposition constituting the content of each act of judgment […]. Two persons who judge ›2 + 2 = 4‹ each perform their own individual act of judgement, different from each other. Thus, acts of judgement can be multiplied. However, both facts are sufficient evidence that the proposition must not be identified with the act of judgement.«720
All die notwendig verschiedenen Urteilsakte mehrerer Personen oder auch nur die verschiedenen Akte einer Person können nichts daran ändern, daß immer nur ein und derselbe, daß immer nur ein identischer Urteilsinhalt »a2 + b2 = c2« vorliegen kann. Sowohl die gleichzeitig urteilenden verschiedenen Personen als auch die eine zu unterschiedlichen Zeitpunkten urteilende Person »urteilen« inhaltlich betrachtet stets dasselbe und im Fall des Inhalts »a2 + b2 = c2« dieselbe Wahrheit und nicht etwa verschiedene Wahrheiten. Eine Mehrzahl gleichzeitiger Urteilsakte verschiedener Personen, aber auch eine Mehrzahl an Urteilsakten einer Person zu verschiedenen Zeitpunkten macht die Urteilsinhalte nicht zu verschiedenen, so daß man irgendwie von zwei oder mehreren Wahrheiten »a2 + b2 = c2« sprechen müßte oder davon, daß eine Person, die gestern »a2 + b2 = c2« urteilte, eine neue individuelle und von der »gestrigen« verschiedene Wahrheit urteilt, wenn sie es heute wieder tut. Es hilft auch in keiner Weise, wenn man betonte, daß die Verschiedenheit nur eine äußerst geringfügige sei. Denn worin soll, wenn eine Person um 10.43h urteilt »a2 + b2 = c2« und später um 20.01h urteilt »a2 + b2 = c2«, der inhaltliche Unterschied bestehen? Mehrere Personen behaupten oder eine Person behauptet dieselbe Wahrheit, mögen auch noch so viele Urteilsakte vorliegen. Es gibt, wie WENISCH richtig hervorhebt, nur den einen wahren Urteilsinhalt »2 + 2 = 4« oder, um beim leitenden Beispiel dieses Abschnitts zu 720
WENISCH [1988], 115f.
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bleiben, nur den einen wahren Urteilsinhalt »a2 + b2 = c2«. Die Vervielfachung der Wahrheit von »a2 + b2 = c2« in eine Mannigfaltigkeit von Wahrheiten »a2 + b2 = c2« ist unmöglich, ja, »completely meaningless« (s.o.).721 Der Inhalt der beiden Akte gleicht sich nicht und weist auch keinerlei Ähnlichkeit auf, so wie sich etwa zwei Akte insofern gleichen können, als sie an verschiedenen Tagen zur selben Uhrzeit vollzogen werden. Es handelt sich evidentermaßen immer um ein und denselben Inhalt, da es, um beim vorliegenden Beispiel zu bleiben, nur einen wahren Satz des PYTHAGORAS geben kann und nicht etwa unzählig viele zum Verwechseln ähnliche Sätze des PYTHAGORAS vorliegen können. Das Geurteilte ist stets identisch, gleich wie viele verschiedene Personen wie viele verschiedene Male eine entsprechende seelische Urteilstätigkeit vollziehen. 4.3.3 Eingehendere Unterscheidung zwischen Urteilsinhalt und Aussagesatz Urteilsinhalte werden durch Aussagesätze sprachlich zum Ausdruck gebracht. Aussagesätze bestehen aus Wörtern, und diese Wörter bestehen aus Silben und Buchstaben. Der Aussagesatz ist, wie PFÄNDER sich ausdrückt, ein »sprachliches Gebilde aus diesen Elementen.«722 Der Urteilsinhalt hingegen kann sich unmöglich aus Wörtern, Buchstaben und Silben zusammensetzen. Der Urteilsinhalt besteht vielmehr aus Begriffen, die unmöglich aus Buchstaben zusammengesetzt sein können. Umgekehrt sind Begriffe niemals Worte oder Wortbestandteile, und damit auch niemals Bestandteile von Aussagesätzen. Dies bleibt den Buchstaben und Wörtern vorbehalten.723
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722 723
»[…] if my present belief is true because it corresponds to some state, then the existence of that state would have been enough to make-true any thought that anyone could have had now which made the same ›claim‹ about the world, or which had the same ›content‹.« ZIMMERMANN [1997],79. S. auch SEIFERT [1997], 303f. PFÄNDER [2000], 33. »Der sprachliche Behauptungssatz besteht aus einzelnen Wörtern, die selbst wieder aus einzelnen Buchstaben bestehen. [...] Das in dem Satz zum Ausdruck gebrachte Urteil dagegen besteht niemals aus Wörtern, und die Elemente dieses Urteils, die Begriffe, bestehen niemals aus Wörtern. Dagegen besteht das Urteil
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Ferner läßt sich der Unterschied zwischen Aussagesätzen und Urteilsinhalten in weiterer Anlehnung an WENISCHS Gedankenfolge durch folgende Gesichtspunkte verdeutlichen:724 In sprachlicher Hinsicht ist es »possible to express one and the same proposition by means of different declarative sentences«. Wenn ein Deutscher sagt »Der Turm ist groß« und der Engländer im Hinblick auf dasselbe Gebäude sagt »The tower is big«, der Kroate hingegen hinsichtlich desselben Gebäudes spricht »Toranj je velik«, so sind die sprachlichen »Verlautbarungen«, d.h. die Aussagesätze offenbar völlig verschieden. Und doch wird stets ein und derselbe Urteilsinhalt oder ein und dieselbe Behauptung ausgedrückt, nämlich, daß der Turm groß ist. Deshalb wird in Fällen wie diesen treffend davon gesprochen, daß alle »dasselbe sagen« bzw. meinen, obwohl sie in wortwörtlicher Hinsicht gerade nicht dasselbe »sagen«. Ferner kommt es vor, daß »one and the same declarative sentence may be used in different contexts to express the same proposition.«725 Der Aussagesatz »Alle echten Schlösser werden aus Stein gebaut« steht für völlig verschiedene Urteilsinhalte je nachdem, ob der äquivoke Terminus »Schloß« gewisse herrschaftliche Gebäude oder gewisse Schließvorrichtungen bezeichnet.726 Es kann, wie sich ergänzend hinzufügen läßt, auch noch sein, daß zwei oder mehr unterschiedliche Aussagesätze derselben Sprache je denselben Urteilsinhalt zum Ausdruck bringen. Dies ist der Fall, wenn in den Aussagesätzen synonyme und daher sprachlich verschiedene Akusteme und/oder Grapheme vorkommen.727 »Das Telephon klingelt« und »Der Fernsprecher läutet« sind zwei verschiedene Aussagesätze. Aber beide stehen für denselben Urteilsinhalt, denn mit den Ausdrücken »Telephon« und »Fernsprecher« pflegt man denselben Kommunikationsapparat zu bezeichnen.728
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aus Begriffen, die niemals Bestandteile eines sprachlichen Satzes bilden.« PFÄNDER [2000], 33. S. WENISCH [1988], 114f. Die hier angeführten Beispiele weichen allerdings von denen WENISCHS ab. S. WENISCH [1988], 114. Vgl. dazu MENNES Begriff der »Ein-Mehrdeutigkeit«. MENNE [1986], 18. Vgl. dazu MENNES Begriff der »Mehr-Eindeutigkeit«. MENNE [1986], 18. Aussagesätze bestehen aus Wörtern und die Worte bestehen aus Buchstaben. Daher muß selbst die leichteste Wortverschiedenheit zu verschiedenen Aussagesätzen führen, mögen diese ansonsten auch dasselbe bedeuten. Die Terme »Te-
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Es zeigt sich, daß Aussagesatz und Urteilsinhalt, so PFÄNDER, »unabhängig« gegeneinander »variieren« können. Anders gewendet: Ein Aussagesatz kann verschiedene Urteilsinhalte bezeichnen, und ein Urteilsinhalt kann in unterschiedlich(st)en Aussagesätzen zum Ausdruck gebracht werden. »Können aber Satz und Urteil unabhängig voneinander variieren, so sind sie notwendig voneinander verschieden [Kursiv v. Verf.].«729
Mit diesem Urteil bringt PFÄNDER eine grundlegende Einsicht in einen schlechterdings notwendigen Sachverhalt zum Ausdruck.730 4.3.4 Der Urteilsinhalt als eigentlicher und der Aussagesatz als uneigentlicher Träger von Wahrheit und Falschheit Das von PFÄNDER formulierte Prinzip führt auf ein weiteres Merkmal des wesentlichen Unterschiedes zwischen Urteilsinhalten und Aussagesätzen. Im logischen Sinn wahr oder falsch ist streng genommen niemals der Aussagesatz, sondern allein der Urteilsinhalt. Der Aussagesatz kann nur in einem »derivativen Sinn« als wahr oder falsch bezeichnet werden, wie WENISCH treffend hervorhebt.731 Ein Aussagesatz ist ein sprachlicher Ausdruck, der aus sprachlichen Elementen wie Wörtern, Silben, Vokalen und Konsonanten besteht und einer bestimmten Sprache angehört. Als solcher vermag der Aussagesatz weder wahr noch falsch zu sein, da der Aussagesatz zwar eine Behauptung bezeichnet, aber als solcher nichts behaupten kann. Alvin PLANTINGA bringt dies auf den Punkt, indem er schreibt:
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lephon« und »Fernsprecher« finden sich u.a. Beispielen für Mehr-Eindeutigkeit bei MENNE [1986], 19. PFÄNDER [2000], 33. »Sprachliche Behauptungssätze lassen sich ganz gedankenlos bilden und vernehmen, ohne daß irgendwelche Urteile dabei vollzogen werden. Dies wäre natürlich unmöglich, wenn Behauptungssätze selbst schon Urteile wären. Andererseits gibt es viele Fälle, in denen zwar Urteile, aber keine Behauptungssätze gebildet werden: man hat das Urteil schon vollzogen, ehe man den angemessenen sprachlichen Satz formt.« PFÄNDER [2000], 33. »[…] truth and falsity are primarily predicated of propositions, and in a derived sense of declarative sentences.« WENISCH [1988], 114. S. auch Fußn. 713.
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»[…] truth and allied properties are at bottom […] properties of propositions, not sentences. A sentence is true, on a given occasion of its use, if on that occasion it expresses a true proposition.«732
Wenn Aussagesätze die eigentlichen Träger der Wahrheit und Falschheit wären, dann müßte es, wie GROSSMANN pointiert betont, auch möglich sein, durch die bloße eingehende Untersuchung einer Folge von schriftlichen Zeichen zu entscheiden, ob diese wahr oder falsch seien. Aber dies führe zu der absurden Meinung, man könne »Tintenflecken« Wahrheit und Falschheit so ansehen, wie man ihnen ihre Farbe ansehen kann. »The view that sentences are the bearers of truth cannot mean that inscriptions are the bearers of truth. To believe that inscriptions can be true is as absurd as to believe that ink spots or pencil doodles can be true. Truth is not among the properties which one can discover inscriptions to have. If truth were a property of inscriptions, then one should be able to tell whether or not a given inscription is true merely by carefully inspecting the inscription, without knowing what it is used to represent or express. But, of course, we cannot find out in this fashion whether or not an inscription is true as we can find out whether or not it is red.«733 »To say of the sentence ›the earth is round‹ that it is true is to say that the content expressed by the pattern exemplified by a certain inscription is true. And this, in turn, means that the content of all those beliefs, assertions, etc., which intend the fact that the earth is round is true. In short, truth and falsehood appear to be properties of contents of mental acts.«734
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PLANTINGA [1974], 1. »[…] bei genauerer Betrachtung zeigt sich, daß die Sätze nur im übertragenen Sinne wahr oder falsch genannt werden, nämlich dann, wenn die in ihnen liegenden Urteile wahr oder falsch sind, und daß die Sätze für sich nur sprachlich entweder richtig oder falsch gebildet sein können, was für die Wahrheit oder Falschheit der zugehörigen Urteile noch gar nichts ausmacht.« PFÄNDER [2000], 34. GROSSMANN [1983], 342. Vgl. dazu auch die treffenden Ausführungen bei HORWICH [1998], 16. GROSSMANN [1983], 344. »In an obvious sense, the truth of everything we say depends on how we use words. The judgment that all whales are mammals would not be true if by ›whales‹ we meant trout. But given that we mean by our words what we do mean by them, the truth of what we say about our world does not depend in any further interesting way on language. Given our use of the expression ›ground‹, even the judgment that all ground things are green is only
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Es gibt im Zusammenhang mit der Wahrheitsthematik noch ein zusätzliches Unterscheidungskriterium. Die »Wahrheit oder Falschheit eines Urteilsinhaltes ist allein vom Bestehen oder Nicht-Bestehen des behaupteten Sachverhaltes abhängig«, wie WENISCH unterstreicht. Die derivative »Wahrheit« oder »Falschheit« eines Aussagesatzes hingegen hängt in Folge der möglichen Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke zusätzlich davon ab, »welcher Urteilsinhalt zum Ausdruck gebracht wird«.735 Ein Aussagesatz wie »Alle echten Schlösser werden aus Stein gebaut« ist als sprachliches Datum (Akustem, Graphem usw.) nur dann und nur in einem abgeleiteten Sinn »wahr, wenn er Ausdruck eines wahren Urteilsinhaltes ist, er ist falsch, wenn er Ausdruck eines falschen Urteilsinhaltes ist.«736 Der Wahrheitswert einer bestimmten Behauptung kann unmöglich wechseln. Besteht der Sachverhalt, dann bleibt die Behauptung (der Urteilsinhalt), die diesen Sachverhalt thematisiert, immer wahr bzw. falsch. Der »Wahrheitswert« ein und desselben Aussagesatzes hingegen muß wechseln, wenn die Urteilsinhalte, die der Aussagesatz bezeichnen kann, wechseln. Es ist ja möglich, daß sich unter diesen verschiedenen lediglich auf dieselbe Weise bezeichneten Urteilsinhalten sowohl einmal eine wahre als ein andermal eine falsche Behauptung befindet.737 Daher hat WENISCH völlig Recht, wenn er schreibt: »The difference between […] two propositions expressed by the same declarative sentence becomes especially clear if it is seen that one is false, the other is true«.738
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true because properties behave in the logical way in which they do.« GROSSMANN [1983], 367. 344. »While truth and falsity of propositions depend on nothing but the obtaining and non-obtaining of the state of affairs posited by the proposition, truth or falsity of a given declarative sentence depend also on which proposition the sentence expresses.« WENISCH [1988], 115. »[...] a declarative sentence is true if it expresses a true proposition; it is false if it expresses a false proposition.« WENISCH [1988], 114. »While it is incorrect to consider a change of the truth value of a proposition as possible, the truth value of a declarative sentence may change if the sentence occurs in different contexts.« WENISCH [1988], 115. WENISCH [1988], 114.
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Auch hat der Wechsel des »Wahrheitswertes« eines Aussagesatzes keinerlei Auswirkung auf den jeweiligen Wahrheitswert bestimmter verschiedener Urteilsinhalte, gleichviel, ob diese nun wahr oder falsch sind.739 Demnach ist die »Wahrheit« oder »Falschheit« eines Aussagesatzes an sich völlig abhängig von der Wahrheit oder Falschheit des entsprechenden Urteilsinhalts. Aber die Wahrheit und Falschheit eines Urteilsinhalts ist an sich völlig unabhängig von der Wahrheit und Falschheit des oder der ihn bezeichnenden Aussagesätze. 4.3.5 Eingehendere Unterscheidung zwischen Urteilsinhalt und Sachverhalt Hedwig CONRAD-MARTIUS bezeichnet Sachverhalte als »seinshaft aufgegliedertes Gegenständliches« und als ein »irgendwie Gegenständliches in seinem irgendwie sein.«740 Sachverhalte werden des öfteren auch als das »Selbstverhalten eines Gegenstandes/einer Sache« beschrieben.741 Derartige Kennzeichnungen werfen freilich die unten noch eingehend zu erörternde Frage auf, ob sich Sachverhalte und Gegenstände bzw. Sachen sachlich unterscheiden, oder ob Sachverhalte letztlich doch auf Sachen zu reduzieren sind. Dabei wird sich die Ahnung des ARISTOTELES und die bereits von WODEHAM u.a. gewonnene Einsicht bestätigen, wonach irgendwelche »Gegenstände« oder »Sachen überhaupt« wie eine Tasse, eine Kerze, ein Buch oder ein Kugelschreiber schlechterdings kein Sachverhalt sein können. Ein Sachverhalt ist vielmehr, daß die Tasse aus rostfreiem 739
740 741
»It is obvious that the truth value of the declarative sentence has absolutely no impact on the truth values of the [...] propositions which the sentence expresses in […] different contexts.« WENISCH [1988], 115.; Vgl. ebd. auch die Erläuterung zu diesen notwendigen Sachverhalten am Beispielsatz »In Salzburg regnet es heute«. Der Wahrheitswert ein und desselben Urteilsinhaltes kann auch hier nicht wechseln, da dessen volle Bedeutung das Wissen einschließt, welches Datum mit »heute« gemeint ist. Wörter wie »heute«, »dieser«, »hier« etc. erhalten ihre volle Bedeutung durch den Kontext, in dem sie verwendet werden. Die Wahrheit über historische Ereignisse beispielsweise bleibt, wie SEIFERT sich im Rückgriff auf BONAVENTURA ausdrückt, ›in alle Ewigkeit‹ wahr. Auch Gott kann ein geschehenes Ereignis nicht ungeschehen machen, »weil dies in sich unmöglich ist.« SEIFERT [1976], 197. CONRAD-MARTIUS [1957], 23. So etwa von PFÄNDER [2000], 26. 81 und auch von WENISCH [1988], 116.
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Stahl gefertigt ist (Aus-rostfreiem-Stahl-gefertigt-Sein-der-Tasse), daß die Lampe rot ist (Rot-sein-der-Lampe), daß das Buch aufgeschlagen ist (Aufgeschlagen-sein-des-Buches) und daß der Kugelschreiber auf dem Tisch liegt (Auf-dem-Tisch-liegen-des-Kugelschreibers). Formal ausgedrückt handelt es sich bei Sachverhalten um das »b-sein eines A«, wie sich im Anschluß an REINACH sagen läßt. Von Gegenständen überhaupt läßt sich sagen, daß sie existieren oder nicht existieren. Bei Sachverhalten jedoch ist zu sagen, daß sie entweder bestehen oder nicht bestehen.742 Das Bestehen oder Nichtbestehen eines Sachverhaltes darf indes nicht mit der Wahrheit und Falschheit von Urteilsinhalten verwechselt werden. Nur »Urteile« im Sinn der Urteilsinhalte können im eigentlichen logischen Sinn wahr oder falsch sein. WENISCH betont daher: »It would, however, be a mistake to call state of affairs true or false. In contradistinction, each proposition is either true or false.«743
GROSSMANN hat den wesentlichen Unterschied zwischen Wahrheit und Bestand im Blick, wenn er betont: »It would be more nearly correct to say that his belief is true and that what he believes is the case.«744 PFÄNDER schreibt: »Die Verschiedenheit von Urteil und Sachverhalt zeigt sich auch darin, daß die Prädikate wahr und falsch direkt nur den Urteilen zukommen und nur indirekt in übertragenem Sinne von Sachverhalten behauptet werden können. Die Sachverhalte dagegen können bestehen oder nicht bestehen, während dies von den Urteilen zu behaupten, keinen rechten Sinn ergibt.«745
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Zum »Bestehen« und »Nichtbestehen« von Sachverhalten S. etwa PFÄNDER und KUTSCHERA unter Fußn. 745 bzw. 746. Es geht allerdings nicht allein um eine besondere Ausdrucksweise. Vielmehr reflektiert die Sprache hier treffend die besondere Daseinsart von Sachverhalten. Dies ist oben in den historischen Ausführungen bereits angeklungen und soll unten noch eigens behandelt werden. Zum wesentlichen Unterschied zwischen den Daseinsformen »Existenz« und »Bestand« s. Abschnitt 4.7 (s. auch Abschnitt 4.5). WENISCH [1988], 116. GROSSMANN [1983], 343. PFÄNDER [2000], 35f. »Ein ›wahres‹ Urteil in diesem Sinne wäre ein Gedankengebilde, das nicht nur scheinbar, sondern in Wirklichkeit ein Urteil ist.
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Diese Unterscheidung läßt sich durchaus auch bei Vertretern der analytischen Philosophie finden. So schreibt etwa KUTSCHERA: »Bei Sachverhalten spricht man ohnehin nicht von ›wahr‹ oder ›falsch‹, sondern von ›bestehenden‹ und ›nichtbestehenden‹ Sachverhalten.«746
Mit SEIFERT ist ferner zu sehen: Urteilsinhalte bestehen aus Begriffen und thematisieren immer Sachverhalte. Sachverhalte jedoch können unmöglich aus Begriffen bestehen, und sie thematisieren, meinen oder intendieren auch nicht wieder Sachen außerhalb ihrer selbst. Urteilsinhalte zeichnen sich notwendigerweise durch ein Behauptungsmoment aus. Sachverhalte wie etwa das Rot-sein-der-Tasse oder das Auf-dem-Tisch-Liegendes-Kugelschreibers sind keine Behauptungen bzw. behaupten nichts. »Denn Sachverhalte bestehen nicht wesenhaft aus Begriffen wie das Urteil, sondern in sie gehen vielmehr nur möglicherweise (im Falle logischer Sachverhalte, die Urteile oder Begriffe betreffen) Urteile und Begriffe ein, normalerweise gehen vielmehr reale Gegenstände und deren Attribute in sie ein, wie das Weißsein des Schafes, ein Sachverhalt, der weiße Farbe und ein Schaf in sich befaßt. Auch meinen Sachverhalte nichts von ihnen Verschiedenes wie das Urteil. Sie sind [...] Gegenstand des Urteils, unterscheiden sich aber gerade dadurch von diesem, daß sie selber keine Gegenstände oder Sachverhalte außerhalb ihrer selbst meinen. Da sie nichts meinen oder behaupten, können Sachverhalte auch nicht Urteile sein.«747
»There is […] a positing element in each proposition«, wie WENISCH treffend ausführt, »whereas looking for such an element in a state of affairs would be in vain.«748
746 747 748
Ein solches ›wahres‹ Urteil könnte immer noch, unbeschadet seiner ›Wahrheit‹, wahr oder falsch in dem anderen, uns hier allein beschäftigenden Sinne sein.« PFÄNDER [2000], 70. KUTSCHERA [1993], 73. SEIFERT [1996], 331. WENISCH [1988], 116. »Der Urteilsinhalt wird in manchen Fällen mit dem Urteilsgegenstand gleichgesetzt. Daß diese Gleichsetzung unzutreffend ist, läßt sich daraus sehen, daß zum Urteilsinhalt als ein wesentliches Element das ›setzende Behaupten‹ gehört, während sich im Urteilsgegenstand dieses Element in keiner Weise findet.« WENISCH [1976], 28.
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Das hier Gemeinte läßt sich besonders gut an Sachverhalten verdeutlichen, die als Gegenstände von Urteilen ihrerseits Urteile betreffen. Man denke hier nur an den Urteilsinhalt: »Das Urteil ist wahr«. Der durch dieses Urteil intendierte Sachverhalt des Wahrseins-des-Urteils ist nicht wieder ein Urteilsinhalt und wahr, und das Wahrsein-des-Urteils steht nicht wieder in Übereinstimmung mit einem Sachverhalt. Der Sachverhalt des Wahrseins des Urteils besteht auch nicht aus Begriffen und ist selber daher kein Urteil und kein Gedanke, und es kann sich daher in ihm auch kein Behauptungsmoment finden lassen. Der Sachverhalt steht zwar im Bezug auf ein wahres Urteil, aber er selber kann weder ein wahres noch ein falsches noch überhaupt ein Urteil sein. Entfaltet man den unten zitierten Gedanken DAVIDS ausführlicher, läßt sich der wesentliche Unterschied zwischen Sachverhalten und Urteilsinhalten auch anhand der Falschheit von Urteilsinhalten veranschaulichen. Das Urteil »Urteilsinhalte und Sachverhalte sind dasselbe« ist falsch, weil es den thematisierten Sachverhalt, daß Urteilsinhalte und Sachverhalte dasselbe sind, als solchen nicht gibt, d.h., weil der Sachverhalt nicht besteht bzw. keine Tatsache sein kann. Weil das falsche Urteil ein Urteil ist, zielt die Behauptung zwar »von sich aus« (PFÄNDER) auf einen Sachverhalt als bestehenden ab, aber weil es falsch ist, »erfüllt« sich die Behauptung nicht in der Korrespondenz mit einem an sich auch bestehenden Sachverhalt, denn dieser kann unmöglich bestehen. Wenn Urteilsinhalte Sachverhalte und Sachverhalte Urteilsinhalte wären, dann dürfte es auch den obigen Urteilsinhalt nicht wirklich geben, da es ja den Sachverhalt wirklich nicht gibt. Da es offenbar viele falsche, aber wirkliche Urteilsinhalte wie die obigen gibt, weil (und nicht obwohl) es die entsprechenden Sachverhalte nicht wirklich gibt, müssen Urteilsinhalte und Sachverhalte völlig verschiedene Gegebenheiten sein. DAVID schreibt daher treffend: »Facts […] cannot be identified with the meanings or contents of sentences or mental states, on pain of the absurd consequence that false sentences and beliefs have no meaning or content.«749
MCGRATH weist die Konfundierung von Urteilsinhalt und Sachverhalt ebenfalls zurück, wenn er schreibt, daß eine falsche Proposition gerade 749
DAVID [2005], § 3.
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dann existiert, wenn keine Tatsache existiert, mit der die Proposition korrespondiert: »The fact that snow is white couldn’t exist if snow wasn’t white, but the true proposition would (only it would be false). Therefore, the fact isn’t the true proposition […].«750
SEIFERT bringt den Unterschied zwischen Urteilen und Sachverhalten noch auf eine weitere Art zur Gegebenheit, indem er darauf aufmerksam macht, daß ein und derselbe Sachverhalt Gegenstand verschiedenster Gedankenarten sein kann. Es kann etwa der Sachverhalt, daß Peter nach Afrika fährt, sowohl Gegenstand eines Urteils als auch Gegenstand einer Frage als auch Gegenstand eines Wunsches sein. Wären nun Sachverhalte einerseits und die auf ihn abzielenden Gedankenarten andererseits keine verschiedenen Gegebenheiten, dann wäre, wie SEIFERT zeigt, ein und derselbe Sachverhalt Urteil, Wunsch und Frage zugleich und das Urteil, der Wunsch und die Frage in evident widersinniger Weise konfundiert. Da Urteile, Fragen und Wünsche aber offensichtlich verschiedene Akte sind, die jedoch alle denselben Sachverhalt gleichzeitig intendieren können, müssen sie alle als Gedanken von Sachverhalten wesentlich unterschieden sein.751 Diese Unterschiede müßten widersinnigerweise verschwimmen, wenn Urteil, Frage und Wunsch und der geurteilte Sachverhalt identisch wären. Die unmittelbar einleuchtende Widersinnigkeit dieser Konfundierung hebt die Unhaltbarkeit der Verwechslung von Urteilen und Sachverhalten zusätzlich hervor.
750 751
MCGRATH [2005], § 9. »Außerdem können sie [Sachverhalte] ja auch gleich gut Gegenstände von Fraugen und anderen Gedanken sein, woraus die Verwechslung zwischen Urteil und Sachverhalt noch leichter einleuchtet, da ja niemand denselben Sachverhalt mit dem Urteil, das ihn behauptet, und zugleich mit der Frage, die nach seinem Bestehen fragt, oder dem Wunsch, der sich auf ihn richtet, identifizieren wird. Sonst wäre derselbe Sachverhalt ja Urteil, Wunsch, Frage, Zweifel, Verneinung usf. zugleich, die sich alle auf ihn beziehen können.« SEIFERT [1996], 331f.
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4.3.6 Eingehendere Unterscheidung zwischen Sachverhalten und Aussagesätzen Oben ist bereits gezeigt worden, daß Aussagesätze und Urteilsinhalte unmöglich dasselbe sein können, da sie »gegeneinander variieren«. Aus demselben Grund des gegenseitigen Variierens sind auch Aussagesätze und Sachverhalte schlechterdings nicht miteinander zu konfundieren. Ein Aussagesatz kann niemals ein Sachverhalt und ein Sachverhalt kann niemals ein Aussagesatz sein. Beide sind wesentlich voneinander verschieden. Aussagesätze sind sprachliche Zeichen. Wenn hier nun kurz gezeigt wird, daß Sachverhalte keine sprachlichen Zeichen sein können und umgekehrt, dann ist damit auch gezeigt, daß Sachverhalte keine Aussagesätze sein können. Ein und derselbe Sachverhalt kann durch verschiedene sprachliche Zeichen bezeichnet werden. Die beiden sprachlichen Zeichen, »daß das Telephon klingelt« oder »daß der Fernsprecher läutet« bezeichnen beide nicht zwei verschiedene, sondern ein und denselben Sachverhalt. Dasselbe gilt, wie bereits erwähnt, für die grammatikalisch völlig verschiedenen Zeichen des daß-Satzes einerseits und des substantivierten Infinitivs andererseits. Trotz ihrer grammatikalischen Verschiedenheit bezeichnen sie ein und denselben Sachverhalt, was unmöglich wäre, wenn die Zeichen ihrerseits der Sachverhalt wären. Ebenso kann ein und derselbe sprachliche Ausdruck die verschiedensten Sachverhalte bezeichnen. Der hier niedergeschriebene sprachliche Ausdruck »daß alle Schlösser aus Stein gebaut werden« kann sowohl Zeichen für den Sachverhalt sein, daß alle herrschaftlichen Gebäude aus Stein gebaut sind, als auch Zeichen für den Sachverhalt sein, daß alle Schließvorrichtunge aus Stein gebaut sind. Beide Sachverhalte sind schon deshalb völlig verschieden, weil der erste besteht, der zweite aber nicht besteht. Sachverhalte bezeichnen nichts und schon gar nicht bezeichnen sie Urteilsinhalte. Sachverhalte bestehen »in bezug auf« (SEIFERT) Sachen, aber dieses Bestehen-in-bezug-auf ist kein Zeichen und schon gar nicht ein sprachliches Zeichen. Wenn sich Sachverhalte auch bezeichnen lassen, so sind sie doch als solche völlig außersprachliche Gegebenheiten, die unmöglich ein Laut oder eine Schriftzeichenfolge sein können. Freilich bestehen auch hinsichtlich aller sprachlichen Zeichen Sachverhalte. Aber
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diese Sachverhalte sind keine sprachlichen Bezeichnungen für sprachliche Zeichen. Der Sachverhalt, daß sprachliche Zeichen keine Sachverhalte sein können, läßt sich als solcher nicht zu Papier bringen, und er kann auch keine Folge artikulierter Laute sein.752 Da Sachverhalte keine sprachlichen Zeichen sein können und umgekehrt, können Sachverhalte auch keine Aussagesätze sein. WITTGENSTEINS Auffassung, wonach Aussagesätze Sachverhalte seien, ist letztlich auf seine Theorie von Sachverhalten als Sachverkettungen zurückzuführen. Da Sätze irgendwie als Verkettungen der »Sache« Wort, Silbe und Buchstabe verstanden werden können, ist der Schritt zu der Auffassung, daß sprachliche Zeichen bzw. Aussagesätze Tatsachen sind, leicht getan. Und dennoch ist diese Auffassung völlig irrig, wie soeben gezeigt wurde. Freilich bestehen auch in bezug auf Aussagesätze notwendigerweise Sachverhalte. So etwa besteht in bezug auf den Aussagesatz »Die Rose ist rot« der Sachverhalt, daß dieser Aussagesatz dreizehn Buchstaben enthält. Es besteht auch der Sachverhalt, daß dieser Aussagesatz das sprachliche Zeichen für einen kategorischen Urteilsinhalt ist. Diese Sachverhalte selbst sind aber nicht der fragliche Aussagesatz, auf den sie sich beziehen. Überhaupt können Sachverhalte keine Aussagesätze sein und umgekehrt. 4.3.7 Eingehendere Unterscheidung zwischen Sachverhalten und Urteilsakten Sachverhalte können unmöglich Urteilakte sein, da Urteilsakte eine besondere Art von Denktätigkeiten sind. Aber der Sachverhalt, daß Peter 752
SEIFERT unterscheidet Sachverhalte und Aussagesätze trefflich, wenn er schreibt: »Erst recht ist natürlich der Sachverhalt, daß Don Quijote mit den Windmühlen kämpfte, kein Satz. Denn während dieser aus Worten besteht, die ihrerseits aus Silben, Vokalen und Konsonanten bestehen und bestimmten Sprachen angehören, wie etwa das Original des Don Quijote Cervantes’ spanische Version ist, die ganz bestimmte Worte in sich enthält, trifft nichts von alledem auf die im Roman enthaltenen Gedanken (Quasi-Urteile usf.) selbst, die in der deutschen oder französischen Version dieselben sind, und erst recht nicht auf Sachverhalte wie die in dem klassischen Werk beschriebenen zu.« SEIFERT [1996], 332. Zum insbesondere von SEIFERT eingehend analysierten Bestehen von Sachverhalten »in bezug auf« Sachen, bzw. der »Transzendenz« der Sachverhalte, und zum Bestehen von Sachverhalten in bezug auf alles Seiende (und damit auch auf alle sprachlichen Zeichen) s. Abschnitte 4.5 - 4.7.
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an einen Sachverhalt denkt, kann selber unmöglich eine Denktätigkeit sein. In bezug auf jede Denktätigkeit bestehen Sachverhalte. Aber Sachverhalte können nicht meinend und durch die Bedeutungseinheiten des Gemeinten hindurch auf etwas außerhalb ihrer selbst abzielen wie eine Denktätigkeit. Der Sachverhalt, daß Peter an einen Sachverhalt denkt, kann das objektive Korrelat eines ihn thematisierenden Urteils sein. Aber ein Urteilen im Sinne der Denktätigkeit kann er nicht sein. Sachverhalte können gedacht, erdacht, bedacht, geurteilt und beurteilt werden, aber niemals selber ein Gedenken, Erdenken, Bedenken oder ein Urteilen und Beurteilen von etwas sein. Urteilsinhalte und Sachverhalte haben gemeinsam, daß sie unmöglich Urteilsakte sein können. Vielmehr lassen sich beide als das durch einen Urteilsakt »Gedachte« bezeichnen, wobei der Ausdruck »das Gedachte« äquivok ist, insofern er einmal die Gedankenart Urteilsinhalt und ein andermal einen Sachverhalt bezeichnet, der gerade kein Gedankeninhalt ist. In dieser gemeinsamen Eigenschaft, das »Gedachte« zu sein, ohne ein Denken sein zu können, läßt sich ein Grund dafür sehen, daß beide an sich völlig verschiedenen Phänomene immer wieder miteinander verwechselt worden sind und verwechselt werden. 4.3.8 Der Sachverhalt als das notwendige objektive Korrelat von Urteilsinhalten/Propositionen bzw. Behauptungen Eine Person befindet sich augenblicklich auf ihrer Stube und sitzt an einem Schreibtisch. Auf dem Schreibtisch liegt ein Buch mit farbigem Einband. Um genau zu sein, das Buch ist blau. Die Person kann nun in verschiedenster Weise in einer Relation zu dem blauen Buch stehen.753 So kann sie etwa vor dem Buch sitzen und sich über das Buch beugen. Insbesondere kann sie in eine intentionale Relation eintreten. Intentionalität ist das bewußte, thematische und sinnvolle, wie HENGSTENBERG sich im Rückgriff auf HUSSERL ausdrückt, »Gerichtetsein« eines Geistes »auf einen Gegenstand, auf Etwas überhaupt«,754 in diesem konkreten Fall auf das blaue Buch. Eine recht grundlegende Intention ist die begriffliche, so kann 753
754
Solche Relationen wären: »Ich sitze vor dem Buch« »Meine Hand liegt auf dem Buch.« »Der blaue Bluterguß an meinem Knie ähnelt farblich dem blauen Einband des Buches« und dergleichen mehr. HENGSTENBERG [1957], 180.
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eine Person sich etwa meinend auf den Gegenstand richten und dabei spontan den Begriffsinhalt »blaues Buch« entwerfen. Dem durch das Denken entworfenen Begriffsinhalt »blaues Buch« entspricht auf Seiten des Gegenstandes – dem blauen Buch da – genau das und nur das, was die Person durch den spontan von ihr gesetzten Begriffsinhalt an dem Buch meint.755 Diesen gemeinten Aspekt an dem Buch läßt sich mit PFÄNDER als das Formalobjekt des Begriffes bezeichnen, die Tasse insgesamt ist das Materialobjekt. Die gedanklichen Elemente des meinenden Gerichtetseins auf die Tasse, durch die eine Person auf die Tasse abzielt oder die Tasse intendiert, bilden den Inhalt des von ihr entworfenen Begriffes.756 Ferner »entsprechen« Begriffsinhalt und Formalobjekt einander, wie PFÄNDER zeigt. Alle Bestimmungen des Formalobjektes gehören damit auch zum Materialobjekt, aber nicht umgekehrt.757 Nun kann sich eine Person aber noch in einer anderen Weise intentional auf den Gegenstand dort hinbeziehen. Sie könnte sagen »Das Buch ist blau« und durch diese Worte eine besondere Gedankeninhaltsart zum Ausdruck bringen, nämlich einen Urteilsinhalt. Eine Besonderheit des Urteilsinhaltes gegenüber dem Begriffsinhalt ist, daß jener notwendigerweise entweder wahr oder falsch ist, dieser aber unmöglich im logischen Sinne wahr oder falsch sein kann. Und es fällt noch ein weiterer Unterschied auf. Das Thema des Begriffes ist das Ding da, das blaue Buch und nichts weiter. Beim Urteil verhält es sich aber nicht ganz so. Das Thema des Urteils ist nicht einfach das blaue Buch und nichts weiter, vielmehr geht das blaue Buch in einer besonderen Weise in das Thema des Urteils ein, ohne als solches das eigentliche Thema des Urteils zu sein.758 Nun könnte jemand sagen: »Es geht doch um das blaue Buch, wenn behauptet wird ›Das Buch ist blau‹, und wenn es um das blaue Buch geht, dann ist das Thema des Urteils eben das blaue Buch.« Nun, in gewisser Hinsicht vielleicht ja, schlechthin betrachtet indes nein. Denn genau hier liegt das Problem: Das blaue Buch als solches wird ja gar nicht behauptet. Wenn die 755 756 757 758
S. dazu die meisterhaften Analysen PFÄNDERS in [2000], 130-136. S. PFÄNDER [2000], 132. S. PFÄNDER [2000], 132f. Zum Begriff des »Eingehens« von Etwas »in Sachverhalte« siehe SEIFERT [1996], 331. S. auch Abschnitt 4.5.1, wo eingehend von diesem und anderen Termini und ihrer Bedeutung die Rede ist.
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Person urteilt: »Das Buch ist blau« so behauptet sie nicht »blaues Buch«, sondern sie zielt behauptend darauf ab, daß das Buch blau ist. Anders ausgedrückt, die Person zielt durch ihr Urteil behauptend auf das Blausein-des-Buches ab.759 Daten wie das Blau-sein-des-Buches werden aber nicht Sachen genannt – es sei denn in einem sehr weiten und damit eher mißvertändlichen Sinn des Wortes – sondern als »Sachverhalte« bezeichnet.760 WENISCH weist treffend auf diesen Punkt hin, wenn er sagt: »Nun urteilen wir immer, daß etwas ist oder sich so und so verhält. Urteile beziehen sich somit […] immer auf Sachverhalte. Der Sachverhalt ist das gegenständliche Korrelat des Urteiles. Man kann keine Sache oder keine Person urteilen, ebenso wie auch eine Überzeugung weder eine Sache noch eine Person zum unmittelbaren Objekt haben kann.«761
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Mit dem Gesagten soll keineswegs behauptet werden, daß Sachverhalte nicht auch intentionale Korrelate von Begriffen sein können. Vielmehr können Sachverhalte auch begriffen werden. In diesem Fall würde die Gedankeninhaltsart kein Behauptungsmoment enthalten. »A concept linking a thing and its determination (this would remain if the positing element is taken out of the proposition) does not constitute a thought of which truth or falsity can be predicated. If one were to maintain that the positing element is not part of the proposition there would be no difference between the proposition: ›The oak leaf is green‹ and the concept of the state of affaires posited by this proposition: ›the being-green of the oak leaf‹. Considering the structure of these thoughts, there is only one possibility to account for the fact that the proposition is true, whereas the concept is neither true nor false. This consists in recognizing that there is only one difference between the concept and the proposition. The concept is merely referring to the state of affairs, whereas the proposition posits it. Thus, the positing element must be part of the proposition.« WENISCH [1988], 116f. »To take a simple example, in asserting or judging that Socrates is a philosopher, one thinks of Socrates in particular and of philosopher in general and does so in the syncategorematic way of predicating one or [sic] the other. What is represented, then, is not things as such, but how things are: a state of affairs or a Sachverhalt.« NUCHELMANS, Gabriel: »States of Affaires«. In: Handbook of Metaphysics and Ontology Vol. 2. 858/2–861/1, hier 859/1. »Der Sachverhalt ist […] das intentionale Korrelat des Urteils.« PFÄNDER [2000], 35. »Die intentionalen Korrelate von urteilenden Akten sind stets Sachverhalte.« REINACH [1989], 426. 427. WENISCH [1976], 49f.
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SEIFERT schreibt: »Sachverhalte allein können direkter Gegenstand von Urteilen und Überzeugungen sein. Ich kann nicht von einer Pinie überzeugt sein, sondern nur davon, daß sie im Campo der Villa San Francesco in Florenz steht, gefällt wurde, usf. Genausowenig kann ich Dinge und Eigenschaften direkt im Urteil behaupten, sondern nur Sachverhalte über Dinge und ihre Eigenschaften.«762
Der begriffs- und urteilsfähige Geist steht vor dem »blauen Buch« und vor dem Blau-sein-des-Buches vor zwei verschiedenen objektiven Daten oder extramentalen Gegenständlichkeiten. Das Urteil: »Ich bin überzeugt vom blauen Buch« ist notwendig falsch, weil es einen Zusammenhang zwischen dem Akt des Überzeugtseins und dem blauen Buch behauptet, der unmöglich bestehen kann, sofern mit dem blauen Buch tatsächlich nur das »blaue Buch« gemeint ist und es sich bei den Worten »Buch« und »blau« nicht um einen uneigentlichen Wortgebrauch handelt, hinter dem sich eigentlich der Verweis auf einen Sachverhalt verbirgt, wie wenn jemand sagen würde: »Mit ›blauem Buch‹ in obigem Urteil wird nicht eigentlich das Buch als solches, sondern, daß das blaue Buch zur Weisheitsliteratur der Menschheit gehört, gemeint.« Ebenso verhält es sich mit dem Akt des Urteilens und Behauptens. Das blaue Buch läßt sich unmöglich urteilen oder behaupten. »Ich behaupte das blaue Buch« ist notwendig falsch, weil widersinnig. Vielmehr wird über das blaue Buch ein Urteil gefällt und etwas über dasselbe behauptet, und damit wird gleichsam immer schon über das blaue Buch als solches »hinausgegangen«, insofern die Behauptung sich auf einen Sachverhalt bezieht, der in bezug auf das blaue Buch besteht, aber als solcher keineswegs das blaue Buch ist.
762
SEIFERT[1996], 341. »If I say: ›The sun is shining‹, then I express meanings (concepts) by means of these words. These meanings are united together, and in and through this complex meaning-unit a certain objectivity (a state of affairs) is meant or intended.« SEIFERT/SMITH [1994], 97. Vgl. auch HILDEBRAND, Fußn. 763.
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4.3.9 Sachverhalt und Urteilswahrheit Noch einmal zurück zu dem blauen Buch und zu dem Verhältnis zwischen möglichen Intentionen und ihren eigentlichen Gegenständen. Wenn jemand sagt: »Ich behaupte ›blaues Buch‹«, dann wird ein unvoreingenommener Gesprächspartner geneigt sein, zu fragen: »Nun gut, aber was genau behauptest Du über das blaue Buch?« Die folgende Antwort sei hier um des Argumentes willen angenommen: »Nun, wenn ich das blaue Buch behaupte, dann behaupte ich, daß das Buch blau sei.« A hätte hier etwas sehr Wichtiges nicht bemerkt. Wenn er schon davon spricht, daß er das blaue Buch behauptet, dann muß er etwas von dem blauen Buch behaupten. Etwa, daß es so und so schwer sei. Es reicht nicht, daß er sich vermeintlich behauptend auf das blaue Buch bezieht, er muß sich auf einen Sachverhalt beziehen, »in« dem das blaue Buch »steht«. Aber genau das ist nicht der Fall. In der Behauptung, daß das Buch blau sei, von der er meint, daß sie dasselbe sei, wie die Behauptung »blaues Buch«, wird nicht etwas über das blaue Buch behauptet, auch nichts über das Buch, das blau ist, sondern nur etwas über das Buch und zwar, daß es blau sei. In dem Urteil »Das Buch ist blau«, urteilt er nicht über das blaue Buch und behauptet er nichts von dem blauen Buch, vielmehr urteilt er nur über und behauptet lediglich etwas von dem Buch, und zwar, daß es blau sei. Es handelt sich offensichtlich um zwei völlig verschiedene Dinge. Dem blauen Buch als vermeintlichem Gegenstand der Behauptung »fehlt« gleichsam das Behauptete – etwa das »Schwer-sein-des-blauen-Buches« – ganz und gar. Dem Buch hingegen fehlt das Behauptete nicht. Hinsichtlich des Behauptens verhält es sich bei Sachverhalten schlicht anders als bei Sachen, so zwar, daß auch über Sachverhalte etwas behaupten werden kann aber auch so, daß Sachverhalte und nur diese als solche behauptet werden können. »Dies [die Behauptung, Anm. v. mir] ist der eigentümliche Akt, in dem wir einen Sachverhalt durch das Medium der Bedeutungseinheiten hindurch als bestehend ansetzen. […] Seine Objekte sind wesenhaft Sachverhalte. Wir können nicht […] die Farbe Rot, eine Statue, einen Wert
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usw. behaupten, sondern nur Tatbestände, Sachverhalte – also daß etwas existiert oder soundso beschaffen ist.«763
Daß es sich hierbei nicht allein um verschiedene Namen handelt, daß Sachen und Sachverhalte vielmehr unmöglich dasselbe sein können, ist in einem ersten hinführenden Anlauf dadurch deutlich geworden, daß nur letztere, nämlich Sachverhalte behauptend gemeint werden können. Sachen kann unmöglich das Prädikat eignen, behauptet werden zu können. Sachverhalten indes kann allein das Prädikat eignen, behauptet werden zu können. Wenn aber von zwei Gegebenheiten der einen ein bestimmtes Prädikat unmöglich zukommen kann, während es der anderen ausschließlich zukommt und keiner anderen zukommen kann, dann müssen beide Gegebenheiten voneinander verschieden sein. REINACH schreibt in Zur Theorie des negativen Urteils: »Wir wissen bereits, daß zwischen der ›Bewußtseinsseite‹ des Urteils und dem Gegenständlichen, auf das sie sich bezieht, Wesenszusammenhänge bestehen der Art, daß keineswegs jeder intentionale Akt zu jedem beliebigen Gegenständlichen paßt, sondern daß beiderseits notwendige Zuordnungsverhältnisse vorhanden sind. So ist es evident unmöglich, daß sich eine Überzeugung auf einen Ton, eine Farbe, ein Gefühl oder ein Ding der Außenwelt bezieht; und ebenso unmöglich ist es, einen Ton oder ein Ding usw. zu behaupten. Oder wenn wir aus der Sphäre der realen Gegenstände in die der ideellen, d.h. der außerzeitlichen Gegenstände übergehen: Was sollte es heißen, eine Zahl oder einen Begriff oder etwas dgl. zu glauben oder zu behaupten? In welchem Sinne wir auch den Urteilsbegriff nehmen mögen, es kann sich wesengesetzlich ein Urteil niemals auf diese Art von Gegenständlichkeiten beziehen, welche wir ganz verständlich als (reale oder ideale) Gegenstände bezeichnen können.«764 »Da Dinge niemals behauptet oder geglaubt werden können, und da andererseits im Urteil ›die Rose ist rot‹ das Rotsein der Rose als gegenständliches Korrelat fungiert, so muß dieses Korrelat etwas anderes sein als die rote Rose selbst, dieses Ding der Außenwelt. Wir wollen es künftig als einen Sachverhalt bezeichnen. Dieser Name […] ist in der Tat am besten geeignet, für gegenständliche Gebilde der Form ›b-sein des A‹
763 764
HILDEBRAND [1976], 22. »Objekt des Urteilens können nur Sachverhalte sein.« HILDEBRAND [1976], 23. REINACH [1989], 111.
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Kapitel 4 verwendet zu werden. So haben wir also von den Gegenständen in einem engeren Sinne, seien sie nun realer Natur, wie Dinge Töne, Erlebnisse, oder ideeller Natur, wie Zahlen oder Sätze oder Begriffe, als eine Gegenständlichkeit ganz anderer Natur die Sachverhalte zu unterscheiden.«765
Sachverhalte allein können das objektive Korrelat eines Urteilsinhaltes sein. Freilich lassen sich auch Sachverhalte rein begrifflich intendieren, wie schon HUSSERL gezeigt hat, ohne daß sie zum Gegenstand einer Behauptung werden, aber behaupten werden können allein Sachverhalte, und nichts außerdem.766 Im Anschluß daran läßt sich noch ein weiterer frappanter Unterschied zwischen Sachen und Sachverhalten verdeutlichen. Die klassische Wesensbestimmung der logischen Wahrheit lautet: Die Wahrheit ist die Übereinstimmung von Denken und Wirklichkeit. Allerdings wird, wie PFÄNDER in seinen äußerst differenzierten Analysen der einschlägigen Daten zeigt, deutlich, daß sich das Wesen der logischen Wahrheit nicht durch jede Art von »Denken« und von »Wirklichkeit« auszeichnet. Die fragliche Gedankenart ist vielmehr nur der Urteilsinhalts. Und die fragliche Wirklichkeit, mit dem der Urteilsinhalt übereinstimmen muß, um wahr zu sein, ist ausschließlich der Sachverhalt; oder, um mit REINACH zu sprechen, ein be-
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REINACH [1989], 114. »Vom Ding als solchen kann es [aber] keine Behauptung geben. [Es ist] sinnlos, einen Baum behaupten, einen Tisch glauben zu wollen, [wohl] aber [das] Ausgedehntsein des Baumes, [die] Farbigkeit des Tisches. […] Alles, was die Form »b-sein des A« hat, [ist ein Sachverhalt].« REINACH [1989], 426. GROSSMANN setzt sich ebenso wie HUSSERL mit der Auffassung auseinander, wonach Sachverhalte nur behauptet, aber keinesfalls durch einfache Begriffe intendiert werden können. GROSSMANN nennt diese Auffassung zu Recht »strange«, da Sachverhalte nicht nur behauptet werden, sondern auch etwas von Sachverhalten behauptet werden kann. In diesen Behauptungen ist der Sachverhalt der Subjektgegenstand des Urteils, dessen Begriffsinhalt keinerlei Behauptungsmoment enthält. Schon hier wird deutlich, daß auch Sachverhalte Gegenstände eines schlichten Begiffs sein können. GROSSMANN [1983], 325f. »Das Unterscheidende zwischen Gegenstand und Sachverhalt liegt nicht darin, daß Sachverhalte nicht präsent, nicht vergegenwärtigt sein können, sondern darin, daß ausschließlich die Sachverhalte es sind, die behauptet werden können, während des [sic] ›präsent‹ Gegebensein dem Sachverhalt und den Gegenständen zukommen kann.« HABBEL [1959], 36f.
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stimmtes »b-sein-des-A«.767 Das Urteil: »Mein Nachbar ist ein Segelflieger« erhebt, wie jedes Urteil, den »Anspruch« (PFÄNDER) auf Wahrheit. Wenn der Sachverhalt des Segelflieger-seins-meines-Nachbarn besteht, dann ist das Urteil »Mein Nachbar ist ein Segelflieger«, welches diesen Sachverhalt thematisiert, wahr. CONRAD-MARTIUS schreibt dazu: »Das intentionale Korrelat des Urteils ist der Sachverhalt. Der Sachverhalt ist das ›Gegenständliche‹, dem sich das Urteil unterzuordnen und anzugleichen hat.«768
Wendet man sich aber vom Sachverhalt ab und der Sache zu, nämlich »segelfliegender Nachbar«, so wird deutlich: Mit dem segelfliegenden Nachbarn als solchem kann ein Urteil nicht übereinstimmen, weil der segelfliegende Nachbar als solcher unmöglich direkter Gegenstand einer behauptenden Intention werden kann, bzw. weil er nicht das ist und nicht das sein kann, was behauptet wird, bzw. nicht das sein kann, worauf die behauptende Intention abzielt. Personen oder deren Attribute wie groß, klein, alt, jung und beides im Verein lassen sich nicht behaupten. Behaupten läßt sich allein, daß der Nachbar ein Segelflieger ist, oder das Segelflieger-sein-des-Nachbarn. Es kann m.a.W. die logische Wahrheit unmöglich durch Sachen und ihre Attribute als solche bedingt werden, denn das, was wahr ist, das Urteil oder die Behauptung, richtet sich nicht auf Sachen als solche. Die objektive Gegebenheit, welche die Möglichkeit eines Urteils als intentionalem Akt und den Wahrheitswert des Urteils notwendig bedingt, kann niemals eine wie auch immer bestimmte Sache als solche, sondern muß ausnahmslos ein Sachverhalt sein.769 Dadurch wird gleich767 768 769
S. unter Fußn. 769. 770. CONRAD-MARTIUS [1957], 21. Vgl. HABBEL [1959], 38. »Die Übereinstimmung besagt hier vielmehr […] dies, daß das Urteil in seiner behauptenden Setzung, die es in bezug auf seinen Subjektsgegenstand vollzieht, zusammentrifft mit dem Verhalten des Gegenstandes selbst. Nimmt man daher die Begriffe »Wirklichkeit« und »Übereinstimmung« in diesem genaueren Sinne, so ist allerdings mit jener Erklärung die Bedeutung der Wahrheit eines Urteils richtig getroffen. Ein Urteil ist wahr, z.B. das Urteil ›Schwefel ist gelb‹ ist wahr, das heißt wirklich nichts anderes als, das Urteil trifft in seiner behauptenden Hinzusetzung des ›gelb‹ zu dem Subjektgegenstand ›Schwefel‹ zusammen mit dem Verhalten des Schwefels selbst, der, indem er gelb ist, sich wirklich so verhält, wie das Urteil von ihm behauptet. Wir können also das Wort
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falls deutlich, daß PFÄNDER und REINACH völlig Recht haben, wenn sie betonen: Ohne Sachverhalte keine Urteile, und: Sachverhalte sind eine objektive Gegebenheit. Denn so wie jede Leugnung der Möglichkeit von objektiver Wahrheitserkenntnis diese stillschweigend voraussetzen muß, muß jede Zurückweisung der objektiven Gegebenheit von Sachverhalten deren objektive Gegebenheit als Gegenstände sui generis stillschweigend voraussetzen.770 Der Sachverhalt ist also nicht dasjenige Datum, wodurch sich das Urteil auf seinen Gegenstand bezieht, wie bei STUMPF. Der Sachverhalt ist, worauf sich der Urteilsakt durch das Medium des Urteilsinhalts hindurch bezieht. Allerdings besteht der Sachverhalt in bezug auf die rote Rose. Aber dieses Bestehen in bezug auf die rote Rose, welches nicht die Existenz der roten Rose ist, darf wegen seiner Verschiedenheit mit der Rose nicht mit dem Urteilsinhalt verwechselt werden, durch den sich der Akt auf den Sachverhalt bezieht. Die rote Rose und der Sachverhalt, daß die Rose rot ist, befinden sich beide auf der extramentalen und objektiven Seite. Die Tatsache, daß der Sachverhalt nicht die rote Rose ist, dürfte ebenfalls einen Beitrag zur Verwechslung von Urteilsinhalt und Sachverhalt geleistet haben, insofern der eine oder andere Denker mit der Objekti-
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›Übereinstimmung‹ in diesem Sinne nehmen und dann kürzer sagen, die Wahrheit eines Urteils ist die Übereinstimmung des Urteils mit dem bestehenden Sachverhalt. Ist dies der Sinn der Wahrheit, so besteht also der Anspruch des Urteils, wahr zu sein, in dem Anspruch, dem Selbstverhalten des von dem Urteil betroffenen Subjektgegenstandes gemäß oder angemessen zu sein. Dieser Anspruch setzt das Selbstverhalten des Gegenstandes als maßgebendes Fixum für die Urteilsbildung voraus.« PFÄNDER [2000], 80f. »Der Begriff der Wahrheit setzt voraus, daß es Gegenstände gibt, die unabhängig von den auf sie bezogenen Urteilen sich in bestimmter Weise verhalten, und durch ihr so selbständiges Verhalten für die auf die bezogenen Urteile den absolut entscheidenden Maßstab bilden. […] Läßt man diese Voraussetzung fallen, behauptet man also, daß es gar keine von den Urteilen unabhängigen und sich selbständig verhaltenden Gegenstände gebe, so hebt man damit die Möglichkeit von Urteilen auf, oder man muß den Sinn der Urteils und den Sinn der Wahrheit umdeuten und verfälschen.« PFÄNDER [2000], 81. »Einen objektiven Bestand von Sachverhalten überhaupt abzuleugnen, das ist der widersinnige Standpunkt des absoluten erkenntnistheoretischen Skeptizismus; denn Sachverhalte sind ja das, was erkannt und geurteilt wird.« REINACH [1989], 137.
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vität einer sonderbaren Entität wie dem Sachverhalt nicht zu Rande gekommen sein mag.771 4.4 Unterscheidung zwischen Sachverhalt und »Sache« 4.4.1 Sachverhalte im Unterschied zu Gegenständen und deren Attributen Ganz unabhängig von der Frage, welche Arten von Intentionen sich welchen Arten von Gegenständen zuordnen lassen, soll nun über den Unterschied zwischen dem blauen Buch und dem Blau-sein-des-Buches ins Auge gefaßt werden. Man könnte ja meinen, daß es eigentlich gar keinen Unterschied gibt, oder zumindest keinen, der ernsthaft ins Gewicht fällt. So ist etwa eine Überzeugung möglich, die meint, daß das Grün-sein-derTasse nichts weiter sei als die grüne Tasse. Der Unterschied ist wohl nur ein sprachlicher und grammatischer, nicht aber ein seinsmäßiger und objektiver Unterschied. In Abschnitt. 4.3.8 ist bereits deutlich geworden, daß Sachen und Sachverhalte trotz ihrer Unterschiedenheit leicht miteinander verwechselt werden können. Zwischen dem blauen Buch und dem Blau-sein-des-Buches scheint es zunächst gar keinen Unterschied zu geben. Eine derartige Meinung vertritt auch MARTIN, wenn er sagt: »My aim is to make do with things, properties and relations that make up and are the constituents of situations or states of affairs […].«772
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Zum Bestand der Sachverhalte »im bezug auf« S. Abschnitte 4.5.1. 4.5.2. 4.7.2. Zum wesentlichen Unterschied zwischen den Daseinsformen Existenz und Bestand s. Abschnitt 4.7.1. MARTIN [1996], 60. MARTIN beruft sich bei seiner Ablehnung von Sachverhalten als Entitäten höherer Ordnung auf sein »Gewissen« als Empirist. »Penumbral abstract higher-order levels of being, such as general facts or negative facts or general states of affairs types, make easy blackboard exercises, but they don’t fit well with an empiricist conscience. Keeping to non-abstract, spatio-temporal being and states of the world is hard work, but it can be done.« MARTIN [1996], 64f.
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Der Sachverhalt scheint dasselbe zu sein wie die Sache und eines ihrer Attribute. Der Sachverhalt wäre dann eine »Sache« in ihrem »Verhalten«, d.h. insofern ihr ein Attribut zukommt. Erst die nähere Betrachtung der intentionalen Akte des Begreifens einerseits und Urteilens bzw. Behauptens anderseits hat gezeigt, daß Sachen und ihre Attribute sich von Sachverhalten erheblich unterscheiden, da sich Sachen und ihre Attribute schlechterdings nicht behaupten lassen, wohingegen Sachverhalte allein das direkte und unmittelbare Objekt eines Urteils bzw. einer Behauptung sind und sein müssen. Ferner ist deutlich geworden, daß Sachen als solche niemals die Wahrheit eines Urteils bedingen können. Sachverhalte indes sind notwendige Bedingung der Wahrheit des Urteils. Ja, ohne Sachverhalte als objektivem Korrelat des Urteils sind Urteile überhaupt unmöglich, wie REINACH und PFÄNDER zeigen. Aber zurück zur direkten Untersuchung über den Unterschied zwischen Sache und Sachverhalt, die von einem Zugang über intentionale Akte absieht. Um dies tun zu können, ist es wieder nötig, sich mit REINACH zu fragen »ob Prädikationen, die von einer Gegenständlichkeit gelten, auch von der anderen gelten.«773 Wenn sich zeigen läßt, daß das, was von einer Gegenständlichkeit evidentermaßen gilt, von der anderen evidentermaßen nicht gilt und nicht gelten kann, wenn sich mithin zeigen läßt, daß der einen Gegenständlichkeit Eigenschaften notwendigerweise zukommen, welche der anderen unmöglich zukommen können und umgekehrt, dann nur deshalb, weil beide voneinander verschieden sind und streng unterschieden werden müssen.774 Am eindrücklichsten lassen sich die Unterschiede dadurch ausweisen, daß man sich Sachen und Sachverhalten selbst möglichst direkt und anschaulich zuwendet und Gegenständlichkeiten aus der reellen (Baum) oder auch ideellen Sphäre (Zahl) betrachtet. Auf die Notwendigkeit dieser Methode verweist SEIFERT, wenn er sagt: »So läßt sich der Sachverhalt dadurch von Gegenständen, Attributen und Relationen abgrenzen, daß man diejenigen Eigenschaften angibt, die er im Gegensatz zu diesen besitzen kann.«775
773 774 775
REINACH [1989], 426. S. auch SEIFERT [1996], 337. S. auch. REINACH [1989], 113. SEIFERT [1996], 339.
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Inspiriert durch REINACHS Beispiele und Analysen (s.u.) lassen sich die unaustauschbaren Eigenschaften und damit die Wesensverschiedenheit von Sachen und Sachverhalten an Beispielen durch unmittelbare Veranschaulichung zur Gegebenheit bringen. So kann ein »blaues Buch« etwa aufgeschlagen werden. In einem blauen Buch kann gelesen werden. Man kann das blaue Buch auch umdrehen, hochwerfen und auffangen. Das Blau-seindes-Buches indes kann weder aufgeschlagen noch kann darin gelesen werden. Das Blau-sein-des-Buches läßt sich auch nicht umdrehen, hochwerfen oder auffangen. Wenn das blaue Buch aufgeschlagen wird, wenn darin gelesen wird, es umgedreht, hochgeworfen und aufgefangen wird, dann kann all das unmöglich auch mit dem im Hinblick auf das blaue Buch bestehenden Sachverhalt, daß das Buch blau ist, getan werden. Das Blausein-den-Buches ist zwar ein objektives Datum, aber nicht nach Art einer Sache, sondern als Sachverhalt. Man stelle sich vor, das blaue Buch stünde an einer bestimmten Stelle in einem auf den Tisch gezeichneten Koordinatensystem. Diese Stelle sei x/y genannt. Man könnte das blaue Buch verschieben, etwa nach y/z. Der Sachverhalt aber, daß das blaue Buch auf x/y steht, läßt sich nicht verschieben. Denn wenn sich der Sachverhalt verschieben ließe, dann würde mit ihm der Ort, auf dem das blaue Buch steht, an den anderen Ort verschoben werden, und man stünde vor der sonderbaren Situation, daß zwei verschiedene Orte am selben Ort wären: Die Tasse stünde ja irgendwie »hier« und »nicht hier« zugleich (Das-»dort«-stehen-des-»hier«-stehenden-blauenBuches), was unmöglich ist, da wiederum widersinnig. Oder man stelle sich einen dünnen Holzstab vor, der etwa 50cm lang ist. Er könnte mit Leichtigkeit geteilt werden. Die vorliegende so und so verfaßte Sache ist also ein »teilbarer Holzstab«. Aber der Sachverhalt Teilbar-sein-des-Holzstabes kann unmöglich teilbar sein. Was sollte das auch bedeuten? Wenn der Sachverhalt teilbar wäre, was wäre dann das Ergebnis des Trennvorgangs? Etwa zwei Hälften des Teilbar-seins-desHolzstabes, von denen keine mehr ein echtes Teilbar-sein wäre, weil das Teilbar-Sein ja geteilt wurde? Der Sachverhalt Teilbar-sein-des-Holzstabes kann unmöglich zerbrochen werden, ganz im Unterschied zum teilbaren Holzstab selbst. REINACH illustriert am Beispiel der Sache »Baum« und ihrem Attribut »blühend« die Wesensverschiedenheit von Sachen und Sachverhalten.
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Einen blühenden Baum kann man mit der Axt fällen, das Blühend-seindes-Baumes jedoch kann man nicht fällen.776 Man kann, wie sich hinzufügen läßt, nicht einmal eine Axt ansetzen. Mit »ganzen Zahlen« kann gerechnet werden, aber mit dem Ganz-seinvon-Zahlen können keine mathematischen Operationen durchgeführt werden. Die 1 ist eine ganze Zahl, und sie kann mit der 2 addiert werden. Das Ganze-Zahl-sein-der-1 indes läßt sich keinesfalls mit der 2 addieren. Was sollte da wohl die Summe der Operation sein? Nun, es kann weder eine solche Operation noch eine solche Summe geben. Eine eingeschaltete Tischlampe beleuchtet die Arbeitsfläche eines Tisches, aber der bestehende Sachverhalt, daß eine eingeschaltete Tischlampe die Arbeitsfläche eines Tisches beleuchtet, kann unmöglich die Arbeitsfläche des Tisches beleuchten. Die Tischlampe leuchtet, aber der Sachverhalt, daß die Tischlampe leuchtet, kann unmöglich jemals leuchten. Ein Mensch kann gerechte Taten vollbringen. Aber der Sachverhalt, daß eine Tat gerecht ist, ist keine gerechte Tat. Der Sachverhalt, daß ein gewisser Akt ein Hoffen ist, ist selber kein Hoffen. Wenn eine Person ertrinkt, dann besteht der Sachverhalt, daß eine Person ertrinkt. Aber der Sachverhalt, daß ein Person ertrinkt, kann weder ertrinken noch eine Person sein. Ein Würfel hat sechs Seiten. Aber der Sachverhalt, daß der Würfel sechs Seiten hat, kann keine sechs Seiten haben und läßt sich nicht würfeln. Eine Person kann zweiundvierzig Jahre alt sein, aber der Sachverhalt, daß die Person zweiundvierzig Jahre alt ist, kann unmöglich ebenfalls zweiundvierzig Jahre alt sein, und er kann nicht dreinundvierzig Jahre alt werden wie die Person. Die Person existiert seit zweiundvierzig Jahren. Der Sachverhalt, daß die Person seit zweiundvierzig Jahren existiert, kann jedoch unmöglich seit zweiundvierzig Jahren bestehen. Ein Wort kann aus vierzehn Buchstaben bestehen. Aber der Sachverhalt, daß das Wort aus vierzehn Buchstaben besteht, ist kein Wort und besteht nicht aus vierzehn Buchstaben und einer bestimmten Anzahl von Silben. Man kann ein schriftliches Zeichen für einen Sachverhalt, wie »daß das Wort aus vierzehn Buchstaben besteht«, niederschreiben, aber der bezeichnete Sachverhalt selbst läßt sich unmöglich zu Papier bringen, so daß er nur dort steht und nicht »überall« besteht. Das Urteil »Der sechsseitige Würfel besteht 776
S. Fußn. 778. S. auch 777.
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nicht aus sechs Seiten« ist in sich widersprüchlich und daher notwendigerweise falsch. Das Urteil »Der Sachverhalt, daß der Würfel sechsseitig ist, hat keine sechs Seiten« jedoch enthält nicht nur keinen Widerspruch, es ist vielmehr notwendigerweise wahr und kann unmöglich falsch sein. Der entsprechende Unterschied zwischen einem widersprüchlichen notwendig falschen und einem nichtwidersprüchlichen notwendig wahren Urteil ließe sich nun an allen oben angeführten Beispielen aufzeigen. Wenn man also Sachen und Sachverhalte als mögliche »Subjektsgegenständlichkeiten« gewisser Bestimmungen überhaupt ins Auge faßt, wird deutlich, daß von Sachen Bestimmungen gelten, die von Sachverhalten schlechterdings nicht gelten können. Deshalb sind auch entsprechende Urteile wie, »Das blaue Buch kann hochgeworfen werden« und »Das Blausein-des-Buches kann hochgeworfen werden«, nicht nur grammatikalisch voneinander verschieden, so als handelte es sich bloß um die Verschiedenheit des Sprachgebrauchs, nicht aber um eine Verschiedenheit der Subjektgegenstände. Vielmehr ist das erste Urteil deshalb wahr, das zweite hingegen notwendigerweise falsch, weil die entsprechenden Gegenständlichkeiten sachlich verschieden sind und ihnen infolge dieser Verschiedenheit unmöglich dieselben »sachlichen« Bestimmungen zukommen können. REINACH arbeitet dies mit dem ihm eigenen meisterhaften Urteilsvermögen in äußerster Klarheit heraus, wenn er sagt: »Man ist sehr geneigt, hier von bloß sprachlichen Argumentationen zu reden und den Vorwurf zu erheben, Eigentümlichkeiten der Sprache seien verwechselt mit Eigentümlichkeiten der Sachen. Es liegt uns sehr ferne, solche Verwechslungen, wo sie wirklich vorliegen, zu verteidigen. Immerhin sollte man mit solchen Vorwürfen etwas vorsichtiger sein, man sollte sie insbesondere niemals erheben, bevor man sich überlegt hat, was ›bloße Eigentümlichkeiten des Sprachgebrauchs‹ eigentlich sind. […]. Nehmen wir an, jemand handle diesem oder anderen Geboten des Sprachgebrauchs zuwider. Dann würde man ihm allenfalls vorwerden, daß er sich sprachungebräuchlich ausdrücke, niemals aber würde das, was er sagt, um des ungebräuchlichen Ausdruckes willen falsch sein, wenn es sonst richtig ist, oder richtig, wenn es sonst falsch ist. Die Bedeutung der Sätze wird ja durch den Ausdruck nicht berührt, es handelt sich hier wirklich nur um einen ›bloßen Unterschied der Worte‹. Ganz anders liegt die Sache, wenn wir die Urteile ›die rote Rose steht im Garten‹ und ›das Rot-sein der Rose steht im Garten‹ gegenüberstellen. Um ›sprachliche‹ Unterschiede handelt es sich da wirklich nicht. Das erste Urteil ist wahr, das zweite ist falsch, ist sogar unsinnig. Das Rot-sein einer Rose kann als
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Kapitel 4 solches nicht im Garten stehen, genauso wie etwa mathematische Formeln als solche nicht wohlriechend sein können. Damit ist aber gesagt, daß das Rotsein der Rose so gut wie eine mathematische Formel etwas ist, das seine Forderungen und Verbote stellt, von dem Urteile gelten und nicht gelten. Will man da wirklich mit Unterschieden des Sprachgebrauchs kommen, will man wirklich sagen, zwischen dem Rotsein der Rose und der roten Rose bestehe ein ›bloßer Unterschied der Worte‹; es sei nur ›sprachungebräuchlich‹ zu sagen, das Rotsein der Rose stehe im Garten? Was soll denn das für ein merkwürdiger Sprachgebrauch sein, der einem Ausdruck wie das Rotsein der Rose allgemein zuläßt und ihn nur dann verbietet, wenn er als Subjekt gewisser Urteile auftritt? Und vor allem: wie kann die Verletzung des Sprachgebrauches ein sonst richtiges Urteil zu einem falschen oder gar unsinnigen machen?«777
Im Hinblick auf denselben notwendigen Unterschied zwischen Sachen, deren Attributen und Sachverhalten schreibt REINACH in seiner Einleitung in die Philosophie: »[…] [der] Versuch, [hier] mit [einem] ›bloßen grammatischen Unterschied‹, ›bloßen Sprachgebrauch‹ [auszukommen], geht nicht. [Zwar der Baum], aber [das] »Blühen des Baumes« steht nicht im Garten. [Solche] Beispiele [sind] nicht nur sprachungebräuchlich: [Vielmehr der] eine Satz ist richtig, der andere ist falsch. Es handelt sich nicht um die Sprache, sondern um verschiedene Subjektgegenständlichkeiten. In beiden Fällen gilt Verschiedenes, [denn] Ding und Sachverhalt [sind] ganz verschieden. [Man muß also] den Sachverhalt allem dem gegenüberstellen, was bisher als Gegenständlichkeit behandelt [worden] ist. [Ein] Sachverhalt [ist] gegenüber Dingen […] etwas ganz Eigenartiges.«778
Nicht nur die Verschiedenheit intentionaler Akte, die als intentionale in ihrer Verschiedenheit notwendigerweise durch die seinsmäßige Verschiedenheit ihrer Objekte bedingt sind, beweist, daß Sachen nicht Sachverhalte sind und umgekehrt. Der Blick auf Sachen und Sachverhalte selber offenbart deren Verschiedenheit in der jeweiligen seinsmäßigen Ausschließlichkeit gewisser sachlicher Bestimmungen. Sachen und deren Attribute können zwar leicht mit Sachverhalten verwechselt werden. Der Grund liegt darin, daß sich eine Sache und ihr Attribut gleichsam als ein »Selbstverhalten« der Sache anbieten und damit 777 778
REINACH [1989], 113f. REINACH [1989], 426.
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als ein Sachverhalt. Ein weiterer Grund liegt in gewissen sprachlichen Ähnlichkeiten und den damit einhergehenden, aber unbedeutend erscheinenden sprachlichen Verschiedenheiten, die ihrerseits nahelegen, daß der Sache nach kein Unterschied besteht. Eine derartige »Umdeutung« von Sachverhalten in Sachen und ihre Attribute ist, wie REINACH herausstellt, »zwar irrig, aber doch mangels näherer Analyse möglich«.779 Wendet man sich aber den Sachen selbst zu, dann läßt sich die Auffassung einer Reduzierbarkeit von Sachverhalte auf Sachen und deren Attribute nicht halten. 4.4.2 Sachverhalt und räumliche Relation Nun soll untersucht werden, ob Sachverhalte nichts weiter als Relationen sind. Diese Untersuchung ist von großer Bedeutung. Denn wie REINACH und auch SEIFERT herausstellen, erblickt die aristotelische Tradition in Relationen die eigentlichen Gegenstände von (kategorischen) Urteilen. Daher liegt die mögliche Überzeugung nahe, daß Sachverhalte nichts anderes als Relationen bzw. auf Relationen zu reduzieren sind.780 Ausdrücke wie »neben«, »auf«, »oberhalb«, »unterhalb«, »links von«, »rechts von« und dergleichen mehr bezeichnen Relationen. »Das blaue Buch liegt auf dem Tisch«. Damit liegt eine Relation vor zwischen dem Buch und dem Tisch, und zwar eine räumliche Beziehung, ein räumliches Verhältnis des »oberhalb« und »unterhalb«. Der fragliche Sachverhalt ist das Auf-dem-Tisch-liegen-des-blauen-Buches. Da Relation Beziehung besagt und Beziehung der Terme bedarf, die in Beziehung stehen, steht zu erwarten, daß der Sachverhalt die Beziehung oder das Verhältnis zwischen zwei aufeinander Bezogenen insgesamt ist. 779
780
REINACH [1989], 122. Diese treffende Feststellung REINACHS bezieht sich im konkreten Kontext auf die Umdeutung von (gewissen) Sachverhalten auf Relationen. Sie gilt aber nicht nur für die Umdeutung von Sachverhalten auf Sachattribute wie Relationen, sondern für die Umdeutung von Sachverhalten auf Sachen und ihre Attribute überhaupt. »Herrschend in der Logik ist seit Aristoteles die Ansicht, daß Gegenstandsbeziehungen im Urteile gesetzt werden. Und in der Tat liegt es ja nahe: Wenn Gegenstände nicht geurteilt werden können, so scheinen nur Relationen von Gegenständen als Urteilskorrelate übrig zu bleiben.« REINACH [1989], 112. S. auch SEIFERT [1996], 337.
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An dieser Stelle ist es wichtig zu sehen, daß es nicht um die Frage geht, ob Sachverhalte in irgendwelche Beziehung treten können. Es soll unten deutlich werden, daß es sogar Beziehungen gibt, die allein zwischen Sachverhalten bestehen können. Es geht vielmehr um die Frage, ob Sachverhalte überhaupt oder wenigstens einige Sachverhalte per se Relationen, Beziehungen oder Verhältnisse sind bzw. sein können. Das blaue Buch steht also in einer Beziehung zum Tisch, die in dem Wort »auf« zum Ausdruck kommt. Es handelt sich hier um die räumliche Beziehung, die zwischen dem blauen Buch und dem Tisch besteht, insofern diese Relation eine auf den Tisch bezogene Bestimmung des blauen Buches ist. Aber sobald man sich dem Sachverhalt, daß das blaue Buch auf dem Tisch liegt, zuwendet, wird deutlich, daß dieser Sachverhalt unmöglich eine räumliche Relation zwischen Buch und Tisch sein kann. Denn, daß das blaue Buch auf dem Tisch liegt, ist weder ein blaues Buch noch ein Tisch, und daher kann der Sachverhalt auch nicht die räumliche Relation zwischen beiden sein! Nun könnte jemand einerseits einsehen, daß der Sachverhalt etwas völlig anderes ist als das Buch und der Tisch. Aber gleichzeitig könnte daran festgehalten werden, daß der Sachverhalt die räumliche Beziehung »zwischen« Buch und Tisch sei. Aber wenn der Sachverhalt als ganzer eine räumliche Beziehung sein soll, dann ergibt sich die absurde Konsequenz, daß auch Buch und Tisch nicht in Relation stehen, sondern selbst irgendwie Relation sind, da ja der Sachverhalt, daß das Buch auf dem Tisch liegt, als ganzer die räumliche Relation sein soll. Der Sachverhalt, daß das blaue Buch auf dem Tisch liegt, müßte als Relation etwas aufeinander beziehen, aber da ist nichts, was der Sachverhalt als solcher aufeinander bezieht, da Buch und Tisch bereits irgendwie im Sachverhalt sind. Der Sachverhalt besteht gar nicht »zwischen« Buch und Tisch, er liegt gar nicht dort, wo gewissermaßen die Relation ihre Stelle hat, vielmehr sind sowohl das Buch als auch der Tisch als auch die zwischen ihnen liegende Relation irgendwie »in« dem Sachverhalt, der somit unmöglich die Relation zwischen Buch und Tisch sein kann. Sagt also jemand, daß der Sachverhalt selber die Relation zwischen Buch und Tisch sei, stellt sich umgehend die Frage »zwischen« was der Sachverhalt des Auf-dem-Tisch-liegens-des-blauen-Buches liegen soll, bzw. es stellt sich die Frage, »welche Beziehung zwischen was« der Sachverhalt überhaupt sein soll? Buch und Tisch sind ja irgendwie »im« Sachverhalt
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und deren Verhältnis ebenso, so daß der Sachverhalt nicht mehr selber dieses »Zwischen« sein kann. Wäre er das, so wäre er irgendwie zwischen sich selbst, da er selber das Verhältnis »in« ihm wäre, und das Auf-demTisch-liegen-des-blauen-Buches wäre dann insgesamt das Verhältnis zwischen Buch und Tisch. Nicht das Buch wäre dann auf dem Tisch, sondern es würde sich der Sachverhalt, daß das blaue Buch auf dem Tisch liegt, ebenfalls auf dem Tisch befinden, wobei nun auch der Tisch »im« Sachverhalt mit diesem irgendwie auf sich selber liegen würde. Da die Relation eine Bestimmung oder Eigenschaft des blauen Buches ist, müßte, wenn der Sachverhalt nichts anderes wäre als diese Relation, mit ihm auch das Buch, dessen Blausein und der Tisch eine räumlich-relationale Eigenschaft des blauen Buches sein, was unmöglich und absurd ist. Es wird deutlich: Der Sachverhalt, daß das blaue Buch auf dem Tisch liegt, ist selbst keine räumliche Beziehung zwischen Buch und Tisch, vielmehr ist die Beziehung »in« ihm zwischen Buch und Tisch, die ebenfalls »im« Sachverhalt »stehen«. Es läßt sich allenfalls sagen, im Sachverhalt kommt das Daraufsein zum Ausdruck, es läßt sich, wie unten aus dem Zitat von SIMONS hervorgeht, auch sagen, daß der Sachverhalt, das Daraufsein »betrifft«, aber er ist nicht das Daraufsein. Und damit ist er auch nicht die entsprechende räumliche Relation. Wenn VENDLER sagt: »[Man kann nicht] find a fact under the sofa«, dann bringt der damit die Einsicht zum Ausdruck, daß ein Sachverhalt wie, daß der Ball unter dem Sofa liegt, unmöglich unter dem Sofa liegen kann.781 Derselben Einsicht gibt auch SIMONS Ausdruck, wenn er sagt: »Nehmen wir etwa die Tatsache, daß Leeds nördlich von London liegt. Diese ist weder in Leeds noch in London, noch erstreckt sie sich wie eine Schnur zwischen beiden Städten (so wie die Autobahn M1). Die Tatsache betrifft räumliche Partikularien und ihre räumlichen Beziehungen, doch ist die Tatsache obzwar partikular, nicht selbst räumlich lokalisiert.«782
SIMONS hat völlig recht, wenn er sagt, daß der Sachverhalt, daß Leeds nördlich von London liegt, unmöglich zwischen beiden Städten liegen kann. Genauer müßte man sagen, daß er unmöglich nördlich von London 781 782
VENDLER [1967], 709f. S. auch TEXTOR [2001], 119. SIMONS [2001b], 235.
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liegen kann. Ja, der gesamte Sachverhalt ist nicht nur keine Relation bzw. räumliche Relation, er ist überhaupt nicht räumlich zu lokalisieren, da er, im Unterschied zu einem Stein, unmöglich nördlich von London auf dem Motorway 1 liegen kann. Auch mit dem möglichen Einwand, daß der Sachverhalt, daß Leeds nördlich von London liegt, zwar nicht die konkrete räumliche Relation zwischen Leeds und London sein kann, aber doch in nichts anderem besteht oder nichts anderes ist als das Aufeinander-bezogen-sein-von-Leedsund-London läßt sich nichts gewinnen. Denn wenn auch der Sachverhalt zwar keine konkretisierte Relation betrifft, sondern lediglich eine nicht näher bestimmte ›Relation überhaupt‹, so kann er nicht diese »unbestimmte« Relation sein, weil er unmöglich eine Relation sein kann. Die Relation ist eine Eigenschaft von Leeds und London, insofern diese beiden britischen Städte räumlich aufeinander bezogen sind, aber der Sachverhalt, daß diese Städte räumlich aufeinander bezogen sind, ist keine Eigenschaft dieser beiden Städte, er steht lediglich in Bezug auf die Städte und ihre Eigenschaft, wie SIMONS durchaus treffend sagt, er »betrifft« diese Städte und ihre räumliche Beziehung. 4.4.3 Sachverhalt und Ähnlichkeitsrelation Es ließen sich nun beliebige weitere Sachverhalte mit demselben Ergebnis daraufhin betrachten, ob sie nichts weiter als Relationen sind. SEIFERT bringt ein Beispiel aus der Sphäre der Farben. Rot und Orange sind einander ähnlich. Aber der Sachverhalt des Ähnlich-seins-von-Rotund-Orange ist selber nicht ähnlich oder eine Ähnlichkeit oder ein Ähnlichsein und damit auch keine Relation, »zwischen« was auch? So ist also der Sachverhalt, daß zwei Farben einander ähnlich sind, selber keine Beziehung der Ähnlichkeit zwischen zwei Farben!783 Der Sachverhalt ist nicht »zwischen« zwei Farben, und er ist nicht deren Ähnlichkeit, zwei Farben und deren Ähnlichkeit sind vielmehr »in« ihm, ohne daß er selber »ähnlich« wäre oder eine »Ähnlichkeit« darstellte oder in einem Verhältnis 783
»Die wesenhafte Unvereinbarkeit der Prädikate von Relationen und Sachverhalten erweist sich genausogut in anderen Fällen. So ist z.B. die Relation zwischen den Farben Rot und Orange eine Ähnlichkeit, der Sachverhalt ist keine Ähnlichkeit […].« SEIFERT [1996], 338.
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der Ähnlichkeit stünde wie Rot und Orange. Der Sachverhalt kann nicht die Ähnlichkeit zwischen Rot und Orange sein, weil er in keiner Weise auch nicht teilweise rot und orange ist. Er könnte nur dann die Ähnlichkeit zwischen beiden sein, wenn er selbst irgendwie »ähneln« würde, d.h., wenn er selbst irgendwie Rot und/oder Orange wäre, aber der Sachverhalt, daß Rot und Orange einander ähnlich sind, kann unmöglich selber farbig sein. 4.4.4 Sachverhalt und bewußte Relationen Wenn Sachverhalte und Relationen dasselbe wären, dann wären bewußte Relationen bewußte Sachverhalte. Eine bewußte Relation würde also bedeuten, daß der entsprechende »Sachverhalt« als solcher bewußt ist. Auf diese Konsequenz macht SEIFERT zu Recht aufmerksam. Anhand von bewußten Relationen läßt sich mit SEIFERT auch der fundamentale Unterschied von Relationen und Sachverhalten veranschaulichen. »Die Relation meines Erkenntnisaktes zu dessen Gegenstand kann als bewußte intentionale Relation klar vom Sachverhalt unterschieden werden, daß eine solche Relation besteht. Ein Sachverhalt ist weder je bewußt und intentional, noch kommt er einem Akt zu wie die Erkenntnisrelation zum Erkenntnisgegenstand dem Akt des Erkennens selbst zugehört. Diese Relation ist eine dem Akt selbst in seiner Beziehung zum Objekt eigene Eigenschaft […]. Sie ist in der Tat ein Akzidenz, eine besondere Bestimmtheit einer Sache in ihrem Bezug auf eine andere. Der Sachverhalt ist keine solche einseitige oder doppelseitige Bestimmtheit meines Erkennens oder anderer Gegenstände und Attribute.«784
Eingangs war bereits die Rede von intentionalen Akten als Relationen, in die wir als begreifende oder urteilende Personen zum Begriffenen oder Geurteilten treten können. Mit dem Urteil »Das blaue Buch steht auf dem Tisch« steht eine Person in einer bewußten Beziehung zu einem Sachverhalt. Die Person richtet sich urteilend bewußt auf einen Sachverhalt. Es besteht daher der Sachverhalt, daß die Person urteilend bewußt auf das Blau-sein des Buches gerichtet ist. Wenn nun Relationen Sachverhalte, und daher bewußte Relationen bewußte Sachverhalte wären, so müßte der 784
SEIFERT [1996], 338.
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obige Sachverhalt bewußt sein, bewußt auf etwas gerichtet und als ein Akt die akzidentelle Bestimmung eines Bewußteins im Bezug auf ein intentionales Objekt sein. Wäre der Sachverhalt die Relation selbst, so müßte er intentional auf den entsprechenden Gegenstand bezogen sein. Der Sachverhalt, daß die Person urteilend bewußt auf das blaue Buch gerichtet ist, ist selber aber nicht bewußt und hat kein Bewußtsein von etwas, insofern er bewußt auf ein Objekt gerichtet wäre. Da er in keiner Erkenntnisrelation zum Erkenntnisgegenstand steht, ist er auch kein intentionaler Akt in dessen Relativ-sein-auf-Etwas. Kurzum: Um eine Relation zu sein, müßte er sein, was alle Relationen sind: die Bestimmung eines Relaten. Aber gerade dies ist er nicht, vielmehr sind Relaten und Relation »in« den Sachverhalt »eingegangen« (SEIFERT). Es gibt Relationen, die bewußt sind, und diese bewußten Relationen werden auch notwendigerweise ihrerseits von einem entsprechenden Sachverhalt betroffen. Sachverhalte hingegen können, wie SEIFERT oben zu Recht betont, niemals bewußt sein oder Bewußtsein haben, mögen auch noch so viele bewußte Akte bzw. intentionale Relationen von ihnen betroffen sein. Ja, jede konkrete intentionale Relation muß auch von einem entsprechenden Sachverhalt betroffen sein, ohne daß dieser Sachverhalt selber diese Relation würde sein können. Im Übrigen lassen sich Relationen »genauso wenig unmittelbar« behaupten »wie ein Ding oder sein Attribut«, wie SEIFERT treffend bemerkt. Schon deshalb können Sachverhalte niemals Relationen sein. Um den Gegenstand der Behauptung zu erreichen, muß man vielmehr von der Relation »zum entsprechenden Sachverhalt übergehen«.785 Ein intentionaler Akt, der in der Tat eine Relation ist, läßt sich als solcher nicht behaupten. Es kann allerdings behauptet werden, daß ein Akt intentional ist. Der intentionale Akt jedoch und der Sachverhalt, daß ein Akt intentional ist, sind zwei völlig verschiedene Gegebenheiten. Der intentionale Akt ist notwendig bewußt und notwendig eine Relation, aber der Sachverhalt, daß 785
»Um eine Relation, z.B. Vaterschaft, zum Gegenstand eines Urteils zu machen, muß ich ferner über die Relation als solche hinausgehen und zum entsprechenden Sachverhalt übergehen. Die Relation Vater-Sohn, Gelb-Orange, Erkenntnis-Gegenstand, größer-kleiner usf. kann genauso wenig unmittelbar Gegenstand meines Urteils werden wie ein Ding oder sein Attribut.« SEIFERT [1996], 338.
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der intentionale Akt notwendig bewußt und notwendig eine Relation ist, kann notwendigerweise nicht bewußt und keine Relation sein. Es »zeigt sich« wie SEIFERT ausführt, »einfach von der Natur einer Relation, z.B. der bewußten intentionalen Relation meines Erkenntnisaktes zu seinem Gegenstand, daß diese Relation selbst nicht ein Sachverhalt ist und radikal von diesem verschiedene Prädikate besitzt, was die Verschiedenheit dieser Relation vom entsprechenden Sachverhalt, ja die allgemeine Verschiedenheit von Relation und Sachverhalt eindeutig beweist; das letztere deshalb, weil viele Prädikate aller Arten von Relationen prinzipiell niemals Sachverhalten zukommen können.«786
Relationen bestehen zwischen zwei Relaten. Sie »haften« den Relaten »an«, insofern sie deren Bestimmungen sind. Ein Sachverhalt, der diese Relate und ihre Relation betrifft, besteht nicht zwischen zwei Relaten. Vielmehr besteht die Relation »im« Sachverhalt, was freilich nicht heißt, daß Sachverhalte keine Relaten sein können. Der Sachverhalt ist auch keine Bestimmung bzw. kein Attribut der Sache. 4.4.5 Sachverhalt und ontologische Relation. Kritische Anmerkung zu Reinachs Begriff eines »ergänzungsbedürftigen Sachverhaltes« Eigentlich ist es auf der Grundlage des bisher Erörterten nicht nötig, ontologische Relationen wie die der Inhärenz ins Auge zu fassen. Da Sachverhalte keine Relationen sind, können sie auch keine ontologischen Relationen sein. Da gewisse Sachverhalte aber sehr leicht gerade mit der ontologischen Relation der Inhärenz verwechselt werden können, soll hier dennoch darauf eingegangen werden. Überdies scheint, wie gleich deutlich werden soll, REINACH der Auffassung zu sein, daß einige Relationen, wie zum Beispiel die des Inhärentseins und Ähnlichseins, Sachverhalte sein können. Diese Auffassung soll hier kritisch berücksichtigt werden. Man könnte der Auffassung sein, daß der Sachverhalt des Blau-seinsdes-Buches darin besteht, daß das Blau dem Buch inhäriert. Man kann, wie es scheint, umgehend sehen, wie »verlockend« diese Auffassung ist. Diese Verlockung gründet in der Äquivozität des sprachlichen Ausdrucks. Denn 786
SEIFERT [1996], 337.
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Kapitel 4
obwohl sich ein Sachverhalt mit einer gewissen sprachlichen Selbstverständlichkeit durch einen substantivierten Infinitiv ausdrücken läßt, kann durch denselben sprachlichen Ausdruck auch etwas gemeint sein, was am Buch tatsächlich da ist, nämlich das am Buch wirklich daseiende Blau. Der schriftliche Ausdruck »Blau-sein-des-Buches« ließe sich als Graphem für das hier Gemeinte anführen. Phonetisch könnte das Gemeinte dadurch zum Ausdruck gebracht werden, daß der Sprecher das sein eigens betont. Ferner kann durch den Ausdruck »Blau-sein-des-Buches« gemeint sein, daß das Blau dem Buch tatsächlich anhaftet oder tatsächlich inhäriert. In diesem Fall würde man zwar vom »Blau-sein-des-Buches« sprechen, aber insbesondere meinen, daß das Blau »im« Buch ist. SEIFERT weist auf diese mögliche Mehrdeutigkeit eines substantivierten Infinitivs hin, wenn er schreibt: »Auch diese Formel [das a-Sein oder das nicht-a-Sein eines B] für die allgemeine ontologische Struktur des Sachverhalts kann als solche weder den positiven noch den negativen Sachverhalt korrekt definieren, sondern bedarf noch zusätzlicher Klärungen. Denn z.B. könnte mit dem ›Gelbsein eines Baumes‹ nicht das Phänomen des Sachverhaltes gemeint sein, daß der Baum gelb ist, sondern vielmehr das Sein des Gelb, das sich an einem Baum findet, oder das tatsächliche Anhaften des Prädikates gelb an den Blättern des Baumes. Ein solches Inhärieren der Farbe in einem Baum ist jedoch zweifellos ebensowenig wie das Dasein des Gelb ein Sachverhalt […] .«787
Hier wird einmal mehr deutlich, daß sich ein und derselbe sprachliche Ausdruck nicht für einen Gegenstand reservieren läßt und in vielen Fällen tatsächlich nicht reserviert ist. Aufgrund dieser sprachlichen Selbigkeit kann der Sachverhalt Blau-sein-des-Buches leicht mit dem »Blau-sein-desBuches« im Sinne des Inhärierens des Blau im Buch bzw. für das zwischen Blau und Buch bestehende ontologische Verhältnis der Inhärenz gehalten werden. Daher ist es notwendig, die Mehrdeutigkeit eines Ausdrucks genau zu sehen und die gemeinten bzw. bezeichneten Dinge als solche ins Auge zu fassen. Dabei ergibt sich das folgende Resultat: Der Sachverhalt, daß das Buch blau ist, kann unmöglich die Relation der ontologischen Inhärenz 787
SEIFERT [1996], 330.
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sein, die zwischen dem Blau und dem Buch besteht, insofern das Blau als farbliche Bestimmung dem Buch anhaftet bzw. inhäriert oder als farbliche Bestimmung »in« dem Buch ist. Denn der Sachverhalt, daß das Buch blau ist, ist kein Blau und er ist auch kein Inhärieren, er ist also nicht die inhärierende Gegebenheit und kann sich unmöglich im Sinne der Relation des Inhärierens an dem Buch finden lassen. Der Sachverhalt kann ebensowenig die Relation des Anhaftens sein, wie der Sachverhalt, daß Rot und Orange einander ähnlich sind, die Ähnlichkeit oder das Ähnlichsein von Rot und Orange sein kann. Die Beziehung des Anhaftens besteht »zwischen« dem Buch und dem Blau, aber der Sachverhalt, daß das Buch blau ist, besteht nicht zwischen dem Buch und dem Blau. Es könnte sich nun eine Stimme melden, die sagt: »Der Sachverhalt, daß das Buch blau ist, kann nicht die ontologische Relation der Inhärenz des Blau in dem Buch sein. Aber wie steht es mit Sachverhalten, die offenkundig eine ontologische Relation betreffen, weil eine solche ausdrücklich in ihnen vorkommt? Ist nicht der Sachverhalt, daß das Blau dem Buch inhäriert, oder das Inhärent-sein-des-Blau-im-Buch die Relation des Inhärentseins?« Aber auch hier läßt sich nur antworten: Die Relation zwischen Buch und dessen blauer Färbung ist eine Inhärenz, aber der Sachverhalt, daß das Blau dem Buch inhäriert, ist in keiner Weise eine Inhärenz des Blau in dem Buch, und er findet sich auch nicht »zwischen« dem Blau und dem Buch und kann somit unmöglich die Relation der Inhärenz sein. Der Sachverhalt betrifft zwar die Beziehung. Er kann jedoch gerade deshalb unmöglich die Beziehung selbst sein, da diese sich unmöglich selbst betreffen oder im Hinblick auf sich selbst noch einmal eigens eine Beziehung der Inhärenz sein kann. Erstaunlicherweise scheint gerade REINACH eine Position zu vertreten, die etwa dem soeben skizzierten Einwand entspricht. In seiner Behandlung der Frage, ob gewisse Relationen Sachverhalte sein können, stellt REINACH zunächst fest, daß allein Sachverhalte behauptbar sind. »Im Streite, ob beliebige Gegenständlichkeiten, oder ob nur Relationen geurteilt werden können, haben beide Parteien Unrecht. Man hat jenes dritte Gebilde verkannt – den Sachverhalt – , welches weder Gegenstand
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Kapitel 4 ist noch Relation, und welches wesensgesetzlich allein das intentionale Korrelat für Urteile abgeben kann.«788
Diese Aussage trifft REINACH im Hinblick auf jene Positionen, die den Gegenstand von Behauptungen zwar als »Sachverhalt« bezeichnen mögen, dann aber dessen sachliches Wesen als Sache oder als Relation bestimmen. So kommt es in dem einen Fall zu einer Reduktion von Sachverhalten auf Relationen. »Der Sachverhalt, daß Theaitetos sitzt, bestünde dann in einer Relation zwischen Theaitetos und Sitzen«, wie SEIFERT sich treffend ausdrückt.«789 Behauptungen beziehen sich dieser Auffassung gemäß in jedem Fall auf Relationen, diese sind immer das intentionale Korrelat von Behauptungen, ganz gleich, ob im Zuge der Behauptung irgendwelche Relationen auch ausdrücklich thematisiert werden. Diese Position lehnt REINACH allerdings ab. Daß es sich bei den Gegenständen von Urteilen wie »Theaitetos sitzt« oder »Die Rose ist rot« jedoch nicht um Relationen handeln kann, hängt in REINACHS Augen damit zusammen, daß seitens dieser Urteile überhaupt keine Relationen thematisch sind.790 Aber gleich im Anschluß an das oben angeführte Zitat schreibt REINACH: »Man wird nun fragen, wie es denn mit Urteilen steht wie ›A inhäriert dem B‹ oder ›A ist dem B ähnlich‹. Wenn auch zugegeben wird, daß in dem Urteil ›A ist B‹ keine Relation geurteilt wird, so scheint es doch in diesen Fällen sich anders zu verhalten. […] Das ähnlich-sein von A und B ist etwas, das behauptet […] werden kann […]. Es ist also sicherlich ein Sachverhalt. Bezeichnet man es und andere Sachverhalte gleicher Form als Relationen, so ist zu sagen: Es gibt Sachverhalte, die Relationen sind, und andere, wie das b-sein eines A, welche es nicht sind. Demgemäß gehen auch die Urteile bald auf Relationen, bald auf Nichtrelationen; aber auch da, wo sie auf Relationen gehen, wird diese intentionale Beziehung dadurch, daß diese Relationen Sachverhalte sind, und nicht dadurch, daß sie Relationen sind, vermittelt.«791
788 789 790
791
REINACH [1989], 120. SEIFERT [1996], 337. REINACH [1989], 112. REINACH macht dies deutlich, indem er das Urteil »Die Rose ist rot« mit dem Urteil »Das Rot inhäriert der Rose« vergleicht. Nur bei Urteilen nach Art des letzteren »finden sich Relationen auf der gegenständlichen Seite«. REINACH [1989], 112. REINACH [1989], 120f.
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REINACH vertritt hier offensichtlich die Auffassung, daß einige Behauptungen auf Relationen gehen. Dazu zählt er Behauptungen wie »A inhäriert dem B« und »A und B sind ähnlich«. Diese Behauptungen hätten das Inhärent-sein-von-A-in-B bzw. das Ähnlich-sein-von-A-und-B zum Gegenstand. Diese Gegenstände seien. wie REINACH meint, allerdings Relationen, die ausdrücklich behauptet werden, und die, weil sie ausdrücklich behauptet werden können, auch Sachverhalte sein müssen. Es ist nicht ganz leicht nachzuvollziehen, wie REINACH, der Relationen und Sachverhalte sonst so meisterhaft voneinander zu unterscheiden versteht, meinen kann, daß einige Relationen zugleich Sachverhalte seien und umgekehrt.792 Er scheint sich selbst eine »schiefe Bahn« zu legen, insofern er sein Argument gegen Relationen als Gegenstände von Behauptungen, wie »Die Rose ist rot«, davon abhängig macht, daß in diesen Behauptungen Relationen als solche in keiner Weise thematisch sind.793 Denn eine Säule seiner Argumentation besteht ganz offenkundig darin, daß Relationen genau dann Sachverhalte sein können, wenn sie sich behaupten lassen, da alles, was Gegenstand einer Behauptung ist, auch ein Sachverhalt sein muß. In Relationen wie »Ähnlich-sein« und »Inhärent-sein« meint REINACH nun Relationen erblicken zu können, die auch behauptet werden 792
793
Wie oben bereits deutlich wurde, arbeit REINACH mit äußerster Deutlichkeit und Klarheit heraus, daß allein Sachverhalte die eigentlichen und unmittelbaren objektiven Korrelate von Urteilen sein können. Insbesondere auf dem Fundament seiner Phänomenologie des Urteilsinhaltes und des objektiven Urteilskorrelates unterscheidet REINACH Sachverhalte von Sachen und auch von Relationen, insofern er meisterhaft zeigt, daß Sachen als Sachen und Relationen als Relationen nicht behauptet werden können. Eines seiner frappanten und höchst evidenten Argumente gegen die Reduktion des objektiven Urteilskorrelats (des Sachverhalts) auf Relationen geht von negativen Urteilen aus. Wenn die Korrelate der Urteile Relationen wären, müßten die Korrelate negativer Urteile negative Relationen sein. Aber die Absurdität von ontologisch-negativen Relationen offenbart, daß es sich beim Korrelat negativer Urteile unmöglich um irgendwelche Relationen handeln kann. Das Korrelat eines negativen Urteils ist vielmehr ein negativer Sachverhalt, der etwas völlig anderes ist als eine in sich ohnehin unmögliche »negative Relation«. S. REINACH [1989], 122. »›Die Rose subsistiert dem Rot‹; ›das [sic] Rot ist der Rose inhärent‹. Hier haben wir die eigenartigen, konversen Relationen der dinglichen Subsistenz und Inhärenz. Sie werden aber in dem Urteil ›die [sic] Rose ist rot‹ sicherlich nicht gesetzt.« REINACH [1989], 112. S. dazu alle Ausführungen REINACHS auf derselben Seite.
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können. Was REINACH meint, läßt sich vielleicht durch folgende Beispiele näher verdeutlichen: Redewendungen wie »Er behauptet das Ähnlichsein von B und A« oder »Er behauptet das Inhärentsein von a in B«, die grammatikalisch völlig korrekt und gebräuchlich sind, legen ja nahe, daß der Gegenstand der Behauptungen im Inhärentsein oder Ähnlichsein (von A und B) als solchem besteht. Da es sich hier um Relationen handelt und diese Gegenstand von Behauptungen sind, müssen diese Relationen in REINACHS Augen auch Sachverhalte sein. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang REINACHS Betonung, daß »diese Relationen« nur deshalb das intentionale Korrelat von Urteilen sein können, weil ihnen diese Möglichkeit durch ihr (gleichzeitiges) Sachverhaltsein »vermittelt« werde. Dabei übersieht REINACH keinesfalls, daß etwa das Inhärentsein und Ähnlichsein als Gegenstände einer Behauptung irgendwie durch eine gewisse Unvollständigkeit gekennzeichnet sind, insofern in beiden Fällen das A und das B fehlt. Da aber das Inhärentsein und Ähnlichsein unbeschadet ihrer Unvollständigkeit behauptbar seien, müßten sie, so REINACH, auch irgendwie Sachverhalte sein. Und tatsächlich spricht REINACH im Hinblick auf Gegebenheiten wie »links-sein«, »oben- und unten-sein« und Ähnlichsein und Inhärentsein ausdrücklich von Sachverhalten. Diese seien, wie REINACH sich ausdrückt, von »allerdings ergänzungsbedürftiger« Natur.794 REINACH scheint hier durchaus zu entgehen, daß Gegebenheiten wie das Linkssein, Rechtssein und Ähnlichsein und Inhärentsein keine Sachverhalte und auch keine »ergänzungsbedürftigen« Sachverhalte sein können, und damit gleichsam ein Sachverhaltsstück, das – wenn dieser etwas saloppe Vergleich gestattet ist – als Stück schon Sachverhalt ist wie das Kuchenstück Kuchen ist. Schon gar nicht ist es möglich, daß es sich bei den oben genannten Gegebenheiten, die in der Tat verschiedene Relationen sind, auch um Sachverhalte handelt, denn Sachverhalte können zwar Relationen betreffen, ja es muß jede tatsächliche Relation auch von einem bestehenden Sachverhalt betroffen sein, Sachverhalte können auch selber Relate gewisser Relation sein, aber Sachverhalte können niemals als solche Relationen sein. Relationen wie das Linkssein und Ähnlichsein oder Inhärentsein können auch nicht behauptet werden. Wenn davon gesprochen 794
REINACH [1989], 121.
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wird, daß Ähnlichsein und Inhärentsein (unmittelbare) Gegenstände einer Behauptung sein können, dann nur deshalb, weil es sich bei Ausdrücken wie »Inhärentsein« und »Inhärent-sein« auch um sprachlich verkürzte Ausdrücke handelt, mit denen trotz ihres elliptischen Charakters Daten wie das Inhärent-sein-von-A-in-B und d.h. Sachverhalte gemeint sind. Was hier ergänzungsbedürftig ist, ist das verkürzte sprachliche Zeichen für den fraglichen Sachverhalt. Dieser Sachverhalt selbst jedoch ist in keiner Weise ergänzungsbedürftig. Zwar betreffen die Sachverhalte des Inhärent-seinsvon-A-in-B und des Ähnlich-seins-von-A-und-B die ontologischen Relationen der Inhärenz und der Ähnlichkeit, sie können aber selber unter keinen Umständen eine Inhärenz und eine Ähnlichkeit bzw. ein Inhärentsein von etwas in etwas oder ein Ähnlichsein von etwas und etwas und damit auch keine Relationen sein. Die Äquivozität der Ausdrücke »Inhärentsein« und »Ähnlichsein«, die einmal auf Relationen abzielen und ein andermal die verkürzten sprachlichen Ausdrücke für die anvisierten Sachverhalte, daß das A dem B inhärent ist und daß A und B ähnlich sind sein können, scheint REINACH zu entgehen. So kommt es, daß er das »Inhärentsein« nicht für einen verkürzten Ausdruck, sondern irgendwie für einen »ergänzungsbedürftigen Sachverhalt« hält, der als solcher auch eine Relation sein soll. Keine Behauptung ist imstande, sich auf eine Relation als ihr direktes intentionales Korrelat zu beziehen. Daher können Relationen auch niemals Sachverhalte sein. Allerdings können sich Behauptungen indirekt auf Relationen beziehen, wenn der von der Behauptung direkt und ausdrücklich thematisierte Sachverhalt irgendwelche Relationen ausdrücklich betrifft, sich ausdrücklich auf diese bezieht oder diese »enthält«.795 Verwirrenderweise spricht REINACH im selben Atemzug davon, daß es Relationen gebe, die »zugleich Sachverhalte« seien und davon, daß eben diese (Relations)Sachverhalte »Relationen als gegenständliche Elemente enthalten [Kursiv v. Verf.]«. 795
Das kann auch nicht anders sein, da, wie noch zu zeigen sein wird, alles Seiende entsprechende Sachverhalte fundieren muß bzw. in bezug auf alle Seienden gewisse Sachverhalte bestehen müssen. Zu dem hier anklingenden Bestehen von Sachverhalten »in bezug« auf Sachen und zum »eingehen« von Sachen »in« Sachverhalte und ganz allgemein der »Transzendenz« der Sachverhahlte s. Abschnitt. 4.5.
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Kapitel 4 »So sehen wir: Es gibt Relationen in zweierlei Sinn; nach dem einen sind die Relationen zugleich Sachverhalte [Linkssein, Ähnlichsein usw.], nach dem zweiten sind sie es niemals [links, ähnlich]. […] für unseren Zusammenhang wollen wir die Konsequenz ziehen: Nehmen wir Relation im zweiten Sinn, so können Relationen niemals geurteilt werden, da sie dann ja niemals Sachverhalte sind. Man könnte dann die Sachverhalte einteilen in solche, in denen Relationen als gegenständliche Elemente enthalten sind – wie das Ähnlichsein von A und B –, und solche, bei denen das nicht der Fall ist – wie das Rotsein einer Rose.«796
REINACH sieht offenbar nicht, daß das freilich mögliche, ja notwendige »Enthaltensein« einer Relation in einem Sachverhalt diesen Sachverhalt niemals selbst zu einer Relation machen kann. Denn im Zuge der Behauptung »A und B sind ähnlich« ist zwar ausdrücklich von einem »Ähnlichsein« die Rede, und das Ähnlichsein ist als solches eine ontologische Relation. Aber das Ähneln oder Ähnlichsein ist als Relation nur der indirekte Gegenstand der Behauptung, insofern sich der behauptete Sachverhalt seinerseits auf eine Relation bezieht. Keinesfalls können Relationen bzw. einige Relationen, wie REINACH zu meinen scheint, auch nur irgendwie »ergänzungsbedürftige Sachverhalte« oder Sachverhalte überhaupt und als solche behauptbar sein. Wenn also REINACH ausdrücklich hervorhebt, daß es Sachverhalte gebe, »die Relationen sind«,797 und in diesem Sinn auch von »Relationssachverhalten« spricht, dann ist dies schlicht unzutreffend.798 Das obige Zitat läßt sich allerdings auch als Ausdruck eines Schwankens lesen, welches damit zusammenhängt, daß REINACH in diesem Punkt die in Frage stehenden Gegebenheiten nicht klar und eindeutig zur Anschauung bringen kann und infolgedessen mal in die richtige, mal in die falsche Richtung neigt. Diese Lesart würde auch durch die oben bereits angeführte durchaus sonderbare Aussage unterstützt, daß eine Relation immer nur durch die »Vermittlung« ihres Sachverhaltseins Gegenstand einer Behauptung werden könne. REINACH hätte mit der Behauptung der Vermittlung völlig Recht, wenn er in den fraglichen Relationen nicht zugleich Sachverhalte erblickte. 796 797
798
REINACH [1989], 121f. REINACH [1989], 121. »Gegenstandsbeziehungen sind also nach Reinach ein Fall von Sachverhalt, nicht aber das Typische am Sachverhalt.« HABBEL [1959], 54. REINACH [1989], 126, Fußn. 1.
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4.4.6 Unterschied zwischen Sachverhalten und dem »Verhalten« bzw. den Verhaltensweisen einer Sache Sachverhalte werden des öfteren als das »Selbstverhalten« einer Sache bestimmt. So sprechen etwa Denker wie HENGSTENBERG, PFÄNDER und WENISCH vom Sachverhalt »als dem Verhalten des Gegenstandes zu sich selbst«.799 Diese Bestimmung hat in gewissen Hinsichten auch durchaus ihre Berechtigung. Allerdings hat diese Beschreibung auch ihre Grenzen. Es ergibt sich abermals die Aufgabe, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob Sachverhalte als »Selbstverhalten« der Sache nichts anderes als das Verhalten der fraglichen Sache sind. Gerade die Rede von Sachverhalten kann dazu veranlassen, in diesen nichts anderes als eine Verhaltensweise der entsprechenden Sache zu sehen. Auch hier ist es wieder nötig, sich einerseits etwa den Sachverhalt, daß ein Seiendes sich so und so verhält, und anderereits das Verhalten einer Sache als solches möglichst zur Gegebenheit zu bringen. Wiederum gilt es eine Antwort auf die Frage zu finden, welche einschlägigen Prädikate welchen Gegebenheiten zukommen und ob diese Prädikate vereinbar sind oder nicht. In gewissen Gegenden, insbesondere der Vereinigten Staaten, wächst eine Pflanzenart, welche den botanischen Namen Silphium lacinatum trägt und die im Volksmund auch Pilot Weed oder Resin Weed genannt wird. Im Rückgriff auf REGAL soll das kuriose Verhalten dieser Pflanze hier kurz dargestellt werden.800 Diese Pflanze war den amerikanischen Siedlern, die enorme Distanzen in weglosem Gebiet zurücklegen mußten, von großem Nutzen. Dieser Nutzen ergab sich aus einem sonderbaren Verhalten des Gewächses. Das Pilot Weed verhält sich nämlich so, daß es alle seine Blätter stets in eine konstante Nord-Süd-Richtung stellt. Durch dieses Verhalten wird garantiert, daß die Pflanze morgens und abends, wenn die 799
800
HENGSTENBERG [1993], 43. Vgl. PFÄNDER [2000], 26. 81. Vgl. auch WENISCH [1988], 116. Wie bereits eingangs in dieser Arbeit erwähnt (s. S. 13), erfolgen die Unterscheidungen in diesem und in den folgenden beiden Abschnitten wesentlich auf dem Hintergrund der »Transzendenz« der Sachverhalte, welche insbesondere SEIFERT eingehend analysiert hat. Diese »Transzendenz« leuchtet mit den Unterscheidungen in den Abschnitten 4.4.6-4.4.8, auch ohne vorab eigens behandelt worden zu sein, immer wieder auf. Sie wird in dieser Arbeit allerdings erst in den Abschnitten 4.5-4.8 thematisch. Zur Quellenangabe S. Fußn. 801.
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Kapitel 4
Sonne im Osten bzw. im Westen steht, deren Licht voll ausnutzen kann. Um die Mittagszeit jedoch, wenn die Sonne im Süden steht, bietet die Pflanze durch die Nord-Süd-Ausrichtung ihrer Blätter dem Sonnenlicht nur eine minimale Angriffsfläche, wodurch ein Verdorren verhindert wird. Durch diese Verhaltensweise(n) kann Silphium lacinatum dem Menschen als sichere Orientierungshilfe dienen, zumal sie ihre Ausrichtung auch nachts nicht verändert. Bei völliger Dunkelheit läßt sich die Himmelsrichtung ggf. durch Tasten an der Pflanze »ablesen«.801 Im Rahmen der hier gegebenen Thematik stellt sich nun die Frage, ob der Sachverhalt, daß Silphium lacinatum seine Blätter stets in konstanter Nord-Süd-Ausrichtung hält, nichts anderes ist als das Verhalten des Sichausrichtens. Kurz: Ist der obige Sachverhalt nichts anderes als das Verhalten bzw. Selbstverhalten der Pflanze? Das Sichausrichten der Pflanze ist in der Tat eine Verhaltensweise der Pflanze. Da es die Pflanze selbst ist, die sich da so und so verhält, ist dieses Verhalten eine echte Eigenschaft der Pflanze. Im Hinblick auf die mit diesem Verhalten gegebenen Bewegungszusammenhänge läßt sich dieses Verhalten mit ARISTOTELES als »Lage« der Pflanze bezeichnen. Es ist m.a.W. das Verhalten der Pflanze ein echtes Attribut der Pflanze selbst. Aber der Sachverhalt, daß Silphium lacinatum seine Blätter stets in konstanter Nord-Süd-Ausrichtung hält, ist in keiner Weise ein Sichausrichten der Pflanze. Der Sachverhalt hat ja auch keine Blätter, er stellt sich auch nicht in Nord-Süd-Richtung und ist somit auch nicht das Verhalten der Pflanze, und schon gar nicht ist er die Pflanze selbst, die sich da so verhält. Das Sichausrichten ist eine echte »Tätigkeit« der Pflanze, aber der Sachverhalt, daß Silphium lacinatum seine Blätter stets in konstanter Nord-Süd-Ausrichtung hält, kann unmöglich eine Tätigkeit der Pflanze sein. Durch die Anwendung einer von REINACH gebrauchen Methode, läßt sich der wesentliche Unterschied auch durch die Formulierung von zwei Urteilen verdeutlichen: Die Absurdität des Urteils, das auf Grundlage der Verwechslung zweier an sich verschiedener Gegebenheiten gefällt wird, 801
Aus diesem Grund wird Silphium lacinatum neben anderen Pflanzen wie dem Barrel Kaktus (Ferocactus) oder dem Nord-Pol-Kaktus (Pachypodium namaquanum) treffend als »Kompaßpflanze« bezeichnet. S. REGAL [o.J.], 79.
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weist die Verwechslung als unhaltbar aus.802 Wäre der Sachverhalt als »Selbstverhalten« nichts anders als eine Verhaltensweise der Sache, dann müßte das Urteil »Der Sachverhalt, daß Silphium lacinatum seine Blätter stets in konstanter Nord-Süd-Ausrichtung hält, steht selbst in Nord-SüdAusrichtung« ebenso wahr sein, wie das Urteil: »Silphium lacinatum steht immer in Nord-Süd-Ausrichtung« wahr ist. Während dieses Urteil tatsächlich wahr ist, ist jenes Urteil nicht nur falsch, es kann vielmehr unmöglich jemals wahr sein, da der mit dem intendierten Sachverhalt zum Ausdruck kommende Zusammenhang zwischen Sachverhalt und Orientierung im Raum unmöglich bestehen kann. Das Verhalten einer Sache ist ein Attribut derselben als solcher. Die entsprechenden dieses Verhalten betreffenden Sachverhalte jedoch können unmöglich ein Attribut der Sache sein. Deshalb kann auch das Selbstverhalten einer Sache unmöglich der entsprechende Sachverhalt sein. Der Sachverhalt, daß Silphium lacinatum seine Blätter stets in konstanter Nord-Süd-Ausrichtung hält, besteht in bezug auf Silphium lacinatum und dessen Verhalten, aber er ist nicht die Weise, wie sich die in den Sachverhalt eingehende Pflanze selbst und als solche verhält! Es läßt sich allenfalls sagen, daß dieses Verhalten im Sachverhalt zum Ausdruck kommt.803 Hier ist deutlich geworden, daß die in gewisser Hinsicht berechtigte Rede von Sachverhalten als dem Selbstverhalten von Sachen in ontologischer Hinsicht mit Vorsicht zu verwenden ist. Sie stellt eine Art »Definitionsersatz« dar und zeigt gerade deshalb, wie auch im Hinblick auf Sachverhalte eine Schuldefinition nach Genus und Differenz nicht allzuviel leisten kann. Durch den Blick auf das Sein der Gegebenheiten wird die Äquivozität der Rede von Sachverhalten als »Selbstverhalten von Sachen« deutlich. Werden die objektiven Daten aus irgendwelchen Gründen nicht 802 803
S. dazu Fußn. 777. Der wesentliche Unterschied zwischen dem Selbstverhalten einer Sache und dem Sachverhalt, der dieses Selbstverhalten betrifft, scheint, etwa bei WENISCH, auch durchaus auf, trotz der oben angeführten Bestimmung des Sachverhalts als Selbstverhalten der Sache. Denn WENISCH schreibt in [1976], 54, daß »in jedem Sachverhalt sich etwas in einer bestimmten Weise verhalten muß, und dies ›Etwas‹ ist nicht selbst auch ein Sachverhalt.« Leider nimmt WENISCH dies nicht zum Anlaß auch ausdrücklich zwischen dem Selbstverhalten der Sache oder dem »Sachselbstverhalten« und dem Sachverhalt, der dieses Verhalten betrifft, zu unterscheiden. S. dazu das längere Zitat unter Fußn. 1094.
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hinreichend zu Tage gefördert, kann es leicht dazu kommen, daß Gegebenheiten, die trotz aller möglichen Zusammenhänge völlig verschieden sind, fälschlicherweise für dasselbe gehalten werden. 4.4.7 Unterschied zwischen Sachverhalten und Zuständen SMITH zählt die Frage »What distinguishes Sachverhalte (states of affairs) from Zustände (states, Beschaffenheiten)?« zu den »open problems« der Sachverhaltsthematik.804 Durch die hier erwähnten englischen Bezeichnungen states of affairs für das deutsche »Sachverhalte« und das englische states für »Zustände« wird eine mögliche Äquivokation deutlich, die sich sprachlich gesehen im Deutschen weniger anbietet, da hier zwar von »Zuständen«, nicht aber von »Sachständen« die Rede ist.805 Wäre es so, dann würde auch hier die gemeinte mögliche Äquivokation unmittelbarer ins Auge stechen. Um nur zwei weitere Beispiele zu erwähnen: Im Italienischen etwa und Kroatischen verhält es sich wie im Englischen. Hier ist die Rede von »stato di cose« (Sachverhalte) und »stato« (Zustand) bzw. von »stanje stvari« und »stanje« (Zustand). Die gemeinte Äquivokation läßt sich nun wie folgt ausführen. States, stati, stanje sind als Zustände ja immer Zustände einer sich in einem Zustand befindlichen Sache, da Zustände eine solche zugrundeliegende Sache voraussetzen, die sich in einem Zustand befindet oder einen Zustand »durchläuft«. Und somit sind Zustände doch states of affairs bzw. stati di cose oder ein stanje stvari. Es bestünde m.a.W. gar kein Unterschied zwischen Zuständen und »Sachständen« bzw. Sachverhalten. Man könnte sie nun schlechterdings für dasselbe halten, dieses Selbe würde lediglich durch zwei verschiedene Worte bezeichnet oder wenigstens der Auffassung sein, daß zwar nicht alle Sachverhalte Zustände, aber doch wenigstens alle Zustände Sachverhalte sind. Um die Frage entscheiden zu können, ob Zustände Sachverhalte sind, ist es abermals nötig, sich die entsprechenden Daten im Hinblick auf ihre Prädikate bzw. Eigenschaften möglichst »anschaulich« zur Gegebenheit zu bringen.
804 805
SMITH [1988], 31. Zu Ausnahmen aus dem juristischen Bereich s. SMITH [1988], 11.
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Wasser kann sich in drei möglichen Aggregatzuständen befinden, nämlich dem flüssigen, dem gefrorenen und dem gasförmigen Zustand. Was sich hier in irgendeinem der drei Zustände befindet, ist nicht etwas anderes als das Wasser, sondern das Wasser selbst. Und die Gasförmigkeit etc. ist nicht etwas anderes als eine zuständliche Eigenschaft des Wassers selbst. Kurzum: Das Wasser ist in diesem oder jenem seiner Aggregatzustände. Aber der Sachverhalt, daß sich das Wasser im gasförmigen Zustand befindet, ist selber weder Wasser noch im gasförmigen Zustand noch ein gasförmiger Zustand, noch kann sich dieser Sachverhalt zum gefrorenen Zustand verfestigen. Der Sachverhalt kann auch nicht kondensieren, so daß aus einem gasförmigen Sachverhalt ein flüssiger Sachverhalt wird. Der Sachverhalt ist nicht der gasförmige Zustand des Wassers, vielmehr ist das Wasser und sein Zustand in den Sachverhalt eingegangen, und der Sachverhalt besteht in bezug auf oder betrifft das ihn fundierende Wasser und dessen Zustand. Kleidung kann sich in einem schlechten Zustand befinden. Aber dieser Zustand kann kein Sachverhalt sein, da sich die Kleidung nicht im Zustand eines Sachverhaltes befindet. Der Sachverhalt, daß sich die Kleidung in einem schlechten Zustand befindet, ist selber kein Zustand der Kleidung, und schon gar nicht ist es möglich, sich in oder mit diesem Sachverhalt zu bekleiden. Schlechte Kleidung kann angezogen werden, aber der Sachverhalt, daß sich Kleidung in einem schlechten Zustand befindet, ist kein Kleid und kann nicht angezogen werden. Schlechte Kleidung kann man ggf. ausbessern, aber den Sachverhalt, daß Kleidung schlecht ist, kann man nicht ausbessern, er kann nur entweder bestehen oder nicht bestehen. Wird die Kleidung ausgebessert, und ist sie dann von einem schlechten in einen besseren Zustand überführt worden, dann hat zwar der Sachverhalt, daß sich die Kleidung in einem schlechten Zustand befindet, aufgehört zu bestehen. Aber der Sachverhalt ist als solcher nicht ausgebessert oder geflickt worden. So wenig wie Attribute oder Sachen und ihre Attribute Sachverhalte sein können, können auch Zustände Sachverhalte sein, da Zustände insofern Attribute von Sachen sind, als die Zustände den entsprechenden Sachen notwendigerweise inhärieren. Betriebsbereitschaft, Gasförmigkeit, Gesundheit, Krankheit, Bewegung, Ruhe, gute und schlechte Qualität sind
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Zustände, die als solche freilich in Sachverhalte »eingehen« (SEIFERT s.u.) können, niemals aber Sachverhalte sein oder Sachverhalte werden können. Auch in diesem Fall wäre eine Auffassung, welche die Unterscheidung zwischen Sachverhalten und Zuständen für eine bloß grammatikalische hält, notwendigerweise falsch, was den notwendigen Unterschied zwischen Zuständen und Sachverhalten weiter verdeutlicht. Das Urteil: »Die Kleidung befindet sich in einem schlechten Sachverhalt« ist nicht nur sprachlich ungebräuchlich, ansonsten aber wahr. Vielmehr ist es falsch, und zwar notwendigerweise falsch, weil der intendierte Sachverhalt unmöglich bestehen kann. Das Urteil: »Der Sachverhalt, daß sich die Kleidung in einem schlechten Zustand befindet, ist ein Zustand der Kleidung« ist ebenfalls nicht nur sprachlich ungebräulich, ansonsten aber wahr. Vielmehr ist auch dieses Urteil falsch, und zwar notwendigerweise falsch, weil der intendierte Sachverhalt widersinnig ist und daher unmöglich bestehen kann. Zustände sind der Sache, deren Zustand sie sind, niemals transzendent und notwendigerweise nicht transzendent, da es die Sache selbst ist, die sich in einem Zustand befindet. Von Zuständen gilt in entsprechender Weise, was SEIFERT von der Existenz sagt, sie sind »ein dem Dinge zuinnerst eigenes und voll immanentes Attribut«.806 Sachverhalte sind gegenüber den sie fundierenden Sachen immer und notwendigerweise »transzendent«. Zustände können keine Sachverhalte sein, aber sie können in Sachverhalte »eingehen« (SEIFERT) bzw. gehen notwendigerweise in Sachverhalte ein. Auf die hier anklingende und insbesondere von SEIFERT herausgearbeitete »Transzendenz« der Sachverhalte und die Notwendigkeit, daß alles, was ist, auch in Sachverhalte eingeht bzw. von Sachverhalten betroffen sein muß, wird unten eigens einzugehen sein.807 Wenn SMITH davon spricht, daß die Unterscheidung zwischen Zuständen und Sachverhalten zu den »open problems« der Sachverhaltsthematik zählt, dann kann dies u.a. bedeuten, daß diese Unterscheidung angesichts vieler insgesamt nicht überzeugender Versuche offensichtlich sehr schwer durchzuführen ist und daher noch aussteht.808 Es kann damit auch gemeint 806 807 808
S. SEIFERT [1996], 331. S. Verweise unter Fußn. 799. SMITH [1988], 31.
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sein, daß überhaupt nicht klar ist, ob sich Zustände überhaupt von Sachverhalten unterscheiden, und ob sie nicht irgendwie aufeinander zu reduzieren seien. Aber auch in diesem Fall gilt doch, daß eine Verwechslung aus Gründen wie dem oben genannten zwar möglich und nachvollziehbar ist, aber doch nur in Ermangelung eines Zur-anschaulichen-GegebenheitBringens der in Frage stehenden Daten. Bringt man sich die Gegebenheiten »zu Gesicht«, legt man den Weg von sich anbietenden Äquivokationen frei, dann tritt der Unterschied in seiner Intelligibilität »sichtbar«, d.h. unmittelbar am Sosein als solchem zu Tage. 4.4.8 Unterschied zwischen Sachverhalten und Ereignissen oder Geschehnissen Im Abschnitt 4.1, wo davon die Rede war, auf welche Arten und Weisen Sachverhalte sprachlich zum Ausdruck oder »zur Verlautbarung« kommen, wurde unter anderem gezeigt, daß Ausdrücke wie »Ereignisse« und »Geschehnisse« durchaus auf real bestehende Sachverhalte abzielen können. Dies könnte der Fall sein, wenn beispielweise von dem Ereignis gesprochen wird, daß die furchtbare Schlacht beginnt, oder wenn von dem Geschehnis gesprochen wird, daß ein wahres Urteil gefällt wird. Ebenso könnte von dem Ereignis oder Geschehnis/Geschehen des Gefälltwerdens eines wahren Urteils gesprochen werden, und auch hier würde durch den substantivierten Infinitiv nahegelegt, daß durch die Ausdrücke Ereignis oder Geschehnis/Geschehen auf einen Sachverhalt abgezielt werden kann. Nun stellen sich jedoch umgehend folgende Überlegungen und Fragen. Wenn etwa von dem Ereignis oder Geschehnis gesprochen wird, daß ein wahres Urteil gefällt wird, und der sprachliche Ausdruck, »daß ein wahres Urteil gefällt wird«, auf einen Sachverhalt bezogen ist, so heißt das doch nichts anderes, als daß von dem Sachverhalt gesprochen wird, daß ein wahres Urteil gefällt wird. Muß daher nicht gesagt werden, daß »Ereignisse« und »Geschehnisse« nichts anderes sind als Sachverhalte? Und muß umgekehrt nicht gesagt werden, daß wenigstens einige Sachverhalte, wie der des Gefällt-werdens-eines-wahren-Urteils nichts anderes als Ereignisse bzw. Geschehnisse sind? Anders formuliert läßt sich fragen: Steht die Rede von einem »Ereignis, daß…« oder die Rede von einem »Geschehnis, daß…« für nichts weiter als
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für den eben durch den daß-Satz bezeichneten »Sachverhalt, daß…«, da das sprachliche Gewandt von Sachverhalten nun einmal die daß-Sätze bzw. die substantivierten Infinitive sind? Bei CHISHOLM wird deutlich, daß er events für states of affairs hält. Damit hält CHISHOLM wenigstens einige Sachverhalte für Ereignisse, und Ereignisse sind in seinen Augen nichts anderes als Sachverhalte. Hält eine solche Position einer näheren Prüfung stand? Nun ist es freilich möglich, daß das Wort »Ereignis« auch das bezeichnen kann, was ansonsten das Wort »Sachverhalt« bezeichnet. Dies ist schon deshalb möglich, weil Worte virtuell unendlich äquivok sein können. Indes ist es just diese mögliche Äquivozität, die Vorsicht gebietet. Es ist deshalb nicht die Schlußfolgerung erlaubt, daß auch das Sein von Ereignissen nichts anderes sei als das Sein von Sachverhalten. Die mögliche Äquivoziät von Worten weist darauf hin, daß weder das Wort »Ereignis« für das, was Ereignisse sind, noch daß »daß-Sätze« als sprachliche Ausdrucksformen für das, was Sachverhalte sind, gleichsam »reserviert« sein müssen, wie oben bereits formuliert wurde. Es gilt, nicht an den Worten hängen zu bleiben und sich von diesen irgendwie verleiten zu lassen, sondern die Frage zu stellen, ob Ereignisse tatsächlich nichts anderes als Sachverhalte sind. Wovon ist die Rede, wenn von einem »Ereignis, daß…« gesprochen wird? Ist das Ereignis hier nichts anderes als der Sachverhalt, »daß…«, oder ist hier mit dem daß-Satz vielleicht gar kein Sachverhalt gemeint? Was sich bei genauerem Zusehen ergibt, ist folgendes: Was mit »Ereignis« in der Formulierung »Ereignis, daß…« gemeint ist, ist die beginnende Schlacht, insofern sich dieser Schlachtbeginn »zuträgt« oder die beginnende Schlacht, insofern sich dieser Schlachtbeginn »vollzieht«. Wenn eine Person gefragt würde: »Was genau meinst Du mit ›Ereignis‹, wenn Du von ›dem Ereignis, daß die Schlacht beginnt‹, sprichst?« Dann würde diese Person wohl kaum antworten: »Ich meine damit, daß der Sachverhalt, daß die Schlacht beginnt, zu bestehen beginnt.« Vielmehr würde diese Person etwas von der Art sagen wie: »Ich meine damit den Beginn der Schlacht oder den Schlachtbeginn«. Was man hier also meint, ist jedenfalls irgendwie ein »Aspekt«, der zur Wirklichkeit der Schlacht selbst gehört und nicht etwas ganz anderes als diese, wie etwa der Sachverhalt, daß die Schlacht beginnt. Das fragliche Ereignis ist also der
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tatsächliche Schlachtbeginn selbst. Und das heißt, das hier in Frage stehende Ereignis ist nicht etwas anderes als die Schlacht, sondern die Schlacht selbst, sofern sie beginnt, oder die tatsächlich beginnende Schlacht selbst. Und damit wird deutlich: Das in Frage stehende Ereignis der beginnenden Schlacht bzw. das Ereignis, daß die Schlacht beginnt, ist keineswegs der Sachverhalt, daß die Schlacht beginnt. Denn der Sachverhalt, daß die Schlacht beginnt, ist selber in keiner Weise eine Schlacht und kann auch in keiner Weise eine beginnende oder tobende, gewonnene oder verlorene Schlacht sein. Vielleicht kann ein »Ereignis, daß…«, deshalb so leicht mit einem »Sachverhalt, daß…«, verwechselt werden, weil man ein »Ereignis, daß…«, leicht mit dem Sachverhalt, daß sich dies und das ereignet«, verwechseln kann. Zumindest kann die Sprache eine derartige Verwechslung nahelegen. Aber gerade auch hier muß gesehen werden: Der Sachverhalt, daß sich die Schlacht ereignet, kann unmöglich das Ereignis der Schlacht sein. Ebenso kann von dem Ereignis gesprochen werden, daß ein wahres Urteil gefällt wird. Auch hier wird wieder deutlich, daß nicht der Sachverhalt, daß ein wahres Urteil gefällt wird, das fragliche Ereignis ist, sondern das gefällt werdende Urteil selbst oder das Urteil, sofern es gefällt wird. Anders ausgedrückt: Das Ereignis ist das Geschehen der Urteilsfällung. Und nur das wahre Urteil, das gefällt wird, ist wirklich ein Urteil, und es ist wirklich wahr und wird wirklich gefällt und »ereignet sich«, aber der Sachverhalt, daß ein wahres Urteil gefällt wird, ist kein Urteil, er ist auch nicht logisch wahr, noch kann er falsch sein, noch wird dieser Sachverhalt »gefällt« noch ist er eine Bedeutungseinheit, durch die als Medium etwas anderes intentional intendiert wird. Das Ereignis, daß ein wahres Urteil gefällt wird, ist also gerade nicht der Sachverhalt, daß ein wahres Urteil gefällt wird, mag die grammatische Form des daß-Satzes in beiden Ausdrücken auch noch so sehr identisch sein, die in Frage stehenden objektiven Gegebenheiten oder Daten sind es nicht! Das Ereignis, daß die Johanniterritter im Jahr 1565 die türkische Belagerung ihrer Festungen auf Malta nach drei Monaten siegreich beendeten, findet heute nicht mehr statt, vielmehr ist es schon lange vorbei. Aber der Sachverhalt, daß die Johanniterritter im Jahr 1565 die türkische Belagerung ihrer Festungen auf Malta nach drei Monaten siegreich beendeten,
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ist jetzt im Jahr 2007 voll real, insofern er auch jetzt besteht. Er bestand nicht etwa nur ehedem und ist seitdem vergangen, sondern er besteht wirklich jetzt und jetzt wirklich. Wie sollte das wohl möglich sein, wenn das »Ereignis, daß ›X‹« und der Sachverhalt, daß ›X‹«, dasselbe wären? Das Ereignis ist längst vorbei und daher nicht mehr wirklich. Der Sachverhalt besteht jetzt, d.h., er ist jetzt wirklich und kann unmöglich jemals wieder aufhören zu bestehen. Denn wenn er aufhören würde zu bestehen, würde auch das Ereignis, worauf sich der Sachverhalt bezieht, aufhören jemals geschehen zu sein.809 Einmal mehr wird somit die eigentümliche Transzendenz von Sachverhalten gegenüber den in sie eingehenden Gegebenheiten deutlich, denn der Sachverhalt, daß ein wahres Urteil gefällt wird, ist dem Ereignis des Fällens (des Gefälltwerdens) des wahren Urteils in der Tat transzendent. Was sich ereignet, ist das Fällen des Urteils, so daß nicht davon gesprochen werden kann, daß das Ereignis der Urteilsfällung der Urteilsfällung gegenüber irgendwie transzendent wäre. Vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall. Ereignisse bzw. Geschehnisse sind den Dingen, die sich da ereignen, oder den Dingen, an denen sie sich ereignen, nicht transzendent. Vielmehr sind es die Dinge selbst, die geschehen oder sich ereignen, bzw. an denen etwas geschieht oder an denen sich etwas ereignet. Somit wird deutlich, daß Ereignisse zwar ebenso wie Sachverhalte durch daß-Sätze bezeichnet werden können und oft bezeichnet werden. Aber das mit diesen daß-Sätzen jeweils sachlich Gemeinte ist völlig verschieden. Der Sachverhalt, daß die Schlacht beginnt, ist dem Schlachtbeginn gegenüber transzendent. Das »Ereignis, daß die Schlacht beginnt«, ist nichts weiter als eine mögliche Bezeichnung für das Geschehen des Schlachtbeginns selbst, welches dem Schlachtbeginn unmöglich transzendent sein kann. Freilich muß bei all dem auch gesehen werden, daß es eine mögliche Bedeutung der Bezeichnung »Ereignis« gibt, die erlaubt, auch einige Sachverhalte als Ereignisse zu bezeichnen. Wenn unter Ereignissen nichts weiter verstanden wird als jene Seienden, die beginnen zu sein und ggf. 809
Hier klingt das von MEINONG und REINACH thematisierte Problem der gegenwärtigen Wahrheit von Urteilsinhalten über vergangene (und zukünftige) Ereignisse an. S. dazu auch die entsprechenden Ausführungen in Abschnitt 4.6.
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auch aufhören zu sein, dann sind auch wenigstens jene Sachverhalte, die zeitlich sind, Ereignisse.810 Der Sachverhalt, daß Sokrates im Begriff ist, den Gorgias zu widerlegen, wäre daher insofern auch ein Ereignis, als er als Sachverhalt zu bestehen beginnt und zu bestehen aufhört. Kurzum: Jeder Sachverhalt ist ein »Ereignis«, wenn er auch ein sich ereignendes Etwas ist. In diesem besonderen Sinn kann ein Sachverhalt ein »Ereignis« sein, und das, was sich ereignet, kann ein Sachverhalt sein. Aber dieses besondere, weil lediglich auf Entstehen und Vergehen bezogene, »Ereignissein« gewisser Sachverhalte darf keinesfalls mit dem Ereignis der Widerlegung des Gorgias verwechselt werden. Dieses kann unmöglich ein Sachverhalt sein. Der Unterschied zwischen Sachverhalten und Ereignissen läßt sich noch an weiteren ganz unterschiedlichen Eigenschaften von Sachverhalten und Ereignissen einsichtig machen. Wie oben bereits deutlich wurde, sind Sachverhalte nicht lokalisierbar, Ereignisse hingegen sind lokalisierbar. Das Ereignis der Belagerung der Johannniter findet auf der Insel Malta statt. Es ereignet sich nicht auf Sizilien und auch nicht auf Spitzbergen. Aber der Bestand des Sachverhalts, daß die Johanniter belagert werden, besteht nicht nur »auf« Malta, sondern »überall« und damit auch »in« der Kamtschatka und »auf« den Falklandinseln sowie »in« der Stadt Shanghai. Diesen Unterschied sieht auch CASATI mit aller Deutlichkeit.811 Ereignisse finden an einem Ort statt, und sie können dem »Ort des Geschehens« gegenüber nicht transzendent sein. Freilich soll mit dem Adverb »überall« und den Präpositionen »auf« und »in« hier nicht gesagt werden, daß der bestehende Sachverhalt an allen Orten räumlich lokalisiert werden kann. Vielmehr soll gesagt werden, daß sich jeder bestehende Sachverhalt, auch wenn er in bezug auf einen bestimmten Ort besteht, einer räumlichen Standortbestimmung bzw. einer räumlichen Eingrenzung seines Bestandes völlig und notwendigerweise 810
811
Dieses mögliche »Ereignis-sein« von Sachverhalten scheint auch INGARDEN im Blick zu haben, wenn er sagt: »Zur Bestätigung der Richtigkeit unserer Auffassung […] werfen wir die Frage auf, ob und inwiefern ein negativer Sachverhalt, sobald er eintritt, also in diesem Sinne zu einem Ereignis wird [kursiv v. Verf.], die Ursache eines anderen Ereignisses sein kann.« INGARDEN [1965], 311. »[…] events are to be distinguished from facts […]: the event of Caesar’s death took place in Rome in 44 B.C., but that Caesar died is a fact here as in Rome, today as in 44 B.C.« CASATI [2006], § 1.2.
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entzieht. Eine Mücke, die sich in einer Buschhütte aufhält, nimmt weit weniger Raum ein als ein Nashorn, das sich in derselben Hütte befindet. Aber der Sachverhalt, daß sich die Mücke in der Buschhütte aufhält, nimmt nicht »mehr« und nicht »weniger« Raum ein als der Sachverhalt, daß sich ein Nashorn in derselben Hütte aufhält.812 Sachverhalte lassen sich räumlich weder lokalisieren noch eingrenzen. Sie bestehen in bezug auf räumliche Gegebenheiten, sind selber aber keine räumlichen Gegebenheiten. Im Unterschied dazu findet ein Ereignis nicht nur zu einer gewissen Zeit, sondern auch an einem bestimmten Ort statt. Das Ereignis der Ermordung des Präsidenten Kennedy im Jahr 1963 fand nicht in Berlin, sondern einzig und allein in Dallas statt. Aber der Sachverhalt, daß Kennedy in Dallas ermordert wurde, besteht »in« Berlin nicht weniger als »in« Dallas, »auf« dem Mond oder sonstwo. Ein weiterer Unterschied zwischen Sachverhalten und Ereignissen besteht darin, daß negative Sachverhalte bestehen können, während so etwas wie negative Ereignisse ebenso wenig existieren können wie ein Tyrannosaurus Rex negativ existieren kann.813 Wenn etwa die Belagerung auf Malta nicht stattgefunden hätte, dann hätte sich nicht so etwas wie ein negatives Ereignis einer negativen Belagerung ereignet. Der Sachverhalt, daß sich die Belagerung nicht ereignet, besteht nicht im Hinblick auf das Ereignis von so etwas wie einer negativen Belagerung, sondern im Hinblick auf das Fehlen oder Ausbleiben eines »Belagerungsereignisses«. Stattdessen mögen sich andere Ereignisse zugetragen haben, wie etwa ein gemeinsames Bad aller Soldaten Suleimans im Mittelmeer. Aber der auf 812 813
Vgl. MARTIN [1996], 62. Die Ausführungen in diesem Absatz wenden REINACHS und SEIFERTS sorgfältige Unterscheidung zwischen dem Bestand als der Daseinsform der Sachverhalte und der Existenz als der Daseinsform der Sachen an, um auch Sachverhalte und Ereignisse voneinander zu unterscheiden. S. dazu die Abschnitte 4.7.1 und 4.8.2. Freilich wird man sich auch bei der Rede von »negativen Ereignissen« wieder vor möglichen Äquivokationen in acht nehmen müssen. Wenn hier von »negativen« Ereignissen die Rede ist, dann ist mit dem Ausdruck »negativ« keine ethische Kategorie oder Wertung gemeint. Versteht man das »negativ« in »negatives Ereignis« ethisch, so läßt sich von negativen Ereignissen sprechen. Wenn etwa ein unschuldiger Mensch vorsätzlich getötet wird, dann ist das ein negatives Ereignis. Aber wenn unter »negativ« eine ontologische Kategorie verstanden wird, dann kann so etwas wie ein »EreignisNegativ« schlechterdings nicht existieren.
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das Ausbleiben des Ereignisses bezogene und vom Ausbleiben eines Ereignisses völlig zu unterscheidende negative Sachverhalt, daß sich die Belagerung nicht ereignet, besteht und entsteht irgendwann. Insofern er entsteht, mag er nun seinerseits als »Ereignis« bezeichnet werden. Dabei ist freilich zu beachten, daß mit »Ereignis« nun das In-den-Bestand-Treten eines Sachverhaltes selbst gemeint ist und nicht etwas, worauf der Sachverhalt bezogen ist. Aber selbst im Falle eines negativen Sachverhaltes bleibt zu beachten, daß nicht der negative Sachverhalt als solcher das fragliche Ereignis ist.814 Es läßt sich m.a.W. selbst dann nicht von einem negativen Ereignis sprechen, wenn ein negativer Sachverhalt zu bestehen beginnt. Denn das, was sich ereignet, ist nicht einfach der negative Sachverhalt, sondern der Bestand des negativen Sachverhaltes, und dieser Bestand ist als solcher notwendigerweise immer positiv. Schließlich sind Ereignisse Gegebenheiten, die notwendig in UrsacheWirkungs-Verhältnissen stehen. Wenn gezeigt werden kann, daß Sachverhalte unmöglich in der Ursprungsrelation der Wirkursächlichkeit stehen können, dann können Sachverhalte unmöglich Ereignisse sein. Daß Sachverhalte nicht in wirkursächlichen Beziehungen stehen können, wird in Abschnitt 4.8.1 gezeigt. 4.5 Transzendenz der Sachverhalte und Verhältnisbestimmung zwischen Sachen und Sachverhalten 4.5.1 Die Transzendenz der Sachverhalte gegenüber allem, was in diese eingeht Aus den obigen Betrachtungen geht hervor, daß Sachverhalte unmöglich die Gegebenheiten sein können, in Bezug auf welche sie als Sachverhalte bestehen. Insofern ein Sachverhalt von den in ihn eingegangenen Sachen fundiert wird, ist vielmehr im Rückgriff auf SEIFERT zu sagen, daß er als 814
Wenn eine Schlacht nicht beginnt, findet nicht so etwas wie ein negativer Schlachtbeginn statt. Freilich beginnt der Sachverhalt, daß die Schlacht nicht beginnt, zu bestehen, und insofern er entsteht, »ereignet« sich der Sachverhalt. Aber der sich hier ereignende (entstehende Sachverhalt) ist etwas völlig anderes als die nicht beginnende Schlacht. Der Schlachtbeginn fehlt, ist abwesend, der negative Sachverhalt hingegen ist positiv da und besteht.
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Sachverhalt »in bezug auf« die in ihn eingegangenen Sachen besteht. In diesem Sinn »enthält«, so SEIFERT, der Sachverhalt »in gewissem Sinne« die in ihn eingegangenen Sachen. Aber trotz dieser Bezogenheit-auf seitens der Sachverhalte und des Eingehens-in seitens der den Sachverhalt fundierenden Sachen kann der Sachverhalt »nicht ein Ganzes […], das aus Dingen, wie aus Teilen besteht« sein. Wenn der Sachverhalt auch »in bezug auf« die ihn fundierenden Sachen besteht, so besteht er doch »nicht aus« diesen Sachen als solchen, wie etwa ARMSTRONG aber auch RUSSELL und WITTGENSTEIN irrtümlicherweise meinen.815 Wäre der Sachverhalt eine solche Zusammenfügung, dann wäre er beispielsweise insofern auch eine Rose, als eine Rose ein Teil oder ein Stück des Sachverhaltes wäre. Er wäre ferner insofern rot, als die Röte ein Teil oder ein Stück des Sachverhaltes wäre, und er würde insofern im Garten stehen, als das Stehen-imGarten ein Teil des Sachverhaltes wäre. Wenn irgendwelche Denkakte und Denkinhalte in Sachverhalte eingehen, wie etwa in dem Sachverhalt, daß Peter an Afrika denkt, dann wäre dieser Sachverhalt insofern auch ein Denkakt und ein Denkinhalt, als dieser Denkakt und sein Inhalt Teil oder ein Stück des Sachverhalts wären. Aber der Sachverhalt, daß Peter an Afrika denkt, denkt nicht nur nicht in keiner Weise, er kann weder ein Denkakt noch ein Denkinhalt, und er kann auch nicht zum Teil der Kontinent Afrika sein. Das Wünschen oder Hoffen einer Person kann nicht der Sachverhalt sein, daß eine Person etwas wünscht oder hofft. Die Existenz eines Dinges kann nicht der Sachverhalt sein, daß ein Ding existiert. Der Sachverhalt, daß Peter an Afrika denkt, kann aber auch nicht das Ereignis sein, das mit Peters Denken an Afrika geschieht. MORSCHER zeigt noch durch eine weitere Tatsache, daß das in Sachverhalte eingehende Seiende in einem Verhältnis zu seinem Sachverhalt steht, welches nicht das Verhältnis zwischen einem Stück oder Teil zu dem Ganzen dieser Stücke sein kann.
815
Zur Verwendung der Ausdrücke »eingehen in«, bestehen »in bezug auf«, »Transzendenz« der Sachverhalte bei SEIFERT und zu dessen Ausführung darüber, daß Sachverhalte nicht aus Sachen zusammengesetzt sind, siehe unten in diesem Abschnitt.
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»The relation of involvement is indeed not the usual part-whole relationship […], since the objects which an objective involves need not subsist even when the objective itself subsists.«816
So ist etwa der Sachverhalt, daß Napoleon 1821 auf der Insel St. Helena starb, ein jetzt real bestehender Sachverhalt, obwohl weder Napoleon noch das Jahr 1821 noch der Tod Napoleons jetzt real sind oder jetzt existieren. Auch dadurch wird deutlich, daß Napoleon und das Jahr 1821 keine Stücke des Sachverhaltes sein können. Denn wären sie reale Stücke des real bestehenden Sachverhaltes, dann würde der Tod Napoleons nicht vergangen sein, sondern jetzt stattfinden, insofern das Urteil ja jetzt wahr ist. Wenn die in Sachverhalte eingehenden Sachen Stücke des Sachverhaltes wären, dann wäre jeder Sachverhalt, in den etwa eine Person eingeht, selber wenigstens teilweise ein personales Sein bzw. eine Person. Der Sachverhalt, daß eine Person im Supermarkt Milch verschüttet, wäre dann selber teils eine Person, teils ein Supermarkt, und teilweise wäre er Milch und ein Verschütten. Die adäquatesten Ausdrücke für das besondere Verhältnis zwischen Sachen und ihren Sachverhalten bzw. Sachverhalten und ihren Sachen sind folgende: Sachen gehen in Sachverhalte ein, und Sachverhalte bestehen in Bezug auf Sachen. Diese Terminologie wird mit besonderer Ausdrücklichkeit von SEIFERT verwendet. Es ist auch SEIFERT, der die Transzendenz der Sachverhalte als eine ihrer notwendigen Wesenseigenschaften klar zur Gegebenheit bringt. Aber SEIFERT ist nicht der einzige, der im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Sachen und Sachverhalten von »eingehen« spricht. Auch INGARDEN verwendet im Zusammenhang mit der Verhältnisbestimmung zwischen Sachen und Sachverhalten die Bezeichung »eingehen« und »eintreten«.817 DAVID bezieht sich auf das mit der Transzendenz der
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MORSCHER [1987], 32. »Andererseits scheint es auch nicht wahr zu sein, daß der Gegenstand in den einzelnen Sachverhalten, die in ihm bestehen, also bloßes Subjekt von Eigenschaften auftritt [Kursiv v. Verf.], obwohl die Form des Eigenschaftssubjekts als ihr unselbständiges Moment in die volle Struktur des Sachverhaltes natürlich eingeht [Kursiv v. Verf.].« INGARDEN [1965], 288. D.h. freilich nicht, daß INGARDEN diese Bezeichnungen ausdrücklich im Hinblick auf die Eigenschaft der Transzendenz (des Übersteigens) wählt. Immerhin können derartige Bezeich-
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Sachverhalte Gemeinte, wenn er schreibt, daß Sachverhalte gegenüber den von ihnen betroffenen Sachen stets over and above sind: »Facts are entities over and above the particulars and universals of which they are composed: a’s loving b and b’s loving a are not the same fact even though they have the very same constituents.«818
Selbst AUNE, der Sachverhalte als Entitäten sui generis ablehnt und auf andere Gegebenheiten zu reduzieren sucht, spricht im Rahmen einer Kritik an CHISHOLMS Sachverhaltsbegriff interessanterweise vom »Eingehen« der Sachen in bzw. von deren »enter into« Sachverhalte, bedauerlicherweise ohne diesem »enter into« ontologisch weiter nachzugehen.819 Ebenso spricht auch SIMONS, obwohl er meint, »hervorragend in einer Welt ohne Sachverhalte leben« zu können, davon, daß ein Sachverhalt wie, daß Leeds nördlich von London liegt, die darin zum Ausdruck kommenden räumlichen Gegebenheiten »betrifft«, weil er, wie SIMONS richtig sieht und treffend herausstellt, als Sachverhalt selber »nicht […] räumlich lokalisiert« ist.820 Es bleibt durchaus erstaunlich, wie SIMONS, der hier implizit so vortrefflich auf die Transzendenz der Sachverhalte stößt, letztlich meint, daß es Sachverhalte als eine Entität sui generis nicht gibt.821
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nungen ggf. als »Streiflichter« auf die Transzendenz der Sachverhalte gewertet werden. S. dazu die Kritik an INGARDENS Sachverhaltsbegriff in Abschnitt 5.1. DAVID [2005]: § 7.1. Bemerkenswert ist hier auch SCHAFFERS Diskussion der »transzendence« der Tatsachen im Zuge der Frage nach den Relata von Kausalbeziehungen. Bedauerlicherweise bleibt diese Diskussion bzw. der Terminus transzendence, ebenso wie der Terminus fact, in mehrfacher Hinsicht vieldeutig. SCHAFFER [2003], § 1.1. »When he wrote Person and Object, Chisholm had no doubt that ›Socrates refuting Thrasymachus‹ and ›Thrasymachus refuting Socrates‹ represented states of affairs. Suppose he was right about this. The states of affairs he assigned to these sentences would appear to possess at least three constituents, two of which are the same in both states of affairs, although they enter into [!] them in different ways.« AUNE [1999] 344. SIMONS [2001b], 235. SIMONS spricht im Unterschied zu SEIFERT allerdings nicht von Transzendenz. Aber anhand räumlicher Gegebenheiten und räumlicher Relationen arbeitet er diese doch sachlich gesehen eindeutig heraus und spricht treffend davon, daß der von ihm herangezogene Sachverhalt nicht dasselbe sein kann wie die Gegebenheiten, die in ihm zum Ausdruck kommen, sondern als Sachverhalt diese Gegebenheiten »betrifft«. SIMONS [2001b], 235. SIMONS betont, er »fühlt sich
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ROJSZCZAK und SMITH sprechen im Zusammenhang einer Darstellung von REINACHS Sachverhaltsontologie davon, daß Sachverhalte von ihren Gegenständen »handeln«,822 und davon, daß Sachen an ihren Sachverhalten »›beteiligt‹«823 sind. Da bei REINACH, soweit ersichtlich, nicht von einem solchen »Handeln von« die Rede ist, ist zu bedauern, daß ROJSZCZAK und SMITH nicht näher ausführen, was genau sie mit diesem »Handeln von« meinen. An dieser Stelle kann daher nur vorsichtig vermutet werden, daß sich ROJSZCZAK und SMITH mit dem Ausdruck »Handeln von« wenigstens in die Richtung des durch »Eingang« Gemeinten bewegen. Als Indiz dafür mag gelten, daß ROJSZCZAK und SMITH im Zusammenhang der Wahrheit von Urteilen über Vergangenes und Zukünftiges bzw. die entsprechenden Entitäten – die ja jetzt nicht existieren, obwohl die entsprechenden Urteile wahr sein können – von »Handeln von« sprechen, und damit wenigstens implizit zum Ausdruck kommt, daß die Sachen, von denen die Sachverhalte handeln, keine realen Teile oder Stücke ihrer Sachverhalte sind.824 Sachverhalte sind trotz, oder besser wegen des Eingehens der sie fundierenden Sachen in sie diesen Sachen gegenüber immer und notwendigerweise transzendent. Wie bereits erwähnt, scheint es insbesondere SEIFERT zu sein, der diese Zusammenhänge mit adäquater Deutlichkeit herausstellt. »Sachverhalte können ferner Sachen und Attribute, Begriffe oder Urteile enthalten, sie bestehen aber niemals aus diesen. Sachverhalte sind vielmehr niemals Dinge, Prädikate oder Teile von Dingen, sondern diesen immer transzendent.«825
Die Sachen, welche in den Sachverhalt eingehen, sind ebensowenig der im Bezug auf sie bestehende Sachverhalt, wie der Sachverhalt in irgendeiner Weise die Sache ist, die in ihn eingeht. Der Sachverhalt ist, wie SEIFERT schreibt, nicht
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weder gezwungen noch geneigt, sie [die Sachverhalte] in die Welt, wie ich sie sehe, aufzunehmen.« SIMONS [2001b], 252f. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 52. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 54. ROJSZCZAK/SMITH [2001], 52. SEIFERT [1996], 330.
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Kapitel 4 »eine Totalität solcher Elemente wie Kühe, braun, Wiese, weiden, sondern eine eigentümlich präzise Struktur wie das Weiden brauner Kühe auf einer Wiese. Dies zeigt die eigentümliche Transzendenz des Sachverhalts gegenüber dem Ding und allen seinen Prädikaten. Der Sachverhalt besteht zwar in bezug auf alle Dinge und enthält sie in gewissem Sinne; sie gehen in ihn ein und sind gleichsam Teile des Sachverhaltes, obschon dieser nicht ein Ganzes ist, das aus Dingen wie aus Teilen besteht, sondern er besteht viel eher in bezug auf Dinge und ihre Prädikate.«826
Die Transzendenz der Sachverhalte gegenüber Sachen besteht nicht trotz, sondern vielmehr gerade weil Sachen in Sachverhalte eingehen und nie »mehr« als in Sachverhalte eingehen können, und gerade weil Sachverhalte immer in bezug auf die in sie eingehenden Sachen oder auch Sachverhalte bestehen und nie anders als in bezug auf Sachen bestehen können, d.h., ohne daß das Eingegangene je ein Stück des Sachverhaltes, und dieser nichts anderes als die Summe oder das Totum aller in ihn eingegangenen Sachen sein könnte. Diese Transzendenz gründet mit materialer Notwendigkeit in Sachverhalten als solchen. Somit erweist sich der in bezug auf das Sosein der Sachverhalte bestehende Sachverhalt, daß Sachverhalte gegenüber den in sie eingehenden Sachen transzendent sind, seinerseits als ein notwendiger Sachverhalt. Manch einen könnte »der Gedanke« der Unendlichkeit der Sachverhalte und die Tatsache, daß das direkte intentionale Korrelat von Urteilen bzw. Behauptungen nur Sachverhalte sein können, »schrecken«, wie sich mit SEIFERT bemerken läßt. Auch das sonderbare Sich-beziehen-auf der Sachverhalte (deren Transzendenz) könnte schrecken, sofern der Gedanke aufkommen könnte, daß »Sachverhalte von der Wirklichkeit beziehungslos getrennt wären.« Es kann ja durchaus der Eindruck entstehen, daß man mit einem Urteil, wie etwa »Peter ist daheim«, nicht Peter und keinen bestimmten Ort erreicht, da der intendierte Sachverhalt ja weder Peter noch ein Ort noch selber als Sachverhalt lokalisierbar ist. Es kann sich durchaus die Frage stellen, ob Sachverhalte den Urteilenden nicht von der Welt der Dinge abtrennen? Diese Frage gründet allerdings in einem Mißverständnis, welches SEIFERT treffend auszuräumen weiß, wenn er schreibt:
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SEIFERT [1996], 331.
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»Oder schreckt einen der Gedanke, daß man nur mehr Sachverhalte urteilt und nicht mehr von Johannes Paul oder Michael Andreas reden könnte? Um ein solches Mißverständnis der Konsequenzen des Sachverhalts als direktes Objekt des Urteils [und als einer die Sachen »transzendierenden« Entität] zu vermeinden, braucht man nicht das objektive Bestehen von Sachverhalten zu verwerfen, sondern muß nur verstehen, daß Dinge entscheidende Teile und Bezugspunkte verschiedener Sachverhaltarten sind. Sachverhalte sind ja keine sonderbare Sphäre idealer Gegenstände, die von der Wirklichkeit beziehungslos getrennt wären, sondern sie beziehen sich genau und präzise in ihrer irreduziblen Sachverhaltsgestalt auf die Dinge, so daß jeder Sachverhalt, wenn er besteht, ganz präzise Determinationen von Dingen und Eigenschaften derselben impliziert. Daher ist auch jedes urteilsmäßige Behaupten eines Sachverhalts zugleich ein Reden über die Dinge, über das, daß sie sind oder nicht sind, so oder anders sind, Beziehungen haben oder nicht.«827
Will man von den Sachen zu den Sachverhalten kommen, dann muß man, wie SEIFERT sich ausdrückt, über die Sachen »hinausgehen« und zum entsprechenden Sachverhalt »hinübergehen«.828 Und will man vom Sachverhalt zur Sache kommen, gilt Entsprechendes. Man muß aus dem Sachverhalt »hinaus« und zur Sache hinüber. ›Diesseits‹ des Sachverhaltes ist die Sache als solche nicht zu finden, und ›diesseits‹ der Sache als solcher ist der Sachverhalt als solcher nicht zu finden. Weder die Sache noch der Sachverhalt sind weder ganz noch teilweise das jeweils andere, unbeschadet der notwendigen und engen Beziehungen zwischen beiden Gegebenheiten.829 Wenn die Betrachtung von Sachverhalten überhaupt diese Transzendenz und deren Notwendigkeit in den Blick nimmt und sie nicht wieder aus den Augen verliert – was angesichts gewisser Verwechslungsmöglichkeiten von Sachverhalten mit anderen Gegebenheiten durchaus geschehen kann – wird die Unterscheidung von Sachverhalten und Gegebenheiten wie Zu827 828 829
SEIFERT [1997], 317. Zum »Schrecken« unendlicher Sachverhaltsreihen s. Fußn. 844. SEIFERT [1996], 338. Es soll an dieser Stelle betont werden, daß diese Verschiedenheit notwendige Beziehungen zwischen Sachen und Sachverhalten keinesfalls ausschließt. Vielmehr ist, wie in dieser Arbeit unausgesetzt deutlich werden dürfte, das genaue Gegenteil der Fall. Aber es darf weder die Verschiedenheit zur Vernachlässigung der engen Beziehungen noch die engen Beziehungen zur Verwechslung von Sachen und Sachverhalten führen.
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ständen, Verhaltensweisen und Ereignissen nicht nur erheblich erleichtert, sondern auch in ihrer Einsichtigkeit herausgestellt. 4.5.2 Alles Seiende fundiert Sachverhalte Alle Seienden, seien es Sachen bzw. Dinge oder deren Attribute, seien es Denkakte oder deren Inhalte einschließlich aller Sachverhalte, die ja eine Art von Seienden unter anderen sind, fundieren Sachverhalte und gehen so in Sachverhalte ein, und in Bezug auf alle Seienden bestehen notwendigerweise gewisse Sachverhalte. Die existierenden Birken da draußen vor dem Fenster z.B. fundieren den Sachverhalt, daß da draußen vor dem Fenster Birken existieren. Der Gedanke an den Sachverhalt, daß alle Seienden in Sachverhalte eingehen, fundiert den Sachverhalt, daß der Sachverhalt, daß alle Seienden in Sachverhalte eingehen, gedacht wird. Der Sachverhalt, daß die Uhr 16.55 Uhr anzeigt, fundiert den Sachverhalt, daß der Sachverhalt, daß die Uhr 16.55 Uhr anzeigt, besteht. Wiederum ist es SEIFERT, der diesen notwendigen und einsichtigen Aspekt mit besonderer Klarheit herausstellt. Er unterstreicht zu Recht, daß es »kein Ding, keine Eigenschaft eines Dinges, kein Wesen, kein Sosein und kein Wiesein, keine Relation und keinen Sachverhalt geben«
kann, »die nicht selber wieder als Glieder oder Elemente in Sachverhalte eingingen und Sachverhalte begründeten.«830
Auf den damit gegebenen notwendigen neuen Sachverhalt, daß alle Seienden immer schon in gewisse Sachverhalte eingehen, und im Bezug auf alle Seienden immer schon gewisse Sachverhalte bestehen, macht SEIFERT ferner durch die pointierte Feststellung aufmerksam, daß »nichts jenseits von Sachverhalten« ist.831 Kurzum: Kein Seiendes, und damit auch kein Sachverhalt, ist jenseits von Sachverhalten. Präziser ausgedrückt muß gesagt werden: Kein Seiendes, und damit auch kein Sachverhalt, ist jenseits 830 831
SEIFERT [1996], 333. SEIFERT [1996], 333.
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von bestehenden Sachverhalten. Selbst in Bezug auf den nichtbestehenden positiven Sachverhalt, daß es in der Sahara das gesamte Jahr regnet, muß der negative Sachverhalt bestehen, daß dieser Sachverhalt nicht besteht! Andernfalls wäre die Sahara ein feuchtes Naß. Die prinzipielle, immer gegebene Möglichkeit, wahre Urteile zu fällen, gründet darin, daß alle Seienden immer schon in bestehende Sachverhalte eingehen. Im Zusammenhang mit dem Sachverhalt, daß nichts jenseits von bestehenden Sachverhalten ist, tritt noch ein weiterer Sachverhalt ans Licht. Da Sachverhalte notwendigerweise durch das fundiert sein müssen, was in sie eingeht, gilt zunächst: Wenn es keine Sachen gäbe, könnte es auch keine Sachverhalte geben. Aber da, wie soeben gezeigt, alles Seiende, Sachen und Sachverhalte zumal, immer schon und notwendigerweise in gewisse Sachverhalte eingeht, gilt ebenfalls: Wenn es keine Sachverhalte gäbe, könnte es auch keine Sachen geben. Auch dieser Umstand deutet unter anderem auf die immense Bedeutung von Sachverhalten hin, denen Philosophen weit mehr Aufmerksamkeit widmen müßten, als sie es mit vergleichsweise wenigen Ausnahmen bislang getan haben. 4.5.3 Die »Unendlichkeit« der Sachverhalte Oben wurde bereits gezeigt, daß kein Seiendes jenseits von Sachverhalten steht, da alles Seiende notwendig in Sachverhalte eingeht, und in bezug auf alles Seiende Sachverhalte bestehen müssen. Die gesamte Tragweite dieser Einsicht ist dabei jedoch noch nicht völlig deutlich geworden. Wenn nämlich in bezug auf alles Seiende Sachverhalte bestehen, dann bestehen auch in bezug auf alle diese Sachverhalte wiederum Sachverhalte und in Bezug auf all diese »höheren« (MEINONG) Sachverhalte wiederum Sachverhalte, da auch Sachverhalte Seiende sind. Und dies bedeutet, daß es notwendigerweise unendlich viele Sachverhalte gibt. Im 19. Jh. ist MEINONG der erste Philosoph, der diese Erkenntnis in seiner Lehre von der Unendlichkeit der »Ordnungsreiche« der »Superiora« formuliert.832 In der zeitgenössischen Philosophie ist es abermals SEIFERT, der die Notwendigkeit dieses Sachverhaltes über Sachverhalte mit aller Deutlichkeit heraus-
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S. dazu die obigen Ausführungen im Abschnitt 3.3.6.
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zustellen weiß. Denn es gibt, wie SEIFERT deutlich macht, »keinen Sachverhalt«, der »nicht wieder weitere Sachverhalte begründen« würde, »ja, auch alle diese weiteren Sachverhalte begründen notwendig wiederum weitere Sachverhalte. So begründet jeder Sachverhalt X den Sachverhalt y, daß der Sachverhalt X besteht, usf.«833
»[…] und dieser [y] wieder den Sachverhalt z, daß y besteht, und so fort ad infinitum.«834 Der bestehende Sachverhalt, daß draußen vor dem Fenster Birken stehen, muß notwendigerweise in den weiteren bestehenden Sachverhalt eingehen, daß der Sachverhalt, daß draußen vor dem Fenster Birken stehen, besteht. Und dieser Sachverhalt muß notwendigerweise in den weiteren bestehenden Sachverhalt eingehen, daß der Sachverhalt, daß der Sachverhalt, daß draußen vor dem Fenster Birken stehen, besteht, u.s.w. ad infinitum. Die Erkenntnis der hier gemeinten Unendlichkeit der Sachverhalte ist allerdings nicht neu. Darauf macht SEIFERT wiederholt aufmerksam.835 Denn auf die Unendlichkeit von Sachverhalten stößt implizit bereits AUGUSTINUS im Zusammenhang der absoluten Gewißheit der Erkenntnis des »si enim fallor, sum«. Es ist, wie AUGUSTINUS betont, nicht nur so, daß sich ein Zweifelnder durch den Akt des Zweifels absolut vergewissern kann, daß er existiert und damit – modern gesprochen – absolut vergewissern kann, daß der Sachverhalt, daß er existiert, besteht. Vielmehr gilt, wie SEIFERT in Anlehung an AUGUSTINUS sagt: »Wenn ich weiß, daß es wahr ist, daß ich bin, [dann] weiß ich auch, daß es [notwendigerweise] wahr ist, daß es wahr ist, daß ich bin, [und ich weiß auch, daß es notwendigerweise wahr ist, daß es wahr ist, daß es wahr ist, daß ich bin.] usf. ad infinitum.«836
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SEIFERT [1996], 333. SEIFERT [1997], 313. SEIFERT [1976], 223ff. SEIFERT [1987], 189f. SEIFERT [1996], 333f. SEIFERT [1996], 333. S. auch SEIFERT [1976], 224.»Sed si talia sola pertinent ad humanam scientiam, perpauca sunt; nisi quia in unoquoque genere ita multiplicantur, non solum pauca non sint verum etiam peperiantur per infinitum munerum tendere. qui enim dicit, Scio me vivere, unum aliquid scire se dicit: proinde si dicat, Scio me scire me vivere; duo sunt jam; hoc vero quod scit haec
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AUGUSTINUS spricht nicht von so etwas wie dem status rerum oder der dispositio rei oder dem complexe significabile und damit auch nicht von Sachverhalten. Aber implizit setzt AUGUSTINS Einsicht in die Notwendigkeit unendlich vieler absolut gewisser Erkenntnisse auf der Grundlage einer absolut gewissen Erkenntnis eine entsprechende unendliche Reihe je höherer Sachverhalte voraus. Dies kommt zusätzlich darin zum Ausdruck, daß es sich beim objektiven Korrelat des Wissens (scire) ausschließlich um Sachverhalte handeln kann.837 Wenn ich also weiß, daß es wahr ist, daß ich bin, dann weiß ich um den höheren Sachverhalt, daß es so ist, daß ich bin und ebenso weiß ich auch um den weiteren höheren Sachverhalt, daß es eine Tatsache ist, daß es so ist, daß ich bin, und weiß ebenso um den weiteren höheren Sachverhalt, daß es der Fall ist, daß es Tatsache ist, daß es so ist, daß ich bin etc. ad infinitum.838 Und in diesem Wissen wird deutlich, daß jede (zweifelnde) Person um eine unendliche Anzahl von bestehenden Sachverhalten mit unfehlbarer Gewißheit wissen kann.839 SEIFERT hebt allerdings hervor, daß die unendliche Zahl der Erkenntnisse material-inhaltlich betrachtet ausgesprochen arm sei. Ebenso muß gesagt werden, daß die jeweiligen Sachverhalte der unendlichen Ordnungsreihe, material betrachtet, arm sind. Daher läßt sich diese Art von Unendlichkeit mit SEIFERT auch als die »nur […] formalste Unendlichkeit«
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dua, tertium scire est; sic postest addere et quartum, et quintum, et innumerabilia, si sufficiat. Sed quia innumerabilem numerum vel comprehendere singula addendo, vel dicere innumerabiliter non potest, hoc ipsum certissime comprehendit ac dicit, et verum hoc esse, et tam innumerabile, ut vere ejus infinitum numerum non possit comprehendere ac dicere.« Aug. trin. 15, 12, 21. S. dazu die Ausführungen in Abschnitt 8.1. »Item si quispiam dicat, errare nolo: nonne sive erret sive non erret, errare tamen eum nolle verum erit? Quis est qui huic non impudentissime dicat, forsitan falleris? cum profecto ubicumque fallatur, falli se tamen nolle non fallitur, Et si hoc scire se dicat, addit quantum vult rerum numerum cognitarum, et numerum esse perspicit infinitum. Qui enim dicit, Nolo me falli et hoc me nolle scio, et hoc me scire scio; jam et si non commoda elocutione, potest hinc infinitum numerum ostendere?« Aug. trin. 15, 12, 21. S. SEIFERT [1976], 224. »Daher gibt es notwendig unendlich viele Sachverhalte, ja […] es gibt sogar unendlich viele Sachverhalte, die aus jedem einzigen evident gewußten Sachverhalt hervorgehen; […].« SEIFERT [1996], 333.
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bezeichnen.840 Diese »formalste Unendlichkeit« der Erkenntnisse und der Sachverhalte darf indes nicht mit der Erkenntnis dieser Unendlichkeit überhaupt verwechselt werden. Die Erkenntnis, daß es unendlich viele absolut gewisse Erkenntnisse gibt, ist nicht arm, sondern äußerst bedeutsam und gehaltvoll. Ebenso ist die Unendlichkeit der sich aufeinander aufbauenden Sachverhalte als solche in materialer Hinsicht keineswegs arm, sondern gehaltvoll. Manch einer könnte auch angesichts dieser Art von Unendlichkeit meinen, in Verlegenheit geraten und »erschrecken« (SEIFERT) zu müssen.841 Auch die ›Unendlichkeit‹ der Sachverhalte könne dazu führen, Sachverhalte als Gegebenheit sui generis in der einen oder anderen Form abzulehnen.842 Dafür besteht, wie sich schon oben mit SEIFERT hat ausführen lassen, bei näherem Zusehen aber kein Grund. Im Verein mit AUGUSTINUS sollte diese Unendlichkeit vielmehr »bestaunt« werden, zumal dann, wenn man sie das erste Mal gewahrt. Die unendliche Anzahl der Sachverhalte ist ebensowenig – oder ›ebensosehr‹ – erschreckend wie »die Unendlichkeit der natürlichen Zahlenreihe, [die Unendlichkeit] der möglichen Brüche, [oder] die Unendlichkeit der Stellen irrationaler Zahlen usf. […].«843
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»Diese unendliche Zahl meiner Erkenntnisse, die allein in jener ersten formal eingeschlossen ist, zeigt trotz der Armut des materialen Gehaltes die Unendlichkeit der Zahl der mir möglichen absolut gewissen Erkenntnisse.« SEIFERT [1976], 224. Zum Ausdruck »formalste Unendlichkeit der Sachverhalte« S. SEIFERT [1996], 333. S. dazu Fußn. 844. S. dazu die Bemerkungen bei SEIFERT [1996], 334. Eine Ablehnung der Sachverhalte als Entität sui generis kommt wenigstens implizit im folgenden Zitat von SIMONS zum Audruck. »Wenn zu existieren heißt, etwas zu sein, das die Eigenschaft der Existenz hat, dann folgt nämlich aus der Existenz von John, daß auch der Sachverhalt seiner Existenz existiert, der von John selbst verschieden ist. Wenn aber dieser existiert, dann auch der Sachverhalt von dessen Existenz, der wiederum einen anderen Gegenstand hat, also ein anderer Sachverhalt ist. Dieser Regreß ist nicht aufzuhalten. Ich halte ihn nicht für tödlich, aber für eine lächerliche Verschwendung, denn wir können den Gordischen Knoten auch zerschlagen, indem wir von vornherein eine Eigenschaft der Existenz ablehnen.« SIMONS [2001a], 195. SEIFERT [1996], 333.
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»Warum soll es ferner keine Sachverhalte geben? Schreckt einen deren unendliche Zahl? Dann sollte man auch aus Angst vor den unendlich vielen Zahlen und Primzahlen aufhören zu zählen, aus Angst vor den unendlich vielen Punkten und Teilstrecken aufhören, von diesen zu reden.«844
Übrigens wird hier auch ein weiterer Unterschied zwischen Sachen und Sachverhalten deutlich. Während jede Sache in unendlich viele Sachverhalte eingeht, wird die Sache dadurch nicht ins Unendliche »multipliziert«. So kommt einmal mehr zum Ausdruck, wie wichtig die genaue Unterscheidung zwischen Sachen und Sachverhalten ist, da man ansonsten meinen könnte, daß aufgrund der Unendlichkeit der Sachverhalte ein jeder Gegenstand ebenfalls ins Unendliche vervielfältigt würde.845 Da dies offensichtlich widersinnig ist, könnte man im Umkehrschluß meinen, Sachverhalte insgesamt ablehnen zu müssen, freilich nur deshalb, weil man sie nicht sauber von den in sie eingehenden Sachen zu unterscheiden vermag. 4.6 Die Teilhabe von Sachverhalten an den Seinsmodifikationen des in sie eingehenden Seienden insbesondere an der Modifikation der Zeitlichkeit Sachverhalte bestehen in Bezug auf alle Seienden, und alle Seienden gehen in Sachverhalte ein. Alle Seienden fundieren immer schon Sachverhalte, und nichts ist jenseits von Sachverhalten. Im Zusammenhang damit steht ein weiterer, von SEIFERT eigens herausgearbeiteter Aspekt der Sachverhalte: Beim Eingehen in einen Sachverhalt gehen die Seienden (die Sachen) auch mit ihren »Seinsmodi« in den entsprechenden Sachverhalt ein, so daß dieser notwendig auch »an allen Seinsmodi teilhaben« kann bzw. teilhat, wie SEIFERT sich ausdrückt.846 SEIFERT führt die Seinsmodifikationen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit, Notwendigkeit und Kontingenz, Realität und Fiktion als Beispiele an. Aber auch das Möglichsein läßt sich anführen. Wenn etwa die Streitgespräche zwischen Peter Pan und Kapitän Hook fingierte Gespräche sind, dann ist auch der »Bestand« des Sach844 845 846
SEIFERT [1997], 317. Zum möglichen »Schrecken« vor Sachverhalten als den eigentlichen intentionalen Objekten von Urteilen s. Fußn. 827. S. dazu die Ausführungen in Abschnitt 4.7.1, insbesondere Fußn. 866. SEIFERT [1996], 335f.
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verhalts, daß Peter Pan und Kapität Hook Streitgespräche führen, eine Fiktion. Freilich besteht in bezug auf diesen fiktiven Sacherhalt der andere real bestehende Sachverhalt, daß die Streitgespräche zwischen Peter Pan und Kapität Hook Fiktionen sind. Dieser vom fiktiven Sachverhalt verschiedene Sachverhalt ist keineswegs fingiert, sondern eine objektive Realität, und ohne diesen realen Sachverhalt, der in bezug auf eine Fiktion besteht, könnte die Fiktion keine Fiktion sein. Wenn ein Urteil über eine fiktive Gegebenheit wahr ist, dann deshalb, weil der durch das Urteil intendierte Sachverhalt seinerseits nicht wieder fiktiv ist, sondern als bestehender eine objektive Realität darstellt, ohne welche die Fiktion keine Fiktion bzw. nicht wirklich eine Fiktion sein könnte. Wenn ein Urteil über eine real existierende Gegebenheit falsch ist, dann deshalb, weil der durch das Urteil intendierte Sachverhalt nicht besteht. Diese Zusammenhänge werden von CAJTHAML treffend hervorgehoben, wenn er schreibt: »Die Aussagen über fiktive Gegenstände sind tatsächlich, objektiv wahr, wenn sie das Bestehen objektiv bestehender Sachverhalte behaupten. Umgekehrt können Aussagen über real existierende Gegenstände illusorisch bzw. irrtümlich sein, wenn die Sachverhalte, auf die sie sich behauptend beziehen, nicht objektiv bestehen.«847
Wenn die Existenz irgendeiner Sache zwar nicht wirklich, aber möglich ist, dann ist der Sachverhalt bzw. der Bestand des Sachverhalts, daß diese Sache existiert, ebenfalls möglich. Freilich ist der Bestand des anderen Sachverhalts, daß möglicherweise ein Sturm ausbricht, nicht bloß möglich. Vielmehr besteht dieser Sachverhalt wirklich, und zwar in bezug auf eine reale Möglichkeit. Eine zeitliche bedingte Gegebenheit, wie etwa der sprechende Sokrates, fundiert den zeitlich bedingten Sachverhalt, daß Sokrates spricht. Dieser Sachverhalt fängt an zu bestehen, wenn Sokrates zu sprechen beginnt, er besteht, solange Sokrates spricht, und er hört auf zu bestehen, wenn Sokrates aufgehört hat zu sprechen. Und neben dem Sachverhalt, daß Sokrates spricht, gibt es unzählige weitere zeitlich bedingte Sachverhalte entsprechend der Vielzahl zeitlich bedingter Gegebenheiten, welche, wie
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CAJTHAML [1003], 107.
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alles Seiende, immer schon in Sachverhalte, in diesem Fall in entsprechende zeitlich bedingte Sachverhalte, eingehen. »[…] the state of affairs that Jim exists […] begins to exist with the birth of Jim and ceases to exist when Jim dies […].«848
Im Zusammenhang mit der Frage nach der notwendigen zeitlichen Bedingtheit gewisser Sachverhalte schreibt INGARDEN: »In einem jeden Gegenstande, der im Verlaufe seiner Existenz Veränderungen unterliegt, können manche in ihm bestehenden Sachverhalte zwar aufhören zu sein [Kursiv v. Verf.], sie vermögen aber nicht, sich auf diese von dem Gegenstande abzusondern, daß sie danach noch weiter separat existieren. Darin besteht eben ihre Seinsunselbständigkeit. Die Tatsache aber, daß gewisse Sachverhalte im Seinsbereich eines Gegenstandes nicht mehr bestehen, zeigt zugleich, daß diejenigen Sachverhalte, die nach der Veränderung des Gegenstandes noch in seinem Bereich verbleiben, nicht notwendig mit den bereits nichtvorhandenen Sachverhalten zusammen sein müssen. Freilich treten an die Stelle der letzteren andere Sachverhalte ein [Kursiv v. Verf.], oft derselben Art, so daß die verharrenden Sachverhalte doch eine gewisse Ergänzung erfordern. Wenn z.B. eine eiserne Kugel infolge einer Temperaturerhöhung ihr Volumen vergrößert, so tritt anstelle des bis dahin vorhandenen Volumens ein anderes, größeres Volumen ein. Die Gesamtheit der Eigenschaften (bzw. der Sachverhalte) der Kugel, die ihre bestimmte Temperatur bilden, ist in einen anderen Bestand von Eigenschaften übergegangen, in welchem die höhere Temperatur desselben Körpers besteht.«849
Im Hinblick, und nur im Hinblick auf zeitlich bedingtes Seiendes, und insbesondere im Hinblick auf zeitlich bedingte Sachverhalte bedarf auch das ontologische Widerspruchsprinzip der Einschränkung auf die Zeit, wie SEIFERT betont. Damit weist SEIFERT auf eine notwendige Unterscheidung hinsichtlich des »klassischen« Widerspruchsprinzips hin. Diese äußerst bedeutsame Unterscheidung wird in Sein und Wesen etwas beiläufig und in einer recht verdichteten Weise erwähnt. Deshalb sollen die Implikationen hier zunächst entfaltet werden. SEIFERT selbst kommt im Anschluß zu Wort.850 Wenn gesagt wird, daß Sokrates nicht sowohl sprechen als auch 848 849 850
SMITH [1990b], 115. S. SEIFERTS entsprechende Beispiele in Fußn. 857. INGARDEN [1965], 286. S. Fußn. 855.
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nicht sprechen kann, dann muß, wie schon PLATON und ARISTOTELES richtig erkannten, hinsichtlich des ausgeschlossenen ontologischen konradiktorischen Widerspruchs, und d.h., modern gesprochen, hinsichtlich der kategorischen ontologischen Unvereinbarkeit oder Unverträglichkeit des Zugleichbestehens zweier kontradiktorisch entgegengesetzter Sachverhalte einschränkend hinzugefügt werden, daß Sokrates nicht zur gleichen Zeit sowohl sprechen als auch nicht sprechen kann. Es ist, um mit PLATON zu sprechen, unmöglich, »daß Einunddasselbe in einer und derselben Beziehung gleichzeitig stillstehe und sich bewege«. [Übers. TEUFFEL]851 Denn offensichtlich kann Sokrates insofern sowohl sprechen als auch nicht sprechen, als er im Wechsel und in zeitlicher Aufeinanderfolge tatsächlich mal spricht und ein andermal schweigt.852 Würde man das Widerspruchsprinzip nun so formulieren, daß man sagt: »Der kontradiktorische Gegensatz aller Sachverhalte kann unmöglich bestehen«, so wäre dieses Urteil schlicht falsch, da der Sachverhalt, daß der kontradiktorische Gegensatz aller Sachverhalte unmöglich bestehen kann, selber evidentermaßen unmöglich ein Faktum bzw. ein bestehender Sachverhalt sein kann. Im Hinblick auf zeitliche Sachverhalte wird das ontologische Widerspruchsprinzip erst durch das Urteil: »Der kontradiktorische Gegensatz eines zeitlichen bedingten bestehenden Sachverhaltes kann unmöglich zur gleichen Zeit bestehen« adäquat thematisiert. Das Widerspruchsprinzip kann demnach auf dieses Seiende nur angewendet werden, wenn es zeitlich eingeschränkt wird. Die evidente zeitliche Einschränkung kann selbst jedoch nur durch zeitlich bedingte Sachverhalte wie, daß Sokrates sitzt, oder, daß Sokrates nicht sitzt, bedingt sein. Obschon es eigentlich evident ist, daß es zeitlich bedingte Sachverhalte geben kann, und keineswegs, wie etwa MEINONG meint, und auch (der frühe)
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» Estanai, eipon, kai kinei svai to auto a ma kata to auto ara dunaton; Oudamwj.« Plat. rep. 436c. » Eti toinun akribesteron omologhswmeva, mh ph proϞontej amyisbhthswmen. ei gar tij legoi anvrwpon esthkota, kinounta de ta j cei raj te kai thn keyalhn, o ti o autoj e sthke te kai kinei tai a ma, ouk an oimai axioi men ou tw leigein dei n, all o ti to men ti autou e sthke, to de kinei tai. ouc ou to;« Plat. rep. 436c-d. S. dazu auch den Rest der Passage 436d-e.
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CHISHOLM und VENDLER853 in gewisser Weise annehmen, alle Sachverhalte als solche zeitlos sein müssen, wird die zeitliche Bedingtheit so unsagbar vieler Sachverhalte durch die notwendige zeitliche Einschränkung des entsprechenden ontologischen Widerspruchsprinzips vollends deutlich. Denn dessen zeitliche Einschränkung gründet notwendigerweise in den zeitlich bedingten Sachverhalten, auf die es sich ausschließlich beziehen kann. Insofern als die zeitliche Einschränkung des Widerspruchsprinzips in zeitlich bedingten Sachverhalten gründet, ist jedoch auch diese Einschränkung in einer bestimmten Hinsicht einzuschränken. Es gibt nämlich nicht nur zeitlich bedingte Sachverhalte, sondern auch zeitlose, und d.h. zeitlich nicht bedingte Sachverhalte. Ein solcher zeitlich nicht bedingter Sachverhalt wäre etwa, daß allein auf zeitlich bedingte Sachverhalte ein zeitlich eingeschränktes ontologisches Widerspruchsprinzip angewendet werden kann. Dieser Sachverhalt kann nicht irgendwann begonnen haben zu bestehen, so daß vor ihm sein kontradiktorischer Gegensatz Bestand und »Gültigkeit« hätte besitzen können. Er kann auch nicht irgendwann aufhören zu bestehen, so daß nach ihm sein kontradiktorischer Gegensatz bestehen und »Gültigkeit« besitzen könnte. Vielmehr kann der kontradiktorische Gegensatz eines solchen zeitlich nicht bedingten Sachverhaltes unmöglich bestehen. Andernfalls müßte die allerdings absurde Aussage »Der kontradiktorische Gegensatz eines notwendigen Sachverhaltes kann nur zur gleichen Zeit nicht bestehen« zu Recht Wahrheit beanspruchen können. Daher ist dieses Urteil auch notwendigerweise falsch und kann unmöglich jemals wahr sein. Kurzum: Einige Sachverhalte schließen den Bestand ihres kontradiktorischen Gegensatzes nicht nur zeitweilig aus, sondern immer. Das auf sie anzuwendende Widerspruchsprinzip kann daher durch keine zeitliche Einschränkung gekennzeichnet sein. Wenn man versteht, daß das Widerspruchsprinzip ein Gesetz ist, das zunächst und direkt Sachverhalte betrifft (und freilich über Sachverhalte, die ja, wie SEIFERT oben betont, in Bezug auf alles Seiende bestehen, auch ein alle Seienden betreffendes Gesetz854), dann folgt aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer zeitlichen Einschränkung des Widerspruchsprinzips mit Notwendigkeit, daß auch Sachverhalte bestehen können, deren Bestand 853 854
VENDLER [1967], 707f. Vgl. TEXTOR [2001], 123. S. Fußn. 827.
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zeitlich begrenzt ist. Gleichzeitig folgt aus der Einsicht, daß das Widerspruchsprinzip Sachverhalte betrifft, die Einsicht, daß es ein Widerspruchsprinzip geben muß, das nicht zeitlich eingeschränkt sein kann. Dies zeigt sich unmittelbar und höchst einsichtig an dem Sachverhalt, daß die zeitliche Einschränkung des Widerspruchsprinzips ausschließlich zeitliche Sachverhalte betrifft. Denn in bezug auf diesen Sachverhalt über die zeitliche Einschränkung des Widerspruchsprinzips auf kontradiktorische zeitliche Sachverhalte kann unmöglich eine zeitliche Einschränkung geltend gemacht werden. SEIFERTS verdichtet formulierte Entdeckung der soeben entfalteten Sachverhalte lautet nun: »Ich kann nicht zugleich sitzen und nicht sitzen, und diese zeitliche Bestimmung zur Bestimmung des Widerspruchs ist eben nur deshalb erforderlich, weil es sich bei Sachverhalten wie jenen, daß ich sitze oder nicht sitze, um zeitliche Sachverhalte handelt, die einmal bestehen und ein anderes Mal nicht. Zeitlose kontradiktorische Sachverhalte schließen einander ja immer aus, und deshalb ist hier keinerlei Hinzufügung zeitlicher Bedingungen für die Anwendung des Widerspruchsprinzips nötig. Wären alle Sachverhalte zeitlos, müßte dies für alle Sachverhalte und Urteile gelten, was zweifellos nicht zutrifft. Dies hindert nicht, daß über alle zeitlichen und vergänglichen Sachverhalte auch wieder zeitlose Sachverhalte sowie die ihnen entsprechenden zeitlosen Wahrheiten bestehen, […] aber diese sind nicht die Totalität der bestehenden Sachverhalte.«855
Wären alle Sachverhalte per se zeitlos, dann müßte auch das in sie eingehende Seiende entsprechend zeitlos sein, und das hieße, daß es nicht nur faktisch keine zeitlich bedingten Gegebenheiten gäbe, sondern es hieße, daß zeitlich bedingte Gegebenheiten schlechterdings unmöglich wären, was evidentermaßen unmöglich der Fall sein kann. Wären alle Sachverhalte per se zeitlos, dann würden auch nicht nur alle Sachverhalte, sondern auch alle Urteile – und nicht nur einige, andere aber nicht – uneingeschränkt den Bestand bzw. die Wahrheit ihres kontradiktorischen Gegensatzes ausschließen. Würde also der Sachverhalt bestehen, daß es nicht
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SEIFERT [1996], 336. Ein äußerst bedeutsames Beispiel für einen zeitlosen notwendigen Sachverhalt über zeitliche kontingente Sachverhalte wird in Abschnitt 9.4 eigens behandelt.
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regnet, dann wäre das gesamte All notwendigerweise eine »Wüste«, was evidentermaßen unmöglich der Fall sein kann.856 Es ist daher »unhaltbar zu leugnen, daß es auch unzählige Sachverhalte gibt, die in der realen Welt bestehen und die ebenso wie die zeitlichen realen Dinge zu bestehen beginnen und aufhören. Daß ich jetzt lebe, ist ein Sachverhalt, der nur während meines Lebens besteht und (zumindest im hier gemeinten Sinn von ›leben‹) weder vor meiner Empfängnis bestand noch nach meinem Tod bestehen wird, während jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, der Sachverhalt, daß ich lebe, besteht und derjenige, daß ich tot bin, der bald eintreten wird, nicht besteht. Es gibt also reale und vergängliche Sachverhalte wie daß Theaitetos einmal sitzt und einmal steht.«857
Wenn eine Person einer anderen Person befiehlt: »Schließ die Tür!«, dann handelt es sich um einen Imperativ, der als solcher freilich weder wahr noch falsch sein kann. Dennoch geht es auch hier insofern um einen Sachverhalt, als die befehlende Person will, daß die Person, an die der Befehl ergeht, einen Sachverhalt, der noch nicht besteht, realisiert. Die Realisation eines Sachverhaltes gehört, wie WETZEL sich ausdrückt, zu den »Funktionen« eines Imperativs.858 Dieser »auszuführende« Sachverhalt ist das Geschlossen-sein-der-Tür oder, daß die Tür geschlossen ist. Bevor die zweite Person dem Befehl nachkommt, besteht der Sachverhalt nicht. Erst, wenn sie die Tür geschlossen hat, besteht auch der Sachverhalt, daß die Tür geschlossen ist. Und dieser Sachverhalt besteht nur so lange, bis die Tür wieder geöffnet wird. Wie oben bereits angedeutet, ist MEINONG der Auffassung, daß alle bestehenden Objektive zeitlos sind. Es ist hier wichtig zu sehen, daß MEINONG nicht meint, daß alle möglichen Sachverhalte als solche überzeitlich bestehen. MEINONG will gerade durch die Einführung des Terms »Objektiv« für Sachverhalte und im Hinblick auf MARTYS Ablehnung nichtbestehender Sachverhalte eindeutig zwischen bestehenden und nichtbe856
857 858
Um des Argumentes willen wurde an dieser Stelle von der nötigen Einschränkung des ontologischen Widerspruchsprinzips auf »dieselbe Hinsicht«, dergemäß es »hier« regnen kann, »dort« aber nicht, abgesehen und der Sachverhalt gewissermaßen simpliciter verstanden. SEIFERT [1996], 336. WETZEL [2003a], § 1.
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stehenden Sachverhalten unterscheiden. Aber die bestehenden Sachverhalte sind für MEINONG insgesamt ewig bzw. überzeitlich. »Bestände unterscheiden sich von Existenzen unter anderem auch darin, daß sie an keine Zeitbestimmung gebunden, in diesem Sinne ewig, oder besser zeitlos sind […] Das gilt natürlich auch vom Objektiv. Mein Schreibtisch ist ein zu bestimmter Zeit existierendes Ding: daß er aber zu dieser Zeit existiert, das besteht jetzt wie in alle Zukunft und Vergangenheit…Es ist nicht weniger zeitlos, als daß etwa der rechte Winkel größer ist als der spitze.«859
Noch schärfer kommt MEINONGS Überzeugung von der Ewigkeit bestehender Sachverhalte darin zum Ausdruck, daß er im Fall von bestehenden Objektiven von so etwas wie einer untrennbaren Vereinigung, ja von so etwas wie einem Zusammenfall von Sosein und Sein auszugehen scheint.860 »[…] es läßt sich sagen: jeder Gegenstand hat Sein (oder Nichtsein). Es gibt aber Gegenstände, die nicht nur Sein (in diesem weitesten Sinne) haben, sondern auch Sein sind. Und diese Gegenstände sind die Objektive, während [sic] was Sein hat, ohne Sein zu sein, dadurch als Objekt charakterisiert ist.«861
MEINONG sieht in der vermeintlichen Zeitlosigkeit aller bestehenden Objektive ein Unterscheidungsmerkmal zur Existenz, welche er hier offenbar für eine zeitgebundene Gegebenheit hält. Die Zeitlosigkeit aller bestehenden Objektive, d.h. Sachverhalte, gilt für MEINONG so streng wie die Zeitlosigkeit des Sachverhalts, daß rechte Winkel größer sind als spitze. Zunächst ist zu sehen, daß MEINONG Recht hat, wenn er den Sachverhalt, daß rechte Winkel größer sind als spitze, für ein absolut zeitloses Objektiv hält, welches notwendig besteht. Aber er täuscht sich, wenn er alle möglichen Objektive für ebenso zeitlos hält. Dabei scheint es, daß MEINONG das Opfer einer Äquivokation wird. Denn die von ihm verwendete Bezeichung, »daß sein Schreibtisch zu dieser Zeit existiert«, kann sich auf durchaus verschiedene Gegebenheiten beziehen, was MEINONG jedoch zu 859 860 861
MEINONG [1902], 61. S. HABBEL [1959], 43. MEINONG [1902], 61. S. HABBEL [1959], 45. MEINONG [1902], 61. S. HABBEL [1959], 43f.
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entgehen scheint. Um den hier gemeinten Punkt deutlich zu machen, soll hier abweichend von MEINONGS Beispiel nicht davon die Rede sein, daß MEINONGS Schreibtisch zu einer bestimmten Zeit existiert, sondern davon, »daß MEINONG zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert«. Mit der Bezeichnung, »daß MEINONG zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert«, kann zunächst einfach nur gemeint sein, daß der Sachverhalt, daß Meinong lebendig existiert, zu einer bestimmten Zeit besteht. Wir haben es hier mit einem authentischen Sachverhalt zu tun. Und dieser Sachverhalt besteht auch zu einer bestimmten Zeit, nämlich von 1853 bis 1920, da MEINONG 1920 in Graz gestorben ist. Daher kann unmöglich die Rede davon sein, daß der Sachverhalt, daß Meinong lebendig existiert, auch heute noch besteht, da MEINONG dann auch jetzt noch lebendig existieren müßte, was offensichtlich nicht der Fall ist. Kurzum: Der Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert, ist offensichtlich zeitgebunden, da er zwar einmal bestand, jetzt aber nicht mehr besteht. MEINONG kann also unmöglich Recht behalten, wenn er meint, daß alle bestehenden Sachverhalte oder alle Bestände zeitlos sind. Ferner kann mit der Bezeichnung, »daß MEINONG zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert« etwas ganz anderes gemeint sein. Es kann der Sachverhalt gemeint sein, daß der Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert, zwar seit seinem Tod nicht mehr besteht, aber in der Vergangenheit bestanden hat, auch heute lange nach dem Tod MEINONGS besteht, oder kurz gesagt, daß der Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert hat, seit seinem Tod unausgesetzt für alle folgenden Zeiten besteht und nie wieder aufhört zu bestehen noch jemals aufhören kann zu bestehen. Dieser zweite Sachverhalt ist von dem obigen ersten jedoch völlig verschieden! Daß es sich hier um zwei völlig verschiedene Sachverhalte handelt, scheint MEINONG zu entgehen. Vielmehr verwechselt MEINONG den zweiten Sachverhalt offensichtlich mit dem ersten. Denn MEINONG begründet die Zeitlosigkeit aller Sachverhalte im obigen Zitat ausdrücklich damit, daß sie in alle Zukunft bestehen werden (und bereits in aller Vergangenheit bestanden haben). Was aber in alle Zukunft besteht, ist nicht der Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert, oder Das-zu-einer-bestimmten-Zeit-
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existieren-von-Meinong.862 Was in alle Zukunft besteht und bestehen wird, ist der ganz andere in Bezug auf den erstgenannten Sachverhalt bestehende und in der Tat nie mehr vergehende höhere Sachverhalt, daß der Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert, einmal bestanden hat. Freilich muß gesehen werden, daß auch dieser höhere Sachverhalt nur insofern »zeitlos« ist, als er, nachdem er einmal begonnen hat zu bestehen, nie mehr aufhören kann zu bestehen, da keine Macht, auch keine göttliche, das Unding bewirken kann, daß etwas einmal Geschehenes wieder ungeschehen gemacht wird. Keinesfalls aber ist dieser Sachverhalt, wie MEINONG irrtümlicherweise meint, ebenso zeitlos wie der Sachverhalt, daß ein rechter Winkel größer ist als ein spitzer. Dieser Sachverhalt besteht absolut zeitlos; sein Bestand kann weder beginnen noch aufhören. Aber der hier fragliche höhere Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit leibhahft existiert hat, beginnt streng genommen erst dann zu bestehen, wenn der davon verschiedene Sachverhalt, daß Meinong leibhaft existiert, aufhört zu bestehen. Im übrigen ist der obige geometrische Sachverhalt auch absolut notwendig, d.h. der mit dem Sachverhalt zum Ausdruck kommende Zusammenhang zwischen zwei Winkelarten muß so sein und kann unmöglich anders sein. Aber der in dem Sachverhalt, daß Meinong zu einer bestimmten Zeit lebendig existiert hat, zum Ausdruck kommende Zusammenhang zwischen MEINONG und dessen vergangener leibhaftiger Existenz ist keinesfalls notwendig, da MEINONG als kontingentes Wesen auch hätte nicht existieren können. Der Sachverhalt, der ebenso notwendig besteht wie der geometrische, ist der abermals ganz andere und von MEINONG gar nicht eigens thematisierte Sachverhalt, daß jeder kontingente Sachverhalt, der faktisch irgendwann beginnt und irgendwann danach aufhört zu bestehen, notwendigerweise in den höheren Sachverhalt eingeht, daß dieser kontigente Sachverhalt einmal bestanden hat, und daß dieser letztere höhere Sachverhalt nicht wieder aufhören kann zu bestehen. Da all diese einschlägigen verschiedenen Sachverhalte von MEINONG nicht unterschieden werden, 862
In diesem Fall könnte nicht nur MEINONG nicht aufhören, lebendig zu existieren, es könnte nicht einmal die Zeitspanne 1853-1920 jemals überschritten werden, was offenkundig absurd ist.
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gelangt er zu der allerdings irrigen Auffassung, daß alle bestehenden Sachverhalte in dem Sinn zeitlos sind, daß sie seit aller Zeit und in alle Zukunft bestehen. Daß es bei MEINONG zu der irrigen Annahme kommen kann, daß alle Sachverhalte zeitlos sind, bleibt durchaus erstaunlich. SEIFERT schreibt daher zu Recht: »[…] weil [Sachverhalte] in bezug auf alle Dinge bestehen, können sie sowohl zeitlich als auch zeitlos, wirklich und fiktiv usf. sein und an allen Seinsmodi teilhaben. Dies haben Reinach und Meinong übersehen, wenn sie glaubten, daß alle Sachverhalte zeitlos seien. Dies ist ein bei so scharfsinnigen Analytikern der Phänomene seltsam den Tatsachen ins Gesicht schlagender Irrtum, der höchstens eine gewisse Erklärung finden kann, weil es tatsächlich auch in bezug auf zeitliche Vorkommnisse zeitlose Sachverhalte sowie zeitlose Wahrheiten gibt.«863
4.7 Der Bestand als spezifische und irreduzible Daseinsform der Sachverhalte 4.7.1 Existenz und Sachverhalt: Eine weitere notwendige Unterscheidung An dieser Stelle läßt sich noch der Unterschied zwischen Existenz und Sachverhalt verdeutlichen. REINACH dürfte diese Unterscheidung durch 863
SEIFERT [1996], 336. Der Problemhintergrund, welcher bei MEINONG und insbesondere bei REINACH dazu führt, alle bestehenden Sachverhalte als zeitlose Daten anzusehen, ist die Frage nach der Möglichkeit der Wahrheit gegenwärtiger Urteilsinhalte über vergangene (und zukünftige) Begebenheiten. Vereinfacht ausgedrückt geht es um die Auffassung, daß erst eine Überzeitlichkeit aller bestehenden Sachverhalte die, wie CAJTHAML sich ausdrückt, »Zeitlosigkeit der präpositionalen [sic] Wahrheit und Falschheit garantiert.« Eine nähere Untersuchung dieser für die Korrespondenztheorie der Wahrheit bedeutsamen Frage kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. S. dazu SMITH [1989], 63. CAJTHAML [2003], 106f., Fußn. 193. Der oben und in Abschnitt 4.4.8 angedeutete Lösungsvorschlag stellt den Versuch dar, insbesondere SEIFERTS (vgl. auch SEIDL in Fußn. 1175) Gedanken von »zeitlosen Sachverhalten und Wahrheiten«, welche in bezug auf zeitliche »Vorkommnisse« und Sachverhalte bestehen, streiflichtartig weiterzuentwickeln, obwohl SEIFERT, soweit ersichtlich, im obigen Zitat vor allem schlechterdings notwendige Sachverhalte über zeitliche Sachverhalte im Blick haben dürfte (s. dazu Abschnitt 9.4).
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Kapitel 4
seine Erkenntnis grundgelegt haben, daß im strengen Sinn nur bestehende und nichtbestehende Sachverhalte, nicht aber existierende und nichtexistierende Dinge kontradiktorisch entgegengesetzt sein können.864 Den Problemhintergrund für diese Unterscheidung bildet BRENTANOS, aber auch MARTYS Auffassung, daß die »Existenz« bzw. die Existenz von A den Gegenstand des Urteils bilden. Wenn nun davon gesprochen wird, daß die Existenz von A den Gegenstand des Urteils bildet, und davon gesprochen wird, daß der Sachverhalt den Gegenstand des Urteils bildet, stellt sich verständlicherweise die Frage, ob Existenz nicht ein Sachverhalt sei. Über REINACH hinausgehend läßt sich mit SEIFERT der wesentliche Unterschied zwischen Existenz und Sachverhalt zur Gegebenheit zu bringen. Die Existenz von Etwas geht zwar in Sachverhalte ein, kann aber niemals selbst ein Sachverhalt sein. Wenn ein Seiendes existiert, dann ist die Existenz »gerade der innerlichste Akt des Seins eines Seienden«, wie SEIFERT treffend betont, so daß die Existenz eines Seienden niemals mit dem diese Existenz notwendig transzendierenden Sachverhalt, daß dieses Seiende existiert, zu verwechseln ist.865 Aufgrund der notwendigen Transzendenz der Sachverhalte gegenüber das in sie eingehende Seiende können Sachverhalte niemals eine dieses Seiende als solches intrinsek durchgreifende Aktualiät sein. Kurzum: Der Sachverhalt, daß dieses Seiende existiert, kann unmöglich die Existenz dieses Seienden sein. Um von einem existierenden Seienden aus den in bezug darauf bestehenden Sachverhalt zu erreichen, muß man stets »hinübergehen«, da der Sachverhalt als Sosein und Dasein sui generis den in ihn eingegangenen Sachen keinesfalls »innerlich einwohnen kann«. Ein solcher »Hinübergang« ergibt aber nur im Hinblick auf die Transzendenz eines Sachverhaltes, keinesfalls jedoch im Hinblick auf die Existenz eines Seienden Sinn, weil das Seiende selbst existiert, und nicht etwa ein anderes Seiendes dessen Existenz ist. »Auch die […] erwähnte Transzendenz des Sachverhalts gegenüber dem ihn begründenden Seienden als solchen macht es unmöglich, daß Existenz, die gerade der innerlichste Akt des Seins eines Seienden ist, mit 864 865
REINACH [1989], 116f. Mehr dazu in Abschnitt 4.8.2. S. zur Unmöglichkeit, daß der Sachverhalt, »daß X existiert« das »Existieren von X« ist, die hier nicht berücksichtigte Argumentation SEIFERTS in [1996], 344.
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einem Sachverhalt, der nie dem Ding innerlich einwohnen kann, gleich ist.«866
Überdies stellt die Unendlichkeit der Sachverhalte und der im Hinblick auf Sachverhalte notwendig bestehende Sachverhalt, daß jeder Sachverhalt wieder neues Seiendes nach Art der Sachverhalte begründet, einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen dem Dasein von Sachverhalten und dem Dasein im Sinn der realen Existenz von Sachen oder Dingen dar, wie SEIFERT zeigt. Denn reale Existenz begründet als solche niemals notwendigerweise andere Dinge oder andere reale Existenzen, und schon gar nicht begründet sie eine unendliche Anzahl weiterer anderer Existenzen oder gar eine unendliche Anzahl von Existenzen der prinzipiell selben Art, wie es bei daseienden Sachverhalten der Fall ist. »Auch die Unendlichkeit der Zahl der Sachverhalte und daß jeder neue Sachverhalt wieder weitere begründet, gilt nicht von realer Existenz eines Dinges, die als solche niemals unendlich viele weitere reale Existenzen, und erst recht nicht unendlich viele reale Existenzen derselben Art, begründet.«867
Ferner läßt sich Existenz auch deshalb nicht auf Sachverhalte reduzieren, da es insofern einen echten Unterschied zwischen positiven und negativen Sachverhalten gibt, als sowohl positive als auch negative Sachverhalte objektiv bestehen können und bestehen. Einen entsprechenden Unterschied, so betonen REINACH und SEIFERT zu Recht, gibt es bei der Existenz nicht. Existenz ist immer positiv. Eine negative Existenz, wie etwa ein Tyrannosaurus-Rex-negativ, kann es im Unterschied zu dem negativen Sachverhalt, daß etwas nicht existiert, nicht geben. Wenn hier von einem Unterschied gesprochen werden kann, dann allenfalls von dem zwischen positiver Existenz und der Abwesenheit, dem Fehlen oder Nichtvorhandensein von Existenz.
866 867
SEIFERT [1996], 344. SEIFERT [1996], 344. »Ja, es gibt auch keinen Sachverhalt, der keine weiteren Sachverhalte begründen würde. Dies gilt keineswegs von Dingen und deren Eigenschaften und auch nicht von realer Existenz, daß sie immer andere Dinge oder Existenz begründen würde.« SEIFERT [1997], 333.
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Kapitel 4 »Die Unreduzierbarkeit der Existenz auf einen Sachverhalt geht auch daraus hervor, daß es den Unterschied zwischen positiven und negativen Sachverhalten gibt, während es evidenterweise keinen Unterschied zwischen positiver und negativer Existenz gibt, sondern höchstens Existenz und deren Fehlen.«868
Unzählige Lebensformen existieren (heute) nicht (mehr), weil sie längst ausgestorben sind. Sie »fehlen« heute oder sind »nicht vorhanden« oder abwesend. Aber an die Stelle des Tyrannosaurus Rex ist nicht so etwas und kann nicht so etwas wie ein Tyrannosaurus Rex negativus getreten sein. 4.7.2 Das »Bestehen« oder der »Bestand« als die irreduzible Art des Realseins von sowohl positiven als auch negativen Sachverhalten Existenz begründet nicht unendlich viele weitere Existenzen und schon gar nicht unendlich viele »höhere« Existenzen derselben Gattung. Existenz ist dem existierenden Etwas gegenüber nicht transzendent, vielmehr ist es dieses Etwas, das existiert und als solches durch den Akt der Existenz durchgriffen ist. Existenz ist auch nicht eine umfassendere komplexe Größe von der Art des Sachverhaltes, daß etwas existiert, in welche das entsprechende Etwas »neben« seiner Existenz dann auch noch einzugehen hätte. Der Sachverhalt, daß etwas existiert, kann unmöglich die Existenz des fraglichen Etwas sein. Negative Existenz kann unmöglich real sein bzw. negative Existenz kann unmöglich existieren. Entweder existiert ein Etwas, oder dessen Existenz ist nicht vorhanden bzw. fehlt. Der negative Sachverhalt jedoch, daß das Ungeheuer von Loch Ness nicht existiert, ist objektiv da und real, auch wenn, bzw. gerade weil das entsprechende Etwas in keiner Weise existiert. Würde dieser Sachverhalt nicht objektiv da sein, dann müßte Nessy real existieren! Ebenso ist der negative Sachverhalt, daß es negative Existenz nicht geben kann, objektiv real und da, obschon, bzw. gerade weil negativer Existenz keinerlei Existenz zukommen kann. In beiden Fällen ist genau dieses objektive Dasein der negativen Sachverhalte das, was die negativen Urteile: »Das Ungeheuer von Loch Ness existiert nicht« und: »Negative Existenz kann es nicht geben« wahr macht, insofern die Wahrheit dieser negativen Urteile in der Über868
SEIFERT [1996], 344. REINACH [1989], 117.
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einstimmung mit wirklich daseienden negativen Sachverhalten bestehen muß, da es genau diese Sachverhalte sind, mit denen die seitens des Urteils behauptend hingestellten Sachverhalte übereinstimmen. Somit erweist sich auch das Dasein der Sachverhalte als eine »irreduzible Daseinsform« (SEIFERT),869 d.h. als eine objektive Gegebenheit sui generis. Die Existenz eines Seienden und objektiv daseiende Sachverhalte haben, wie oben deutlich gemacht wurde, verschiedene und aufeinander nicht zurückführbare Eigenheiten. Wenn gewisse Philosophen wie u.a. REINACH, PFÄNDER, SEIFERT und WENISCH darauf hingewiesen haben, daß im Hinblick auf einen daseienden Sachverhalt nicht davon gesprochen werden soll, daß dieser Sachverhalt »existiert«, dann gründet eine solche Auffassung keineswegs in einer bloßen façon de parler, wie SIMONS überraschenderweise meint, noch gehört der Unterschied zwischen der Daseinsform der Sachverhalte und der Existenz zu den »relatively minor differences«, wie sich GROSSMANN ausdrückt.870 Der »Bestand« stellt als mögliche Daseinsform sowohl negativer als auch positiver Sachverhalte ein unveräußerliches ontologisches Proprium der Sachverhalte dar. Es ist notwendigerweise so, daß nur Sachverhalte in diesem Sinn bestehen können. Anhand dieses Phänomens wird deutlich, daß ein bestehender Sachverhalt etwas anderes ist als die reale Existenz eines Etwas, und daß Sachverhalte sowenig nach Art der Existenz da sind, wie Sachen nach Art des Bestandes da sind. Die Daseinsform der Sachverhalte sollte also nicht als »Existenz«, sondern als »Bestehen« oder als »Bestand« bezeichnet werden. Eine Bezeichnung, auf die bereits die Konvention nicht nur der deutschen Sprache hinweist, wenn hier ganz natürlich von bestehenden bzw. nichtbestehenden Sachverhalten die Rede ist. Auch im Englischen ist weniger davon die Rede, that a state of affairs exists, als eher davon, that a state of affairs obtains oder, that a state of affairs does not obtain. »Die rote Rose existiert, die Rose ist rot, das Rot inhäriert der Rose; die Rose ist nicht weiß, nicht gelb usw. Die rote Rose, dieser dingliche Einheitskomplex ist der allen diesen Sachverhalten zugrunde liegende
869 870
SEIFERT [1996], 335. SIMONS [2001b], 231. GROSSMANN [1983], 335.
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Kapitel 4 Tatbestand. Bei ihm reden wir von Existenz, bei den auf ihm basierenden Sachverhalten besser von Bestand.«871 »Sachverhalte haben eine eigentümliche Seinsweise, die wir mit Reinach eher als Bestehen denn als Existieren bezeichnen sollten. Mit diesem Ausdruck ist auf die ganz besondere Daseinsform der Sachverhalte hingewiesen, die sich als eine ganz andere Form des Daseins vom realen Existieren abheben.«872
Wie bereits angedeutet, ist SIMONS der Auffassung, daß die Unterscheidung zwischen Existenz und Bestand die rein sprachliche Sphäre nicht übersteigt. »Daß der Kaffee in der Tasse ist, ist der Sachverhalt, dessen Existenz die Proposition wahr macht. Er ist der Wahrmacher. Manche Leute sagen lieber, daß der Sachverhalt besteht, statt daß er existiert. Dies erscheint mir aber als bloße façon de parler, weshalb ich weiterhin den Ausdruck ›existieren‹ verwende.«873
Wenn SIMONS die Unterscheidung »mancher Leute« für bloßen Sprachgebrauch hält, dann wohl deshalb, weil er sich den Unterschied zwischen der Daseinsform der Existenz und der Daseinsform des Bestandes nicht wirklich zur Gegebenheit gebracht hat. Aber genau dieser evidente und objektive Unterschied der beiden Daseinsformen macht, daß die Unterscheidung nicht auf die Sprache beschränkt, sondern in der Wirklichkeit bzw. in wirklichen Unterschieden verankert ist. Dieser irreduzible sachliche Unterschied der Daseinsformen ist der Grund für die sprachliche Unterscheidung. Bleibt man bei der Rede von »existierenden« bzw. »nichtexistierenden« Sachverhalten, dann leistet man gravierenden und weittragenden Verwechslungen, wie etwa der, daß Existenz ein Sachverhalt sei, wenigstens Vorschub. Oder aber man gelangt zu der Überzeugung, daß es bestehende Sachverhalte oder wenigstens negative bestehende Sachverhalte als solche nicht gibt, weil es negative Existenz nicht gibt. Aber 871 872
873
REINACH [1989], 116. SEIFERT [1996], 335. S. PFÄNDER [2000] unter Fußn. 745. S. WENISCHS [1988] Aussage unter Fußn. 735. S. auch KUTSCHERAS [1993] Aussage unter Fußn. 746. SIMONS [2001b], 231.
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daraus, daß es negative Existenz in der Tat nicht gibt und geben kann, kann unmöglich folgen, daß es auch bestehende negative Sachverhalte nicht geben kann, weil Existenz und Bestand trotz aller Zusammenhänge zwei völlig verschiedene reale Daseinsformen darstellen, und gerade im Hinblick auf negative Existenz der negative Sachverhalt besteht, daß es sie nicht geben kann. Wie noch zu zeigen sein wird, wirkt sich eine derartige Verwechslung gerade auch auf die durch INGARDEN intensiv behandelte Frage nach dem »seinsautonomen Bestand« negativer Sachverhalte aus. Der soeben erwähnte, aus der Verwechslung von Existenz und Bestand resultierende Fehlschluß ist nicht der einzig mögliche. Ist man der Auffassung, daß Sachverhalte existieren, dann stellt sich die Frage, welche Art von Existenz negative Sachverhalte darstellen. Die Negativität des Sachverhaltes von Peters nicht zu Hause sein muß dann nicht allein dazu führen, daß man seine Realität zurückweist, weil man diese mit einer allerdings absurden Form negativer Existenz verwechselt.874 Vielmehr kann die Verwechslung der beiden Daseinsformen auch dazu führen, daß man negative Existenz für real oder wenigstens für möglich hält, weil man sich der Objektivität des Bestandes des negativen Sachverhaltes nicht zu entziehen vermag. Die Verwechslung der Daseinsformen kann also entweder zu der Auffassung führen, daß es negative Existenz gibt, weil man sich der Objektivität des negativen Sachverhaltes zu Recht nicht entziehen kann, oder zu der Meinung Anlaß geben, daß es negative Sachverhalte nicht geben kann, weil man negative Existenz zu Recht als ein Unding ansieht. Dabei wird aufgrund einer fehlenden Unterscheidung zwischen Existenz und Bestand nicht gesehen, daß sich beide Auffassungen nicht kontradiktorisch, sondern konträr zueinander verhalten. Anders gesagt: Beide Auffassungen können falsch sein und sind in der Tat falsch. Inwiefern in der »gewachsenen« sprachlichen Unterscheidung von »Bestand« und »Existenz« ein vorphilosophisches Bewußtsein von der irreduziblen Daseinsform des Bestehens eines Sachverhaltes zum Ausdruck kommt, kann hier nicht weiter verfolgt werden, da dies u.a. ganz eigene historisch-philologische Forschungen erfordern würde. Auch muß gesehen 874
INGARDENS und KRAMLS Auffassung von der Unmöglichkeit eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte dürften nicht zuletzt in einer solchen Verwechslung gründen. Zu INGARDENS Position s. Abschnitt 5.1. Zu KRAML s. Fußn. 913.
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Kapitel 4
werden, daß derlei terminologische Differenzierungen nicht in sämtlichen Sprachen aufgrund irgendeiner metaphysischen Notwendigkeit vorkommen müssen bzw. können. Vielmehr mag es zahlreiche Sprachen geben, in denen ein sprachlicher Unterschied zwischen »Existenz« und »Bestand« nicht vorkommt, so daß in diesen Sprachen auch im Hinblick auf real daseiende Sachverhalte ganz selbstverständlich von »Existenz« die Rede sein mag, bzw. der Terminus, mit denen das Dasein eines dinglichen Etwas, und der Terminus, mit denen das Dasein eines Sachverhaltes bezeichnet wird, derselbe ist. Eine Abwesenheit derartiger sprachlicher Unterschiede, ja selbst eine angenommene Abwesenheit derartiger Unterschiede in sämtlichen Sprachen unterstreicht indes nur zusätzlich die Notwendigkeit, zum Wesen der Sachen vorzudringen und nicht etwa an den vorhandenen, nur teils vorhandenen oder gar nicht vorhandenen Zeichen für diese stehen zu bleiben. Allerdings ist an dieser Stelle auch mit REINACH einem möglichen Mißverständnis vorzugreifen. Wenn die Daseinsform sowohl positiver als auch negativer Sachverhalte als »Bestand« zu kennzeichnen ist, so soll damit nicht gesagt sein, daß das Bestehen notwendig im Sosein von Sachverhalten überhaupt gründet. Dies würde zu der allerdings absurden Auffassung führen, daß alles, was ein Sachverhalt ist, auch notwendig bestehen muß, ganz gleich, ob der Sachverhalt der Vergangenheit oder der Zukunft angehört, und ganz gleich, ob es sich um einen intrinsek unmöglichen Sachverhalt handelt. Vielmehr muß auch bei Sachverhalten zwischen deren Sosein und Dasein unterschieden werden. Ein Datum wie, daß es jetzt regnet, ist wirklich ein Sachverhalt, aber das heißt nicht, daß dieser Sachverhalt im Sinne des Bestandes auch wirklich ist. Vielmehr besteht der Sachverhalt, daß es jetzt regnet, nicht, und er kann im Moment nicht bestehen, da zu diesem Zeitpunkt der negative Sachverhalt besteht, daß es nicht regnet. Aber das heißt nicht, daß eine Gegebenheit wie daß es jetzt regnet, weil sie nicht besteht, auch kein Sachverhalt sein kann, bzw. nicht zu Recht als Sachverhalt zu bezeichnen ist. REINACH sieht dies mit aller Deutlichkeit, wenn er sagt: »Es ist zu beachten, daß im Begriffe des Sachverhaltes sein Bestand keineswegs als wesentliches Moment eingeschlossen liegt. Genauso wie wir die (realen oder ideellen) Gegenstände von ihrer (realen oder ideellen) Existenz trennen und ohne weiteres anerkennen, daß gewissen Gegen-
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stände, wie goldene Berge oder runde Vierecke, nicht existieren oder sogar überhaupt nicht existieren können, so trennen wir auch die Sachverhalte von ihrem Bestand und reden von Sachverhalten, wie dem goldensein von Bergen oder dem rund-sein von Vierecken, die nicht bestehen oder nicht bestehen können. Insofern liegt eine weitgehende Analogie zwischen Gegenstand und Sachverhalt vor […].«875
Kurzum: Es gibt Sachverhalte, die bestehen und Sachverhalte, die nicht bestehen, ähnlich wie auch gewisse Wesenheiten, die hier und jetzt ins Auge gefaßt werden, wie etwa der Tyrannosaurus Rex, nicht notwendigerweise auch hier und jetzt existieren müssen. 4.8 Besondere Zusammenhänge zwischen Sachverhalten und Ursprungsbeziehungen und Sachverhalten und dem Kontradiktionsprinzip 4.8.1 Sachverhalte allein stehen in Grund-Folge Beziehungen, niemals aber in Ursache-Wirkungs-Beziehungen Im Rückgriff auf REINACH und SEIFERT soll jetzt eine weitere Eigenschaft von Sachverhalten zur Darstellung kommen. Dies erfolgt zunächst in eigenständiger und weiter ausholender Weise, da die Ausführungen bei REINACH und SEIFERT vergleichsweise »dicht« sind. Die Verweise auf entsprechende Darstellungen bei REINACH und SEIFERT folgen im Anschluß. Wenn ein auf einem Tisch stehender Becher von einer Person von A nach B verschoben wird, dann ist die Ursache dieses Ortswechsels des Bechers die Kraft, welche durch den Arm der Person auf den Becher einwirkt. Der kraftausübende Arm ist aber eine Sache und eines ihrer möglichen Attribute. Ebenso ist der räumlich verschobene Becher eine Sache und eines seiner möglichen Attribute, welches mit ARISTOTELES als dessen »Lage« bezeichnet werden kann. Der kraftausübende Arm verursacht den Ortswechsel des Bechers. Der kraftausübende Arm als solcher ist aber kein Sachverhalt, und er verursacht auch nicht den Sachverhalt als solchen, daß der Becher den Ort wechselt. Der Arm übt Kraft aus, aber der Sachverhalt, daß der Arm Kraft ausübt,876 kann selber keine Kraft ausüben, 875 876
REINACH [1989], 116f. Oder des Kraft-ausübens-meines-Armes etc.
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und der Sachverhalt, daß der Becher den Ort wechselt, wechselt nicht den Ort. Daher kann der Sachverhalt, daß der Arm Kraft auf den Becher ausübt, nicht die Ursache dafür sein, daß der Becher den Ort wechselt. Der Sachverhalt kann nicht »ver-ur-sacht« werden und keine »Ur-sache« im Sinne der Wirkursächlichkeit sein, weil er keine Sache ist, sondern eine die Sachen transzendierende Entität. Dasselbe ließe sich nun, wie leicht einzusehen ist, von jeder beliebigen wirkursächlichen Relation und deren Relaten zeigen. So kann etwa der Sachverhalt, daß der Ventilator rotiert, unmöglich die Ursache für den kühlen Luftzug im Raum sein, denn der Sachverhalt, daß der Ventilator rotiert, ist kein rotierender Ventilator, und der Sachverhalt, daß ein kühler Luftzug durch den Raum geht, ist nicht kühl, er ist keine Luft, und er geht auch nicht durch den Raum. Die hier wirkende Ursache ist allein der Ventilator und dessen Rotation als solche. Die aus dieser Ursache hervorgehende Wirkung ist einzig und allein ein kühler Luftzug als solcher. Freilich muß gesehen werden, daß gewisse Äquivokationen diese Einsicht erschweren können. So ist die Aussage: »Der rotierende Ventilator verursacht, daß ein kühler Luftzug durch den Raum geht«, sprachlich völlig normal und gängig. Und es ist just die Normalität eines solchen sprachlichen Ausdrucks, die zu der Auffassung führen kann, daß Sachverhalte als Relate wirkursächlicher Beziehungen fungieren können. Denn der rotierende Ventilator scheint ja die Ursache dafür zu sein, daß ein kühler Luftzug durch den Raum geht. Und der sprachliche Ausdruck, »daß ein kühler Luftzug durch den Raum geht«, scheint nichts anderes als einen Sachverhalt zu bezeichnen. Aber auch hier muß abermals auf die mögliche Vieldeutigkeit sprachlicher Ausdrücke hingewiesen werden. Denn es ist sprachlich ohne weiteres möglich, eine Wirkung durch einen daß-Satz auszudrücken. Diese Wirkung ist jedoch sachlich betrachtet nichts anderes als ein durch den Raum gehender kühlender Luftzug als solcher und nicht etwas anderes als dieser. Der Sachverhalt, daß ein kühler Luftzug durch den Raum geht, wird zwar durch denselben sprachlichen Ausdruck bezeichnet, aber er kann im Unterschied zum kühlen Luftzug unmöglich als Wirkung aus dem Wirken des rotierenden Ventilators hervorgehen, da er weder kühl noch Luft ist noch einen Raum durchmessen kann. Abermals ist es zunächst REINACH, der, vorbereitet durch MARTY, in aller Klarheit sieht, daß Sachverhalte unmöglich die Relate der Wirkursächlichkeit sein können.
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Dies alles bedeutet freilich nicht, daß Sachverhalte keine Relate von »Ursprungsbeziehungen« sein können.877 Vielmehr gibt es Ursprungsbeziehungen, die, wie REINACH herausarbeitet, allein Sachverhalte als Relate haben können. Grundsätzlich gesprochen ist diese Ursprungsbeziehung die Beziehung von Grund und Folge. D.h. das Bestehen eines Sachverhaltes oder dessen tatsächliches Vorliegen können der Grund sein, aus dem dann andere Sachverhalte als dessen Folgen hervorgehen. Auch sind alle GrundFolge-Verhältnisse zwischen Sachverhalten notwendigerweise ontologische und nicht etwa logische Grund-Folge-Verhältnisse, da Sachverhalte keine logischen, sondern ontologische Gegebenheiten sind. Einigen dieser an sich ontologischen Begründungszusammenhänge eigne allerdings ein, wie SEIFERT sich ausdrückt, »gleichsam logischer« Charakter. Ein solcher ontologischer Begründungszusammenhang mit gleichsam logischem Charakter liegt, wie sich mit SEIFERT zeigen läßt, immer dann vor, wenn der begründende Sachverhalt den daraus folgenden Sachverhalt ›einschließt‹. »Daß es geschneit hat, ist der Grund dafür, daß es jetzt kalt ist; der letztere Sachverhalt ist die Folge des ersteren. Hier handelt es sich um ein reales Grund-Folge-Verhältnis. Aus einem Sachverhalt können aber ferner auch in gleichsam logischer Weise andere Sachverhalte folgen. […]; daraus, daß einige Einwohner von Florenz weiß und italienische Staatsbürger sind, folgt, daß einige Weiße italienische Staatsbürger sind […].«878
Beispielsweise folgt aus dem tatsächlichen Vorliegen des Sachverhalts, daß alle Textmarker auf dem Tisch gelb sind, in »gleichsam logischer Weise« das Vorliegen des Sachverhalts, daß einige Textmarker auf dem Tisch gelb sind. Aus dem Voliegen des Sachverhalts, daß alle Menschen sterblich sind, folgt das Vorliegen des Sachverhalts, daß Sokrates sterblich ist. Besteht der erste Sachverhalt, so folgt daraus der Bestand des zweiten Sachverhalts. Der erste Sachverhalt ist der Grund, aus dem der zweite Sachverhalt als dessen Folge hervorgeht, insofern jener diesen bereits 877
878
Die Bezeichnung »Ursprungsbeziehung« oder auch »Ursprungsrelation« wird hier im Anschluß an HENGSTENBERG gebraucht. Der Ausdruck bezeichnet einen Gattungsbegriff und über diesen alle möglichen realen Weisen, wie etwas aus einem anderen hervorgehen kann. Kausaliät und Grund-Folge-Beziehungen etwa verhalten sich zur »Ursprungsbeziehung« wie Arten zur Gattung. HENGSTENBERG [1958], 1. 27. 44f. SEIFERT [1996], 339.
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›einschließt‹.879 Aber der Folge-Verhalt geht aus dem Grund-Verhalt nicht deshalb hervor, weil der Grund-Verhalt eine entsprechende Schlußfolgerung ziehen würde. Eine solche Schlußfolgerung kann einzig durch ein denkendes Subjekt gezogen werden. Sachverhalte sind weder Denktätigkeiten noch Denkinhalte. Daher können sie weder ein schlußfolgerndes Denken noch eine Schlußfolgerung im Sinne eines Denkinhalts sein. Aber aus den Sachen, nämlich allen gelben Textmarkern auf dem Tisch, folgen nicht einige gelbe Textmarker auf dem Tisch. Alle gelben Textmarker auf dem Tisch sind nicht der Grund für einige gelbe Textmarker auf dem Tisch als dessen Folge. Einige Textmarker gehen auch nicht aus allen Textmarkern hervor, so wie ein Sachverhalt als Folge aus einem anderen als dessen Grund hervorgeht. Zwischen den Sachen als solchen gibt es im Unterschied zu den entsprechenden Sachverhalten überhaupt keinen Grund-Folge-Zusammenhang, weil sie keine Sachverhalte sind. Aus Dingen bzw. Sachen »kann nichts folgen«, wie REINACH sich ausdrückt. Auch ist das Gelb-sein-aller-Textmarker-auf-dem-Tisch nicht die Ursache dafür, daß einige Textmarker auf meinem Tisch gelb sind. Die Ursachen für deren Färbung im allgemeinen und besonderen sind offensichtlich anderswo zu suchen, etwa bei den entsprechenden Kunststoffingenieuren, deren Mitarbeitern und zielgerichteten Tätigkeiten. Aus dem Sterblich-sein-aller-Menschen und dem Mensch-sein-des-Sokrates folgt das Sterblich-sein-des-Sokrates aber das Sterblich-sein-des-Sokrates wird durch das Sterblich-sein-aller-Menschen und das Mensch-sein-desSokrates nicht bewirkt. Ursachen und Wirkungen erreichen Sachverhalte nicht, und die Grund-Folge-Beziehung erreicht Sachen nicht. Der Sachverhalt etwa, daß sich eine Person ungesund ernährt, ernährt diese Person nicht und ist in keiner Weise eine ungesunde Ernährung, so daß der Sachverhalt unmöglich Ursache für einen kranken Magen sein kann, die ungesunde Ernährung hingegen schon. Letztere ist jedoch gerade kein Sachverhalt, sondern gehört der sachlichen Sphäre an. Und freilich kann die ungesunde Ernährung Ursache für einen kranken Magen sein. Aber das Vorliegen des Sachverhalts, daß sich eine Person ungesund ernährt, kann der Grund für den daraus folgenden Sachverhalt sein, daß 879
SEIFERT [1996], 339, gebraucht das Beispiel »Alle Einwohner von Florenz sind weiß.«
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der Magen dieser Person erkrankt. In diesem Fall liegt ein ganz reales ontologisches Grund-Folge-Verhältnis vor, dem auch kein »gleichsam logischer« Charakter eignet, denn der »Folgeverhalt« ist in keiner Weise im »Grundverhalt« eingeschlossen. Nur Sachen können verursacht werden und verursachen. Da Sachverhalte keine Sachen sind, können sie weder verursachen noch verursacht werden. In der ontologischen Sphäre können nur Sachverhalte Gründe für Folgen sein, und nur Sachverhalte können aus Gründen folgen.880 Da Sachen keine Sachverhalte sind, können sie weder als Gründe noch als Folgen in einem Grund-Folge-Verhältnis stehen. Wie bereits angedeutet, ist es REINACH, der, vorbereitet durch MARTY, mit aller Deutlichkeit sieht, daß Sachverhalte unmöglich in wirkursächlichen Zusammenhängen stehen können und daß Sachen bzw. dingliche Gegebenheiten unmöglich in Grund-Folge-Verhältnissen stehen können. »Die Bewegung einer Kugel ist die Ursache der Bewegung der zweiten; hier fungiert ein dingliches Geschehen als Ursache eines anderen. Dagegen können Dinge, dingliche Vorgänge oder Zustände niemals in der Eigenschaft von Grund und Folge auftreten. Man kann sogar ganz allgemein sagen: Gegenstände überhaupt können niemals Grund und Folge sein. Ein Ding oder ein Erlebnis oder eine Zahl etwa kann unmöglich etwas begründen, aus ihm kann nichts folgen. […] Stets sind Sachverhalte und können nur Sachverhalte Grund und Folge sein. Daß etwas so oder so sich ›verhält‹, ist der Grund für einen anderen Sachverhalt, der daraus folgt; daraus daß alle Menschen sterblich sind, folgt die Sterblichkeit des Menschen Caius. So gewinnen wir als eine weitere Bestimmung der Sachverhalte, daß sie und ausschließlich sie in der Beziehung von Grund und Folge stehen. Alles was uns in der Wissenschaft oder im täglichen Leben als Begründungszusammenhang entgegentritt, ist ein Zusammenhang von Sachverhalten.«881
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Insofern REINACH die spezifisch logischen Grund-Folge-Verhältnisse zwischen Urteilen übersieht, geht er allerdings zu weit, wenn er sagt: »Sachverhalte und nur Sachverhalte stehen in Beziehung von Grund und Folge; [nur sie] können als Gründe und Folgen auftreten. Alle Begründungszusammenhänge sind Zusammenhänge von Sachverhalten.« REINACH [1989], 427. REINACH [1989], 115.
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Deshalb betont REINACH nicht nur den wesentlichen Unterschied zwischen der Wirkursächlichkeit und der Grund-Folge-Beziehung als unterschiedlichen Ursprungsrelationen, sondern er betont auch die wesentliche Verschiedenheit der jeweils in Beziehung stehenden Gegebenheiten. »Es ist zu beachten, daß es sich hier nicht nur um einen Unterschied der beiderseitigen Relationen handelt, sondern daß auch eine prinzipielle Verschiedenheit der Glieder besteht, welche in den Relationen stehen.«882
SEIFERT macht im Rückgriff auf REINACH auf dieselben wesentlichen Unterschiede aufmerksam, wenn er schreibt: »Sachverhalte unterscheiden sich auch dadurch von Dingen und deren Prädikaten, daß sie allein in bestimmten Formen zugleich ontologischer und logischer Abhängigkeit zu einander stehen können. Ein Sachverhalt kann zwar nicht die ontologische Ursache anderer Ereignisse sein, dies können nur Dinge oder deren Tätigkeiten und Akte sein, aber sein Vorliegen kann der Grund für andere Sachverhalte sein.«883
Durch die Unterscheidung der verschiedenen Relate zweier verschiedener Ursprungsrelationen wird einmal mehr die Tragweite und Bedeutung von Sachverhalten und die Objektivität ihres Bestandes deutlich. Denn ebenso, wie es ohne Sachverhalte logische Gegebenheiten wie Urteile, Überzeugungen, Wahrheitswerte und spezifisch logische Grund-FolgeBeziehungen zwischen Urteilen geben kann, so kann es ohne Sachverhalte auch bestimmte ontologische Grund-Folge-Beziehungen unmöglich geben. 4.8.2 Sachverhalte und das ontologische Verhältnis der Kontradiktion Bereits in den Abschnitten 4.7.1 und 4.7.2 wurde deutlich: Wenn eine rote Rose nicht existiert, heißt das weder, daß eine nicht-rote (andersfarbige) Rose nicht existieren kann, sei diese weiß, gelb oder von sonst einer Färbung, noch, daß eine »rote Rose negativ« da ist bzw. existiert. Was sollte das auch sein? Wenn umgekehrt eine rote Rose existiert, dann heißt das weder, daß nicht-rote Rosen, wie die gelben, keinesfalls existieren 882 883
REINACH [1989], 115. SEIFERT [1996], 339.
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können, noch, daß deshalb eine rote Rose negativ nicht existieren kann. Sie kann es ohnehin nicht, da negative Existenz in sich unmöglich ist. Wenn hingegen der Sachverhalt des Rot-seins-der-Rose nicht besteht, so heißt das sowohl, daß ein anderer Sachverhalt, nämlich das Nicht-rot-seinder-Rose bestehen muß, als auch, daß dieser als ein negativer Sachverhalt, insofern er besteht und bestehen muß, als Gegenständlichkeit auch real da ist und da sein muß. Kurzum: Ein nichtbestehender Sachverhalt, sei er positiv oder negativ, fordert den Bestand seines kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalts, welcher dann entsprechend negativ oder positiv ist, insofern er als negativer oder positiver Sachverhalt besteht und im Sinne des Bestehens wirklich da ist. Und freilich gilt umgekehrt – wenn man also von einem bestehenden Sachverhalt ausgeht – dasselbe. »[…] Rundsein eines Vierecks ist ein Sachverhalt, der nicht besteht [und] unmöglich bestehen kann. Und wo ein Sachverhalt nicht besteht, da besteht sein Negativum. [Das ist] nicht analog bei Existenz: Gegenstände existieren oder nicht. Wenn A nicht ist, dann kann ich nichts anderes an seine Stelle setzen.«884
Wichtig ist hier: Nicht das Bestehen des negativen Sachverhaltes ist negativ oder kann negativ sein, sondern bestehende Sachverhalte selbst können positiv oder negativ sein, d.h. in beiden Fällen liegt der Bestand des Sachverhaltes »positiv« vor, wobei der Sachverhalt als solcher und nicht der Bestand als dessen Daseinsform positiv oder negativ sein kann. Der Bestand eines negativen Sachverhaltes darf daher nicht mit so etwas wie dem negativen Bestand des negativen Sachverhaltes verwechselt werden. Letzterer stellt in der Tat eine Unmöglichkeit dar. SEIFERT verweist nachdrücklich auf diesen »wichtigen Unterschied von Sachverhalten zu Sachen und Prädikaten […]: daß es nämlich positive und negative Sachverhalte gibt.« Es kann sein [Kursiv v. Verf.], daß etwas ist oder nicht ist, so ist oder nicht so ist.«885
884 885
REINACH [1989], 427. SEIFERT [1996], 332.
370
Kapitel 4
Im Unterschied dazu kann kein existierendes oder existenzfähiges Ding als Negatives existieren. REINACH sagt zu Recht, daß es neben dem Ton c nicht einen Ton c-negativ und neben dem Rot nicht ein negatives Rot geben kann. Auch kann das Nichtexistieren eines Dinges, wie beispielsweise eines Einhorns oder Centauren, unmöglich die Existenz eines irgendwie entsprechenden Negativ-Einhorns oder Negativ-Centauren fordern oder »mit sich bringen«, was leicht einzusehen ist. REINACH hebt daher sachgemäß hervor: »[…] das ist ein Unterschied, wie wir ihn in der Sphäre der Gegenstände niemals antreffen können. Neben dem »b-sein des A« gibt es ein »nichtb-sein-des-A«. Beide Sachverhalte sind einander kontradiktorisch; der Bestand des einen schließt den Bestand des anderen aus. Dagegen gibt es neben dem Ton c keinen Ton nicht-c und neben einem Rot kein negatives Rot.«886
Eine bestimmte Art von Gegenständlichkeit, nämlich der Sachverhalt, kann sowohl als positiver als auch negativer bestehen. Sachen hingegen existieren oder existieren nicht, keinesfalls aber können Sachen als (positive und) negative existieren.887 In der Sphäre der nichtlogischen Gegenständlichkeiten können allein Sachverhalte und deren Bestand – Sachen und deren Existenz indes niemals – im Verhältnis kontradiktorischer Entgegensetzung stehen. Im Zuge dessen können im Hinblick auf eine Sache sowohl positive als auch negative Sachverhalte bestehen, und zwar in beiden Fällen positiv bestehen. Es gründet nämlich im Wesen des kontradiktorischen Gegensatzes, daß eine negative Form der Gegenständlichkeit, nämlich die »negative Sachverhaltsform«,888 da sein können muß, und zwar im Sinne des Bestandes. Dies entdeckt zu haben, dürfte im Gebiet der Sachverhaltsforschung zu REINACHS bedeutendsten Leistungen zählen: »[…] wo ein Sachverhalt nicht besteht, da besteht notwendig sein kontradiktorisch entgegengesetzter Sachverhalt. Für nichtexistierende
886 887 888
REINACH [1989], 116. Vgl. dazu Fußn. 884. Vgl. SEIFERT [1996], 344. Der Ausdruck »Sachverhaltsform« wird hier im Anschluß an REINACH gebraucht. REINACH [1989], 116.
Über das Sosein und Dasein von Sachverhalten
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Gegenstände dagegen gibt es entsprechende gegenständliche Existenzen nicht. Das Verhältnis kontradiktorischer Positivität und Negativität mit allem, was in ihm gesetzmäßig gegründet ist, hat eben nur im Gebiet der Sachverhalte seine Stelle.«889
Darüber hinaus besteht auch hier ein Grund-Folge-Verhältnis, insofern der wirkliche Nichtbestand bzw. Bestand eines Sachverhalts, sei er nun positiv oder negativ, den Bestand bzw. Nichtbestand des kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhaltes fordert bzw. begründet, und der Bestand von diesem aus dem Nichtbestand von jenem folgt und umgekehrt. All dies gründet zutiefst und unveräußerlich im Verhältnis der Kontradiktion und verbürgt den objektiven Bestand negativer Sachverhalte zusätzlich. Wenn man von der logischen Sphäre und dem in ihr bestehenden Unterschied zwischen positiven und negativen Urteilen absieht und man sich allein der Welt der nicht logischen, sondern ontologischen Gegenständlichkeiten zuwendet, dann wird deutlich: In der Sphäre dieser Art von Gegenständlichkeiten gibt es nur eine Seinsform, die unabhängig von menschlichen Denkinhalten nicht nur positiv, sondern auch negativ sein kann, insofern nicht nur positive, sondern auch negative Sachverhalte wirklich bestehen. Vergegenwärtigt man sich die genaue Bedeutung des kontradiktorischen Verhältnisses bzw. Gegensatzes, so wird ferner deutlich: die eigentlichen Relate bzw. die eigentlichen Parts des kontradiktorischen Gegensatzes sind Sachverhalte. Existenz bzw. Nichtexistenz fordert keine entsprechende Nichtexistenz bzw. Existenz aber wirklicher Bestand bzw. Nichtbestand fordert einen entsprechenden Nichtbestand bzw. Bestand, und dies ist für die ontologischen Prinzipien vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten, in welchen notwendige Eigenschaften des kontradiktorischen Gegensatzverhältnisses zum Ausdruck kommen, von entscheidender Bedeutung, wie im folgenden Abschnitt noch eingehender zu zeigen ist.
889
REINACH [1989], 117.
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Kapitel 4
4.9 Argumente für den bewußtseinsunabhängigen objektiven Bestand von negativen Sachverhalten Formuliert man das Wesen der logischen Wahrheit exakt, so muß mit PFÄNDER gesagt werden, daß diese in der Übereinstimmung zwischen Urteilsinhalt und Sachverhalt besteht. Ein Urteilsinhalt ist wahr, wenn der durch diesen Urteilsinhalt intendierte Sachverhalt besteht bzw. wenn der Sachverhalt, auf den sich die durch den Urteilsinhalt bezogene Behauptung richtet, besteht.890 Ein Urteil, sei es positiv oder negativ, ist falsch, wenn der intendierte Sachverhalt nicht besteht. Jede nur mögliche Art von Urteilsinhalten zielt mit unbedingter Wesensnotwendigkeit auf Sachverhalte ab. Davon läßt sich kein Urteil ausnehmen. Nun gibt es neben wahren positiven Urteilen freilich auch wahre negative Urteile. Daher ergibt sich eine erste mögliche Vergegenwärtigung des objektiven Bestandes negativer Sachverhalte, wie mit SEIFERT zu unterstreichen ist, aus dem wesensnotwendigen Charakter der logischen Wahrheit. Denn diese erfordert, daß das objektive Korrelat wahrer negativer Urteile notwendigerweise objektiv bestehende negative Sachverhalte sind und nichts anderes als objektiv bestehende negative Sachverhalte sein können (s.u.). Jedes negative Urteil thematisiert einen bestimmten negativen Sachverhalt derart direkt und unmittelbar, daß die Wahrheit oder Falschheit dieses Urteils einzig vom Bestand oder Nichtbestand dieses besonderen negativen Sachverhaltes abhängen kann. Ein negatives wahres Urteil wie »Bonn ist nicht die Hauptstadt Deutschlands« bezieht sich auf nichts anderes als auf den negativen Sachverhalt, daß Bonn nicht die Hauptstadt Deutschlands ist. Es ist genau dieser Sachverhalt, den das Urteil von sich aus »behauptend hinstellt« (PFÄNDER) und durch diese Behauptung als bestehend ansetzt. Aber das Urteil ist nur dann wahr, wenn dieser und kein anderer Sachverhalt völlig unabhängig vom Urteil und dessen behauptenden »Hinstellen« des Sachverhaltes auch tatsächlich besteht oder der Fall ist. Daher betont SEIFERT zu Recht:
890
S. unter Fußn. 769. 770.
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»Auch zeigt es sich vom Wesen der Wahrheit her als notwendig, daß genau diejenigen Sachverhalte selbst, die in wahren Urteilen behauptet werden, in einer dem Urteil gegenüber autonomen Weise existieren.«891
BEALL betont im Kontext des Objekts wahrer positiver und negativer Urteilsinhalte treffend: »In short, truth consists in correspondence with truthmakers, where the truthmakers are positive and negative facts.« 892
Kurzum: Ein wahres negatives Urteil kann nur dann wahr sein, wenn der von diesem Urteil direkt thematisierte negative Sachverhalt unabhängig vom Urteil und dessen »Setzungen« auch besteht. Ähnlich wie jede Leugnung der objektiven Wahrheit als adaequatio die objektive Wahrheit im Sinne der adaequatio stillschweigend voraussetzt und notwendigerweise voraussetzen muß, so muß die Leugnung der Möglichkeit des objektiven Bestandes negativer Sachverhalte den objektiven Bestand negativer Sachverhalte stillschweigend voraussetzen und gleichsam »durch die Hintertür« wieder einlassen. Es sei um des Argumentes willen einmal angenommen, daß die Urteile: »Es kann keine objektiv und extramental bestehenden negativen Sachverhalte geben«, oder: »Negative Sachverhalte können nicht objektiv und extramental bestehen«, wahr seien. In diesem Fall liegen zwei Urteilsinhalte vor, deren Wahrheit in der Übereinstimmung mit dem von ihnen intendierten objektiven Korrelat bestehen muß. Diese objektiven Korrelate sind Sachverhalte, nämlich, daß es keine objektiv und extramental bestehenden negativen Sachverhalte gibt, bzw., daß negative Sachverhalte nicht objektiv und extramental bestehen können. Aber genau diese beiden Sachverhalte sind nichts anderes als negative Sachverhalte. Wer meint, daß die beiden oben genannten Urteile wahr sind, muß demnach stillschweigend voraussetzen, was er ausdrücklich leugnet. Er muß voraussetzen. daß ganz unabhängig davon, ob er oder irgend jemand sonst diese Sachverhalte vorstellt, behauptet, urteilt, meint, leugnet oder von ihnen überzeugt ist, also ganz unabhängig davon, ob sich denkende Personen durch irgend891 892
SEIFERT [1996], 334. BEALL [2000], 266.
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welche intentionalen Akte denkend auf sie beziehen, diese Sachverhalte als solche objektiv und extramental bestehen. Denn dann und nur dann könnten die beiden Urteile wahr sein. Aber durch den eben dargestellten Selbstwiderspruch wird deutlich, daß Urteile wie: »Es gibt keine objektiv bestehenden negativen Sachverhalte« unmöglich wahr sein können, weil sie den Bestand des geleugneten Sachverhaltes gerade voraussetzen. Kann aber das Urteil: »Es gibt keine objektiv bestehenden negativen Sachverhalte« unmöglich wahr sein, dann muß dessen kontradiktorisch entgegengesetztes positives Urteil: »Es gibt objektiv bestehende negative Sachverhalte« wahr sein, und d.h., daß der Sachverhalt, daß es objektiv bestehende negative Sachverhalte gibt, bestehen muß, da der kontradiktorische negative Sachverhalt, daß es keine objektiv bestehenden negativen Sachverhalte gibt, nicht nur faktisch nicht besteht, sondern unmöglich bestehen kann. Darüber hinaus ist anzumerken, daß die obigen Urteile, obschon sie notwendigerweise falsch sein müssen, wenigstens der Intention nach einen offenbar apodiktischen bzw. apriorischen Charakter haben sollen, d.h. ihre Wahrheit wird als eine notwendige angesehen. Das aber heißt notwendigerweise: Der Intention nach muß es so sein wie behauptet, und es kann gar nicht anders sein. Es wird m.a.W. der negative Sachverhalt, daß es keine objektiv bestehenden negativen Urteile gibt, als ein, wie REINACH sich auszudrücken pflegt, »So-sein-Müssen und dem Wesen nach Nicht-anders-sein-Können« und damit als völlig denkunabhänig bestehender Sachverhalt vorausgesetzt.893 Durch diesen der Intention nach apriorischen Charakter beider Urteile wird die stillschweigende Voraussetzung des objektiven Bestandes negativer Sachverhalte gewissermaßen zusätzlich unterstrichen, und das nicht obwohl, sondern gerade weil sie ausdrücklich geleugnet wird. Ferner muß gesehen werden, daß nicht nur kontingente negative Sachverhalte objektiv real sein können bzw. real sind, wie etwa der Sachverhalt, daß es jetzt nicht regnet. Vielmehr gibt es auch objektiv notwendige und daher überzeitlich bestehende negative Sachverhalte, wie etwa den negativen Sachverhalt, daß es zwischen Sein und Nichtsein kein Mittleres geben kann, der nichts anderes ist als der klassisch formulierte ontolo893
REINACH [1989], 543.
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gische Satz vom ausgeschlossenen Dritten, welcher bekanntlich zu den obersten Seinsprinzipien zählt. In Anbetracht dieses negativen Sachverhaltes tritt die völlig bewußtseinsunabhängige Objektivität und Realität im Sinne des Bestandes deutlich zu Tage, da dieser negative Sachverhalt ein So-sein-Müssen-und-nicht-anders-sein-Können zum Ausdruck bringt. Ebenso verhält es sich bei dem negativen Sachverhalt, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zugleich bestehen können. Dieser Sachverhalt, in dem das ontologische Fundament des logischen Widerspruchsprinzips894 bzw. das ontologische Widerspruchsprinzip oder besser des Prinzips vom ausgeschlossenen ontologischen Widerspruch selbst zum Ausdruck kommt, ist nun seinerseits ein Sachverhalt, und zwar ein negativer Sachverhalt, der sich auf einander kontradiktorisch entgegengesetzte positive und negative Sachverhalte und die durch die kontradiktorische Relation bedingten Bestandsgegebenheiten bezieht. Hier, anhand des negativen Sachverhalts, in dem das ontologische Widerspruchsprinzip zum Ausdruck kommt, muß vollends deutlich werden, daß negative Sachverhalte nicht nur objektiv bestehen können, sondern daß einige negative Sachverhalte sogar objektiv bestehen müssen und nichts anderes als objektiv bestehen können.895 Um noch einmal auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten zurückzukommen. Wie soeben gesagt, besteht das ontologische Prinzip vom Widerspruch in dem Sachverhalt, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zugleich bestehen können. Im Unterschied dazu besagt das ontologische Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten in seiner grundlegenden präzisen Formulierung, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zugleich nicht bestehen können.896 Und da das Prinzip vom 894
895
896
Das entsprechende von PFÄNDER präzise formulierte logische Prinzip lautet: »Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile können nicht zugleich wahr sein.« S. dazu die Verweise in Fußn. 897. Auch ist zu sehen, daß es notwendige positive Sachverhalte über negative Sachverhalte gibt, wie etwa, daß aus zwei negativen Sachverhalten ausschließlich ein negativer Sachverhalt folgen kann. In diesem positiven Sachverhalt kommt eine unbedingte und ausnahmslos gültige Gesetzmäßigkeit über das GrundFolge-Verhältnis zwischen negativen Sachverhalten zum Ausdruck. Das entsprechende von PFÄNDER präzise formulierte logische Prinzip lautet: »Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile (zwei sich widersprechende Urteile) können nicht zugleich falsch sein.«
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ausgeschlossenen Dritten dies besagt, besagt es zugleich, daß von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalten notwendigerweise einer bestehen muß, womit die »namengebende« dritte »Möglichkeit«, nämlich (der Bestand des Sachverhalts), daß keiner von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalten besteht, ausgeschlossen ist. Im gegebenen Zusammenhang ist indes die grundlegende präzise Gestalt des ontologischen Satzes vom ausgeschlossenen Dritten bedeutsam, nämlich, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetze Sachverhalte nicht zugleich nicht bestehen können. Denn es handelt sich hier abermals um einen Sachverhalt und abermals um einen negativen Sachverhalt. Dieser negative Sachverhalt muß bestehen und kann unmöglich nicht bestehen. Und sein Bestehen muß eine von jedem Bewußtsein unabhängige reale Daseinsform bilden. Wäre dies nicht der Fall, müßte in eben derselben Sphäre der absurde kontradiktorische Sachverhalt bestehen, der zwar positiv wäre, aber unmöglich bestehen kann.897 897
Die hier dargelegte präzise Formulierung des ontologischen Prinzips vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten erfolgt in enger Anlehnung an PFÄNDERS ([2000], 197-208 und 214- insb. 220) Ausführungen, welche sich allerdings vornehmlich auf die logische Sphäre und damit auf kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile beziehen. Die von PFÄNDER dargelegten logischen Verhältnisse und seine Bemerkungen zu den ontologischen Voraussetzungen wurden hier entsprechend auf Verhältnisse zwischen kontradiktorischen Sachverhalten angewandt. Daraus resultiert die obige präzisierte Formulierung insbesondere des ontologischen Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Soweit ersichtlich, läßt sie sich in dieser Form bei PFÄNDER nicht finden, obschon gerade PFÄNDER den notwendigen Zusammenhang zwischen den beiden Prinzipien und gewissen ihnen entsprechenden Sachverhalten ausdrücklich betont. PFÄNDER zeigt mit der ihm eigenen Präzision und geistigen Wachsamkeit gegenüber den Sachen selbst, daß, und warum die logischen Prinzipien vom Widerspruch und ausgeschlossenen Dritten zwei trotz engster Zusammenhänge völlig verschiedene und aufeinander nicht reduzierbare Prinzipien sind, deren eigentlicher Gegenstand allein kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile und deren Wahrheitswerte sein können. Bei PFÄNDER wird ferner überaus deutlich, daß die beiden obersten logischen Prinzipien in ontologischen Prinzipien gründen müssen, wobei trotz des engen und notwendigen Zusammenhangs beide Sphären und die entsprechenden Prinzipien völlig verschiedene sind. Es werden somit zwei irreduzible Sphären, welche ihrerseits zwei irreduzible Prinzipien beheimaten, deutlich. Weder können die Prinzipien einer Sphäre auf die Prinzipien der anderen reduziert werden noch die beiden Prinzipien innerhalb der jeweiligen Sphären aufeinander reduziert werden. Bei PFÄNDER tritt allerdings nicht mit
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letzter Deutlichkeit zu Tage, daß es sich bei den fraglichen ontologischen Prinzipien um ganz bestimmte Sachverhalte handelt, welche ihrerseits zwei zusammenhängende, aber an sich verschiedene ontologische Verhältnisse zwischen kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalten betreffen (s. PFÄNDERS Formulierungen auf 218f.). Es handelt sich demnach um die ontologischen Prinzipien vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten. »PFÄNDERS« logischem Prinzip vom Widerspruch, welches lautet: »Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile können nicht zugleich wahr sein«, entspricht in der ontologischen Sphäre: Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte können nicht zugleich bestehen. So wie das logische Prinzip vom Widerspruch einerseits impliziert, daß von beiden Urteilen eines falsch sein muß, und andererseits »noch ganz dahingestellt« sein läßt, daß nun »nicht auch das andere [Urteil] falsch sein kann«, »indem er nichts darüber entscheidet, sondern diese Behauptung ganz dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten überläßt« (219f.), so impliziert das ontologische Prinzip einerseits, daß von beiden Sachverhalten einer notwendigerweise nicht besteht, läßt jedoch andererseits ›dahingestellt‹, daß nun nicht auch der andere Sachverhalt nicht bestehen kann, ›indem es nichts darüber entscheidet‹, sondern dies ganz dem ontologischen Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten ›überläßt‹. Denn das ontologische Prinzip vom Widerspruch besagt lediglich, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zugleich bestehen können. PFÄNDERS logischem Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, welches lautet: »Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile können nicht zugleich falsch sein« entspricht in der ontologischen Sphäre: Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte können nicht zugleich nicht bestehen. So wie das logische Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten einerseits impliziert, daß von beiden Urteilen eines wahr sein muß, aber andererseits »ganz dahingestellt« sein läßt, daß nun »nicht auch das andere wahr sein könne«, sondern diese Behauptung »völlig dem Satz vom Widerspruch« (220) überläßt, so impliziert das ontologische Prinzip einerseits, daß von beiden Sachverhalten einer notwendigerweise besteht, läßt andererseits völlig dahingestellt, daß nun nicht auch der andere Sachverhalt bestehen kann, indem es nichts darüber entscheidet, sondern dies ganz dem ontologischen Prinzip vom Widerspruch überläßt. »Der Satz vom Widerspruch und der Satz vom ausgeschlossenen Dritten sind also sowohl ihrem Sinne als auch ihrer Grundlage nach voneinander verschieden und keiner von beiden kann aus dem anderen abgeleitet [oder auf den anderen reduziert werden] werden« (219). Im Hinblick auf die beiden logischen Prinzipien schreibt nun PFÄNDER: »Die beiden Sätze haben ihre verschiedene Grundlage darin, daß sich jeder beliebige Gegenstand in zwei verschiedenen Weisen gegenüber irgendwelchen kontradiktorisch entgegengesetzten Urteilen, die sich auf ihn beziehen, verhält. Er kann sie nämlich nicht beide wahr machen, weil er nicht zugleich P und nicht P sein kann; und er kann sie nicht beide falsch machen, weil er entweder P oder nicht P sein muß. Diese letzte Grundlage für die beiden Sätze ist eben dies verschiedene Verhalten jedes beliebigen Gegenstandes: Er kann nur entweder P oder nicht P sein, und er muß
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Betrachtet man nun das kontradiktorische Verhältnis zwischen entsprechenden negativen und positiven Sachverhalten selbst, dann tritt ebenfalls die objektive Realität negativer Sachverhalte zu Tage. Denn anhand des kontradiktorischen Gegensatzes zwischen Sachverhalten wird nicht nur evidentermaßen deutlich, daß ein positiver Sachverhalt real bestehen muß, wenn sein kontradiktorisches Pendant nicht besteht, sondern es wird ebenso evident deutlich, daß ein negativer Sachverhalt bestehen muß, wenn sein kontradiktorisches positives Pendant nicht besteht. Diese Sachverhaltsverhältnisse sind nicht nur in dem Sinn objektiv und extramental gegeben, daß ihr Bestand in keiner Weise von möglichen auf sie gerichteten intentionalen Akten abhängig ist. Vielmehr gilt, daß intentionale Akte und deren Gesetzmäßigkeiten in Sachverhaltsverhältnissen gründen. Es ist nicht so, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zugleich bestehen können, weil zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile nicht zugleich wahr sein können. Vielmehr ist es so, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteile deshalb nicht zugleich wahr sein können, weil die von ihnen intendierten Sachverhalte nicht zugleich bestehen können. Es ist nicht so, daß Sachverhalte nur bestehen, wenn auch »wahre« Behauptungen aufgestellt werden. Vielmehr ist es so, daß Urteile nur dann wahr sind, wenn es sich so verhält, wie sie behaupten. Daß im Hinblick auf die logische Wahrheit als Übereinstimentweder P oder nicht P sein. Durch die letzte Entschiedenheit bedingt er die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch; durch die erstere Entschiedenheit bedingt er die Gültigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten (220).« Im Hinblick auf die beiden ontologischen Prinzipien gilt entsprechend: Daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte einerseits nicht zugleich bestehen können und andererseits nicht zugleich nicht bestehen können, sind zwei zwar eng und notwendig zusammenhängende, aber an sich völlig verschiedene Verhältnisse. Anders ausgedrückt: Es kann unmöglich der Fall sein, daß der Sachverhalt, daß zwei Sachverhalte nicht zugleich bestehen können, nichts anderes sei als der Sachverhalt, daß beide Sachverhalte nicht zugleich nicht bestehen können, und umgekehrt. Es stehen beide Sachverhalte in notwendigen Zusammenhängen, aber aufeinander reduzierbar sind sie nicht. Das ontologische Prinzip vom Widerspruch, welches im ersten Sachverhalt zum Ausduck kommt, und das ontologische Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, welches im zweiten Sachverhalt zum Ausdruck kommt, stehen dementsprechend in notwendigen und engen Zusammenhängen, aber das besagt nicht, daß sie aufeinander reduziert werden können.
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mung von Denken und Sein nicht das Sein das Denken voraussetzt, sondern umgekehrt, sieht ARISTOTELES in aller Deutlichkeit, wenn er schreibt: »Nun ist aber die wahre Aussage gewiß nicht der Grund, daß die Sache ist. Wohl aber erscheint die Sache gleicham als der Grund, daß die Aussage wahr ist, Denn sofern die Sache ist oder nicht ist, wird die Aussage wahr oder falsch genannt.« [Übers. ROLFES]898
Das zeigt aber einmal mehr, daß auch der Bestand negativer Sachverhalte ein letztes nicht wieter zurückführbares Datum darstellt. Mehr noch: Die Widersinnigkeit einer Zurückweisung der Möglichkeit des objektiven Bestandes negativer Sachverhalte zeigt sich darin, daß durch eine solche Zurückweisung auch das Widerspruchsprinzip letztlich seine Gültigkeit verlieren müßte. Denn da der positive Sachverhalt, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte zugleich bestehen können, unmöglich bestehen kann, muß der kontradiktorisch entgegengesetzt negative Sachverhalt, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte nicht zugleich bestehen können, notwendigerweise völlig unabhängig vom urteilenden Bewußtsein und objektiv bestehen. Dieser negative Sachverhalt kann in keiner Weise durch ein Bewußtsein hervorgebracht werden und daher auch in keiner Weise von einem Bewußtsein abhängen. REINACH schreibt daher völlig zu Recht: »[…] negative Sachverhalte bestehen, genauso wie positive, ganz gleichgültig, ob sie von jemandem vorgestellt, erkannt, geglaubt, gemeint und behauptet werden oder nicht. Daß 2x2 nicht gleich 5 ist, dieser Sachverhalt besteht ganz unabhängig von jedem ihn erfassenden Bewußtsein.«899
898
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»esti de o men alhvhj logoj oudamwj aitioj tou einai to pragma, to mentoi pragma fainetai pwj aition tou einai alhvh ton logon: tw gar einai to pragma h mh alhvhj o logoj h yeudhj legetai.« Aristot. cat. 14b 18-20. ZEKL übersetzt: »Nun ist aber die wahre Aussage durchaus nicht ursächlich dafür, daß der Sachverhalt besteht, dagegen der Sachverhalt scheint irgendwie die Ursache dessen zu sein, daß die Aussage wahr ist; denn aufgrund dessen, daß der Sachverhalt besteht oder nicht, wird der Satz (über ihn) als wahrer oder falscher ausgesagt.« S. auch Aristot. metaph. 1051b 6. S. dazu Fußn. 421. REINACH [1989], 130f.
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Kapitel 4 »Zugegeben, daß Negatives als gegenständliches Korrelat von Überzeugung und Behauptung fungieren kann, so wird man doch sagen, daß dies Negative nichts ›Reales‹ ist, daß es, wenn auch nicht auf der Bewußtseinseite befindlich, doch etwas vom Bewußtsein wesentlich Abhängiges ist und insofern kein objektives Sein besitzt. Eine solche Meinung aber müssen wir auf das allerschärfste abweisen. Gewiß wird im negativen Urteil kein reales ›Verhältnis‹ gesetzt, aber im positiven braucht es ebensowenig der Fall zu sein. Positive und negative Urteile gehen vielmehr auf Sachverhalte. Diese Sachverhalte zerfallen in positive und negative, und beide wiederum in bestehende und nicht bestehende. Besteht ein Sachverhalt, so ist sein Bestand unabhängig von allem Bewußtsein; es fehlt jede, aber auch jede Berechtigung, gerade die negativen Sachverhalte für bewußtseinsabhängig zu erklären. Einen objektiven Bestand von Sachverhalten überhaupt abzuleugnen, das ist der widersinnige Standpunkt des absoluten erkenntnistheoretischen Skeptizismus; denn Sachverhalte sind ja das, was erkannt und geurteilt wird. Teilt man diesen Skeptizismus aber nicht, so darf man auch den negativen Sachverhalten den Bestand nicht absprechen wollen. Der objektive Bestand ist ja gesetzmäßig miteinander verknüpft, wie es mit voller Wucht die logischen Grundsätze aussprechen: Von zwei kontradiktorischen Sachverhalten muß entweder der positive oder der negative bestehen. Und: Besteht ein positiver Sachverhalt nicht, so besteht notwendig der kontradiktorisch-negative Sachverhalt.«900
Auch INGARDEN sieht zunächst diesen Zusammenhang zwischen dem, wie er sich ausdrückt, »seinsautonomen« Bestand der negativen Sachverhalte und den obersten ontologischen Prinzipien, wenn er schreibt: »Die Leugnung des seinsautonomen Bestehens der negativen Sachverhalte würde große Schwierigkeiten für das Verständnis und infolgedessen auch für die Anerkennung der Prinzipien der Ontologie und der Logik bereiten, und zwar des Widerspruchsprinzips und des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Die Anerkennung dieser Prinzipien in der Ontologie setzt mindestens die Möglichkeit des Bestehens der negativen Sachverhalte voraus, und zwar gerade im Bereiche der seinsautonomen, individuellen Gegenstände. […] Was besagt denn das ontologische Widerspruchsprinzip? Ist es nicht eben dies, daß zwei Sachverhalte des Typus ›S ist P‹. und ›S ist nicht P.‹ – wo S einen seinsautonomen, individuellen Gegenstand bezeichnet – nicht zugleich bestehen können? Wenn der erste besteht, dann besteht der zweite nicht. Es kann aber gleich gut der zweite bestehen, und wenn er besteht, dann besteht der erstere nicht; er wird von dem zweiten vom Sein ausgeschlossen. Und analog im Falle des Satzes 900
REINACH [1989], 137f.
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vom ausgeschlossenen Dritten. Der eine von diesen Sachverhalten muß bestehen, und wenn dies gerade nicht der positive Sachverhalt ist, so besteht und muß sogar bestehen der jenem widersprechende, negative Sachverhalt. Gibt es etwas, was in höherem Maße evident und sicher wäre? Wir würden die Grundlagen alles Wissens untergraben, wenn wir diese beiden Prinzipien in bezug auf die seinsautonomen Gegenstände leugneten.«901
INGARDEN bringt im Unterschied zu REINACH völlig zu Recht nicht nur das ontologische Prinzip vom (ausgeschlossenen) Widerspruch, sondern auch das ontologische Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten, welche beide vor allem Gesetzmäßigkeiten zwischen den Beständen positiver und negativer Sachverhalte sind, ins Spiel. Dabei beschränkt sich INGARDEN aber auf Sachverhalte, insofern sie von den besagten Gesetzen betroffen sind. Bedauerlicherweise kommt bei INGARDEN nicht zur Sprache, daß beide Gesetze in ontologischer Hinsicht selber Sachverhalte, und zwar notwendig bestehende negative Sachverhalte sind, die in bezug auf alle möglichen kontradiktorisch entgegengesetzten positiven und negativen Sachverhalte bestehen. Der Umstand, daß beide obersten logischen Gesetze selber in völlig überzeitlich und notwendig bestehenden negativen Sachverhalten gründen, erhellt den grundsätzlich gegebenen seinsautonomen Bestand negativer Sachverhalte. Schließlich muß eigens gesehen werden, daß durch die Annahme, daß negative Sachverhalte prinzipiell unmöglich bewußtseinsunabhängig bestehen können, unversehens unzählige positive Sachverhalte bestehen müssen, die einen wesensunmöglichen Zusammenhang zum Ausdruck bringen. Wenn etwa der negative Sachverhalt, daß die Methode der Induktion keinesfalls absolut gewisse universale Urteile ergeben kann, nicht objektiv und bewußtseinsunabhängig besteht, wenn es also nicht an sich und bewußtseinsunabhängig so ist, daß…, dann muß der kontradiktorische Sachverhalt objektiv bestehen, d.h. dann muß der positive Sachverhalt bestehen, daß die Methode der Induktion zu absolut gewissen universalen Urteilen führen kann. Der letztere Sachverhalt stellt allerdings eine ontologische Unmöglichkeit dar, eine Unmöglichkeit, die selbst 901
INGARDEN [1965], 293f. Trotz dieser treffenden Ausführungen lehnt INGARDEN die Möglichkeit eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte ab. S. dazu Abschnitt 5.1.
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seitens der empiristischen Skepsis zugestanden wird. Würde er bestehen oder auch nur bestehen können, so wäre ein Unding wirklich oder wenigstens möglich und die Wirklichkeit im Sinne dieser Unmöglichkeit »widersprüchlich«.
5. KRITISCHE ANMERKUNGEN ZU EINIGEN SACHVERHALTSBEGRIFFEN 5.1 Kritische Auseinandersetzung mit Ingardens Auffassung von der Seinsheteronomie des Bestandes negativer Sachverhalte INGARDEN sieht zunächst im urteils- bzw. bewußtseinsunabhängigen »seinsautonomen« Bestand positiver Sachverhalte keine Schwierigkeit. Wenn ein positives Urteil wie z.B.: »Das Ahornblatt ist grün«, einen seinsautonom existierenden Gegenstand, in diesem Fall »grünes Ahornblatt« »betrifft«, dann muß auch der durch diesen Gegenstand bestimmte Sachverhalt, daß das Ahornblatt grün ist, seinsautonom bestehen. Dies fordere die Wahrheit der positiven Urteilsinhalte, welche seinsautonom existierende Gegenstände betreffen mit Notwendigkeit, da diese nur dann wahr sein könnten, wenn auch der von ihnen direkt thematisierte positive Sachverhalt seinerseits seinsautonom bestünde. Anders ausgedrückt: Wenn ein Gegenstand seinsautonom existiert, dann bestehen auch die im Hinblick auf diesen Gegenstand sich aufbauenden positiven Sachverhalte seinsautonom. Betrifft ein positives Urteil einen seinsautonom existierenden Gegenstand, dann gründet dessen Wahrheit auch notwendigerweise in einem seinsautonom bestehenden positiven Sachverhalt. »Es besteht kein Grund, über das Bestehen der seinsautonomen positiven Sachverhalte, sofern sie durch wahre, seinsautonom existierende Gegenstände betreffende Sätze bestimmt sind, zu zweifeln. Denn dies gehört zur Bestimmung wahrer Sätze überhaupt, die über seinsautonome Gegenstände etwas aussagen.«902
SMITH schließt sich INGARDENS Auffassung an, wenn er schreibt: »Whenever in approaching a piece of chalk, I ascertain that it has some property or other, say of being white, I unfold in my mind, as it were, one of its property-segments, and this possibility of unfolding an autonomous property of the piece of chalk corresponds to the subsistence, in the ontological orbit of the chalk, of a particular positive state of affaires, the being-white of the chalk. This state of affairs is an object-entity which subsists autonomously, that is to say, with the same objectivity as the chalk and its property of being white; it subsists, in particular, 902
INGARDEN [1965], 293.
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Kapitel 5 independently of any acts of recognition or apprehension on the part of conscious subjects. […] But I want to argue that for the case of an autonomous subsisting, positive, predicatively formed state of affairs such as this chalk is white, the statal entity involved exists, purely and simply, prior to any sentence-forming Operations on our part, and that states of affairs of this type would still exist even in a world which was wholly denuded of intellects, language-using or otherwise.«903
Aber der Frage nach der Möglichkeit eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte gegenüber nimmt INGARDEN eine andere Haltung ein. Denn so wie sich anhand von seinsautonom existierenden Gegenständen der seinsautonome Bestand positiver Sachverhalte zeigen lasse, so lasse sich gerade im Hinblick auf die Unmöglichkeit eines seinsautonomen Existierens von so etwas wie »Negativgegenständen« zeigen, warum auch den entsprechenden »negativen Sachverhalten das seinsautonome Bestehen abzuerkennen« ist.904 »Es enthüllt sich die Positivität des Seins (d.h. dessen, was existiert im seinsautonomen Sinne), seiner »Selbstgegenwart«, seiner »Fülle« – im Gegensatz zu der »Leere«, zu dem »Fehlen« des »Nichtseins«. Gerade deswegen, weil ich mir diese Eigentümlichkeit des »Seins« zum Bewußtsein bringen will, suche ich das Problem der negativen Sachverhalte im Rahmen des seinsautonomen Gegenstandes zu erwägen.«905
INGARDEN weist demnach das seinsautonome, und d.h. von allem Bewußtsein und dessen Setzungen unabhängige Bestehen negativer Sachverhalte zurück. Die Berechtigung dieser Zurückweisung meint er besonders deutlich an Sachverhalten, die konkret existierende Dinge betreffen, ausweisen zu können. Daß ein Sachverhalt wie, daß die Rose nicht rot ist, nicht seinsautonom bestehen kann, soll demnach besonders deutlich werden, wenn man die betroffene existierende Rose und das diese Rose betreffende Nichtrot ontologisch eingehend untersucht. Aber dabei möchte INGARDEN seine zurückweisende Position nicht als schlichten Gegensatz zu der Auffassung verstanden wissen, daß negative Sachverhalte seinsautonom bestehen können. Denn es könne, wie er betont, 903 904 905
SMITH [1998], 59. INGARDEN [1965], 294. INGARDEN [1965], 295.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
385
»[…] den Gegenständen nicht jedes […] Bestehen der negativen Sachverhalte abgesprochen werden. Die Lösung muß in der Mitte gesucht werden […].«906
Freilich kann trotz der von INGARDEN gesuchten »Mitte« unter dem »Bestand« von positiven Sachverhalten einerseits und dem »Bestand« von negativen Sachverhalten andererseits nicht mehr dasselbe verstanden werden, denn »[…] wenn die negativen Sachverhalte in seinsautonomen Gegenständen bestehen, so muß dieses ihr Bestehen ein völlig anderes sein, als es dasjenige der positiven Sachverhalte ist. Diese Verschiedenheit zu klären, soweit es geht, ist die Aufgabe, die uns bevorsteht.«907
INGARDEN meint also den negativen Sachverhalten das seinsautonome Bestehen aberkennen zu können, ohne ihnen zugleich »jedes Bestehen« und damit Fundament in der Wirklichkeit absprechen zu müssen. Aus diesem Grund nennt er seine Lösung des Problems einen »Mittelweg«. Bei all dem hat INGARDEN die mit seiner Zurückweisung des seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte gegebenen Probleme durchaus im Blick. In diesem Sinn stellt er beispielsweise die problematische Frage: »[…] wie soll die Wahrheit der negativen Aussagesätze verstanden werden, wenn es keine negativen seinsautonomen Sachverhalte gäbe?«908
Wie oben bereits gezeigt, ist sich INGARDEN auch des Zusammenhangs der Frage nach dem seinsautonomen Bestand negativer Sachverhalte und der Bedeutung und Gültigkeit oberster Prinzipien völlig bewußt. Er ist jedoch der Meinung, daß gerade durch die Zurückweisung der Möglichkeit des seinsautonomen Bestands negativer Sachverhalte die Bedeutung, die Notwendigkeit der Geltung und die von den Prinzipien eigentlich betroffenen Gegenständlichkeiten erst deutlich hervortreten läßt.
906 907 908
INGARDEN [1965], 295. INGARDEN [1965], 295. INGARDEN [1965], 294.
386
Kapitel 5 »Stellen wir […] fest: Indem hier das Problem des Bestehens der seinsautonomen negativen Sachverhalte gestellt wird, geschieht dies nicht in der Absicht, die Geltung der Prinzipien der Ontologie bzw. der Logik in Zweifel zu ziehen. Im Gegenteil, gerade erst dann, wenn wir zugeben, daß die negativen Sachverhalte seinsautonom nicht bestehen, wird die Notwendigkeit der Geltung des Satzes des ausgeschlossenen Dritten und des Widerspruchsprinzips in Beziehung auf individuelle seinsautonome Gegenständlichkeiten hervortreten. Erst dann wird man auch verstehen, worum es sich in diesen Sätzen handelt.«909
INGARDEN orientiert sich im Verlauf seiner gesamten Auseinandersetzung um die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte zum einen an Sachverhalten von der Form b-sein-des-A oder nicht-b-sein-des A. Die Urteile, welche derartige Sachverhalte thematisieren, sind positive bzw. negative kategorische Urteile. Die von INGARDEN herangezogenen leitenden Beispiele sind das positive Urteil: »Diese Feder ist aus Stahl«, bzw. das negative Urteil: »Diese Feder ist nicht aus Stahl« mit dem entsprechenden positiven Sachverhalt des Aus-Stahl-seins-der-Feder und dem negativen Sachverhalt des Nicht-aus-Stahl-seins-der-Feder. Im Hinblick auf die Subjekt- und Prädikatgegenstände orientiert sich INGARDEN daher ausschließlich an Gegenständen, die konkret und seinsautonom existieren können, wie es bei einem Federhalter der Fall ist. Dabei wählt INGARDEN seine Beispiele bewußt, da es ihm, wie oben gezeigt, um »die Enthüllung der Positivität des Seins« geht. Diese Positivität des Seins lasse sich, so INGARDEN, besonders gut an dem aufzeigen, was im seinsautonomen Sinn real existiert. Genau diese Positivität sieht INGARDEN durch die Annahme eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte bedroht. INGARDEN gibt auch zwei Gründe für seine Überzeugung an. Den ersten Grund bringt INGARDEN in folgendem Zitat zum Ausdruck: »Wenn es zwischen den positiven und den negativen Sachverhalten, deren materialer Gehalt ihnen erlaubt, in seinsautonomen Gegenständen zu bestehen, keinen Unterschied in der Seinsweise gäbe, dann müßte jeder seinautonome individuelle Gegenstand mit seinem Seinsbereich alle Sachverhalte umfassen, die in diesem Seinsgebiet überhaupt möglich sind. Sein Seinsbereich würde dabei in zwei Teilsphären zerfallen: in eine 909
INGARDEN [1965], 294.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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bestimmte Auswahl positiver Sachverhalte und in alle möglichen negativen Sachverhalte hinsichtlich allem, was er nicht ist. Und all dies, was er nicht ist, würde ihn in gleichem Maße charakterisieren wie dasjenige, was ihn positiv bestimmt, und auch ein gleiches Seinsgewicht haben wie das, worin er durch positive Eigenschaften ausgestattet ist. Die Ausdrucksweise der Eleaten verwendend, könnte man sagen: jeder seinsautonome individuelle Gegenstand sei im gleichen Maße ein Sein wie ein Nichtsein. Unterscheiden würden sich die Gegenstände untereinander nur darin, wo in ihnen die Grenze zwischen dem, was in ihnen eben das Sein ist, und dem, was in ihnen das Nichtsein ist, verläuft.«910
INGARDEN meint, daß durch die Annahme des objektiven Bestandes negativer Sachverhalte – neben dem seinsautonomen Bestand positiver Sachverhalte – »jeder seinsautonome individuelle Gegenstand«, auf den sich diese positiven und negativen Sachverhalte beziehen, »in gleichem Maße« und zugleich ein »Sein und Nichtsein« wird. Der »Seinsbereich« oder das »Seinsgebiet« des Gegenstandes, so heißt bei INGARDEN all das, was der Gegenstand ist oder was überhaupt zu dessen Sein gehört oder dessen Sein als solches überhaupt ausmacht, »zerfällt«, wie INGARDEN meint, durch die Annahme seinautonomer negativer Sachverhalte »in zwei Teilsphären«, nämlich einen positiven und einen negativen »Seinsbereich«, wobei beide Sphären dann von gleichem »Seinsgewicht« seien und daher ein ›Gleichgewicht‹ zwischen beiden entstehe, wenn sowohl die positiven als auch die negativen Sachverhalte seinsautonom und objektiv »nebeneinander« und zugleich bestünden. INGARDENS Meinung nach, und das muß hier ausdrücklich unterstrichen werden, ist durch diese negativen Sachverhalte dann gerade auch der Gegenstand selbst affiziert, da dessen »Seinsbereich«, und d.h. bei INGARDEN dessen Seinsbereich als Gegenstand, nun durch eine schier unendliche Zahl von irgendwie gegenständlichem Nichtsein gekennzeichnet sein muß. INGARDEN scheint hier, wenigstens implizit, auch den Gedanken einer gewissen unendlichen Anzahl von negativen Sachverhalten zurückzuweisen, die direkt in Bezug auf die in sie eingehenden Gegenstände bestehen, und mit denen die schier grenzenlose Zahl von Gegebenheiten zum Ausdruck kommt, die dieser Gegenstand eben nicht ist.
910
INGARDEN [1965], 294f.
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Kapitel 5
Die Annahme eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte führe dazu, daß zwischen der »Seinsweise« der positiven und negativen Sachverhalte ›kein Unterschied‹ zu machen ist, wie INGARDEN meint. Diese dann irgendwie »gleichgewichtige« Seinsweise hat laut INGARDEN noch eine weitere Konsequenz, womit er auf den zweiten Grund für die Unannehmbarkeit des seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte zu sprechen kommt. »Nun, gerade die Konsequenz aus der Zuerkennung der völlig gleichen Seinsweise, sowohl der negativen wie der positiven Sachverhalte, ist für mich unannehmbar. Und zwar deswegen, weil das auf die berühmte These Hegels ausläuft. Sein sei dasselbe wie Nichtsein.«911
INGARDEN meint also, den seinsautonomen Bestand negativer Sachverhalte auch deshalb ablehnen zu müssen, weil durch die Annahme des seinsautonomen Bestandes positiver und negativer Sachverhalte nicht nur ein Gleichgewicht zweier ansonsten unterschiedener Sphären entstehe, sondern darüber hinaus auch Sein und Nichtsein überhaupt »dasselbe« seien, und zwar im HEGELSCHEN Sinn, und das kann letztlich nichts anderes heißen, als daß das Sein und das Nichts letztlich koinzidieren sollen und konfundiert werden. Welche konkreten Überlegungen führen INGARDEN zu der Ablehnung eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte? Das Urteil »Die Feder ist nicht aus Stahl« kann nicht deshalb wahr sein, weil in der Feder so etwas wie ein Stahl-sein negativ gewissermaßen positiv noch gar positiv als eine eigene Metallart aufzufinden wäre.912 Wenn die Feder nicht aus Stahl ist, dann wegen der völligen Abwesenheit dieses Materials in dieser besonderen Feder und nicht wegen der Anwesenheit von so etwas wie einer Metallsorte Stahl-negativ. In diesem Punkt ist INGARDEN völlig zuzustimmen. Mit der nichtstählernen Feder verhält es sich ähnlich wie mit dem nichtexistierenden Tyrannosaurus Rex. So wie die Tatsache, daß der T-Rex (jetzt) nicht existiert, unmöglich bedeuten 911 912
INGARDEN [1965], 295. INGARDEN verdeutlicht dies, indem er das negative Urteil in das positive »Die Feder ist aus Nicht-Stahl« umwandelt und dann zeigt, daß »Nicht-Stahl« unmöglich etwas an sich sein kann.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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kann, daß jetzt ein T-Rex-negativ existiert, so kann auch die Tatsache, daß eine Feder nicht aus Stahl ist, unmöglich bedeuten, daß die Feder aus einem Stahl-negativ oder einem Stahl-negativ-Metall besteht. Aber INGARDEN meint auch: Hinsichtlich der »Abwesenheit« des Metalls Stahl in einer Feder (und – um das T-Rex-Beispiel weiter zu berücksichtigen – hinsichtlich der gegebenen »Abwesenheit« des T-Rex in der rezenten Fauna) kann gesagt werden: »Die Feder ist nicht aus Stahl« (und »Der TRex existiert nicht«). Wandelt man das Urteil: »Die Feder ist nicht aus Stahl« durch Obversion in das äquivalente Urteil: »Die Feder ist aus NichtStahl« um, so werde, wie INGARDEN meint, deutlich: Der Prädikatsgegenstand »Aus-nicht-Stahl« »bestimmt« den Subjektgegenstand »Feder« nur insofern, als diese »aus irgendeinem anderen«, nicht näher bestimmten Stoff besteht und dieser unter der Rücksicht der Abwesenheit des Materials Stahl betrachtet wird. »Sofern also das ›Aus-nicht-Stahl‹ überhaupt irgendwie den Gegenstand bestimmt, dem es zukommt, so geschieht es nur vermöge anderer Qualitäten, die in diesem Gegenstande [sic] effektiv auftreten. Es fügt auch von sich aus nichts Neues zu dem Gegenstande hinzu und ist lediglich ein äußerer Ausdruck anderer Eigenschaften und ihres Verhältnisses zu dem ›Aus-Stahl-sein‹. Mit anderen Worten: ›Die Feder ist aus Nicht-Stahl‹ bedeutet soviel wie: sie besitzt die Eigenschaft, aus irgendeinem anderen, vom Stahl verschiedenen, Material verfertigt zu sein, – ohne daß man wüßte, was für Material es ist.«913
913
INGARDEN [1965], 297. Eine ähnliche Auffassung scheint auch KRAML zu vertreten: »Es gibt weder negative Tatsachen noch negative Sachverhalte. Die Negation betrifft die prädikative oder sonstige Äußerung, nicht deren Inhalt. Ein negierter Satz besagt, daß bei Anwendung der Verfahren für die Aussonderung eines Falles und die Anwendung der Unterscheidung ein Fall einer anderen als der vorgetragenen Prädikation gefunden wird, und zwar ein Fall, der als Gegenbeispiel für den verwendeten Prädikator in Frage kommt. Ein Satz wie ›Das ist kein Hund‹ besagt so viel wie: ›Das ist irgendein anderer Fall außer einem solchen, für den der Prädikator ›Hund‹ eingeführt worden ist, etwa eine Katze, eine Maus, ein Ball usw.‹ Solche Äußerungen besagen aber nicht, daß ein negativer Sachverhalt des Vorliegens von Nichthundsein zu finden ist. Wollte man die Version ›Nichtvorliegen von Hundsein‹ vorziehen, so bedeutet dies so viel wie ›Vorliegen eines von Hundsein verschiedenen Falles‹, worum auch immer es sich tatsächlich handeln möge. Das, weswegen ein negativer Satz
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Kapitel 5
Will man verstehen, wie es um den ontologischen Status des Bestands des negativen Sachverhalts, daß die Feder nicht aus Stahl ist, bestellt ist, muß man sich in INGARDENS Augen zunächst vergegenwärtigen, daß das »Aus-nicht-Stahl« ein Bestandteil des Sachverhaltes ist. Dieser Bestandteil des Aus-nicht-Stahl »ist« selber aber nur »etwas« als Resultat einer Ableitung aus erstens der tatsächlichen stofflichen Verfassung der Feder, zweitens aus der tatsächlichen oder möglichen stofflichen Verfassungen irgendwelcher Gegenstände außerhalb der Feder, und drittens aus einer vergleichenden Operation durch einen entsprechenden intentionalen Akt. Es gibt diesen Bestandteil des Aus-nicht-Stahl als Gegenstand nur auf dem Fundament eines derartigen durch einen intentionalen Akt vollzogenen Vergleichs zwischen dem, was die Feder tatsächlich ist und dem, was außerhalb der Feder tatsächlich der Fall ist oder wenigstens der Fall sein mag (s.u.). Wenn dieser Bestandteil derart abgeleitet ist, so muß auch, wie INGARDEN meint, der Bestand des negativen Sachverhalts, daß die Feder nicht aus Stahl ist, als ganzer ebenso abgeleitet sein. D.h., der negative Sachverhalt besteht nur aufgrund eines intentionalen Aktes, in dem die tatsächlichen positiven Sachverhalte »in« der Feder und die tatsächlichen positiven Sachverhalte »außerhalb« der Feder miteinander verglichen werden. »Hinsichtlich des Sachverhalts (2) muß man aber zugeben, daß – sofern der entsprechende Satz wahr ist – er zwar in dem betreffenden Gegenstande besteht, aber nicht im vollen Sinne seinsautonom ist, da einer von seinen Bestandteilen (Aus-Nicht-Stahl) zwar sein Seinsfundament in dem betreffenden Gegenstande und in dem ›Aus Stahl‹ besitzt, aber zugleich in bezug auf die subjektive Operation des Vergleichens seinsrelativ und von diesen drei Seinsfundamenten seinsabgeleitet ist. Dabei liegen zwei von diesen Fundamenten außerhalb des Gegenstandes (der Feder), in welchem der Sachverhalt (2) besteht. Er besteht auch nur, sofern andere Sachverhalte in demselben Gegenstande seinsautonom bestehen, vermöge welcher diese Feder eben aus Nicht-Stahl ist, die also das Seinsfundament des ›Aus-nicht-Stahl‹ bilden.«914
914
wahr ist, ist nicht eine negative Tatsache, sondern eine andere, mit der im Satz insinuierten unverträgliche Tatsache.« KRAML [2001], 98. INGARDEN [1965], 297.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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Das Sein des negativen Sachverhaltes bzw. dessen Bestand soll demnach abgeleitet sein. Diese Ableitung gipfelt gleichsam in der Relativität des Bestandes des negativen Sachverhaltes auf eine subjektive Operation des Vergleichens seinsautonomer Gegebenheiten wie der tatsächlichen materiellen Verfassung der (Gold-)Feder selbst und der Verfassung anderer stählerner Gegenstände »außerhalb« der Feder, die aber gerade nicht der fragliche negative Sachverhalt als solcher bzw. dessen besondere »Bestandweise« sind. In folgendem Zitat unterstreicht INGARDEN diese Relativität auf einen intentionalen Akt, indem er davon spricht, daß der Bestand des negativen Sachverhalts, daß A nicht b ist, schließlich nur in dem In-Betracht-genommen-Sein fundiert sein kann: »Mittels der Funktion des Ausdrucks ›ist nicht‹ wird die zwischen A und b bestehende Trennung zur Konstitution des Sachverhalts ›A ist nicht b‹ verwendet. Diese Trennung ist aber dadurch bewirkt, daß die Stelle, welche im Gegenstande A durch das b eingenommen werden könnte, bereits durch ein anderes Moment c besetzt ist. Auf diese Weise hat der Sachverhalt ›A ist nicht b‹ einerseits in dem Sachverhalt ›A ist c‹, andererseits in dem In-Betracht-genommen-Sein des b sein Seinsfundament.«915
Der Bestand des negativen Sachverhalts, daß die Feder nicht aus Stahl ist, sei als solcher daher nichts anderes als eine durch einen intentionalen Akt hervorgebrachte »Ergänzung« zu dem seinsautonomen Gegenstand und dessen »positiven« Eigenschaften bzw. zu den bereits seinsautonom bestehenden positiven Sachverhalten. Daher muß INGARDEN sagen: »Das Erkenntnissubjekt ergänzt […] – je nach seinem Interesse – den Gegenstand intentional durch negative Sachverhalte, in welchen die Trennung gewisser materialer Bestimmtheiten von dem Gegenstande zur Ausprägung gelangt.«916
Negative Sachverhalte seien als Bestehende nicht seinsautonom und damit an sich da, sondern würden auf der Grundlage tatsächlich seinsautonom bestehender positiver Sachverhalte durch das »Erkenntnissubjekt« und die Art, wie sich dieses »für einem bestimmten Bereich gegen915 916
INGARDEN [1965], 307. INGARDEN [1965], 308.
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ständlicher Gegebenheiten interessiert«, hinzuintendiert.917 INGARDEN vergleicht negative Sachverhalte mit »Schatten«, die ein Objekt »hinter« sich wirft, sobald es von einem Licht getroffen wird: »Sie [die negativen Sachverhalte] sind wie ein Schatten, der sozusagen hinter dem Gegenstande liegt, so bald [sic] es neben ihm eine Lichtquelle gibt. Seine Richtung, seine Größe und seine Gestalt wird durch diese Lichtquelle mitbestimmt, wobei natürlich auch die Gestalt des Gegenstandes selbst mitbestimmend ist. Ebenso werden die negativen Sachverhalte dadurch hervorgerufen und bestimmt, daß einerseits entsprechende positive Sachverhalte in dem betreffenden Gegenstande bestehen, andererseits aber ein Erkenntnissubjekt für einen bestimmten Bereich gegenständlicher Bestimmtheiten interessiert ist. Die positiven Sachverhalte eleminieren – je nach ihrem Gehalt – bestimmte Materien aus dem Bestande des betreffenden Gegenstandes, der infolgedessen durch die entsprechenden Qualitäten (Materien) nicht bestimmt ist.«918
Auf der Grundlage dieser Ausführungen wird deutlich, daß INGARDEN dem Bestand negativer Sachverhalte die Seinsautonomie grundsätzlich aberkennen muß. Der Bestand negativer Sachverhalte sei als solcher immer eine Ergänzung seinsautonom gegebener positiver Sachverhalte durch ein ergänzendes Subjekt.919 Der negative Sachverhalt soll als solcher in seinem Bestand als durch ein Denken ergänzter immer nur ein hinzugedachter sein. SMITH schreibt im Hinblick auf INGARDENS Position treffend: »Consider, now, the negative state of affairs this chalk is not vermillion. Here whilst the chalk itself exists autonomously, the property involved is only thought or intended, it is carried into the situation from outside as an intentional projection e.g. of our acts of questioning or surmising about the colour of the chalk. Thus the state of affairs which consists of the
917
918 919
»Nach Ingarden kann nur bei positiv bestehenden Sachverhalten von einem realen autonomen Sein im strengen Sinn die Rede sein. Andere Sachverhalte dagegen sind vom Bewußtsein abhängig […].« SMITH [1988], 21. INGARDEN [1965], 308. Vgl. SMITH [1978], 62. Auch wenn INGARDEN, soweit ersichtlich, keine ausdrückliche entsprechende Bemerkung macht, dürfte er ebenfalls der Auffassung sein, daß der negative Sachverhalt nur solange existiert bzw. »besteht«, als diese subjektive Ergänzung auch vollzogen wird.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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chalk and its not being vermillion is the result of a certain kind of intentional demarcation by a given subject920
Wenn auch der Bestand des negativen Sachverhaltes die Ergänzung eines Erkenntnissubjekts sein soll, so ist doch in INGARDENS Augen gleichzeitig daran festzuhalten, daß die »Trennung« zwischen der so und so beschaffenen Feder und dem Aus-Stahl-sein bzw. die Verschiedenheit der Feder von dem »Aus-Stahl« völlig seinsautonom gegeben ist. »Aber seinsautonom ist auch jene Trennung, denn sie ist nichts anderes als die Grenze des Seinsbereiches des Gegensandes A. Sie ist zugleich ein Ausdruck der Positivität (der Selbstgegenwart) seiner materialen Ausstattung. Die Folge dieser Selbstgegenwart ist die Eliminierung aller anderen materialen Momente aus dem Seinsbereiche des Gegenstandes. Diese Trennung ist also der bloße Ausdruck dessen, daß der Gegenstand so und so ist, daß er begrenzt oder (wenn man will) endlich ist und daß dasjenige, was ihn aufbaut, eben undurchdringlich ist, es füllt die betreffende Stelle seines Seinsbereiches so aus, daß keine andere Materie seine Stelle zugleich einnehmen kann.«921 »Trotzdem kommt ihm dieses Verschiedensein-Von [sic] in der Konfrontierung mit bestimmten anderen Gegenständen effektiv zu. Diese Konfrontierung ist aber nicht etwas, was im Seienden selbst vorkommt, sondern sie wird erst durch den Vollzug einer besonderen Operation eines Bewußtseinssubjekts hervorgebracht. So zeichnen sich derartige abgeleitete Eigenschaften des Gegenstandes durch eine eigentümliche Relativität in bezug auf eine subjektive Operation aus, obwohl sie eines fundamentum in re nicht beraubt sind.«922
Die »Trennung« der Feder bzw. deren »Verschiedensein-Von« von allem »anderen« sei das seinsautonome fundamentum in re für den negativen Sachverhalt. Im Hinblick auf dieses Fundament meint INGARDEN dem negativen Sachverhalt durch die Aberkennung des seinsautonomen Bestands nicht auch »jeden Bestand« absprechen zu müssen. Aber in sich selbst betrachtet ist der negative Sachverhalt Ausdruck und »projiziertes« (SMITH) Ergebnis einer »Konfrontierung« oder Gegenüberstellung des Getrennten bzw. Verschiedenen durch ein Subjekt. Er ist nichts anderes als 920 921 922
SMITH [1978] 61f. INGARDEN [1965], 309. INGARDEN [1965], 299.
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eine Weise, wie das Subjekt diese Trennung und Verschiedenheit zum Ausdruck bringt. In dieser entscheidenden Hinsicht ist dessen Bestand unausgesetzt eine hinzugefügte Ergänzung und der negative Sachverhalt in seinem Sosein und Dasein von der aktuellen Tätigkeit des Ergänzens abhängig. Wenn das »Licht« der interessierten Intention eines Subjekts sich einem bestimmten Gegenstand nicht zuwendet, können negative Sachverhalte als solche nicht bestehen, da sie als bloße »Schatten« völlig vom »Licht« abhängig sind. »Das Ergebnis unserer Erwägungen weist darauf hin, daß die negativen Sachverhalte existential nicht auf gleicher Stufe mit den positiven Sachverhalten, die in der seinsautonomnen Sphäre bestehen, gestellt werden dürfen. Andererseits dürfen sie nicht für reine entis rationis [sic] gehalten werden. Daß ein Etwas nicht eine bestimmte Eigenschaft besitzt, ist – wenn der entsprechende Satz wahr ist – auch eine Tatsache, nur daß sie als Tatsache von den positiven Tatsachen in verschiedener Hinsicht verschieden ist. Die negativen Sachverhalte weisen einen eigentümlichen doppelartigen Charakter ihres Seins auf. Es zeigt sich aufs neue, daß die einfache Gegenüberstellung von Sein und Nichtsein nicht ausreicht.«923
An dieser Stelle kann unmöglich auf alle Fragen eingegangen werden, welche INGARDENS Ausführungen aufwerfen. Was etwa versteht INGARDEN genau unter dem Gleichgewicht von Sein und Nichtsein, welches durch die Annahme des seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte entstehen soll? Meint er damit, daß durch die Annahme negativer Sachverhalte auf einer »Waage« des Seins und Nichtseins in beiden Schalen der Menge nach gleich viele Gegebenheiten liegen und sich beide Schalen so die Waage halten? Oder meint er, daß durch die Annahme eines seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte auch die innere »Seinsdichte« (SEIFERT) dieselbe ist wie im Fall positiver Sachverhalte und daß, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, das »spezifische Gewicht« der bestehenden negativen und positiven Sachverhalte dasselbe ist und es so keine analoge Verschiedenheit im Dasein aller möglichen Sachverhalte gibt? Eine nähere Untersuchung würde zeigen, daß im Hinblick auf alle konkret existierenden Sachen wie Rosen, Federn, Menschen u.s.w., in gewissen Hinsichten der Menge nach weit mehr negative Sachverhalte bestehen als po923
INGARDEN [1965], 307f.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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sitive, da das, was ein Seiendes nicht ist, im Vergleich zu dem, was es ist, schier »unendlich« sein kann.924 Gleichzeitig würde aber ebenso gelten, daß unsagbar viele der bestehenden negativen Sachverhalte, wie z.B. daß eine Zwiebel nicht das Sternbild Orion ist oder daß ein Gesang nicht der Sand in der Eieruhr ist oder daß die Kopula eines Urteils keine Termite ist, die auf der Spitze eines Nashorns kopfsteht – obschon sie tatsächlich bestehen – viel weniger »fest und sinnvoll im Sein verankert« sind, wie SEIFERT sich ausdrückt, als etwa der bestehende Sachverhalt, daß die Zwiebel sich schälen läßt und daß der Sand okkerfarben ist.925 Im Hinblick auf diese wenigen Beispiele zeichnet sich bereits ab, daß in einschlägigen Hinsichten von einem Gleichgewicht von Sein und Nichtsein kaum die Rede sein kann. Auch die oben aufgeworfene Frage nach den eigentlichen Relaten des kontradiktorischen Gegensatzes bei INGARDEN soll hier nicht weiter verfolgt werden, da die Fragwürdigkeit von INGARDENS Position durch die folgende kritische Auseinandersetzung hinlänglich zu Tage treten dürfte. Die verblüffendste aller Auffassungen INGARDENS besteht nämlich darin, daß die Annahme einer Seinsautonomie negativer Sachverhalte auf eine Identität von Sein und Nichtsein hinausläuft. Doch gerade dann, wenn irgendein negativer Sachverhalt seinsautonom besteht, kann dessen positiver kontradiktorischer Part unmöglich bestehen. Im Fall eines zeitlichen und kontingenten Sachverhaltes kann der positive Part so lange nicht bestehen, als dieser negative Sachverhalt besteht. Hört dieser Sachverhalt auf zu bestehen, beginnt »umgehend« der positive Sachverhalt zu bestehen. Im Fall eines wesensnotwendigen Sachverhaltes kann der kontradiktorische Part schlechterdings niemals bestehen. Dies bedeutet aber, daß just durch die Betrachtung der Sachverhalte als eigentlichen Relaten des Kontradiktionsprinzips deutlich wird, daß Sein und Nichtsein einander kategorisch ausschließen und ein Seiendes daher unmöglich zugleich Sein und Nichtsein sein kann. Das, was HEGEL durch die »Identität der Identität
924
925
In diesem Sinn muß auch die Überzahl der wahren negativen Urteile über diese Seienden gesehen werden. Die Anzahl der wahren positiven Urteile über dieses Seiende sind im Vergleich zur Anzahl aller wahren negativen Urteile vergleichsweise begrenzt. Vgl. SEIFERT [1996], 334.
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und Nichtidentität«926 u.a. zu denken sucht, nämlich die Aufhebung des wechselseitigen Ausschlusses von Sein und Nichtsein, wird durch das Verhältnis seinsautonom bestehender positiver und negativer Sachverhalte nicht etwa eingeschlossen, sondern gerade kategorisch ausgeschlossen! Auf der Ebene der Sachverhalte bedeutet die Aufhebung der Kontradiktion den Zugleich-Bestand oder Zugleich-Nichtbestand zweier kontradiktorisch entgegengesetzter Sachverhalte. Aber den Bestand seines kontradiktorischen Positivums schließt der Bestand eines negativen Sachverhaltes ja gerade aus. Solange das Positivum nicht zugleich besteht wie der bestehende negative Sachverhalt, kann keine Rede davon sein, daß durch die Anerkennung des seinsautonomen Bestandes negativer Sachverhalte das Sein und das Nichts dasselbe sind. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die Nichtwidersprüchlichkeit der Wirklichkeit »verbürgt« negative Tatsachen (negative Sachverhalte, die extramental, seinsautonom, objektiv bestehen), und negative Tatsachen schließen die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit aus. Wenn ein negativer Sachverhalt besteht, dann besteht er an sich. Besteht er nicht an sich, dann besteht er überhaupt nicht und es läßt sich allenfalls in einem übertragenen Sinn von »Bestehen« sprechen, etwa dann, wenn mit INGARDEN im Hinblick auf fiktive Sachverhalte in der Literatur von einem »Quasi-Bestand« gesprochen wird. Dies scheint INGARDEN nicht in Betracht zu ziehen. Daher ist es äußerst verblüffend und evidentermaßen schlicht falsch, wenn INGARDEN meint, daß seinsautonome negative Sachverhalte oder negative Tatsachen letztlich zu einer Konfundierung von Sein und Nichtsein, noch dazu im HEGELSCHEN Sinn, führen. INGARDEN entgeht aber nicht nur, daß gerade das ontologische Widerspruchsprinzip und das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten den seinsautonomen Bestand negativer Sachverhalte fordern. Es entgeht ihm zudem, daß diese Prinzipien selbst jeweils einen höheren negativen Sachverhalt darstellen, der positive und negative Sachverhalte betrifft, nämlich den Sachverhalt, daß zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte 926
»Die Analyse des Anfangs gäbe somit den Begriff des Einheit des Seins und des Nichtseins, –– oder in reflektierterer Form, der Einheit des Unterschieden- und des Nichtunterschiedenseins, –– oder der Identität der Identität und Nichtidentität. Dieser Begriff könnte als die erste, reinste, d.i. abstrakteste, [sic] Definition des Absoluten angesehen werden.« Logik I, 59.
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nicht zugleich bestehen und nicht zugleich nicht bestehen können.927 Daß durch das seinsautonome Bestehen dieses negativen Sachverhaltes Sein und Nichtsein dasselbe werden, ist offensichtlich falsch, da dieser Sachverhalt eine solche Konfundierung gerade ausschließt, weil er eine objektive Tatsache ist! Geht man allerdings davon aus, daß dieser Sachverhalt als solcher nicht seinsautonom besteht und damit keine Tatsache im strengen Sinne des Wortes ist, dann muß das kontradiktorische Positivum Tatsache sein. Und in diesem Fall würde in der Tat Sein und Nichts dasselbe werden. INGARDEN, der die Positivität des Seins durch die Annahme seinsautonom bestehender negativer Tatsachen bedroht sieht, scheint zu entgehen, daß seine Auffassung gleichsam »durch die Hintertür« den wechselseitigen Ausschluß von Sein und Nichts untergraben muß.928 INGARDENS Position führt, wenn sie zu Ende gedacht wird, auch auf einen Selbstwiderspruch. Denn er hält das Urteil: »Negative Sachverhalte können als solche nicht seinsautonom bestehen« für absolut wahr. Dieses Urteil ist ein negatives Urteil. Die absolute Wahrheit dieses negativen Urteils setzt aber voraus, daß der thematisierte Sachverhalt ein So-seinMüssen-und-nicht-anders-sein-Können (REINACH) darstellt. Der einschlägige Sachverhalt ist seinerseits negativ. Das Urteil kann demnach nur wahr sein, wenn der negative Sachverhalt ganz unabhängig vom urteilenden Bewußtsein besteht, wenn es also unabhängig von der Behauptung so der Fall ist, wie behauptet. Was INGARDEN also ausdrücklich zurückweist, muß er um des Wahrheitsanspruchs dieser Zurückweisung willen doch stillschweigend voraussetzen, nämlich eine negative Tatsache bzw. den seinsautonomen Bestand eines negativen Sachverhalts. Von INGARDENS Position aus betrachtet, ließe sich hier einwenden, daß das Gemeinte besser durch ein positives Urteil, wie etwa: »Negative Sachverhalte können nur seinsheteronom bestehen, sofern es sich bei Ihnen um subjektive Ergänzungen cum fundamento in re handelt«, ausgedrückt wird. Der durch dieses Urteil thematisierte Sachverhalt ist auch positiv und besteht als positiver in seinsautomer Weise. Und da dieser Sachverhalt einen seinsau927 928
Die Zusammenfassung der beiden an sich verschiedenen Prinzipien sei hier gestattet. Allerdings kann bei dem ›leidenschaftlichen Metaphysiker‹ INGARDEN keine Rede davon sein, daß er die objektive Gültigkeit dieser Prinzipien absichtlich würde untergraben wollen. Vielmehr ist ja das Gegenteil der Fall.
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tonomen Bestand negativer Sachverhalte bereits auf positive Weise ausschließe, ist es nicht nötig, von einem seinsautonomen Bestand des diesen Ausschluß beinhaltenden negativen Sachverhaltes auszugehen. Vielmehr sei der positive Sachverhalt das fundamentum in re für den bloß intentional entworfenen negativen Sachverhalt als subjektiver Ergänzung. Allerdings wird auch hier bei näherem Zusehen deutlich, daß sich der negative Sachverhalt gegen die Verabschiedung seiner Tatsächlichkeit sperrt. Wenn der negative Sachverhalt, daß negative Sachverhalte nicht seinsautonom bestehen können, nicht der Fall ist, muß sein kontradiktorischer Part der Fall sein, und d.h. der positive Sachverhalt, daß negative Sachverhalt seinsautonom bestehen können, muß nun seinerseits bestehen, denn er allein ist der kontradiktorische Gegensatz des obigen negativen Sachverhalts. In diesem Fall würden aber die beiden sich ausschließenden Sachverhalte, daß negative Sachverhalte nur seinsheteronom bestehen können und daß negative Sachverhalte seinsautonom bestehen können, zugleich bestehen müssen, was unmöglich ist. Eine solche Position würde abermals die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit gerade nicht vermeiden. Noch einmal ist hervorzuheben: Negative Tatsachen heben die Widerspruchlosigkeit der Wirklichkeit nicht auf, sondern »verbürgen« sie, nicht obwohl, sondern gerade weil sie als Tatsachen seinsautonom bestehen müssen. INGARDEN gebraucht das Wort »Bestand« in einer äußerst mißverständlichen, ja verwirrenden Weise, wenn er meint, mit der Verabschiedung des seinsautonomen Bestands negativer Sachverhalte nicht jeden Bestand verabschieden zu müssen. Ebenso fehlleitend ist INGARDENS Rede davon, daß ein negativer Sachverhalt »nicht im vollen Sinne seinsautonom« ist. Denn trotz aller unterstrichenen Fundamente in re dürfen INGARDENS Ausführungen nicht darüber hinwegtäuschen, daß negative Sachverhalte als solche immer durch Erkenntnissubjekte hervorgebrachte Ergänzungen bleiben, denen außerhalb dieses durch ein Erkenntnissubjekt hervorgebrachten Ergänzung-Seins bei INGARDEN kein »Eigenwesen« (SEIFERT) zukommen kann. Damit können negative Tatsachen als solche nicht nur »nicht im vollen Sinne«, sondern unmöglich Gegebenheiten der extramentalen Sphäre sein. Negative Sachverhalte können und müssen in INGARDENS Augen denkend entworfen werden, und sie können unabhängig vom Denken nicht »an sich« »da« sein. Der seinsautonome Bestand eines
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negativen Sachverhaltes als eines solchen ist bei INGARDEN ebenso unmöglich weil vermeintlich »widerspüchlich« wie der seinsautonome Bestand des Sachverhalts, daß ein Dreieck rund ist. Wie bereits gezeigt, ist INGARDEN der Meinung, daß seinsautonom bestehende Sachverhalte einen Widerspruch in das Sein einführen. Um zu zeigen, daß negative Sachverhalte nicht seinsautonom bestehen können, verweist INGARDEN darauf, daß Bestimmungen wie Nicht-aus-Stahl ontologisch gesehen Privationen, ein Fehlen-von-Stahl oder eine Abwesenheitvon-Stahl darstellen. Daher läßt sich seine Position auch folgendermaßen formulieren: Wenn ein negativer Sachverhalt wie das Nicht-rot-sein-derRose oder das Nicht-aus-Stahl-sein-der-Feder seinsautonom besteht, dann ist auch das Nicht-aus-Stahl oder das Nicht-rot ontologisch betrachtet keine Privation oder Abwesenheit, sondern so etwas wie ein weiteres Akzidens der Feder oder der Rose, welche diese als negative Eigenschaften positiv aufbauen wie alle anderen sonstigen positiven Eigenschaften auch. Damit bringt INGARDEN den seinsautonomen Bestand negativer Sachverhalte, die in bezug auf Privationen an existierenden Dingen bestehen, in einen vermeintlich notwendigen Zusammenhang mit der »eigenständigen« Existenz von so etwas wie Negativeigenschaften, welche dann freilich gerade keine Privationen mehr wären. Die Konstruktion eines solchen notwendigen Zusammenhangs deutet darauf hin, daß INGARDEN (a) zwischen Sachen und Sachverhalten nicht eindeutig unterscheidet, und damit auch die wesensnotwendige Transzendenz der Sachverhalte gegenüber den in sie eingehenen Gegebenheiten nicht sieht, und zudem (b) nicht sieht, daß nichts, auch kein Fehlen und keine Privation jenseits von Sachverhalten sein kann. Es soll nun zunächst gezeigt werden, daß INGARDEN keine wirkliche Unterscheidung zwischen Sachen und Sachverhalten trifft, und somit auch die Transzendenz der Sachverhalte nicht sieht. Im Anschluß soll gezeigt werden, daß negative Sachverhalte infolge ihrer wesensnotwendigen Transzendenz gerade auch in Bezug auf Privationen tatsächlich und als solche »seinsautonom« bestehen. INGARDEN schreibt: »Die Form des Sachverhalts in der Gestalt, in welcher er einem einfachen Aussagesatze entspricht, ist nichts anderes als die zur Entfaltung gebrachte und in ihrer Entfaltung genommene gegenständliche Grundform, bzw. genauer gesagt, als ein besonderes Einzelmoment an ihr, d.h. dasjenige,
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Kapitel 5 das in dem Zusammenhang zwischen dem Gegenstande und einer(g) seiner Eigenschaften besteht.«929
In diesem Zitat betont INGARDEN, daß ein Sachverhalt wie z.B. das Rotsein-der-Rose »nichts anderes« ist als die gegenständliche Grundform »rote Rose«. Der Sachverhalt stelle lediglich eine »Entfaltung« von »nichts anderem als« dieser »gegenständlichen Grundform« dar. Damit verhalten sich der Sachverhalt, daß die Rose rot ist, und die rote Rose zueinander etwa so wie eine zunächst geschlossene und dann entfaltete Rosenknospe. Die entfaltete Rosenknospe ist gegenüber der geschlossenen Rosenknospe keine andere Entität. Sie ist seinsmäßig eben diese Knospe, aber als entfaltete. INGARDEN präzisiert darüber hinaus noch, was er unter einem Sachverhalt als entfalteter Grundform versteht, indem er unterstreicht, daß die Entfaltung und damit der Sachverhalt »ein besonderes Einzelmoment« an der Grundform ist, und zwar das Einzelmoment des Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand und einer seiner Eigenschaften. Der Sachverhalt, daß die Rose rot ist, sei demnach nichts anderes als der zur Entfaltung gebrachte Zusammenhang zwischen Röte und Rose in der roten Rose. Dasselbe wiederholt INGARDEN noch einmal im Hinblick auf Sachverhalte, in denen es um irgendwelche Tätigkeiten eines Subjektes geht, wie z.B., daß Peter einen Strohhalm aufhebt. »Ähnlich verhält es sich, wenn ein Aussagesatz feststellt, daß S eine Handlung vollzieht oder einem Vorgang unterliegt bzw. an ihm teilnimmt. Auch hier ist der Sachverhalt nichts anderes als eine entfaltete, ›explizierte‹ Form des Handlungsvollzugs durch ein Handlungsubjekt.«930
929 930
INGARDEN [1965], 283. INGARDEN [1965], 283. »Sofern der betreffende Sachverhalt ein aktives oder ein passives Teilnehmen des Gegenstandes an einem Vorgang ist, umfaßt dieser Sachverhalt sowohl diesen Gegenstand als auch den betreffenden Vorgang. Die Form des Sachverhaltes ist dann das Einwirken eines Etwas auf ein anderes Etwas, oder das Erleiden eines Etwas durch das Einwirken eines anderen Etwas. Es ist also ein Überschreiten des eigenen Seinsbereiches durch einen im Handeln begriffenen Gegenstand, oder umgekehrt ist es ein Hineingreifen der Handlung eines anderen Gegenstandes in den Seinsbereich des betreffenden Gegenstandes. In den beiden Fällen derartiger ›Vorgangssachverhalte‹ besteht ebenfalls eine eingentümliche Einheit in ihrem Aufbau, eine spezifische formale Vereinigung des betreffenden Gegenstandes mit dem, was in dem Sachverhalte
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Ein Sachverhalt, wie daß Peter einen Strohhalm aufhebt, soll demnach nicht etwas anderes als die Person Peter und deren Vollzug einer bestimmten Handlung sein. Der Sachverhalt ist diese Person und diese Handlung selbst als entfaltete oder explizierte. Letztlich betont INGARDEN hier immer wieder, daß der Sachverhalt nicht etwas anderes sei als die gegenständliche Grundform »rote Rose« oder »einen Strohhalm aufhebender Peter«, wenn auch als entfaltete. Leider verdeutlicht INGARDEN nicht näher, was er unter dem besagten Zusammenhang vesteht. Meint er im Fall der roten Rose damit etwa die Inhärenz des Rot in der Rose, so daß der Sachverhalt so etwas wie diese Inhärenz selber wäre? Dem entspräche INGARDENS Rede vom Anhaften der Sachverhalte in ihren Sachen. »Ein jeder Gegenstand bildet einen Verband (wenn dieses Wort erlaubt ist) von Sachverhalten, die alle demselben Subjekt anhaften und dadurch in ihm vereinigt sind.«931
Ähnliches legt auch INGARDENS Wortwahl an anderer Stelle nahe. Hier spricht INGARDEN von Sachverhalten als »Eigenschaften« und davon, daß die chemische Verfassung etwa einer Kugel ein Sachverhalt sei. »Die Gesamtheit der Eigenschaften (bzw. der Sachverhalte) der Kugel, die ihre bestimmte Temperatur bilden, ist in einen anderen Bestand von Eigenschaften übergegangen, in welchem die höhere Temperatur desselben Körpers besteht. Ist indessen die Temperaturerhöhung verhältnismäßig klein, so widersteht eine andere Mannigfaltigkeit von Sachverhalten der Kugel diesen Veränderungen, d.h. sie bestehen weiter trotz der Wandlungen, die in der Kugel eingetreten sind. So besteht z.B. der komplizierte Sachverhalt, den wir gewöhnlich den chemischen Zustand des Körpers nennen (die Kugel ist noch immer aus Eisen), der Sachverhalt einer bestimmten elektrischen Leitfähigkeit dieses Eisens usw. In dem Seinsbereich des Gegenstandes verbleibt ein gewisser Kern dauernder Sachverhalte, welcher durch eine Mannigfaltigkeit wechselner Sachverhalte ergänzt wird.«932
931 932
noch auftritt, d.h. mit einem von dem Gegenstande vollzogenen Vorgang, und zwar in einer bestimmten Phase desselben.« INGARDEN [1965], 281. INGARDEN [1965], 284. INGARDEN [1965], 286.
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Wie dem auch immer sein mag, es wird doch deutlich, daß der Sachverhalt bei INGARDEN keinesfalls etwas wesentlich anderes ist als die rote Rose bzw. der zum Seinsbereich der Rose gehörende Zusammenhang zwischen dem Rotmoment und der Rose. Und daß INGARDEN zwischen Sachen und Sachverhalten keinen wesentlichen Unterschied sieht, ist, was hier gezeigt werden soll. Infolge dieser fehlenden Unterscheidung ist es wenigstens nachvollziehbar, warum INGARDEN vom »Anhaften« von Sachverhalten spricht oder auch davon, daß Sachverhalte den »Gegenstand mit sich selber aufbauen«. Es ist in INGARDENS Augen unmöglich, daß ein negativer Sachverhalt in einem Gegenstand »dieselbe Rolle wie die positiven Sachverhalte spielt, weil er [!] das Seiende mit sich selbst nicht aufbaut [Kursiv v. Verf.], weil er eben negativ ist und in sich nichts Derartiges verkörpern kann wie der positive Sachverhalt mit dem positiven Moment der Eigenschaftsmaterie.«933
Ein positiver Sachverhalt bestehe demnach seinsautonom, weil er das existierende Seiende mit sich selbst aufbaue. Ein negativer Sachverhalt als solcher könne dies aber nicht tun, weil ein Fehlen von etwas als solchem unmöglich das Seiende mit sich selbst aufbauen kann.934 Wie oben bereits gesagt, versteht INGARDEN unter dem Seinsbereich eines Gegenstands alles, was zum Sein dieses Gegenstands selbst gehört. Sachverhalte seien nun, so INGARDEN, in den »vollen Seinsbereich« der betreffenden Sachen »eingetaucht«, womit abermals zum Ausdruck kommt, daß INGARDEN in Sachverhalten keine Entität sui generis sieht. »Unabhängig aber davon, ob ein Sachverhalt einfach oder zusammengesetzt ist, ist er immer infolge seiner Form formal unselbständig im Verhältnis zu dem Gegenstande, in dessen Seinsbereich er besteht. Wenn er im Rahmen eines einzigen Gegenstandes besteht, so ist er gewisser933 934
INGARDEN [1965], 303. »Hinsichtlich des Sachverhalts (2) muß man aber zugeben, daß – sofern der entsprechende Satz wahr ist – er zwar in dem betreffenden Gegenstande besteht, aber nicht im vollen Sinne seinsautonom ist, da einer von seinen Bestandteilen (Aus-Nicht-Stahl) zwar sein Seinsfundament in dem betreffenden Gegenstande und in dem ›Aus Stahl‹ besitzt, aber zugleich in bezug auf die subjektive Operation des Vergleichens seinsrelativ und von diesen drei Seinsfundamenten seinsabgeleitet ist.« INGARDEN [1965], 297.
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maßen in dessen vollen Seinsbereich ›eingetaucht‹. Je nach den materialen Momenten, die ihn aufbauen, sowie nach der übrigen materialen Ausstattung des betreffenden Gegenstandes gestaltet sich die Weise dieses ›Eingetauchtseins‹ anders.«935
INGARDENS Begriff des »Eingetauchtseins eines Sachverhaltes in den Seinsbereich des Gegenstands« ist geradezu das genaue Gegenteil von der Transzendenz der Sachverhalte gegenüber den in sie eingehenden Sachen, die oben in Abschnitt. 4.5.1 dargelegt wurde. In dieser Formulierung, aber auch in der betonten Aussage, daß ein Sachverhalt nichts anderes sei als der entfaltete Gegenstand oder daß ein Sachverhalt eingetaucht sei in den Seinsbereich des Gegenstandes, kommt immer wieder zum Ausdruck, daß INGARDEN die Transzendenz der Sachverhalte nicht in den Blick bekommt. Das Übersehen der Transzendenz der Sachverhalte zeigt sich gerade auch in folgender Formulierung: »Den Bestand der dauerhaften und mit der Natur des Gegenstandes innig und notwendig zusammenhängenden Sachverhalte eines Gegenstandes nennen wir dessen ›Wesen‹. […] Sie sind weiterhin in sich geschlossene ›Ganze‹, und ihre Ganzheit (im absoluten Sinne) bestätigt sich nur dann, wenn der Gegenstand einen wesenhaften Zusammenhang von Sachverhalten bildet.«936
Warum INGARDEN den Bestand aller wesensnotwendigen Sachverhalte das Wesen des entsprechenden Gegenstands nennen kann, läßt sich nur nachvollziehen, wenn man sieht, daß INGARDEN Sache und Sachverhalt nicht wesentlich unterscheidet. So kann es kommen, daß INGARDEN die notwendig in einem Wesen fundierten Sachverhalte, welche in Bezug auf dieses Wesen notwendig bestehen, aber als Sachverhalte wesentlich von der Wesenheit verschieden sind, als das Wesen der Sache bezeichnet. Damit ergibt sich freilich auch im Hinblick auf INGARDENS Begriff des seinsautonomen Bestandes positiver Sachverhalte folgendes: Wenn INGARDEN vom seinsautonomen Bestand positiver Sachverhalte spricht, dann besagt dies nicht, daß ein existierender Gegenstand den Bestand einer von ihm wesentlich verschiedenen Entität fundiert, bzw. daß der bestehende 935 936
INGARDEN [1965], 283f. INGARDEN [1965], 287.
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positive Sachverhalt eine daseiende Entität sui generis ist. Der positive Sachverhalt des Rot-seins-der-Rose ist ja nichts anderes als eine entfaltete rote Rose. Es ist gerade nicht so, daß das Rot-sein-der-Rose – trotz aller notwendigen und engen Zusammenhänge – etwas anderes ist als die rote Rose. Damit ist aber die Seinsautonomie des positiven Sachverhaltes bei INGARDEN letztlich nichts anderes als die seinsautonom existierende rote Rose. Es ist m.a.W. nicht nur der Bestand der negativen Sachverhalte nicht seinsautonom, nein, auch der Bestand der positiven Sachverhalte stellt bei INGARDEN als solcher kein seinsautonomes Dasein und Sosein dar. Existierende Sachen und die sie betreffenden positiven Sachverhalte werden von INGARDEN nicht wesentlich voneinander unterschieden. Folglich darf man nicht meinen, daß INGARDEN, wenn er von dem seinsautonomen Bestand positiver Sachverhalte spricht, die Daseinsform des Bestandes und das, was da besteht, wesentlich von der existierenden Sache unterscheiden würde. Vielmehr ist INGARDENS Rede vom seinsautonomen Bestand der positiven Sachverhalte äußerst mißverständlich und irreführend, da sie eine sachgemäße Unterscheidung zwischen existierenden Sachen und Sachverhalten insinuiert, welche bei INGARDEN nicht wirklich vorliegt.937 Kurzum: INGARDEN unterscheidet Sache und Sachverhalt grundsätzlich nicht wirklich voneinander und sieht damit auch die Transzendenz der Sachverhalte nicht. Da so etwas wie negative Existenz, negative Relationen, negative Handlungsvollzüge und negative Eigenschaften tatsächlich nicht autonom existieren können, deshalb können in INGARDENS Augen auch die entsprechenen negativen Sachverhalte als bloße Entfaltungsformen der Sachen nicht autonom bestehen! Aber negative Sachverhalte sind bereits als Sachverhalte nicht die in sie eingehenden Sachen. Alle Sachverhalte, auch die negativen, transzendieren die Gegenstände, die in diese Sachverhalte eingehen und auf welche die Sachverhalte bezogen sind. Auch ein sachliches Fehlen von etwas kann unmöglich jenseits von Sachverhalten sein, da nichts jenseits von Sachverhalten ist. Sachverhalte bestehen auch in Bezug auf all das, was nicht »an«
937
Auf diesem Hintergrund ist auch INGARDENS Aussage, »daß Verhältnisse in ihrer ursprünglichen Form nichts anderes als gewisse, zwei echte Subjekte in sich bergende Sachverhalte sind«, nicht weiter überraschend. INGARDEN [1965], 341.
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einer Sache da ist, weil es fehlt oder abwesend ist.938 Wenn der negative Sachverhalt besteht, daß eine Rose nicht rot ist, dann besteht dieser negative Sachverhalt in Bezug auf die Rose und das sachliche »Abwesen« oder Fehlen des Rotmoments. Der negative Sachverhalt selbst ist aber keinesfalls ein abwesendes Etwas oder ein Fehlen. BEALL unterstreicht dies, wenn er sagt: »What makes negative facts negative is not that they are ›absences‹ or otherwise ›not there‹ […].«939 Wäre der negative Sachverhalt als solcher ein Fehlen, dann würde mit ihm nicht nur das Rotmoment fehlen, sondern irgendwie auch die in ihn eingegangene Rose. Damit ist der Bestand des negativen Sachverhaltes selber gerade nicht negativ oder so etwas wie ein negativer Bestand. Es kann nicht genug betont werden: Der Bestand eines negativen Sachverhaltes darf mithin nicht mit so etwas wie einem allerdings in sich unmöglichen Negativbestand dieses Sachverhaltes verwechselt werden. Der Bestand ist immer und gerade auch im Fall eines entsprechenden negativen Sachverhaltes positiv da und positiv vorhanden oder der Fall. Ja, man muß im Hinblick auf das notwendige Eingehen von allem in Sachverhalte sogar sagen: Wenn ein negativer Sachverhalt wie, daß die Feder nicht aus Stahl ist, nicht seinsautonom bestehen könnte, dann könnte im Hinblick auf die Feder auch kein Fehlen des Stahls und keine Trennung von Feder und Stahl vorliegen! Schärfer noch ist zu sagen: Ohne den Bestand negativer Sachverhalte könnte es weder das Fehlen von etwas an etwas noch die Abwesenheit von etwas an etwas noch so etwas wie Privationen geben. Wenn INGARDEN argumentiert, daß der seinsautonome Bestand negativer Sachverhalte u.U. gewisse Negativexistenzen, negative Relationen oder negative Eigenschaften fordere, so handelt es sich um ein non sequitur, da dieses Argument auf der Voraussetzung von Sachen und Sachverhalten als nicht wesentlich und wirklich verschiedener Gegebenheiten beruht.
938 939
Sie bestehen freilich auch in bezug auf das, was gar nicht existiert, wie etwa der T-Rex. BEALL [2000], 266.
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5.2 Kritikische Anmerkungen zu Chisholms Sachverhaltsbegriff CHISHOLMS Sachverhaltstheorie ist von einer gewissen reduktionistischen Tendenz gekennzeichnet. Diese grundsätzliche Tendenz hindert CHISHOM immer wieder daran, Sachverhalte und andere Daten wie Propositionen als solche sachgemäß in den Blick zu bekommen. Diese Tendenz ›drängt‹ CHISHOLM gleichsam zu der Annahme, daß es Propositionen und Ereignisse nicht in addition zu Sachverhalten gebe, daß Propositionen und Ereignisse mithin nicht etwas völlig anderes seien als Sachverhalte. Urteilsinhalte und Ereignisse sollen vielmehr Arten von Sachverhalten und der Gattung nach gar nicht von diesen unterschieden sein. Die obigen Untersuchungen haben aber gezeigt, daß Sachverhalte und Urteilsinhalte und Sachverhalte und Ereignisse, unbeschadet gewisser notwendiger Zusammenhänge, völlig verschiedene Daten sind. Daher können sich Sachverhalte zu Propositionen und Ereignissen unmöglich so verhalten wie die Gattung zur Art. Wie könnten auch Sachverhalte, die unmöglich etwas behaupten können und in keiner Weise Behauptungen sind, der Gattung nach Propositionen sein, die wesentlich Behauptungen sind? Sinnenwesen können vernunftbegabt sein, aber Sachverhalte können unmöglich etwas behaupten bzw. eine Behauptung sein. Wenn Propositionen Sachverhalte wären, dann müßten Sachverhalte auch irgendwie zur Definition von Propositionen gehören. Sachverhalte jedoch können überhaupt nicht aus Begriffen bestehen. Wären Propositionen Sachverhalte, dann müßte etwas, das aus nichts anderem als aus Begriffen bestehen kann, gleichzeitig irgendwie etwas sein, das unmöglich aus Begriffen bestehen kann. Propositionen können ebensowenig Sachverhalte sein, wie unbelebte Materie vernunftbegabt sein kann. Zu sagen, daß Propositionen eine Art von Sachverhalten sind, macht vielmehr sowohl Propositionen als auch Sachverhalte unmöglich. Entsprechendes gilt für Ereignisse als vermeintliche Art von Sachverhalten. Wie kann etwas, das wesentlich lokalisierbar ist, wie Ereignisse, der Gattung nach etwas sein, was unmöglich lokalisiert werden kann? Offensichtlich versteht der frühe CHISHOLM unter allen Sachverhalten ewige und unabhängig von jedem konkreten individuellen Ding existierende Objekte. D.h. alles, was ein Sachverhalt ist, müsse auch ewig und unabhängig (in no way dependent) von jedem konkreten individuellen
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Ding existieren. Wenn Sachverhalte notwendig unabhängig von jedem konkreten individuellen Ding existierten, dann würden sie auch notwendig unabhängig von jedem individuellen Geist und dessen individuellen Denktätigkeiten existieren. D.h. gewisse Sachverhalte, die als Erfindungen eines menschlichen Geistes »Gedankendinge« sind und damit hinsichtlich ihrer Existenz abhängig von einem individuellen konkreten Geist und dessen Tätigkeit, könnte es nicht wirklich geben. Damit würde aber auch der Sachverhalt, daß Peter Pan Nimmerland überfliegt, und der Sachverhalt, daß Nimmerland existiert, ewig existieren, und als so existierende könnten sie als Sachverhalte keine reine Fiktion des Schriftstellers James M. Barrie sein. Wenn aber der Sachverhalt, daß Nimmerland existiert, vor und unabhängig von Barrie ewig existiert hätte, dann müßte auch Nimmerland unabhängig von Barrie existieren. Dies ist offenkundig falsch. Zwar würde CHISHOLM wohl kaum behaupten, daß die Existenz von Nimmerland keine Fiktion sei. Dennoch muß gesagt werden, daß CHISHOLMS Annahme, daß alle Sachverhalte in no way dependent ewig existieren, letztlich zu einer derartigen Konsequenz führen muß. Immerhin läßt sich in CHISHOLMS Auffassung von der Ewigkeit und Unabhängigkeit aller Sachverhalte vielleicht so etwas wie ein Erahnen der Transzendenz der Sachverhalte erkennen. Ferner kommt in CHISHOLMS Meinung, daß Sachverhalte sich zu Propositionen und Ereignissen verhalten wie die Gattung zur Art, auch ein Bewußtsein von notwendigen und engen Zusammenhängen, insbesondere zwischen den ersten zwei Gegebenheiten zum Ausdruck. Bedauerlicherweise führen CHISHOLMS Reduktionen dazu, daß das Wesen der Sachverhalte letztlich verkannt wird. CHISHOLMS Unterscheidung zwischen der »Existenz« und »Bestand« von Sachverhalten bzw. die Weise, wie CHISHOLM diesen Unterschied versteht, ist an sich völlig »künstlich« und läßt sich in systematischer Hinsicht überhaupt nur dann wenigstens nachvollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es in CHISHOLMS Augen zwischen der »Wahrheit« einer Proposition und dem »Bestand« eines entsprechenden Sachverhaltes keinerlei Unterschied gibt. D.h., die nicht mehr verfallende Wahrheit der Proposition »Es regnet (zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort)« soll der Bestand des Sachverhalts, daß es zu einer bestimmten Uhrzeit an einem bestimmten Ort regnet, sein. Diese Auffassung widerspricht dem Wesen der Wahrheit von Propositionen zutiefst. Was soll das
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heißen, daß eine wahre Proposition der Bestand des Sachverhaltes ist? Wenn eine wahre Proposition der Bestand des (entsprechenden) Sachverhaltes wäre, dann könnte die Proposition überhaupt nicht wahr sein, da sie als der Sachverhalt mit diesem nicht in einer Relation der Übereinstimmung stünde. Diese Relation, in der das Wesen der Wahrheit notwendigerweise besteht, kann nur real sein, wenn wahre Proposition und bestehender Sachverhalt nicht dasselbe sind. CHISHOLM fällt hier in gewisser Hinsicht in den »vortwardowskischen« Immanentismus von STUMPF zurück, insofern sowohl CHISHOLM als auch STUMPF nicht zwischen Urteilsinhalt und Sachverhalt unterscheiden. Aber im Unterschied zu STUMPF, der nun, wenn auch irrtümlicherweise, in Urteilsakten den Träger der Wahrheit ansetzt und damit wenigstens nicht der Absurdität verfällt, Wahrheitsträger und Wahrmacher zu konfundieren, scheint CHISHOLM irgendwie an den Urteilsinhalten (propositions) als Trägern der Wahrheit festzuhalten, so daß Wahrheitsträger und Wahrmacher absurderweise ineinander verschwimmen.940 Es ist allerdings insofern nicht verwunderlich, daß es in CHISHOLMS Sachverhaltsbegriff zu echten Absurditäten kommt, als CHISHOLM unbedingt zu vermeiden sucht, in Sachverhalten, Propositionen und Ereignissen drei völlig verschiedene Gegebenheiten zu sehen. Die Verschiedenheit widersetzt sich der reduktionistischen Tendenz, und so wird bedauerlicherweise versucht, Sachverhalte, Propositionen und Ereignisse »passend« zu machen. Der Preis für die vermeintliche Sparsamkeit und Ökonomie des hier vorliegenden Reduktionismus ist ironischerweise eine unnötige Vervielfältigung fingierter Unmöglichkeiten. Der frühe CHISHOLM hat Recht, wenn er meint, daß Sachverhalte nicht in wirkursächlichen Beziehungen stehen können, auch wenn er den Grund dafür nicht in der Transzendenz der Sachverhalte sieht, sondern darin, daß Sachverhalte in seinem Sinn »abstrakte Objekte« sind. Gleichzeitig scheint gerade in dieser Auffassung durch, daß CHISHOLM mit der »Abstraktheit« (Ewigkeit und Unabhängigkeit) der Sachverhalte vielleicht etwas von deren Transzendenz erahnt, wie oben bereits angedeutet wurde. Der späte 940
Hier ist allerdings zu beachten, daß CHISHOLMS Bestimmungen des eigentlichen Trägers der logischen Wahrheit ebenfalls irgendwie schwanken. S. dazu etwa VAN DER SCHAAR [1997], 296. Dieses Schwanken ist jedoch schon aufgrund von CHISHOLMS »unsauberer« Unterscheidung bzw. Nichtunterscheidung von Propositionen und Sachverhalten nicht wirklich erstaunlich.
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CHISHOLM reduziert Sachverhalte auf Exemplifikationsrelationen und verdinglicht Sachverhalte. So meint er nun auch, daß Sachverhalte in wirkursächlichen Relationen stehen, obwohl dies, wie oben gezeigt, unmöglich ist. Die Wahrmacher von Urteilen können unmöglich in wirkursächlichen Relationen stehen, weil die Wahrmacher notwendigerweise Sachverhalte sind. Außerdem zeigt das von CHISHOLM angeführte Beispiel, daß er Wirkursächlichkeit mit ontologischen Grund-Folge-Relationen verwechselt. Denn das bei-guter-Gesundheit-sein-einer-Person ist nicht die Ursache dafür, daß die Person das Rennen gewinnt. Vielmehr ist der erste Sachverhalt der ontologische Grund, aus dem der zweite Sachverhalt folgt. Was CHISHOLM hier benennt, sind Sachverhalte, aber da er diese nun irrtümlich verdinglicht, meint er auch, daß Sachverhalte in Ursache-WirkungsRelationen stehen können, was falsch ist. 5.3 Hengstenbergs und Armstrongs unscharfe Unterscheidung oder Verwechslung von Sachen und Sachverhalten Eine wenigstens sehr unscharfe Unterscheidung bzw. Verwechslung scheint bei Eduard HENGSTENBERG bzw. bei David ARMSTRONG vorzuliegen. HENGSTENBERG antwortet auf die Frage: »Was ist ein Sachverhalt?« »Sachverhalte beruhen auf einem Verhalten des Gegenstandes zu sich selbst und gründen primär auf zwei Größen: erstens dem Gegenstand und zweitens der Bestimmung, die diesem Gegenstand eigen ist. Ein einfaches Beispiel: ›Diese Rose ist rot.‹ Gegenstand ist ›diese Rose‹«, Bestimmung ist ›Rotsein‹. Diese einfache Struktur des Sachverhalts ist die Basis für das Urteil: ›Diese Rose ist rot‹. Im Urteil kommt das Behauptungsmoment hinzu: ich behaupte, daß es sich tatsächlich so verhält, daß diese Rose rot ist.«941
Einerseits scheint HENGSTENBERG hier ein Unterschied zwischen Sachen und Sachverhalten vorzuschweben, wenn er davon spricht, daß Sachverhalte auf einem Verhalten des Gegenstandes zu sich selbst beruhen und in zwei Größen gründen, nämlich dem Gegenstand und seiner Bestimmung. HENGSTENBERG könnte damit meinen, daß Sachverhalte in 941
HENGSTENBERG [1993], 43.
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Sachen und ihren Bestimmungen fundiert sind und als solche nicht auf die sie fundierende Sache reduziert werden dürfen. Aber dann scheint er von dem Gegenstand »diese Rose« und ihrer Bestimmung des »Rotseins« als der »einfachen Struktur des Sachverhaltes« auszugehen und damit zu meinen, daß der Gegenstand und seine Bestimmung als »Verhalten des Gegenstandes zu sich selbst« der Sachverhalt sind. In diesem Fall wäre er Opfer einer durch das Wort Sachverhalt naheliegenden Äquivokation geworden, aufgrund der man meint, unter Sachverhalt das Verhalten einer Sache und unter Verhalten die Art und Weise, wie eine Sache als irgendwie sich verhaltende »näher bestimmt« ist, zu verstehen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn HENGSTENBERG sagt: »Drei Größen machen also den Sachverhalt aus: 1. der Gegenstand, 2. die Bestimmung bzw. Bestimmtheit und 3. der Bestand oder die objektive Existenz des Sachverhaltes.«942
Wenn HENGSTENBERG hier davon spricht, daß drei Größen den Sachverhalt »ausmachen«, dann meint er damit wohl das, was einen Sachverhalt als Sachverhalt kennzeichnet, wodurch sein Sosein gekennzeichnet ist und wodurch ein Sachverhalt als Sachverhalt zu erkennen ist. Damit liegt die obige Aussage zumindest nahe, daß HENGSTENBERG die Rose als solche im Verein mit ihrem Rotsein für den Sachverhalt, daß die Rose rot ist, hält. Aber der Sachverhalt, daß die Rose rot ist, ist selber weder eine Rose noch ist er rot, noch ist er eine rote Rose, noch ist er das Rotsein der Rose im Sinne des Inhärierens des Rot in der Rose, er ist vielmehr etwas davon Unterschiedenes. Darüber hinaus macht HENGSTENBERG die wenigstens sehr mißverständliche Aussage, daß der »Bestand« oder die »objektive Existenz« den Sachverhalt ausmachen. Aber so wie es Sachen gibt, die nicht existieren, wie etwa ein geträumtes Flugzeug, gibt es Sachverhalte, die nicht bestehen, wie etwa, daß dieses (geträumte) Flugzeug wirklich fliegt. Als träumende vermeint eine Person womöglich, daß das Flugzeug wirklich ist und wirklich fliegt, was in Wirklichkeit gerade nicht der Fall ist, d.h. der Sachverhalt, daß das Flugzeug wirklich ist und wirklich fliegt, ist zwar im Traum intentional gegeben, aber er besteht nicht. Ferner scheint 942
HENGSTENBERG [1993], 43.
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HENGSTENBERG den Unterschied zwischen dem Existieren und dem Bestehen nicht zu sehen, weshalb er meint, daß Sachverhalte existieren. Tatsächlich aber können Sachverhalte nicht existieren oder nicht existieren, sondern nur bestehen oder nicht bestehen. Im Unterschied zu den mit HENGSTENBERGS Aussage gegebenen Unklarheiten kommt es bei ARMSTRONG zu einer eindeutigen und, wie es schient, frappanten Verwechslung von Gegenständen und ihren Attributen einerseits und Sachverhalten andererseits. ARMSTRONG nennt Einzeldinge, die unter Berücksichtigung all ihrer Bestimmungen betrachtet werden, »thick particulars«. »In the […] ›thick‹ conception a particular is a thing taken along with all its properties.« Von den »thick particulars« unterscheidet ARMSTRONG die »thin particulars«. Ein »thin particular«, so ARMSTRONG, »is a thing taken in abstraction from all its properties.«943 ARMSTRONG ist hier nicht der Auffassung, daß so etwas wie Einzeldinge existieren, denen keinerlei Bestimmungen zukämen. Es geht ihm lediglich darum, eine Unterschiedung zu treffen zwischen Einzeldingen, die als solche nicht die Bestimmung eines anderen Einzeldinges sein können, und den Bestimmungen wie Menschsein, Rotsein, Daruntersein, Tapfersein als solchen, die mehreren Einzeldingen zukommen können. Im Zusammenhang mit dieser Unterscheidung kommt es bei ARMSTRONG auch zur Definition von Sachverhalten: »A state of affairs is defined as a particular’s possessing a property or two or more particulars being related.«944
Hier definiert ARMSTRONG also Sachverhalte als Einzeldinge, die eine Bestimmung besitzen oder als zwei oder mehr Dinge, die in Relation zu einander stehen. M.a.W., ARMSTRONG ist der Auffassung, daß Sachverhalte nichts anderes sind als Einzeldinge, die eine Bestimmung besitzen. Er 943
944
»There are two conceptions of a particular. We might think of them as the ›thick‹ and the ›thin‹ conceptions respectively. In the first or ›thick‹ conception a particular is a thing taken along with all its properties. But with respect to a particular in this sense we can distinguish between (but not seperate) that in virtue of which it is a particular – its particularity – and its non-particular aspects – its properties. This yields us the ›thin‹ conception of a particular. It is a thing taken in abstraction from all its properties.« ARMSTRONG [1978], 114. ARMSTRONG [1978], 114.
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bringt diese Auffassung noch schärfer zum Ausdruck, wenn er sagt: »particulars in this guise [thick particulars] are simultaneously states of affairs.«945 So ist es nur konsequent, wenn ARMSTRONG die Schlußfolgerung zieht: »Hence a particular in the ›thick‹ sense is a particular in the ›thin‹ sense possessing a property. Hence it is a state of affairs. So we can say both that the world is a world of particulars in the ›thick‹ sense and that it is a world of states of affaires. We are saying the same thing in different words. […] we can say that the world is a world of states of affairs as well as saying that it is a world of [›thick‹] particulars.«946
Somit wird deutlich, daß ARMSTRONG keinen Unterschied zwischen Einzeldingen und ihren Bestimmungen und Sachverhalten sieht. »States of affairs« oder Sachverhalte sind in seinen Augen »thick particulars«. Wenn von states of affairs einerseits und thick particulars andererseits gesprochen wird, dann wird, wie ARMSTRONG betont, lediglich mit verschiedenen Worten dasselbe gesagt. ARMSTRONG entgehen die oben genannten und veranschaulichten wesentlichen Unterschiede zwischen Sachen und Sachverhalten.947 Hätte ARMSTRONG Recht, dann ist nicht einzusehen, warum der Sachverhalt, daß ein Wort aus vierzehn Buchstaben besteht, nicht auch seinerseits das fragliche Wort ist und aus vierzehn Buchstaben besteht. Denn da der Sachverhalt angeblich nichts anderes ist als eine konkrete Entität, dürfte er nichts anderes sein als ein aus vierzehn Buchstaben zusammengesetztes Wort. Aber es ist nicht nur dieser Sachverhalt kein aus vierzehn Buchstaben zusammengefügtes Wort, Sachverhalte können unmöglich Worte sein. Mehr noch: Sachverhalte können unmöglich die Gegebenheiten und Bestimmungen dieser Gegebenheiten sein, auf welche sie bezogen sind.
945 946 947
ARMSTRONG [1978], 114. ARMSTRONG [1978], 114f. Vgl. WETZEL [2003b], § 2.
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5.4 Vendlers Sicht der Beziehung zwischen Sachverhalten bzw. »facts« und Ursächlichkeit VENDLER befaßt sich ausdrücklich mit der Frage nach dem Zusammenhang von Sachverhalten und Ursächlichkeit. Er ist der Auffassung, daß Ursachen bzw. das, was etwas verursacht, in jedem Fall Sachverhalte sein müssen. VENDLER unterscheidet im Rahmen seiner Überlegungen zu dieser Frage zunächst zwischen den von ihm so genannten »perfekten« und »imperfekten Nominalisierungen«. Perfekte Nominalisierungen sieht VENDLER in Formulierungen wie Sein-Singendes-Liedes (his singing the song) oder das wunderschöne Singen des Liedes, das wir gehört haben (the beautiful singing of the song we heard), gegeben. Imperfekte Nominalisierungen begegnen laut VENDLER in Formulierungen wie, daß er das Lied sang (that he sang the song), oder Seindas-Lied-gesungen-Haben (his having sung the song).948 VENDLER ist nun der Meinung, daß die imperfekten Nominalisierungen Sachverhalte bzw. Tatsachen bezeichnen. Im Unterschied dazu bezeichneten die perfekten Nominalisierungen Ereignisse, wobei Sachverhalte und Ereignisse in VENDLERS Augen scharf voneinander zu unterscheiden und nicht etwa, wie beim frühen CHISHOLM, Ereignisse als eine Unterart von Sachverhalten anzusehen sind.949 VENDLERS Überzeugung, wonach allein Sachverhalte Ursachen sein können, wird von ihm dadurch untermauert, daß Ursachen durch imperfekte Nominalisierungen bezeichnet werden (können).950 So 948
949
950
VENDLER [1967], 705. S. zu den Ausführungen in diesem Abschnitt auch TEXTOR [2001], 122f. VENDLER ist nicht der Auffassung, daß neben den Ursachen auch deren Wirkungen Tatsachen bzw. Sachverhalte sind. Wirkungen sind in VENDLERS Augen keine Tatsachen, sondern Ereignisse. Anders gewendet ist VENDLER der Auffassung, daß es Tatsachen sind, die Ereignisse verursachen. »I agree […] that it is events that are caused.« VENDLER [1967], 704. VENDLER [1967], 706f. »That he sang the song, or his having sung the song, is a fact and not an event, but his beautiful singing of the song is an event and not a fact.« VENDLER [1967], 708. »Having gathered our ammunition, we are ready to take a crack at causes. From what I have said thus far it follows that causes are facts and not events, if and only if, first, the word ›cause‹ can be ascribed to or can replace imperfect nominals; second, its co-occurrence set is the same as that of ›fact‹ (and its group); and third, the co-occurrence set of ›event‹ (and its family) is alien to it.« VENDLER [1967], 708.
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Kapitel 5
steht z.B. in der Formulierung: »Die Tatsache, daß die Kavallerie zu spät eintraf, bewirkte die Niederlage« die imperfekte Nominalisierung, daß die Kavalerie zu spät eintraf, für eine Tatsache bzw. einen Sachverhalt und zugleich für eine Ursache, da es laut VENDLER diese Tatsache ist, welche die Niederlage bewirkte.951 VENDLER sieht hier völlig richtig, daß sprachliche Gebilde wie daßSätze, welche er zu den »imperfekten Nominalisierugen« zählt, Ursachen bezeichnen können. Er hat ebenfalls Recht, wenn er sagt, daß durch dasselbe grammatische Gebilde auch Sachverhalte bezeichnet werden können. An dieser Stelle gibt es zwischen VENDLERS Auffassung und den in dieser Arbeit zum Ausdruck kommenden Ergebnissen keinen Unterschied. Wie bereits erwähnt, könnte ein und dasselbe sprachliche Gebilde grundsätzlich »alles mögliche« bezeichnen. Aber die bloße Identität eines sprachlichen Gebildes bedeutet noch nicht, daß die bezeichneten Gegebenheiten identisch sind. Nur weil ein und derselbe daß-Satz äquivok sein kann, d.h. einmal einen Sachverhalt und ein andermal eine Ursache bezeichnen kann, heißt dies noch nicht, daß Sachverhalte bzw. nur Sachverhalte Ursachen sein können. So bezeichnet z.B. in der Formulierung: »Es ist wahr, daß Oedipus seine Mutter heiratete, wenn es eine Tatsache ist, daß Oedipus seine Mutter heiratete«, welche für VENDLER übrigens das Wesen der Wahrheit als Korrespondenz illustriert,952 derselbe daß-Satz, »daß Oedipus seine Mutter heiratete«, sowohl eine Proposition als den von dieser Proposition intendierten Sachverhalt, obwohl beide an sich völlig verschiedende Gegebenheiten sind. Wenn nun VENDLER aufgrund der imperfekten Nominalisierungen meint, daß immer Sachverhalte als Ursachen fungieren, dann verwechselt er zwei völlig verschiedene Gegebenheiten aufgrund der Möglichkeit, daß beide Gegebenheiten durch ein und dasselbe sprachliche Gebilde bezeichnet werden können. Die Niederlage in einer Schlacht kann unmöglich von dem Sachverhalt verursacht werden, daß die Kavallerie zu spät eintraf, denn dieser Sachverhalt ist weder Schlachtroß und Reiter noch kann der Sachverhalt als solcher zu spät auf dem Schlachtfeld eintreffen. Der 951 952
Das »Kavalleriebeispiel« wird hier von TEXTOR [2001], 122 übernommen. »Facts precede all these things, and beliefs, statements, and the like may fit, agree with, or correspond to the facts, in which case they are true.« VENDLER [1967], 710.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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Sachverhalt ist den in ihn eingehenden Daten gegenüber transzendent. Aber eine diesen Daten gegenüber transzendente Gegebenheit wie der Sachverhalt kann ebensowenig die Niederlage bewirken wie der Sachverhalt, daß ein Fahradfahrer kräftig in die Pedale tritt – der als Sachverhalt weder ein Fahradfahrer noch dessen Tritt in die Pedale sein kann – die Bewegung des Fahrades bewirken kann. Wenn VENDLER davon sprechen würde, daß der Sachverhalt, daß die Kavallerie zu spät eintraf, der Grund für den daraus folgenden Sachverhalt, daß die Schlacht verloren wurde, darstellte, dann wäre die für Sachverhalte einschlägige Ursprungsrelation treffend erfaßt. Überhaupt scheint es so, daß VENDLER die beiden verschiedenen Relationen von Grund und Folge einerseits und Ursache und Wirkung andererseits nicht eindeutig voneinander scheidet. Denn ein weiterer Grund, warum VENDLER meint, daß Ursachen Sachverhalte sind, besteht darin, daß sowohl Ursachen als auch Sachverhalte, laut VENDLER, dieselbe Eigenschaft hätten, erklären zu können, warum etwas geschehen sei.953 Aber mit der Frage, warum etwas geschieht, muß nicht notwendigerweise eine Kausalrelation intendiert sein. Vielmehr könnte es sich um die davon ganz verschiedene Grund-Folge-Relation handeln. VENDLER hat also einerseits völlig Recht, wenn er sagt, daß ein Sachverhalt zu erklären vermag, warum etwas geschah, aber dies bedeutet noch nicht, daß Ursachen Sachverhalte sein müssen. Es bedeutet lediglich, daß ausschließlich Sachverhalte in einer Form von Ursprungsrelation stehen können, und das ist die Grund-Folge-Relation. Daß die Kavallerie zu spät eintraf, ist nicht die Ursache für die Niederlage, sondern der Grund, aus dem der Sachverhalt folgt, daß die Schlacht verloren wurde. Eine zu spät eintreffende Kavallerie mag alles Mögliche verursachen können – etwa lautes Hufgeklapper oder den Frust des Feldherrn –, aber der Sachverhalt, daß die Kavallerie zu spät eintraf, ist nicht das, was da verspätet eintrifft und ist schon gar nicht eine zu spät eintreffende Kavallerie. 953
»The second point can be established by collecting some paradigms of the cooccurrence set of ›cause‹. What can one do with causes, what can they do, and what are their typical attributes? Scientists and detectives can find or deduce, mention or state causes as much as they can find, deduce, mention, and state facts. The causes themselves, like facts, may indicate, lead to, or explain other things [Kursiv v. Verf.]. […] It is easy to see, that the word ›result‹ shares the same set.«VENDLER [1967], 709.
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Kapitel 5
5.5 Süßbauers Unterscheidung von Urteilsinhalten und Sachverhalten durch Unterscheidung ihrer Bestandteile SÜßBAUER stellt heraus, daß Propositionen und Sachverhalte in aller Regel unter dem Gesichtspunkt ihrer verschiedenen Rollen oder Funktionen voneinander abgegrenzt werden. So haben Propositionen, wie SÜßBAUER zusammenfaßt, die drei Rollen oder Funktionen, »das zu sein, was ein Satz bedeutet, […] das zu sein, was Inhalt eines Denkaktes ist, […] das zu sein, was wahr oder falsch sein kann (d.h. was einen Wahrheitswert haben kann).«954
Propositionen »funktionieren« demnach als »Satzsinn«, »Denkinhalt«, und »Wahrheitsträger«.955 Sachverhalte sind nun von Propositionen verschieden, da ihnen die drei ganz anderen Rollen oder Funktionen eignen »das zu sein, worüber ein Satz aussagt, […] das zu sein, worüber ein Denkakt ist, […] das zu sein, was etwas wahr oder falsch macht (d.h. wovon die Wahrheit oder Falschheit von etwas abhängt).«956
Sachverhalte haben demnach die Funktion »Satzobjekt«, Denkobjekt« und »Wahrmacher« zu sein.957 SÜßBAUER will nun über die rollenspezifische Unterscheidung von Propositionen und Sachverhalten hinaus rollenneutral und »unabhängig von den Rollen und Funktionen […] zwischen Propositionen und Sachverhalten differenzieren«.958 Er ist der Auffassung, daß der rollenneutrale Unterschied zwischen Propositionen und Sachverhalten dann besonders deutlich wird, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welchen Bestandteilen sich beide Entitäten zusammensetzen. »Eine grundlegende Verschiedenheit zwischen einer Proposition und einem Sachverhalt wird offenbar, wenn wir zu entdecken suchen, was die
954 955 956 957 958
SÜßBAUER [1987], 12. SÜßBAUER [1987], 10. SÜßBAUER [1987], 12. SÜßBAUER [1987], 12. SÜßBAUER [1987], 12.
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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Bestandteile sind, aus denen eine Proposition bzw. ein Sachverhalt konstituiert ist.«959
Nachdem SÜßBAUER sowohl für die Proposition als auch für den Sachverhalt den sprachlichen Ausdruck »[Der Parteivorsitzende der KPdSU traf den Präsidenten der USA in Reykjavik]« eingeführt hat, fährt er fort: »Die […] Verschiedenheit [zwischen Proposition und Sachverhalt] besteht darin: Der Sachverhalt [Der Parteivorsitzende der KPdSU traf den Präsidenten der USA in Reykjavik] hat als seine Bestandteile Individuen wie Michael Gorbatschow und Ronald Reagan, die Stadt Reykjavik sowie die zwischen diesen drei Objekten bestehende Relation ›Treffen‹. Hingegen werden wir von der Proposition [Der Parteivorsitzende der KPdSU traf den Präsidenten der USA in Rykjavik] nicht behaupten können, die Stadt Reykjavik, Michael Gorbatschow oder Ronald Reagan seien Bestandteile von ihr. Vielmehr sind die Teile, aus denen eine Proposition zusammengesetzt ist, begrifflicher (intensionaler) Natur. Nur begriffliche Entitäten sind Bestandteile einer Proposition, nicht etwa die Stadt Reykjavik mit ihrer städtebaulichen Struktur, Institutionen, Gebäuden, Menschen etc. Letztere ist Bestandteil von [Der Parteivorsitzende der KPdSU traf den Präsidenten der USA in Reykjavik]. Die Bestandteile unseres betrachteten Sachverhaltes sind in ihrer ontologischen Charakterisierung unterschieden von denjenigen unserer Beispielproposition, welche, wie die Proposition als Ganze, begrifflicher Natur sind.«960
SÜßBAUER sieht völlig richtig, daß Propositionen und Sachverhalte trotz aller notwendigen Bezüge zwei völlig verschiedene Entitäten darstellen und daher streng voneinander zu unterscheiden sind. Auch sieht er richtig, daß sich Propositionen notwendigerweise aus Begriffen zusammensetzen, während dies bei Sachverhalten nicht der Fall sein kann. Aber darüber hinaus ist SÜßBAUER offensichtlich der Meinung, daß die in Sachverhalte eingehenden Entitäten reale Bestandteile der Sachverhalte sind. Da SÜßBAUER das Verhältnis von Ganzem und Teil nicht näher beleuchtet, läßt sich nur vermuten, von welcher Überlegung er sich hat leiten lassen. Es könnte sich dabei um folgende Überlegung gehandelt haben: Propositionen setzten sich aus einer Reihe von Begriffen zusammen. Diese Begriffe sind 959 960
SÜßBAUER [1987], 10. SÜßBAUER [1987], 10f.
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reale Teile der Proposition. Das notwendige objektive Korrelat von Propositionen sind Sachverhalte. Wenn nun Propositionen sich aus begrifflichen Teilen zusammensetzen, dann wird sich der Sachverhalt als das objektive Korrelat des Urteilsinhaltes aus den objektiven Korrelaten der Begriffe des Urteils zusammensetzen. Folglich besteht der Sachverhalt [Der Parteivorsitzende der KPdSU traf den Präsidenten der USA in Reykjavik] aus Gorbatschow und Reagan und Reykjavik als dessen realen Teilen. Aber wie oben bereits ausgeführt wurde, können die in Sachverhalte eingehenden Sachen bzw. Gegebenheiten unmöglich reale Teile des in bezug auf sie bestehenden Sachverhaltes sein, da Sachverhalte den in sie eingehenden Sachen gegenüber notwendigerweise transzendent sind. Der Sachverhalt [Der Parteivorsitzende der KPdSU traf den Präsidenten der USA in Reykjavik] kann unmöglich, auch nicht teilweise, der Parteivorsitzende der KPdSU oder die Stadt Reykjavik sein. Der Sachverhalt besteht ja hier und heute, während Gorbatschow und Reagan ihren Staaten seit geraumer Zeit nicht mehr vorstehen etc. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, daß die soeben angeführte Überlegung lediglich eine Vermutung darüber darstellt, warum SÜßBAUER die Auffassung zu haben scheint, daß die Gegebenheiten, auf welche sich ein Sachverhalt bezieht, reale Teile des Sachverhaltes sind. SÜßBAUER selbst äußert diese Überlegung nicht. Aber es scheint doch, daß sie den Hintergrund seiner Überlegungen bildet. Sollte es so sein wie vermutet, dann würde eine weitere Möglichkeit zu Tage treten, wie Sachverhalte und Propositionen bzw. deren Eigenschaften irgenwie miteinander verwechselt werden können. Es scheint nämlich, als würde SÜßBAUER das Verhältnis zwischen Sachverhalten und den in sie eingehenden Sachen von dem Verhältnis zwischen Urteilsinhalten und den Begriffsinhalten, aus denen Urteilsinhalte sich in der Tat real zusammensetzen, ableiten. In diesem Fall wäre in einer unzulässigen Weise von Gegebenheiten in der logischen Sphäre auf Gegebenheiten der ontologischen Sphäre geschlossen worden. Daß von dem Ganzes-Teile-Verhältnis zwischen Urteilsinhalten und Begriffsinhalten jedoch nicht auf ein Ganzes-Teile-Verhältnis zwischen Sachverhalten und den in sie eingehenden Sachen geschlossen werden kann, zeigt einmal mehr, daß Sachverhalte Entitäten sui generis darstellen. SÜßBAUERS Versuch einer rollenneutralen Unterscheidung zwischen Urteilsinhalten und Sachverhalten führt zur Konstruktion eines real unmög-
Kritische Anmerkungen zu einigen Sachverhaltsbegriffen
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lichen Verhältnisses zwischen Sachverhalten und dem in sie eingehenden Sachen, wobei die wesensnotwendige Transzendenz von Sachverhalten gegenüber den in sie eingehenden Sachen letztlich verloren geht, da Sachverhalte zur Summe von Sachen bzw. Sachen zu realen Teilen der Sachverhalte werden. SÜßBAUER sagt zwar nicht, daß er seine auf das Verhältnis von Ganzem und Teil konzentrierte Unterscheidung für die einzig mögliche rollenneutrale Unterscheidung hält, er führt aber auch keine anderen an und erwähnt auch nicht, daß es darüber hinaus noch andere wenigstens geben könnte. SÜßBAUER scheint somit nicht zu sehen, daß etwa die Daseinsform des Bestandes Sachverhalte ebenso rollenneutral von anderen Entitäten abgrenzt. Dasselbe gilt für die sehr spezifische »Transzendenz« der Sachverhalte, die so keinesfalls beim Verhältnis zwischen Urteilsinhalten und Begriffsinhalten vorliegen kann.
6. NOTWENDIGE SACHVERHALTE ERKENNTNIS DER REZEPTIVEN GEWISSHEIT DER ERKENNTNIS
UND DIE MÖGLICHKEIT DER TRANSZENDENZ UND RESTLOSEN
6.1 Über die allen intentionalen Objekten eignende Transzendenz gegenüber dem sie intendierenden Akt des Bewußtseins und ihre Bedeutung Es ist bereits am Eingang des dritten Kapitels deutlich geworden, daß das Urteilen als Tätigkeit des Bewußtseins immer ein Objekt hat, auf welches es sinnvoll und bewußt gerichtet ist. Urteile sind als Bewußtseinsakte immer eine Form des Bewußtseins von, da immer über etwas geurteilt wird und nicht anders geurteilt werden kann. Aufgrund dieser unveräußerlichen Eigenschaft der Urteilsakte als Urteilsakte zählen sie zu den intentionalen Akten. Intentionalität ist – wie bereits angeklungen – das bewußte und sinnvolle Gerichtetsein des Bewußtseins auf Etwas überhaupt. Es ist ebenfalls deutlich geworden, daß sich der Urteilsakt in seiner intentionalen Verfassung unmöglich auf beliebige Objekte richten kann. Das Urteil ist als behauptender Akt notwendigerweise auf Sachverhalte ausgerichtet, da Sachverhalte die einzige Gegenständlichkeitsart darstellen, welche sich behaupten »läßt« oder besser, die Behauptungen »auf sich ziehen« kann. Freilich sind Urteile nicht die einzigen Akte intentionaler Art. Es gibt viele weitere intentionale Akte, wie etwa Begriffe. Auch von diesen war bereits die Rede. Eine weitere Tätigkeit des Bewußtseins ist der Erkenntnisakt. Auch dieser Akt ist intentional, da jedes Erkennen ein Erkennen von etwas ist. Jedes Erkennen hat ein Objekt, auf welches das Bewußtsein als erkennendes gerichtet sein muß, und ohne ein intentionales Objekt kann von Erkenntnis nicht nur keine Rede sein, vielmehr kann es Erkenntnis ohne ein intentionales Objekt nicht geben.961 Die Intentionalität ist von herausragender epistemologischer Bedeutung. Denn »die wichtigste Implikation der Intentionalität der Erkenntnis ist die Tatsache, daß das Objekt«, auf welches ein erkennendes Bewußtsein intentional gerichtet ist, »kein realer Bestandteil« des ihn anzielenden Bewußtseins sein kann. Ein intentionales Objekt ist der es anvisierenden Intention 961
S. dazu CAJTHAML [2003], 103. S. auch SEIFERT [1976], 48. 54-88.
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Kapitel 6
gegenüber »transzendent«, wie CAJTHAML treffend unterstreicht,962 womit das Objekt niemals, auch nicht teilweise, das es anvisierende Bewußtsein selbst sein kann. Diese Eigenschaft der Intentionalität läßt sich, wie CAJTHAML eindrücklich herausarbeitet, »besonders deutlich an den intentionalen Erlebnissen, deren Objekte keine reale Existenz haben« veranschaulichen, denn an »ihnen wird nicht nur deutlich, daß die charakteristischen Wesensmerkmale der Akte von denjenigen ihrer Objekte deutlich verschieden sind, sondern auch, daß sich die Seinsweisen des intentionalen Objektes und des auf es intentional gerichteten Aktes wesentlich unterscheiden.«963
Im Rückgriff auf CAJTHAMLS Ausführungen sollen nun Akte des Halluzinierens und deren Objekte hinsichtlich der jeweils zu unterscheidenden »Wesensmerkmale« einerseits und der unterschiedenen »Seinsweisen« anderseits eingehender untersucht werden.964 Zunächst gilt es deutlich zu sehen, daß auch der Akt der Halluzination notwendigerweise ein intentionaler Akt ist. Denn die besondere Tätigkeit des Bewußtseins, welche Halluzination genannt wird, muß, um eine Halluzination sein zu können, immer etwas halluzinieren.965 Eine »Halluzination« ohne intentionales Objekt ist evidentermaßen ein widersinniges 962 963 964
965
CAJTHAML [2003], 103. CAJTHAML [2003], 103. CAJTHAML [2003], 103. Zu beachten ist hier, daß CAJTHAML sich auf die Halluzination und das Träumen nur insofern bezieht, als sie Formen der Täuschung darstellen. Weder steht bei ihm die Halluzination als Täuschung im Vordergrund noch gebraucht er die hier angeführten Beispiele. S. dazu auch die erkenntnistheoretischen Ausführungen in HILDEBRAND [1976] und SEIFERT [1976], auf welche sich CAJTHAML seinerseits stützt und die er in äußerst gelungener Weise aufarbeitet. So kommt es auch, daß unter »Halluzination« in vielen, wenn nicht den meisten Fällen, das Objekt der Halluzination verstanden wird. So wird beispielsweise davon gesprochen, daß der schwarze Mann, die weiße Maus oder das Feuer und der Lichtschimmer und dgl. bloß eine Halluzination war. Der Terminus Halluzination ist also äquivok. Er kann einmal die entsprechende Tätigkeit oder die Aktivität unseres Bewußtseins meinen, das halluziniert, und ein andermal das, was halluziniert wird. Wenn hier von Halluzination gesprochen wird, dann im Sinne des Bewußtseinsaktes. Andernfalls wird ausdrücklich vom »halluzinierten Objekt« die Rede sein.
Notwendige Sachverhalte und restlose Gewißheit der Erkenntnis
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Unding. Wenn eine Person einen Gegenstand halluziniert, etwa eine weiße Maus, dann hat dieses halluzinierte Tier neben seiner halluzinierten Färbung auch eine bestimmte Länge, Höhe und Breite, womit sie als mehrdimensionale Gegenständlichkeit erscheint. Das halluzinierende Bewußtsein selber ist aber kein Tier und schon gar nicht eine Maus, es kann auch nicht ein weiß gefärbtes Bewußtsein sein noch ist das Halluzinieren samt Schwanz 12cm lang oder gar von einer bestimmten Schulterhöhe. Der Gegenstand hat also in der Halluzination unbeschadet seiner Irrealität Eigenschaften, die dem Akt der Halluzination als einem »Bewußtsein von« unmöglich eignen können. Das die Sonne und ihre Temperatur halluzinierende Bewußtsein etwa ist selber keine Sonne, und es hat auch nicht die entsprechende Temperatur.966 Der diesen Illustrationen zugrundeliegende allgemeine Sachverhalt besteht darin, daß jedwedes intendierte Objekt nicht die es intendierende Intention oder das es intendierende Bewußtsein sein kann, auch nicht ein »Stück« davon. Das gilt nicht nur von einer realen weißen Maus und einem sie intendierenden Akt, sondern auch von der rein halluzinierten weißen Maus – die als halluziniertes Objekt nichts weiter ist als ein »Gedankending«, d.h. ein gedanklich »ausgesponnenes« Ding – und dem sie intendierenden Akt.967 Der durch einen Bewußtseinsakt intendierte Gegenstand, sei er real oder lediglich ein Gegenstand von rein intentionaler Objektivität, ist ferner nicht selber wieder ein Bewußtseinsakt. Wenn etwa ein Nilpferd bewußt intendiert wird, so ist das Nilpferd, welches da gedacht wird, nicht selber wieder eine Denktätigkeit. Das Nilpferd wird zwar Gegenstand eines intendierenden Bewußtseins, es selbst als Intendiertes ist aber kein intendierendes Bewußtsein, es denkt nicht wieder etwas bzw. an etwas. Wenn bewußt irgendein Inhalt »in Angriff« genommen wird, etwa in dem Begriffsinhalt »Pfeife«, dann faßt die Pfeife als so bewußte ihrerseits nicht wieder bewußt einen Gegenstand. Die Person ist es, die sich in ihrem Bewußtsein, sofern es intentional ist, auf ein Objekt bezieht und sich
966 967
S. CAJTHAMLS Beispiel in [2003], 103, Fußn. 189. S. auch in dieser Arbeit Fußn. 976. S. CAJTHAML [2003], 103f.
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Kapitel 6
meinend darauf richtet.968 Das »Bewußte« selber ist nicht das Bewußtsein oder anders: Der Bewußtseinsinhalt kann unmöglich das aktive Bewußtsein sein. Im Fall rein fingierter Objekte ist zu sehen, daß diese, weil sie Objekte der Fiktion darstellen, selber unmöglich das Fingieren sein können, das sie hervorbringt, denn sie fingieren ihrerseits nichts und sind selber nicht wieder intentional ausgerichtet. Wenn also CAJTHAML unterstreicht, daß »die charakteristischen Wesensmerkmale der Akte von denjenigen ihrer Objekte deutlich verschieden sind«, so kommt dies insbesondere darin zum Ausdruck, daß die Akte eine Denktätigkeit sind, während die gedachten Inhalte unmöglich eine Denktätigkeit sein können.969 Die intendierten Inhalte, wie etwa der Begriffsinhalt »Maus« oder »Haus«, aber auch die Inhalte aller Erkenntnisakte, können unmöglich »reale Bestandteile« der entsprechenden Akte sein, vielmehr sind die Inhalte den Akten gegenüber »transzendent«, wie CAJTHAML zu Recht betont.970 In The Problems of Philosophy, kommt Bertrand RUSSELL auf den hier gemeinten wesentlichen Unterschied zwischen »Idee« bzw. dem Begriff im Sinne der Denktätigkeit (act of thinking) und »Idee« im Sinne des Denkinhalts am Beispiel der »Weiße« zu sprechen, und macht deutlich, daß das Gedachte des Denkens nicht die Denktätigkeit oder ein Stück der Denktätigkeit ist. RUSSELL arbeitet diesen Unterschied anschaulich heraus, wenn er sagt: »In the strict sense, it is not is not whiteness that is in our mind, but the act of thinking of whiteness. The connected ambiguity in the word ›idea‹, which we noted at the same time, also causes confusion here. In one sense of this word, namely the sense in which it denotes the object of an act of thought, whiteness is an ›idea‹. Hence, if the ambiguity is not guarded against, we may come to think that whiteness is an ›idea‹ in the other sense, i.e. an act of thought; an thus we come to think that whiteness is mental.«971
968
969 970 971
Zum Zusammenhang zwischen dem intendierenden Bewußtsein und den intendierten Gehalten und zur »Mittelstellung« etwa der Begriffe zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit s. SEIFERT [1976], 90-98. CAJTHAML [2003], 103 CAJTHAML [2003], 103. RUSSELL [1999], 71.
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DESCARTES hat denselben notwendigen Unterschied im Auge, wenn er in der fünften Erwiderung auf die Einwände gegen gewisse Inhalte seiner Meditationen schreibt: »Denn woher hast du das, daß alles, was der Geist denkt, in ihm selbst sein müsse? Wahrlich, wenn das der Fall wäre, dann müßte er, wenn er die Größe der Welt erkennt, auch sie in sich haben, und so wäre er nicht nur ausgedehnt, sondern an Ausdehnung noch größer als die Welt [Übers. BUCHENAU].«972
Diese Ausführungen vermögen auch noch einmal den Unterschied zwischen Urteilakt und Urteilsinhalt zu vertiefen und zeigen, daß Begriffsund Urteilsinhalte keineswegs überflüssige noch gar nutzlose und daher völlig zu vernachlässigende, »nutzlose« (useless) »platonistische« Restbestände in der Philosophie darstellen, wie WENISCH zu Recht betont.973 Es handelt sich bei ihnen vielmehr um Gegebenheiten, ohne die die Wahrheit gleichsam ihr Wesen verlieren würde. Vielmehr sind gerade auch Urteilsinhalte bzw. Propositionen »not superfluous entities, but phenomena of fundamental importance; disregarding them constitutes a grave error which is at the root of great confusion in contemporary epistemology and logic.«974
Wendet man sich nun der Seinsweise des intentionalen halluzinierenden Bewußtseins einerseits und der Seinsweise des intendierten hallzuzinierten Objekts andererseits zu, so wird auch hier ein frappanter Unterschied deutlich. Halluziniert eine Person, dann ist der Akt des Halluzinierens ganz und gar real, objektiv und ›vorhanden‹. Das halluzinierte Objekt hingegen, welches selber weder halluziniert noch halluzinieren kann, scheint dem 972
973
974
Meditationen [1972], 355. »Unde enim habes id omne quod mens intelligit, in ipsa esse debere? Profecto si hoc esset, cum magnitudinem orbis terrarum intelligit, illam etiam is se haberet, atque ita non modo esset extensa, sed etiam extensione major orbe terrarum.« Meditationes [1964], 390.« Vgl. SEIFERT [1976], 64. »Thus, it is necessary […] to argue against the suspicion that propositions are useless entities invented by philosophers who did not rid themselves of the eggshells of Platonism.« WENISCH [1988], 112 WENISCH [1988], 118.
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Halluzinierenden zwar völlig wirklich zu sein, ist es aber nicht. Wären nun die Objekte der intentionalen Akte reale Bestandteile derselben, dann müßten sie entweder immer und in jedem Fall ebenso real sein, wie es die Bewußtseinsakte sind, oder es müßten die Akte ebenso irreal sein, wie es die halluzinierten Inhalte sind. Die sich ergebende Absurdität dürfte deutlich genug sein. Wenn CAJTHAML davon spricht, daß sich nicht nur »die […] Wesensmerkmale […], sondern auch […] die Seinsweisen des intentionalen Objektes und des auf es intentional gerichteten Aktes wesentlich unterscheiden«, dann läßt sich dies insofern besonders gut an Täuschungen illustrieren, als etwa ein halluzinierter Inhalt »nur die«, wie CAJTHAML sich ausdrückt, »›dünne‹ Seinsweise eines rein intentionalen Objektes« besitzt, während der Akt der Halluzination »voll wirklich« sein muß.975 Kurzum: Die Transzendenz der intendierten Inhalte gegenüber den sie intendierenden Akten wird nicht nur anhand der Wesensverschiedenheit, sondern auch anhand der unterschiedlichen Seinsweise beider Gegebenheiten deutlich. SEIFERT verdeutlicht dies am Beispiel eines rein intentionalen Hauses: »Das Haus zeigt sich mir in seiner materiellen Natur, einer bestimmten Ausdehnung, Gestalt, mit Zahlen angebbaren Proportionen von Länge, Höhe und Tiefe, mit bestimmten Farben usw. Keine einzige dieser Eigenschaften kommt meinem bewußten Akt zu; wie sehr ich ihn auch durchforschen mag, werde ich nie in ihm irgendeine Eigenschaft seines ›bloß intentionalen Gegenstandes‹ finden. In diesem Akt findet sich weder ein Haus noch das Bild eines Hauses, wie es sich in einem Spiegel finden kann. Die Frage des Seins und Nichtseins des Hauses liegt ganz jenseits der realen Existenz meines bewußten Seins. Gerade die Tatsache, daß der Gegenstand, von dem ich Bewußtsein habe, nicht real ist, während mein bewußt vollzogenes Träumen voll real ist, beweist die Wahrheit [sic], daß der Gegenstand meines ›Bewußtseins von‹ kein Teil oder Inhalt meines
975
»Während ein tatsächlich vollzogener bewußter Akt voll wirklich ist, besitzt das geträumte bzw. halluzinierte Objekt nur die ›dünne‹ Seinsweise eines rein intentionalen Objektes. Dieses Objekt lebt ganz und gar ›von Gnaden‹ meiner intentionalen Akte und besitzt somit keine autonome Existenz, sondern nur eine Existenz für mein Bewußtsein. Wir sehen also, daß die intentionalen Objekte keine realen Bestandteile intentionaler Akte sind, was selbstverständlich auch für die Erkenntnisobjekte gilt, da sie intentional sind.« CAJTHAML [2003], 103f.
Notwendige Sachverhalte und restlose Gewißheit der Erkenntnis
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Bewußtseins ist. Denn das geträumte Haus existiert nicht in mir, sondern es existiert überhaupt nicht.«976
Freilich kann ein Objekt auch real sein und ist es in aller Regel auch, insofern die meisten Menschen wohl keine Halluzinanten sein dürften. Aber gerade in diesem Fall gilt a fortiori, daß die reale Seinsweise der intentionalen Objekte nicht die Realität des sie intendierenden Bewußtseins sein kann. Die Intentionalität ist von weittragender Bedeutung. Sie ist die notwendige Bedingung dafür, daß ein bewußtes Wesen in seinem Bemühen um Erkenntnis jemals in Kontakt kommen kann mit etwas, das es nicht selbst ist und das selbst nichts anderes wäre als ein Bewußtsein oder ein realer Teil eines Bewußtseins. RUSSELL sieht die mit der Intentionalität verbundenen Unterschiede zwischen Bewußtsein und Objekt des Bewußtseins in ihrer grundsätzlichen Tragweite für die Erkenntnis in aller Deutlichkeit, wenn er schreibt: »This question of the distinction between act and object in our apprehending of things is vitally important, since our whole power of acquiring knowledge is bound up with it. The faculty of being acquainted with things other than itself is the main characteristic of a mind; it is this that constitutes the mind’s power of knowing things.«977
Freilich wird gerade am Beispiel der Halluzination klar, daß die Intentionalität des Bewußtseins trotz der damit notwendig verbundenen »Transzendenz des Objektes gegenüber dem Akt, […] die Seinsautonomie der Erkenntnisgegenstände noch nicht impliziert und somit auch nicht beweisen kann«, wie CAJTHAML zu Recht hervorhebt. »Denn die Träume und Halluzinationen gelten ja trotz ihres eindeutig intentionalen Charakters als klassische Beispiele der Täuschung, d.h. des Gegenteils der Erkenntnis. Der Grund dafür ist offensichtlich, daß ein geträumtes bzw. halluziniertes Objekt, z.B. eine Oase, zwar den Anspruch auf reale Existenz erhebt, dieser aber (meistens) nicht erfüllt wird.«978
976 977 978
SEIFERT [1976], 63. RUSSELL [1999], 28. CAJTHAML [2003], 104f.
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Aber just an einem derart klassischen Beispiel von Täuschung wie der Halluzination scheinen Realitäten auf. Denn wenn eine weiße Maus halluziniert wird, dann ist der Umstand, daß eine Maus bewußt gegeben ist oder daß eine bestimmte Färbung bewußt gegeben ist, keine Halluzination und kann keine Halluzination sein. Behauptet der Halluzinierende – dem der eigene Zustand freilich nicht bewußt ist –, daß die halluzinierte weiße Maus real ist, dann ist dieses Urteil falsch, denn da ist nirgends eine wirkliche weiße Maus, und der Sachverhalt des Real-seins-der-weißenMaus besteht nicht. Aber behauptet der Halluzinierende, daß seinem Bewußtsein eine weiße Maus gegeben ist, dann ist das Urteil wahr, weil der Sachverhalt, daß seinem Bewußtsein eine weiße Maus gegeben ist, wirklich besteht, und das nicht obwohl, sondern gerade weil die Person halluziniert. Dieser Sachverhalt ist nicht irreal wie die weiße Maus, er ist vielmehr höchst real, er besteht in der Tat, ja ohne seinen objektiven Bestand könnte der Halluzinierende nicht halluzinieren!979 Auf diesem Fundament wird ferner deutlich: Obschon die weiße Maus einer Halluzination nicht real existiert bzw. nicht real da ist, ist weder das in der Halluzination gegebene Wesen »Maus« noch deren »Färbung« und »Länge« eine Halluzination. Mehr noch: Dies alles kann unmöglich eine Halluzination sein! Mit anderen Worten: Die irreale Maus der Halluzination fundiert höchst real bestehende Sachverhalte, wie daß die Maus als weiße bewußt gegeben ist, etc. Dieser Zusammenhang ist, wie CAJTHAML schreibt: »eine merkwürdige oft übersehene Tatsache, die besonders dann deutlich wird, wenn man mit Husserl und vor allem mit Reinach zwischen der formal-ontologischen Kategorie des Gegenstandes und der des Sachverhaltes scharf unterscheidet. Wir können auch sagen: Die Aussagen über fiktive Gegenstände sind tatsächlich objektiv wahr, wenn sie das Bestehen objektiv bestehender Sachverhalte behaupten. Umgekehrt können Aussagen über real existierende Gegenstände illusorisch bzw. irrtümlich sein, wenn die Sachverhalte, auf die sie sich behauptend beziehen, nicht objektiv bestehen […].«980
979 980
S. auch CAJTHAMLS Beispiel [2003], 105. CAJTHAML [2003], 105f.
Notwendige Sachverhalte und restlose Gewißheit der Erkenntnis
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So wird deutlich: Die Gegenstände echter Erkenntnisse müssen nicht unbedingt real existierende Objekte sein. Ja, es ist unmöglich, daß sich alle echten Erkenntnisse nur auf real existierende Objekte beziehen können. Es ist für die echte Erkenntnis überhaupt »nicht maßgeblich«, wie CAJTHAML unterstreicht, »ob der erkannte Gegenstand real existiert, bzw. auf welcher Realitätsstufe er sich befindet«. Es kommt einzig und allein darauf an, daß der Gegenstand bzw. die Gegenständlichkeit, das ›Ding‹, »so aufgefaßt wird, wie er ›wirklich‹, ›an sich‹ ist.«981 In diesem nicht auf reale Existenz eingeengten Sinn ist auch, wie CAJTHAML weiter zeigt, der Begriff vom »Realitätsanspruch« des Objektes zu verstehen.982 In jedem echten Erkenntnisakt muß zwar der »Realitätsanspruch« des erkannten Gegenstandes erfüllt werden, aber es wäre just für Täuschungen wie Halluzinationen fatal, wenn Realität hier auf reale Existenz eingegrenzt würde. CAJTHAML macht deutlich, »daß es überhaupt keine Täuschung geben könnte, ohne daß gewisse Dinge absolut, an sich bestünden und von dem, der sich täuscht, wirklich erkannt werden. Er muß erkennen, daß wirklich ein Gegenstand ihm in der und der Art zu sein scheint. Dies muß an sich sein, und er muß es als solches erkennen, und in dieser seiner Erkenntnis darf gerade keine Täuschung und kein Irrtum sein, sonst käme es zu gar keiner Täuschung.«983
Die Maus einer Halluzination »erhebt« freilich den »Anspruch«, real zu existieren. Da sie jedoch nicht real existiert, wird der Anspruch nicht erfüllt: Sie scheint zwar real existent zu sein, ist es aber nicht. Darin gründet, daß der Sachverhalt des Real-existent-seins-der-Maus zwar den Anspruch auf Bestand erhebt, diesen Anspruch jedoch nicht erfüllt und daher nicht besteht. Ganz anders verhält es sich mit Sachverhalten, wie daß die Maus dem Halluzinierenden bewußt gegeben ist, die in der an sich irrealen bzw. rein intentionalen Maus der Halluzination fundiert sind. Obwohl die Maus 981 982
983
CAJTHAML [2003], 107. »In diesem spezifischen Sinne wollen wir von dem ›Realitätsanspruch‹ des erkannten Objektes oder Sachverhaltes sprechen, der in jedem echten Erkenntnisakt im Unterschied etwa zum Traum oder zur Fiktion nicht bloß erhoben, sondern auch erfüllt werden muß.« CAJTHAML [2003], 107. SEIFERT [1976], 74.
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irreal, d.h. in diesem Fall ein rein intentionales Objekt ist, sind diese Sachverhalte höchst real im Sinne des wirklichen Bestandes.984 Diese Sachverhalte sind keinesfalls rein intentionale Sachverhalte, die als solche nicht bestehen. Urteile, die behauptend diese Sachverhalte thematisieren, sind wahr, denn sie stimmen mit dem bestehenden Selbstverhalten der Sache überein.985 6.2 Die Bedingung der Möglichkeit, den rezeptiven Charakter aller echten Erkenntnis mit unverrückbarer Gewißheit zu erkennen Auf der Grundlage der obigen Ausführungen über die Intentionalität und den selbst in Täuschungen notwendigerweise erfüllten Realitätsanspruch gewisser Sachverhalte kann nun mit CAJTHAML gezeigt werden, daß jeder echte Erkenntnisakt notwendig rezeptiv und keinesfalls »kreatorisch« oder schöpferisch ist. »Rezeptiv« besagt hier, daß in der Erkenntnis der Gegenstand so empfangen wird, wie er wirklich ist. »Kreatorisch« hingegen besagt, »daß die erkannten Erkenntnisinhalte oder besser die erkannten Gegenständlichkeiten ›Produkte‹ der Subjektivität«, d.h. vom erkennenden Bewußtsein überhaupt hergestellt oder produziert werden, und daher »sowohl in ihrem Sein als auch ihrem Sosein« von diesem »abhängig« sind, wie CAJTHAML formuliert.986 In diesem Fall könnte von einem Erkennen der Gegenständlichkeit, wie sie an sich ist, freilich nicht mehr gesprochen werden.987 984
985
986 987
»Denn ich kann selbstverständlich erkennen, daß ich etwa von einem schönen Haus geträumt habe, daß dieses geträumte Haus so und so groß war, daß es sehr schön war usw. Solche Erkenntnisse beziehen sich auf die rein intentionale Gegenständlichkeit wie ›das von mir geträumte Haus«. Sie werden aber deswegen nicht zu bloßen Täuschungen oder Träumen. Denn die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, im Unterschied zu dem geträumten Haus, in dem sie fundiert sind, bestehen tatsächlich, objektiv, wirklich.« CAJTHAML [2003], 105. »Die Aussagen über fiktive Gegenstände sind tatsächlich, objektiv wahr, wenn sie das Bestehen objektiv bestehender Sachverhalte behaupten.« CAJTHAML [2003], 107. CAJTHAML [2003], 102. Ein kreatorisches oder schöpferisches Verständnis der Erkenntnis bezieht sich, wie sich mit CAJTHAML unterstreichen läßt, nicht auf den Akt oder die Bewußtseinstätigkeit des Erkennens, welche freilich eine Tat des Bewußtseins ist und somit von diesem hervorgebracht wird. In Frage steht nicht das Intendieren,
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Der rezeptive Charakter allen echten Erkennens ist, wie CAJTHAML ausführt, dann mit »apodiktischer Evidenz« gegeben, wenn erstens gezeigt werden kann, »daß es intentionale Akte gibt, in denen der Gegenstand so erfaßt wird, wie er an sich ist«, und wenn zudem zweitens gezeigt werden kann, daß die damit einhergehende »Übereinstimmung« zwischen Erkenntnisakt und intentionalem Objekt nicht nur tatsächlich gegeben ist bzw. »nicht bloß objektiv vorliegt.« Die Übereinstimmung als solche muß darüber hinaus so gegeben sein, »daß wir direkt und mit Sicherheit einsehen können, daß das intentionale Objekt als gegenständliches Korrelat unseres Erkenntnisaktes mehr ist als ein solches Korrelat, d.h., daß wir einsehen können, daß uns im Erkenntnisakt der Gegenstand in seinem Ansichsein gegeben ist.«988
M.a.W., es muß die Übereinstimmung als solche dem Bewußtsein so gegeben sein, daß auch die Erfüllung des Realitätsanspruches des intentionalen Korrelates der Erkenntnis unmittelbar und einsichtig gegeben ist, und zwar so, daß dieser Anspruch notwendigerweise erfüllt sein muß und nichts anderes als erfüllt sein kann. Zu diesen zwei Punkten muß mit CAJTHAML folgendes betont werden: Alle Akte, von denen der zweite Punkt gilt, von denen gilt notwendigerweise auch der erste, da der zweite Punkt das tatsächliche Vorliegen der Übereinstimmung einschließt. Aber von allen Akten, von denen der erste Punkt gilt, gilt nicht notwendigerweise auch der zweite. Denn das tatsächliche Vorliegen einer Übereinstimmung besagt nicht, daß sich das erkennende Subjekt dieser Übereinstimmung mit »unumstößlicher Sicherheit« vergewissern kann, »d.h., nicht in allen Akten, in denen die Wirklichkeit de facto so erfaßt wird, wie sie an sich ist, wird die darin liegende kognitive Transzendenz zur apodiktischen Evidenz. Noch anders ausgedrückt: Es kann Akte geben, die echte Erkenntnisse sind, die aber nicht direkt und nicht mit unumstößlicher Sicherheit als solche erkannt werden können.«989
988 989
sondern das Intendierte und damit das Objekt des Aktes. S. CAJTHAML [2003], 102. CAJTHAML [2003], 108. CAJTHAML [2003], 108.
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Die Akte sind in beiden Fällen als echte Erkenntnisse zu bezeichnen. Im zweiten Fall aber liegt tatsächliche Echtheit der Erkenntnis in einer Weise vor, daß das Subjekt über diese als solche restlose Gewißheit erlangt. Daher kann im Rückgriff auf SEIFERT von echter »Erkenntnis in einem engeren Sinne« gesprochen werden.990 Hier soll nun zunächst jene Erkenntnis betrachtet werden, von welcher der erste Punkt gilt, und das in diesem Punkt Gemeinte exemplarisch zur Gegebenheit gebracht werden. Mit CAJTHAML wird deutlich zu machen sein, daß diese Erkenntnis, obwohl sie keine Täuschung ist, mit der Täuschung eine beachtenswerte Gemeinsamkeit teilt. Danach sollen jene Erkenntnisse thematisiert werden, von denen der zweite Punkt gilt. Wenn es Erkenntnisse im Sinne dieses zweiten Punktes gibt, dann ist der grundlegend rezeptive Charakter der Erkenntnis in der Tat bewiesen, denn es wird nicht nur das An-sich-Sein gewisser Dinge erkannt, sondern auch, daß diese Dinge an sich so sein müssen und nicht anders sein können. Desgleichen wird ein weiterer Baustein für die Kritik an HEIDEGGERS Sachverhaltsbegriff bereitgestellt, insofern zu einem Typus von Sachverhalt vorgestoßen werden soll, den HEIDEGGERS Verständnis und »Kritik« nicht erreichen kann, der seinerseits aber HEIDEGGER kritisch erreicht. Bei den unter dem ersten Punkt gemeinten Erkenntnissen handelt es sich um intentionale Akte, in denen uns der intendierte Gegenstand »nicht direkt und unmittelbar gegeben« ist.991 Um beispielsweise naturwissenschaft990
991
»Wenn man hingegen Erkenntnis in einem engeren Sinn versteht, dann meint man damit jenen urgegebenen Akt, in dem sich uns ein Seiendes in seiner autonomen Realität erschließt und wo wir es selbst erfassen. Ohne eine solche Erkenntnis im engeren Sinn, das heißt das Erfassen von Sachverhalten, die tatsächlich an sich so sind und uns in diesem Ansichsein gegeben sind, wäre überhaupt keine Täuschung möglich, […]. Bei diesem Erkennen im engeren Sinn gehört es durchaus nicht bloß zum Begriff, sondern zum notwendigen Wesen dieses Aktes, daß sich uns in ihm Seiendes, wie es ist, erschließt.« SEIFERT [1976], 75f. CAJTHAML [2003], 108. CAJTHAML bezieht sich in seinen entsprechenden Ausführungen allerdings nicht ausdrücklich auf Erkenntnis durch Induktion als Paradebeispiel für »echte Erkenntnis im weiteren Sinn« (s. Zitat bei Fußn. 996). Auf die nur mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit der durch die Methode der Induktion gewonnenen Erkenntnisse und auf die Kontingenz als ontologischem Grund für die Unmöglichkeit durch Induktion absolute Gewißheit zu erreichen, ist schon oft hingewiesen worden, nicht zuletzt durch den Empiris-
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liche Erkenntnisse wie »Wärme dehnt Metalle aus« und »Wasser gefriert bei 0 Grad Celsius« (HILDEBRANDS Beispiele) oder »Alle Misteln wachsen auf Bäumen« (WENISCHS bevorzugtes Beispiel s.u.) gewinnen zu können, müssen auf dem Fundament einer repräsentativen Anzahl von Realkonstatierungen allgemeine Sachverhalte wie das Durch-Wärme-ausgedehntwerden-von-Metallen oder das Auf-Bäumen-wachsen-aller-Misteln induziert werden. Diese Sachverhalte sind uns in den entsprechenden Erkenntnissen also nicht unmittelbar gegeben, sondern durch eine verallgemeinernde Schlußfolgerung vermittelt. Die Anwendung dieser vermittelnden Methode der Induktion zur Erlangung allgemeiner Erkenntnisse ist angesichts empirischer Gegenständlichkeiten notwendig, weil der Zusammenhang zwischen Wärme und Metallausdehnung, der Mistel und ihrem Wachstumsort, dem Wasser und einem bestimmten Gefrierpunkt kontingent ist und daher nicht im Sosein der fundierenden Gegenständlichkeit mit restloser Intelligibilität »abgelesen« werden kann: »Der Kausalnexus von Wärme und Ausdehnung ist als solcher nicht gegeben. Gegeben sind an sich nur die beiden Faktoren Erwärmung und Ausdehnung eines Körpers im zeitlichen Nacheinander. Das kausale Band, das ›Durch‹ zwischen beiden, die Abhängigkeit der Ausdehnung von der Wärme ist nur erschlossen. Der Schritt, den wir von der immer wieder beobachteten Aufeinanderfolge beider unter den verschiedensten Umständen, bei künstlicher Variation aller sonst in Betracht kommen könnenden Faktoren im Schluß auf die kausale Verbundenheit beider machen ist kein absoluter, lückenloser, stringenter. Er läßt für eine prinzipielle Ergänzungs- und Enttäuschungsmöglichkeit Raum und gewährleistet darum den Bestand des Erschlossenen nur mir Wahrscheinlichkeit, im Idealfall mit höchster Wahrscheinlichkeit.«992
Induktionen müssen immer dann angewandt werden, wenn nicht aufgrund der Auskunft einer Autorität, sondern durch empirische Forschung am Gegenstand allgemeine Erkenntnisse über Sachverhalte gewonnen werden sollen, die in ihrer Allgemeinheit unmöglich unmittelbar gegeben sein können, weil sie kontingent sind und damit prinzipiell ein
992
mus. Die hier vorliegenden Ausführungen über die Induktion erfolgen im Rückgriff auf HILDEBRANDS, SEIFERTS, CAJTHAMLS und WENISCHS [1976] entsprechende Phänomenanalysen (s. auch unter Fußn. 993. 999). HILDEBRAND [1950], 37f.
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Anders-sein-Können zulassen. Die Erkenntnis, daß alle Misteln auf Bäumen wachsen, mag ja durch repräsentative empirische Forschung gerechtfertigt sein, aber daß alle Misteln auf Bäumen wachsen, kann unmöglich absolut gewiß sein, schon deshalb nicht, weil alle bloß möglichen zukünftigen und unzählige vergangene Misteln keiner Beobachtung unterzogen werden können. Ja, die Botanik wird nicht einmal alle aktuell existierenden Misteln empirisch auf ihr Verhalten überprüfen können. So ist das Ergebnis der Induktion doch durch eine »interpretierende« Annahme gekennzeichnet, die, unbeschadet der empirisch-induktiven Rechtfertigung, eine Annahme, eine Interpretation der Gleichheit der real konstatierten singulären Fakten und ein »Glauben« bleibt. Die faktische Übereinstimmung zahlreicher Misteln in ihrem Wachstumsverhalten wird letztlich so interpretiert bzw. es wird »mit Berechtigung vermutet« (WENISCH), daß alle Misteln sich so verhalten.993 Schlußfolgernd wird angenommen, daß alle Misteln auf Bäumen wachsen. Und es kann freilich in der Tat so sein. Wenn die Induktionen gründlich durchgeführt wurden, spricht auch eine große Wahrscheinlichkeit dafür, daß es so ist. Aber just diesen Rahmen der Wahrscheinlichkeit kann die Induktion nicht übersteigen. Eine absolute
993
Zum »Interpretations-« und »Glaubenscharakter« dieser Erkenntnisse s. Fußn. 994. 996. Obschon der Urteilsakt infolge seines überaus spontanen Charakters nicht mit dem Erkenntnisakt, dem diese spontanen Züge gerade nicht eignen, verwechselt werden darf, lassen sich die hier implizierten Sachverhalte mit WENISCH analog auch am Urteil darstellen. »Das Urteil: ›Alle Misteln wachsen auf Bäumen‹ ist gewonnen durch Realkonstatierung und Induktion. Voraussetzung für dieses universelle Urteil ist eine große Zahl von Einzelbeobachtungen. Aus einer Fülle solcher Beobachtungen – jede setzt eine Realkonstatierung voraus – wird die Berechtigung abgeleitet, zu vermuten, auch die nichtbeobachteten Fälle würden sich den beobachteten entsprechend verhalten. Es leuchtet ein, daß das Ergebnis dieser Methode, das universelle Urteil, im besten Fall höchstwahrscheinlich ist. Die universelle Geltung des in den Einzelfällen Beobachteten ist ja nicht als unmittelbar gegeben erkannt, sondern nur erschlossen – und eigentlich ist auch damit noch zu viel gesagt: Im Grunde nämlich ist sie nur ›mit Berechtigung vermutet‹. Ihre Berechtigung nimmt die Vermutung aus der Vielzahl gleicher Beobachtungen […] Charakteristisch für dieses Urteil ist, daß man sich aus der Beobachtung vieler Einzelfälle für berechtigt hält, eine Vermutung bezüglich des Verhaltens aller möglichen derartigen Fälle aufzustellen.« WENISCH [1976], 33.
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Vergewisserung über die »Echtheit« dieser Erkenntnis kann es daher nicht geben.994 Das Subjekt verfügt über zahlreiche echte aber »vermittelte« Erkenntnisse und damit über Erkenntnisse »im weiteren Sinn«, wie CAJTHAML sich im Rückgriff auf SEIFERT ausdrückt.995 »Wenn wir uns auf die meisten unserer Erkenntnisse über die Geschichte, fremde Länder, über die unserer Alltagserfahrung fernliegenden Seinsregionen, die man in den Naturwissenschaften zu ergründen sucht, besinnen, so sehen wir: Insofern die ›Inhalte‹ dieser Erkenntnisse der Wirklichkeit entsprechen, sind es keine Täuschungen und Irrtümer, sondern eben – Erkenntnisse. Trotzdem sind uns die Objekte dieser Erkenntnis nicht direkt und unmittelbar gegeben, sondern vielmehr durch verschiedene Elemente des Glaubens und der Interpretation vermittelt: Wir glauben lediglich (oder auch nicht) den Wissenschaftlern, wenn sie neue Theorien auf der Basis von Experimenten aufstellen, die wir nicht überprüfen können, wir glauben lediglich einem Augenzeugen, wenn er erzählt, was er gesehen hat, wir gehen in der Sinneserfahrung über das im strikten Sinne des Wortes ›Gegebene‹ in verschiedensten Richtungen interpretativ hinaus, usw.«996
Die selber einsehbare Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Korrelat kann als solche nicht mit den induktiv vermittelten Ergebnissen so vieler Wissenschaften gegeben sein. Und schon gar nicht kann sie mit den Erkenntnissen gegeben sein, welche auf weiterer autoritativer Vermittlung dieser an sich bereits vermittelten Erkenntnisse beruhen. Die de facto und an sich echten Erkenntnisse können in keinem der geschilderten Fälle mit 994
995 996
BRENTANO sagt zurecht, man gewinnt durch die Methode der Induktion »keine absolute Sicherheit, glaube aber doch, der Annahme des Gesetzes vor seiner Verwerfung den Vorzug geben zu sollen, und dieser Glaube verstärkt sich durch Wiederholung der gleichen Beobachtung in anderen und anderen Fällen.« BRENTANO [1970], 73f. Hier ist noch anzumerken, daß BRENTANO zwischen einer Induktion im »engeren« und »weiteren Sinne« unterscheidet. Die hier einschlägige »Induktion« ist bei BRENTANO die »Induktion im engeren Sinne«, denn »diese üben wir dann, wenn wir aus einer oder mehreren Erfahrungstatsachen ein allgemeines Gesetz erschließen. Und hier ist die Erkenntnis des Gesetzes keine absolut sichere, und wir sind auch nicht immer im gleichen Maß geneigt, ihr zu vertrauen.« BRENTANO [1970], 74. S. dazu auch die Ausführugen in Abschnitt 7.4. CAJTHAML [2003], 108. 109. S. SEIFERT [1976], 74ff. CAJTHAML [2003], 108f. S. auch SEIFERT [1976], 74ff.
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unverrückbarer Sicherheit als echte Erkenntnisse erkannt werden, weil es der Beziehung dieser Erkenntnisse zu ihren Objekten an einer gewissen Unmittelbarkeit mangeln muß.997 Alldergleichen intentionale Erkenntnisakte unterscheiden sich freilich insofern von jeder Täuschung, als im Irrtum der Gegenstand gerade nicht erkannt wird, wie er ist, in den oben erwähnten Erkenntnisakten hingegen schon. Aber derlei Erkenntnisakten eignet auch eine große Gemeinsamkeit mit jeder Täuschung: »Es handelt sich in dem einen wie in dem anderen Fall um einen intentionalen Akt, in dem wir«, wie CAJTHAML sagt, »etwas zu erkennen meinen, was uns nicht unmittelbar gegeben ist.« Deshalb können einerseits Täuschungen und Irrtümer überhaupt zustande kommen. Andererseits kann es deshalb aber auch an sich echte Erkenntnisse (im weiteren Sinn) geben, – die als solche freilich keine Täuschungen sind –, ohne daß der Mensch absolute Gewißheit erlangen kann, daß er sich nicht täuscht.998 Aus diesem Grund muß, wie gesagt, im Hinblick auf den Ausweis des zutiefst rezeptiven Charakters der Erkenntnis gezeigt werden, daß es Erkenntnisse gibt, in denen der Akt der Erkenntnis einerseits »de facto« mit seinem Korrelat übereinstimmt und andererseits diese Übereinstimmung selbst mit absoluter Gewißheit erkannt werden kann. Der Grund dafür sollte in einer Unmittelbarkeit des Korrelates zu finden sein, der jede über das Gegebene hinausführende Annahme und Interpretation restlos aus-
997 998
S. CAJTHAML [2003], 108f. S. SEIFERT [1976], 74f. »Die Tatsache, daß uns in all diesen Formen der Erkenntnis die Erkenntnisinhalte durch Elemente des Glaubens oder der Interpretation vermittelt sind, hat aber eine unvermeidliche Konsequenz. die innere Struktur dieser Akte ist nicht verschieden von der des Irrtums oder der Täuschung. Der Unterschied zwischen dieser Art von Erkennen und einem Irrtum bzw. einer Täuschung kommt gleichsam nur ›von außen‹ her, d.h. von der Tatsache, daß im Falle der Erkenntnis die Sache so aufgefaßt, wie sie ist, während dem im Falle der Täuschung oder des Irrtums nicht so ist. Die innere Struktur beider Akte ist identisch: Es handelt sich in dem einen wie in dem anderen Fall um einen intentionalen Akt, in dem wir etwas zu erkennen meinen, was uns nicht unmittelbar gegeben ist. Das Objekt oder der Sachverhalt, so wie er an sich ist, ist uns in keinem der beiden Fälle direkt gegeben, selbst dann nicht, wenn – wie im Falle der Erkenntnis – das intentionale Objekt eines solchen Aktes mit ihm de facto übereinstimmt.« CAJTHAML [2003], 109.
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schließt.999 Denn eines muß mit CAJTHAML in aller Klarheit gesehen werden: Wenn allen Erkenntnissen Elemente der Vermutung, der Interpretation und des Glaubens eigneten, dann mag die Erkenntnis zwar de facto rezeptiv sein, aber diese Rezeptivität selber könnte dem erkennenden Subjekt als solche niemals gegeben sein, womit die Rezeptivität der Erkenntnis selbst, unbeschadet ihres faktischen Bestandes, letztlich immer nur vermutet werden könnte.1000 6.3 Darstellung der Evidenz der Rezeptivität der Erkenntnis am Beispiel von notwendigen Sachverhalten über den Zweifel als intentionalem Akt Oben wurde anhand des Aktes der Halluzination als einer Form der Täuschung gezeigt, daß nicht alles, was uns in einer Halluzination gegeben ist, eine Täuschung sein kann. Nun soll anhand des Aktes des Zweifelns gezeigt werden, daß dieser nicht bestehen kann ohne eine Reihe bestehender Sachverhalte. Diesen Sachverhalten eignet als solchen ein besonderes 999
1000
S. CAJTHAMLS entsprechende Ausführung bei Fußn. 1002. Erkenntnisse, die aufgrund von Induktion gewonnen werden, können niemals absolut gewiß sein, da uns die entsprechenden Sachverhalte nicht unmittelbar gegeben sind. Aber der Sachverhalt, daß Induktion niemals zu absolut gewissen Erkenntnissen führen kann, ist unmittelbar gegeben, d.h. er wird weder induziert noch deduziert, sondern im Hinblick auf das Sosein der Induktion eingesehen und die entsprechende Erkenntnis ist absolut gewiß, weil der erkannte Sachverhalt absolut notwendig ist. Auf diesen Zusammenhang hat auf meisterhafte Weise insbesondere WENISCH hingewiesen. WENISCH weist ebenso meisterhaft nach, daß die empiristische Skepsis, weil sie zu Recht darauf beharrt, daß Induktion niemals zu absolut gewissen Erkenntnissen führen kann, sowohl absolut gewisse Erkenntnisse als auch die Methode der Einsicht gegen deren ausdrückliche Ablehnung stillschweigend voraussetzen muß, da diese nicht nur wahrscheinliche, sondern absolut gewisse Erkenntnis nicht durch Induktion, sondern nur durch Einsicht erreicht werden kann. S. dazu WENISCH [1970], 53-74. S. auch WENISCH bei Fußn. 1189. Zur Methode der Einsicht s. Abschnitt 9.9. »Es ist evident, daß in dieser Art von Erkenntnis keine absolute Gewißheit möglich ist. Das Element des Glaubens, das diesen Akten inhärent ist, verhindert es: Ich gehe in ihnen über das, was mir direkt – und daher mit unumstößlicher Gewißheit – gegeben ist, hinaus und kann mich somit prinzipiell irren. Hätten alle Erkenntnisse diese Charaktereigenart, dann gäbe es keine absolut gewisse Erkenntnis und wir könnten nie sicher sein, ob wir wirklich erkennen oder nur zu erkennen meinen.« CAJTHAML [2003], 109.
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Charakteristikum. Dieses Charakteristikum ist die notwendige Bedingung dafür, daß sich der Erkennende der Übereinstimmung gewisser Erkenntnisse mit ihrem Korrelat absolut vergewissern kann. Diese Art absoluter Vergewisserung weist die Erkenntnis als zutiefst rezeptiven Akt aus, der seinen Gegenstand so entgegennimmt und auffaßt, wie er an sich ist. Wie bei allen bisherigen epistemologischen Analysen bilden die spezifisch epistemologischen Fragen nicht den eigentlichen Gegenstand der Ausführungen. In erster Linie geht es um die Vergegenwärtigung eines besonderen Sachverhaltstyps. Aber gleichzeitig soll auch die Einsicht in die Unmöglichkeit jeder Täuschung über diese Sachverhalte berücksichtigt werden, da die Bedeutung dieser Sachverhalte so zusätzlich unterstrichen wird. Wieder soll der Zugang zu diesen Sachverhalten über eine Aktart erfolgen, durch welche alle, auch alle vorliegenden Ausführungen in Frage gestellt werden können: nämlich den Akt des Zweifelns. An diesem Akt soll im Rückgriff auf CAJTHAML, SEIFERT und WENISCH gezeigt werden, daß im Zweifel Sachverhalte gründen, ohne deren Bestehen der Zweifel als solcher unmöglich Zweifel sein kann.1001 Läßt sich im Zweifel ein unmittelbar gegebenes So-sein-Müssen-und-nicht-anders-sein-Können nachweisen, dann kann die Erkenntnis dieses Sachverhaltes kraft seiner ebenfalls unmittelbar erkannten Notwendigkeit unmöglich eine Täuschung sein. »Gibt es aber nicht eine Erkenntnis, in der die kognitive Transzendenz zu den Dingen selbst nicht nur de facto voliegt, sondern auch voll einsichtig ist? […] Eine solche Erkenntnis gibt es in der Tat, und das Paradoxe ist, daß man ihre Existenz dann besonders klar erweisen kann, wenn man als Ausgangspunkt einen Akt nimmt, der dazu bestimmt ist, die Möglichkeit jeder Erkenntnis zu hinterfragen: den radikalen skeptischen Zweifel.«1002
Jeder Mensch kennt das quälende Erlebnis des Zweifels und die damit verbundene Unsicherheit. Man kann über verhältnismäßig Unbedeutsames zweifeln, wie darüber, ob die Kaffeemaschine ausgeschaltet wurde oder 1001
1002
CAJTHAMLS, SEIFERTS und WENISCHS Ausführungen zu diesem Thema stellen letztlich ein Aufgreifen und eine Weiterentwicklung von Einsichten AUGUSTINS dar, welche HILDEBRAND ›wiederendeckt‹ und erstmals weiterentwickelt hat. S. HILDEBRAND [1993/1994], 2-27. CAJTHAML [2003], 110-114. SEIFERT [1987], 181-198. SEIFERT [1976], 149-159. WENISCH [1976], 51f. 59-64. Aug. trin. 10, 10, 14-16. CAJTHAML [2003], 109f. S. auch SEIFERT [1976], 149f.
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nicht, oder darüber, ob die Haustür abgeschlossen wurde oder nicht. Freilich können auch und insbesondere Antworten auf letzte Lebens- und Sinnfragen in Zweifel gezogen werden. Etwa darüber, ob es einen Gott gibt oder nicht, ob das Leben einen Sinn hat oder nicht, ob überhaupt etwas mit Gewißheit erkannt werden kann oder nicht. Aber allen Akten des Zweifelns ist gemeinsam, daß sie einen Gegenstand haben, auf den sie sich richten, etwas, das bezweifelt wird. Mit anderen Worten: Zweifel ist notwendigerweise ein intentionaler Akt, und der Gegenstand dieses Zweifels kann nicht die ihn bezweifelnde Intention sein; das intentionale Objekt transzendiert den Akt des Zweifelns als einer Denktätigkeit, gerade weil es bezweifelt werden muß, ohne selbst die Tätigkeit des Zweifelns ›über sich‹ sein zu können. Der Zweifel ohne Objekt gleicht dem Terminus Zweifel ohne ›Z‹: Es ist kein »Zweifel«. Oben wurde bereits deutlich, daß kein intentionaler Akt ohne ein ihn transzendierendes Objekt sein kann. Da der Zweifel ein zutiefst intentionaler Akt ist, kann auch er nicht ohne ein ihn transzendierendes Objekt sein. Wer tatsächlich bezweifelt, daß jeder Zweifel ein intentionaler Akt ist, sollte sich schlicht diesem seinem konkreten Akt zuwenden: Er wird gewahren, daß er sich irren muß und nichts anderes als irren kann, ohne daß die Erkenntnis dieses Irrtums ihrerseits wieder eine Täuschung sein könnte.1003 Ferner hat der Zweifelnde in seinem Akt nicht nur ein Bewußtsein von dem in Zweifel gezogenen Objekt. Darüber hinaus ist er sich im Zweifelsakt auch bewußt, daß er zweifelt. Die mit dem Zweifel verbundene Unsicherheit ist notwendig bewußt mitgegeben, und ohne sie kann kein Zweifel sein. Das Bezweifeln einer Sache bringt demnach notwendig ein, so CAJTHAML, »Moment der Selbstreflexion« mit, insofern der Zweifelnde sich selbst als ein solcher bewußt sein muß, um überhaupt etwas bezweifeln zu können. Kurzum: Der Zweifelnde kann nicht zweifeln, ohne sich 1003
»Zunächst einmal ist es der Sachverhalt, daß kein denkendes Wesen in einer möglichen oder realen Welt zweifeln kann, ohne dabei ein Bewußtsein von dem zu haben, woran es zweifelt. Die intentionale Struktur des Akttypus ›Zweifel‹ impliziert, daß man in jedem Akt des Zweifels immer etwas dem Zweifel unterzieht. Es liegt im Wesen dieses Aktes, daß der immanente Bewußtseinszustand transzendiert und eine intentionale Beziehung zwischen dem Zweifelnden und dem Bezweifelten hergestellt wird.« CAJTHAML [2003], 113. S. SEIFERT 1987], 193.
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als Zweifelnder bewußt zu sein.1004 Damit hängt ferner zusammen, daß der Zweifelnde sich notwendigerweise einer Unwissenheit bewußt ist, denn er zweifelt nur und kann nur zweifeln, wenn er weiß, »daß er das, woran er zweifelt, noch nicht weiß«.1005 So wie das Urteil sich unmittelbar allein auf Sachverhalte beziehen kann und Sachverhalte allein das direkte Korrelat einer Behauptung sein können, so kann auch das intentionale Korrelat des Zweifels nur ein Sachverhalt sein. Eine Kaffeemaschine, die Existenz als solche, eine Rose, eine Person und eine Farbe, Länge, Höhe oder Breite etc. kann nicht bezweifelt oder angezweifelt werden. Bezweifeln lassen sich nur Gegebenheiten wie das Ausgeschaltet-sein-der-Kaffeemaschine, das Die-Wahrheit-gesagt-habendes-Zeugen, oder das Vorhanden-sein-eines-letzten-Lebensinnes. Diese Gegenständlichkeiten, auf welche der Zweifel abzielt, sind jedoch keine Sachen und deren Attribute, sondern Sachverhalte. Mit dem Zweifel offenbart sich mithin ein weiterer ausschließlich und notwendigerweise auf Sachverhalte gerichteter intentionaler Akt.1006 Und es muß in diesem Zusammenhang beigefügt werden: Wer behaupten würde, daß es keine Sachverhalte gibt, macht das Zweifeln zu einer Unmöglichkeit. Wer ernsthaft bezweifelt, ob es Sachverhalte gibt oder nicht, muß gleichfalls ernsthaft in Zweifel ziehen, ob es das Zweifeln gibt oder nicht und ernsthaft in Zweifel ziehen, ob er sich als Zweifelnder im Zweifel bewußt ist oder nicht. Die 1004
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S. CAJTHAML [2003], 114. »Ferner verstehe und weiß ich, daß ich zweifle – doch nicht nur das, sondern ich sehe die ewige Wahrheit ein, daß niemals ein unbewußtes, apersonales Wesen zweifeln könnte. Ich sehe ein, daß es notwendig zum Wesen des Zweifels gehört, bewußt vollzogen zu werden und nicht nur das: Im Unterschied zum ebenfalls bewußt erlebten, dumpfen Schmerz gehört auch zum Wesen des Zweifels, so sehr bewußt zu sein, daß man auch reflexiv wissen und sagen kann, daß man zweifelt. Ein Mensch in einem dumpfen Bewußtseinszustand kann Schmerz fühlen, aber nicht zweifeln […] Ich sehe also ein, daß niemand je zweifeln könnte, ohne verstehen zu können, daß er zweifelt.« SEIFERT [1976], 153. »Nicht nur muß aber derjenige, der zweifelt, wissen, daß er zweifelt: Er muß auch noch wissen, daß er das, woran er zweifelt, noch nicht weiß.« CAJTHAML [2003], 114. »Ferner wird in jedem ersten Zweifel impliziert, daß das Objekt des Zweifels nicht einfach ein Gegenstand, eine Eigenschaft usw., sondern immer nur ein Sachverhalt ist bzw. sein kann. Man kann nicht etwa eine Rose bezweifeln, sondern nur etwa ihr ›Rot-Sein‹ oder ihr ›Schön-Sein‹.« CAJTHAML [2003], 113.
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hier vorliegende echte Widersinnigkeit und damit verbundene objektive Unmöglichkeit ist offensichtlich. Gleichzeitig wird ein notwendiger Unterschied zwischen Zweifel und Urteil deutlich, insofern das Objekt des Zweifels eine notwendig »komplexe« Gegebenheit darstellt, wie SEIFERT hervorhebt.1007 Diese notwendig komplexe Struktur des Gegenstandes des Zweifels fehlt dem Urteil. Denn wer zweifelt, bezweifelt genau genommen nicht einfach einen Sachverhalt, sondern er zweifelt, ob ein Sachverhalt besteht oder nicht oder ob dieser oder jener Sachverhalt besteht oder keiner von beiden, dafür aber ein dritter.1008 Wenn etwa daran gezweifelt wird, ob die Kaffeemaschine ausgeschaltet ist, dann wird eigentlich nicht nur an dem einen Sachverhalt des Ausgeschaltet-seins-der-Kaffeemaschine gezweifelt. Genau besehen wird stets – wenn diese Formulierung erlaubt ist – »zwischen« mehreren einander ausschließenden Sachverhalten, von denen nur einer bestehen kann, nämlich einerseits dem Ausgeschaltet-sein-der-Kaffeemaschine und anderseits dem Nicht-ausgeschaltet-sein-der-Kaffeemaschine gezweifelt.1009 Der Akt des Zweifels hat also nicht nur notwendig ein Objekt, welches wiederum notwendig ein Sachverhalt sein muß. Darüber hinaus ist dieses Objekt insofern komplex, als ein Zweifel mindestens zwei Sach1007 1008
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S. Fußn. 1009. Freilich kann der Zweifel auch auf mehr als zwei Sachverhalte abzielen. So läßt sich daran zweifeln, ob eine Stereoanlage eingeschaltet, ausgeschaltet oder auf Standby geschaltet ist. Aber auch hier gilt, daß zwischen Sachverhalten gezweifelt wird, von denen nur einer bestehen kann. Wenn also zwischen zwei konträren Sachverhalten gezweifelt wird, dann deshalb, weil man sie fälschlicherweise für kontradiktorisch hält bzw. keine vollständige Disjunktion durchgeführt wurde. Anders ausgedrückt: Man zweifelt nicht daran, ob die Kaffeemaschine entweder ein- oder ausgeschaltet ist, wenn man sich völlig bewußt ist, daß sie auch auf Standby geschaltet sein könnte. Daher schreibt WENISCH zu Recht, daß der Zweifelnde notwendig zwischen »mindestens zwei […] Antwortmöglichkeiten hin- und herschwankt [Kursiv v. Verf.]«. S. Fußn. 1010. S. CAJTHAML [2003], 113. »I doubt not simply the one state of affaires but I doubt whether or not it obtains. This ›whether or not‹ which characterizes the complex object of doubt reveals another essentially necessary fact about the object of doubt. In doubt we always regard at least [Kursiv vom Verf.] two contradictorily opposed states of affaires (Sachverhalte): that something is or is not X. thus the radical doubt of all truth implies that it is not certain, whether or not there is truth. I doubt all truth, that is, I am uncertain of whether or not it is.« SEIFERT [1987], 193.
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verhalte thematisiert und zwischen ihnen »schwankt« (WENISCH), und im Zweifel notwendig auf mehrere Sachverhalte abgezielt wird, und zwar so, daß wir meinen, daß nur einer von ihnen bestehen kann.1010 Und daraus erhellt ein Weiteres: Der Zweifel setzt, wie CAJTHAML unterstreicht, die unverrückbare Gültigkeit des Kontradiktionsprinzips voraus. Wenn zwei Sachverhalte wie das Ausgeschaltet-sein-der-Kaffeemaschine und das Nicht-ausgeschaltet-sein-der-Kaffeemaschine zur gleichen Zeit und in der gleichen Hinsicht bestehen könnten, könnte ein Zweifel unmöglich zwischen ihnen hin- und herschwanken und unentschieden sein, da der Bestand beider Sachverhalte sich wechselseitig einschließen würde. CAJTHAML macht darauf aufmerksam, daß im Fall der Ungültigkeit des Kontradiktionsprinzips ein zu bezweifelnder Sachverhalt sich nicht einmal identifizieren lassen kann und sich folglich auch nicht bezweifeln läßt.1011 Kurzum: Wenn das Kontradiktionsprinzip nicht absolut gilt, ist Zweifeln überhaupt absolut unmöglich! Es wird somit gerade am Beispiel des Zweifels deutlich, daß gewisse allgemeine Sachverhalte notwendig bestehen, weil sie ein So-sein-Müssenund-nicht-anders-sein-Können darstellen. Bevor die Eigenschaften dieser Notwendigkeit als solche eingehender betrachtet werden, soll im Rückgriff auf WENISCH gezeigt werden, daß diese Sachverhalte nicht nur je einzeln und gegeneinander gleichgültig für sich bestehen, sondern sich notwendigerweise wechselseitig fordern. In jedem Zweifel stellt sich eine Frage, nämlich die, welcher von mindestens zwei Sachverhalten nun wirklich besteht und welcher nicht. Es gibt 1010
1011
»Ein erster Aspekt des Soseins, auf das wir mit dem durch das Wort ›Zweifel‹ repräsentierten Begriff abzielen, ist, daß das Subjekt als Lösung einer bestimmten Frage oder eines bestimmten Problems mindestens zwei Antworten als möglicherweise wahr erachtet. Ein zweiter ist, daß das Subjekt unschlüssig zwischen den Antwortmöglichkeiten hin- und herschwankt, daß es nicht weiß, wecher Antwort es sich zuwenden soll.« WENISCH [1976], 59. S. CAJTHAML [2003], 113. »Somit wird in jedem Zweifel auch die Geltung des Widerspruchsprinzips vorausgesetzt. Denn, wenn ich nicht voraussetzen würde, daß derselbe Gegenstand A Existenz oder Eigenschaft b zur gleichen Zeit und im selben Sinn nicht zugleich besitzen und nicht besitzen kann, könnte ich an ihm nicht zweifeln. Ja, man würde unter der Voraussetzung, daß das Widerspruchsprinzip nicht gilt, nicht einmal feststellen können, welchen Sachverhalt man bezweifelt [...].« CAJTHAML [2003], 113f.
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also mindestens zwei mögliche Antworten auf die Frage, wobei der Zweifelnde nicht weiß, welcher Antwort er sich zuwenden, bzw. in welchem Sachverhalt er den bestehenden Sachverhalt erkennen soll und in welchem nicht. Und genau das mache den Zweifel, so WENISCH, »oft so quälend«. Der Zweifelnde schwankt nicht einfach nur neutral zwischen zwei Sachverhalten, er schwankt, gerade weil er als Zweifelnder sich des »Zwei-fels« zu entledigen sucht und wissen möchte, welcher der mindestens zwei Sachverhalte besteht und welcher nicht.1012 Daher läßt sich im Rückgriff auf WENISCH formalisiert sagen, daß der Zweifel »ein Seiendes a« darstellt, welches notwendig mit den »beiden Aspekten A und B« einhergeht. Aspekt A besagt, daß der Zweifelnde vor mindestens zwei Sachverhalten steht, die die Frage aufwerfen, welcher von diesen Sachverhalten besteht und welcher nicht. Aspekt B besagt, daß der Zweifelnde nach einer Lösung der Frage verlangt, und d.h., sich des einschlägigen Sachverhalts, sei er positiv oder negativ, zu versichern wünscht.1013 In dem Augenblick, in dem der Zweifelnde sich einem der beiden Sachverhalte entschieden zuwendet und diesen als den bestehenden ansieht und folglich nicht mehr unentschieden zwischen zweien schwankt, hört er auf zu zweifeln. Entweder ist der vormals Zweifelnde zur Erkenntnis gelangt und wendet sich derart gesichert und gerechtfertigt dem tatsächlich be1012
1013
»Nun gehört offenbar zum Erlebnis des Zweifels, Sicherheit in der betreffenden Frage zu erlangen, und die langdauernde Nichterfüllung dieses Wunsches ist es, was den Zweifel oft so quälend macht. WENISCH [1976], 34. Ein »Zweifel«, der nicht in diesem Sinne quält, ist kein Zweifel, sondern gibt sich allenfalls den Anschein des Zweifels, oder es wird in uneigentlichem Wortgebrauch »Zweifel« genannt, was kein echter Zweifel ist. SEIFERT schreibt dazu treffend: »Allerdings gilt dies nur für den durch Wahrheitsliebe motivierten Zweifel und nicht für jenen, der nicht ›rein‹ und echt ist, der also mit einer Gleichgültigkeit oder sogar Feindschaft gegen eine objektive Wahrheit und gegen objektive Werte verbunden ist. Dies ist aber kein wirklicher Zweifel, sondern eine unter dem Schein des Zweifels versteckte Ablehnung der Wahrheit.« SEIFERT [1976], 156. WENISCH [1976], 34. WENISCH bezieht sich allerdings in seinen Ausführungen nicht derart ausdrücklich auf Sachverhalte und ihren Bestand. Er schreibt: »Aspekt A ist, daß mindestens zwei Antwortmöglichkeiten vor dem Subjekt stehen, und daß es nicht weiß, welcher von beiden Möglichkeiten es sich anschließen soll; Aspekt B ist das Vorliegen des Wunsches, in der betreffenden Frage Sicherheit zu erlangen.«
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stehenden Sachverhalt zu, oder er ist nicht wirklich zur Erkenntnis gelangt, hört aber auf, seine Zustimmung zurückzuhalten, weil etwa eine Mehrheit für eine Möglichkeit optiert und er sich dieser Mehrheit entschieden anschließt, weil er in ihr eine hinreichende Versicherung sieht. In diesem Fall liegt ein Vorurteil seitens des Subjektes vor, selbst dann, wenn es im Gefolge der Mehrheit tatsächlich dem bestehenden Sachverhalt zugestimmt haben sollte.1014 Und gerade hier offenbart der Zweifel eine weitere notwendige Eigenheit, wie WENISCH zeigt. Als zweifelndes muß das Subjekt seine Zustimmung zurückhalten und der Überzeugung sein, »seine Zustimmung nicht voreilig geben zu dürfen«, weil es als Zweifelndes nach einer Versicherung verlangt und deshalb unentschieden hin und her schwankt.1015 Worin auch immer diese ersehnte Sicherheit bestehen mag, ob in echter Erkenntnis oder einem durch Mehrheitsverhältnisse gesicherten und so für das Subjekt sicheren Standpunkt, ist unerheblich. Vermöge des in jedem authentischen Zweifel gründenden Sicherheitsverlangens ist jeder Zweifel unverrückbar mit der Überzeugung verbunden, daß eine Zustimmung zu einer der sich bietenden Alternativen nicht übereilt und blindlings erfolgen darf. Das wiederum bedeutet formalisiert gesprochen: Jeder intentionale Akt von der Art a weist notwendig die Aspekte A, B und C auf. Und alle diese Aspekte fordern einander in dem Sinne, daß es die Aktart a nur mit allen Aspekten insgesamt geben kann oder gar nicht. Wendet man zudem den Blick noch einmal auf die obigen Einsichten über den Zweifel, so wird deutlich, daß über die Aspekte A, B und C hinaus noch viele weitere notwendig im Zweifel gründende Aspekte aufgezeigt werden können. Und das wiederum heißt, daß die Aspekte A, B und C von a nicht Aspekte
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1015
»Das Subjekt hört auf zu zweifeln, sobald es sich einer der Möglichkeiten, zwischen denen es schwankte, mit Festigkeit zuwendet. Dies kann etwa dadurch geschehen, daß es Erkenntnis erlangt – dann betrachten wir das Aufhören des Zweifels als gerechtfertigt – oder dadurch, daß es trotz immer noch mangelnder Erkenntnis sich einer der Antwortmöglichkeiten anschließt, indem es aufhört seine Zustimmung zurückzuhalten. Dann sprechen wir vom Auftreten eines Vorurteils, selbst dann, wenn das Subjekt sich der Antwort zuwendet, die in der Tat die richtige ist, denn es hätte damit ja – bei immer noch mangelnder Erkenntnis – doch nur zufällig das Richtige getroffen.« WENISCH [1976], 35. WENISCH [1976], 35.
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derselben Aktart sein können, wenn nicht auch D, E, F und G etc. objektiv notwendige Aspekte der Aktart a sind.1016 »Eine Soseinseinheit, deren Elemente in einer derartigen Beziehung zueinander stehen, daß sie sich gegenseitig gleichsam ›fordern‹, daß einerseits keines aufgehoben werden kann, ohne daß auch die anderen aufgehoben würden, andererseits aber keines für sich allein (ohne die anderen Aspekte) existieren kann, nennen wir eine notwendige Soseinseinheit.«1017
Bernhard WENISCH schreibt im Hinblick auf die intrinsek notwendigen Zusammenhänge dieser Art der Soseinseinheit: »Diese Wesenheiten sind von inner her geeint, und zwar so, daß im Wesensganzen zwar einzelne Züge voneinander unterscheidbar sind, wobei diese aber weder getrennt vom Ganzen noch getrennt voneinander sein können.«1018
Was hier als »notwendige Soseinseinheit« bezeichnet wird, beschreibt HUSSERL als die aus »unselbständigen Teilen konstituierten Ganzheiten«. Er unterscheidet diese auch trefflich von kontingenten Soseinseinheiten, wenn er schreibt: »Wir haben in Ansehung gewisser Inhalte [wie etwa der Soseinseinheit des Zweifels] die Evidenz, daß die Änderung oder Aufhebung mindestens eines der zusammen mit ihnen gegebenen […] Inhalte, sie selbst […] aufheben müsse. Bei anderen Inhalten fehlt uns diese Evidenz; der Gedanke, daß sie bei beliebiger Änderung oder Aufhebung aller mit ihnen
1016 1017 1018
S. WENISCH [1976], 35. 60-63. WENISCH [1976], 62. WENISCH [1969], 45. »Vivere se tamen et meminisse, et intellegere, et velle, et cogitare, et scire, et iudicare quis dubitet? Quandoquidem etiam si dubitat, vivit; si dubitat, unde dubitet meminit; si dubitat, dubitare se intellegit; si dubitat, certus esse vult; si dubitat, cogitat; si dubitat, scit se nescire; si dubitat, iudicat non se temere consentire oportere. Quisquis igitur alicunde dubitat, de his omnibus dubitare non debet; quae si non essent, de ulla re dubitare non posset.« Aug. trin. 10, 10, 14.
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Kapitel 6 coexistierenden Inhalte selbst unberührt bleiben würden, schließt keine Unverträglichkeit ein.«1019
Die Aspekte, von denen soeben die Rede war, sind Sachverhalte, die notwendig im Sosein des Zweifels gründen. D.h., jeder dieser Sachverhalte gründet für sich mit unmittelbarer und mit einsichtiger Notwendigkeit im Sosein des Zweifels selbst, und der Zweifel kann nur sein, indem er sämtliche notwendig in ihm gründende Sachverhalte notwendigerweise immer schon und insgesamt fundiert.1020 6.4 Die Tragweite notwendiger Sachverhalte für die Rezeptivität und Gewißheit der Erkenntnis Ein notwendiger Sachverhalt, dessen Notwendigkeit der Erkenntnis als solche gegeben ist, bedingt, daß diese Erkenntnis keine Täuschung ist und 1019
1020
Hua. 19/1, 3, § 3. »Ein Teil als solcher kann überhaupt nicht ohne ein Ganzes existieren, dessen Teil er ist. Andererseits sagen wir aber (nämlich mit Beziehung auf die selbständigen Teile): Ein Teil kann öfters ohne ein Ganzes existieren, dessen Teil er ist. Darin liegt natürlich kein Widerspruch. Gemeint ist folgendes: Betrachten wir den Teil nach seinem inneren Gehalt, nach seinem eigenen Wesen, so kann, was diesen selben Gehalt besitzt, auch sein ohne ein Ganzes, in dem es ist; es kann für sich, ohne Verknüpfung mit anderem sein und ist dann eben nicht Teil. Die Änderung und völlige Aufhebung der Verknüpfung tangiert hier nicht den eigenen, so und so gearteten Gehalt des Teils und hebt ihn im Dasein nicht auf, nur seine Relationen fallen fort, sein Teilsein. Bei andersartigen Teilen verhält es sich umgekehrt; außer aller Verknüpfung, als Nicht-Teile sind sie, vermöge der Eigenart ihres Gehaltes, undenkbar. Diese Unmöglichkeit gründet also in der wesentlichen Besonderheit der Inhalte.« Hua. 19/1, 3, § 11. S. dazu auch die Diskussion veranschaulichender Beispiele in Hua. 19/1, 3, § 4. Obwohl sich HUSSERL eingehend der Untersuchung der aus unselbständigen Teilen konstituierten Ganzheiten widmet, wird allerdings, wie WENISCH betont, »die Bedeutung dieser Entdeckung […] im Rahmen seines Werkes nicht wirklich sichtbar.« WENISCH [1976], 157. »Eine andere und bedeutende Seite der Logischen Untersuchungen ist die Lehre vom Ganzen und den Teilen. Es ist unmöglich, hier auf Einzelheiten dieser Theorie einzugehen, denn obgleich sie zum Wertvollsten der Gegenwartsphilosophie gehören dürften [Kursiv v. Verf.], sind sie zu abstrakt und haben andererseits nicht die gleichen Nachwirkungen gehabt wie die übrigen Lehren Husserls.« BOCHEŃSKI [1951], 146. S. WENISCH [1976], 35. 60. Zu den »notwendigen Soseinseinheiten« (HILDEBRAND) s. Kap. 0 und insb. Abschnitt 8.5
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unmöglich eine Täuschung sein noch gar sich künftig als Täuschung herausstellen kann. Denn die Erkenntnis trifft in der intelligiblen Notwendigkeit eines Sachverhaltes auf ein Objekt, dessen Eigenart nicht irgendwie angenommen, vermutet oder geglaubt werden muß. Ferner ist die Erkenntnis eines notwendigen Sachverhaltes als intentionaler Akt notwendigerweise bei einem Objekt, das unmöglich eine Weise des Erkennen selbst oder dessen Tätigkeit sein kann. Da diesem Objekt eine unmittelbar einsichtige Notwendigkeit eignet, erreicht die Erkenntnis nicht nur ein rein faktisches »an sich« des Objektes, sondern sie erreicht das An-sich-so-seinMüssen-und-nicht-anders-sein-Können des Objektes, in diesem Fall des Zweifels. Daher schreibt CAJTHAML zu Recht: »Gerade an diesem Zweifel, dem innersten Nerv jeder Skepsis, zerschellt der Skeptizismus; kein Zweifel ist möglich ohne einen Ozean unbezweifelbarer Wahrheit, deren Licht selbst den Zweifelnden erleuchten muß, damit er überhaupt sinnvoll zweifeln kann!«1021
Eine Notwendigkeit, die sich als solche unmittelbar erkennen läßt, gewährt dem Erkennen die Möglichkeit der Erkenntnis seiner »rezeptiven Transzendenz«, da die unvermittelte Erkenntnis einer Notwendigkeit an sich und als solcher den notwendigen Tatbestand entgegennehmen muß und nicht anderes als entgegennehmen bzw. empfangen kann.1022 »Die eindeutige Erfahrung dieser Notwendigkeit, die uns im Wesen des Zweifels begegnet, die aber keineswegs nur dort zu finden ist, zeigt m.E. eindeutig, daß die Idee der Erkenntnis als eines Aktes der rezeptiven Transzendenz auch durchaus faktische Verwirklichung im Strom unserer Erlebnisse und Erkenntnisse findet. Im Vollzug der Erkenntnisakte, in denen wir die absolut notwendigen Sachverhalte und Wesenheiten er1021 1022
CAJTHAML [2003], 110. S. auch Abschnitte 7.4; 7.6; 7.10; 7.11; 9.9. SEIFERT [1976] stellt die rezeptive Transzendenz als notwendige Wesenseigenschaft des intentionalen Akts des Erkennens heraus (54-88) und bezeichnet diese auch als »empfangendes SichSelbst-Überschreiten« und schreibt treffend: »Der empfangende Grundgestus des Erkennens bedeutet in keiner Weise, daß das Erkennen ein rein passives Erleiden sei. Erkennen ist vielmehr ein aktives Mitvollziehen des inneren Gestus des Seienden, das sich mir erschließt. Rezeptivität und Aktivität schließen einander in keiner Weies aus. Doch ist alle Aktivität des Erkennens wesenhaft rezeptiv.« SEIFERT [1976], 78.
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Kapitel 6 fassen, erleben wir eindeutig, daß wir hier das Sein, so wie es an sich ist, kognitiv erreichen. Damit ist die Einsicht verbunden, daß wir in solchen Erlebnissen nicht nur de facto erkennen, wie in der oben erwähnten Erkenntnis im weiteren Sinne, sondern daß wir auch mit Sicherheit wissen, daß hier echte Erkenntnisse vorliegen. Wird das zugestanden, so kann nicht mehr behauptet werden, daß Erkenntnis ihrem Wesen nach ein schöpferischer Akt sei: Denn mindestens im Fall der Wesenserkenntnis, d.h. in der Einsicht in das Wesensnotwendige, wird mit absoluter Gewißheit erkannt, daß das Erkannte unserem Bewußtsein transzendent ist. Ist aber evident, daß mindestens in diesem Fall das Erkannte unserem Bewußtsein transzendent ist, so ist auch evident, daß wir in dieser Erkenntnis das Erkannte geistig ›empfangen‹, daß wir daran auf eine geistige und wohl mysteriöse Art und Weise teilnehmen. […] Das Subjekt tritt in dieser Erkenntnis aus sich heraus und ›berührt‹ auf eine einzigartige und nicht-materielle Weise das Objekt. Die Erkenntnis zeigt sich also als ein Akt rezeptiver Transzendenz. Somit ist die Lehre von der Erkenntnis als Schöpfung der Erkenntnisobjekte in all den Schattierungen, in denen wir sie seit Kant vorfinden, prinzipiell unhaltbar und stellt eine verhängnisvolle Verdunkelung des intelligiblen Wesens der Erkenntnis dar.«1023
Anhand der Erkenntnis der Notwendigkeit eines Sachverhaltes läßt sich demnach restlos eindeutig und einsichtig die rezeptive Tranzendenz dieser Erkenntnis selbst erkennen, da die Notwendigkeit den Sachverhalt als solchen auszeichnet und die Erkenntnis dieser Notwendigkeit daher dem Subjekt von nichts anderem als vom Sachverhalt her zuwachsen und sich vom Sachverhalt her erschließen kann und nicht etwa irgendwie vom Subjekt produziert und gleichsam in die Wirklichkeit getragen oder eingebracht wird. Im Hinblick auf Urteile bzw. Behauptungen und deren Anspruch auf den Bestand der von ihnen thematisierten Sachverhalte läßt sich sagen: Der Anspruch eines Urteils auf den Bestand des von diesem Urteil thematisierten Sachverhaltes ist genau dann restlos erfüllt, und die restlose Erfüllung diese Anspruchs ist selbst einsichtig gegeben, wenn der von diesem Urteil thematisierte Sachverhalt einsehbar ein in sich notwendiger Sachverhalt ist. Verwechslungen, Konfundierungen, Reduktionen und Identifizierungen ergeben sich, wie schon gesagt, mit Vorliebe da, wo zwei eng benachbarte, zwei eng und notwendig miteinander verknüpfte oder einander sehr ähn1023
CAJTHAML [2003], 118f.
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liche Daten vorliegen. Die enge Nachbarschaft, Verknüpfung und/oder Ähnlichkeit führt leicht dazu, daß der Mensch die Verschiedenheit der Daten aus dem Blick verliert und schließlich irgendwie zwei verschiedene Dinge für dasselbe hält oder meint, daß eine Sache nichts anderes sei als eine andere, obwohl die fraglichen Sachen gerade wegen ihrer Nachbarschaft, Verknüpfung und/oder Ähnlichkeit, mag diese auch noch so eng und groß sein, an sich verschieden sind. Zu den Daten, welche mit anderen in engen Zusammenhängen stehen und Ähnlichkeiten mit anderen Daten aufweisen, zählt auch die Notwendigkeit, von der oben die Rede war. Werden die engen Zusammenhänge und Ähnlichkeiten als solche verkannt, trübt sich der Blick auf diese Notwendigkeit. In der Folge kommt es leicht zu irrtümlichen Verwechslungen, Konfundierungen und Reduktionen. In den kommenden Abschnitten soll daher, insbesondere im Rückgriff auf HILDEBRAND, SEIFERT, WENISCH und WHITE, zunächst der Zusammenhang und die Verschiedenheit einiger Daten herausgestellt werden, mit denen die besagte Notwendigkeit leicht verwechselt werden kann. Dies erfolgt in den Abschnitten 7.1 bis 7.6. Im Anschluß werden, insbesondere im Rückgriff auf SEIFERT, in den Abschnitten 7.7 bis 7.12 eine Reihe von notwendigen Eigenschaften der wesensnotwendigen Sachverhalte zur Einsicht gebracht. Sowohl durch die dargestellten Zusammenhänge und Unterscheidungen als auch durch die Herausstellung der notwendigen Eigenschaften wesensnotwendiger Sachverhalte soll der irreduzible Charakter dieser Notwendigkeit vertieft zu Tage treten.
7. DIE CHARAKTERISTIKA DER IN VORLIEGENDEN NOTWENDIGKEIT
NOTWENDIGEN
SACHVERHALTEN
7.1 Notwendige Sachverhalte und Allgemeinheit überhaupt Einer der notwendig im Zweifel gründenden Sachverhalte ist, daß sich allein Sachverhalte bezweifeln lassen.1024 Jeder Zweifel muß, um Zweifel sein zu können, Sachverhalte thematisieren. Nun könnte man der Auffassung sein, daß die Notwendigkeit dieses Sachverhaltes in seiner Allgemeinheit besteht. D.h. mit anderen Worten: Weil der Sachverhalt, daß jeder Zweifel Sachverhalte thematisieren muß, allgemein ist, deshalb besteht er notwendig. Hier fungiert die Allgemeinheit gewissermaßen als Grund und »Erklärung« für die Notwendigkeit, wie sich mit HILDEBRAND sagen läßt.1025 HILDEBRAND weist darauf hin, daß hier eine sonderbare Verwechslung von Allgemeinheit und Notwendigkeit vorliegt. Im Unterschied dazu sieht HILDEBRAND den engen Zusammenhang von Allgemeinheit und Notwendigkeit, ohne die wesentliche Verschiedenheit beider Daten zu übersehen. »Obwohl jeder notwendige Sachverhalt allgemeinen Charakter trägt, ist doch […] das Moment der Notwendigkeit nicht identisch mit dem der Allgemeinheit. Es hat einen ganz eigenen Sinn und Gehalt gegenüber dem der Notwendigkeit.«1026
Wenn ein Sachverhalt aufgrund seiner Allgemeinheit notwendig wäre, dann würde sich die Frage stellen, ob nicht auch der Grad der Notwendigkeit eines Sachverhaltes mit seiner Allgemeinheit steigen müßte. Tatsächlich aber ist der allgemeine Sachverhalt nicht notwendiger als der Einzelfall, demgemäß ein aktueller einzelner Zweifel hic et nunc nur auf einen Sachverhalt – bzw. nur auf die einander ausschließenden alternativen Sachverhalte – abzielen kann. Der singuläre Sachverhalt ist nicht weniger, 1024
1025 1026
Das heißt freilich nicht, daß sich allein der Zweifel auf Sachverhalte beziehen muß und nichts außer dem Zweifel notwendig auf Sachverhalte gerichtet sein kann. Das Urteilen etwa erweist sich, wie bereits gezeigt, als ein weiterer notwendig auf Sachverhalte gerichteter Akt. HILDEBRAND [1976], 65f. HILDEBRAND [1976], 65f.
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sondern ebenso notwendig wie der entsprechende universale. Hier und da besteht der Zusammenhang zwischen Zweifel und Sachverhalt notwendig. Es ist gerade nicht so, daß der allgemeine Sachverhalt vermöge seiner Allgemeinheit notwendiger wäre als der singuläre und letzterer, da vermeintlich weniger notwendig als der allgemeine, prinzipiell ein Anders-seinKönnen zuließe. SEIFERT schreibt dazu: »The essential necessity which we discovered […] is not at all restricted to the relation between the universal and the particular. It characterizes both the universal state of affairs as such and the individual state of affairs as such.«1027
Auch ein hier und jetzt vollzogener aktueller und konkreter Zweifel muß sich auf Sachverhalte richten und kann auf nichts anderes als auf Sachverhalte gerichtet sein, wenn anders dieser Zweifel Zweifel ist. Und doch ist es ebenfalls wahr, daß zwischen beiden Sachverhalten ein Unterschied besteht, wie CAJTHAML und SEIFERT zeigen. Dieser Unterschied zwischen dem allgemeinen und dem konkreten Sachverhalt hängt an der, wie CAJTHAML sich ausdrückt, »Nichtbedingtheit des Bestehens« des allgemeinen und »Bedingtheit des Bestehens« des konkreten Sachverhalts. »Der Unterschied zwischen ihnen liegt lediglich in der Bedingtheit des Bestehens des ersteren und der Nichtbedingtheit des Bestehens des letzteren: Wenn ich tatsächlich zweifle, impliziert mein Zweifel notwendig, daß ich existiere. Es ist aber nicht notwendig, daß ich zweifle. Dagegen ist das Bestehen des allgemeinen Sachverhaltes, daß jedes Zweifeln die Existenz eines Zweifelnden voraussetzt, an keine real-kontingente Existenz gebunden. Er besteht ewig und absolut unbedingt.«1028
Angewandt auf das hier einschlägige Beispiel heißt dies: Der Bestand des konkreten notwendigen Sachverhalts, daß sich dieser bestimmte Zweifelsakt, der hier und jetzt vollzogen wird, auf Sachverhalte richtet, ist be1027
1028
SEIFERT [1987], 200. »Zunächst ist die Notwendigkeit, welche die im Wesen des Zweifels implizierten Sachverhalte charakterisiert, nicht mit ihrer Allgemeinheit gleichzusetzen. Denn etwa der ›individuelle‹ Sachverhalt, daß mein Zweifel, meine (individuelle) Existenz voraussetzt, ist nicht weniger notwendig als der allgemeine Sachverhalt, daß jeder Zweifel die Existenz eines bewußten Subjektes voraussetzt.« CAJTHAML [2003] 115. CAJTHAML [2003] 115. S. auch HILDEBRAND [1976], 64ff.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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dingt durch die konkrete Existenz dieses Zweifelsaktes, welche keineswegs notwendig, sondern kontingent ist. Damit ist aber auch die Notwendigkeit des konkreten Sachverhaltes insofern bedingt als sie, um »aktuell vorzuliegen«, die konkrete Existenz dieses Zweifelsaktes voraussetzt, wie SEIFERT sich treffend ausdrückt: »The necessity of the individual instance of the universal law, in contrast, is conditional in regard to existence […]. If we speak […] of the absolute necessity of the essentially necessary fact in the existing individual, then this reality and contingent existence are presupposed for this necessity to obtain actually.«1029
Anders gewendet: Die Notwendigkeit des singulären Sachverhaltes liegt nur dann aktuell vor, wenn auch der Sachverhalt konkret besteht. Dessen Bestand wiederum ist bedingt durch die konkrete Existenz eines konkreten Zweifelsaktes, welche kontingent ist. Aber wenn ein konkreter Zweifelsakt vorliegt, dann muß auch er als konkreter mit unverrückbarer Notwendigkeit auf Sachverhalte gerichtet sein. Der Bestand des allgemeinen Sachverhaltes hingegen, daß jeder Zweifel Sachverhalte thematisiert, setzt nicht voraus, daß ein Sachverhalt von irgendeiner konkreten Person in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft konkret und tatsächlich angezweifelt wird. Er besteht dennoch notwendig. Im Unterschied dazu kann es unmöglich notwendig sein, daß eine konkrete Person an einem konkreten Zeitpunkt konkret zweifelt. Der singuläre Sachverhalt, daß ein konkreter Zweifel hier und jetzt von einem Sachverhalt angezogen werden muß und nur von einem Sachverhalt angezogen werden kann, ist ebenso notwendig wie der allgemeine. Aber sein Bestand wird im Unterschied zum allgemeinen Sachverhalt fundiert durch die kontingente Realität eines tatsächlichen Aktes des Zweifelns und ist insofern von diesem bedingt, als der Sachverhalt nur besteht, wenn auch der entsprechende konkrete Zweifelsakt existiert.
1029
SEIFERT [1987], 199.
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7.2 Notwendige Sachverhalte und strikte Allgemeinheit Notwendigkeit und Allgemeinheit sind also nicht dasselbe und dürfen daher nicht verwechselt werden. Gleichwohl besteht zwischen Notwendigkeit und Allgemeinheit ein enger Zusammenhang, derart, daß strikte, d.h. ausnahmslose Allgemeinheit allein aufgrund von strenger Notwendigkeit vorliegen kann, denn »nur wenn ein allgemeiner Sachverhalt strukturelle Notwendigkeit besitzt, ist ihm der Einzelfall strikt unterstellt.«1030
Der allgemeine Sachverhalt, daß sämtliche Misteln auf Bäumen wachsen, kann niemals prinzipiell ausnahmslos sein, da sich Misteln im Prinzip auch anders verhalten könnten. Er kann, anders gewendet, deshalb nicht strikt und prinzipiell ausnahmslos sein, weil er an sich nicht unverrückbar notwendig sein kann. Ganz anders liegen die Dinge bei dem Sachverhalt, daß der Zweifel mit der Überzeugung verbunden ist, eine Zustimmung zu den in Frage stehenden Alternativen nicht voreilig geben zu dürfen. Dieser ist prinzipiell und ausnahmslos allgemein, weil der Zusammenhang zwischen dem Akt des Zweifels einerseits und der Überzeugung von der nicht voreilig zu gebenden Zustimmung andererseits notwendig besteht. D.h. nur deshalb, weil der allgemeine Sachverhalt auch streng, oder wie HILDEBRAND sich ausdrückt, ›strukturell‹ notwendig ist, sind die ihm unterfallenden singulärkonkreten Sachverhalte auch »strikt unterstellt«. Und genau darum und nur darum kann es hier unmöglich und unter keinen Umständen auch nur eine einzige Ausnahme geben. »[…] an absolutely exeptionless […] necessity with which the universal nature rules each individual case is only grounded in essentially necessary facts as such; it is a consequence of the strict essential necessity.«1031
Kurzum: Jede strikt ausnahmslose Allgemeinheit eines Sachverhaltes kann nur durch die strenge Notwendigkeit dieses Sachverhaltes begründet sein. 1030 1031
HILDEBRAND [1976], 66. SEIFERT [1987], 206. S. CAJTHAML [2003], 115f.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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7.3 Notwendige Sachverhalte und das formale Verhältnis zwischen allgemeiner Natur und konkretem Einzelfall Die Notwendigkeit, um die es bei allgemeinen Sachverhalten, wie z.B. daß jedes wirkliche Bestehen bzw. Nichtbestehen eines Sachverhaltes das Nichtbestehen bzw. Bestehen des kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhaltes fordert und einzelnen Sachverhalten, wie daß dieses Bestehen bzw. Nichtbestehen dieses Sachverhaltes das Nichtbestehen bzw. Bestehen des kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhaltes fordert, geht, darf auch nicht, wie HILDEBRAND unterstreicht, mit der Notwendigkeit verwechselt werden, wie sie etwa zwischen einer allgemeinen Natur und deren Einzelfall besteht. »Diese beiden Arten von Notwendigkeit müssen scharf voneinander getrennt werden: Die formale, nur auf das Verhältnis von Genus oder Spezies und Einzelfall bezogene Notwendigkeit ist gleichsam die Grundlage für den geistigen Schritt, der in jeder Deduktion vollzogen wird. Diese formale Notwendigkeit ist ganz auf die Beziehung von Genus oder Spezies zu individuellem Einzelfall beschränkt. Die viel gehaltvollere innere, tiefere Notwendigkeit hingegen, die wir hier meinen, charakterisiert den allgemeinen Sachverhalt in sich, noch bevor wir die Beziehung des Allgemeinen zu dem ihm unterstehenden Sachverhalt betrachten. […] Mit den Worten: »Es ist notwendig so« meinen wir nicht nur, weil es im allgemeinen so ist, muß es auch im Einzelfall so sein, sondern weisen auf eine ganz einzigartige Struktur des allgemeinen Sachverhaltes als solchen hin, die sich natürlich ebenso in allen seinen individuellen Konkretisierungen findet.«1032
Wenn alle Misteln auf Bäumen wachsen, wird mit Recht gesagt, daß das Wachsen auf Bäumen faktisch zum natürlichen Verhalten der Misteln gehört, und die Misteln daher kraft ihrer Natur auf Bäumen wachsen. Und wenn alle Misteln kraft ihrer Natur auf Bäumen wachsen, dann folgt daraus notwendig, daß auch diese oder jene Mistel auf einem Baum wächst. Diese Notwendigkeit besteht aber nur in dem »formalen« Verhältnis zwischen allgemeiner Natur (Spezies) und Einzelfall, denn sowohl die allgemeine Natur als auch der Einzelfall können sich prinzipiell anders verhalten, da der Zusammenhang zwischen Misteln und Bäumen zwar faktisch vorliegt, 1032
HILDEBRAND [1976], 66. 119f. S. auch SEIFERT [1987], 199f. S. auch CAJTHAML [2003], 115f.
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aber an sich und wesenhaft kontingent ist. Hier kann strenge »metaphysische« Notwendigkeit objektiv gar nicht vorliegen. Eine Mistel kann wirklich eine Mistel sein, auch wenn sie als Schmarotzer einen anderen Wirt »entdecken« sollte. Ganz anders verhält es sich bei dem obigen allgemeinen Tatbestand, daß jeder wirklich bestehende bzw. nichtbestehende Sachverhalt das Nichtbestehen bzw. Bestehen des kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhaltes fordert, und dem einzelnen Sachverhalt, daß dieses Bestehen bzw. Nichtbestehen dieses Sachverhaltes das Nichtbestehen bzw. Bestehen des kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhaltes fordert. Die hier vorliegende Notwendigkeit besteht nicht in dem formalen Verhältnis zwischen Sachverhalten überhaupt bzw. der Natur der Sachverhalte und einem konkreten Sachverhaltsfall und ist daher auch keine bloße Folge der allgemeinen Natur. Vielmehr charakterisiert die hier vorliegende Notwendigkeit beide Sachverhalte als solche. Es handelt sich in beiden Fällen auch nicht um ein wohl sehr sinnvolles, aber letztlich faktisch-kontingentes Sosein, das Abweichungen und Änderungen im Prinzip zuläßt: In beiden Fällen muß es so sein und kann es nicht anders sein, so daß jede Ausnahme prinzipiell unmöglich ist. 7.4 Notwendige Sachverhalte und Naturnotwendigkeit Daß Napoleon 1821 auf St. Helena gestorben ist, ist ebenso ein Sachverhalt wie daß Misteln auf Bäumen wachsen. Ein Unterschied besteht darin, daß der erste singulär ist, der zweite aber allgemein, da sich das Wachstumsverhalten aller Misteln gleicht. Ein weiterer Unterschied besteht darin, daß der zweite eine botanische Naturgesetzlichkeit darstellt, mit der eine gewisse, die Einzelfälle regierende empirische Notwendigkeit einhergeht, während der erste zwar in sinnvollen historischen Sachverhaltszusammenhängen steht, in sich selber aber völlig kontingent ist, da die Person Napoleon nicht aufgrund ihres Soseins als Person 1821 auf St. Helena hat sterben müssen. In diesem Fall wäre die Person Napoleon absurderweise nur dann Person gewesen, wenn sie auf St. Helena gestorben ist, und zwar keinen Augenblick früher oder später, als sie dort verschied. Stellt man solchen Sachverhalten Tatbestände gegenüber wie den Notwendigen-Bestand-oder-Nichtbestand des kontradiktorisch entgegenge-
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setzten Sachverhaltes eines nichtbestehenden bzw. bestehenden-Sachverhaltes oder das Unmögliche-zugleich-und-in-der-gleichen-Hinsicht-bestehen-Können zweier kontingenter Sachverhalte, die kontradiktorisch entgegengesetzt sind, oder das Zeitunabhängige-unmögliche-Bestehenkönnen des kontradiktorischen Gegensatzes eines notwendigen Sachverhaltes, dann wird deutlich: Die den empirischen Sachverhalten eignende Notwendigkeit ist keine absolute Notwendigkeit. Es kann niemals nachgewiesen werden, daß diese Sachverhalte so bestehen müssen und nicht anders als so bestehen können, d.h. diese Sachverhalte können niemals, um mit POPPER zu sprechen, prinzipiell »verifizierbar« sein, sie sind aber und können prinzipiell »falsifizierbar« sein. Der Grund dafür liegt in ihrer prinzipiellen Kontingenz und der damit wesenhaft und prinzipiell verbundenen Unmöglichkeit, daß das kontradiktorische Gegenteil einen seinsmäßigen Widersinn und eine Absurdität darstellt, die als solche freilich unmöglich bestehen könnte.1033 Vielmehr kann hier der kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalt im Prinzip bestehen, wenn auch nicht zur gleichen Zeit und in der gleichen Hinsicht. HILDEBRAND schreibt dazu: »Dieser Unterschied zwischen beiden gründet in den Wirklichkeiten selbst, also zwischen der Wesensnotwendigkeit und der Notwendigkeit von Naturgesetzen, die wir als Naturnotwendigkeit bezeichnen können. Die Wesensnotwendigkeit ist absolut. Sie ist strikt im Wesen der Dinge als solcher gegründet. Die Naturnotwendigkeit dagegen ist in gewisser Weise relativ auf die Kontingenz der Welt. Es ist nicht unmöglich, anzunehmen, daß ein Körper sich nicht ausdehnt, obwohl er erwärmt wird. Jedoch ist es in sich unmöglich – obgleich nicht kontradiktorisch
1033
»Die Notwendigkeit, welche die von uns diskutierten, im Wesen des Zweifels implizierten Sachverhalte kennzeichnet, ist ferner auch von der Notwendigkeit verschieden, welche die Naturgesetze, wie z.B., daß sich die Körper bei Erwärmung ausdehnen, charakterisiert. Denn obwohl solche Gesetze ganz allgemein gelten, ist es immer noch denkbar, d.h. nicht schlicht absurd, daß sich ein Stück Metall bei Erwärmung nicht auszudehnen beginnt. Ein solcher Vorgang, sollte er tatsächlich eintreten, wäre sicher völlig unerwartet, erstaunlich und unerklärbar und würde das obengenannte Naturgesetz in Krise bringen. Deswegen darf man aber nicht übersehen, daß sein Vorkommen nicht mit derselben Absolutheit auszuschließen ist […].« CAJTHAML [2003] 116. S. auch SEIFERT [1987], 200ff.
458
Kapitel 7 [im logischen Sinne] –, anzunehmen, ein apersonales Gebilde wie ein Stein könnte sittliche Werte, z.B. Gerechtigkeit oder Demut, tragen.«1034
Ferner ist die »Notwendigkeit« empirischer Sachverhalte, die aufgrund des soeben Gesagten mit SEIFERT als kontingente bzw. nicht absolute »Naturnotwendigkeit« bezeichnet werden kann,1035 kraft dieser Kontingenz durch einen weit geringeren Grad an Intelligibilität und eine andere, weil vermittelte Art von Intelligibilität gekennzeichnet, ganz im Unterschied zu den oben erwähnten in Sachverhalten überhaupt gründenden Tatbeständen, welche restlos und unmittelbar intelligibel sind. CAJTHAML macht darauf aufmerksam, wenn er schreibt: »Es ist nicht gleich intelligibel und notwendig, daß sich ein Körper bei Erwärmung ausdehnt, wie daß sich ein Zweifelsakt auf das Bestehen eines Sachverhaltes bezieht.«1036
Mit SCHWARZ läßt sich der Unterschied zwischen empirischen und soseinsnotwendigen Sachverhalten auch folgendermaßen darstellen: »Eine für den gegebenen Zusammenhang besonders entscheidende letzte Eigenschaft von Sachverhalten ist darin zu sehen, daß sie Träger gewisser Modalitäten sind. Die für das Folgende wichtigsten Modalitäten sind die – einander ausschließenden – der (puren) Faktizität und der Wesensnotwendigkeit. Träger der ersten Modalität sind Sachverhalte, deren Bestand durch die Existenz des in ihnen an der bezeichneten Stelle auftretenden Gegenstandes nicht impliziert ist – die in diesem Sinn ein reines Faktum sind. Die Modalität der Wesensnotwendigkeit, der Apriorität hingegen besitzen alle jene Sachverhalte, die mit dem in ihnen auftretenden Gegenstande so verknüpft sind, daß das Existieren dieses Gegenstandes eine notwendige und hinreichende Bedingung für das Bestehen des fraglichen Sachverhaltes darstellt.«1037
1034 1035
1036 1037
HILDEBRAND [1976], 68. »There is certainly some kind of necessity here, at least the kind Aristotle requires in the Posterior Analytics in order for any science to be possible. But this type of necessity differs radically from essential necessity […].« SEIFERT [1987], 200. CAJTHAML [2003] 116. Zur unterschiedlichen Intelligibilität von kontingenten und wesensnotwendigen Gegebenheiten s. Abschnitt 7.10. SCHWARZ [1934], 28.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
459
Weder die einzelne faktisch existierende Mistel noch alle Misteln insgesamt implizieren notwendigerweise den Bestand des Sachverhalts, daß sie auf Bäumen wachsen. Deshalb rechtfertigt die Beobachtung nur einer faktisch existenten Mistel, die auf einem Baum wächst, keineswegs die Meinung, daß alle Misteln auf Bäumen wachsen, und die Beobachtung einer repräsentativen Anzahl von faktisch auf Bäumen wachsenden Misteln kann unmöglich die Meinung rechtfertigen, daß sie und alle Misteln als solche überhaupt auf Bäumen wachsen müssen und nicht anders als auf Bäumen wachsen können. Ganz im Unterschied dazu impliziert das Bestehen bzw. Nichtbestehen eines in sich rein faktischen Sachverhalts als solchem den gerade nicht faktischen, sondern notwendigen Bestand des Sachverhalts des Nichtbestehens bzw. Bestehens seines kontradiktorischen Gegensatzes. Das Bestehen eines solchen konkreten Sachverhalts selbst ist somit schon die notwendige und hinreichende Bedingung für das Nichtbestehen des kontradiktorisch entgegengesetzten Parts. 7.5 Notwendige Sachverhalte und psychologische Denknotwendigkeit Neben den allgemeinen »Naturnotwendigkeiten« der Botanik, Zoologie, Geologie, Chemie und Physik etc., welche das Verhalten von Gegenständen der Außenwelt betreffen, gibt es auch Naturnotwendigkeiten der »inneren Welt« bzw. des psychischen Verhaltens. Nun liegt die Auffassung nahe, in der Notwendigkeit eines Sachverhaltes wie des Sich-auf-SachverhalteBeziehens jedes Zweifels eine psychologische Notwendigkeit zu sehen, die relativ ist auf die faktische Konstitution der menschlichen Psyche. Ändert sich diese Konstitution, dann kann es, dieser Auffassung gemäß, geschehen, daß sich das Zweifeln nicht mehr notwendig auf Sachverhalte bezieht, sondern beispielsweise auch oder nur noch Sachen als solche bezweifelt werden können. Der Grund dafür liegt darin, daß die Notwendigkeit nicht im Zweifel als Zweifel gründet, sondern in der Konstitution der Psyche überhaupt. Hier soll nun eine solche spezifisch psychologische Gesetzmäßigkeit betrachtet und mit dem Zusammenhang verglichen werden, der zwischen dem Zweifel und dessen objektivem Korrelat besteht. Zunächst lassen sich im gegebenen Zusammenhang mit SEIFERT »two types of psychological necessity and corresponding impossibility« unter-
460
Kapitel 7
scheiden.1038 Erstens gibt es jene Art von psychologischer Notwendigkeit, dergemäß es unmöglich ist, daß sich ein Mensch »gleichzeitig mit derselben vollen Aufmerksamkeit fünf voneinander unterschiedenen Handlungen widmen« oder das Telephonbuch einer Großstadt wie Hamburg auswendig lernen kann. Die menschliche Psyche ist faktisch nun einmal so ›gebaut‹, daß sie erfahrungsgemäß und in aller Regel außerstande ist, derartiges zu leisten.1039 Zweitens unterscheidet SEIFERT jene psychologische Notwendigkeit, dergemäß ein Mensch sich infolge eines »immanenten Grundes« innerhalb seiner psychischen Konstitution genötigt sieht, so und so zu denken oder sich etwas so und so vorzustellen, wobei diese Vorstellung tatsächlich das Spektrum der objektiven Verhaltensmöglichkeiten des Menschen beeinflußt, indem diese Verhaltensmöglichkeiten durch die menschliche Vorstellung gleichsam überformt werden.1040 So kann es etwa geschehen, daß eine Person, der gesagt wird, sie würde lernen können, meisterhaft im Tiefschnee Ski zu fahren, wenn sie dabei nur nicht an eine sie begrabende Lawine denke, niemals lernt, derart vollendet im Tiefschnee zu fahren, weil sie es fortan nicht mehr unterlassen kann, an eine sie begrabende Lawine zu denken. Beide Arten der Notwendigkeit und ihre entsprechenden Unmöglichkeiten sind indes rein empirischer Natur, wie SEIFERT zu Recht betont. Dies gilt zumal für die zweite Art der psychologischen Notwendigkeit, insofern diese, wie SEIFERT sagt, »less strict« ist als jede induktiv gerechtfertigte naturgesetzliche Notwendigkeit.1041 Daher läßt sich bereits induktiv nachweisen, daß Abweichungen in diesem Bereich ungleich öfter auftreten als im Bereich der Naturgesetze. 1038 1039
1040
1041
SEIFERT [1987], 203. »There are first empirical psychological necessities such as that man cannot pay full attention to five different activities at the same time. They have the character of a ›necessity of nature‹ related to the human psyche [...].« SEIFERT [1987], 203. »The second type of psychological necessity and of correspondig impossibility is present when there is an immanent reason within our psychic life for having to think or not to think, to imagine or not to imagine, and so on, something ›objective‹. This necessity may project some merely subjective psychological connection into the objective world.« SEIFERT [1987], 203. »This type of necessity is, first of all, not absolute but empirical, and even as empirical necessity it is less strict than that of the laws of nature.« SEIFERT [1987], 204. S. auch das ebd. genannte Beispiel.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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Die hier vorliegenden Zusammenhänge und Sachverhalte unterscheiden sich markant von dem Sachverhalt wie dem, daß der psychologische Akt des Zweifelns als solcher Sachverhalte als einzig mögliches direktes Objekt voraussetzt. D.h., sie unterscheiden sich eindeutig von der hier vorliegenden im Zweifel selbst fundierten Sachverhaltsnotwendigkeit. Zunächst besteht zwischen dem Gedanken oder Wunsch eines meisterhaften Skifahrens im Tiefschnee an sich und dem Gedanken an Lawinen an sich überhaupt kein notwendiger Zusammenhang, auch wenn bestimmte Personen immer an beides denken müssen. Notwendigkeit ist hier keine strenge und absolute. »Exceptions are«, so schreibt SEIFERT, »not only possible but it is clearly understood that there is no absolutely necessary bond between the terms which I associate or think together with psychological necessity.«1042
Andernfalls müßte jeder Tiefschneefahrer unabhängig davon, ob ihm der Zusammenhang »ins Ohr« gesetzt wird, immer an Lawinen oder an ihn begrabende Lawinen denken, was schon der Leichtsinn vieler Skifahrer widerlegt. Mehr noch, es würde bedeuten, daß kein Mensch, ob man ihm nun Entsprechendes sagt oder nicht, jemals zur Meisterschaft im Tiefschneefahren gelangen könnte, denn es müßten nicht nur alle an obigen Zusammenhang denken, es würde auch das Spektrum der Verhaltensmöglichkeiten aller entsprechend eingeschränkt werden. Es kann aber sein, daß Menschen gerade deshalb lernen, meisterhaft im Tiefschnee zu fahren, weil sie die Gefahr von Lawinen immer berücksichtigen und so ihrem Lernprozeß niemals fahrlässig ein vorzeitiges Ende bereiten. Ferner sind derlei psychologische Notwendigkeiten »in no way rooted in the object in question«, wie SEIFERT hervorhebt. Das Denken an meisterhaftes Tiefschneefahren impliziert als solches nicht notwendig das Denken an Todeslawinen. Die »Implikation« ist hier rein faktisch und von einer psychologisch-empirischen und d.h. kontingenten Notwendigkeit. Die Notwendigkeit liegt hier nicht auf der Seite des Objektes, d.h. des Aktes selbst, durch den an ein Im-Tiefschnee-Fahren gedacht wird, sondern auf der Seite des Subjektes und in dessen subjektiver Unfähigkeit, anders zu denken und ggf. anders zu agieren. Die 1042
SEIFERT [1987], 204.
462
Kapitel 7 »necessity appears clearly on the subject-side and is experienced as an subjective lack of ability to think or to imagine exept in accordance with such a psychological necessity.« 1043
Im Unterschied dazu besteht der Zusammenhang zwischen dem Akt des Zweifels und den Sachverhalten als dessen einzig möglichen Korrelat absolut notwendig. Und infolge der hier unverrückbar gegebenen Sachverhaltsnotwendigkeit kann in keiner möglichen oder wirklichen Welt durch keine Ratio und in keinem Akt des Zweifels etwas anderes bezweifelt werden als Sachverhalte. Auch liegt die Notwendigkeit nicht empirisch und kontingent auf seiten des denkenden Subjektes, so daß sich das Objekt oder die Gegebenheit »Zweifelakt« u.U. auf anderes als auf Sachverhalte direkt und unmittelbar beziehen könnte. Der Zusammenhang und dessen Notwendigkeit wurzeln vielmehr im Sosein des Aktes des Zweifels selbst und nicht in irgend etwas anderem, wie etwa der Konstitution des Zweifelnden. Überhaupt »liegt«, wie CAJTHAML sich ausdrückt »in jeder psychologischen Notwendigkeit […] immer etwas Faktisches und insofern Kontingentes«, und gerade deshalb muß ja der von HUSSERL analysierte und kritisierte Psychologismus alle logischen Sachverhalte, wie etwa das Unmögliche-zugleich-wahr-sein-Können zweier kontradiktorisch entgegengesetzter Urteile im Zuge der sie vermeintlich bedingenden puren Denknotwendigkeit ebenfalls für kontingent erklären, ohne zu sehen, welch großem Irrtum er damit erliegt.1044 7.6 Notwendige Sachverhalte und die transzendentale Notwendigkeit Kants KANT verwechselt Urteile, welche an sich und in sich notwendige Sachverhalte thematisieren mit Urteilen, welche Tautologien sind und als solche Sachverhalte thematisieren, deren Notwendigkeit, eine bloß abgeleitete und »borrowed one« (WENISCH) ist.1045 Das ist schon insofern 1043 1044
1045
SEIFERT [1987], 204. CAJTHAML [2003], 117 verweist ebenfalls zu Recht auf die schlagende Kritik des Psychologismus durch HUSSERL in dessen Prolegomena zur reinen Logik. Vgl. dazu HUSSERLS Widerlegungen in Hua. 18, § 36-38. Die in diesem Abschnitt nur gedrungen darstellbaren Zusammenhänge verdanken sich den Einsichten von HILDEBRAND [1976], 75-82, PFÄNDER
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
463
erstaunlich, als KANT selbst eine beachtliche Reihe notwendiger Sachverhalte entdeckt und beschreibt, die im Wesen/Sosein von analytisch-tautologischen Urteilen gründen. Anders gewendet: KANT fällt eine beachtliche Reihe von Urteilen über das An-sich-so-und-so-sein-Müssen von analytischen Urteilen/Tautologien, und diese Urteile über analytische Urteile müssen wahr sein und können unmöglich falsch sein, weil die durch diese Urteile unmittelbar thematisierten Sachverhalte als solche (an sich) ein Sound-so-sein-Müssen-und-nicht-anders-sein-Können darstellen. Daher trifft SEIFERT einen der kritischsten Aspekte des transzendentalen Idealismus KANTS, wenn er hervorhebt, daß die gründliche Vergegenwärtigung des eigentlichen und sachlichen Unterschiedes zwischen synthetischen und analytischen Urteilen a priori zu einer Einsicht in den Irrtum des gesamten transzendentalen Idealismus führte. Eben diese Untersuchung und Unterscheidung werde jedoch in aller Regel vernachlässigt: »Während die Irrtümer Kants einen weithin beherrschenden Einfluß ausüben, wird das Wesen und die Bedeutung dieser am Ausgangspunkt der Kantischen Philosophie stehenden Unterscheidung kaum näher erforscht. Das ist umso mehr zu beklagen, als eine derartige Untersuchung zugleich dazu führt, jene Verwechslungen und Irrtümer zu erkennen, ohne die das gesamte Kantische System undenkbar wäre […].«1046
KANTS Verwechslung bzw. Reduktion von soseinsnotwendige Sachverhalte thematisierenden Urteilen mit bzw. auf Urteile tautologischer Natur beruht ihrerseits auf KANTS eigentümlicher Verwechslung des auf eine notwendige Wesenseigenschaft abzielenden Begriffsinhalts mit dem Wesen als solchem. Kurzum: KANT verwechselt auf eine eigentümliche Weise den Begriff vom Wesen mit dem Wesen, das begriffen wird. Die gesamte abendländisch-klassische Philosophie vor ihm sei, wie KANT betont, in »bloßen Begriffen« »herumgetappt«, wenn sie ihre vermeintlich apriorischen und daher absoluten Wahrheiten verkündete, denn
1046
[2000], 130-136, WENISCH [1988], SEIFERT, [1976], 170-181 und nicht zuletzt WHITE [1992], der in seinem Essay die Grundintentionen des transzendentalen Idealismus KANTS und die Gründe für diese Intentionen ungemein präzise veranschaulicht. S. Angaben unter Fußn. 1050 u. 1051. SEIFERT [1976], 171.
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Kapitel 7 »er fand, […] daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgt, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.«1047 »Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren bisher ein bloßes Herumtappen, und, was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen, gewesen sei.«1048
Dieser gewaltige Vorwurf ist gerade auch im Hinblick auf die vielen von KANT selbst für seine transzendentale Wende vorausgesetzten Soseinseinsichten durchaus erstaunlich und zeigt, »daß Kant an dem eigentlichen Unterschied zwischen analytischen und synthetischen Urteilen vorbeiging.«1049
KANT meint, daß alles, was notwendig im Wesen einer Sache gründet, auch notwendigerweise im Begriff dieser Sache beinhaltet sein müsse. Mit dieser Auffassung wird KANT das, man möchte sagen, tragische Opfer einer mit dem Terminus »Begriff« gegebenen möglichen Äquivokation.1050 Da KANT die Äquivozität des Ausdrucks »Begriff« nicht auffällt, gelangt er zu der Auffassung, daß jene Urteile, die durch das, was sie behaupten, einen notwendigen Sachverhalt zum Ausdruck bringen, unmöglich das Resultat einer Einsicht in das Ding an sich darstellen können, sondern als Tautologien bzw. als analytische Urteile »noninformativ« (WENISCH) bzw. sachlich völlig gehaltlos sein müssen. Folglich meint KANT auch, daß all jene Urteile, die in der Tat synthetische Urteile a priori sind, auf analytische Urteile a priori zu reduzieren seien, »wodurch sie ihre Erkenntnisdignität natürlich ganz einbüßen« (HILDEBRAND), da sie ja zu bloßen Exemplifizierungen der Wahrheit des Identitätsprinzips degradiert wer-
1047
1048 1049 1050
Mit dem »er fand« bezieht sich KANT in diesem Zitat nicht auf die eigene Person, sondern auf THALES, die Stelle läßt sich aber sinngemäß auf KANT übertragen. S. KrV, XII. KrV, XV. SEIFERT [1976]. 173. Zu dieser Äquivokation s. HILDEBRAND [1976], 77ff. WHITE [1992], 291ff. 301. 308f. Zur Unterscheidung von Wesen und Begriff s. PFÄNDER [2000], 130-136. WENISCH [1988], 126ff.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
465
den.1051 KANT übersieht indes völlig, daß etwa die Notwendigkeit des in dem Urteil: »Orange liegt der Ähnlichkeitsordnung nach zwischen Rot und Gelb« behaupteten Sachverhaltes nicht deshalb besteht, weil die Notwendigkeit besteht, daß Orange mit sich identisch ist. Mit WENISCH, SEIFERT und WHITE ist vielmehr zu sehen, daß Ableitungen aus dem Identitätsprinzip keine an sich notwendigen Sachverhalte ergeben, sondern nur Sonderfälle bzw. Exemplifizierungen des Identitätsprinzips darstellen, so daß die Notwendigkeit der Sonderfälle ihnen unausgesetzt und einzig vom Identitätsprinzip her zuwächst. 1051
An dieser Stelle gilt es folgendes zu beachten: Wie WENISCH zeigt, sieht KANT (s. KrV, B 10) zwar einen Zusammenhang zwischen analytischen Urteilen und dem Satz der Identität, er meint jedoch, daß die notwendige Wahrheit analytisch-kategorischer Urteile direkter- und notwendigerweise und von der Gültigkeit des Widerspruchsprinzips abhinge. Bereits hier täuscht sich KANT, wie insbesondere WENISCH in seinen meisterhaften Analysen dieser Thematik zeigt. Denn die notwendige Wahrheit analytischer kategorischer Urteile hängt nicht vom Widerspruchsprinzip, sondern in direkter Weise vom Identitätsprinzip ab. Lediglich die Notwendigkeit der Wahrheit disjunktiver analytischer Urteile wie »Löwen sind entweder Fleischfresser oder nicht« hängt, wie WENISCH zeigt, direkt vom Widerspruchsprinzip ab. Wenn also oben im laufenden Text davon die Rede ist, daß die notwendige Wahrheit des kategorischen Urteils »Orange liegt der Ähnlichkeitsordnung zwischen Rot und Gelb« keine Ableitung aus dem Identitätsprinzip darstellt, dann wurde bereits ein weiterer Fehler KANTS korrigiert. Das hindert freilich nicht, daß KANT grundsätzlich völlig Recht hat, wenn er die unmittelbar wesensnotwendige Abhängigkeit und Abgeleitetheit der notwendigen Wahrheit tautologischer Urteile von obersten logischen Prinzipien zur, ja man muß mit WENISCH und SEIFERT sagen, zur Einsicht (!) bringt. Zu KANTS Kriterien für analytische Urteile s. Prol, § 2. KrV, A 151, B 190. Zur detaillierten Würdigung und Kritik von KANTS für analytische Urteile s. WENISCH [1988], 139ff. 148-160. Zur detaillierten und äußerst erhellenden Unterscheidung zwischen der von obersten Prinzipien lediglich abgeleiteten und entliehenen Notwendigkeit analytischer Urteile und den »informativen« (WENISCH) und notwendigen und allgemeinen (den authentischen synthetischapriorischen) Urteilen, deren Notwendigkeit allein im objektiven So-seinMüssen des von ihnen unmittelbar thematisierten Sachverhalts fundiert sein kann s. WENISCH [1988], 145ff. insb. 162-165. 173. 177 (zur derivativen Notwendigkeit analytischer Urteile) und 166-178 (zur wesentlich anders gearteten Notwendigkeit der von KANT nicht erreichten eigentlichen synthetisch-apriorischen Urteile). Zu den Verwechslungen, die zu KANTS Reduktion der klassischen synthetisch-apriorischen Urteile auf analytische Urteile führen und zu dieser Reduktion selber s. HILDEBRAND [1976], 75-79. S. WHITE [1992], 308311. SEIFERT [1976], 170-176.
466
Kapitel 7 »[…] the necessity of the states of affairs posited by uninformative propositions is, as is were, only ›borrowed‹. Uninformative propositions are necessary only because the states of affairs posited by them fall objectively (that is without the proposition in question making reference to it) under certain ontological or logical laws.«1052
Alles andere bedeutete, daß die aus dem Identitätsprinzip abgeleiteten Sachverhalte intrinsek notwendig wären, also auch der von SEIFERT beispielshalber angeführte Sachverhalt des Alt-seins-aller-Männer,-die-alt(die Greise)-sind. Das kann jedoch offensichtlich nicht der Fall sein, denn, ein Mann, der alt ist, ist lediglich faktisch, nicht aber notwendig alt, wie SEIFERT treffend hervorhebt.1053 Orange hingegen liegt als Orange der Ähnlichkeitsordnung nach mit absoluter Notwendigkeit zwischen Rot und Gelb. Dieser notwendige Sachverhalt kann nicht aus einem anderen notwendigen Sachverhalt abgeleitet oder auf diesen reduziert werden, weil er als solcher notwendig ist.1054 M.a.W., Orange liegt nicht deshalb zwischen Rot und Gelb, weil es als Seiendes oder als Etwas überhaupt mit sich identisch sein muß. Selbstidentität ist keine spezifische und unaustauschbare Eigenschaft des Orange als Orange, sondern die notwendige Eigenschaft jedes Seienden als Seiendes. Und da auch das Orange ein Seiendes ist, muß es als solches auch mit sich identisch sein. Daher kann es unmöglich der Fall sein, daß das Orange deshalb zwischen Rot und Gelb liegt, weil es mit sich identisch ist. Daß Orange zwischen Rot und Gelb liegt, ist eine Notwendigkeit des Orange. Auf Sachverhalte wie diese bezieht sich WENISCH, wenn er unterstreicht, daß ihre Notwendigkeit »not a borrowed one« sein kann:
1052 1053 1054
WENISCH [1988], 173. S. die Verweise unter Fußn. 1051. SEIFERT [1976], 174. HILDEBRAND, der dieses Beispiel bevorzugt verwendet, hebt zu Recht ausdrücklich hervor, daß das dem oben genannten Sachverhalt entsprechende Urteil »Die Farbe Orange liegt zwischen Rot und Gelb« ein synthetisches Urteil a apriori ist. HILDEBRAND [1976], 76. Dieses Urteil bzw. der entsprechende Sachverhalt werden von HILDEBRAND aus einem besonderen Grund gern herangezogen. Durch sie wird deutlich, daß die logische und insbesondere die material-ontologische Apriorizität sich nicht in dem Bereich oberster Prinzipien oder Kategorien erschöpft, sondern diesen weit übersteigt.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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»Those states of affairs are necessary in themselves; they are not merely instances falling under a general law from which they would derive their necessity.«1055
WHITE schreibt hinsichtlich der verschiedenen Notwendigkeiten, welche einerseits die Notwendigkeit analytischer Urteile und andererseits die Notwendigkeit authentisch synthetischer-apriorischer Urteile bedingen: »Hence there are two entirely different necessities at stake here: one being the necessity of identity, i.e., that a conceptual element contained in the subject of a judgment may be repeated in the predicate; and a second necessity, namely, the truth necessity which obtains in a judgment whenever a necessary state of affairs obtains and is asserted as obtaining that way by the judgment.«1056
Der insbesondere von WENISCH so detailliert untersuchte und zur Einsicht gebrachte wesentliche Unterschied zwischen der Notwendigkeit an sich und der entliehenen Notwendigkeit durch bloße Exemplifikation eines Seinsprinzips wird von KANT gar nicht wahrgenommen.1057 Daran hindert ihn letztlich seine Verwechslung von Wesen und Begriff. Gegen diese Verwechslung schreibt HILDEBRAND: »Vor allem ist es unerläßlich, zu verstehen, daß ein Urteil eindeutig nicht durch die objektiv notwendige Beziehung zwischen dem im Satzsubjekt bezeichneten Seienden und dem im Prädikat benannten Seienden analytisch und tautologisch wird. Bei jedem wahren Urteil schließt sein Wahrsein eine wirklich bestehende Verbindung zwischen Prädikat und Subjekt [im Sinne des Materialobjektes, Anm. v. Verf.] ein. Diese Beziehung liegt auch jedem rein empirischen Urteil zugrunde. Aber selbst wenn die Beziehung zwischen den beiden durch Subjekt und Prädikat bezeichneten Seienden notwendig ist, z.B. die zwischen sittlichen Werten und personalem Seienden – da gerade das Wesen der sittlichen Werte ein personales Seiendes als einzigen möglichen Träger erfordert –, ist das Urteil: ›sittliche Werte setzen notwendig ein personales Seiendes voraus‹ in keiner Weise analytisch. Die notwendige Beziehung zwischen zwei Gegenständen, die Tatsache, daß etwas notwendig im Wesen von etwas anderem wurzelt, macht das Urteil, das eine solche Beziehung behauptet, nicht tautologisch. Im Gegenteil, nur wenn das Subjekt laut Definition die 1055 1056 1057
WENISCH [1988], 173. WHITE [1992], 309f. Zu WENISCHS Untersuchungen s. Fußn. 1051 (gegen Ende).
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Kapitel 7 Beziehung zu dem Prädikat einschließt, können wir von einer Tautologie sprechen. Der analytische Charakter eines Urteils impliziert, daß der Bezug auf das Subjekt bereits im Begriff des Subjektes eingeschlossen ist. Aber der Begriff des Subjektes ist eindeutig nicht dasselbe wie das Wesen, auf das sich das Subjekt bezieht. Begriff und Wesen müssen deshalb scharf unterschieden werden.«1058
SEIFERT faßt treffend zusammen: »Das Wesentliche bei synthetischen Sätzen a priori ist also, daß ein in keiner Weise auf die obersten logischen und ontologischen Prinzipien reduzierbarer, notwendiger Sachverhalt, unabhängig von allen Begriffen und sprachlichen Bezeichnungen besteht.«1059
Wenn, wie KANT meint, die klassisch-authentischen synthetischen Urteile a priori eigentlich auf analytische Urteile reduziert werden müßten, dann impliziert dies auch, daß die Subjektbegriffe die in Frage stehenden Subjektgegenstände notwendigerweise immer inhaltlich erschöpfen, wie HILDEBRAND treffend unterstreicht. Aber von einer derartigen Notwendigkeit kann ebenfalls keine Rede sein. Freilich ist mit HILDEBRAND hervorzuheben, daß
1058
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HILDEBRAND [1976], 77. »For concepts (unities of meaning) precisely perform the function of meinen (meaning) something beyond themselves – species or necessary essences do not but ›rest in themselves‹, as it were. Concepts are meanin-units which can only be actualised and grasped and thought, essences are ›ontological units‹ which can be embodied in real entities and beings. Concepts as unities of meaning are like spiritual ›vessels‹ or ›pointing-sticks‹ which, by means of their meaning, intend something entirely other than themselves, the being or essence in question, the sun, earth, or the qualities of light and warmth in general. These objects, in virtue of the essences, have entirely different predicates which the concepts can never possess, namely warmth, light, colour, etc. Thus, even if we assume with Husserl – and we agree with him within important limits on this point – on the ›ideality‹ of these concepts and meaning-units thought in Logical Investigations, we must still radically distinguish concepts with the being ordained to spirit, with the role as forming propositions, etc. from the essences and species which are meant by them. It is surprising indeed that Husserl did not make a distinction as elementary as this – one which Alexander Pfänder, for example, made very clearly in his Logic which was dedicated to Husserl.« SEIFERT [1987], 165. SEIFERT [1976], 175.
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»die höchste Form philosophischer Durchdringung die Einsicht in alle in der Wesenheit gründenden notwendigen Sachverhalte und in alle essentiellen Merkmale eines Seienden«
einschließt. Aber selbst wenn alle diese Sachverhalte erkannt worden wären, ließe sich, wie HILDEBRAND zeigt, unmöglich zu Recht behaupten, es könne mit Notwendigkeit keine weiteren notwendig in dieser Wesenheit gründenden Sachverhalte geben. »Doch diese Einsichten setzen gerade ein intuitives Erfassen des Gegenstandes, ein volles Kenntnisnehmen seines Wesens voraus; [...]« und »wenn wir alle in dieser Wesenheit gründenden notwendigen Sachverhalte und Merkmale entdeckt und alle ihre essentiellen Kennzeichen herausgearbeitet haben, müssen wir uns dennoch bewußt bleiben, daß das Zusammenfügen aller dieser Wesenszüge das Wesen des Seienden nicht notwendig erschöpft.«1060
Mit den durch KANT vorgenommenen Reduktionen ist allerdings das genaue Gegenteil der Fall. Denn die absoluten Wahrheiten der klassischen Philosophie (die synthetischen Urteile a priori) sind in KANTS Augen deshalb analytischer Natur, weil KANT die in notwendigen Soseinseinheiten fundierten notwendigen Sachverhalte auf das Enthaltensein des Prädikatbegriffs im Subjektbegriff zurückführt. WHITE trifft diesen springenden Punkt in KANTS System, wenn er schreibt: »Now the subject concept, in this case, is understood to be an essence abstracted from the substance, i.e., as the essence of a being, but as thought, as abstracted by the mind from the object of cognition. […] Kant too is a part of this tradition: he thinks that a judgement which affirms of a subject a feature of its essence is necessary. However, he thinks that such judgements are necessary because the mere analysis of the subject concept yields the predicate, i.e., the judgement is necessary because it is tautological.«1061
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HILDEBRAND [o.J.], 21f. WHITE [1992], 291f. Auf diese für KANTS Idealismus grundlegende Idee macht WHITE zu Recht mehrfach aufmerksam. »Kant thinks that a connection within the essence of a being is equivalent or reducible to a connection of concepts, i.e., to the tautological necessity of a predicate being contained in the subject.« WHITE [1992], 308. »But notice: For Kant, definition is not arbitrary, but he
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Kapitel 7
Was notwendig in einer Wesenheit gründet, muß in KANTS Augen auch notwendigerweise im Begriff dieser Wesenheit enthalten sein. Für Kant ist der Begriff einer notwendigen Wesenheit notwendig die gesamte Wesenheit als gedachte! Diese Annahme KANTS kann jedoch evidentermaßen unmöglich richtig sein. Bereits dann, wenn der Königsberger nur offen ließe – was man von der Sache her offenlassen muß – ob es Eigenschaften geben kann, die notwendig in intelligiblen und nichtempirischen Objekten wie »Gegenstand überhaupt«, »Sein«, »Wahrheit«, »Urteil«, »Person«, »Liebe«, »Zweifel«, »Sünde«, »Induktion« u.v.m. gründen, ohne daß sie schon in der auf diese Sache jeweils gerichteten begrifflichen Intention vorliegen müssen, bereits dann müßte KANT seine Reduktionen fallen lassen.1062 Damit stünde ihm der Weg zu einer Unterscheidung zwischen geliehener und objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit offen und mit dieser der »Durchbruch« zum Noumenon bzw. zum »Ding an sich«, das er selbstwiderlegenderweise meinte, aufgrund der unbemerkt vorausgesetzten
1062
understands by definition and essential definition. Consequently, whatever can be given an essential definition cannot be the source of the synthetic a priori: necessities in the specific essence of objects cannot be the source or object of synthetic a priori judgments.« WHITE [1992], 301. 308-311. Vgl. für eine Vertiefung dieser Thematik BECK [1984], 291-303 und ebd., 304–322. Ein treffliches Beispiel dafür, daß KANT selbst am wesentlichsten Ergebnis des transzendentalen Idealismus vorbei Einsichten in das Ding an sich gewinnt, formuliert und widersprüchlicherweie für seinen Idealismus voraussetzt, findet sich, wenn KANT an der Unmöglichkeit festhält, daß Erfahrung im Sinne der Induktion auf strenge Allgemeinheit führt. KANT schreibt: »Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit (durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muß: soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme.« KrV, B3f. Weder das Erkennen noch das Festhalten an dieser strikten Notwendigkeit und Allgemeinheit läßt sich mit der transzendentalen Wende vereinbaren. Denn das entsprechende von KANT gefällte Urteil hat nichts zu tun mit den Bedingungen der Möglichkeit sinnlicher Einzelerfahrung. Auch kann die Entität »Induktion« unmöglich eine sinnliche Gegebenheit sein. Vielmehr bringt das Urteil eine Wesenseinsicht zum Ausdruck; es formuliert eine absolute Wahrheit und sagt, wie sich das »Ding« Induktion »an sich« verhält; KANTS Urteil ist das Ergebnis einer echten Erkenntnis einer intelligiblen Wirklichkeit an sich, deren Unmöglichkeit der gesamte Kritizismus eigentlich dartun will.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
471
Erkenntnis der An-sich-Verfaßtheit der reinen Vernunft mit ›Notwendigkeit‹ epistemologisch verabschieden zu müssen.1063 Freilich gehört es zu den Besonderheiten des kantischen Idealismus, daß der Königsberger trotz seiner Ablehnung der Erkenntnis der Noumena/Dinge an sich und damit der Ablehnung der Erkenntnis objektiver Soseinsnotwendigkeit doch meint, an einer allgemein verbindlichen »Notwendigkeit« festhalten zu können. ›Notwendigkeit‹ ist für KANT eine offensichtliche, insbesondere mathematische und physikalische Gegebenheit, nur wachsen diese Notwendigkeiten der Erkenntnis nicht von den Dingen an sich her zu. KANTS Notwendigkeit ist vielmehr transzendentaler Natur, d.h. sie ist subjektive »Bedingung der Möglichkeit der [menschlichen] Erkenntnis« überhaupt. Damit unterscheidet sie sich, wie CAJTHAML zu Recht hervorhebt, vom Notwendigkeitsbegriff des Psychologismus, denn sie »ist kein psychologischer Zwang, der von Mensch zu Mensch« oder im Zuge der Veränderungen der menschlichen Konstitution überhaupt evolutiv »variieren« könnte. Die transzendentale Notwendigkeit KANTS soll »eine für alle Menschen verbindliche absolute Unmöglichkeit« sein, die Welt »anders zu denken und […] zu erfahren, als man sie tatsächlich erfährt und denkt«.1064 Die ›Bauform‹ der Vernunft und deren Funktionsweise als solche werden von KANT als faktisch unveränderlich betrachtet. Die Unterschiede zwischen dem transzendentalen und dem psychologistischen Notwendigkeitsbegriff dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch KANTS »gerettete« Apriorizität die Notwendigkeit, die sie zu bewahren sucht, gerade nicht erreicht. Denn KANT ist ausdrücklich der Meinung, daß etwa die menschlichen Anschauungsformen des Raums nicht schlechterdings notwendig seien, da und insofern andere Wesen prinzipiell über andere Anschauungsformen verfügen könnten. Das folgende Zitat aus der transzendentalen Ästhetik macht dies besonders deutlich: »Wir haben also sagen wollen: daß alle unsre Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinungen sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofür wir sie anschauen, noch ihre Ver1063 1064
S. zum notwendigen fundamentalen »circulus vitiosus« im transzendentalem Idealismus HILDEBRAND [1976], 21f. CAJTHAML [2003], 117.
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Kapitel 7 hältnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden würden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren können. Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt. Wir kennen nichts als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentümlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muß [Kursiv v. Verf.]. Mit dieser haben wir es lediglich zu tun [Kursiv v. Verf.].«1065
Für den Menschen sei es demnach notwendig, daß etwa ein Dreieck eine Winkelsumme von 180 Grad haben muß und nicht eine Winkelsumme von 187 Grad haben kann, weil, wie KANT irrtümlicherweise meint, die hier vorliegende Notwendigkeit nicht im Wesen des Dreiecks gründe, sondern in der wiederum nur faktischen Konstitution der menschlich subjektiven Anschauungsform des Raumes. In Anbetracht dieses Zitates wird, wie CAJTHAML unterstreicht, der Unterschied »zwischen der transzendentalen Notwendigkeit und der von uns gemeinten absoluten Notwendigkeit« »besonders deutlich«. »Die Notwendigkeit, die wir etwa in den synthetisch-apriorischen Sätzen der Geometrie entdecken, wurzelt nach Kant nicht in den geometrischen Gebilden als solchen, sondern in der reinen Anschauungsform des Raumes, die für uns Menschen zwar absolut verbindlich, in sich selbst aber nicht schlechterdings notwendig ist. Im Unterschied dazu ist die Notwendigkeit der im Wesen des Zweifels gründenden Gesetze schlichtweg absolut, weil im Wesen des Zweifels selbst und nicht etwa in einer transzendentalen Denkkategorie begündet, die wir beim Nachdenken über den Zweifel anwenden.«1066
Die Notwendigkeit, dergemäß etwa der Zweifel sich auf mindestens zwei einander ausschließende Sachverhalte beziehen muß, gründet weder in der Selbstidentität des Begriffs »Zweifel« noch in irgendeiner anderen »Denkkategorie« neben der »Identität«, wie »Relation« oder »Ursache und Wirkung«, noch gründet sie darin, daß der Zweifel als Seiendes überhaupt 1065 1066
KrV, B 59. Vgl. auch KrV, B 42–43. CAJTHAML [2003], 118.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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mit sich identisch sein muß. Die angesichts des Zweifels vorliegende Notwendigkeit ist eine Notwendigkeit des Soseins des Zweifels selbst, und sie kann aus nichts anderem abgeleitet und auf nichts anderes reduziert werden, so daß – unter welchen Bedingungen auch immer – die Möglichkeit bestünde, daß der Zweifel sein könnte, ohne sich auf mindestens zwei einander ausschließende Sachverhalte zu beziehen, sofern nur diese dem Zweifel selbst vermeintlich »vorgelagerte Bedingung« wegfällt oder sich ändert. Es kann schlechterdings nicht anders sein, weil dieser im Zweifel an sich gründende Sachverhalt selbst und an sich notwendig ist. 7.7 Zeitlosigkeit und Ewigkeit notwendiger Sachverhalte Der Sachverhalt des Blau-seins-des-Buches gehört als Sachverhalt notwendigerweise zu jenen Gegebenheiten, die als einzige in ontologischkontradiktorischer Relation zu einem entsprechenden Negativum stehen können. Diese Notwendigkeit gründet zwar auch in dem von der konkreten und ›individuellen‹ Existenz des blauen Buches hier und jetzt abhängigen materialkonkreten und zeitlich bedingten Sachverhalt selber. Aber dieser in seinem faktischen Bestand von konkreter Existenz abhängige konkrete Sachverhalt, ist nicht die letzte »Quelle« (SEIFERT s.u.) der in ihm gründenden Notwendigkeit, dergemäß er in kontradiktorischer Relation zu einem entsprechenden Negativum steht.1067 Denn der Sachverhalt des Blau-seinsdes-Buches ist kontingent, d.h. er besteht jetzt, kann aber auch nicht bestehen, hat einmal nicht bestanden und wird aufhören zu bestehen, wenn das blaue Buch völlig vergilbt oder überhaupt als solches vergeht. Demnach gründet die obige Notwendigkeit lediglich auch in dem zeitlichen Sachverhalt. Die Notwendigkeit aber, dergemäß das Sosein von Sachverhalten überhaupt den Sachverhalt fundiert, daß nur Sachverhalte in ontologisch-kontradiktorischer Entgegensetzung stehen, ist nicht abhängig von Sachverhalten, die nur relativ auf kontingente Existenz bestehen können. Vielmehr ist sie, wie bereits gezeigt wurde, in sich notwendig, und d.h. in diesem Zusammenhang unabhängig von jedem zeitlich bedingten konkreten Sachverhalt. Ist sie aber unabhängig von jedem zeitlich bedingten 1067
Die Ausführungen in diesem Abschnitt stellen eine Anwendung der prinzipielleren Ausführungen SEIFERTS dar. S. SEIFERT [1987], 206.
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Kapitel 7
konkreten Sachverhalt überhaupt, dann ist sie auch, wie sich im Rückgriff auf SEIFERT zeigen läßt, unabhängig von zeitlicher Existenz und damit von Zeit und Zeitlichkeit und zeitlich bedingtem Sein überhaupt. D.h., das Sosein (-Müssen) von Sachverhalten und der dadurch fundierte notwendige Sachverhalt über Sachverhalte überhaupt kann unmöglich zwar jetzt bestehen, aber einmal nicht bestanden haben und irgendwann einmal nicht mehr bestehen. Demnach liegt die letzte »source of the necessity« allgemein betrachtet »not […] in the individual temporal being but in a universal and atemporal essential form of the thing.« Angewandt auf die in Sachverhalten überhaupt gründenden notwendigen Sachverhalte besagt dies, daß deren Notwendigkeit letztlich aus der streng notwendigen und damit notwendigerweise überzeitlichen Soseinsform von Sachverhalten überhaupt hervorgeht.1068 Daher sind die notwendigen in dieser Soseinsform von Sachverhalten fundierten Sachverhalte ihrerseits notwendigerweise restlos überzeitlich.1069 7.8 Die absolute Unzerstörbarkeit notwendiger Sachverhalte SEIFERT stellt eine weitere notwendige Eigenschaft von »essentially necessary facts« heraus, wenn er diese »absolutely indestructible« nennt.1070 Das So-sein-Müssen-und-nicht-anders-sein-Können eines Sachverhaltes wie etwa dem, daß Urteile auf Sachverhalte als ihrem eigentlichen und unmittelbaren objektiven Korrelat abzielen, widersetzt sich notwendigerweise und ausnahmslos jeder »Willkür«. Nicht einmal ein allmächtiges Wesen könnte diesen notwendigen Sachverhalt und damit den Zusammenhang der in den Sachverhalt eingegangenen Momente aufheben, so daß er nicht mehr notwendig bestünde.1071 Denn gerade weil für Gott kein Ding unmöglich ist, ist ihm jedes Unding als Gegensatz zu allem, was Ding ist und sein kann, unmöglich. Gründet aber eine Notwendigkeit 1068 1069
1070 1071
»Although essential necessity is also realized in concrete individual entities, its source lies in the general necessary essence of things.« SEIFERT [1987], 206. »This timelessness, interminability (without end) and beginninglessness (agenés), this timless ›eternity,‹ [sic] and endlessness follows necessity if absolute essential necessity is given. It is its concomitant.« SEIFERT [1987], 206. SEIFERT [1987], 206. »No power whatsoever on earth or in heaven, could destroy an essantial necessity […]« SEIFERT [1987], 206.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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unmittelbar in einem Sosein als solchem, dann ist die Aufhebung dieses notwendigen Bestandes schlechthin ein Unding. 7.9 Die absolute Unveränderlichkeit notwendiger Sachverhalte Es ist aber nicht nur so, daß der notwendige Bestand schlechterdings nicht aufgehoben werden kann, so daß er überhaupt nicht mehr bestünde, es ist auch die Notwendigkeit des Zusammenhangs innerhalb des bestehenden notwendigen Sachverhaltes schlechterdings unabänderlich. D.h., die in dem notwendigen Sachverhalt zum Ausdruck kommende »essential necessity« ist nicht nur, wie SEIFERT betont, »in time« unwandelbar, sondern sie ist »unable to be subject […] to an ›eternal having been different‹«. Es gibt mithin von Ewigkeit zu Ewigkeit keine Möglichkeit des Anders-sein-könnens. Die Notwendigkeit kann nicht allein in der Zeit nicht enden und auch niemals begonnen haben, so daß sie vor diesem Beginn nicht bestanden hätte. Sie kann schlechterdings nicht nichtsein.1072 7.10 Die unvergleichliche Intelligibilität notwendiger Sachverhalte Kein Seiendes kann so verfaßt sein, daß es sich als solches prinzipiell und absolut jeder Erkennbarkeit widersetzte und damit schlechterdings nicht erkannt werden könnte. Vielmehr eignet jedem Seienden als Seienden eine prinzipielle Offenheit für das Erkanntwerden durch intelligente Wesen: Jedem Seienden eignet die transzendentale Proprietät des verum und d.h., um bei der scholastischen Terminologie zu bleiben, daß das Seiende und das Wahre austauschbar sind: ens et verum convertuntur. Das heißt freilich weder, daß jedes Seiende in derselben Weise für die Erkenntnis offen steht, noch, daß jedes Seiende für die menschliche Erkenntnis offen steht, vielmehr gibt es einerseits eine Hierarchie und Analogizität der Erkennbarkeit und andererseits Seiende, die unbeschadet ihrer prinzipiellen Intelligibilität als Seiende – kein Seiendes ist jenseits von Erkennbarkeit überhaupt – nur bestimmten Intelligenzen zugänglich sein können. Hinsichtlich der Erkennbarkeit jedes Seienden ist zu sagen, daß diese analog variiert. D.h., die Intelligibilität eines jeden Seienden 1072
S. dazu SEIFERT [1987], 206f.
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Kapitel 7
entspricht seinem Sosein, so daß verschiedene Soseinsarten vergleichsweise mehr oder minder intelligibel sein können, bei gleichzeitiger und prinzipieller Intelligibilität eines jeden Wesens. Ein Seiendes ist nun in dem Maße intelligibel, in dem es ein intima rei intus legere zuläßt. Da das Sosein notwendiger Sachverhalte allein von »innen her« als So-sein-Müssen-und-nicht-anders-sein-Können erkannt wird, eignet ihnen ein Grad von Intelligibilität, der mit HILDEBRAND als »unvergleichliche Intelligibilität« bezeichnet werden kann. »Im Vergleich zu jedem empirischen Sachverhalt, sei er rein individuell oder ein allgemeines Naturgesetz, besitzt ein in sich notwendiger Sachverhalt eine unvergleichliche Intelligibilität.«1073 »Dieses intelligere, dieses Verstehen von innen her, ist nur möglich, wenn es um die Erkenntnis eines wesensnotwendigen Sachverhaltes geht. Die Intelligibilität, die uns den Sachverhalt in seinem inneren logos erfassen läßt, setzt seine Wesensnotwendigkeit voraus, ist sogar zutiefst in ihr begründet.«1074
Der individuelle Sachverhalt des Angeschaltet-seins-der-Tischlampe-imFlur oder das allgemeine botanische Naturgesetz des Auf-Bäumen-wachsens-aller-Misteln sind erkennbar, d.h. intelligibel. Aber um zu erkennen, ob die Tischlampe im Flur auch wirklich eingeschaltet ist, reicht das »Lesen« im Sosein der Tischlampe nicht hin. Man muß sich ihr als singulärer empirischer Gegebenheit vielmehr so nähern, daß sie, um es mit HILDE1075 BRAND zu sagen, »von außen« angesehen werden kann, dann muß man sich die Lampe auch wirklich »von außen« ansehen, um so empirisch feststellen zu können, daß sie eingeschaltet ist, denn der Zusammenhang zwischen der Lampe und ihrem Eingeschaltetsein kann nicht notwendig im Sosein der Tischlampe gründen, schon deshalb nicht, weil eine Tischlampe nicht aufhört eine Tischlampe zu sein, wenn sie ausgeschaltet ist. Analog verhält es sich bei dem naturnotwendigen Sachverhalt des AufBäumen-wachsens-aller-Misteln. Auch dieser Sachverhalt kann immer nur 1073 1074 1075
HILDEBRAND [1976], 68. HILDEBRAND [1976], 69. »Dies schließt jedoch nicht ein, jeder absolut notwendige Sachverhalt sei für uns intelligibel.« HILDEBRAND [1976], 69, Fußn. 4. S. HILDEBRAND [1976], 68.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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»von außen«, in diesem Fall durch Realkonstatierung und Induktion, erfaßt werden, weil diese »Eigenart« der Mistel prinzipiell kontingent ist. Mag das Wachstumsverhalten der Misteln auch in noch so sinnvollen botanischen Zusammenhängen bestehen, sie könnten prinzipiell auch anderswo wachsen, da nichts in der Mistel dafür sprechen kann, daß sie das eine oder das andere mit unverrückbarer Notwendigkeit tun muß und nichts anderes als dies tun kann. Diese empirischen Sachverhalte können nur von außen erfaßt werden, denn es fehlt ihnen eine »letzte Rationalität« und eine letzte »innewohnende Bedeutungsfülle«.1076 Sie erlauben dem menschlichen Geist kein intus legere im strengen Sinn des Wortes. Daß es sich bei den notwendigen Sachverhalten hinsichtlich ihrer Intelligibilität ganz anders verhält, wird gerade auch dann ersichtlich, wenn man diese mit notwendigen Sachverhalten vergleicht. Daß sittliche Werte eine Person voraussetzen, daß die Methode der Induktion niemals zu absoluter Gewißheit führen kann, daß Sein und Nichtsein einander ausschließen, daß Sachverhalte das objektive Korrelat von Urteilen sind, daß der Zweifel mit der Überzeugung verbunden ist, eine Zustimmung zu den in Frage stehenden Alternativen nicht voreilig geben zu dürfen: Diese Sachverhalte sind unvergleichlich intelligibel, weil deren Notwendigkeit »von innen« her einsichtig ist. Ihnen eignet notwendigerweise eine letzte Rationalität und eine letzte innere Bedeutungsfülle. HILDEBRAND schreibt: »Im Vergleich zu jedem empirischen Sachverhalt, sei er rein individuell oder ein allgemeines Naturgesetz, besitzt ein in sich notwendiger Sachverhalt eine unvergleichliche Intelligibilität. Wir ›verstehen‹, daß diese notwendigen Sachverhalte so sind, wie sie sind. Wir erfassen nicht nur, daß etwas so ist, sondern auch warum es so ist. Nur hinsichtlich dieser Sachverhalte können wir von einer Einsicht im vollen Sinn sprechen. Verglichen mit diesem vollen geistigen Eindringen in einen notwendigen Sachverhalt, ist das Erfassen einer individuellen Tatsche, z.B.: »Heute scheint hier die Sonne« oder: »Dieser Tisch ist braum«, lediglich eine stumpfe Beobachtung. Ein analoger Unterschied besteht zwischen der Einsicht in einen notwendigen Sachverhalt und der Erkenntnis eines Naturgesetzes, das Ergebnis induktiven Schließens ist. Gewiß können wir den Sachverhalt: »Erwärmung dehnt die Körper aus« kennenlernen. Ein solcher Sachverhalt besitzt jedoch nicht die lichtvolle Intelligibilität einer Wahrheit wie: »Sittliche Werte setzen eine Person voraus«, die mich 1076
HILDEBRAND [1976], 69.
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Kapitel 7 befähigt, sie zu verstehen, ein wirkliches intelligere zu vollziehen. […] Vergleichen wir einen Sachverhalt, wie: »Erwärmung dehnt die Körper aus«, mit einem wesensnotwendigen, so sehen wir, daß dem ersten die innere Rationalität und innewohnende Bedeutungsfülle und folglich die Intelligibilität des letzteren gänzlich fehlt. Deshalb kann unser Geist den naturnotwendigen Sachverhalt nur von außen erfassen. Wir sind unfähig, ihn von innen her zu durchdringen. Unser Geist ist zu einer Einsicht im vollen Sinn des Wortes nicht imstande. Im Gegensatz zur inneren Sinnfülle und zum lichtvollen Charakter wesensnotwendiger Sachverhalte besitzen Naturgesetze etwas von der Stumpfheit der bloß kontingenten, zufälligen Sachverhalte.«
Daß die Erkenntnis in die Notwendigkeit gewisser Sachverhalte von innen her restlos einzudringen vermag, macht die unvergleichliche Intelligibilität dieser Sachverhalte aus.1077 7.11 Notwendige Sachverhalte und apodiktische Gewißheit und Unfehlbarkeit der Erkenntnis Notwendigkeit, Unveränderlichkeit und Unzerstörbarkeit sind Eigenschaften, die gewissen Sachverhalten als solchen zukommen. Im Unterschied dazu ist unvergleichliche Intelligibilität, wie sich mit SEIFERT hervorheben läßt, zwar »a characteristic of the object«, aber »in its relation to mind and mental grasp rather than in itself«. Die unvergleichliche Intelligibilität bedeutet die unvergleichliche »Zugänglichkeit« oder, wie SEIFERT sagt, »openess of a being« bzw. die Offenheit bestimmter Sachverhalte für eine Erkenntnis (to understanding).1078 Apodiktische Gewißheit hingegen ist weder eine Eigenschaft der notwendigen Sachverhalte noch eine Eigenschaft der notwendigen Sachverhalte in ihrer Beziehung auf eine Erkenntnis. Apodiktische Gewißheit ist, wie SEIFERT sich ausdrückt, eine »characteristic of our knowledge in its relation to the object and insofar as it reaches the object truly«, d.h. im gegebenen Zusammenhang eine Eigenschaft der Erkenntnis in ihrer Beziehung auf einen »wahrhaft« erreichten Sachverhalt.1079 GROSSMANN betont daher zu Recht: »Certainty […] is a quality of beliefs, not a property of 1077 1078 1079
S. auch SEIFERT [1987], 207-210. SEIFERT [1987], 213. S. auch HILDEBRAND [1976], 69. SEIFERT [1987], 213. S. auch HILDEBRAND [1976], 69.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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states of affairs or of statements.«1080 Damit wird deutlich, daß die apodiktische Gewißheit zwar keine Eigenschaft bestimmter Sachverhalte ist, daß sie aber in einer notwendigen Beziehung zu einer bestimmen Art von Objekten bzw. von Sachverhalten steht. Denn apodiktische Gewißheit ist, so zeigt SEIFERT weiter, in dem »fixed and intrinsically ›certain‹ being of essentially necessary facts« fundiert. Apodiktische Gewißheit über ein Objekt liegt insbesondere dann vor, wenn das Objekt selbst ein So-seinMüssen-und-nicht-anders-sein-Können darstellt.1081 Mit SEIFERT lassen sich noch vier weitere Eigenschaften der apodiktischen Gewißheit über notwendige Sachverhalte hervorheben. Erstens folgt aus dem apodiktischen Charakter dieser Gewißheit, daß die Wahrheit der Urteile, welche sich auf eine absolut gewisse Erkenntnis aufbauen und in welchen eine absolut gewisse Erkenntnis zum Ausdruck kommt, nicht nur mehr oder weniger wahrscheinlich, sondern ihrerseits apodiktisch ist.1082 Das Urteil: »Jedes Seiende ist mit sich identisch« muß wahr sein und kann unmöglich falsch sein, weil der von diesem Urteil thematisierte Sachverhalt, daß jedes Seiende mit sich identisch ist, ein So-sein-Müssenund-nicht-anders-sein-Können darstellt. Zweitens impliziert apodiktische Gewißheit, daß das Objekt der Erkenntnis in einer so »ultimate« und »complete« Weise gegeben ist, »that no deception or error is possible in this act or knowledge«. Der Kontakt zum Objekt ist in diesem Fall schlechthin »infallible«. Dieser Zug der apodiktischen Gewißheit – die ultimative und vollständige und täuschungsfreie Gegebenheit des Objektes – betrifft, wie sich mit SEIFERT feststellen läßt, aber nicht nur wesensnotwendige Sachverhalte, sondern auch gewisse »empirical facts such as our own existence«. Die eigene Existenz ist zwar »not necessary«, aber auch sie ist in der Erkenntnis derart »immediately and directly present to us
1080 1081
1082
GROSSMANN [1983], 367. »The kind of indubitable certainty reached here […] presupposes that the object itself is necessary and ›certain‹ in a metaphysical sense inseparable form essential necessity.« SEIFERT [1987], 213f. »The absoluteness of this certainty implies also that our knowledge (or rather the judgment in which it is expressed) is not just probably true. […] Rather we find here real knowledge in the strictest sense, knowing that […] our judgment is not only probably but certainly adequate to the facts.« SEIFERT [1987], 214.
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Kapitel 7
that any deception is excluded«.1083 Drittens bildet die absolute Gewißheit, wie SEIFERT zeigt, den Gegensatz zu jeder Zweifelhaftigkeit (is opposed to dubitability). Ein Sachverhalt wie, daß der Zweifel mit der Überzeugung verbunden ist, eine Zustimmung zu den in Frage stehenden Alternativen nicht voreilig geben zu dürfen, kann zwar infolge von psychologischen oder moralischen Gründen (possible psychological or moral obstacles) bezweifelt werden, aber der Zweifel an diesem Sachverhalt kann unmöglich durch das Sosein des Zweifels selbst gerechtfertigt sein. Ein solches Sosein ist wesensnotwendig und daher derart intelligibel und evident, daß es jede Zweifelhaftigkeit ausschließt.1084 Untrennbar verbunden mit der absoluten Gewißheit ist, viertens, die Transzendenz der Erkenntnis (absolute certainty […] is […] inseparable from the transcendence of our konwledge). Eine absolut gewisse Erkenntnis stellt notwendigerweise einen Überstieg (trait of going beyond) dar, durch den das erkennende Subjekt über sich und sein Bewußtsein hinausgeht, weil es einsichtig ist, daß ein Ding selbst, wie etwa der Zweifelsakt selbst, »intrinsically so and so« ist, d.h., daß es als solches so »must be« und unmöglich anders sein kann. Die absolute Gewißheit ist »totally based« auf die unvergleichliche Intelligibilität des Objektes, und diese ist »totally based« auf die intrinseke Notwendigkeit des Dinges an sich (etwa des Zweifels an sich). Überdies ist absolute Gewißheit derart grundlegend, daß es keine Erkenntnis und keine Täuschung geben kann, welche nicht absolute Gewißheiten voraussetzen würde.1085 Die apodiktische Gewißheit, die dem Subjekt aus der unmittelbaren Einsicht in notwendige Sachverhalte zuwächst, ist »so to speak, a ›banquet of the spirit‹, something in man which is as god-like as his freedom.« Daher gehört die Fähigkeit zu absolut gewisser Erkenntnis »inseparably to the dignity of the knowing subject, of the person qua person«, wie SEIFERT treffend betont.1086
1083 1084 1085 1086
SEIFERT [1987], 214. »Doubt is repelled by the light of intelligibility and evidence.« SEIFERT [1987], 214. »[…] such infallible knowledge is absolutely presupposed by any knowledge and doubt […]« SEIFERT [1987], 214f. SEIFERT [1987], 214f.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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7.12 Über die Iniudicabilitas notwendiger Sachverhalte SEIFERT arbeitet im Rückgriff auf den Begriff der »iniudicabilitas« bei AUGUSTINUS und BONAVENTURA und im Anschluß an Gedanken HILDEBRANDS weitere bemerkenswerte in notwendigen Sachverhalten gründende Sachverhalte bzw. zwei Wahrheiten über notwendige Sachverhalte heraus. Iniudicabilitas bezieht sich, wie SEIFERT zeigt, zunächst auf eine denkbare Art von Urteilen über notwendige Sachverhalte und bedeutet, »that essentially necessary facts cannot be judged to be bad, ugly, or in any way different from what they ought to be.«1087 Ein entsprechendes Urteil, wie z.B.: »Es ist schlecht und sollte nicht so sein, daß notwendige Sachverhalte notwendig sind« kann zwar gefällt werden, aber unmöglich jemals wahr sein, vielmehr wäre es notwendigerweise immer falsch. Die von solchen Urteilen thematisierten Sachverhalte können unmöglich jemals bestehen, bzw. sie bestehen notwendigerweise nicht. Der Grund dafür liegt, wie SEIFERT zeigt, zum einen in der »absolute necessity« bestimmter Sachverhalte, und zum anderen darin, daß »there is no higher standard of judgement above them.«1088 Es kann demnach hinsichtlich der Notwendigkeit dieser Sachverhalte keinen außerhalb liegenden höheren etwa ästhetischen, ethischen oder moralischen Maßstab für entsprechende Urteile über sie geben. Ergänzend läßt sich sagen, daß solche Urteile notwendigerweise widersinnig sind, weil der mit dem intendierten Sachverhalt gegebene Zusammenhang unmöglich bestehen kann. Das Nichtseinsollen eines Sachverhaltes etwa setzt notwendigerweise voraus, daß er eintreten, aber auch nicht eintreten, bzw. bestehen oder auch nicht bestehen kann. Notwendige Sachverhalte können jedoch nicht anders sein und bestehen immer, so daß es widersinnig ist, davon zu sprechen, daß sie anders sein sollten. Notwendige Sachverhalte und das Nichtseinsollen im obigen Sinn schließen einander kategorisch aus. Daher gehen notwendige Sachverhalte notwendigerweise in den in ihnen fundierten neuen notwendigen Sachverhalt des unmöglichen Vereinbarseins von notwendigen Sachverhalten und der Möglichkeit, daß diese sinnvollerweise nicht sein sollten, ein. Es gibt noch einen weiteren Sinn der iniudicabilitas der wesensnotwendigen Sachverhalte, wie SEIFERT zeigt. Es kann außerhalb der wesens1087 1088
SEIFERT [1987], 210. SEIFERT [1987], 210.
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notwendigen Sachverhalte keine anderen Sachverhalte geben, deren Erkenntnis die Erkenntnis der notwendigen Sachverhalte irgendwie bedingte. Wenn ein wesensnotwendiger Sachverhalt erkannt wird, dann ist dessen intrinseke unveränderliche Notwendigkeit und intrinseke unvergleichliche Intelligibilität selbst das unbedingte Kriterium für die Sachgemäßheit der Erkenntnis. Es gibt, so SEIFERT, »no criterion outside these essentially necessary facts themselves in the light of which we could judge our kowledge of them as true or untrue; there are no standards outside these facts themselves which we could invoke as criteria or confirmation of the validity of our knowledge of them.«1089
Für einen solchen für die Bestätigung der Erkenntnis über diese Sachverhalte anrufbaren Maßstab (Kriterium) außerhalb dieser Sachverhalte »there is neither any possibility« noch gibt es, wie SEIFERT hervorhebt, »any need for any higher criterion«. »For these essentially necessary facts are in their own intelligibility themselves the highest criterion for truth.«1090
Daher gehen notwendige Sachverhalte notwendigerweise in den in ihnen fundierten neuen notwendigen Sachverhalt ein, daß es außerhalb notwendiger Sachverhalte selbst weder den Bedarf noch die Notwendigkeit für einen Maßstab zur Beurteilung der Gültigkeit der Erkenntnis dieser Sachverhalte geben kann. Im Hinblick auf die Erkenntnis notwendiger Sachverhalte schreibt SEIFERT weiter: »We find here the irreducible datum of evidence, which Husserl rightly described as not being a subjective psychological character of cognitive experience, but as being the ›experience of truth.‹ This evidence does not need any proof and does not admit any proof, not because of any lack of rationality but rather because it constitutes the foundation of all rational kowledge. This knowledge and the evidence which it possesses are
1089 1090
SEIFERT [1987], 210. SEIFERT [1987], 211.
Charakteristika objektiver Sachverhaltsnotwendigkeit
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immediate in the sense that no other means or indirect criterion of knowledge is necessary to test the truth of this knowledge.«1091
Insofern, als sie solch äußerer Mittel und Maßstäbe der Rechtfertigung nicht bedarf, ist diese evidente Erkenntnis unmittelbar, da sie in nichts anderem als der objektiven Notwendigkeit des thematisierten Sachverhaltes selbst gründet. Gegen daß skeptische Argument »that no criterion for kowledge is possible because such a criterion would either have to lie in the subject (in which case it would not help in comparing subjecitve kowledge with the objective world) or in the object (in which case the subject could not attain it in kowledge) or between the two (in which case it would neither be graspable by the subject nor lie in the object)«,
läßt sich mit SEIFERT folgende Antwort geben: »The criterion here lies in the transcending contact of the mind with its intelligible necessary object. The mind sees this object and goes beyond itself to its own uninventable and objective necessity and it knows that it reaches this objective necessity which itself is the criterion and is accessible to the act of cognition.«1092
Der Verstand »sieht«, wie SEIFERT sagt, dieses Objekt und dessen »unerfindbare« und an sich gegebene Notwendigkeit und ist so notwendigerweise »über sich hinausgegangen«, hat sich so notwendigerweise transzendiert, und weiß, daß er den Sachverhalt in dessen Notwendigkeit erfaßt. SEIFERT weist schließlich auch darauf hin, daß das »Licht« der in notwendigen Sachverhalten gründenden notwendigen Wahrheiten »durch kein anderes Licht gerichtet werden kann«, daß aber der Verstand und das Erkennen »im Licht dieser Wahrheiten gerichtet werden.« So ist die Wesensnotwendigkeit bzw. sind wesensnotwendige Sachverhalte der Richter, das Kriterium und der
1091 1092
SEIFERT [1987], 212. SEIFERT [1987], 212.
484
Kapitel 7
Maßstab für den Verstand in seiner Tätigkeit und weisen diese als richtig und als rational aus.1093
1093
»Thus these necessary truths are the judge and criterion of our minds, not vice versa. They are the source of all criteria or correctness. Their light cannot be judged by any other light – only our knowledge can be judged in their light. The correctness of our thinking can be established in an ultimate form only by their verdict. They are the ultimate foundation of all correct judgement. […] the mind’s transcending grasp of essential necessity and its reflective return to itself contains the fullest possible rarional justification, that of evidence given through insight and its object.« SEIFERT [1987], 213.
8.
DIE
FUNDIERUNG VON NOTWENDIGEN NOTWENDIGEN SOSEINSEINHEITEN
SACHVERHALTEN
IN
8.1 Die Akte des Kennens und des Wissens In jedem »b-sein-eines-A«, d.h. in jedem Sachverhalt, so WENISCH, »verhält sich etwas« bzw. verhält sich das A »auf eine bestimmte Weise«. Jeder Sachverhalt wird also durch eine Sache »fundiert«, und ohne diese Fundierung kann der Sachverhalt unmöglich bestehen. Die fundierende Sache kann ferner unmöglich der fundierte Sachverhalt sein. Der Sachverhalt des Auf-dem-Tisch-stehens-der-Lampe z.B. gründet oder ist fundiert in der Lampe oder besser in ihr und dem ihr zukommenden Attribut der Lage. Der Sachverhalt des Auf-dem-Tisch-stehens-der-Lampe ist aber nicht und kann unmöglich die auf dem Tisch stehende Lampe sein, wie bereits gezeigt worden ist. Kurzum: Sachverhalte setzen Sachen voraus. Wenn aber Sachverhalte Sachen voraussetzen, dann setzt auch die Erkenntnis eines Sachverhaltes die vorgeordnete Erkenntnis einer Sache voraus, denn so wie ein Sachverhalt ontologisch in einer Sache fundiert sein muß, muß epistemologisch die Erkenntnis eines Sachverhaltes in der Erkenntnis einer Sache fundiert sein.WENISCH schreibt: »Inhalt dieser kognitiven Akte bilden nicht nur Sachverhalte. Diese sind ja ihrem Wesen nach insofern sekundär, als in einem jeden Sachverhalt sich etwas in einer bestimmten Weise verhalten muß, und dieses ›etwas‹ ist nicht selbst auch ein Sachverhalt. Das Urteil: ›Diese Frucht ist unreif‹ hat einen Sachverhalt zum Gegenstand; die Frucht jedoch, in der der Sachverhalt gründet, ist selbst nicht auch ein Sachverhalt. Auch sie ist aber Gegenstand der kognitiven Akte, die schließlich zur Formulierung des erwähnten Urteils führen; man ist sogar gezwungen zu sagen, das Erfassen der Frucht fundiere erst das Erfassen der in ihr gründenden Sachverhalte.«1094
Bevor nun in eine Betrachtung der ›Sachen‹ begonnen werden kann, welche die für diese Arbeit so bedeutsamen notwendigen Sachverhalte fundieren, gilt es, mit HILDEBRAND und WENISCH, gewisse Akte des Bewußt1094
WENISCH [1976], 54.
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seins zu identifizieren und voneinander zu unterscheiden. Es muß abermals betont werden, daß der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchung nicht epistemologischer Natur ist. Die epistemologischen Betrachtungen erfolgen daher nicht um ihrer selbst willen, sondern im Hinblick auf die Ontologie der Sachverhalte. Ihr Umfang muß entsprechend bemessen sein. HILDEBRAND macht auf die Urteilen notwendigerweise eignende Spontaneität aufmerksam. Durch die Behauptung wird seitens des Urteilenden eine Setzung vollzogen. Diese spontane ›Tätigkeit‹ des Setzens kann aber unmöglich erfolgen, wenn kein Bewußtsein von dem vorhanden ist, was im Urteil überhaupt erst behauptend zu setzen ist. Bevor über etwas geurteilt werden kann, muß, wie HILDEBRAND zeigt, eine Kenntnis und ein Wissen von diesem etwas bzw. über dieses etwas vorliegen. Ein Urteil ist demnach vermöge der mit ihm verbundenen Behauptung stets die ›Anwendung‹ eines bereits gegebenen Wissens von auf den Gegenstand der Behauptung. Das Urteil kann nur sein, indem es einen bereits vorliegenden Inhalt des Wissens gewissermaßen aufgreift und ihn dann eigens objektivierend »hinstellt«. Daher kann HILDEBRAND sagen: »In der Behauptung sind uns Sachverhalte nicht gegeben, sondern wir zielen durch das Medium der Bedeutungseinheiten und Worte meinend auf sie ab. Wir können keinen Sachverhalt als bestehend behaupten, ohne zugleich einen Satz zu formulieren, ohne zugleich jenes eigentümliche geistige Gebilde aufzustellen: das Urteil, dem wir primär Wahrheit oder Falschheit zuschreiben. In ihm erlangen wir keinerlei Wissen von dem Sachverhalt, wir objektivieren vielmehr ein Wissen, daß wir schon besitzen. […] Beim Urteilen ist mir kein Gegenstand gegeben, sondern ich stelle einen Sachverhalt gleichsam als bestehend hin. Die Intention verläuft deutlich von mir zum Gegenstand. Ich spreche, das Wissen um den Bestand des Sachverhaltes ist vorausgesetzt.«1095
Und da die »Intention« oder Sinnrichtung des Geschehens beim Behaupten vom Urteilenden zum Sachverhalt geht und nicht umgekehrt, kann auch das Urteil, durch den ein Sachverhalt behauptet wird, nicht mehr zur Erkenntnis gehören bzw. kein Erkenntnisakt sein, wie HILDEBRAND zeigt. Da aber die Erkenntnisse in Urteilen objektiviert und (durch Behauptungssätze) kommuniziert werden, steht, so HILDEBRAND weiter, das Urteilen in 1095
HILDEBRAND [1976] 22f.
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enger Beziehung zur Erkenntnis, indem diese in aller Regel in Urteilen, welches selber aber kein Erkennen mehr ist, mündet: »Das Behaupten […] bildet in gewisser Weise den klassischen Endpunkt und Schlußstein im gesamten Erkenntnisprozeß, einen Endpunkt, der nicht mehr zu dem Erkennen selbst gehört, sondern sich als ein Neues auf diesem aufbaut. In ihm erfüllt sich eine fundamentale, dem spezifischen, ausdrücklichen Erkennen immanente ›Intention‹, das Erkannte zu objektivieren, mitzuteilen, für andere Personen festzulegen. Das Behaupten gehört zu den geistigen Akten im engeren Sinn, wie Fragen, Versprechen, mitteilen, Befehlen u.a., die von […] jedem Kenntnisnehmen ganz zu trennen sind.«1096
Urteile sind, abgesehen von dem nur sie auszeichnenden Behauptungsmoment, auch deshalb vom Erkennen zu unterscheiden, weil Urteile, wie WENISCH hervorhebt, ausschließlich auf Sachverhalte bezogen sein können. Die Intentionalität der Erkenntnis hingegen bezieht sich nicht allein auf Sachverhalte, sondern prinzipiell auf alles Seiende gleich welcher Art. »Kognitiver Akt ist jener rezeptive Akt einer Person, in dem etwas in ihr Gegenstandsbewußtsein tritt. Inhalt dieser kognitiven Akte bilden nun nicht nur Sachverhalte. Diese sind ja ihrem Wesen nach insofern sekundär, als in einem jeden Sachverhalt sich etwas in einer bestimmten Weise verhalten muß, und dies ›Etwas‹ ist nicht selbst auch ein Sachverhalt.«1097
Bevor ein Urteil gefällt und noch bevor in Urteilen ein Wissen behauptend objektiviert werden kann, muß der spätere Subjektsgegenstand des Urteils überhaupt erst »zur Kenntnis genommen« bzw. erkannt werden. Das eigentliche Erkennen, zu dem das Urteilen als spontaner Akt nicht mehr gehören kann, soll daher im Anschluß an HILDEBRAND und WENISCH als Akt des »Kennenlernens« oder »Kenntnisnehmens«1098 oder als »kognitiver Akt«1099 bezeichnet werden. Im Unterschied zum setzenden und spontanen Akt des Urteilens ist die Kenntnisnahme oder der kognitive Akt wesentlich und notwendig rezeptiv (s.u.), da irgendein Etwas hier überhaupt 1096 1097 1098 1099
HILDEBRAND [1976] 23. S. WENISCH [1976], 53, Fußn. 6. WENISCH [1976], 53f. S. HILDEBRAND [1976] 31. S. WENISCH [1976], 53f.
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erst in das Gegenstandsbewußtsein tritt und sich dem Geist zu erschließen beginnt. Hier wird dieses Etwas noch zur Kenntnis genommen, ohne daß es auch schon gekannt, und ohne daß auch schon etwas darüber gewußt wird. Dies Kenntnisnehmen oder der kognitive Akt hat einen wesentlich »dynamischen« oder »prozeßhaften« Charakter. Im Kenntnisnehmen liegt immer ein Geschehen »der Aneignung« »von etwas Neuem« vor, das eine Veränderung im Bewußtsein impliziert, in deren Verlauf das Bewußtsein mit etwas bekannt wird.1100 Kennenlernen läßt sich nun alles Mögliche, sowohl Sachen als auch Sachverhalte. Nachdem etwas kennengelernt oder zur Kenntnis genommen wurde, hört im Hinblick auf das fragliche Objekt der verlaufsartige bzw. dynamische Akt des Kennenlernens notwendigerweise auf zu bestehen. Nachdem etwas kennengelernt wurde, ist der Kennenlernprozeß vorüber. Der Gegenstand, bzw. daß die Sache sich so und so verhält oder nicht verhält, ist nun vielmehr »präsent«. Dem Kennenlernen schließt sich mit anderen Worten ein Wissen als ein vom Akt des Kennenlernens unterschiedener Akt an. »Das statische Wissen ist das Ergebnis des Kennenlernens; dieses erstrebt das Schaffen von Wissen. […]. Kennenlernen führt zu Wissen; sobald das Wissen vorliegt, kann Kennenlernen in derselben Hinsicht nicht mehr stattfinden.«1101
Im Kennenlernen wird immer etwas bekannt und in der Hinsicht, in der es bekannt wird, kann es unmöglich schon bekannt sein. Im Wissen hingegen liegt kein verlaufsartiges Sich-erschließen, sondern ein, wie HILDE1102 BRAND sich ausdrückt, »statisches« »geistiges Haben« von Etwas vor. Anders gewendet läßt sich sagen: Das Wissen ist kein Werden und Erwerben, sondern ein Besitzen. Ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Aktarten liegt darin, daß sowohl Sachen als auch Sachverhalte kennengelernt werden können. Man kann eine Person kennenlernen, aber auch, was es heißt, daß diese Person daheim ist. Wissen hingegen kann man nur und ausschließlich Sachver1100 1101 1102
S. HILDEBRAND [1976] 31f. S. WENISCH [1976], 54. HILDEBRAND [1976] 32. HILDEBRAND [1976], 32f.
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halte. Daher identifiziert BOCHEŃSKI das objektive Korrelat des Wissensaktes zutreffend, wenn er sagt: »Das Wissen hat immer einen Gegenstand: das, was man weiß. Und zwar ist dieser Gegenstand immer ein Sachverhalt.«1103
Die Kaffeemaschine, eine Person, Relationen etc. lassen sich nicht wissen. Wissen kann man nur positive und negative Sachverhalte, wie daß die Kaffeemaschine ein- oder nicht eingeschaltet ist. Wenn jemand sagt: »Ich weiß um diese Person«, dann ist darauf zu achten, was der sprachliche Ausdruck des näheren und im Grunde genommen meint! Es wird deutlich: Ohne daß der Sachverhalt hier sprachlich zum Ausdruck kommt, ist notwendigerweise ein Sachverhalt intendiert.1104 Dem spontanen Akt des Urteilens ist also die »statische geistige Habe« oder der Besitz von etwas im Wissen vorgeordnet. Diesem wiederum geht der verlaufsartige und aneignende Akt der Kenntnisnahme, oder wie WENISCH sich auch ausdrückt, »der ›prozeßhafte‹, rezeptive Akt des Erfassens« voraus. Die statische Habe im Wissen »liegt« demnach, wie sich mit WENISCH feststellen läßt, »zwischen« dem rezeptiven Akt der Kenntnisnahme und dem spontanen Akt des Urteilens.1105 Bevor ein Sachverhalt gewußt und dieses Wissen im Urteil verobjektiviert werden kann, muß sich dieser Sachverhalt im kognitiven Akt des Kennenlernens dem Bewußtsein erschließen. Da der Sachverhalt aber immer in einer Sache fundiert sein muß, stellt sich die Frage nach der direkten geistigen Habe der Sache, die nicht im Wissen als einem ausschließlich auf Sachverhalte gerichteten Akt vorliegen kann. Aber so wie Sachverhalte Sachen voraussetzen, setzt die geistige Ha1103 1104 1105
BOCHEŃSKI [1965], 11. S. dazu HILDEBRAND [1976], 37. S. WENISCH [1976], 54f. Etwa »Ich weiß, daß die Person existiert«, oder »Ich weiß, daß diese Person anwesend ist« usw. »Auf der einen Seite steht somit der ›prozeßhafte‹, rezeptive Akt des Erfassens, auf der anderen die ›spontane‹ Tätigkeit des Urteilens, zwischen beiden liegt das ›statische‹ geistige Haben von etwas.« WENISCH [1976], 54. Sowohl der Urteilsals auch der Wissensakt beziehen sich notwendigerweise auf Sachverhalte. Dennoch sind beide Akte wesentlich voneinander verschieden, da Urteile ein »Behauptungsmoment« enthalten müssen. Dieses Behauptungsmoment »fehlt im bloßen Wissen«. WENISCH [1976], 54.
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be von Sachverhalten eine geistige Habe der fundierenden Sachen voraus. Neben dem Wissen identifiziert HILDEBRAND eine weitere vom Wissen unterschiedene Aktart der geistigen Habe, nämlich das »Kennen«. Beide, das Wissen und das Kennen, »sind eindeutig zwei Arten der Gattung geistigen Habens«, wie HILDEBRAND zeigt.1106 Während sich Wissen allein auf Sachverhalte beziehen kann, vermag sich das Kennen, so WENISCH, »auch auf die Dinge beziehen, die diesen Sachverhalten zugrunde liegen.«1107 Ein weiterer Unterschied besteht, wie HILDEBRAND und WENISCH zeigen, darin, daß das Kennen »Gradabstufungen« erlaubt,1108 während Wissen im strengen Sinn entweder vorliegt oder nicht. »Im Bereich des ›Wissens‹ im strengen Sinne gibt es keine Grade. Es gibt hier nur das Vorhandensein oder das nicht-Vorhandensein von Wissen.«1109
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Vgl. HILDEBRAND [1976] 37. WENISCH [1976], 55. Auf die Frage, ob und inwiefern Sachverhalte Gegenstand des Kennens sind oder sein können, kann hier nicht weiter eingegangen werden. HILDEBRAND scheint der Auffassung zu sein, daß sich der Akt des Kennens nicht auf Sachverhalte beziehen kann, denn er betont, daß sich das Kennen »auf alle Arten von Seienden bezieht, bei denen es sich nicht um Sachverhalte handelt.« [1976], 38. Bei HILDEBRANDS Schüler WENISCH findet sich keine derartige Behauptung. WENISCH scheint vielmehr offenzulassen, ob das Kennen nicht doch auch auf Sachverhalte abzielen kann. »›Kennen‹ […] läßt Gradabstufungen zu. Man kann etwas oberflächlich, oder tief kennen, und von vielen Dingen wird gesagt, es sei unmöglich sie jemals zur Gänze zu kennen.« WENISCH [1976], 55. »Fragt uns jemand, ob wir einen bestimmten Menschen oder ein Kunstwerk, etwa King Lear oder die vierte Symphonie von Beethoven, kennen, dann können wir ebenfalls mit einem einfachen ›Nein‹ antworten, um zu zeigen, daß uns der betreffende Gegenstand völlig unbekannt ist. Antworten wir jedoch auf eine solche Frage bejahend, so können wir anstatt eines einfachen ›Ja‹ sagen: ›Nur oberflächlich‹ oder: ›Bis zu einem gewissen Grad‹ oder: ›Gut‹ oder: ›Durch und Durch.‹ Kurz, hier ist eine weite Skala mehr oder weniger vertrauten Kennens möglich; es gibt viele Abstufungen.« HILDEBRAND [1976] 38. WENISCH [1976], 55. Hier ist allerdings zu beachten, daß HILDEBRAND dem Wissen nicht jeden graduellen Charakter abspricht. Im Unterschied zum Wissen lasse das Kennen »Grade der Intimität und des Verstehens« zu. Das Wissen hingegen erlaube im Unterschied zum Kennen »Grade der Gewißheit«. WENISCH geht auf diese Unterscheidung HILDEBRANDS nicht ein, betont aber den nichtgraduellen Charakter des Wissens in besonderer Weise. WENISCH sieht
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Wichtig ist aber auch die Beziehung zwischen Kennen und Wissen. Wie genau beispielsweise etwas gekannt wird, erhellt durchaus auch aus der Menge der Sachverhalte, die über dieses Etwas gewußt werden. Außerdem geht mit jedem Kennen einer Sache auch ein Wissen um gewisse Sachverhalte einher.1110 Dem Kennenlernen und Wissen um jeden Sachverhalt und damit auch jeden notwendigen Sachverhalt muß demnach das Kennenlernen und Kennen der Sache zugrundeliegen. Das Wissen um Sachverhalte kann, so WENISCH, »in Urteilen unmittelbar zum Ausdruck« gebracht werden, da sowohl Akte des Wissens als auch Urteilsakte nur auf Sachverhalte gerichtet sein können. Das Kennenlernen und Kennen einer Sache hingegen, kann, wie WENISCH treffend zeigt, nur noch »indirekt in Urteilen« zum Ausdruck kommen, d.h. es läßt sich als solches nicht direkt versprachlichen, da der direkte Gegenstand aller Urteile immer ein Sachverhalt ist (s.u.). Der kognitive Akt, durch den ein höchst intelligibler materialnotwendiger Sachverhalt erkannt wird, wird treffend als »Einsicht« bezeichnet. Aber so wie jeder Sachverhalt in einer Sache fundiert ist, ist jeder notwendige Sachverhalt in einer Sache fundiert, der als solcher Notwendigkeit eignet. Daher muß auch die Einsicht als Akt der Kenntnisnahme eines notwendigen Sachverhalts in einer Einsicht fundiert sein, welche die
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allerdings, daß es die Vermehrung von Wissen gibt. Er lehnt jedoch ab, daß es bei der Wissensvermehrung um die Veränderung eines bereits vorhandenen Wissens geht. »Selbstverständlich kann man bezüglich derselben Sache neue Sachverhalte erfassen; diese bedeutet aber weniger, daß das alte Wissen sich verändert (wenn es nämlich wirklich echtes Wissen gewesen ist), als vielmehr, daß zum alten Wissen neues hinzutritt.« HILDEBRAND [1976], 39. WENISCH [1976], 55, Fußn. 9. Die freilich mögliche systematische Diskussion der Problematik kann hier nicht weiter verfolgt werden. »So fundamental der Unterschied zwischen ›Wissen und ›Kennen‹ ist, so bedeutsam ist auch die Beziehung zwischen beiden. Erstens kann man offenbar sagen: Wie tief jemand etwas kennt, zeigt sich unter anderem oft darin, wie viele Sachverhalte er von ihm weiß. Zweitens können wir sagen, daß es kein Kennen gibt, das nicht ein Wissen impliziert: Es gibt kein Kennen von etwas, ohne daß man Sachverhalte wüßte, die in dem Gekannten fundiert sind […].« WENISCH [1976], 55. »Obgleich wir die beiden Typen des geistigen Habens, Kennen und Wissen unterscheiden müssen durchdringen sie einander ständig. Mit jeder Stufe des Kennens geht das Wissen bestimmter, dem Gegenstand geltender Sachverhalte Hand in Hand.« HILDEBRAND [1976] 40.
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notwendige Sache zur Kenntnis nimmt. Auf genau diesen Punkt macht WENISCH scharfsichtig aufmerksam, wenn er schreibt: »Der kognitive Akt, der in unserem Zusammenhang [in dem es um höchst intelligible material-notwendige Sachverhalte geht] besonders wichtig ist, ist der der Einsicht. Wir haben Einsicht bisher lediglich als Fundament universeller Urteile kennengelernt, also als etwas, was – wie die Urteile selbst – auf Sachverhalte bezogen ist, und zwar auf notwendige Sachverhalte. Da es aber – wie oben gezeigt – nicht möglich ist, daß ein Sachverhalt erfaßt wird, ohne das zu erfassen, worin der Sachverhalt gründet, muß auch Einsicht in Sachverhalte mit einem anderen kognitiven Akt Hand in Hand gehen, der sich auf das bezieht, was die notwendigen Sachverhalte fundiert. Man kann etwa nicht wissen, daß eine notwendige Beziehung besteht zwischen den beiden Aspekten des Zweifels: ›den unerfüllten Wunsch nach Erkenntnisgewißheit haben‹ und ›der Überzeugung sein, seine Zustimmung nicht voreilig geben zu sollen‹, ohne jede der beiden in Relation gesetzten Gegebenheiten zu kennen. So muß also die Einsicht in Sachverhalte von der Einsicht in das Wesen dessen, worin diese Sachverhalte gründen, unterschieden werden. Erstere führt zu einem in Urteilen unmittelbar zum Ausdruck kommenden Wissen, letztere zu einem nur indirekt in Urteilen sichtbar werdenden Kennen.«1111
Anders gewendet: Dem Wissen um einen notwendigen Sachverhalt muß das Kennenlernen und das Kennen der ihn fundierenden Sache vorausgehen. Eine Person kann nur dann wissen, daß gewisse Sachverhalte notwendigerweise im Zweifel gründen, wenn sich dieser Person das Sosein des Zweifels, welches kein Sachverhalt ist, im Kenntnisnehmen erschlossen hat, und diese Person den »Zweifel« dann kennend »hat«. Das Kennenlernen und Wissen um einen notwendigen Sachverhalt setzt also auch das Kennenlernen und Kennen einer notwendigen Sache bzw. eines notwendigen Soseins voraus. Um diese Soseinsart in den Blick zu bekommen, sollen mit HILDEBRAND drei Arten von »Soseinseinheiten« unterschieden werden.1112 Vorab gilt es aber noch einen Blick auf das in sich 1111 1112
WENISCH [1976], 55f. 64. S. dazu HILDEBRAND [1950], 85f, auf dessen entsprechende Ausführungen WENISCH ausdrücklich zurückgreift. Die ausdrückliche Unterscheidung der drei Arten von Soseinseinheiten stammt von HILDEBRAND. Die Ausführungen greifen allerdings nicht allein auf HILDEBRAND zurück, sondern auch auf entsprechende Ausführungen bei SEIFERT und WHITE. Für eine ausführlichere und eingehendere Betrachtung und Unterscheidung der drei Soseinseinheiten sei ausdrücklich auf diese Autoren verwiesen.
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Widerspruchsvolle und das Chaotische als den beiden Gegensätzen zu jeder Einheit zu werfen. Dies geschieht insbesondere im Rückgriff auf SEIFERTS entsprechende Untersuchungen. 8.2 Das in sich Widerspruchsvolle und das Chaotische als die beiden Gegensätze zur notwendigen Einheit eines jeden Seienden Jedes Seiende ist notwendigerweise eine gewisse Einheit. Ein Seiendes ohne Einheit wäre ein Etwas, das als Etwas kein Etwas wäre und damit ein in sich widerspruchsvolles »seiendes Nichts«, da ein Seiendes kraft seiner mit ihm konvertierbaren Einheit überhaupt erst etwas ist und sein kann.1113 Zweierlei steht der transzendentalen Proprietät der Einheit jedes Seienden entgegen. Das Verstehen dieser Gegensätze zur Einheit und die Einsicht in die Unmöglichkeit ihres Seins läßt, wie SEIFERT zeigt, auch die Einheit des Seienden deutlicher werden.1114 Diese beiden Gegensätze sind das, wie SEIFERT sich im Rückgriff auf HILDEBRAND ausdrückt, »in sich Widerspruchsvolle und das Unsinnige« bzw. Widersinnige einerseits und »das Amorphe, Chaotische« andererseits. Das in sich Widerspruchsvolle bildet, wie sich mit SEIFERT zur Einsicht bringen läßt, den »radikalsten Gegensatz« zur »inneren Einheit« oder zum Innenaspekt der Einheit eines jeden Seienden. Das Chaotisch-Amorphe steht der möglichen oder wirklichen »äußeren Einheit« oder dem Außenaspekt der Einheit eines jeden Seienden entgegen.1115 Eine duftende Freude, ein Dreieck mit einer Winkelsumme von 270 Grad, ein mit dem Metermaß meßbarer Akt des Schließens und ein hölzernes Eisen, der (gleichzeitige) Bestand von zwei kontradiktorisch entgegengesetzten notwendigen Sachverhalten sind in sich widerspruchsvoll bzw. widersinnig und in sich als derartige »Freude«, »Dreieck«, »Schluß« und »Eisen« und »notwendiger Sachverhalt« schlechterdings unmöglich.
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Die eher skizzenhaften Ausführungen in den Abschnitten unten sollten auch im Zusammenhang mit den Abschnitten 7.6 und 9.9 in dieser Arbeit gelesen werden. Es gilt, wie SEIFERT zu Recht betont, sich »auf die Tatsache zu besinnen, daß jedes Seiende eine gewisse ›Einheit‹ ist. Sonst könnte es überhaupt nicht ›etwas‹ sein. SEIFERT [1973], XLI. SEIFERT [1973], XLIf. SEIFERT [1973], XLIIf. S. HILDEBRAND [1976], 94.
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Daher sind sie, wie SEIFERT sich ausdrückt, »aus dem Reich des Seienden ausgeschlossen«, denn es werden in solchen Fällen völlig unvereinbare und sich jeder Vereinigung widersetzende »inkompatible« und »unverträgliche« Elemente, wie SEIFERT treffend betont, »rein begrifflich [Kursiv v. Verf.] zusammengefügt«.1116 Wir stehen hier, wie SEIFERT sagt, vor dem »Gegensatz zur ››inneren Verbundenheit der Elemente‹ in jedem Seienden«, und dem »Widerstreit zur ›inneren Seite‹ jener ›Einheit‹, die jedes Seiende aufweist.«1117
Denn Freude kann in sich unmöglich duften und Holz kann unmöglich Eisen sein. Die innere Einheit dieser Seienden schließt kategorisch aus, was dieser Einheit widerspricht. Daneben aber läßt sich noch das Chaotisch-Amorphe und als solches völlig Konturlose als der Einheit eines jeden Seienden entgegenstehend unterscheiden, das als solches ebenfalls nicht sein kann, weil es jedem Etwassein widerstehen muß und keinerlei Einheit aufweisen kann. Aber im Unterschied zum in sich Widerspruchsvollen, welches ein inneres Unmöglichsein darstellt, steht, wie SEIFERT zeigt, das Chaotisch-Amorphe für ein äußeres Unmöglichsein. Wäre ein »Etwas« völlig bzw. sensu stricto chaotisch und amorph verfaßt und ohne jede ›Kontur‹, könnte es ja weder ›gegen‹ das Nichtsein noch gegen irgendwelche anderen Seienden weder der Wirklichkeit noch der Möglichkeit nach unterschieden sein. Es wäre ein »Seiendes«, das weder vom Nichts noch vom anderen Seienden unterschieden sein könnte. Deshalb spricht SEIFERT vom Chaotisch-Amorphen als dem
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SEIFERT [1973], XLII. HILDEBRAND nennt derartige Begriffe auch »Pseudobegriffe«, weil sie »inkompatible Elemente enthalten, die sich dem Zusammenschluß widersetzen.« Sie sind »die ausdrückliche Negation der inneren Verbundenheit, das radikale Gegenteil von Einheit.« HILDEBRAND [1976], 94. SEIFERT [1973], XLII. »Solche in sich widerspruchsvolle und unsinnige ›Begriffsschöpfungen‹ bzw. das mit solchen Ausdrücken ›Gemeinte‹ bildet den radikalsten Gegensatz zu der ›Einheit‹, die wir in jedem Seienden finden […]. Es ist der Gegensatz zur ›inneren Verbundenheit der Elemente‹ in jedem Seienden, der Widerstreit zur ›inneren Seite‹ jener ›Einheit‹, die jedes Seiende aufweist.« SEIFERT [1973], XLII.
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»Gegensatz zur ›Außenseite‹ jeder Einheit, nämlich zur Abgehobenheit eines Seienden von den außer ihm bestehenden Seienden bzw. zur Abgegrenztheit jedes Seienden ›nach außen hin‹.«1118
Jedes Seiende widerstrebt kraft seines Seins und der damit einhergehenden Einheit dem Chaotisch-Amorphen, und es kann niemals ein Seiendes schlechterdigs chaotisch und amorph sein. Da aber ein Seiendes im Vergleich zu anderem Seienden (»äußere Einheit«) mehr oder minder einig und mehr oder minder sinnvoll sein kann, und es tatsächlich z.B. von ›Gott bis zum Staubkorn‹ eine Mannigfaltigkeit der Abstufungen von Einheit und Sinnfülle gibt, besteht, wie SEIFERT zeigt, »zwischen« dem höchst Sinnvollen und dem völlig Chaotischen gleichsam »eine Linie«, insofern ein Seiendes zwar nicht völlig ohne äußere Einheit, aber doch von einer sehr armen äußeren Einheit sein kann, die sich als eine auf reichere Einheiten ›relatives Weniger-einig-Sein‹ dem Nichtsein des völlig Chaotischen gleichsam »annähert«.1119 Daher spricht WHITE im Hinblick auf das völlig Chaotische treffend von einem »limit concept« und zwar »a very important one.«1120 Dies ist bereits insofern richtig, als sich im Hinblick auf ihn ganz verschiedene Stufen der äußeren Soseinseinheit verdeutlichen lassen. Zwischen dem in sich Widerspruchsvollen und dem in sich Unmöglichen jedoch und der entsprechenden inneren Einheit eines jeden Seienden kann sich, wie SEIFERT zeigt, keine derartige »Linie« befinden. Etwas ist entweder in sich widerspruchsvoll bzw. unmöglich oder nicht. Und »jedes 1118
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SEIFERT [1973], XLIIf. »Einen ganz verschiedenen Gegensatz zur ›Einheit‹ eines Seienden bildet das völlig konturlos Amorphe, Chaotische. Dieses steht im Gegensatz zum ›Etwas-Sein‹, zur Herausgehobenheit jedes Seienden aus dem Nichtsein sowohl als aus dem übrigen Seienden. Indem ein Seiendes eine gewisse Einheit innere ›Einheit‹ besitzt, hebt es sich von seinem ›Hintergrund‹, von seiner ›Umgebung‹, von dem übrigen Seienden als etwas Eigenes ab.« SEIFERT [1973], XLII. »Zwischen der ›Einheit‹ jedes Seienden und dem letztgenannten Gegensatz dazu [dem Chaotisch-amorphen] finden wir eine ›Linie‹, ein allmähliches Auslöschen der Konturen und jeder Sinngestalt, eine graduelle Annäherung an das Nichtsein. Entsprechend dazu besitzt die Sinnhaftigkeit, durch die ein Seiendes diesem ›Chaos‹ entgegengesetzt ist, eine ungeheure Abstufung, zahllose Grade und Stufen des ›Etwas-seins‹, einer inneren ›Sinngestalt‹.« SEIFERT [1973], XLIII. WHITE [1992], 312, Fußn. 58.
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Seiende bildet einen »strikten Gegensatz zum innerlich Unmöglichen«, welches seinerseits schlechterdings nicht sein kann. Kurzum: Ein Seiendes kann nicht mehr oder weniger widersprüchlich und mehr oder weniger unmöglich sein; es ist entweder innerlich möglich oder es ist nicht.1121 Auf dem Fundament dieser in Rückgriff auf SEIFERT formulierten Überlegungen sollen nun die von HILDEBRAND herausgearbeiteten drei Typen von Soseinseinheit zur Darstellung kommen. Es soll herausgestellt werden, in welcher Art von Sosein notwendige Sachverhalte gründen. 8.3 Die »zufällige Soseinseinheit« Es gibt Seiende, die hinsichtlich ihrer Einheit von einer hervorstechenden, besonderen Zufälligkeit gekennzeichnet sind. Man denke nur an einen Schrotthaufen oder an einen Scherbenhaufen aus verschiedensten zusammengefallenen Glasbruchstücken. WHITE bringt das Beispiel der Einheit einer Tonfolge, die entsteht, wenn eine Katze über die Klaviatur läuft.1122 Mit SEIFERT lassen sich auch Assoziationsketten anführen, wie sie sich etwa in halbbewußten menschlichen Geisteszuständen einstellen.1123 All diese Seienden stellen eine bestimmte Soseinseinheit dar, nämlich einen Haufen von Scherben oder eine Reihung von Tönen usw. Die Elemente von alldergleichen Gegenständlichkeiten können vereint einen Trümmerhaufen und eine Tonfolge bilden und derart jeweils ein Seiendes sein. Die Elemente dieser Seienden »widersprechen« einander ja nicht bzw. sie sind nicht unvereinbar, so daß ihre Einheit unmöglich wäre, und die oben genannten Haufen sind auch von dem Boden, auf dem sie liegen und dem Dach oder Himmel, unter dem sie sich befinden, verschieden und heben sich als Haufen gegen diese ab. 1121
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»Zwischen der in jedem Seienden aufzufindenden inneren ›Einheit‹ und dem erstgenannten Gegensatz dazu [dem in sich Widerspruchsvollen oder Widersinnigen], dem innerlich Unmöglichen, gibt es hingegen keine ›Linie‹, keinen allmählichen Übergang, sondern ein striktes ›entweder-oder‹. Es kann sich nicht ein Seiendes immer mehr dem innerlich Unmöglichen nähern, sondern jedes Seiende bildet einen strikten Gegensatz zu dem innerlich Unmöglichen, wie einem runden Viereck oder einer hellgrünen Freude.« SEIFERT [1973], XLIII. S. dazu auch HILDEBRAND [1976], 94f. WHITE [1992], 312. SEIFERT [1973], XLIII.
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Werden diese Soseinseinheiten nun unter der Rücksicht der Sinnfülle betrachtet, durch welche deren Elemente als solche miteinander ein Seiendes bilden, dann fällt auf, daß deren Einheit durch eine »ausschließlich faktische Kohärenz der Teile« gekennzeichnet ist, wie HILDEBRAND sich ausdrückt, und daß der Einheit »jede wirklich innere Konsistenz« oder innere Sinnfülle fehlt, d.h. »die Teile sind nicht innerlich sinnvoll verbunden, sondern« werden »nur von außen her zusammengehalten«.1124 »Es gibt nun Einheiten, die zwar möglich, aber in der Verbindung ihrer Elemente den Charakter des Sinnarmen, rein Zufälligen haben, etwa ein Steinhaufen oder eine Tonfolge, die keine Melodie ist. Das ist vom Standpunkt der Sinnhaltigkeit aus die niedrigste Stufe der Einheit. Der Kohärenz der Elemente fehlt hier der innere Sinn, es ist eine ausschließlich faktische Kohärenz, d.h. die Einheit wird lediglich von der Tatsache, daß sie an einem realen Etwas vorkommt, zusammengehalten.«1125
Die rein faktische Kohärenz der Teile wird durch das Verhältnis der Teile untereinander anschaulich. Dieses ist so verfaßt, daß immer noch die Soseinseinheit Scherbenhaufen oder die Einheit Tonfolge vorliegt, selbst wenn ein Element fortgenommen oder die Elemente beliebig umgruppiert werden. Hier läßt sich alles Unterste beliebig zuoberst kehren, so lange die Teile nur räumlich oder zeitlich beisammen sind. Freilich hätte sich dadurch der Scherbenhaufen und die Tonfolge verändert, aber darum geht es nicht. Vielmehr bleiben die veränderten Gebilde auch so ein Scherbenhaufen und eine Tonfolge. »Man kann nicht sagen, es sei sinnvoller, daß die Teile gerade in dem Verhältnis zueinander stehen, das tatsächlich zwischen ihnen besteht; das vorliegende Sosein wäre ›ebensogut‹, wenn die Relation der Teile zueinander anders wäre oder wenn gewisse Teile ganz fehlten.«1126
Die Anzahl und Anordnung der Teile ist im Hinblick auf die Einheit bzw. auf das Sosein, das sie bilden, rein zufällig und akzidentell. Das Liegen einer Scherbe an einem bestimmten Ort im Haufen ist im Hinblick auf die 1124 1125 1126
HILDEBRAND [1976], 95. HILDEBRAND [1950], 51. S. auch HILDEBRAND [1976], 95. WENISCH [1976], 57. Zur zufälligen Soseinseinheit bei HILDEBRAND s. [1976], 94ff.
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Soseinseinheit Scherbenhaufen nicht mehr und nicht weniger sinnvoll, als wenn sie an einer anderen Stelle läge oder gar fortgenommen würde. Dasselbe gilt für einen Ton, der an einer bestimmten Stelle der zufälligen Tonfolge vorkommt. Im Hinblick auf die Soseinseinheit »Tonfolge« ist der Ton an dieser Stelle nicht mehr oder weniger sinnvoll als anderswo, und eine (längere) Tonfolge behält ihr Sosein auch ohne dieses Element. Der rein äußerliche Zusammenhalt der Elemente etwa eines Schrotthaufens wird dadurch einsichtig, daß dieser aus der zufälligen und »nur aus der kontingenten, raumzeitlichen Benachbarung« der Teile hervorgeht.1127 Es gehört nicht zur inneren Sinnfülle einer Scherbe, daß sie mit anderen einen Haufen bildet. Daher fehlt dem Haufen als ganzer Einheit auch die Fülle des inneren Sinnzusammenhangs. Ferner entstehen Scherbenhaufen etwa durch die Willkür von Menschen. Diese Einheiten sind, wie WHITE sich ausdrückt, »unities only from external, purely factual circumstances.«1128 Weil das Sosein dieser Einheiten »so gehaltarm« ist und nur »von außen« zusammengehalten wird, »tendiert es in die Richtung des Chaotischen«, wie HILDEBRAND betont.1129 Diese Einheiten kommen, um es anders zu wenden, dem völlig Chaotischen als dem Widerpart zur äußeren Einheit eines Seienden vergleichsweise nahe. Daher nennt HILDEBRAND Soseinseinheiten dieser Art »chaotische und zufällige Einheiten«.1130 Da die Teile zufälliger Einheiten ohne jedes innere Sinngefüge sind, fehlt ihnen auch jedes authentische »eidos« oder jede innere Einheit des Wesens.1131 Aufgrund des Fehlens einer inneren Wesenseinheit lassen sich 1127 1128 1129 1130
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HILDEBRAND [1976], 95. WHITE [1992], 312. HILDEBRAND [1976], 96. S. dazu auch WHITE [1992], 312, Fußn. 58. Damit will HILDEBRAND nicht sagen, daß durch derartige Soseinseinheiten das Chaos real würde. Ein reales Chaos ist ja schon deshalb unmöglich, weil es sich durch seine Realität vom Nichts unterschiede und aufgrund dieses Unterschiedes kein Chaos sein könnte. Das Chaos ist, wie oben gezeigt, lediglich ein Grenzbegriff. Weil den von HILDEBRAND analysierten Soseinseinheiten aber die innere gleichsam organische Sinnfülle abgeht und sie nur äußerlich zusammengehalten werden, nähern sie sich dem Chaos und sind quasi-chaotisch. Deshalb der Ausdruck chaotische Einheit. S. dazu auch WHITES Ausräumung desselben möglichen Mißverständnisses in [1992], 312., Fußn. 58. »Als Sosein steht sie in keiner Weise auf eigenen Füßen. In dieser Einheit ist nichts objektiv Sinnvolles getroffen, sie hat kein eigentliches eidos, keine echte Form. Lediglich ein äußeres Moment rettet sie vom chaotischen Auseinander-
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diese Einheiten auch nicht von innen her verstehen bzw. als ein innerliches Sinngefüge verstehen. Ohne die Möglichkeit des Verständnisses eines innerlichen Sinngefüges gibt es aber auch, wie SEIFERT zeigt, nicht so etwas wie eine Erkenntnis allgemeiner innerer Sinnzusammenhänge wie Wesenheiten, Arten und Gattungen. Der bloß äußere Zusammenhalt und die Zufälligkeit des Zusammenhangs der unterscheidbaren Teile schließt dies aus. Anders gewendet: Mehrere Einheiten, bei denen der Zusammenhang der Teile je zufällig ist, bieten keine Grundlage für das Erfassen von diese Einheiten als solche betreffenden allgemeinen und damit nichtzufälligen Merkmalen.1132 8.4 Die sinnvolle Soseinseinheit des kontingenten »echten Typus« Neben zufälligen Soseinseinheiten wie den obigen gibt es aber auch Soseinseinheiten, bei denen Anzahl und Anordnung der Elemente für das entsprechende Sosein keineswegs rein zufällig und akzidentell sind und nur von außen zusammengehalten werden. Diese Art der Soseinseinheit bezeichnet HILDEBRAND als »echten Typus« und als »morphische Soseinseinheit«.1133 Die untersten Teile eines Organismus beispielsweise lassen sich nicht beliebig zuoberst kehren, und es lassen sich dessen Teile auch nicht ohne weiteres willkürlich entfernen, ohne daß störend in den Organismus als solchen, und d.h. in dessen Sosein eingegriffen wird. Denn der Organismus bildet im Unterschied zu den oben genannten rein faktischen und zufälligen Soseinseinheiten ein von innen her sinnvolles Sosein. Änderungen der Anordnung oder Anzahl der Teile können dazu führen, daß das
1132
1133
fließen oder Auseinanderfallen.« HILDEBRAND [1976], 95. S. SEIFERT [1973], XLIV. »Zwar können wir«, wie SEIFERT treffend schreibt, »auch von irgendeinem ›zufälligen Gebilde‹ […] ausgehen und einen abstrakten Begriff bilden, der diese beiden Merkmale zusammenfaßt. Aber hier würde es sich eben um einen abstrakten Begriff, nicht um einen echten Allgemeinbegriff handeln, der sachlich fundiert wäre. Denn da die ›Einheit‹ der hier zusammengefaßten Elemente so zufällig, so rein durch das faktische Zusammenbestehen derselben gebildet ist, fehlt die ontologische Grundlage für eine Unterscheidung zwischen zufälligen Einzelheiten und einer sinnhaften Struktur.« SEIFERT [1973], XLV, Fußn. 34. S. dazu auch HILDEBRAND [1976], 96. S. WHITE [1992], 312. HILDEBRAND [1976] 96. 104. Eine erhellende und vertiefende Aufzählung verschiedenster Beispiele für echte Typen bringt SEIFERT [1973], XLIVf.
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Sosein des Organismus durch dessen Tod aufgehoben wird. Ein in die Mitte des Scherbenhaufens treffendes Geschoß aus einer Faustfeuerwaffe kann nicht bewirken, daß der Scherbenhaufen sein Sosein verliert. Trifft dasselbe Geschoß aber ein Herz, so daß dieses zu schlagen aufhört, hört auch der Organismus auf, Organismus zu sein. »Das im echten Typus vorliegende Sosein ist offenbar von ganz anderer innerer Konsistenz […]. Es erhebt sich über das rein zufällige und Faktische. Es ist nicht nur von außen her durch willkürliche und rein zufällige Momente vor dem Auseinanderfallen bewahrt, sondern es ist von einer ›Mitte‹ her zu einer Einheit zusammengeschlossen, und die Elemente sind nicht zufällig aneinandergereiht, sondern sinnvoll innerlich verbunden.«1134
Aber trotz des höchst sinnvollen Ganzen läßt sich auch angesichts des echten Typus nicht von einem strengen »So-sein-Müssen« sprechen. Unter der Rücksicht einer letzten unverrückbaren Notwendigkeit betrachtet, könnte es prinzipiell auch anders sein. Das wird besonders deutlich, wenn man sich klarmacht, daß die hier faktisch vorliegenden allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und Wesenszusammenhänge immer induktiv erschlossen werden müssen und nichts anderes als induktiv erschlossen werden können. Der Grund besteht darin, daß Induktion als Methode der Forschung und Erkenntnis stets Gegenstände voraussetzt, welche prinzipiell kontingent sind. Ob der Organismus durch Aufhebung eines seiner Teile existenzunfähig wird, darüber vermögen nur Realkonstatierungen und die sich anschließende schlußfolgernde Verallgemeinerung der Induktion Auskunft zu geben. Und in der Tat können viele Teile eines Organismus, wie die Mandeln, der Blinddarm oder die Milz völlig entfernt werden, ohne daß der Organismus sein Sosein verliert, d.h. ohne daß der Organismus aufhört, ein Organismus zu sein. Und auch die Erkenntnis der Möglichkeit der Entfernung gewisser Teile eines echten Typus kann allein durch Er-
1134
HILDEBRAND [1950], 52. Zur Einheit des echten Typus bei HILDEBRAND s. auch [1976], 96-102.
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fahrung im Sinn der Realkonstatierung und Induktion vermittelt werden.1135 Die Kontingenz der echten Typen ist der ontologische Grund dafür, daß sie betreffende allgemeine Erkenntnisse wie Naturgesetzlichkeiten, aber auch die Erkenntnis des spezifischen Soseins eines echten Typus vom Menschen allein durch induktive Methodik gewonnen werden kann. Die Notwendigkeit der Anwendung der Methode der Induktion gründet aber nicht nur in der Kontingenz der echten Typen, wie HILDEBRAND und SEIFERT zeigen, sondern auch darin, daß deren Wesen oder konstitutives Sosein der menschlichen Erkenntnis nicht unmittelbar und »anschaulich« gegeben ist.1136 Im Fall der echten Typen ist der menschlichen Erkenntnis nämlich nur die »Außenseite, nur die Erscheinung unmittelbar zugänglich«.1137 In Anbetracht dieser Tatsache macht HILDEBRAND eine bedeutende Unterscheidung von »zwei Schichten« hinsichtlich der Soseinseinheiten des echten Typus. Bei diesen Einheiten muß nämlich die »Erscheinungseinheit« von der »konstitutiven« oder inneren Wesenseinheit unterschieden werden.1138 Das hier Gemeinte läßt sich etwa an einem Wal veranschaulichen. Geht man vom Offensichtlichen oder der Erscheinungseinheit aus, so scheint der Wal ein Fisch zu sein. Erst durch induktive Erforschung der Wale läßt sich feststellen, daß es sich bei ihrem konstitutiven Sosein um das der Säugetiere handelt.1139 Unter Berücksichtigung der sonst allgemeinen Lebensweise von Säugetieren wird die hier vorliegende Diskrepanz zwischen Erscheinungssosein und konstitutivem Sosein besonders deutlich. Diese Diskrepanz tut sich jedoch nicht nur bei Walen und anderen Meeressäugern auf, sondern »obtains«, wie WHITE hervorhebt, »in morphic unities in general«.1140 Und es ist neben der Kontingenz 1135
1136 1137 1138 1139 1140
Zum Zusammenhang zwischen der Soseinseinheit des echten Typus und der Kontingenz dieser Einheit und der Methode der Induktion s. SEIFERT [1973], XLVf. HILDEBRAND [1976], 97. SEIFERT [1973], XLVIf. SEIFERT [1973], XLVI. HILDEBRAND [1976], 97. S. zu diesem und weiteren Beispielen SEIFERT [1976], LII. WHITE [1992], 313. Hier läßt sich etwa an Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett denken. Was unmittelbar anschaulich als ein vernunftbegabtes Sinnenwesen erscheint, muß kein Mensch sein. Dieselbe Diskrepanz tut sich angesichts gewisser Vektor-Art-Graphiken auf. In Anbetracht dieser Graphiken meint man
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der Soseinseinheit echter Typen gerade diese Diskrepanz zwischen Erscheinungseinheit und konstitutiver Einheit »why these objects require inductive investigations.« Diese erkenntnistheoretisch äußerst bedeutsame Diskrepanz offenbart, daß der Mensch nur einen vermittelten Zugang zum konstitutiven Sosein echter Typen hat. Dieses Sosein ist nicht unmittelbar intelligibel. Es ist, wie WHITE schreibt, »not open to a pure understanding of the nature of the being in question and it does not yield its essences immediately. Hence the discovery of which features are essential marks of a genus or species and which are not, can be achieved only through numerous observations. Morphic essences are real unities, but their openness to the intellect of man is of a sort that only after numerous experiences can one come to the constitutive essence.«1141
Auch wenn die Soseinseinheit des echten Typus durch Kontingenz gekennzeichnet und der Erkenntnis nicht unmittelbar zugänglich ist, so ist sie im Unterschied zur erstgenannten Soseinseinheit gerade nicht zufällig und akzidentell. Sie wird auch nicht nur von außen konstituiert, im Gegenteil. Die Teile von Soseinseinheiten des echten Typs sind von innen her geeint und von sich her sinnvoll auf andere Teile bezogen. Daher wird die Soseinseinheit als Ganze von einem inneren Sinnzusammenhang her konstituiert. Dieser Sinnzusammenhang ist als solcher erkennbar, und insofern er erkennbar ist, ist eine Einheit echten Typs in epistemologischer Hinsicht auch offen für ein »von innen her Verstehen«, wie SEIFERT sich ausdrückt.1142 Auf der Grundlage der Möglichkeit, diese Soseinseinheiten ihrer Art gemäß von innen zu verstehen, ist im Hinblick auf echte Typen auch echte Allgemeinerkenntnis möglich.1143 Dieses Von-innen-her-Verstehen wird durch die innere Einheit der echten Typen aber zugleich ermöglicht und begrenzt. Denn die innere Sinnfülle des Soseinszusammenhangs des echten Typs geht einher mit seiner Kontingenz, so daß es Gründe
1141 1142 1143
mit Photographien realer Gegenstände konfrontiert zu werden. Tatsächlich aber handelt es sich um digitale »Zeichnungen«. WHITE [1992], 313. SEIFERT [1973], XLV. S. HILDEBRAND [1976], 96f. S. SEIFERT [1973], XLV.
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für die Soseinseinheit als solche gibt, die notwendig außerhalb dieses Soseins liegen.1144 8.5 Die »notwendige Soseinseinheit« Es gibt noch eine dritte Soseinseinheit, die sich hinsichtlich ihrer Einheit wesentlich von den ersten beiden unterscheidet. Wo auch immer in dieser Arbeit von notwendigen Sachverhalten die Rede war, etwa den notwendigen Sachverhalten, welche im Zweifelsakt gründen, war auch schon von dieser Form der Soseinseinheit die Rede, in diesem Fall dem Sosein des Zweifels als fundierender notwendiger Wesenseinheit. So wie Sachverhalte in Sachen gründen, müssen notwendige Sachverhalte in notwendigen »Sachen« gründen. Und diese notwendigen »Sachen« sind es, um die es bei der dritten Form der Soseinseinheit geht. Daher läßt sie sich auch mit HILDEBRAND treffend als »wesensnotwendige Einheit« oder »notwendige Soseinseinheit« bezeichnen.1145 Mit dieser Einheit, »ist der Höhepunkt innerer Konsistenz, das polare Gegenstück zu einer bloß von außen zusammengehaltenen Einheit [die zufällige Einheit] erreicht.«1146
WHITE beschreibt die restlose Konsistenz der Einheit des notwendigen Soseins, indem er sagt: »Only in these necessary essences do we find unities in the strictest sence: such that one cannot substract any one feature from the essence without falsifying the very nature of the thing. […] In these cases, the nature of these things and therefore so meaningful that to strip away a feature is to destroy the essence.«1147
1144
1145 1146 1147
»Trotz des inneren ›Sinnes‹ solcher Soseinseinheiten liegt in der Vereinigung ihrer Elemente keine eigentliche Notwendigkeit. Sie tragen nicht nur die Vorzüge, sondern auch die Mängel der ›Erfindung‹, des ›Kontingenten‹. SEIFERT [1973], XLV. Zur Notwendigkeit von »außerhalb« liegenden Gründen für die Soseinseinheit des echten Typus s. WHITES Ausführungen unter Fußn. 1155. S. etwa HILDEBRAND [1976], 103 und 118. S. Fußn. 1150. HILDEBRAND [1976], 103. S. SEIFERT [1973], L. WHITE [1992], 313f. S. SEIFERT [1973], LI.
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Auch CONRAD-MARTIUS hat die restlose Einheit des notwendigen Soseins im Blick, wenn sie schreibt, daß diese »Gegenständlichkeiten […] eine solche eigentümliche Abgegrenztheit und Umschlossenheit ihrer selbst« besitzen, »daß jedes sie bestimmende Moment in sich selbst das andere fordert, oder in sich selbst nicht ohne jedes andere die Ganzheit des Gegenstandes bestimmende Moment zu sein vermag, so daß die Herausstellung solcher ›Washeiten‹ durch eine intuitive Untersuchung an einem einzigen Beispiel vollauf [ohne Rekurs auf Erfahrung im Sinn der Induktion, Anm. d. Verf] geleistet werden kann.«1148
Alle in den obigen Abschnitten betrachteten Eigenschaften der Notwendigkeit gewisser Sachverhalte eignen a fortiori denjenigen Soseinseinheiten oder Wesenseinheiten, in denen diese Sachverhalte fundiert sind. »[…] die Notwendigkeit der Verbundenheit der Sachverhaltsglieder setzt«, wie HILDEBRAND pointiert formuliert, »die Notwendigkeit der Soseinseinheit voraus.«1149 Notwendige Wesenseinheiten sind als solche ebenso absolut unerfindbar, unzerstörbar, unveränderlich und iniudicabel wie die notwendigen Sachverhalte, welche in ihnen gründen. Die Intelligibilität einer notwendigen Soseinseinheit und die Intelligibilität der zufälligen und sinnvollen »morphischen« Einheiten des echten Typus lassen sich nicht vergleichen, denn die Erkenntnis notwendiger Soseinseinheiten ist nicht von Induktionen und den damit verbundenen erkenntnistheoretischen Defiziten abhängig.1150 Ferner eignet der Erkenntnis dieser notwendigen Ein1148 1149 1150
CONRAD-MARTIUS [1916], 349. S. Fußn. 1150. »Der große Schnitt, der apriorische und empirische Sachverhalte trennt, ist durch den prinzipiellen tiefgehenden Unterschied im Seienden selbst bedingt: den zwischen Gegenständen, die eine intuitiv zugängliche, höchst intelligible notwendige Soseinseinheit besitzen, und solchen, die nur eine sinnvolle, jedoch kontingente oder bloß eine sinnarme, rein zufällige Soseinseinheit aufweisen. Denn nur in diesen notwendigen Soseinseinheiten gründen wesensnotwendige Sachverhalte. Die Notwendigkeit der Verbundenheit der Sachverhaltsglieder setzt die Notwendigkeit der Soseinseinheit voraus. Solange es sich um Gegenstände mit zwar sinnvollen, aber kontingenten Soseinseinheiten handelt, können auch die in diesen Soseinseinheiten gründenden Sachverhalte höchstens naturnotwendigen Charakter tragen. Weiterhin ist unserem Geist nur bei den intuitiv zugänglichen notwendigen Soseinseinheiten das notwendige Gründen der Sachverhalte in der Wesenheit gegeben. Bei den nur von außen, auf Umwegen er-
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heiten apodiktische Gewißheit, ja die Gewißheit der Erkenntnis eines notwendigen Sachverhaltes gründet in der Gewißheit der Erkenntnis des zugrundeliegenden notwendigen Soseins. Mit SEIFERT läßt sich zunächst die »unerfindbare Notwendigkeit« dieser Soseinseinheiten hervorheben.1151 Die hinsichtlich ihrer Gewißheit ausschließlich mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit ihrer Ergebnisse gehört nicht so zur Induktion wie die Rinde zum Baum, die Seele zum Körper und die Sterblichkeit zum Menschen. Die intentio benevolentiae und die intentio unionis gehören nicht so zur Liebe wie die Vernunftbegabtheit zum Sinnenwesen. Zum Sein der Induktion als Induktion gehört notwendig das erkenntnistheoretische Defizit, und zum Sein der Liebe als Liebe gehören notwendigerweise die beiden genannten Intentionen. Die Rinde kann vom Baum geschält werden, die Seele vermag ohne den Leib weiterzuleben, aber die Liebe kann ohne auch nur eine der beiden Intentionen nicht Liebe sein. Die hier vorliegende ontologische Notwendigkeit des Soseins der Induktion und der Liebe ist absolut. Eine Kontingenz und damit ein Anders-sein-Können ist apodiktisch ausgeschlossen, und selbst ein allmächtiges Wesen könnte durch seinen Willen Soseinszusammenhänge wie diese weder erfinden noch aufheben. Der in der Kontingenz gründende »Erfindungscharakter«,1152 welcher morphischen Soseinseinheiten notwendigerweise eignet, fehlt bei notwendigen Soseinseinheiten völlig. Ferner ist dem erkennenden Geist das konstitutive unvergleichlich sinnvolle Sosein notwendiger Einheiten nicht über ein Erscheinungssosein gegeben. Vielmehr ist das konstitutive Sosein dieser Einheiten selbst unmittelbar und »anschaulich zugänglich«. Da bei diesen Einheiten weder Kontingenz noch eine von der konstitutiven verschiedene Erscheinungsein-
1151 1152
kennbaren, teilweise verborgenen sinnvollen, kontingenten, konstitutiven Soseinseinheiten hingegen können wir nie das Gründen der Gesetze in der Soseinseinheit erfassen. Nur in der Erkenntnis der Gegenstände mit einer anschaulich erfaßbaren, höchst intelligiblen notwendigen Wesenheit sind wir darum von der Erfahrung im engeren Sinn, d.h. von stumpfer Beobachtung und Induktion unabhängig. Bei diesen Gegenständen sind wir in der einzigartigen Lage, die im Sosein notwendig gründenden Sachverhalte ohne Rekurs auf Realkonstatierung und erst recht auf Induktion mit absoluter Gewißheit einsehen zu können.« HILDEBRAND [1976], 118. S. auch 117. S. auch WHITE [1992], 313ff. SEIFERT [1973], LI. S. SEIFERT [1973], L.
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heit vorliegt, können Erkenntnisse über diese Einheiten nicht auf induktivem Weg gewonnen werden.1153 Weiter eignet notwendigen Soseinseinheiten die bereits an notwendigen Sachverhalten betrachtete unvergleichliche Intelligibilität. In Anbetracht dieser Einheiten versteht der erkennende Geist, wie WHITE unterstreicht: »not only that a being is the way it is, but we understand why the being it that way and that it must be that way. […] for this intelligibility is, as it were, the epistemological side of necessity: since the essence of the object is necessary, one can understand why its essential structure must be as it is.«1154
Da notwendige Soseinseinheiten wie die Induktion, die Liebe oder der Zweifel als notwendige intelligibel sind, werden auch sie selbst als der Grund erkannt, warum ihre Wesensstrukturen so sein müssen, wie sie sind. Damit unterscheiden sie sich, wie WHITE herausstellt, sowohl von den zufälligen Wesenheiten, deren Einheit rein äußerlich begründet ist, als auch von den morphischen innerlich sinnvollen Einheiten, denn auch deren Einheit gründet letztlich nicht in ihnen selbst, sondern muß trotz aller innerlich sinnvollen Begründungszusammenhänge von einer Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst und begründet werden.1155 Die Gewinnung von Allgemeinbegriffen ist bei morphischen Einheiten an Abstraktion gebunden. Daß alle Wesen, denen ein bestimmtes Erscheinungsbild eignet, vernunftbegabte Sinnenwesen sind, muß ausgehend von der Beobachtung und dem Vergleich vieler konkreter Einzelfälle ›zusammengetragen‹ werden.1156 Eine Erkenntnis wie die des spezifisch Menschlichen wird, wie HILDEBRAND treffend formuliert, »erst aus zusammenge1153 1154 1155
1156
S. dazu SEIFERT [1973], LIIf. S. dazu die Ausführungen über die Methode der Einsicht in Abschnitt 9.9 dieser Arbeit. WHITE [1992], 314. »In the case of chaotic or accidental unities, the reason for the structure may lie in nothing but circumstances. In morphic unities, the reason for its structure may be as noble a reason as the creativity of God. But even in this latter case, there is not an essential necessity at stake if the reason for this essential structure is not the essence itself.« WHITE [1992], 314, Fußn, 66. »Bei den sinnvollen, aber nichtnotwendigen Einheiten gelangen wir durch Abstraktion zur Spezies und lernen das konstitutive Sosein durch Beobachtung vieler Einzelfälle kennen.« HILDEBRAND [1976], 104.
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fügten Einzelerfahrungen ›aufgebaut‹.«1157 Es ist ja in Anbetracht des Wesens, welches Mensch genannt wird, nur das Erscheinungssosein, nicht aber das konstitutive Sosein unmittelbar gegeben. Ferner ist der Zusammenhang zwischen Vernunftbegabtheit und Sinnenwesen, welcher die Wesenseinheit des Menschen konstituiert, kontingent. Zum konstitutiven Sosein gelangt der forschende Verstand daher nur durch die »Vermittlung« vieler Exemplare des Erscheinungssoseins. Ganz anders verhält es sich bei den notwendigen Soseinseinheiten. Hier ist, wie HILDEBRAND zeigt, das Generische oder Spezifische bereits an einem konkreten Einzelfall erkennbar. Um zu erkennen, daß zum Wesen der Induktion ein erkenntnistheoretisches Defizit gehört, ist keine von möglichst vielen konkreten Induktionen ausgehende Abstraktion nötig. Bereits in Anbetracht einer einzigen konkreten Induktion läßt sich erfassen, was allen Akten eignen muß, da das Wesen der Induktion unmittelbar mitgegeben ist.1158 Die Auffassung, daß alle objektive Allgemeinerkenntnis dem Geist nur durch Erfahrung im Sinn der Induktion gegeben sein kann, verkennt, daß der Ausdruck »Erfahrung« durchaus äquivok ist. Eines der besonderen Verdienste HILDEBRANDS besteht darin, diese Äquivokation aufgedeckt zu haben. Von der »Erfahrung« im Sinn der Induktion ist, wie HILDEBRAND zur Einsicht bringt, die »Erfahrung« im Sinn der Soseinserfahrung durch Einsicht zu unterscheiden.1159 Das Vorliegen einer solchen Erfahrung wird nicht nur in Anbetracht ihrer Leugnung evident, da diese eine Soseinserfahrung durch Einsicht immer stillschweigend voraussetzen muß, sondern sie wird positiv insbesondere in Anbetracht der unvermittelten Erkenntnis absoluter materialer »An-sich-Notwendigkeiten« evident.
1157 1158
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HILDEBRAND [1976], 104. »Wir müssen hervorheben, daß die notwendige Wesenheit in ihrem generischen Charakter gegeben ist, sobald wir ein konkretes Individuum wahrnehmen, das dieses Wesen besitzt. Sehen wir zum ersten Mal ein Dreieck, so erfassen wir nicht nur dieses konkrete Dreieck, sondern zugleich auch dessen Genus. Das notwendige Sosein in seinem generischen Charakter erschließt sich selbst anschaulich in dem konkreten, individuellen Dreieck, das wir wahrnehmen. Hier wird Genus und Spezies nicht, wie bei den morphischen Einheiten, durch Abstraktion erreicht.« HILDEBRAND [1976], 104. S. SEIFERT [1973], XLVI. HILDEBRAND [1976], 83-87. S. SEIFERT [1973], LIV. LV. S. WHITE [1992], 314ff.
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In dieser Arbeit ging es in erster Linie nicht um notwendige Soseinseinheiten wie Induktion, Liebe, Person, Zweifel, Hoffnung, Glaube, sittliche Handlung, Urteil und viele andere mehr. Das zentrale Thema dieser Arbeit sind Sachverhalte. Hier ist nun abschließend auf eine Äquivokation des Ausdrucks »Sachverhalt« hinzuweisen. In aller Regel werden durch diesen Ausdruck ganz allgemein alle möglichen Sachverhalte bezeichnet. Da es in dieser Arbeit nicht in erster Linie um Sachverhalte ging, die in irgendwelchen Dingen gründen, sondern vorrangig um Sachverhalte, welche im Sein von Sachverhalten gründen, wird eine weitere Bedeutung des Ausdrucks »Sachverhalt« deutlich. Demgemäß bezeichnet der Ausdruck »Sachverhalt« nicht nur Sachverhalte, sondern ein besonderes Sosein, in dem freilich wiederum Sachverhalte gründen, welches aber seinerseits kein Sachverhalt ist. Der »Sachverhalt« im Sinn des Soseins des Sachverhaltes kann ebensowenig ein Sachverhalt sein, wie das Sosein der Induktion eine Induktion, das Sosein der Person eine Person, das Sosein der Gerechtigkeit gerecht und das Sosein der Liebe ein Lieben sein kann. Die Notwendigkeit des Sachverhalts, daß Sachverhalte den in sie eingehenden Sachen gegenüber transzendent sind, gründet in nichts anderem als dem notwendigen Sosein des Sachverhalts, welches selber kein Sachverhalt ist. Der Zusammenhang zwischen Sachverhalt und Transzendenz ist auch nicht kontingent wie der des morphischen Soseins des Menschen als vernunftbegabem Sinnenwesen. Die Transzendenz gehört zur notwendigen Einheit des Soseins Sachverhalt. Daher kann es einen Sachverhalt, der nicht »transzendent« ist, schlechterdings nicht geben. Im notwendigen Sosein des Sachverhalts gründet ferner der notwendige Bestand von Sachverhalten in bezug auf schlechterdings alles. Dieser Zusammenhang macht die Einheit des Soseins Sachverhalt ebenfalls notwendigerweise aus. Auch die oben unter Urteil, Kontradiktion, Grund-Folge-Verhältnis usw. behandelten Aspekte konstituieren die notwendige Wesenseinheit des Sachverhalts. Die Integrität und innere Konsistenz von einem Sosein wie dem des Sachverhaltes ist derart unverrückbar, daß durch die Aufhebung eines Aspekts das gesamte Sosein aufgehoben würde. Dadurch wird die Notwendigkeit des Sachverhaltes als Sosein noch deutlicher. Kurzum: Durch die Notwendigkeit dieser Sachverhalte wird deutlich, daß das Sosein des Sachverhaltes weder zufälliger und kontingenter noch nichtzufälliger, aber doch kontingenter Natur ist. Vielmehr ist das Sosein
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des Sachverhaltes eine notwendige Soseinseinheit. Als ein notwendiges Sosein ist der Sachverhalt unvergleichlich intelligibel, absolut notwendig, und die entsprechenden Erkenntnisse über ihn sind absolut gewiß. Oben wurde gezeigt, daß das Wissen eines Sachverhaltes im Kennen desjenigen Soseins gründen muß, welches diesen Sachverhalt fundiert. Im Fall des Wissens von notwendigen Sachverhalten, welche im Sosein des Sachverhaltes überhaupt gründen, sind Sachverhalte als notwendige Soseinseinheit dasjenige, das gekannt werden muß, damit sich auf der Grundlage dieses Kennens ein Wissen über den in diesem Sosein gründenden Sachverhalt aufbauen kann.
DRITTER HAUPTTEIL 9. KRITISCHE AUSBLICKE SEINSBEGRIFF
AUF
HEIDEGGERS SACH-VERHALTS-
BZW.
9.1 Vorbemerkung Die erste Aufgabe der nun zu formulierenden Kritik an HEIDEGGERS Sein bzw. »Sach-Verhalt« besteht darin, eigens herauszustellen, inwiefern Sachverhalte den HEIDEGGERSCHEN Seinsbegriff unmöglich machen. Einem aufmerksamen Leser dürfte nicht entgangen sein, daß HEIDEGGERS Sein bzw. der »Sach-Verhalt« gerade durch alle bislang gemachten Äußerungen über Sachverhalte in Frage gestellt und implizit und auf transzendente Weise bereits schlagend kritisiert wird. Diese Kritik gilt es nun zu explizieren. Dabei gilt es, sich an HEIDEGGERS Verständnis des Seins als »Verhalten«, »Verhältnis« und »Verhaltenheit/Vorenthalt« zu orientieren. In der folgenden kritischen Auseinandersetzung mit HEIDEGGER wird immer wieder von der inneren Widersprüchlichkeit seines Denkens die Rede sein müssen. Wenn auf die inneren Widersprüchlichkeiten in der Lehre eines bedeutenden Denkers hingewiesen wird, kann der Eindruck entstehen, daß an dem Genie oder gar der Intelligenz oder wie CAJTHAML sich ausdrückt, an der »denkerischen Größe« dieses Philosophen gezweifelt wird. Aber die denkerische Größe eines Denkers allein hindert nicht, daß dessen Denken widersprüchlich ist, und man muß sich, wie CAJTHAML zu Recht hervorhebt, davor »hüten […], die Größe und Tiefe eines Denkers nur daran zu messen, ob er sich widerspricht oder nicht.« Genialität, Bedeutung, Tragweite und die durch ein Denken aufgetanen Abgründe müssen dem Irrtum ebensowenig im Weg stehen wie geistige Einfalt der Wahrheit. Es gibt, wie CAJTHAML sich ausdrückt, »bescheidene, unbedeutende Wahrheiten und es gibt geniale Irrtümer.« Man wird sogar sagen müssen, daß das Denken gewisser Widersprüche und das Verfallen auf gewisse Irrtümer und Falschheiten Genialität viel eher voraussetzt als ausschließt. CAJTHAML macht aber auch darauf aufmerksam, daß die Genialität eines Denkers, dessen Denken fundamentale Widersprüche enthält, nicht dazu führen darf, diese »Widersprüche als Bagatelle anzusehen«. Widersprüche sind vielmehr immer von gravierender Bedeutung
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für eine Auffassung oder Theorie. Denn ein Widerspruch »bleibt«, wie CAJTHAML treffend unterstreicht, »ein formales Zeichen« und damit unabhängig von den konkreten Inhalten ein untrüglicher und notwendiger Ausweis »für die Falschheit einer Theorie«.1160 Der gravierende Charakter aller durch innere Widersprüchlichkeit bedingten Irrtümer wird zudem ersichtlich, wenn man sich klar macht, daß diese Positionen nicht »einfach« durch die Wirklichkeit als falsch ausgewiesen werden, wie es bei zwar falschen, aber nicht widersprüchlichen Positionen der Fall ist. Durch innere Widersprüche sorgt ein Denker gleichsam eigenständig für die Falschheit der entsprechenden eigenen Position, indem er sie durch stillschweigende Voraussetzungen oder mehr oder weniger ausdrückliche Voraussetzungen selbst »widerlegt« bzw. aufhebt. 9.2 Kritik an Heideggers Sach-Verhalt durch das evidente Bestehen notwendiger Sachverhalte Wie bereits gezeigt, versteht HEIDEGGER unter dem Sein als SachVerhalt das Selbstverhalten des Seins, in welchem Verhalten das Sein restlos »verschwindet« bzw. aufgeht. D.h., das Sein ist nichts anderes als sein Verhalten und dieses Verhalten ist nichts anderes als die insbesondere selbstverlassene Geschichte des Seins. Da das Sein als Andersheit seiner selbst restlos prozessual verstanden wird, muß auch alles Seiende als Andersheit des Seins zeitlich sein. »Dennoch vermag das Seiende nicht das Frag-würdige von sich abzuwälzen, daß es als das, was es ist und wie es ist, auch nicht sein könnte. Diese Möglichkeit erfahren wir keineswegs als etwas, was nur wir erst hinzudenken, sondern das Seiende selbst bekundet diese Möglichkeit, bekundet sich als das Seiende [Kursiv v. Verf.] in ihr.«1161
Wenn alles Seiende als Seiendes auch nicht sein kann, dann nur deshalb, weil alles Seiende als Seiendes zeitlich ist. Und da das Seiende als Andersheit des Seins nichts anderes ist als das Sein, dessen Selbst darin besteht, Andersheit zu sein, ist dies auch durchaus konsequent. Aber wie in den obigen Ausführungen immer wieder deutlich wurde, gibt es Seiende, die 1160 1161
CAJTHAML [2003], 34f. EM, 22f./GA 40, 32.
Kritik an Heideggers Sach-Verhalts- bzw. Seinsbegriff
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nicht nur sind, sondern notwendigerweise sind und daher unmöglich nicht sein können. Ironischerweise, so möchte man sagen, sind dies insbesondere notwendige Sachverhalte, von denen es nicht nur einige, sondern unzählige gibt. Sachverhalte wie daß Wollen Erkenntnis voraussetzt, daß die zeitliche Einschränkung des Widerspruchsprinzips nur für zeitliche Sachverhalte gelten kann, daß der Zweifel die Überzeugung einschließt, nicht voreilig seine Zustimmung geben zu dürfen, daß die Zeit den unausgesetzten Wechsel kontradiktorischer Sachverhalte voraussetzt, daß aus zwei wahren Prämissen bei gültiger Schlußform nur eine wahre Konklusion folgen kann, daß kategorisch-affirmative Urteile, deren Prädikatbegriff im Subjektbegriff enthalten ist, nicht informativ sein können usw. usw. sind alles Sachverhalte, die unter keinen Umständen nicht bestehen können, so daß jemals ihr kontradiktorischer Part bestehen müßte. Und als notwendig bestehende sind sie notwendig Daseiende, die unter keinen Umständen nicht dasein können. Das Nicht-dasein-Können ist sozusagen nicht nur nicht von ihnen abwälzbar, wie HEIDEGGER meint, sondern es kann ihnen niemals aufgewälzt werden. Der Versuch HEIDEGGERS durch seinen Sach-Verhaltsbegriff, insofern er für die totale Zeitlichkeit oder Prozessualität des Seins selbst (dessen Selbstverhalten) steht, allem Daseienden das Nicht-daseinKönnen aufzuwälzen, scheitert gerade an einer Art von Sachverhalten, nämlich den notwendigen Sachverhalten, deren Zahl Legion ist. Abgesehen davon widerlegt dieser Versuch HEIDEGGERS sich selbst, d.h. um der Auffassung zu sein, daß das Nicht-sein-können von keinem Seienden abgewälzt werden kann, muß HEIDEGGER stillschweigend einen Sachverhalt und damit ein Seiendes voraussetzen, von dem das Nicht-sein-können nicht abgewälzt werden kann, worauf unten noch einzugehen ist. An der virtuell unendlichen Zahl schlechterdings notwendiger Sachverhalte zerschellt allerdings nicht nur HEIDEGGERS Sein als reine Prozessualität (der Sachverhalt als »Verhalten« des Seins selbst, in welchem sich dieses erschöpft). HEIDEGGERS Sach-Verhalt muß auch an der restlosen Intelligibiltät unendlich vieler notwendiger Sachverhalte scheitern. HEIDEGGER nennt das Sein ja auch deshalb den Sach-Verhalt, weil das Sein in seinen Augen nichts anderes ist als »Verhaltenheit« und »Zurückhaltung« seiner selbst. Das »Sein« als »Licht« und »Lichtung« ist in HEIDEGGERS Augen restlose Finsternis und als solche Metaphysik und Nihilismus und Technik etc. Daran ändert auch die aus dem Sein als Technik hervor-
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quellende »Einkehr« des Seins in sich selbst nichts, da diese Einkehr nichts anderes besagt, als eine Vergegenwärtigung des »Wesens« des Seins als Finsternis bzw. Metaphysik, Nihilismus, Technik, Differenz etc. Wenn das Sein als Sach-Verhaltenheit tatsächlich wäre, dürfte es keine intrinsek notwendigen, unvergleichlich intelligiblen und damit restlos lichvollen und in ihrem Sosein »offenbaren« Sachverhalte geben. Da es jedoch diese Sachverhalte gibt, ist HEIDEGGER Sein als Selbstverhaltenheit eine Konstruktion in HEIDEGGERS Kopf. Kraft ihres höchst inelligiblen So-seinMüssens-und-nicht-anders-sein-Könnens trifft der Geist in diesen Sachverhalten ein Sein an, in welchem als solchem kein Schatten der »Zurückhaltung« anzutreffen ist. Hinter diesen Sachverhalten, vermag kein »Sein selbst« den Bestand der kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalte ›auszubrüten‹ und schließlich irgendwann zur »Lichtung der Welt« zu bringen. Das hindert den Menschen freilich nicht am Versuch, ein »zwiespältiges« Sein zu denken und mit einem solchen Denken des Seins bzw. der Realität verlustig zu gehen. 9.3 Kritik an Heideggers Sach-Verhalt durch Sachverhalte als Entität sui generis Ferner wurde bereits gezeigt, daß HEIDEGGER das Sein selbst den SachVerhalt nennt, weil er unter dem Sein das »Verhältnis« von Sein und Seiendem oder, was bei HEIDEGGER das selbe ist, das »Verhältnis« von Sein und Zeit versteht. Der treffende und von HEIDEGGER selbst verwendete Name dieses »Verhältnisses« ist neben unzähligen anderen auch »Andersheit«. Als »Sach-Verhalt« ist das Sein selbst Andersheit, und als Andersheit seiner selbst ist das Sein selbst das Seiende. Bei HEIDEGGER sind demnach das Sein und das Seiende deshalb nicht voneinander zu unterscheiden, weil sie durch den Begriff der Andersheit restlos miteinander konfundiert werden. Denn durch die Andersheit ist das Sein nicht auf etwas wirklich anderes bezogen, sondern das Selbst des Seins ist es, Andersheit seiner selbst zu sein, welche Andersheit wiederum nichts anderes ist als das Seiende. Deshalb gilt für HEIDEGGER zugleich, daß das Sein das Seiende ist, und daß das Sein nicht das Seiende ist. Das Sein ist das Seiende, weil das Seiende als Andersheit und Nichts des Seins, das Sein selbst ist, dessen selbst darin besteht, Andersheit und Nichts zu sein. Das Sein muß in
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HEIDEGGERS Augen zugleich »nicht« das Seiende sein, weil das Seiende als Andersheit des Seins das Nicht(s) des Seins ist. Deshalb kommt, wie HEIDEGGER meint, der Unterschied von Sein und Seiendem nur dann in den Blick, wenn man in keiner Weise zwischen beiden unterscheidet, was einschließt, daß man auch die Seienden in keiner Weise unterscheidet. Kurzum: Bei HEIDEGGER ist alles, was ist, mit dem »ist« des Seins selbst restlos konfundiert, welches »ist« seinerseits einen »absoluten Singular in unbedingter Singularität« darstellt. Um sich HEIDEGGERS totale Konfundierung von allem deutlich vor Augen zu führen, muß man sich »nur« immer wieder klar machen, daß die Seinsverlassenheit nichts anderes ist als das Sein. Denn diese wird von HEIDEGGER verwirrenderweise nicht vom Sein unterschieden, sondern restos mit dem Sein identifiziert. Daß es nur das Sein gibt und daß dieses außer sich »nicht seinesgleichen« hat, macht in HEIDEGGERS Augen das Sein nicht zu einem »metaphysischen« Seienden. Denn von einem solchen Seienden kann in HEIDEGGERS Verständnis nur im Hinblick auf eine Vielzahl von Seienden gesprochen werden, die als je selbstidentische wirklich voneinander verschieden sind! Da es eine derartige Verschiedenheit wegen des Seins als »Sach-Verhalt« in HEIDEGGERS Augen nicht geben kann, kann auch dessen Sein selbst, gerade weil es ›ganz allein in der Welt ist‹, nicht zu einem »Seienden« werden. Aus all dem folgt, daß HEIDEGGERS Sein bereits dann widerlegt ist, wenn gezeigt werden kann, daß es auch nur zwei voneinander verschiedene Dinge gibt! Diese geradezu triviale Situation kann einem freilich nur dann bewußt werden, wenn man sich von HEIDEGGER das Wort »Unterschied« oder »Verschiedenheit« nicht gleichsam aus dem Mund nehmen läßt, insofern HEIDEGGER diese Ausdrücke durch das von ihm beschworene »Denken aus der Differenz« auf verwirrende Weise für sich vereinnahmt, um dann durch das ›Verwirrspiel der Andersheit‹ alles ineinander verschwimmen zu lassen, und zwar restlos. Ironischerweise gilt aber auch hier, daß HEIDEGGERS Sach-Verhalt, insofern er für die Andersheit und damit für die totale Konfundierung allen Seins steht, zwar nicht nur, aber gerade am Sosein und Dasein von Sachverhalten zerbricht. Denn wie oben gezeigt wurde, sind Sachverhalte eine Entität sui generis, denen eine an sich unverwechselbare Identität und Integrität zukommt. Als solche sind sie völlig von Ereignissen, Zuständen, den Verhaltensweisen, von Relatio-
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nen aller Art und von allen Sachen verschieden, was freilich nicht daran hindert, daß notwendige Zusammenhänge zwischen Sachverhalten und allen anderen Seienden bestehen. Gerade diese Zusammenhänge setzten die völlige Verschiedenheit der zusammenhängenden Gegebenheiten voraus. Bei allen an sich höchst evidenten Unterschieden zwischen Sachen und Sachverhalten spielt immer schon die Transzendenz der Sachverhalte eine entscheidende Rolle, nimmt man diese Transzendenz dann als solche in den Blick, zeigt sich, daß Sachverhalte nicht die Andersheit von irgend etwas und damit mit diesem etwas identisch sind, sondern daß Sachverhalte etwas anderes sind! Sind sie aber etwas anderes, dann ist HEIDEGGERS Sach-Verhalt und »Andersheitbegriff« schon deshalb zum Scheitern verurteilt. Eine, wie es scheint, geeignete Stelle, um wenigstens implizit die Konfundierung von Sein und Nichts und damit auch die von Urteilsakt bzw. Urteilsinhalt und Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, lautet bei HEIDEGGER: Wie aber, wenn die Verweigerung [Selbstvorenthalt/Selbstverlassenheit] selbst die höchste und härteste Offenbarung des Seins werden müßte? Von der Metaphysik her begriffen (d.h. von der Seinsfrage aus in der Gestalt: Was ist das Seiende?) enthüllt sich zunächst das verborgene Wesen des Seins, die Verweigerung, als das schlechthin Nicht-Seiende, als das Nichts. Aber das Nichts ist als das Nichthafte des Seienden der schärfste Widerpart des bloß Nichtigen. Das Nichts ist niemals nichts, es ist ebensowenig ein Etwas im Sinne eines Gegenstandes [im Sinne eines Seienden neben anderen Seienden!]; es ist das Sein selbst, dessen Wahrheit der Mensch dann übereignet wird, wenn er sich als Subjekt überwunden hat, und d.h., wenn er das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt.«1162
Wenn HEIDEGGER fordert, daß sich der Mensch als Subjekt überwunden hat, wenn er das Seiende nicht mehr als Objekt vorstellt, dann wendet er sich insbesondere gegen die ihm widerstehende Intentionalität des Bewußtseins. Insofern er sich gegen diese wendet, wendet er sich implizit gerade auch gegen die Wesensverschiedenheit zwischen Urteilsakt und Urteilsinhalt und deren objektivem Korrelat, dem Sachverhalt. Auf diese Weise wird jedes Urteil jedes Menschen zu einer Weise, wie der »Sach-Verhalt« sich artikuliert. Würde sich HEIDEGGER die Mühe machen, auf die Sachen 1162
Hw, 112f./104./GA 5, 112f.
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oder Dinge selbst zu schauen, um zu »sehen«, was die Sachen selbst zu »sehen« geben, dann bliebe ihm nicht verschlossen, daß Urteilsinhalte und Sachverhalte auf höchst intelligible Weise notwendig voneinander verschieden sind, wobei die Erkenntnis dieser Verschiedenheit keiner Beweisführung und Ableitung bedürftig ist. Aber HEIDEGGER scheint zugleich das Opfer und der Täter der ontologischen Differenz und damit der »Andersheit« zu sein. D.h. HEIDEGGER ist, so sonderbar dies auch klingen mag, nicht in der Lage, irgendeine Sache selbst als solche bzw. verschiedene Sachen selbst als je solche zu betrachten. Daran will auch die beschworene »Differenz« nichts ändern, denn durch sie soll ja alle authentische Verschiedenheit abgeschafft werden! HEIDEGGERS »Denken lässt sich«, wie SEIDL bemerkt, »nicht von den Dingen selbst leiten; es geht nicht von ihrem Sein/Dasein als dem Evidentesten aus, sondern von seinem im Sprechen oder Sagen aufgehenden Denken, das beim ›Sein‹-Sagen wie von einem existentiellen Erleben fortgetrieben wird, ›Sein‹ und etwas ›Anderes‹ zu sagen. Nicht ›wir‹ Leser werden fortgetrieben, sondern der Autor [Heidegger], und zwar durch seinen existentialistischen Ansatz. Dabei macht er weder sich noch dem Leser bewußt, dass er über ›Sein‹, Selbiges und Anderes, u.ä.m. gar nicht sprechen würde, wenn es ihm nicht aus der traditionellen Metaphysik zugetragen worden wäre, die ja systematisch von diesen Gegensätzen gehandelt hat: von Sein und Werden, realem Sein und mentalem Sein im Denken usw. Indes lässt sich der Autor auf diese Lehre nicht näher ein und führt die Gegensätze nur als ›formelhafte Titel‹ auf, mit deren Bedenken sich ein existentielles Gefühl verbindet, dass ›Sein‹ nicht von seinen Gegensätzen verschieden sei, da sie sich vielmehr im Sein selbst fänden, so dass wir das in sich gegensätzlich zu denkende Sein als das ›Fragwürdige‹ erleben sollen.«1163
Sachverhalte sprengen HEIDEGGERS Sach-Verhalt aber nicht nur, insofern sie notwendigerweise von Urteilsinhalten verschieden sind. Sachverhalte sprengen HEIDEGGERS Sein auch nicht nur, insofern sie den in sie eingehenden Sachen gegenüber transzendent sind. Jeder bestehende Sachverhalt begründet, wie oben gezeigt wurde, unendlich viele weitere höhere Sachverhalte, da nichts, auch kein Sachverhalt, »jenseits« eines Sachverhaltes sein kann. D.h., jeder bestehende Sachverhalt begründet eine un1163
SEIDL [2005], 143.
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endliche Anzahl verschiedener Sachverhalte bzw. verschiedener Seiender, die unmöglich miteinander konfundiert werden können, da jeder Sachverhalt in den je höheren lediglich eingehen kann, was bedeutet, daß der je höhere den je niedrigeren notwendigerweise transzendiert! Damit scheitert HEIDEGGERS Sach-Verhalt an nur »einem« bestehenden Sachverhalt gleichsam unendlich viele Male, da der eine bestehende Sachverhalt nicht bestehen kann, ohne eine unendliche Zahl von notwendigerweise je verschiedenen »Superiora« (MEINONG) zu fundieren. 9.4 Konfundierung alles Seienden und die totale Prozessualität allen Seins macht die Zeit und das Werden unmöglich Zeit kann es nur dann geben, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wesentlich voneinander verschieden sind, und daher auch nicht aufeinander zurückgeführt werden können. HEIDEGGER selbst spricht zwar, soweit ersichtlich, nicht davon, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dasselbe seien. HEIDEGGER lehnt allerdings aufgrund der ontologischen Differenz jeden authentischen Unterschied nicht nur zwischen Sein und Seiendem, sondern auch zwischen allem Seienden ab. Die Konfundierung alles Seienden ist bei HEIDEGGER aufgrund des Seins als Differenz restlos. Wenn ein und dasselbe Sein alles ist, was »ist«, dann sind auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dasselbe, insofern sie alle nichts anderes sind als ein und dasselbe Sein selbst. Damit wird die Zeit selbst absolut unmöglich, und damit wird auch HEIDEGGERS Sein als reine Prozessualität unmöglich. Prozessualität setzt ja Zeit voraus, welche ihrerseits die authentische Verschiedenheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft voraussetzt. Im Rückgriff auf SEIFERT läßt sich der notwendige Zusammenhang zwischen der Zeit und verschiedenen Sachverhalten bzw. kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalten folgendermaßen verdeutlichen: Jedem Sachverhalt, der geworden ist, ist notwendigerweise dessen kontradiktorisch entgegengesetzter Sachverhalt unmittelbar vorausgegangen. Jedem Sachverhalt, dessen Bestand vergeht, folgt unmittelbar der Bestand von dessen kontradiktorischem Sachverhalt nach. Wenn etwa der Sachverhalt, daß die Rose rot ist, zu bestehen beginnt und in diesem Sinne wirklich wird, dann muß ihm der Sachverhalt, daß die Rose nicht rot ist, unmittelbar
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voraufgegangen sein. Und wenn der Sachverhalt, daß die Rose rot ist, aufhört zu bestehen, dann muß der kontradiktorische Sachverhalt, daß die Rose nicht rot ist, unmittelbar in den Bestand kommen. Immer wenn etwas entsteht oder vergeht, setzt das Entstandene das vorherige Nichtsein des Entstandenen voraus. Und nichts Vergangenes könnte vergangen sein, wenn es als ein Sein nicht durch ein entsprechendes Nichtsein abgelöst worden wäre. SEIFERT formuliert daher ein absolut notwendiges »Wesensmerkmal jeden Werdens«, wenn er schreibt: »Es ist nämlich wahr, daß es keinerlei Werden geben kann, ohne daß das darin Entstehende vorher (vor seinem Entstehen) nicht war bzw. ohne daß das im Werden Vergehende vorher (vor seinem Vergehen) war. In diesem Sinne ist es durchaus einsichtig und gehört zu den mit letzter Gewißheit erfaßbaren notwendigen Wesensgesetzen, daß alles Werdende ›aus seinem Gegensatz entsteht‹.«1164
Jedes Werden setzt den ständigen Wechsel kontradiktorisch entgegengesetzter Zustände voraus. Da in bezug auf diese wechselnden Zustände ensprechende Sachverhalte bestehen, setzt jedes Werden das Sichabwechseln kontradiktorisch entgegengesetzter Sachverhalte voraus. Wenn etwa ein Kind 1,25 m groß wird, dann war es vorher notwendigerweise nicht 1,25 m groß. Und wenn es über die 1,25 m hinauswächst, dann ist es wiederum nicht 1,25 m groß. Bevor das Kind 1,25 m groß wurde, bestand notwendigerweise der Sachverhalt, daß es nicht 1,25 m groß ist, nachdem es die besagte Größe erreicht hat, besteht der Sachverhalt, daß es 1,25 m groß ist, und nachdem es über diese Größe hinausgewachsen ist, besteht der abermals kontradiktorische Sachverhalt, daß es nicht 1,25 m groß ist. Ohne diesen Wechsel kontradiktorischer Zustände und insbesondere der in bezug auf diese Zustände bestehenden kontradiktorischen Sachverhalte ist jedes Werden notwendigerweise unmöglich. Ja, streng genommen muß gesagt werden, daß nicht eigentlich die Zustände kontradiktorisch entgegengesetzt sind, sondern allein die in Bezug auf die Zustände bestehenden Sachverhalte. Wenn etwa Wasser gasförmig wird, dann befand es sich vorher in flüssigem Zustand. Der flüssige Zustand ist dem gasförmigen aber nicht kontradiktorisch, sondern konträr entgegengesetzt. Allerdings besteht 1164
SEIFERT [1973], 125.
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in bezug auf den flüssigen Zustand des Wassers der negative Sachverhalt, daß sich das Wasser nicht in gasförmigen Zustand befindet und dieser Sachverhalt ist der kontradiktorische Gegensatz zu dem Sachverhalt, daß sich das Wasser in flüssigem Zustand befindet, welcher selber kein Zustand des Wassers ist, sondern in Bezug auf den flüssigen Zustand des Wassers besteht. Bei dem Gegensatz, von dem in der Formulierung »aus dem Gegensatz entstehen« die Rede ist, kann, wie SEIFERT herausstellt, »ausschließlich« der kontradiktorische Gegensatz gemeint sein. SEIFERT zeigt, wie etwa gerade auch PLATON den Fehler begeht, das »Aus-dem-Gegensatz-Entstehen« auf den konträren Gegensatz zu beziehen.1165 Denn PLATON meint, es entstehe alles Werdende auch insofern aus seinem Gegensatz, als alles Schöne »aus« dem Häßlichen und alles Gerechte »aus« dem Ungerechten (im moralischen Sinn) entstehen müsse.1166 Diese Gegensätze sind allerdings, wie SEIFERT zu Recht herausstellt, keine kontradiktorischen, sondern konträre Gegensätze, die grundsätzlich zulassen, daß sich ein Seiendes in keinem der beiden »Zustände« befindet. Um PLATONS Irrtum zu verdeutlichen, gebraucht SEIFERT folgendes Beispiel: Wenn etwa »aus einem Säugling ein gerechter Mann wird«, so heißt das nicht, daß der Mann als Säugling im moralischen Sinn ungerecht war. Das Werden der Gerechtigkeit setzt nicht den Vorausgang der Ungerechtigkeit voraus. Vorausgesetzt ist nur der kontradiktorische Sachverhalt, daß der Säugling, bevor er zum gerechten Mann wurde, »diese Gerechtigkeit nicht besaß«.1167 Ferner ist das »aus« in der Formulierung »aus seinem Gegensatz entstehen« im Sinn der zeitlichen Nachfolge oder im Sinn des zeitlichen Voraufgehens kontradiktorischer Sachverhalte zu verstehen. Keinesfalls aber darf das »aus« hier wirkursächlich verstanden werden, wie SEIFERT zeigt. Ein derartiges Verständnis führt zu der Auffassung, daß das Nichtsein von Etwas 1165 1166
1167
SEIFERT [1973], 125f. »idwmen ar ou twsi gignetai panta, ouk alloven h ek twn enentiwn ta enantia, osoij tugcanei on toiouton ti, oion to kalon tw aiscrw enantion pou kai dikaion adikw, kai alla dh muria outwj ecei. touto oun skeywmeva, ara anagkai on osioj esti ti enantion, mhdamoven alloven auto gignevai h ek tou autw enantiou. oion otan mei xon ti gignhtai, anagkh pou ex elattonoj ontoj proteron epeita mei xon gignesvai;« Plat. Phaid. 70e. SEIFERT [1973], 126.
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aus sich das im Entstehen eines Etwas werdende Sein hervorquellen läßt. Das wiederum heißt, daß ein Nichtsein, obwohl es ja ein Nichtsein ist, als solches und aus sich das (kontradiktorisch) entgegengesetzte Sein hervorwirkt. Ein Nichtsein würde dann aus sich selbst als Nichtsein genau das Sein hervorwirken, das ihm als Nichtsein in keiner Weise eignet. Hier handelte es sich einsichtigerweise um ein Unding par excellance!1168 »Wir können mit absoluter Gewißheit erkennen, daß unmöglich das Nichts oder das ›Nichtsein‹ einer Sache die Kraft besitzen kann, aus sich heraus das ihm kontradiktorisch entgegengesetzte Seiende hervorzubringen. Man würde meinen, diesen von Hegel mißdeuteten Grundsatz ›ex nihilo nihil fit‹, der eben besagt, daß das Nichts bzw. der kontradiktorische Gegensatz zum Sein von etwas Gewordenem, niemals der Grund dieses Werdens dieses Entstehens sein kann, nicht eigens ›erklären‹ zu müssen.«1169
Mit der Formulierung, daß alles Gewordene »aus seinem Gegensatz« wird, können also zwei völlig verschiedene Dinge gemeint sein, wie SEIFERT herausstellt. Einerseits kann gemeint sein, daß alles Werden das unmittelbare Aufeinanderfolgen und »Abwechseln« kontradiktorischer Sachverhalte voraussetzt. Dieser Sachverhalt ist absolut notwendig und höchst intelligibel.1170 Andererseits kann gemeint sein, daß jeder gewordene Sachverhalt nicht nur einen vorausgehenden kontradiktorischen Sachverhalt voraussetzt, sondern von dem ihm vorhergehenden kontradiktorischen Sachverhalt als solchen auch hervorgebracht wird und aus diesem gleichsam hervorsprudelt wie das Wasser aus einer Quelle.1171 Dieser Sachverhalt ist nicht nur nicht notwendig, er ist einsichtigerweise schlechterdings unmöglich. In zahlreichen Philosophien, wie etwa dem dialektischen Materialismus und dem Idealismus HEGELS, werden diese beiden völlig verschiedenen Bedeutungen des »Aus-seinem-Gegensatz-Entstehen« miteinander verwechselt, wie SEIFERT betont.1172 Dieselbe Verwechslung
1168 1169 1170 1171 1172
SEIFERT [1973], 127. SEIFERT [1973], 128. S. SEIFERT [1973], 125f. S. SEIFERT [1973], 127ff. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. S. dazu die Ausführungen von SEIFERT [1973], 125. 127ff.
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findet sich aber auch bei HEIDEGGER und wird insbesondere an seinem Gedanken von der »Technik« als »Gefahr« deutlich. »Wenn die Gefahr als die Gefahr ist, ereignet sich mit der Kehre der Vergessenheit die Wahrnis des Seyns, ereignet sich Welt.«1173
Entscheidend ist hier, daß HEIDEGGER meint, daß die Seinsverlassenheit, wenn sie sich als Technik in das äußerste der Verlassenheit aufgegipfelt hat, als solche und aus sich in die Wahrnis des Seins umschlägt bzw. diese hervorbringt. Kurzum: Die Seinsverlassenheit überwindet sich selbst und das auch noch gerade dann, wenn sie ihre äußerste Verwirklichung erreicht hat. Das heißt nun aber nichts anderes, als daß der gewordene Sachverhalt, daß das Sein nicht seinsverlassen ist, durch den kontradiktorisch entgegengesetzten Sachverhalt, daß das Sein seinsverlassen ist, als solchen hervorgebracht wird, insofern sich dieser Sachverhalt als solcher und gerade durch sich selbst in seinen kontradiktorischen Gegensatz umkehrt. Hier »wird« ein Sachverhalt nicht nur insofern »aus seinem Gegensatz«, als er seinem kontradiktorischen Part zeitlich nachfolgt, sondern er wird durch seinen kontradiktorischen Part und durch nichts anderes als diesen hervorgebracht, zumal das Sein HEIDEGGERS in dessen Augen nichts anderes als Seinsverlassenheit sein soll. Ein Nichtsein bringt hier als solches und durch sich selbst als solches das hervor, was es als solches gerade überhaupt nicht sein soll. Der »Sach-Verhalt« schlägt sich selbst in das Gegenteil seiner selbst um. Daß HEIDEGGER diesen Umschlag deshalb für möglich hält, weil hier alles kontradiktorisch Entgegengesetzte ohnehin immer schon dasselbe ist, insofern ja das Sein als Sein des Seienden nichtidentische Identität sein soll, schafft keine Abhilfe.1174 Denn da ohnehin alles restlos dasselbe sein soll, fällt mit der Möglichkeit, kontradiktorisch 1173 1174
GA 79, 73. »Wohin ereignet sich Einkehr? Nirgendwo anders hin als in das bislang aus der Vergessenheit seiner Wahrheit wesende Seyn selber. Dieses Seyn selber aber west als das Wesen der Technik. […] Die Einkehr als Ereignis der Kehre der Vergessenheit kehrt in das ein, was jetzt die Epoche des Seyns ist. Das, was ist, ist keineswegs dieses oder jenes Seiende. Was eigentlich ist und d.h. eigens im Ist wohnt und west, ist einzig das Seyn. Nur das Seyn ›ist‹, nur im Seyn und als Seyn ereignet sich, was das ›ist‹ nennt; das was ist, ist das Seyn aus seinem Wesen.« GA 79, 74.
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entgegengesetzte Sachverhalte überhaupt voneinander zu unterscheiden, auch die Möglichkeit der Zeit und der »Wesung« bzw. des Werdens schlechterdings weg. Denn der Sachverhalt, daß es keinerlei Werden geben kann, ohne daß das darin Entstehende vorher nicht war, bzw. ohne daß das im Werden Vergehende vorher war, setzt die absolute Gültigkeit des Widerspruchsprinzips voraus, wonach zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte unmöglich zugleich bestehen können. Denn wenn Sein und Nichtsein dasselbe wären, bzw. wenn zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte zugleich bestehen könnten, könnte es kein Werden geben, welches die Verschiedenheit von Sein und Nichtsein (noch-nichtsein, Gegenwärtig-sein, Nicht-mehr-sein) gerade notwendigerweise voraussetzt. HEIDEGGERS Sach-Verhalt macht also, sofern er für die Konfundierung alles Seienden mit dem absoluten Singular des Seins steht, die Zeit und das Werden gerade unmöglich, und insofern er Zeit und Werden unmöglich macht, macht HEIDEGGER selbst auch sein eigenes Sein unmöglich. Mit dem Werden und der Prozessualität verhält es sich ähnlich wie mit der Halluzination bzw. Täuschung. So, wie es keine Halluzination bzw. Täuschung geben könnte, wenn alles eine Halluzination bzw. Täuschung wäre, so kann es kein Werden und keine Prozessualität geben, wenn schlechterdings alles wird bzw. prozessual verfaßt ist. Daher betont SEIDL mit Blick auf HEIDEGGERS Denken zu Recht, daß es »übergeschichtliche Voraussetzungen der Geschichte selbst« gibt, auf welche »gerade die Philosophie […] aufmerksam machen« muß.1175 9.5 Heidegger selbst entzieht der ontologischen Differenz jede Grundlage, da sich Heideggers Identitäts- und Differenzbegriff wechselseitig unmöglich machen HEIDEGGERS Differenz-Identität, welche nichts anderes als das »Sein« bzw. das Sein des Seienden selbst sein soll, setzt Identität und Differenz einerseits voraus, andererseits will sie sowohl jede authentische Identität als auch jede authentische Differenz aufheben. Vergegenwärtigt man sich dies in aller Sachlichkeit und Gelassenheit, dann wird deutlich, daß HEI1175
SEIDL [2005], 112.
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Sein bzw. die ontologische Differenz oder der Sach-Verhalt, insofern er für die »Differenz« steht, unmöglich wirklich sein kann. Vielmehr ist die Differenz ein rein begriffliches Gebilde, in dem HEIDEGGER letztlich willkürlich verschiedene Begriffsinhalte aneinanderreiht. Infolgedessen sind HEIDEGGERS entsprechende Behauptungen über das Sein reine Behauptungen und als solche notwendigerweise schlicht falsch. Damit HEIDEGGERS Sein sein kann, muß dessen »Selbst« Differenz sein. Aber HEIDEGGER lehnt jede authentische Differenz gerade ab, so daß die ontologische Differenz ebenfalls eine Farce bleiben muß, da das »ist« alles Seienden, wie HEIDEGGER betont, nichts anderes Sein kann als das »ist« des absoluten und unbedingten Singulars des Seins. HEIDEGGER will, daß alles schlechterdings dasselbe Sein als absoluter Singular in der absoluten Singularität sei. Aber authentische Selbigkeit lehnt HEIDEGGER ab, da alle Selbigkeit Nichtselbigkeit sein muß. Damit ist auch die Selbigkeit des Seins bei HEIDEGGER nichts weiter als eine Farce. HEIDEGGER verunmöglicht Selbigkeit und Nichtselbigkeit derart, daß er gerade auch das von ihm Gedachte Sein unmöglich macht. Man muß sogar sagen, daß dies gerade dem späten HEIDEGGER selbst insofern nicht entgeht, als dieser immer wieder betont, es lasse sich das »Sein selbst« durch Aussagesätze nicht treffen.1176 In HEIDEGGER Augen liegt es am »Ereignis« (oder, was dasselbe ist, an der »Irre« des Seins), daß der Mensch in Aussagesätzen vom Sein sprechen muß, obschon Aussagesätze das Sein nicht zu fassen vermögen, denn es gibt kein Urteil DEGGERS
»[…] das dem hier zu denkenden Sachverhalt, d.h. dem Ereignis entspricht. Wenn der Sachverhalt jedoch verwehrt, von ihm in der Weise einer Aussage zu sagen, dann müssen wir auf den in der gestellten Frage erwarteten Aussagesatz verzichten.«1177
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1177
»Die Güte der rechtmäßig verlangten ›guten Definition‹ findet ihre Bewährung darin, daß wir das Definierenwollen aufgeben, insofern dieses sich auf Aussagesätze festlegen muß, in denen das Denken abstirbt. Doch bleibt es ein geringer, weil ein nur negativer Gewinn, wenn wir darauf achten lernen, daß sich über das Nichts und das Sein und den Nihilismus, über deren Wesen und über das Wesen (verbal) des Wesens (nominal) keine Auskunft erteilen läßt, die in der Form von Aussagesätzen griffbereit vorliegen kann.« ZS, 30./GA 9, 410. ZSD, 20./GA 14, 25.
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Die andere Alternative zu diesem »Persilschein« für den eigenen identisch-differenten Seinsbegriff erwähnt HEIDEGGER nicht. Nämlich, daß sich HEIDEGGERS Sein nicht von Aussagesätzen treffen läßt, weil es keinerlei bestehenden Sachverhalt geben kann, mit dem entsprechende Aussagesätze übereinstimmen könnten! GIVSAN sieht deutlich, daß es gerade bei HEIDEGGER, der unausgesetzt von der Differenz spricht, keine Differenz gibt. GIVSAN sieht in HEIDEGGERS Gebrauch des Ausdrucks Differenz sogar ausdrücklich einen »Schwindel« am Werk. »Worin besteht die Differenz von ›Sein‹ und ›Seiendem‹? Denn da ›Seiendes das ist, das ›ist‹, d.h. da das ›ist‹ das ist, das ›Seiendes‹ kennzeichnet, aber das ›ist‹ allein und ›nur vom Sein‹ gesagt werden kann, dann bedeutet das letztlich und ausschließlich dies: Entweder ist das ›Sein‹ selbst ›Seiendes‹, und zwar in dem Sinne, daß allein und ausschließlich das ›Sein‹ ›Seiendes‹ ist, dann gibt es schlicht und einfach keine ›ontologische Differenz‹. Dann ist nicht nur die Rede von der ›ontologischen Differenz‹ ein Schwindel, sondern auch die Rede davon, daß die Metaphysik ›Sein und Seiendes verwechsle‹. Denn wie könnte sie beide verwechseln, wo es überhaupt keine Differenz gibt. Nicht nur das, sondern es war Heidegger selber, der durchgängig ›Sein und Seiendes verwechselte‹. […] Freilich wird Heidegger jetzt, nach den angeführten Sätzen, sagen: eben, denn Sein ist Seiendes, und zwar nur ›Sein‹ ist ›Seiendes‹. Dann ist, wie gesagt, die Rede von der ›ontologischen Differenz‹ ein Schwindel. Oder das ›ist‹ kann ›nur vom Sein‹ gesagt werden, und zwar in dem Sinne, daß es nicht vom ›Seienden‹ gesagt werden kann, dann mißbraucht Heidegger das Wort ›Seiendes‹. Vergessen wir nicht, daß Heidegger sagt, ›daß alles Seiende nicht und nie eigentlich ›ist‹‹. Vermutlich wird mancher Heidegger-Jünger einwerfen: aber der Meister sagt ›vielleicht‹ und ›in der gemäßen Weise‹ und ›eigentlich‹. Dazu kann ich nur sagen: erstens ist das ein leeres Geschwätz [!]; zweitens spricht der Meister in den anderen Sätzen nicht von ›vielleicht‹ und ›in der gemäße Weise‹ und ›eigentlich‹. Also noch einmal: Oder das ›ist‹ kann ›nur vom Sein‹ gesagt werden, und zwar in dem Sinne, daß es nicht vom ›Seienden‹ gesagt werden kann, dann mißbraucht Heidegger das Wort ›Seiendes‹.«1178
Was GIVSAN in dieser nicht ganz leicht zu verstehenden Passage sagt, ist, daß HEIDEGGER alles »ist« derart streng auf den absoluten Singular des
1178
GIVSAN [1996], 394f.
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Seins reduziert – dessen Singularität absolut unbedingt ist, – daß man fragen muß, welchen Sinn überhaupt die Rede von einer Differenz haben soll, wenn sie gerade nicht irgendwie auf die authentische Verschiedenheit zweier Gegebenheiten bezogen sein soll. Da HEIDEGGER aber, wie GIVSAN richtig sieht, jede authentische Verschiedenheit als seinsverlassenenen Schein ablehnt, ja die Seinsverlassenheit gerade an der Annahme irgendeiner authentischen Verschiedenheit festmacht, stellt HEIDEGGERS Rede von einer Differenz letztlich einen »Schwindel« dar. Dieser Einsicht GIVSANS läßt sich hinzufügen: Da die angebliche Strenge der Selbigkeit des Seins in HEIDEGGERS Augen nur bestehen kann, sofern es sich um eine »zerrissene« oder nichtidentische Selbigkeit handelt, stellt auch die Rede vom absoluten Singular des Seins und dessen unbedingter Singularität einen Schwindel dar, wobei hier die Frage offen bleiben muß, ob HEIDEGGER selber der »Schwindler« ist oder ob er nicht vielmehr selber Opfer eines »älteren« Schwindels geworden ist. HEIDEGGERS Philosophie erweckt zwar den Anschein, als nehme er allein Identität und Nicht-Identität ernst. Aber gerade, weil die von HEIDEGGER so streng gedachte Selbigkeit des Seins Nichtselbigkeit sein soll, und weil die Nichtselbigkeit des Seins als Seiendes die Selbigkeit des Seins sein soll, werden sowohl Identität als auch Differenz als auch HEIDEGGERS Sein als Differenz zu einer Farce. Anders ausgedrückt: Der Bestand des Sachverhalts, daß das Sein (des Seienden) es selbst ist, wird durch seine Identifizierung mit dem kontradiktorischen Sachverhalt, daß das Sein (des Seienden) nicht es selbst ist, unmöglich gemacht und umgekehrt. Es gibt bei HEIDEGGER weder Identität noch Nichtidentität, gerade weil beides angeblich dasselbe sein soll. Damit wird allerdings auch das Sein als »Sachverhalt«, wobei der Ausdruck »verhalt« hier für das »Verhältnis« der ontologischen Differenz steht, welche nichts anderes sein soll, als das Sein selbst, unmöglich und zu einer Farce. 9.6 Stillschweigende notwendige Voraussetzung eines Sachverhaltes bei Heidegger HEIDEGGERS Auffassung, daß das Sein selbst restlos zeitlich ist, setzt ferner stillschweigend voraus, daß der Sachverhalt, daß das Sein selbst zeitlich ist, nicht zeitlich ist. Denn wenn der Sachverhalt besteht, daß das
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Sein selbst restlos zeitlich ist, dann nur deshalb, weil dieser Sachverhalt nicht wiederum zeitlich sein kann. Wäre der Sachverhalt, daß das Sein restlos zeitlich ist, selbst zeitlich begrenzt, dann müßte ja das Sein nach Ablauf seiner »zeitlichen Zeit« überzeitlich werden und das bedeutete schlicht, daß das Sein doch nicht restlos zeitlich wäre, wie HEIDEGGER immer wieder behauptet. Damit also das Sein überhaupt restlos zeitlich sein kann, setzt HEIDEGGER stillschweigend die Überzeitlichkeit dieser restlosen Zeitlichkeit voraus. Durch diese Voraussetzung hebt HEIDEGGER sein eigenes Sein unausgesetzt aus den Angeln. Der Grund dafür liegt in der inneren notwendigen Widersprüchlichkeit der Auffassung: Um restlos zeitlich sein zu können, muß das Zeitlichsein überzeitlich sein. Aber wenn das Zeitlichsein überzeitlich ist, dann kann das Selbst des Seins selbst nicht restlos zeitlich sein. Kurzum: Die Auffassung, daß das Sein selbst restlos zeitlich ist, widerlegt sich selbst, weil sie die ontologische Voraussetzung ihrer eigenen Wahrheit untergräbt! Man darf sich hier auch nicht von dem möglichen Einwand täuschen lassen, daß das zeitliche Sein nach Ablauf seiner Zeitlichkeit gewissermaßen einfach in das Nichts sinken könnte und daß im Hinblick auf dieses nihil absolutum dann auch jede Rede von einer gewordenen Überzeitlichkeit des Seins keine Sinn mehr hätte. Denn das nihil absolutum in dem Sinne, daß absolut Nichts wäre, ist einsichtigermaßen ein Unding und als solches unmöglich. Denn angenommen, es wäre Nichts, dann könnte dies nur dann der Fall sein, wenn auch der Sachverhalt besteht, daß absolut Nichts ist. Dieser Sachverhalt kann seinerseits nicht ein Nichts sein, da ansonsten das Nichts nicht sein könnte. Wäre der Sachverhalt, daß Nichts ist, seinerseits ein Nichts, dann könnte er auch nicht bestehen. Würde aber der Sachverhalt, daß Nichts ist, nicht bestehen, dann hieße dies notwendigerweise, daß etwas wäre. Die Annahme, daß nichts ist, setzt den objektiven Bestand des positiven Sachverhalts, daß nichts ist, voraus und erweist sich durch eben diese ontologische Voraussetzung als rein gedanklich konstruiertes Unding, das unmöglich der Fall sein kann. Hier wird gerade durch den Blick auf Sachverhalte bzw. die Einsicht, daß es absolut unmöglich ist, daß überhaupt keine Sachverhalte bestünden, deutlich, daß ein absolutes Nichts im Sinne des Nichtvorhandenseins von Etwas überhaupt eine Unmöglichkeit ist.
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9.7 Weitere Beispiele der stillschweigenden Voraussetzung notwendiger Sachverhalte bei Heidegger und ein Beispiel für eine weniger stillschweigende Vereinnahmung absoluter Notwendigkeit, unvergleichlicher Intelligibilität und absoluter Gewißheit bei Heidegger HEIDEGGER setzt mit vielen seiner Urteile den objektiven Bestand verschiedenster notwendiger Sachverhalte bzw. notwendig bestehender Sachverhalte voraus. Mit der von HEIDEGGER selbst stillschweigend vorausgesetzten Verschiedenheit und Notwendigkeit dieser Sachverhalte widerspricht er seinem eigenen Seinsbegriff zutiefst. HEIDEGGER setzt auch stillschweigend voraus, diese Sachverhalte durch die Methode der Einsicht gewonnen zu haben, da sie weder das Resultat einer Induktion noch das Resultat einer Deduktion sind. Aufgrund der Notwendigkeit der von HEIDEGGER vorausgesetzten Sachverhalte setzt HEIDEGGER ferner stillschweigend voraus, daß die Urteile, welche diese Sachverhalte thematisieren, sowohl informative als auch apriorische Urteile sind. So sagt HEIDEGGER etwa »[…] jede Antwort, wenn sie wahr ist, ist bedingt und damit veränderlich und wandelbar.«1179
Auch hier zeigen sich einmal mehr die Widersprüche, in welche sich HEIDEGGER unausgesetzt verstrickt und verstricken muß. Jede Antwort soll, gerade wenn sie wahr ist, bedingt, veränderlich und wandelbar sein. Wie steht es aber mit der möglichen Antwort, daß jede wahre Antwort bedingt, veränderlich und wandelbar ist? Für diese Antwort bzw. für diese Behauptung macht HEIDEGGER eine stillschweigende Ausnahme von seinem universalen Gesetz, welche eben dieses Gesetz »Lügen straft«. Das Gesetz verunmöglicht die stillschweigende Voraussetzung und die stillschweigende Voraussetzung verunmöglicht das Gesetz. Aus diesem Widerspruch gibt es auch kein Entrinnen. Vielmehr besteht im Hinblick auf ein Urteil wie: »Jede wahre Antwort ist bedingt, veränderlich und wandelbar« mit Notwendigkeit der Sachverhalt, daß sie sich selbst widerspricht bzw. sich selbst widerlegt! Und da sie sich notwendigerweise selbst widerlegt, kann sie unmöglich wahr sein, d.h., der Sachverhalt, daß jede wahre Ant-
1179
GA 29/30, 303.
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wort bedingt, veränderlich und wandelbar ist, kann unmöglich bestehen, da sein Bestand den eigenen Nichtbestand gerade voraussetzen würde. Ferner setzt HEIDEGGER durch ein derartiges Urteil stillschweigend voraus, daß der Urteilsinhalt und der intendierte Sachverhalt real verschieden sind. Kurzum: HEIDEGGER muß stillschweigend die Intentionalität des Bewußtseins voraussetzen, womit sein alle Gegebenheiten konfundierender Seinsbegriff unmöglich wird. HEIDEGGER ist ja sonst der Auffassung, daß alles Seiende und damit auch alle seelischen Vorgänge und alles Denken vom Sein entborgen werden, was nichts anderes heißen kann, als daß ein und dasselbe Sein alles Denken wirkursächlich hervorbringt. Bringt es alles Denken wirkursächlich hervor, dann ist auch alle Erkenntnis nichts weiter als eine Wirkung seinsmäßiger Entbergungsprozesse, auch die »Erkenntnis« von der Bedingtheit und Veränderlichkeit jeder wahren Antwort bzw. jedes wahren Urteils. Veränderte Konstellationen des Seins würden dann zu anderen »Erkenntnissen« führen, wobei aber alle vermeintlichen Erkenntnisse völlig zufällig und ohne jede Rechtfertigung blieben. Als bloße Ausgeburten und Epiphänomene einer sich stets wandelnden Konstellation des Seins ließe sich zwischen vermeintlichen und echten Erkenntnissen nicht unterscheiden. Aber wenn HEIDEGGER sagt, daß jede Antwort bedingt und wandelbar ist, dann deshalb, weil er sie nicht für zufällig und ungerechtfertigt hält. Er läßt hier keine Ausnahme zu und nimmt in keiner Weise an, daß sich irgendeine Antwort jemals anders verhalten könnte. Er setzt stillschweigend voraus, daß sein Denken sich in der dieses Urteil fundierenden Erkenntnis überschritten hat, und die Wirklickeit in ihrem An-sich-Sein erreicht und berührt hat. Ja, seine Behauptung setzt stillscheigend voraus, daß es nicht nur de facto so ist, wie behauptet, sondern daß es so sein muß und nicht anders sein kann. Alle diese Voraussetzungen hindern freilich nicht daran, daß HEIDEGGERS Urteil notwendigerweise falsch ist, da es sich selbst widerlegt. Besonders deutlich werden alle genannten Voraussetzungen auch an folgendem Zitat. Da die Voraussetzungen hier deutlicher zu Tage treten, tritt auch der abermals vorliegende selbstwiderlegende Charakter des Urteils besonders deutlich zu Tage. »Dennoch vermag das Seiende nicht das Frag-würdige von sich abzuwälzen, daß es als das, was es ist und wie es ist, auch nicht sein könnte. Diese Möglichkeit erfahren wir keineswegs als etwas, was nur wir erst
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Kapitel 9 hinzudenken, sondern das Seiende selbst bekundet diese Möglichkeit, bekundet sich als das Seiende in ihr.«1180
Das Seiende vermag, so HEIDEGGER, nicht »von sich abzuwälzen, daß es […] auch nicht sein könnte«. HEIDEGGER setzt also den notwendigen Bestand des Sachverhaltes voraus, daß das Seiende als Seiendes auch nicht sein kann. Davon kann es keine Ausnahme geben, denn ansonsten wäre ja das Nichtsein-können seinerseits abwälzbar! Ferner sagt HEIDEGGER ausdrücklich, die notwendige Möglichkeit, nicht sein zu können, werde nicht zum Seienden hinzugedacht, sondern vom Seienden als solchen »bekundet«. D.h., der Gegenstand des Denkens und der Erkenntnis muß als solcher so sein und kann nicht anders sein und ist, so setzt HEIDEGGER stillschweigend voraus, in diesem notwendigen Sosein völlig intelligibel. Und wenn das Denken den Gegenstand als solchen erkennt, dann muß es sich rezeptiv transzendiert haben. Das Denken und sein Gegenstand sind hier also notwendigerweise wesensverschieden, da es ohne eine derartige Verschiedenheit keine rezeptive Transzendenz und keine entsprechende Intentionalität des Bewußtseins geben kann. Ferner setzt hier HEIDEGGER die Methode der Einsicht voraus, weil sich die Notwendigkeit des Seienden, sich wie erwähnt zu verhalten, vom Seienden selbst her bekunden soll! Das entsprechende Urteil soll also weder das Ergebnis einer Induktion noch einer Deduktion sein, sondern einzig und allein Ergebnis der Methode der Einsicht in das Seiende als solches. Freilich ist trotz all dieser schon nicht mehr so stillschweigenden Voraussetzungen HEIDEGGERS Sein durch HEIDEGGER selbst aus den Angeln gehoben. Alles, was HEIDEGGER ansonsten aufgrund der totalen Prozessualität und Reduktion alles Seienden auf ein Sein ablehnt, nämlich absolute Gewißheit, völlige Intelligibilität und absolute materiale Notwendigkeit und das überzeitlich Seiende, führt er hier »durch die Hintertür« wieder ein. Auch kann das Urteil, wie angedeutet, abermals unmöglich wahr sein, weil es sich selbst widerlegt. Denn da der Sachverhalt, daß alles Seiende unabwälzbar auch nicht sein könnte, stillschweigend als notwendiger Sachverhalt vorausgesetzt wird, der seinerseits unmöglich jemals nicht sein könnte, wird deutlich, daß das Urteil, daß alles Seiende notwendigerweise auch nicht sein kann, falsch sein muß 1180
EM, 22f./GA 40, 32.
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und nichts anderes als falsch sein kann. Es ist hier nicht notwendig, auf weitere Beipiele von ähnlichen sich selbst widerlegenden Urteilen und den eigenen Seinsbegriff aufhebenden stillschweigenden Voraussetzungen bei HEIDEGGER einzugehen. Es ließen sich viele solcher Beispiele anführen.1181 Bereits die beiden obigen Beispiele zeigen, daß HEIDEGGERS Seinsbegriff ein bloßes »Gedankending« ist, dem außerhalb gewisser Köpfe keine Realität zukommt. 9.8 Kritisches Streiflicht auf Heideggers Auffassung, daß alle Erkenntnis und damit alle Wahrheit relativ sei auf die »Konstellation des Seins« Da bei HEIDEGGER alles Seiende abhängig ist von der rein prozessual zu denkenden Konstellation des Seins, ist alles Seiende und somit auch jeder Sachverhalt nur rein faktisch so, wie er ist. Und da alles Seiende abhängig ist von der Konstellation des Seins, ist auch alle Wahrheit abhängig von der Konstellation des Seins. Daher kann es für HEIDEGGER weder absolut notwendige Sachverhalte noch absolut wahre Urteile geben. Gibt es aber keine absolut notwendigen Sachverhalte, dann kann es auch keine unmöglichen Sachverhalte geben. Anders ausgedrückt läßt sich mit CAJTHAML sagen: Wenn es nichts gibt, »was wesensnotwendig wäre […], dann gibt es auch nichts absolut Unmögliches.«1182 Oder: Wenn nichts absolut unmöglich ist, kann auch nichts absolut ausgeschlossen werden. D.h., wenn es keine wesensnotwendigen Sachverhalte geben kann, kann es ausnahmslos jeden Sachverhalt geben. Dann läßt sich aber auch nicht ausschließen, daß es aufgrund der Konstellation des Seins dasselbe Sein gar nicht gibt. Das klingt nicht nur absurd, es ist absurd, aber eben diese Absurdität schlummert in der Absurdität der Annahme, daß das Sein selbst rein prozessual verfaßt ist. Daß das »Sein selbst« sich selbst als Nichtexistierendes hervorbringen kann, ist eine unvermeidbare logische Implikation eines restlos 1181
1182
»Das Sein ist niemals entgültig sagbar.« GA 65, 460. Vgl. POLT [2003a], 185. »Philosophie ist das Gegenteil aller Beruhigung und Versicherung« GA 29/30, 28. »Wir kommen nie zu Gedanken, die Gedanken kommen zu uns.« GA 13, 78. Vgl. MARTEN [2003], 326, 2. »Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie.« GA 65, 435. Vgl. POLT [2003a], 185, 2. CAJTHAML [2003], 122f.
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prozessual gedachten Seins, welches als rein prozessuales keine Unmöglichkeiten kennen kann. D.h., eine bestimmte existierende Konstellation des Seins und nichts anderes als diese Konstellation des Seins brächte sich selbst als Nichtexistierende hervor. Die Bedingung der Möglichkeit für diese Nichtexistenz ist aber gerade die Existenz einer bestimmten Konstellation, denn nur diese wäre ja der Grund für die eigene Nichtexistenz. Diese Nichtexistenz steht somit im Widerspruch zu der notwendigen ontologischen Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit, denn diese Nichtexistenz ist als Entbergung vom entbergenden Sein abhängig. Die Möglichkeit, aus der Annahme, daß es nichts Überzeitliches und damit auch keine Wesensnotwendigkeit gibt, derart absurde Konsequenzen zu ziehen, zeigt, daß die Annahme selbst höchst widersprüchlich und daher unhaltbar ist. Alle Seienden werden bei HEIDEGGER von der Konstellation des Seins als Weise hervorgebracht, wie das Sein sich selbst entbirgt bzw. hervorbringt. Dieses Hervorbringen kann gar nicht anders als kausal verstanden werden. D.h., das Sein bewirkt die Entbergung des Seienden als Weise, wie es sich unausgesetzt selbst produziert und »aus-wirkt«. Wenn alles Seiende die Wirkung der Selbsthervorbringung des Seins ist, dann sind es notgedrungen auch alle Sachverhalte. Der Sachverhalt, daß das Sein es selbst ist, würde dann nicht nur »einfach« in bezug auf das Sein selbst bestehen, weil aufgrund der besonderen Abhängigkeit zwischen Sache und Sachverhalt nichts jenseits von Sachverhalten sein kann, sondern dieser Sachverhalt würde vom Sein selbst produziert. Aber wenn der Sachverhalt, daß das Sein es selbst ist, eine Produktion des Seins selbst ist, dann ist das Sein selbst causa sui, was absurd ist.1183 1183
Die in Abschnitt 9.8 dargestellten Gedanken werden in enger Anlehnung an gewisse Gedanken CAJTHAMLS [2003], 122-126 entwickelt, welcher seinerseits in enger Anlehnung an HUSSERL argumentiert. HUSSERLS und CAJTHAMLS Überlegungen sind zwar nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie erkenntnistheoretischer Natur und zielen auf eine immanente Kritik des spezifischen Relativismus ab. Sie lassen sich aber mutatis mutandis auch auf HEIDEGGERS »Konstellation des Seins«, durch welche ja alle Wahrheit und damit auch alle notwendigen Sachverhalte relativiert werden, anwenden. In den Prolegomena zur reinen Logik führt HUSSERL unter u.a. drei Argumente an, welche zeigen sollen, daß der spezifische Relativismus nicht nur falsch, sondern in sich widersinnig und widersprüchlich ist. Grundlegend für die Überlegung in diesem Abschnitt ist der von CAJTHAML so genannte erste Teil des zweiten Arguments
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9.9 Die Einsicht als zentrale Methode der Philosophie und die Mannigfaltigkeit ihrer adäquaten Gegenstände und die völlige Verarmung des Denkens und Seins bei Heidegger Unzählige Urteile, wie etwa »Die Gesichter aller Geparden weisen Tränenstreifen auf« oder »Alle Birken zählen zu den sehr schnell wachsenden Gehölzen und können nach sechs Jahren eine Höhe von bis zu sieben Metern erreichen« und »Bei einer Lufttemperatur von 25° Celsius und einer relativen Luftfeuchtigkeit von 30% liegt der Taupunkt des Wassers bei 6,2° Celsius« sind wahr. Diese Urteile sind wahr, weil der Sachverhalt, den sie behaupten, besteht. Aber die Behauptung, daß diese Urteile notwendig wahr sein müßten und unmöglich falsch sein könnten, wäre irrig, und der zweite Teil des zweiten Arguments. Anhand des ersten Teils von HUSSERLS zweitem Argument zeigt CAJTHAML, daß die Abhängigkeit aller Wahrheit von der Konstitution einer denkenden Spezies auch jede objektive Wesensnotwendigkeit bzw. alle wesensnotwendigen Sachverhalte verunmöglicht. Aus dieser Art von Unmöglichkeit ergibt sich allerdings die Möglichkeit von schlechterdings allem, bzw. die Möglichkeit eines jeden beliebigen Sachverhalts. »Man könnte daher nicht ausschließen«, so CAJTHAML im Rückgriff auf HUSSERL, »daß für eine Spezies aufgrund ihrer Konstitution die Wahrheit gelte, daß diese Konstitution gar nicht existierte. Eine solche logisch mögliche Implikation der relativistischen These steht aber im Widerspruch zu den notwendigen ontologischen Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, denn sie entsteht, dieser Annahme zufolge, auf Grund der Konstitution einer denkenden Spezies und setzt daher die Existenz dieser Spezies wesensnotwendig voraus. Solch eine These kann daher unmöglich wahr sein. Auch hier beweist die Widersprüchlichkeit der These die Widerspüchlichkeit der Hypothese, deren logisch mögliche Implikation sie ist. Diese Hypothese ist die Relativität der Wahrheit auf irgendeine denkende Spezies.« CAJTHAML [1983], 122f. S. Hua. 18, § 36. Anhand des zweiten Teils von HUSSERLS zweitem Argument, welches nicht mehr eine mögliche im Rahmen des vorausgesetzten Relativismus widersinnige Nichtexistenz irgendeinder denkenden Spezies zum Angelpunkt hat, sondern umgekehrt auf die im Rahmen des spezifischen Relativismus widersinnige Existenz des Menschen als denkender Spezies zu sprechen kommt, zeigt CAJTHAML mit HUSSERL, daß die relativistische Position dazu führen muß, die Konstitution der Spezies Mensch widersinnigerweise als causa sui zu verstehen, weil das besondere Anbhängigkeitsverhältnis zwischen Sache und Sachverhalt (das Verhältnis zwischen der Existenz der Konstitution der denkenden Spezies Mensch und dem Sachverhalt daß diese Konstituion der denkenden Spezies Mensch existiert) in ein kausales Verhältnis umgedeutet werden muß. Auch diese Einsicht läßt sich mutatis mutandis auf HEIDEGGER anwenden. CAJTHAML [2003], 123f. Hua. 18, § 36.
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da sich die wesenhafte Kontingenz dieser durch die obigen Urteile thematisierten Sachverhalte unmittelbar einsehen läßt. Bei den obigen Urteilen handelt es sich um empirische oder aposteriorische Urteile. Aufgrund der Kontingenz des Zusammenhanges zwischen Gegebenheiten wie Gepardengesichtern und Tränenstreifen, Birken und einer bestimmten Wachstumsrate und Wasser und Taupunkt läßt sich die (allgemeine) Gültigkeit bzw. der (allgemeine) Wahrheitsanspruch der auf sie abzielenden Behauptungen nur durch Erfahrung im Sinne der empirischen Beobachtung einer repräsentativen Anzahl von Einzelfällen und Induktion rechtfertigen. Nach der Beobachtung und dem Vergleich einer angemessenen Anzahl von Einzelfällen muß auf der Grundlage einer bestimmten faktischen Übereinstimmung aller Einzelfälle geschlossen werden, daß es sich stets und in jedem Fall so verhält. Dabei darf allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, daß sich auch alle wirklichen oder bloß möglichen Einzelfälle mit Notwendigkeit so verhalten. Die empirischen Wissenschaften sind aufgrund der Kontingenz des Verhaltens ihrer Objekte wesentlich auf die Induktion angewiesen. Es gibt indes noch andere Urteile, die, wie WENISCH sich ausdrückt, »on account of a particular nature of their object […] not only can be recognized as true […], but also can be recognized as necessarily true (that is, clear evidence can be achieved that they connot possibly be false).1184
Zu dieser Art von Urteilen zählen Behauptungen wie: »Jeder Gegenstand ist mit sich identisch«, »Erkennen ist wesenhaft ein Empfangen«, »Die Methode, durch die ein Gegenstand erforscht wird, muß sich nach der Verfassung der Gegenstandes richten«,1185 »Universale Urteile, die aufgrund von induktiver Verallgemeinerung gefällt werden, können hinsichtlich ihrer Gewißheit lediglich mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit beanspruchen«, »Zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Urteilsinhalte 1184 1185
WENISCH [1988], 108. »Zwischen Gegenstand und Methode besteht offenbar ein enger Zusammenhang: Der Gegenstand legt gleichsam fest, welche Methode die zu seiner Erkenntnis angemessene ist. So ist es etwa der Gegenstand der Meteorologie, wodurch die Anwendung der inneren Erfahrung in dieser Wissenschaft ausgeschlossen wird.« WENISCH [1976], 88f.
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können nicht zugleich wahr sein«, »Ambae affirmantes nequeunt generare negantem«, »Jede Veränderung setzt eine Ursache voraus«, »Keine Potenz aktualisiert sich selbst«, »Ex nihilo nihil fit«, »Ratio personae contrariatur rationi partis«, »Justitia est perpetua et constans voluntas suum cuique tribuere«, »Eine Person darf niemals als reines Mittel zum Zweck benutzt werden«, »Eine Person, die aus unüberwindbarer Unwissenheit gegen ein moralisches Gebot verstößt, lädt keine Schuld auf sich«, »Für das Zustandekommen einer jeden sittlichen Handlung ist die wirkliche oder vermeintliche Realisierbarkeit eines Sachverhaltes durch das handelnde Subjekt vorausgesetzt«1186 und unzählige weitere Urteile aus den verschiedenen Disziplinen der Philosophie, wie etwa der Ontologie, Ethik, Erkenntnistheorie, Logik und Kosmologie. Diese Urteile sind notwendig wahr, d.h. sie können unmöglich falsch sein, weil die von ihnen thematisierten Sachverhalte notwendig bestehen. Die Einsicht als Erkenntnismethode wurde freilich nicht erst in neuerer Zeit entdeckt. Sie stellt vielmehr einen locus communis der abendländischen Geistesgeschichte dar. Ebensowenig neu ist die Einsicht in die »Unmittelbarkeit« und absolute Gewißheit dieser Methode und damit zusammenhängend die Einsicht in die intrinseke Notwendigkeit des erkannten Objekts. Damit soll freilich nicht gesagt sein, daß das objektive Datum der Einsicht auch immer unter demselben Namen behandelt worden wäre. Man denke hier nur an verschiedene Bezeichnungen wie »unmittelbare Anschauung«, »intuitus simplex« und »Erkennen ohne Mittelbegriffe«, welche sachlich betrachtet allesamt auf die Methode der Einsicht abzielen. Ferner soll mit dem oben Gesagten nicht zum Ausdruck kommen, daß auch immer schon (notwendige) Sachverhalte als besondere Gegenstände der Einsicht eigens thematisiert worden wären. Es ist lediglich gesagt, daß die philosophia perennis die Möglichkeit absoluter Wahrheitserkenntnis und damit die Möglichkeit absolut wahrer Urteilsinhalte immer wieder gegen mögliche skeptische Einwürfe verteidigte. Das bedeutet implizit, daß am Bestand objektiv notwendiger Sachverhalte als Gegenständen der auf sie zielenden absolut wahren Urteile festgehalten wurde. An dieser Stelle sei einmal mehr an die diesbezüglichen »klassischen« Ausführungen bei ARISTOTELES erinnert. Der 1186
Vgl. SEIFERT [1976b], 15. Darüber hinaus finden sich in diesem Buch zahlreiche weitere a priori notwendige ethische Sachverhalte.
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Stagirit unterstreicht in der Metaphysik die evidente Gültigkeit des Widerspruchsprinzips, das jeden Beweis grundlegt, seinerseits aber durch nichts zu beweisen ist.1187 ARISTOTELES erfaßt mit der ihm eigenen Genialität, daß das Widerspruchsprinzip in der ontologischen Sphäre ein So-sein-Müssen darstellt. Dieses So-sein-Müssen erhellt dem Menschen in unvermittelter Weise, insofern es weder bewiesen werden kann noch bewiesen werden muß. In den Analytica posteriora weist ARISTOTELES auf der Grundlage der Einsicht in die unmittelbar erhellende Notwendigkeit gewisser »Sachverhalte« bzw. »Prinzipien« zurück, daß jedes Wissen durch episthmh (»Wissenschaft«) und damit durch vermittelnde Beweisführung (Induktion und Deduktion) gewonnen wird. Da das So-sein-Müssen bzw. Wahr-sein-Müssen oberster Axiome vielmehr unmittelbar evident ist, wird es nicht durch »Wissenschaft«, d.h. durch »diskursives«, schlußfolgerndes und auf gewissen Vermittlungsschritte angewiesenes Denken, sondern durch nouj (Vernunft), d.h. unmittelbare Einsicht gewonnen. »Da von den (Erkenntnis-)Haltungen hinsichtlich des Denkens, mit denen wir Wahrheit erkennen, die einen immer wahr sind, die anderen auch das Falsche zulassen, wie Meinung und Überlegung, immer wahr aber Wissenschaft und Vernunft sind, und im Vergleich zur Wissenschaft keine andere Gattung (der Erkenntnishaltungen) genauer ist als Vernunft, und da die Prinzipien bekannter sind als die Beweise, und jede Wissenschaft mit Begründungen vorgeht, gibt es wohl von den Prinzipien keine Wissenschaft mehr. Und da im Vergleich zur Wissenschaft nichts wahrer sein kann als Vernunft, dürfte Vernunft auf die Prinzipien gehen. – Das ergibt sich sowohl aus dieser Erwägung, als auch daraus, daß Prinzip des Beweises nicht wieder Beweis ist, somit auch (Prinzip) der Wissenschaften nicht wieder Wissenschaft. Wenn wir nun außer der Wissenschaft keine andere wahre (Erkenntnis-)Gattung haben, so dürfte Vernunft Prinzip der Wissenschaften sein.« [Übers. SEIDL]1188
1187 1188
Aristot. metaph. 1005b, 8-35; 1006a-25. » Epei de twn peri thn dianoian e xewn aij alhveuomen ai men aei alhvei j eisin, ai de epidecontai to yeudoj, oion doxa kai logismoj, alhvh d aei episthmh kai nouj, kai ouden episthmhjakribesteron allo genoj h nouj, ai d arcai twn apodeixewn gnwrimwterai, episthmh d apasa meta logou esti, twn arcwn episthmh men ouk an eih, epei d ouden alhvesteron endecetai einai episthmhjh noun, nouj an eihtwn arcwn, ek te toutwn skopousi kai oti apodeixewj arch ouk apodeixij wst oud episthmhj episthmh. ei oun mhden allo
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Von dieser Art auf evidente objektive Notwendigkeiten gerichteter unvermittelter Erkenntnis ist indes nicht nur bei ARISTOTELES, sondern auch bei PLATON, AUGUSTINUS, THOMAS VON AQUIN, BONAVENTURA, DUNS SCOTUS, DESCARTES, LEIBNIZ, HUSSERL, REINACH, Alexander PFÄNDER, Hedwig CONRAD-MARTIUS, Dietrich von HILDEBRAND u.a. die Rede. WENISCH hat allerdings völlig Recht, wenn er darauf aufmerksam macht, daß die Methode der Einsicht und ihr spezifischer Gegenstand nicht nur dort zum Tragen kommen, wo Philosophen die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis ausdrücklich verteidigen. Auch jene Philosophen, welche die Einsicht zurückweisen, kommen an ihrer wenigstens stillschweigenden Anwendung nicht vorbei. »Kein Philosoph der Vergangenheit oder der Gegenwart, der in berechtigter Weise ein wahres, universell-apodiktisches Urteil (das nicht Ergebnis einer Deduktion ist) aufstellt, kann dies anders tun als in Anwendung der Methode der Einsicht, mag die Einsicht und ihr Gegenstand nun zu den von ihm (in der Reflexion) ausdrücklich anerkannten Prinzipien gehören oder nicht. Nun finden sich offenbar wahre universell-apodiktische Urteile, die weder Ergebnisse von Deduktionen, noch bloß tautologischanalytisch sind, wohl bei allen großen Philosophen der Vergangenheit. Wenn es somit zwar viele Philosophen gibt, die nicht ausdrücklich von Einsicht [...] und ihrem Gegenstand – dem objektiv Notwendigen – sprechen, so gibt es wohl keinen Philosophen, der diese Methode nicht angewendet hätte – zumindest gelegentlich. Dies zeigt wiederum, daß die Einsicht und ihr Gegenstand so elementar sind, daß jeder gezwungen ist, beides zumindest stillschweigend vorauszusetzen. Dies trifft nicht nur zu für die, die von beidem nur nicht ausdrücklich sprechen, sondern sogar für die, die beides ausdrücklich in Abrede stellen.«1189
Wie bereits am Eingang dieser Arbeit erwähnt, besteht eines der besonderen Verdienste der Philosophen der realistischen Phänomenologie der Göttinger-Münchner Schule darin, das zentrale Formalobjekt der Philoso-
1189
par episthmhn genoj ecomen alhvej, nouj an eihepisthmhj arch.« Aris tot. an. post. 100b 5-15. Vgl. auch Aristot. an. post. 71b 20ff. »Daß man nicht durch Beweis etwas wissenschaftlich verstehen kann, wenn man nicht zuvor die ersten, unmittelbaren Prinzipien erkannt hat, ist früher dargelegt [Übers. SEIDL] ( Oti men oun ouk endecetai epistasvai di apodeixewj mh gignwskontita j prwrtaj arca j ta j amesouj, eirhtai proteron).« Aristot. an. post. 99b 20-22. Vgl. auch Aristot. an. 427b. WENISCH [1976], 139.
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phie und die seiner Untersuchung einzig angemessene Methode auf dem Fundament von HUSSERLS frühen Schriften und nicht zuletzt in direkter Auseinandersetzung mit KANTS transzendentalem Idealismus deutlich herausgearbeitet zu haben. KANT ist der Meinung, daß synthetische Urteile a priori, also notwendige und allgemeine, die Erkenntnis erweiternde und nicht bloß den Subjektbegriff erläuternde Urteile, gerade wegen ihres apriorischen Charakters unabhängig sein müßten von jeder Art von Erfahrung.1190 Wie HILDEBRAND in seiner genialen Aufdeckung der mit dem Ausdruck »Erfahrung« gegebenen Äquivokation gezeigt hat, müssen synthetische Urteile a priori hinsichtlich ihrer Notwendigkeit ausschließlich von »Erfahrung« im Sinn der Induktion unabhängig sein. Synthetische Urteile, die allein aufgrund von Realkonstatierung und Induktion gefällt werden können, müssen in der Tat aposteriorische und können unmöglich apriorische Urteile sein. Es ist indes auf keinen Fall notwendig, ja es ist völlig unmöglich, daß synthetisch-apriorische Urteile unabhängig sein müssen von der »Erfahrung« im weiteren Sinne des Empfangens eines Sachverhaltes, wie HILDEBRAND zeigt. Da gewisse Sachverhalte als solche notwendig sind, stellen sie in sich und völlig unabhängig vom menschlichen Subjekt ein So-sein-Müssen dar und sind keineswegs, wie beim Königsberger, das Resultat eines bloßen »So-denken-Müssens«, welches die Dinge lediglich »für uns« (Phainomena) konstituiert und daher das Ding an sich (Noumenon) niemals erreicht. Angesichts der intrinseken Notwendigkeit gewisser Sachverhalte wird deutlich: Das A priori wurzelt keineswegs im »reinen Verstande«, sondern kennzeichnet, wie HILDEBRAND veranschaulicht, gewisse Sachverhalte intrinsek und damit in völliger Unabhängigkeit von irgendwelchen »Tätigkeiten« des Subjekts.1191 HILDEBRAND zeigt ferner: Das A priori kennzeichnet vor allem gewisse »Dinge an sich«. Wenn Urteile a priori genannt werden, liegt ein abgeleiteter 1190
1191
»Wir werden also im Verfolg unter Erkenntnissen a priori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener, sondern die schlechterdings von jeder Erfahrung unabhängig stattfinden.« KrV, B2f. »Zuerst, was die Quellen einer metaphysischen Erkenntnis betrifft, so liegt es schon in ihrem Begriffe, daß sie nicht empirisch sein können. Die Prinzipien derselben (wozu nicht bloß ihre Grundsätze, sondern auch Grundbegriffe gehören), müssen also niemals aus der Erfahrung genommen sein [...]. Sie ist also Erkenntnis a priori, oder aus reinem Verstande und aus reiner Vernunft.« Prol, §1. HILDEBRAND [1976], 83-91.
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Wortgebrauch vor. A priori im eigentlichen Sinne sind Sachverhalte, die notwendig sind. Urteile können nur a priori sein, d.h. Urteile können nur notwendig wahr sein, wenn der von diesen Urteilen intendierte Sachverhalt a priori ist und damit notwendig besteht.1192 Denker wie HILDEBRAND, SEIFERT, WENISCH, WHITE und CAJTHAML u.a sehen mit aller Deutlichkeit, daß Urteile, die aus der Methode der »Intuition« bzw. Einsicht in die Apriorizität gewisser Sachverhalte hervorgehen, die synthetischen Urteile a priori sind, und damit Urteile, in denen absolute Wahrheit über die jenseits des Urteils und seiner Elemente liegende Wirklichkeit um Ausdruck kommt.1193 Wie bereits deutlich wurde, spielt es dabei überhaupt keine Rolle, daß diese Wirklichkeiten in der Tat keine Gegenstände empirischer Forschung sein können.1194 KANT vermag nicht zu erkennen, daß Urteile allenfalls imstande sind, einen »Endpunkt und Schlußstein im gesamten Erkenntnisprozeß« darzustellen.1195 Sie können überhaupt nur gefällt werden, nachdem der Gegenstand erkannt worden ist. Die Erkenntnis hingegen ist, wie HILDEBRAND zeigt, wesentlich und notwendig rezeptiv und somit scharf vom spontanen Akt des Urteilens zu 1192 1193
1194 1195
Zu dem hier in Frage stehenden notwendig abgeleiteten Charakter apriorischer Urteile s. HILDEBRAND [1976], 83-91. Unter »Intuition« wird hier ausdrücklich nicht die Weise göttlichen Erkennens verstanden, welches alles immerdar erschöpfend und unmittelbar erkennt. Um Verwechslungen vorzubeugen, wird hier der Ausdruck »Einsicht« bevorzugt. SCHELER schreibt hinsichtlich der Methode der Einsicht, sie sei »abgeschlossen, also unvermehrbar und unverminderbar, d.h. streng evident, wogegen aller Erkenntnis zufälligen Daseins […] nie mehr als Vermutungsevidenz oder vorbehaltliche Evidenz zukommt (objektiv also in Urteilsform nicht Wahrheit, sondern Wahrscheinlichkeit). Sie ist Einsicht und ›gilt‹ (in Urteilsform) ›a priori‹ für alles mögliche Daseiende desselben Wesens, auch das uns jetzt unbekannte oder überhaupt unerkennbare.« SCHELER [1954], 97f. Ebenso treffend äußert sich SCHELER über den Unterschied zwischen empirischen und »reinen« (apriorischen) Tatsachen und die ihnen jeweils entsprechenden wesensverschiedenen Erkenntnismethoden, wenn er schreibt: »Wohl aber sind die ›reinen‹ Tatsachen der ›Intuition‹ scharf geschieden von den Tatsachen, die zu ihrer Erkenntnis eine (prinzipiell unabschließbare) Reihe von Beobachtungen durchlaufen müssen. Sie allein sind - insofern sie selbst gegeben sind – mit ihren Zusammenhängen ›einsichtig‹ oder ›evident‹.« SCHELER [1980], 71. S. dazu CAJTHAML in Fußn. 981. HILDEBRAND [1976], 23. S. Abschnitt 8.1.
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Kapitel 9
unterscheiden.1196 KANT betrachtet synthetische Urteile a priori zwar als ein offensichtliches und unbestreitbares Faktum. Allerdings führt er keine eingehende Untersuchung der besonderen objektiven Korrelate dieser Urteile durch, sondern geht, wie WHITE zeigt, von der offensichtlichen Tatsächlichkeit ihres Vorkommens rasch über auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Urteile und bemüht sich um eine Herleitung synthetisch-apriorischer Urteile aus der Konstitution der reinen Vernunft. »Kant, however, only deliniates the ›a priori cognition‹, if I may term it so, in terms of the fact that some objects are given to us about which we can form universal and necessary laws: propositions of the sort ›All s are necessarily (and therefore universally) p‹; Kant then seeks the source of this necessity in consciousness itself. Here we see two of the suppositions […]; first, that there are only two sorts of objects, real particulars and beings of reason and, second, that all objects of experience of themselves can only yield a posteriori cognition. On the assumption of an adequatio, such as Kant seems to hold, it is logical that he should investigate objectual correlates to judgments like ›All s are necessarily p‹, especially since Kant definitely thinks these synthetic a priori judgments, whatever their nature, act as principles, formative of the objects of experience. But Kant never thinks to look for such an object, because his notion of experience and his metaphysical presuppositions will not allow such an investigation. Consequently, the necessity which Kant claims to apprehend in objects, such as that which is asserted in propositions of the sort ›All action entails an opposite reaction‹ or ›All change presupposes a substance which can bear this change‹, must, Kant thinks, be ultimately ascribed to the way the cognizing subject thinks about things: consciousness itself must be the source of necessity.«1197
WHITE sieht mit aller Deutlichkeit, daß KANT durch eben diesen Schritt zerstören muß, was er zu erklären und »wahren« sucht.
1196
1197
Zur notwendigen Rezeptivität des Erkenntnisaktes und zur notwendigen Spontaneität des Urteilsaktes s. HILDEBRAND [1976], 21-24. »Oft hat man den rezeptiven Charakter des Erkennens deshalb verkannt und in einen spontanen umgedeutet, weil man diese so eng verbundenen und doch so eindeutig verschiedenen Akte miteinander verwechselte. So hielt z.B. Kant den Akt des Urteilens, der wirklich spontan ist, für den Grundakt des Erkennens.« SEIFERT [1976], 88. WHITE [1992], 299f. 293.
Kritik an Heideggers Sach-Verhalts- bzw. Seinsbegriff
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»While Kant is no doubt correct in thinking that philosophy should be composed chiefly of synthetic a priori judgments, his own analysis of this realm actually destroys their possibility. To answer the question ›how are a priori synthetic judgments possible?‹ Kant thinks he must posit a theory of the constitution of the objects of cognition according to necessities of human thinking. With this theory, Kant renders impossible a metaphysics of real being which is ontically independent of the thinking subject and, thereby, destroys what he attempts to preserve. After all, Kant preserves the a priori character of philosophical propositions at the expense of the world to which one hopes one’s propositions truly refer and retains an alleged necessity of objects by explaining this necessity as only apparent, since this necessity is only the way we must think these objects.«1198
KANT leitet die Notwendigkeit apriorischer Urteile aus einer letztlich bloß faktisch-kontingenten Verfassung der reinen Vernunft ab. Damit wird eine kontingente Vernunftkonstitution zur Quelle der nur noch vermeintlichen »Notwendigkeit« synthetisch-apriorischer Urteile!1199 Da KANT der Auffassung ist, daß nur das sinnlich wahrnehmbare Material der Erkenntnis von einem außen her zuwachsen kann, versucht er die Objektivität der apriorischen Strukturen immerhin noch dadurch zu gewährleisten, daß er sie in eine als notwendig angenommene Beziehung zu den Sensiblilia stellt. Daher ist er konsequentermaßen der Überzeugung, daß nur jene Urteile synthetisch-apriorisch seien, die an der Ermöglichung sinnlicher Einzelerfahrung mitwirken. Infolgedessen haben KANTS synthetischapriorische Urteile einen durchweg arithmetischen, geometrischen und klassisch-physikalischen Charakter. Alle notwendigen Urteile, denen keinerlei Funktion bei der Ermöglichung sinnlicher Einzelerfahrung eignen kann, sind in KANTS Augen analytische Urteile bzw. versteckte Tautologien.1200 Urteile wie: »Die Liebe trachtet trotz ihrer Sehnsucht nach Vereinigung mehr danach, daß die geliebte Person zu ihrer Bestimmung 1198 1199
1200
WHITE [1992], 317. »Abgesehen davon, daß das ›Schaffen‹ oder ›Synthetisieren‹ notwendiger Zusammenhänge ein Widerspruch in sich ist, gehört zum Wesen des wirklichen Schaffens, daß der geschaffene Gegenstand wirklich so ist, wie ich ihn geschaffen habe, während bei Kant der Gegenstand eben bloß ›Erscheinung‹ ist, das heißt ein von einem Subjekt notwendig so gedachter, aber nicht an sich seiender Gegenstand.« SEIFERT [1976], 180. S. WHITES meisterhafte Ausführung und Veranschaulichung dieses Punktes [1992], 298f.
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Kapitel 9
gelangt, als danach, daß die geliebte mit der liebenden Person vereint sei«, oder »Sittlichkeit setzt Freiheit voraus«1201 müssen in KANTS Augen ohne jede sachlich-objektive Relevanz sein, denn sie lassen sich nicht zu den Bedingungen der Ermöglichung der sinnlichen Einzelerkenntnis zählen. Man muß sich in diesem Zusammenhang stets gegenwärtig halten, daß dem Menschen nach KANT, der Erfahrung auf Erfahrung im Sinn der Realkonstatierung und Induktion reduziert, nur Sensibilia gegeben sein können. Intelligibilia hingegen vermögen sich dem Verstand niemals von außen zu erschließen. KANT erkennt die notwendige Wahrheit und damit die Apriorizität dieser Urteile also vorbehaltlos an. Weil diese Urteile aber keine Rolle bei der Ermöglichung sinnlicher Einzelerfahrung spielen können, kann ihre Apriorizität in KANTS Augen nur analytischer Natur sein. Ihre notwendige Wahrheit kann also nur im entfalteten Begriffsinhalt der Liebe bzw. Sittlichkeit gründen, nicht aber in der Liebe als Liebe oder der Sittlichkeit als Sittlichkeit und damit in den Dingen oder Sachen, wie sie an sich sein müssen.1202 Wenn, wie WENISCH betont, die Einsicht die fundamentale und zentrale Methode der Philosophie ist, dann ist deren Formalobjekt oder spezifischer Gegenstand der zentrale Gegenstand der Philosophie. Im Unterschied zu den objektiven, aber kontingenten Sachverhalten empirischer Urteile zeichnet die objektiven Sachverhalte der material-apriorischen Urteile der Philosophie eine strenge intrinseke Notwendigkeit aus, d.h. es müssen sich
1201
1202
»[...] also ist ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei. Wenn also Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so folgt die Sittlichkeit samt ihrem Prinzip durchaus durch bloße Zergliederung ihres Begriffs.« GMS, 72. Auch wenn KANT etwa betont, daß Erfahrung im Sinne der Induktion unmöglich auf strenge Allgemeinheit führen kann, dann läßt sich das mit der transzendentalen Wende nicht vereinbaren. Denn dies Urteil hat nichts zu tun mit der Ermöglichung sinnlicher Einzelerfahrung. Auch ist die Entität »Induktion« nirgends sinnlich gegeben. Das Urteil bringt eine Wesenseinsicht zum Ausdruck. Es sagt, wie sich die Induktion »an sich« (als Induktion) verhält. Damit bringt auch dieses Urteil KANTS eine Erkenntnisart zum Ausdruck, deren Unmöglichkeit die gesamte KrV eigentlich dartun will. »Erfahrung gibt niemals ihren Urteilen wahre oder strenge, sondern nur angenommene und komparative Allgemeinheit (durch Induktion), so daß es eigentlich heißen muß: soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme.« KrV, B3f.
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die in Frage stehenden »Sachen« bzw. Sachverhalte als solche so verhalten, und »they could not possibly be otherwise«. »[…] insight is the most fundamental method of philosophy […]. […] there is a relationship between method and object (in the sense of the formal object) such that a given object determines which method is appropriate for arriving at knowledge of this object. Thus, if insight is designated as the most fundmental method of philosophy, the formal object corresponding to insight (i.e. the formal object for an investigation of which insight is the appropriate method) has to be considered as constituting the center of objects to be investigated by philosophy. This formal object is characterized by necessity. […] This necessity is, as much as the state of affairs of which it is predicated, an aspect of the world of objects. Thus, it is an objective necessity or a necessity de re. Hence, inasmuch as philosophical knowledge is to be expressed in propositions, the center of objects to be investigated by philosophy is constituted by necessary states of affairs.«1203
Angesichts der Frage, wie es denn überhaupt möglich sei, das notwendige Wahrheit-sein-Müssen bestimmter Urteile zu erkennen, kann es, wie WENISCH treffend hervorhebt, nur eine Antwort geben: »The question ›How is insight possible?‹ (or: ›How is it possible to recognize universal propositions as true such that it is self evident that they could not possibly be false?‹) is answered by pointing out the necessity of the state of affairs constituting the formal object of such propositions.«1204
Objektiv »necessary state of affairs are«, wie WENISCH sich weiter pointiert ausdrückt, »the ›condition of the possibility‹ of insight« und »philosophy is mainly an investigation of necessary states of affairs (grounded in essences) by means of insight.«1205 HILDEBRAND schreibt dazu: »Die Philosophie befaßt sich [...] fast ausschließlich mit apriorischer Erkenntnis [d.h. mit Erkenntnis, die unabhängig ist von Erfahrung im Sinne der Realkonstatierung und Induktion, Anm. d. Verf.]. Sie zielt auf ein Erkennen im Sinne des lichten Durchdringens des Objektes von innen her ab, wie es nur bei Gehalten mit intuitiv erfaßbaren, lichthaft 1203 1204 1205
WENISCH [1988], 108. WENISCH [1988], 108f. WENISCH [1988], 109.
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Kapitel 9 intelligiblen Wesenheiten möglich ist. Die ureigene Domäne der Philosophie ist daher dieses Eindringen in notwendige Wesenheiten und die Erkenntnis wesensnotwendiger, absolut gewisser Sachverhalte.«1206
REINACH spricht in diesem Zusammenhang vom notwendigen »So-seinMüssen«, und »ein dem Wesen nach nicht Anders-sein-können« als von dem »Wichtigsten in der Philosophie [...]«1207 und bringt damit seinerseits den zentralen und eigentlichen Gegenstand philosophischer Forschung, der nicht durch »Erfahrung« im Sinne der Induktion erreicht werden kann, in den Blick. Die zentrale philosophische Wirklichkeit, bzw. die Wirklichkeit, um welche es der philosophischen Forschung zentral geht, ist unendlich mannigfaltig und daher unabsehbar reich und vielfältig. Synthetische Urteile a priori kann es unendlich viele geben, da die Anzahl höchst intelligibler wesensnotwendiger Sachverhalte virtuell unendlich ist. Es ist auch nicht etwa nur einer oder einigen philosophische Disziplinen wie 1206
1207
HILDEBRAND [1973], 129. »Wir verstehen unter dem Gegebenen nicht die Beobachtung vieler akzidenteller, zufälliger Tatsachen: das Gegebene in unserem Sinne ist weder die Erfahrung, die ein Forschungsreisender macht, noch die eines Naturwissenschaftlers, der seine Induktionen mit Experimenten einleitet, noch jene Erfahrung, die etwa ein Francis Bacon verficht [Der auch für Kant der einzige Begriff von Erfahrung ist, Anm. d. Verf.].« HILDEBRAND [o.J.], 16. »[...] Das ›Gegebene‹, das wir im Auge haben und jeglichen Theorien, Hypothesen und Interpretationen entgegenstellen, ist immer eine notwendige, intelligible Entität, der allein echte Gegenstand der Philosophie: das Sein, die Wahrheit, die Erkenntnis, Raum, Zeit, Person, Gerechtigkeit, Wert, Zahl, Liebe, Wille und vieles andere. Es ist das Objekt, das eine notwendige, höchst intelligible Wesenheit besitzt; das sich selbst unserem Geist aufdrängt, sich enthüllt und als gültig erweist, wenn wir es in geistiger Intuition in den Blick nehmen.« HILDEBRAND [o.J.], 16. Die philosophische Erforschung dieser höchst intelligiblen, notwendigen data erschöpft sich keineswegs in einer bloßen Beschreibung, sondern zielt auf die Einsicht in notwendige Sachverhalte, die im Wesen des gegebenen Seienden gründen. Sie strebt nach einer absolut gewissen Einsicht in diese notwendigen Sachverhalte, eine Einsicht, die ein Schritt für Schritt tieferes Eindringen in das Wesen dieses Seienden einschließt.« HILDEBRAND [o.J.], 16ff. »Die Methode philosophischer Erkenntnis, ist also weder Realkonstatierung und Induktion, noch Deduktion aus Axiomen und schon gar nicht spontane Anwendung von Begriffen, sondern Intuition im Sinne der Wesenseinsicht.« SEIFERT [1976], 188. REINACH [1989], 543.
Kritik an Heideggers Sach-Verhalts- bzw. Seinsbegriff
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etwa der Ontologie und der Logik vorbehalten, wesensnotwendige Sachverhalte zu entdecken. Vielmehr gibt es auch wesensnotwendige Sachverhalte von spezifisch ethischer, kosmologischer, naturtheologischer, ästhetischer, anthropologischer und freilich auch epistemologischer Natur usw., so daß sich dem philosophisch interessierten Geist schier unbegrenzte Forschungsmöglichkeiten auftun. Es ist von entscheidender Bedeutung, deutlich zu sehen, daß nicht nur die obersten ontologischen und logischen Prinzipien, wie etwa das ontologische und logische Widerspruchsprinzip und die entsprechenden ontologischen und logischen Gesetzlichkeiten vom ausgeschlossenen Dritten »ohne Mittelbegriffe« erkannt werden, wie man im Mittelalter zu sagen pflegte. Der Sachverhalt, daß das Wesen der Person dem Wesen des Teil-seins entgegensteht oder der Sachverhalt, daß sich die Liebe im Fall eines Konflikts zwischen der intentio unionis und der intentio benevolentiae dafür entscheidet, der letzteren zu folgen oder der Sachverhalt, daß ein Imperativ auf die Verwirklichung eines Sachverhaltes abzielt, daß sich die Akte des Zweifels und des Wissens u.a. ausschließlich auf Sachverhalte beziehen können, etc. sind nicht weniger notwendig und nicht weniger intelligibel und daher nicht weniger einsichtig wie die obersten logischen und ontologischen Prinzipien. Darauf macht auch SEIFERT aufmerksam, wenn er schreibt: »Es sind nicht mehr nur zwölf [angeblich] von [jeder] der Erfahrung unabhängige Kategorien, wie Kant meinte, die notwendige Wesenheiten besitzen, sondern neben Raum und Zeit und zahllosen geometrischen Objekten auch die Sphäre des Erkennens und seiner Arten, die Sinneswahrnehmung und ihre Arten sowie die Wesenheiten der Objekte der verschiedenen Sinne. Es gibt ein objektives Wesensapriori der Farben, der Töne, sogar der Gerüche und Geschmacksqualitäten. Es gibt notwendige Wesensgesetze des Schönen und seiner Arten und Träger, des literarischen Kunstwerks, der Kunst, der moralischen Tugenden und Akte, des Zweifels, des Fragens, des Wollens, der Freiheit, der Liebe, des Lebens und des Todes; auf allen Gebieten gibt es eine unerschöpfliche Welt solcher notwendiger Wesenheiten und Wesenszusammenhänge, so daß nicht nur die Mathematik, sondern auch die Philosophie endlos zu forschen haben, um sie alle zu entdecken.«1208
1208
SEIFERT [1998], 36. S. auch HILDEBRAND [1976], 119.
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Kapitel 9
Ferner ist zu sehen, daß jeder notwendige und intelligible Sachverhalt gerade infolge seiner Notwendigkeit und Intelligibilität prinzipiell als solcher von philosophischem Interesse ist. Auf jeden dieser Sachverhalte muß die Philosophie zunächst und grundsätzlich um seiner selbst willen ausgerichtet sein. Zu sagen, daß irgendein notwendiger Sachverhalt keine andere philosophische Bedeutung habe, als die Grundlage für Schlußfolgerungen auf den Bestand anderer Sachverhalte zu sein, käme einer wesenswidrigen Selbstknechtung der Philosophie gleich. Alle bislang gemachten Ausführungen stellen insofern die vielleicht schärfste transzendente Kritik am HEIDEGGERSCHEN Sach-Verhaltsbegriff dar, als gerade HEIDEGGERS Sein unbeschadet allen beschworenen Reichtums und aller Fülle de facto auf eine totale Verarmung derjenigen Wirklichkeit führt, die in seinen Augen für einen echten Denker als solche von Interesse sein könnte. Denn der einzige Gegenstand, der es wert ist, immer und immer wieder bedacht zu werden, ist in HEIDEGGERS Augen der eine und einzige »Sach-Verhalt«: das »Sein« oder die »ontologische Differenz«. Und HEIDEGGER bleibt sich insofern treu, als er im wesentlichen in allen möglichen verschiedenen sprachlichen »Kostümen« (GIVSAN) nicht nur unbeabsichtigt ein und dasselbe sagt, sondern auch gar nichts anderes will, als immer wieder dasselbe zu sagen und dies auch selbst betont, wie oben gezeigt wurde. Man kann daher sagen, daß HEIDEGGER immer wieder anders über nichts anderes spricht. Und wie könnte dies auch anders sein, da in HEIDEGGERS Augen ohnehin kein Seiendes etwas ernsthaft und authentisch anderes sein kann als das Sein selbst!1209 1209
Selbst dort, wo sich HEIDEGGER der Interpetation anderer Denker oder Dichter zuwendet, wie etwa NIETZSCHE und HÖLDERLIN, wird immer wieder deutlich, daß es nicht bei der Interpretation im strengen Sinn des Wortes bleibt. Vielmehr macht HEIDEGGER die betrachteten Denker bzw. deren Denken zu einem Vehikel, auf dem er sein eigenes Sein transportieren kann. Auch hier bleibt er sich insofern treu, als sein Seinsbegriff ja zu einer Konfundierung der historischen und der systematischen Ebene führt. D.h., das Sein ist in HEIDEGGERS Augen nichts anderes als Selbstverlassenheit und diese ist nichts anderes als die gesamte bisherige Geschichte des Seienden einschließlich der philosophischen Denkgeschichte. In HEIDEGGERS Begriff der Seinsgeschichte bzw. der Seinsverlassenheit muß nun nolens volens alles eingepaßt werden, was sich in der Geschichte zugetragen hat. Was nicht paßt, wird passend gemacht, denn das »Gedachte eines Denkers läßt sich nur so verwinden. [sic] daß das Ungedachte in seinem Gedachten auf seine anfängliche Wahrheit zurückverlegt wird.« WD,
Kritik an Heideggers Sach-Verhalts- bzw. Seinsbegriff
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Der Sachverhalt z.B., daß die Gerechtigkeit darin besteht, jedem das Seine zuzuteilen, gründet für HEIDEGGER nicht in der Gerechtigkeit als solcher, und schon gar nicht gründet er mit überzeitlicher Notwendigkeit im Sosein der Gerechtigkeit als solcher. Vielmehr kann dieser Sachverhalt einzig und allein im »Sein« gründen, welches der »Gerechtigkeit« überhaupt erst ein Wesen gewährt, indem es sich mal in Gorgias und Nietzsches Willen zur Macht und mal darin performiert, in Abraham und Salomon jedem das Seine zuzuweisen. Die Gerechtigkeit von Gnaden des Seins ist aber in HEIDEGGERS Augen weder ausschließlich das eine noch das andere, schon gar nicht mit überzeitlicher Notwendigkeit. Deshalb kann auch der Sachverhalt, daß die Gerechtigkeit darin besteht, jedem das Seine zuzuteilen, als solcher für HEIDEGGER nicht von Interesse sein. Wenn irgendein gesonderter Sachverhalt notwendig zu sein scheint, dann kann diese Notwendigkeit für HEIDEGGER unmöglich in diesem gesonderten Sachverhalt als solchem gründen und daher auch entsprechend unzurückführbar sein. Die scheinbare Notwendigkeit des Sachverhaltes ist nichts anderes als die Weise, wie sich das Sein zeitweilig als dieser Sachverhalt und dessen Notwendigkeit artikuliert. Daß die Gerechtigkeit darin besteht, jedem das Seine zuzuweisen, liegt nicht am Sachverhalt, der als solcher notwendig ist, sondern am zeitweiligen Seins-Sach-Verhalt, an dem allein »alles ›ist‹ liegt«, auch das So-sein-Müssen des in bezug auf die Gerechtigkeit bestehenden Sachverhaltes und das allen notwendigen Soseins und Daseins. 23f./GA 8, 57. Paradebeispiele für die Gewalt, welche HEIDEGGER immer wieder gewissen philosophischen Konzeptionen antut, sind naturgemäß überall dort zu finden, wo HEIDEGGER sich von bestimmten Denkern wie etwa HEGEL abzusetzen sucht. Denn der Denker, der für HEIDEGGERS Denken wesentlich Pate steht, ist HEGEL. Aber HEGEL muß HEIDEGGERS Seinsverständnis gemäß in die Seinsverlassenheit eingepaßt werden. So kommt es, daß HEIDEGGER die Verschiedenheit zwischen sich und HEGEL in einer Weise betont, daß der Eindruck entsteht, er unterscheide sich von HEGEL auch dort, wo es zwischen beiden keine wesentlichen Unterschiede gibt. Es kann hier nicht näher auf das an sich bedeutsame Kapitel der »Seelenverwandtschaft« zwischen HEGELS und HEIDEGGERS Denken eingegangen werden. Da HEIDEGGERS Tod nun mehr als dreißig Jahre zurückliegt, fallen allerdings auch gewisse Tabus, die jeden Versuch betreffen, die Übereinstimmung wesentlicher Inhalte zwischen HEIDEGGER einerseits und den in seinen Augen »seinsverlassenen« Denkern des deutschen Idealismus andererseits herauszustellen. Als entsprechende Lektüre sei hier IBER [2003a], 194-202 und IBER [2003b], 230-239 empfohlen.
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Kapitel 9
Wenn HEIDEGGER sich für Gerechtigkeit, Wert, Substanz, Gott, Ding an sich, Ding für uns, Essenz und Existenz, Gut und Böse interessiert, dann nur insofern sie nichts anderes sind als das eine »Sein selbst«, und HEIDEGGER den Sach-Verhalt des All-Einen an allen Seienden, insbesondere an allen Philosophemen zu »exemplifizieren« sucht. Damit will HEIDEGGER nichts von der authentischen und insbesondere philosophischen Mannigfaltigkeit wissen. Konsequentermaßen will er auch nichts davon wissen, daß all diese philosophischen Sachverhalte danach verlangen, als solche entdeckt und betrachtet zu werden. »Das alltägliche Meinen sucht das Wahre im Vielerlei des immer Neuen, das vor ihm ausgestreut wird. Es sieht nicht den stillen Glanz (das Gold) des Geheimnisses, das im Einfachen der Lichtung immerwährend scheint.«1210 »Das Sein ist das, was aus seinem Wesen her einzig dieses Wesen zu denken gibt. [Kursiv v. Verf.]. Daß Es, das Sein zu denken gibt, und zwar nicht bisweilen und nach irgendeiner Hinsicht, sondern stets und nach jeder Hinsicht, weil wesenhaft, daß Es, das Sein, das Denken seinem Wesen übergibt, – dies ist ein Zug [ein Vollzug] des Seins selbst.«1211 »Jeder Denker denkt nur einen einzigen Gedanken. […] Der jeweils einzige Gedanke eines Denkers aber ist solches, worum sich unversehen und unbemerkt in der stillsten Stille alles Seiende dreht. Denker sind die Gründer von jenem, was bildhaft nie anschaulich wird, was historisch nie erzählt und technisch nie berechnet werden kann; was jedoch herrscht, ohne der Macht zu bedürfen.«1212 »Denken ist die Einschränkung auf einen Gedanken [die Differenz/der Sach-Verhalt], der einst wie ein Stern am Himmel der Welt stehen bleibt.«1213
In jeder Hinsicht und zu jeder Zeit, in der man überhaupt Sein begegnen kann, gibt »Es«, das Sein, »aus seinem Wesen her einzig dieses Wesen zu denken«. Das gilt insbesondere auch für das menschliche Denken als Denken selbst, welches mitsamt dem gesamten Menschen allein dem Sach1210 1211 1212 1213
VA, 273./GA 7, 288. Vgl. VAIL [1972], 112. N II, 372./GA 6.2, 336. N I, 475./GA 6.1, 427. GA 13, 76.
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Verhalt des Seins »gehört« bzw. Autoperformationsmoment dieses SachVerhalts ist. Dieser Sach-Verhalt ist in HEIDEGGERS Augen das einzig Denkwürdige, da es ja außer diesem Sach-Verhalt nichts gibt. Die Metaphysik steht vor diesem Sach-Verhalt als dem »ihr vorenthaltenen und doch vorgehaltenen Schatz ihres eigenen Reichtums.«1214 Das heißt gerade auch, daß selbst die »Metaphysik« aus dem Denken nur eines Gedankens besteht, freilich ohne daß die seinsvergessenen Philosophen dies eigens bemerken würden. Denn da das Sein nichts anderes ist als Verlassenheit seiner selbst, denkt gerade auch in der gesamten Seinsverlassenheit die eine Sache [Sein] nur einen einzigen Gedanken, insofern das Sein nur sich selbst denken kann, da außer diesem absoluten Singular nichts anderes ist! Das einzige Sein ist der »unversehene« und »unbemerkte« einzige Gedanke eines jeden Denkers, da dieser Denker, dessen Denken und das Gedachte nichts anderes ist als das Denken des Seins um sich selbst. Das Denken der Denker um das Sein ist denmach auch dann das Denken des Seins um sich selbst, wenn das Sein vergessen wird, denn das Sein ist Vergessenheit bzw. Verlassenheit seiner selbst. Die vielen oft sich widersprechenden Überzeugungen der Philosophen der Geschichte sind als solche für HEIDEGGER nicht von Interesse. D.h. er hält es für töricht, diese Positionen auf ihre Wahrheit hin zu überprüfen und etwa die falschen zu widerlegen. »Alles Widerlegen« »ist töricht«, denn »ein Denker läßt sich niemals dadurch überwinden, daß man ihn widerlegt und eine Widerlegungsliteratur um ihn aufstapelt. Das Gedachte eines Denkers läßt sich nur […] verwinden […].«1215
Die Wahrheit und Falschheit der Positionen hängt nicht einzig und allein von deren Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ab. Die Wahrheit oder Falschheit von Urteilen liegt nicht an den Urteilen bzw. deren Übereinstimmung und Nichtübereinstimmung mit den behaupteten Sachverhalten. Ihre Wahrheit und Falschheit soll vielmehr die »Wahrheit« des »Seins selbst« sein, weil diese Wahrheit nicht »eitel« Unverborgenheit und nicht »eitel« Ereignis ist.1216 1214 1215 1216
Hum, 24./GA 9, 332. WD, 23./GA 8, 57. »Das Ereignis ist nicht eitel Ereignis.« MARTEN [2003], 331, 2.
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Kapitel 9
Dies nennt HEIDEGGER das »reichste« und »weiteste« Ereignis, obwohl durch diesen vermeintlichen Reichtum die vom wahren Denker zu betrachtende Wirklichkeit auf den einen und einzigen Singular des Seins zusammenschrumpft. Was hier geschieht ist, daß die virtuelle unendliche Mannigfaltigkeit der völlig verschiedenen Gegebenheiten von zentralem philosophischen Interesse überhaupt nicht mehr gesehen wird, weil unausgesetzt an den Dingen als solchen vorbei auf ihr vermeintliches »eigentliches« Sein, welches bei ihnen allen dasselbe sein soll, geschaut wird. Und selbst dieses Sein muß angeblich von aller Wesensnotwendigkeit frei gehalten werden, da es völlig in seiner Prozessualität aufgehen soll. Vielleicht muß in HEIDEGGERS Verunmöglichung jeder Ethik und jedes kategorischen Sollens-Anspruchs als eine der schrecklichsten Folgen seiner Ontologie gesehen werden, denn auch das Gute und das Böse sind für HEIDEGGER konsequentermaßen nichts anderes als das Sein selbst, welches nicht nur »Wahrheit« und »Unwahrheit«, sondern auch das »Gute« und das »Böse« zugleich ist. Auch hier, im ethischen Bereich gilt, daß es authentisch ethische Fehler und Mängel nicht gibt noch geben kann. »[…] Das Böse ist nicht das bloß [!] moralisch Schlechte, überhaupt nicht ein Fehler und Mangel im Seienden, sondern das Sein selbst als Unfug und Tücke.«1217 »Dikh, aus dem Sein als Anwesen gedacht, ist der fugend-fügende Fug. Adikia, die Un-fuge, ist der Un-fug. Nötig bleibt nur, daß wir dieses groß geschriebene Wort auch aus seiner vollen Sprachkraft groß denken.«1218
Im Hinblick auf HEIDEGGERS Desinteresse an jeder authentischen Ethik schreibt THIEL: »Die maßgeblichen […] Tugenden der philosophisch-metaphysischen Tradition waren […] die Liebe und die Gerechtigkeit. Fragt man bei Heidegger nach der Liebe, kann man nur eine völlige Defizienz feststellen. Es ist erstaunlich, mit welchem Geschick sich Heidegger bei interpretativer Beschäftigung mit der philosophischen Tradition um deren ethische Leitprinzipien herummogelte. Aber sein Seins-Andenken wollte
1217 1218
GA 52, 102. Hw, 357/329./GA 5, 357.
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entschiedenerweise nicht Ethik sein. Damit dispensiert er sich von beiden, von der Liebe und von der Gerechtigkeit.«1219
Im ethischen Feld muß die Verarmung der Wirklichkeit und des um das notwendige Sosein in seiner ganzen wahrhaften Mannigfaltigkeit bemühten Denkens gravierendste Folgen zeitigen. Denn da z.B. einem Sachverhalt wie, daß eine Person niemals als reines Mittel zum Zweck gebraucht werden darf, durch die Prozessualität des Seins alle in ihm selbst ruhende philosophisch-ethische Bedeutung entzogen ist, ist ihm auch jedes in ihm selbst gründende Befolgt-werden-Sollen entzogen.
1219
THIEL [1977], 459.
SCHLUßWORT Menschliches »Wissen ist Stückwerk«, wie PAULUS im ersten Brief an die Korinther (13,9) treffend sagt, und dies bedeutet auch, daß in dieser Arbeit viele interessante Themen unberücksichtigt bleiben mußten. Beispielsweise ist es dringend nötig, daß unabhängig von ideologischer Voreingenommenheit und unbeeindruckt von HEIDEGGERSCHER Rhetorik ein eingehender Vergleich zwischen HEIDEGGERS und HEGELS Denken vorgenommen wird. Ein derartiger Vergleich dürfte HEIDEGGERS vermeintliche Originaliät allerdings erheblich in Frage stellen.1220 Der Unterschied zwischen HEIDEGGER und HEGEL ist weit unwesentlicher, als HEIDEGGER den Leser zuweilen glauben machen möchte. Denn HEIDEGGER denkt HEGELS wesentlichen Gedanken: Die »Identität der Identität und Nichtidentität« und damit verbunden die totale Prozessualität des Seins. Freilich bezeichnet HEIDEGGER seinen absoluten Singular, das »Sein selbst«, nicht als »Begriff«, »Substanz«, »Subjekt«, »Weltgeist« oder »Gott«, schon gar nicht als christlichen Gott. Aber nur weil HEGEL sein absolut singulares Absolutum »Gott« nennt, hat man es nicht schon mit Gott zu tun. Die verschiedenen Namen, welche beide Denker dem von ihnen gedachten Absolutum zusprechen, dürfen nicht über die gemeinsame Sache hinwegtäuschen.1221 Ein absolut univok verstandenes Sein, dessen »Univozität« darin bestehen soll, »Äquivozität« zu sein und umgekehrt. Im Hinblick auf Sachverhalte tut sich ein philosophischer Forschungsbereich auf, dessen Grenzen kaum abzusehen sind. Diese Feststellung betrifft nicht nur die wesensnotwendigen Sachverhalte nicht-mathematischer Natur, die den zentralen Gegenstand der Philosophie ausmachen. Vielmehr ist die systematische Erforschung des Soseins und Daseins von Sachverhalten überhaupt und die Herausstellung ihrer entscheidenden Bedeutung für fundamentale philosophische Probleme ein vergleichsweise junges Unterfangen. Eine der bedeutendsten philosophischen Aufgaben der 1220 1221
S. dazu die Bemerkung von LANDOLT in Fußn. 234. SAFRANSKI zitiert HEIDEGGER und kommentiert anschließend folgendermaßen: »›Hier wird nicht beschrieben und nicht erklärt; hier ist das Sagen nicht im Gegenüber zu dem zu Sagenden, sondern ist dieses selbst als die Wesung des Seyns (GA 65, 4).‹ In Heidegger redet das Seyn wie vormals in Hegel der Weltgeist. Ein kühner Anspruch, so unverhüllt äußert er ihn nur in diesen sekretierten Aufzeichnungen.« SAFRANSKI [2001], 346.
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Schlußwort
Zukunft dürfte in der weiteren philosophischen Erforschung der Sachverhalte bestehen. Ich darf an dieser Stelle Seiner Magnifizenz Herrn Prof. Dr. Josef Seifert nicht nur für seine Tätigkeit als Zweitleser danken. Die von ihm gegründete Hochschule eröffnete mir den Raum für das Kennenlernen der realistischen Phänomenologie in der Tradition der Göttinger-Münchner Schule, in welcher die Untersuchung des Soseins und Daseins von Sachverhalten eine bedeutende Rolle spielt. Ob ich Sachverhalten als eminent bedeutsamer philosophischer Gegenständlichkeit in derselben Intensität anderweitig hätte begegnen können, scheint mir durchaus fraglich zu sein. Schließlich darf ich Prof. Seifert insbesondere dafür danken, daß er die Veröffentlichung dieser Dissertation in der Reihe Realistische Phänomenologie beim Ontos-Verlag vorgeschlagen und gefördert hat.
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NAMENSVERZEICHNIS ABAELARD 16, 186, 187 ABRAHAM 553 ALKER 152
BRETSCHNEIDER
77, 84, 107, 123, 136,
137, 140, 141, 142, 144, 167 CAJTHAML 279, 350, 351, 360, 425, 426,
ANAXIMANDER 32, 99, 117
427, 428, 430, 431, 432, 433, 434, 435,
ANGEHRN 50, 106, 125, 126, 154, 157, 159,
436, 437, 439, 440, 441, 442, 443, 444,
160 ARISTOTELES 15, 31, 58, 59, 100, 110, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185,
445, 446, 447, 452, 453, 456, 457, 459, 460, 462, 463, 467, 476, 477, 478, 515, 516, 536, 537, 544, 545
189, 221, 288, 310, 326, 352, 368, 384,
CASATI 335
541, 542
CHATTON 188, 189, 191, 193, 195
ARMSTRONG 28, 268, 338, 414, 415, 416, 417 AUGSBERG 36, 94, 121, 122, 124, 125, 126, 129, 131, 137, 152, 168
CHISHOLM 17, 28, 242, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 268, 332, 340, 353, 410, 411, 412, 413, 418, 580
AUGUSTINUS 27, 346, 347, 349, 487, 542
CONRAD-MARTIUS 288, 302, 511, 542
AUNE 340
CRATHORN 16, 188
AURÉLIEN 188
CRITCHLEY 13
AYER 13
DAUBERT 17, 239, 240, 241
BALKE 40
DAVID 28, 291, 340, 414
BEALL 378, 409
DE RIJK 185
BECK 475
DEMMERLING 13
BERGMANN 17, 204, 206, 207, 208, 209,
DESCARTES 38, 105, 429, 542
210, 211
ELIE 26, 200, 201, 202, 204
BOCHEŃSKI 451, 495
FRÄNTZKI 142, 143
BOHRMANN 66, 119, 124
FREGE 207, 274
BONAVENTURA 8, 16, 186, 187, 288, 487,
GÁL 16, 188, 189, 191, 200, 201, 202, 204
542
GIVSAN 53, 168, 529, 530, 552
BÖSL 51, 60, 81, 96
GORGIAS 335, 553
BRANDL 260, 262, 263, 265, 266, 267, 269
GREGOR
BRENTANO 214, 215, 221, 223, 224, 226, 234, 242, 245, 439
VON
RIMINI 8, 16, 26, 175, 188,
199, 200, 201, 202, 203, 204
580
Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich
GROSSMANN 268, 275, 285, 286, 289, 301, 364, 484, 485
476, 481, 482, 483, 484, 492, 493, 494, 495, 496, 497, 498, 499, 500, 503, 504,
GUEST 154
505, 506, 507, 508, 509, 510, 511, 512,
HABBEL 187, 229, 230, 231, 232, 233, 301,
514, 515, 542, 543, 544, 545, 549, 551
302, 324, 356, 357
HOLCOT 16
HAEFFNER 138, 152, 165
HÖLDERLIN 552
HEGEL 110, 111, 119, 130, 134, 159, 392,
HORWICH 286
400, 401, 525, 552, 557 HEIDEGGER 7, 11, 12, 13, 15, 22, 23, 24, 25, 26, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39,
HUSSERL 7, 17, 64, 209, 215, 236, 237, 238, 239, 241, 261, 279, 295, 301, 432, 450, 451, 467, 473, 489, 537, 542
40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 48, 49, 50, 51,
IBER 553
52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62,
INGARDEN 28, 339, 351, 366, 385, 386,
63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73,
387, 388, 389, 390, 391, 392, 393, 394,
74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81, 82, 83, 84,
395, 396, 398, 400, 401, 402, 403, 404,
85,86, 87, 88, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 96,
405, 406, 407, 408, 409, 410
97, 98, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 106,
INWOOD 13, 53
107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114,
JAHRAUS 26, 38, 39, 67, 69, 80, 84, 105,
116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123,
109, 110, 111, 127, 128, 130, 131, 140,
124, 125, 126, 128, 129, 130, 131, 132,
141, 144, 158, 159, 160
133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141,
KANT 7, 21, 453, 467, 468, 469, 470, 472,
142, 144, 145,146, 147, 148, 149, 150,
474, 475, 476, 477, 478, 543, 545, 546,
151, 152, 153, 154, 155, 157, 158, 159,
547, 548, 549, 551
160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167,
KRAML 366, 393
168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175,
KUTSCHERA 289, 290
176, 437, 515, 516, 517, 518, 519, 520,
LANDOLT 39, 76, 81, 106, 107, 110, 119,
521, 522, 526, 528, 529, 530, 531, 532,
127, 128, 143, 145, 146, 149, 150, 163,
533, 534, 535, 536, 537, 538, 552, 553,
164, 165, 557
554, 555, 556, 557 HENGSTENBERG 295, 324, 370, 414, 415
LENZ 16, 188, 189, 190, 193, 194, 197, 200, 204
HERAKLIT 81, 83, 85, 100, 136
LOTZE 16, 206, 207
HILDEBRAND 20, 30, 298, 300, 426, 438,
MARTEN 14, 536, 556
443, 452, 454, 455, 457, 458, 459, 460,
MARTIN 16, 304, 336
462, 467, 469, 470, 471, 472, 473, 474,
Namensverzeichnis
581
MARTY 17, 207, 215, 221, 222, 223, 224,
REINACH 17, 20, 231, 235, 239, 242, 243,
225, 226, 227, 228, 229, 235, 274, 275,
244, 250, 270, 271, 272, 288, 297, 300,
370, 372
301, 302, 303, 305, 307, 308, 309, 310,
MARX, KARL 134
317, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 326,
MARX, WERNER 165
334, 341, 359, 360, 362, 364, 365, 367,
MAY 112
368, 370, 371, 372, 373, 374, 375, 376,
MCGRATH 274, 291, 292
379, 385, 386, 401, 432, 542, 550
MEINONG 17, 204, 215, 220, 228, 229, 230,
ROJSZCZAK 17, 206, 207, 208, 213, 214,
231, 232, 233, 234, 235, 244, 267, 270,
215, 216, 217, 218, 219, 220, 228, 229,
274, 275, 334, 346, 353, 356, 357, 358,
236, 244, 245, 255, 341
359, 360, 522
RUSSELL 8, 17, 242, 244, 245, 246, 247,
MENNE 284
248, 249, 250, 251, 252, 253, 268, 338,
MIKULIĆ 67
428, 429, 431
MÖLLER 32, 49, 50
SAFRANSKI 42, 51, 557
MORSCHER 235, 239, 338, 339, 567
SALOMON 553
MULLIGAN 207
SCHABEL 190, 200
NIETZSCHE 32, 46, 47, 52, 60, 99, 117, 552,
SCHAFFER 340
553
SCHELER 544
NUCHELMANS 297
SCHUHMANN 240, 241, 242
OCKHAM 16, 188, 189, 191, 192, 193, 195,
SCHWARZ 463
200, 201, 579 PAULUS 557 PAULUS VENETUS 201
SEIDL 54, 72, 166, 360, 521, 522, 528, 541, 542, 576 SEIFERT 20, 27, 61, 62, 63, 91, 227, 267,
PFÄNDER 20, 275, 277, 279, 280, 283, 284,
268, 270, 271, 272, 282, 287, 290, 292,
285, 288, 289, 291, 296, 297, 301, 303,
293, 294, 296, 298, 305, 306, 310, 313,
305, 324, 364, 365, 377, 380, 381, 382,
314, 315, 316, 317, 318, 319, 325, 329,
467, 469, 473, 542
330, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 344,
PLANTINGA 285
345, 346, 348, 349, 350, 352, 354, 355,
PLATON 46, 110, 352, 524, 542
356, 359, 360, 361, 362, 363, 365, 368,
POISS 13, 71, 85, 107, 112, 175
370, 371, 373, 375, 377, 378, 399, 403,
POLT 535
425, 426, 428, 429, 430, 431, 433, 436,
PYTHAGORAS 282
439, 440, 443, 444, 445, 446, 448, 453,
REGAL 325
454, 456, 457, 459, 460, 462, 464, 465,
582
Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich
466, 467, 468, 469, 470, 471, 473, 474,
VENDLER 28, 312, 353, 417, 418, 419, 420
479, 480, 481, 484, 485, 486, 487, 488,
VOLKMANN-SCHLUCK 67, 68, 150, 151
489, 490, 499, 500, 501, 502, 503, 506,
VORLAUFER 85
508, 509, 510, 511, 512, 513, 514, 515,
WEIDEMANN 16, 186, 187, 188, 189, 190,
523, 524, 525, 526, 540, 544, 545, 547,
191, 192, 194, 195, 196, 197, 198, 199,
550, 551, 558
200, 201, 202, 203
SEUBOLD 59, 160 SIMONS 16, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 246, 247, 256, 257, 312, 313, 340, 348, 364, 365 SINN 69, 113
WEISCHEDEL 31, 32, 33, 35, 43, 44, 45, 49, 51, 52, 59, 65, 66, 77, 78, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 102, 105, 120 WENISCH, BERNHARD 450 WENISCH, FRITZ 19, 20, 239, 274, 275,
SMITH 16, 17, 187, 204, 205, 206, 207, 208,
276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283,
209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216,
284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 297,
217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224,
298, 324, 327, 364, 365, 429, 437, 438,
225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 235,
439, 441, 442, 443, 446, 447, 448, 449,
236, 237, 238, 239, 240, 241, 242, 243,
450, 451, 452, 454, 467, 469, 470, 471,
244, 245, 253, 255, 298, 328, 330, 341,
472, 491, 492, 493, 494, 495, 496, 497,
351, 360, 387, 388, 396, 397, 398
498, 504, 539, 542, 543, 544, 548, 549,
SOKRATES 179, 183, 186, 190, 263, 335, 351, 352, 353, 371
570 WETZ 31, 36, 82, 83
STEINER 81, 82
WETZEL 356, 417
SÜßBAUER 233, 420, 421, 422, 423, 424
WHITE 454, 467, 469, 470, 471, 472, 475,
TACHAU 16, 190, 191, 192, 194, 199, 200, 201, 202 TEXTOR 312, 353, 418, 579 THIEL 556, 557 THOMÄ 13, 155
499, 502, 503, 505, 506, 508, 509, 510, 511, 512, 513, 514, 515, 544, 545, 546 WITTGENSTEINS 8, 18, 214, 256, 257, 260, 268, 294 WODEHAM 16, 26, 175, 188, 189, 190, 191,
THOMAS VON AQUIN 16, 186, 187, 542
192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199,
TRAWNY 31, 91, 121, 138, 563
200, 201, 202, 288
TWARDOWSKI 17, 214, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 228 VAIL 97, 554 VAN DER SCHAAR 264, 265, 269
WOLENSKI 9, 234 ZABOROWSKI 51, 60, 81, 96 ZIMMERMANN 265, 282