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German Pages 252 Year 2014
Paul Sörensen, Nikolai Münch (Hg.) Politische Theorie und das Denken Heideggers
Edition Moderne Postmoderne
Paul Sörensen, Nikolai Münch (Hg.)
Politische Theorie und das Denken Heideggers
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Paul Sörensen und Nikolai Münch Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2389-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung Heidegger und das politische Denken
Nikolai Münch/Paul Sörensen | 7
I. MOTIVE Zwischen Gleichschaltung und robustem Pluralismus Volten des »Mitseins«
Florian Grosser | 21 Subjektivität ohne Souveränität? Politisches Denken im Ausgang von Heideggers Freiheitsbegriff(en)
Meike Siegfried | 43 Heideggers ›liebender Streit‹ Ein Modell der Anerkennung?
Tatjana Noemi Tömmel | 61 Heideggers politische Ästhetik Geschichtliche Grenzsituationen im »Ursprung des Kunstwerkes«
Tilman Reitz | 81 »Die eigentliche Würde des Menschen ist noch nicht erfahren.« Heideggers Kritik an der Kantischen Würdekonzeption
Oliver Bruns | 105
II. PERSPEKTIVEN Politisches Denken im Ausgang von der »Man-Analyse« in Sein und Zeit?
Ole Meinefeld | 133 Treffen Heideggers Einwände gegen die Demokratie zu?
Tilo Wesche | 153
Linksheideggerianismus?
Oliver Flügel-Martinsen | 175 Heidegger, Sprache und Ökologie
Charles Taylor | 191 Trauer und Menschlichkeit Korrespondenzen zwischen Butlers Politik der Verletzbarkeit und der Daseinsanalyse Heideggers
Anna Hollendung | 225 Autorinnen und Autoren | 247
Einleitung Heidegger und das politische Denken N IKOLAI M ÜNCH /P AUL S ÖRENSEN
H EIDEGGER
UND DAS
P OLITISCHE :
EIN
P ROBLEMAUFRISS
Der Versuch, das Denken Martin Heideggers mit politischer Theorie oder Philosophie in Beziehung zu setzen, sieht sich sicherlich mit Problemen konfrontiert. Während sein konkretes politisches Engagement für den Nationalsozialismus im Umfeld seiner Zeit als Rektor der Universität Freiburg keinen Raum für ambivalente Deutungen zulässt, scheint dies nicht zwangsläufig für mögliche Beziehungen seiner Philosophie oder Teilen von ihr zur politischen Theorie zu gelten.1 Dieses letztere Verhältnis scheint schwieriger zu charakterisieren und ambivalenter gefasst zu sein. Zwar schrieb Heidegger im Jahre 1950 an Hannah Arendt, er sei »im Politischen […] weder bewandert noch begabt« (Arendt/Heidegger 1998: 95); aber hier gilt es zu beachten, dass es sich dabei lediglich um eine Selbstpositionierung handelt und vielleicht auch nur um den mehr oder minder unbeholfenen Versuch einer Selbstapologie angesichts des unsäglichen politischen Engagements im nationalsozialistischen Deutschland. Ferner ist es sicherlich richtig, »dass Martin Heidegger die Ausarbeitung einer politischen Philosophie oder Theorie nie im Sinn gehabt hat« (Grosser 2011: 27; vgl. auch Pöggeler 1974: 15 f.).2 Gleichwohl wäre es jedoch verkürzend, deshalb von vorneherein 1
Zumindest wenn man nicht wie Victor Farías (1990) oder Emmanuel Faye (2009) die Philosophie Heideggers als allein vom NS-Engagements her verständlich deutet und sie daher als in Gänze vom Nationalsozialismus durchtränkt betrachtet.
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Man könnte auch umfassender davon sprechen, dass »Heidegger selbst […] niemals versucht [hat], eine praktische Philosophie zu entwickeln« (Gethman-Seifert/Pöggeler
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einen politischen Gehalt im Denkens Heideggers auszuschließen oder ihn allein in seinem praktischen Einsatz für die nationalsozialistische Bewegung zu sehen. Auch wenn Heidegger keine politischen Fragen im engeren Sinne verhandelt hat, an der möglichen politischen Dimension seiner Philosophie weitestgehend uninteressiert war oder sie allenfalls als philosophische Unterfütterung des Nationalsozialismus positionierte, schließt dies nicht aus, dass sein Denken für den Bereich des Politischen relevante Inhalte besitzt. Das mag auf den ersten Blick paradox wirken, ist aber auf den zweiten Blick wenig überraschend, wenn man sich die – zumindest intendierte – Tragweite der philosophischen Überlegungen Heideggers vor Augen führt. Von dieser Perspektive aus wäre es eher frappant, wenn jemand wie Heidegger, der sich mit dem Ziel der »Destruktion« (Heidegger 2006: 22) an den Grundmotiven und -strukturen der gesamten abendländischen Philosophiegeschichte abgearbeitet hat, keine Relevanz für eine politische Philosophie besäße, die immer auch von dieser Tradition zehrt. Einige skizzenhafte Andeutungen mögen dies verdeutlichen. Wenn auch umstritten ist, inwiefern die eigene Absetzung gelang, so kann und muss Heidegger als einer der vehementesten Kritiker einer Cartesischen Erkenntnistheorie gelten (vgl. z.B. Heidegger 2006: 89 ff.). Während das Cartesische Modell zu Annahmen wie der Differenzierung zwischen erkennenden Subjekten und Objekten und zu einem repräsentationalistischen Bild von menschlichem Geist und Weltbezug führt, stellt Heidegger dem sein »In-der-Welt-sein« entgegen. Damit rückt die praktische Ebene des alltäglichen Weltumgangs in den Vordergrund. Dieser »Vorrang der Praxis« (Guignon 2003: 461) führt auch zu einem komplexeren Verständnis davon, wie sich der Mensch zum Seienden verhält (vgl. Thomä 1997: 529) und lenkt den Blick auf die grundlegende Verfassung des Individuums und seines Verhältnisses zur Welt. Das ist unter anderem insofern politisch relevant, als damit nicht nur bestimmte Handlungstheorien, sondern auch eine in weiten Teilen der modernen politischen Theoriebildung vertretene Konzeption des »punktförmigen Selbst« (Charles Taylor) grundlegend in Zweifel gezogen werden. Mit besagtem Selbst- und Weltverhältnis verknüpft und ohne Zweifel auch politisch aufschlussreich ist zudem die Frage, wie sich dieses ›weltliche‹ Individuum im Spannungsfeld zwischen autonomer Instanz einerseits und umfassender sozialer Einbindung andererseits verorten lässt. Mit
1988: 7) und insofern neben einer politischen Philosophie auch keine Ethik explizit im Blick hatte. Nichtsdestotrotz lassen sich auch ethische Dimensionen seines Denkens finden und explizieren (vgl. dazu exemplarisch mit weiteren Literaturhinweisen Aurenque 2011).
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den Konzepten von »Mitsein« und »Mitwelt« finden sich bei Heidegger (2006: 118) zumindest Ansätze dahingehender Überlegungen. Begreift man dieses Inder-Welt-sein mit Heidegger zudem als durch und durch geschichtlich, kommen nicht nur die Grundstrukturen des Selbst- und Weltverhältnisses in den Blick, sondern auch die Weise, wie diese jeweils historisch realisiert wurden (vgl. Gander 2001: §1). So finden sich in Heideggers Beschreibungen des »Man« und der »Öffentlichkeit« Ansatzpunkte einer Kulturkritik der (demokratischen) Moderne (vgl. Thomä 1997: 529) und auch die spätere Seinsgeschichte und Technikphilosophie birgt politisches Potenzial ähnlicher Stoßrichtung, insofern sie die Konsequenzen des rein instrumentellen Denkens und seiner Eigendynamik zu erklären versucht. Inwiefern eine solche hermeneutische Aufklärung unseres historischen Selbstverständnisses politisch relevant sein kann, haben in der Nachfolge Heideggers etwa auch Michel Foucault (2012) oder Charles Taylor (1996) gezeigt. Um diese angedeuteten politischen Inhalte auszuloten scheint es sinnvoll, im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Heideggers Denken und dem Politischen bzw. der politischen Theorie heuristisch-analytisch drei Betrachtungs- bzw. Untersuchungsebenen zu unterscheiden: a) eine persönliche Ebene, b) eine systematische-materiale Ebene sowie c) die Ebene der Adaption. a) Zur ersten, persönlichen Ebene der Verbindung von Heidegger und dem Politischen ist fraglos seine Verwicklung in die nationalsozialistische Terrorherrschaft zu zählen. Ob Heidegger nun tatsächlich den Führer führen oder erziehen wollte, wie es von Karl Jaspers kolportiert wurde (vgl. dazu Pöggeler 1985: 27 und Jaspers 1978: 183), kann nach wie vor als umstritten gelten. Unbestreitbar ist hingegen, dass Heidegger bereits am 3. Mai 1933 in die NSDAP eintrat und dieses Engagement seinen traurigen Höhepunkt in der Antrittsrede als Rektor der Universität Freiburg vom 27. Mai desselben Jahres fand (vgl. Heidegger 1990). Entgegen der oben zitierten Distanzierung von der Politik und deren Reflexion schreibt Heidegger im August 1933 zudem, seine »philosophische Arbeit [müsse] nun ruhen und sich im ›Praktischen‹ bewähren« (Häberlin/Binswanger 1997: 381). Wenngleich Heidegger bereits 1934 vom Amt des Rektors zurücktrat, so blieb er doch bis Ende des Zweiten Weltkrieges Mitglied der NSPAD und bezog bis zu seinem Tod nicht explizit Stellung zu seinem Engagement. Diese Verstrickungen in die praktische Politik erfuhren im akademischen ebenso wie im außerakademischen Diskurs stets große Aufmerksamkeit, sie waren und sind Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und zum Teil heftig geführter Deutungskämpfe (vgl. dazu als Überblick Thomä 2003a sowie Denker/Zaborowski 2009). Die hier vertretenen Positionen reichen von einer ri-
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gorosen Separierung des persönlichen politischen Engagements Heideggers von seiner Philosophie (exemplarisch Rorty 1989: 186) bis hin zu einer behaupteten Deckungsgleichheit von NS-Engagement und Philosophie (Farías 1989; Faye 2009). Je nach Positionierung haben diese Einschätzungen auch Konsequenzen für die Frage nach einem erneuten Zugriff auf Heideggers Denken: Vertritt man letztere Position, so hat sich die Frage nach der Fruchtbarkeit einer zeitgemäßen politiktheoretischen Anknüpfung weitestgehend erledigt. Alle anderen in diesem Spektrum vertretenen Positionen bieten jedoch – mal mehr, mal weniger – Raum für eine reaktualisierende Auseinandersetzung mit Heideggers Denken von Seiten der politischen Theorie. b) Insofern geht es in der zweiten, systematisch-materialen Ebene um die Herauspräparierung eines politischen Denkens (Grosser) im Werk Martin Heideggers. Derartige Zugänge zu Heideggers Werk basieren auf der Vermutung, dass sich zahlreiche seiner Begrifflichkeiten und Denkfiguren auch als Kategorien einer politischen Philosophie lesen lassen können beziehungsweise als Begriffe politisierbar sind. In der bundesrepublikanischen, dezidiert politiktheoretischen beziehungsweise -philosophischen Diskussion kann in diesem Kontext exemplarisch auf Alexander Schwans (1988) Studie Politische Philosophie im Denken Heideggers verwiesen werden, die auf seine bei Arnold Bergstraesser eingereichte Dissertationsschrift aus dem Jahre 1959 zurückgeht. In jüngerer Zeit sticht in dieser Hinsicht zudem Florian Grossers groß angelegte Schrift Revolution denken. Heidegger und das Politische: 1919 – 1969 heraus. Grosser nimmt dabei einerseits eine strukturelle Politisierbarkeit des heideggerschen Denkens an, und geht andererseits der Vermutung nach, dass sich »[u]nter den diversen Schichten der Bedeutung, aus welchen die Konzepte und Denkfiguren Heideggers gebildet werden, immer auch eine politische Schicht [findet]; eine politische Schicht, die gelegentlich tiefer, gelegentlich weniger tief unter der Oberfläche liegt und die auf manchen Abschnitten des Denkweges stärker, auf anderen weniger stark philosophisch überlagert ist; eine Schicht, die gelegentlich sogar soweit die Hegemonie über ursprünglich philosophische Konzepte erlangt, dass sie diese als ganze ausrichtet« (Grosser 2011: 42 f.).
c) Auf der dritten – mit der zweiten in der einen oder anderen Weise stets in Zusammenhang stehenden – Ebene sind diejenigen Ansätze und Konzeptionen der politischen Theorie (aber auch der Nachbardisziplinen wie etwa Sozialphilosophie und Soziologie) zu situieren, die sich im Anschluss an beziehungsweise in Transformation oder Abgrenzung von Heidegger entwickeln. Die Wirkkraft des heideggerschen Denkens auf nachfolgende Generationen von Denkerinnen und
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Denkern des Politischen – ob nun explizit gemacht oder nicht – ist unzweifelhaft und kaum zu unterschätzen. Hannah Arendt etwa, die – von seinem NaziEngagement schockiert und enttäuscht – Heidegger in ihrem zuerst 1946 veröffentlichten Essay Was ist Existenzphilosophie? (Arendt 1990) noch einer vehementen Kritik unterzieht, vermerkt kurz nach Veröffentlichung ihres Werkes Vita activa im Jahre 1958 (Arendt 2008) in einem Brief an diesen, dass das Werk ihm »in jeder Hinsicht so ziemlich alles« (Arendt/Heidegger 1998: 149) schulde. Augenfällig, wenn auch ambivalent, ist das Verhältnis zwischen Heidegger und der Frankfurter Schule. So wettert Theodor Adorno (1964) zwar gegen den Jargon der Eigentlichkeit, aber »Verwandtschaften« (McCarthy 1992: 280) zu Heideggers Denken sind wohl nicht von der Hand zu weisen – trotz der zwischen beiden bestehenden »philosophischen Kommunikationsverweigerung« (vgl. Mörchen 1981). Bei Herbert Marcuse – dessen Denken wiederholt als heideggermarxistisch bezeichnet wurde – finden sich gesellschaftstheoretische Überlegungen, die explizite und durchaus wohlwollende Anleihen bei Heidegger machen (vgl. z.B. Marcuse 1978; siehe zum Heidegger-Marxismus auch Demmerling 2003) und auch Jürgen Habermas (1970) bezog sich in jungen Jahren positiv auf das Denken Heideggers3. Zudem sind in jüngerer Zeit in Schriften von Autorinnen und Autoren, die sich selbst im Traditionszusammenhang der Kritischen Theorie verorten, Bezüge auf und Adaptionen von heideggerschen Denkfiguren zu finden (vgl. z.B. Honneth 2005; Jaeggi 2005; Rosa 2012). Sind damit für den deutschen Sprachraum auch nur einige Verbindungen von Heideggers Philosophie und den nachfolgenden Perioden des Nachdenkens über das Politische angedeutet, so stellt sich die Sachlage in außerdeutschen Diskurslandschaften der politischen Philosophie nochmals ganz anders dar. Im anglo-amerikanischen Kontext fanden heideggersche Denkfiguren spätestens seit den 1970er Jahren verstärkt Eingang in sozialtheoretische Diskussionen und den Bereich der praktischen respektive politischen Philosophie (vgl. etwa Wolin 1992; Taylor 1993; Rorty 1991; Kompridis 2006). Dies gilt in ganz eigener Art und Weise auch für die ›französische‹ politische Philosophie und Soziologie. Zu nennen wären etwa Pierre Bourdieus (1976) Schrift über Die politische Ontologie Martin Heideggers und die – von Oliver Marchart (2010) jüngst unter dem Label Linksheideggerianismus versammelten – Denker_innen einer politischen Differenz, wie etwa Jean-Luc Nancy, Cornelius Castoriadis, Alain Badiou, Giorgio Agamben oder Ernesto Laclau und Chantal Mouffe. Auch Michel Foucault, nun schon seit ge-
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Vgl. dazu auch die diesbezüglichen Selbstaussagen von Habermas in Dews (1986: 77; 194).
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raumer Zeit einer der prominentesten Stichwortgeber der politischen Philosophie, streicht in einem kurz vor seinem Tod geführten Interview die herausragende Bedeutung Heideggers heraus, dessen Einfluss auf sein Werk er mit dem Nietzsches vergleicht: »Heidegger ist stets für mich der wesentliche Philosoph gewesen. […] Mein ganzes philosophisches Werden war durch meine Lektüre Heideggers bestimmt. […] [I]ch habe niemals etwas über Heidegger geschrieben, und über Nietzsche habe ich nur einen ganz kleinen Artikel geschrieben; dennoch sind dies die beiden Autoren, die ich am meisten gelesen habe. Ich glaube, dass es wichtig ist, eine kleine Anzahl von Autoren zu haben, mit denen man denkt, mit denen man arbeitet, aber über die man nicht schreibt.« (Foucault 2005: 867 f.)
Wenngleich also zahlreiche Verbindungslinien zwischen dem Denken Heideggers und politischer Theoriebildung bzw. politischer Philosophie bestehen und mitunter auch Versuche unternommen wurden, politische Gehalte in Heideggers Überlegungen freizulegen, so bleiben diese Zusammenhänge insbesondere (und fraglos historisch bedingt) im deutschsprachigen Diskurs bemerkenswert unterbelichtet. Mit dem vorliegenden Band soll der Versuch unternommen werden, dieses Verhältnis eingehender zu untersuchen. Es geht dabei mithin um die Frage, ob und (gegebenenfalls) inwiefern in systematischer Hinsicht von Seiten der politischen Theorie an das heideggersche Denken angeknüpft werden kann. Ausgelotet und erkundet wird dabei nicht zuletzt, welche Bedeutung Heidegger für die gegenwärtige politische Philosophie hat oder haben könnte. Heideggers Philosophie wird dahingehend zu befragen sein, ob sie zur Klärung zeitgenössischer Fragen und Probleme der politischen Philosophie oder zu einer Neufassung politischer Grundkategorien beizutragen vermag. Dabei soll nicht eine rein immanent-verdoppelnde Herangehensweise an die Schriften Heideggers gewählt, sondern diese einer externen, kritisch-produktiven Lektüre unterzogen werden. Geprüft werden soll, ob und inwiefern die politische Theorie und Philosophie mit, gegen und über Heidegger hinaus zu einer gehaltvolleren Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstandsbereich – den vielfältigen Facetten des menschlichen Miteinander – gelangen kann. Alle drei oben skizzierten Analyseebenen durchziehen den Band. Wenngleich die zweite und dritte Ebene sicherlich im Vordergrund stehen und die
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Vgl. dazu die von Albrecht Wellmer (1995) im Anschluss an Derrida unterbreitete Unterscheidung zweier Arten des Verstehens von Texten.
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Gliederung vorgeben, so finden sich immer wieder Rückbeziehungen auf die erste Ebene – alles andere wäre überraschend und auch nicht wünschenswert. Keinesfalls darf, kann und sollte aus einer Analyse philosophischer Überlegungen die Absolution des in die NS-Politik verstrickten Heideggers der 1930er-Jahre resultieren. Geht es im ersten Teil des Bandes darum, zentralen Fragen und Motiven der politischen Philosophie und Theorie in Heideggers Denken nachzuspüren (I.), so wurden in den zweiten Teil Untersuchungen aufgenommen, die sich im weitesten Sinne einer Politischen Philosophie und Theorie nach Heidegger widmen – freilich ohne ihn dabei beiseitegelegt zu haben (II.).
D IE B EITRÄGE
IM
Ü BERBLICK
Den Anfang macht der Beitrag Florian Grossers. Grosser greift dort die losen Enden seiner Heidegger-Monographie auf und zeigt im Ausgang von dessen Gemeinschaftsbegrifflichkeit, inwiefern diese – in Abgrenzung von liberalen und kommunitaristischen Verengungen – Anregungen für eine zeitgemäße, sich einem robusten Pluralismus verpflichtet wissende, politische Philosophie zu bieten vermag. Im Mittelpunkt von Meike Siegfrieds Untersuchung steht hingegen Heideggers Freiheitsbegriff, dessen interne Vielschichtigkeit sie mit Nachdruck betont. Ausgehend von Sein und Zeit legt Siegfried drei Weisen der Rezeption von Heideggers Freiheitsbegriff frei – eine politische, eine ethische und eine ontologische – um abschließend dessen Potenzial für aktuelle politiktheoretische Fragestellungen auszuloten. Heideggers Konzeption des Mitseins wurde von zahlreichen Kritikern vorgeworfen, sie biete keinen Raum für menschliche Phänomene wie Freundschaft und Liebe. Tatjana Noemi Tömmel zeigt auf, dass Heidegger ein Modell der Liebe besaß, das am Begriff des polemos festgemacht werden kann, ein Begriff, der auch in Zusammenhang des »Urstreits« von Erde und Welt auftaucht. Das im Ausgang davon rekonstruierte Konzept eines ›liebenden Streits‹ wird anschließend daraufhin abgeklopft, ob und wie weit es für eine Theorie intersubjektiver Anerkennung tauglich ist. Der heideggersche Streit von Erde und Welt spielt auch im Beitrag von Tilman Reitz eine zentrale Rolle, hier allerdings mit Blick auf Heideggers politische Ästhetik. In Heideggers Kunstwerkaufsatz ist ein Verständnis von Kunst anzutreffen, das zwischen den gängigen Alternativen eines selbstzweckhaften, selbstgenügsamen l'art por l'art und rein auf die kulturelle Funktion von Kunst zugeschnittenen Modellen steht. Es wird gezeigt, dass sich mit Heidegger ver-
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stehen lässt, wie Kunst politisch wird. Gleichzeitig wird aber deutlich, welche politischen Gefahren ein solches Kunstverständnis birgt, was mit einem Seitenblick auf Walter Benjamin verdeutlich wird, der Heideggers Motiv der Versammlung das Motiv der Zerstreuung entgegenhält. Der erste Teil wird beschlossen durch Oliver Bruns, der sich kritisch mit gängigen Konzepten der Menschenwürde auseinandersetzt und aufzeigt, inwiefern diese dem eigenen Anspruch, auf post-metaphysischer Basis zu ruhen nicht gerecht werden können. Demgegenüber arbeitet Bruns heraus, dass nach Heidegger die Erfahrung der Würde an das menschliche Verhältnis zum Sein geknüpft ist. Dieses grundlegende Konzept von Würde wird anschließend konkretisiert anhand von Heideggers Technikphilosophie und seinen Hinweisen auf die Leiblichkeit des Menschen. Den Auftakt zum zweiten Teil, der nach Perspektiven des politischen Denkens nach Heidegger fragt, macht der Artikel von Ole Meinefeld. Ausgehend von der Man-Analyse in Sein und Zeit werden hier die Möglichkeiten des politischen Denkens im Anschluss an Heidegger aufgezeigt. Unter exemplarischen Rekurs auf Hannah Arendt wird dabei eine kritische Aneignung und dezidiert politische Transformation der heideggerschen Begrifflichkeit nachvollzogen. Tilo Wesche stellt anschließend die Frage, was man aus Heideggers Einwänden gegen die Demokratie lernen kann, auch wenn man sie letzten Endes als unzutreffend ausweisen kann. Kerngedanke dabei ist, dass politische Deliberation rationalisierende Effekte nur erzielen kann, wenn der Einfluss verzerrter Überzeugungen möglichst minimiert werden kann. Solche verzerrten Überzeugungen lassen sich mit Heideggers Begriff der »Selbsttäuschungen« greifbar machen. Auch wenn Heideggers Diagnose, Demokratien könnten diesen Selbsttäuschungen nicht Herr werden, entkräftet wird, lässt sich so durch Heidegger ex negativo unser Demokratieverständnis bereichern. Im Mittelpunkt des Beitrags von Oliver Flügel-Martinsen steht die kritische Auseinandersetzung mit der schon oben erwähnten Studie von Oliver Marchart (2010). Marcharts Begriff des »Linksheideggerianismus« stellt darauf ab, dass die für die bezeichneten Theoretiker wichtige Differenz zwischen der Politik und dem Politischen parallel zu Heideggers ontologischer Differenz zu lesen sei. Dagegen wendet Flügel-Martinsen ein, dass ein solcher Rekurs auf Heidegger nicht notwendig und am Ende sogar kontraproduktiv sei: Der politische Streit werde ontologisch überhöht, die eigene gründungsskeptische Position dadurch untergraben. Verdeutlichen lassen sich die Probleme dieser Form der HeideggerRezeption zudem bei Chantal Mouffe. Was bei Marchart nur als Tendenz aufscheint endet hier in einer vollständigen konflikttheoretischen Substantialisierung von Politik.
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Im hier erstmals auf Deutsch veröffentlichten Aufsatz verortet Charles Taylors, der sich selbst als post-heideggerianischer Hermeneutiker versteht (vgl. Taylor 1985: 3), Heidegger in der von Herder ausgehenden Tradition der konstitutiv-expressivistischen Sprachentheorien und versucht zu zeigen, inwiefern Heideggers Denken im Sinne einer tiefenökologischen Deutung drängende Fragen zeitgenössischer Gesellschaften erfassbarer machen könnte. Abschließend fragt Anna Hollendung in ihrem Beitrag nach möglichen Analogien zwischen Heideggers Philosophie und dem politischen Denken Judith Butlers. Beide dekonstruieren (quasi-)metaphysische Subjektkonstruktionen, die ein souveränes Selbst vor jeglichen Weltbezug setzen. Hollendung zeigt innerhalb dieser gemeinsamen Stoßrichtung zudem Parallelen auf, die sich zwischen Heideggers »Gerede« und Butler Theorie der Performanz ergeben und untersucht, inwiefern Butlers Politik der Verletzbarkeit auf die heideggersche »Ekstase« zurückgreift – ohne allerdings die verschiedenen Schwerpunktsetzungen und Blickrichtungen zu verwischen. Am Ende des Bandes kann sicherlich keine abschließende Einordnung Heideggers stehen – eine Aufgabe, die der Band aber auch gar nicht zu erfüllen beansprucht. Wir hoffen jedoch, dass die vorliegenden Beiträge helfen das Potenzial auszuloten, das Heideggers Denken in Form vielfältiger Stimuli für eine zeitgenössische politische Philosophie und Theorie liefern kann.
D ANKSAGUNG Für die im Folgenden umrissene Kartographierung heideggerscher Elemente einer politischen Theorie haben wir in allererster Linie den Autorinnen und Autoren des Bandes zu danken. Im Rahmen der Veröffentlichung dieses Sammelbandes haben wir ferner einigen Personen und Institutionen zu danken, ohne die dieses Projekt nicht hätte realisiert werden können. An erster Stelle sind hier das Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung der Universität Jena, insbesondere Katharina Held und Andreas Klinger sowie die am gleichen Ort angesiedelte DFGKollegforscher_innengruppe Postwachstumsgesellschaften und hier allen voran Hartmut Rosa zu nennen. Das Forschungszentrum und die Kollegforscher_innengruppe haben es uns finanziell ermöglicht, im Mai 2012 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine Tagung zu den hier behandelten Fragestellungen zu veranstalten. Über die finanziellen Angelegenheiten hinaus, in denen uns auch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der FSU Jena unter-
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stützte, war insbesondere Katharina Helds organisatorische Hilfe und Weitsicht von unschätzbarem Wert. Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen in Teilen auf besagte Tagung zurück, andere wurden im Nachhinein und in Reaktion auf dortige sowie aktuelle Forschungsdiskussionen geschrieben. Eine Ausnahme stellt dabei wie bereits angesprochen der Aufsatz Charles Taylor dar: Diesbezüglich haben wir Wiley-Blackwell Publications für die freundliche Überlassung der Rechte zu danken und einmal mehr Hartmut Rosa, der uns in diesem Vorhaben ermutigt und unterstützt hat, wodurch Übersetzung und Wiederabdruck überhaupt erst möglich wurden. Bei Lena Kroll, Johanna Koehn und Ulf Bohmann bedanken wir uns herzlich für ihre große Unterstützung bei der Übersetzung. Jena und Augsburg im Mai 2013
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I. Motive
Zwischen Gleichschaltung und robustem Pluralismus Volten des »Mitseins« F LORIAN G ROSSER
I.
»M ITSEIN « UND »M ITDASEIN « – H EIDEGGERS B EGRIFF ( E ) VON G EMEINSCHAFT
Der verbreiteten Annahme zum Trotz, dem Denken Martin Heideggers fehle jegliche sozial-, geschweige denn politikphilosophische Dimension, soll im Folgenden dessen Verständnis von Gemeinschaft im Mittelpunkt stehen, wie es sich in den Überlegungen zu »Mitsein« und »Mitdasein« ausspricht. Ohne die Möglichkeit eines auch sozial- und politikphilosophisch ergiebigen Anknüpfens an das Heidegger’sche Werk von vornherein ausschließen zu wollen, sind einige der maßgeblichen Stationen abzugehen, an denen Sozialität für Heidegger in unterschiedlichen Schaffensphasen und, wie zu zeigen sein wird, in ganz unterschiedlicher Art und Weise thematisch wird. Leitend ist dabei die Frage, ob, welche und wie weit reichende Möglichkeiten bestehen, Heideggers Ausführungen zu »Mitsein« und »Mitdasein« für relevante politik- und sozialtheoretische Diskurse der Gegenwart fruchtbar zu machen; ob und an welchen Stellen sich in diesen Ausführungen also bspw. Optionen auftun, Sozialität jenseits der bzw. in Ergänzung zu vorherrschenden liberalen und kommunitaristischen Paradigmen zu denken. Dabei sind es die folgenden Stationen, an welchen der Gang durch das Denken Heideggers, ein Durchgang mit Fluchtpunkt »Mitsein«, Halt machen wird: Zuerst – mit Blick auf die Begriffe der »Fürsorge« und der »eigentlichen Geschichtlichkeit« – Sein und Zeit; danach – unter besonderer Beachtung der Figuren von »Führenden und Folgenden« sowie von »Schaffenden und Bewahren-
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den« – verschiedene mehr oder weniger stark politisierte Texte der mittleren 1930er Jahre; und schließlich – mit Akzent auf das Konzept des »Dinges« – die Bremer Vorträge und weitere späte Arbeiten Heideggers. Da es im Zusammenhang dieser Themenstellung geboten scheint, wird es zudem einen kurzen Einschub, eine Zwischenbemerkung geben, die knapp Fragen aufgreift, die Heidegger unter den Namen des »Sichversetzens« und des »Mitgehens« in den Grundbegriffen der Metaphysik verhandelt. Abschließend soll das bis dahin zu den Volten des »Mitseins« Gesagte zusammengefasst und zudem darauf eingegangen werden, welcher Haltung im Umgang mit Heidegger es bedarf, um als politischer Philosoph und Theoretiker tatsächlich mit Gewinn auf dessen Gemeinschaftsdenken – jedenfalls auf einige sorgfältig ausgewählte Versatzstücke desselben – zurückgreifen zu können.
II. »F ÜRSORGE « UND »V OLK « – U NTER - UND Ü BERBESTIMMUNGEN VON G EMEINSCHAFT S EIN UND Z EIT
IN
Um die überschaubare Bedeutung zu erahnen, die Sozialität für den Heidegger von Sein und Zeit hat, genügt es, sich die Abweichungen in Umfang und Tiefe seiner Überlegungen zu »Mitsein« bzw. »Mitdasein« im Vergleich zu denjenigen zu »Zuhandenheit« und »Vorhandenheit« zu vergegenwärtigen. Betrachten wir dennoch näher, in welcher Form Heidegger sich der Frage der Sozialität widmet: Qua Existenzial des »Mitseins« wird darauf verwiesen, dass das »Inder-Welt-Sein« des Daseins notwendig ein geteiltes ist. Wie dem Dasein innerhalb dieser Welt Seiendes, das nicht von seiner Seinsart ist, als Zu- oder Vorhandenes begegnet, so begegnet ihm Seiendes von seiner Seinsart eben als »Mitdasein«. Das geteilte »In-Sein in derselben Welt« (Heidegger 2001: 123) erweist sich dabei insofern als konstitutiv für diese, als sämtliche Zuschreibungen von Bedeutsamkeit an das Seiende sozial emergieren. »Welt« wird damit nach Heidegger also nicht ohne den Beitrag des »Mitseins« zu einer sinnhaften Orientierungs- und Bezugsgröße für je einzelnes Dasein. Dabei erschöpft sich das »Mitsein« jedoch nicht darin, dass Dasein mit seinesgleichen eine Verstehensgemeinschaft bildet. Vielmehr sind darüber hinaus für ein gemeinschaftliches Dasein – ganz in Analogie zu einzelnem Dasein – auch »Mitbefindlichkeit«, d.h. geteilte Stimmung, und »Mitteilung«, d.h. geteilte Rede, wesentlich für dessen Seinsweise. Wie im »Mitverstehen« drückt sich »Mitsein« auch in der »Mitbefindlichkeit« in unausgesprochener Weise aus, beides sind Varianten stillschweigend praktizierten »Mitseins«. Im »Mitteilen« hingegen wird das »Mitsein« »›aus-
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drücklich‹ geteilt« (ebd.: 126; Herv. i. O.). Die skizzierte Verstehens-, Befindlichkeits- und Redegemeinschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sich deren Mitglieder gegenseitig als »Welt« konstituierende, da den »Eigenen« angehörige Andere anerkennen (siehe dazu: Brandom 2007: 214 ff.). Weitgehend ungeklärt bleibt dabei freilich die Frage nach den Grenzen einer geteilten, einer immer schon als gemeinschaftlich gegebenen Welt1 sowie nach den Kriterien für die Zugehörigkeit einzelnen Daseins zu einer solchen. Jenseits vereinzelter Hinweise, so z.B. zur »gegendhaften Hingehörigkeit« oder zur »Ent-fernung«, lässt Heidegger somit offen, worauf genau diese Anerkennung beruht. Heideggers zumindest angedeutete Konzeption einer gemeinschaftlich geteilten »Mitwelt« und darin situierten Daseins steht in Kontrast zu dem seiner Ansicht nach gängigen, rein »summativen« Verständnis des Verhältnisses von Individuum zu Kollektiv, demzufolge Andere »als freischwebende Subjekte vorhanden sind neben anderen Dingen« (Heidegger 2001: 123). Beziehungslos nebeneinander existierenden, selbstgenügsamen, sich primär über ihr Inneres definierenden Individuen, die in der Summe zwar Gesellschaften, nicht aber Gemeinschaften formen, fehlen also, so legt Heidegger nahe, die Voraussetzungen für erfüllte »Mithaftigkeit«, für bedeutsame Zusammengehörigkeit einzelnen Daseins mit anderem Dasein. Dies Verkennen und Verfehlen des »mithaften« Zuges der Existenz gilt ihm als ein entscheidender Aspekt modernen Weltverlustes. Außer Frage steht jedoch, dass sein Begriff von Gemeinschaft im Rahmen von Sein und Zeit Kontur wesentlich aus der Abgrenzung gegen das »Man« gewinnt. Der in den Mittelpunkt gestellte Effekt der »Diktatur des Man« ist der einer strukturellen Behinderung oder gar Verstellung, der latenten Störung und Bedrohung der Möglichkeit daseinsmäßigen Selbstseins. Alltäglich als »Manselbst« existierend, verfehlt es das Dasein nach Heidegger, ein angemessenes Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln bzw. ein tatsächliches Selbst auszuprägen, da es sich ohne Reserve von den Anderen, vom anonymen »Man« in seinen Seinsmöglichkeiten beschneiden, sich also auf konventionelle Verhaltens- und Redeweisen, auf normierte Verstehens- und Reaktionsmuster festlegen lässt; auf das also, was Taylor Carman pointiert als ein »one-size-fits-all concept of personhood« (Carman 2007: 295) bezeichnet. Was lässt sich bis hierhin in Hinblick auf Heideggers Verständnis von Gemeinschaft sagen? Zum einen, dass dieses vornehmlich ex negativo, d.h. auf der Gegenfolie des »Man«, entwickelt wird; zum anderen, dass direkter, kommuni-
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Zu diesem »immer schon« von »Koexistenz« bei Heidegger, siehe: Esposito 2004: 33 und 155 ff.
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kativer, interaktiver zwischenmenschlicher Kontakt, sofern dieser überhaupt erörtert wird, von Heidegger vornehmlich unter den Vorzeichen des »Sichdrückens« (nämlich des Sich-vor-sich-selbst-Drückens) sowie der »Zerstreuung« und »Seinsentlastung« gefasst wird. Auch eine andere Denkfigur unterstreicht die Tendenz zur Unterbestimmung von Gemeinschaft: diejenige des »Mitbegegnens«. So erfolgt das Zusammentreffen von Dasein mit anderem Dasein Heidegger zufolge primär dingvermittelt, d.h. in von Zuhandenem mediierter Weise: Das Begegnen Anderer wird so allein zu einem »Mitbegegnen«, einer Begegnung derivativen Charakters. So stößt Dasein bspw. erst dank eines Feldes auf den dieses bestellenden Bauern oder dank eines Bootes »auf einen Bekannten, der damit seine Fahrten unternimmt« (Heidegger 2001: 118). Andere treten also vor allem dadurch in Bezug zur je eigenen Existenz, dass sie aus der Welt her begegnen, wobei sich der Kontakt zu diesen nicht unmittelbar, sondern nur mit Hilfe von »besorgten« Dingen ergeben kann, die damit zum eigentlichen Ort der Begegnung werden. Ganz abgesehen davon, dass bloßes Begegnen per se nicht hinreicht für das Aufgehen einer substantielleren sozialen Dimension: Erneut bleibt gerade das Moment des Kommunikativen außen vor, das für jedes gehaltvolle Konzept von Gemeinschaft, zumal von politischer Gemeinschaft, das also für erfüllte Kommunität im Unterschied zu rudimentärer Sozialität unabdingbar ist. Einzig im Phänomen der »vorausspringenden Fürsorge« lässt Heidegger durchblicken, wie eine Form menschlicher Begegnung aussehen könnte, die sich weder in defizienter noch in lediglich vermittelter Art und Weise vollzieht. Als »Fürsorge« kennzeichnet er eine Sonderform der »Sorge«, die auf anderes Dasein bezogen ist. Im Gegensatz zur »einspringenden Fürsorge«, die instrumentellen Charakters ist und dem Anderen »das, was zu besorgen ist« abnimmt und darin »entlastend« wirkt (vgl. ebd.: 122), weist die »vorausspringende Fürsorge« den Anderen gerade auf die »Sorge« als die Grundverfasstheit seiner Existenz hin. So erläutert Heidegger: »Diese [also die vorausspringende; FG] Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.« (Ebd.; Herv. i. O.)
Es handelt sich hierbei offensichtlich um das gedankliche Modell einer zwischenmenschlichen Beziehung, die sowohl sämtlichen Versuchungen des »Man« widersteht als sie auch die zuvor angesprochene Indirektheit menschlicher Begegnung überwindet. Allerdings besteht die maßgebliche Auswirkung derartig
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fürsorglichen Verhaltens darin, dass der, welchem da »Fürsorge« zuteil wird, gerade in ausgezeichneter Weise frei wird für sein Eigenes. So heißt es bei Heidegger: »Diese eigentliche Verbundenheit ermöglicht erst die rechte Sachlichkeit, die den Anderen in seiner Freiheit für ihn selbst freigibt.« (Ebd.; Herv. i. O.) Damit ist auch in der »vorausspringenden Fürsorge« die Neigung zur Isolation des je einzelnen Daseins keineswegs überwunden, die sich durch Sein und Zeit zieht; ein aus dieser »Verbundenheit« sich ergebender Raum von echter Gemeinschaftlichkeit – ein Raum zwischenmenschlichen Austauschs und konzertierten Handelns – eröffnet sich auch hierin nicht. Im Gegenteil: Derart »vorausspringend« wird vor allem der Sinn des Anderen für die radikale »Seinigkeit« seiner Existenz geschärft. Der Andere wird dazu ermahnt, seiner »Selbstheit« und der Möglichkeit »eigentlicher« Existenz gewahr zu werden, diese zu pflegen und zu praktizieren. Nur für den Fall also, dass Dasein für anderes Dasein als Selbstheits-Verstärker – oder, wie es an anderer Stelle lautet: als »Gewissen« – fungiert, kann Heidegger dies als nicht-defizitären Vollzug des »Mitseins« gelten lassen. Wenn Hannah Arendt mit Blick auf die gerade im Kontext der TodesAnalyse zentralen Begriffe der »Angst«, der »Verschwiegenheit« und der »Vereinzelung« kritisch bemerkt, Dasein sei im Heidegger’schen magnum opus grundsätzlich auf radikale »Selbstischkeit« hin angelegt (Arendt 1990: 37), so wird sie darin durch die Bemerkungen zur »vorausspringenden Fürsorge« nachdrücklich bestätigt. Wollte man ein Vorbild für die Art von Gemeinschaft angeben, die Heidegger hier skizziert, dann wäre dies wohl am ehesten die monastische Gemeinschaft, deren Angehörige einander in vergleichbarer Weise als Gewissen dienen.2 Indem es sich auf engste Grenzen der Zugehörigkeit beschränkt und überdies all dem, was bei Arendt unter speech and action gefasst wird, keinen Entfaltungsraum lässt, bleibt freilich auch dieses Modell letztlich vor- oder unter-politisch – und kommt damit als Kandidat für eine systematische Aufnahme und Weiterentwicklung durch politische Philosophie und Theorie mitnichten in Frage. In eigentümlicher Spannung zu dieser gleich mehrfachen Unterbietung einer Dimension gerade politischer Gemeinschaftlichkeit, ist Heidegger in den Reflexionen zur »eigentlichen Geschichtlichkeit« der Gemeinschaft des »Volkes« offensichtlich auf die positive Bestimmung einer solchen aus. Zwar fallen seine
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Zu einer alternativen, mit der hier vorgeschlagenen jedoch vollkommen kompatiblen Lesart dieser Spielart der »Fürsorge« von der philia her, siehe Tatjana Tömmels Beitrag in diesem Band.
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Erläuterungen kurz aus und haben nur beschränktes Eigengewicht, da sie sich lediglich aus einem Analogieschluss ergeben, der Fokus letztlich aber auf einzelnes Dasein gerichtet bleibt. Dennoch: Diese Ausführungen verdienen insofern Aufmerksamkeit, als im »Volk« zum ersten und einzigen Mal in Sein und Zeit eine Größe markiert wird, in der Sozialität und das, was Heidegger die »Ständigkeit des Selbst« nennt, miteinander harmonieren, ja sogar zusammenfallen. Entscheidendes Merkmal »eigentlich geschichtlicher« Existenz im individuellen wie im kollektiven Maßstab ist ein Unterlaufen des Primats des Aktuellen, ist also »eine Entgegenwärtigung des Heute und eine Entwöhnung von den Üblichkeiten des Man« (Heidegger 2001: 391; Herv. i. O.). Neben der »vorlaufenden Entschlossenheit« kommt dabei deren Komplement, das diese erst zur voll entfalteten »eigentlichen Geschichtlichkeit« ergänzt, besondere Bedeutung zu: der »sich überliefernden Entschlossenheit«. Dasein, das »sich überliefert«, begreift, dass es Anleitung zu authentischen Entwürfen in Haltungen finden kann, die bereits von »da-gewesenem« Dasein eingenommen oder zumindest als einnehmbar angezeigt worden sind. Im wählenden Anschließen an Gewesenes, d.h. an Wirklichkeiten und Möglichkeiten früherer Welten, »überliefert sich« das Dasein in das, was an diesem »wieder-holbar« ist und integriert es als »Erbe« in die eigene Existenz. Auffallen muss, dass in dieser Weise gelebte »eigentliche Geschichtlichkeit« in ihrer erfülltesten Form von Heidegger ausdrücklich auf überindividueller Ebene verortet wird. Seinem in Sein und Zeit latent aufscheinenden Verdacht zum Trotz, anderes, »mitdaseiendes« Dasein gefährde die Selbstständigkeit je einzelnen Daseins, legt er in Paragraph 74 dar, dass Sozialität sich unter bestimmten Voraussetzungen, den Voraussetzungen geteilter »Entschlossenheit«, sogar in »Eigentlichkeit« steigernder Weise auswirken kann. Allerdings trifft dies, wie Heidegger einschränkt, keineswegs auf jede denkbare Form von Sozialität zu, sondern eben nur auf diejenige des »Volkes«, welches er als Paradigma von Gemeinschaft ansetzt. Dieser, der Volks-Gemeinschaft ist es gegeben, im nicht-defizienten Modus des »Geschicks« und damit »eigentlicher Geschichtlichkeit« zu existieren, ohne dass dadurch die »Selbstheit« des einzelnen Daseins aufs Spiel gesetzt würde: »Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ›Generation‹«, so schließt der einschlägige Absatz, »macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus« (ebd.: 384 f.). Die überaus bedenklichen Implikate dieses Ansatzes, Gemeinschaft zu denken, gilt es im Weiteren detailliert aufzuweisen – und zwar an einer präziser ausbuchstabierten Version dieses in Sein und Zeit nur gestreiften Modells, wie sie insbesondere in den politisierten Schriften der mittleren 1930er Jahre zu finden ist. Freilich zeichnet sich ab, dass für unsere Frage nach Aufhängungspunk-
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ten, an die ein zeitgemäßes Konzept von communitas zu montieren wäre, auch hier mitnichten viel zu gewinnen ist.
III. »F ÜHREN UND F OLGEN «, »S CHAFFEN UND B EWAHREN « – Ü BERBESTIMMUNGEN VON G EMEINSCHAFT IM ZEITLICHEN U MFELD DER R EKTORATSREDE Es ist ausgerechnet diese in Paragraph 74 von Sein und Zeit ihren Ausgang nehmende Linie der »Volksgemeinschaft«, die Heidegger ab 1933 mit großer Vehemenz weiterverfolgt. Eine Gefahr, die sich bereits 1927 abgezeichnet hatte, schlägt in der Rektoratsrede, aber auch in weniger explizit politisierten Texten voll durch: Die Gefahr einer Überbestimmung von Gemeinschaft im Konzept des »volklichen« oder, wie es an anderer Stelle lautet, »völkischen Daseins« (Heidegger 2000a: 206). Ließ sich im Modell der »Fürsorge« die Unterbietung eines Denkens von Gemeinschaft beobachten, so ist beim »volklichen« Modell ein ausgeprägter Zug zur Überschreitung von Gemeinschaft im rechten Maßstab, mithin: zu Gemeinschaft unter den Vorzeichen der Gleichschaltung, nicht zu übersehen. Gerade vor dem Hintergrund der in Heideggers Denken vielfach zutage tretenden profunden Skepsis gegenüber dem, was er als das »Man«, als die »Vielen« oder als die »zucht- und richtungslose Masse« (ebd.: 204) benennt, ist dringend zu klären, worin für ihn die spezifische Differenz zwischen dem »Volk« und den übrigen, nach seinem Erachten allesamt mangelhaften Spielarten des »Mitseins« besteht; welcher besonderen Qualität dieser Einheit es also zu verdanken ist, dass ein im »volklichen« aufgehendes einzelnes Dasein nicht unter dem Verdacht der »Flucht« steht und der Bedrohung des Selbst-Verlustes nicht ausgesetzt ist. Einmal ist das »volkliche Dasein« für Heidegger dadurch bestimmt, dass ihm die Fähigkeit zu eigen ist, in authentischer Weise zeitlich zu existieren. Diesen in Sein und Zeit nur gestreiften Gedanken, arbeitet Heidegger an der begrifflichen Trias von »Erbe« (bzw. »Wiederholung«), »Arbeit« und »Auftrag« aus. Geteiltes »Erbe«, geteilte »Arbeit« sowie geteilter »Auftrag« sind es, die – als die auf die Gemeinschaft des Volkes hin zugespitzten Ekstasen der Zeitlichkeit – deren unhintergehbare Einheit gewährleisten; eine Einheit, die sich für Heidegger damit durch ein besonderes Maß an Ursprünglichkeit von allen anderen, lediglich funktional orientierten, bloß »summativen« und damit beliebigen politischen Zusammenschlüssen wie Parteien oder Gewerkschaften unterscheidet und einzigartige soziale Bindungsenergien entfaltet. Zum diese distin-
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guierenden Merkmal der »eigentlich geschichtlichen«, von Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft zusammengefügten »Volksgemeinschaft« wird damit nach Heidegger deren Nicht-Kontingenz: Aufgrund ihrer hervorragenden Eignung zur existenziellen Erfüllung der Sorgestruktur, erweist sich diese als ontologisch fundiert. Dreifach zeitlich bestimmt, dreifach »in das Gepräge der Geschichte gezwungen« (Heidegger 1990: 9) – und dadurch zu höchstmöglicher Homogenität verfügt, zeichnet sich das »Volk« dadurch aus, vor diesem Zwang bestehen und damit als »geschichtliches« existieren zu können. Die innere Zusammengehörigkeit eines zur »Selbstbehauptung« – darunter ist der Niederschlag von Selbstheit in Haltung und Handlung zu verstehen – bereiten und befähigten »volklichen Daseins« kann demnach für Heidegger unmöglich als bloßes »Sichversteifen auf einen zufälligen Zustand« (Heidegger 2003a: 35) aufgefasst werden. Das Ausmaß der Homogenisierung bzw. Gleichschaltung, die sich aus dem von Heidegger hier propagierten Gemeinschafts-Begriff ergibt, ist besonders deutlich am Konzept der »Arbeit« abzulesen. So resultiert für das »Volk« das, worauf es gegenwärtig seine »Arbeit« zu richten hat, unmittelbar aus dem »Zwang«, der sowohl von einem »ererbten« Gewesenem als auch von einem zu »übernehmenden« Zukünftigen – in Sein und Zeit angesprochen unter den Titeln der »sich überliefernden« bzw. der »vorlaufenden Entschlossenheit« – ausgeübt wird. Für das vordem in Vereinzelung, nun jedoch »volklich« verstandene Dasein, das nachhaltig durch seine Ressourcen (d.h. sein »Erbe«), besonders aber durch seine Projekte (d.h. seinen »geistigen Auftrag« umfänglicher Selbstwerdung und -behauptung) bedingt ist, stellt sich, gleichsam als Effekt, das ein, worauf augenblicklich die »Arbeit« zu richten ist: Unter dem stehend, was Heidegger als »Befehlskraft der neuen deutschen Wirklichkeit« (Heidegger 2000a: 200) bezeichnet, gilt es für alle, die dieser Gemeinschaft zugehören, einen aktiven Beitrag zum »völkischen« Verwandlungsgeschehen zu leisten, als welches Heidegger, jedenfalls im zeitlichen Umfeld seines politischen Engagements, die Machtergreifung der Nationalsozialisten interpretiert. Den Begriff der »Arbeit« verwendet Heidegger dabei, so legen es seine eng an Ernst Jünger angelehnten Überlegungen zum »Schlag« des »Arbeiters« nahe, als ein Kürzel für die der weltgeschichtlich-geistigen Situation allein angemessene Haltung des Daseins, dank derer eine »Auseinandersetzung mit dem Seienden im Ganzen« (ebd.: 205) eingegangen werden kann. Damit tritt qua »Arbeit« im Heidegger’schen Ideal »volklicher« Kollektivität ein Moment der gleichgerichteten Bewegung zu den Momenten des »Erbes« und des »Auftrags« hinzu, deren Wirkung eine massiv vereinheitlichende, die Angehörigen dieser Gemeinschaft »schicksalhaft« und alternativlos aneinander verweisende ist. Während in Sein und Zeit das kollekti-
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ve »Geschick« begrifflich vom individuellen »Schicksal« getrennt bleibt (vgl. Heidegger 2001: 382 f.), spricht Heidegger in seinen politisch ausgerichteten Reden ausdrücklich vom »Schicksal« des deutschen »Volkes« und setzt auch damit den Akzent auf restlose Zusammengehörigkeit. Der politisierte Heidegger der Jahre 1933/34 tritt somit ein für ein Modell totaler, d.h. gleichgeschaltetgleichgerichteter Gemeinschaft. Eine kurze ergänzende Bemerkung zur Einbettung dieser Ausführungen in den weiteren Kontext Heidegger’schen Denkens: Schon die Tatsache, dass der Begriff der »Arbeit« eng an denjenigen des »Kampfes« – und damit an den in seinem gesamten Denken prominenten Topos des polemos – gekoppelt wird, zeigt, dass auch dieser nicht lediglich ad hoc für den politischen Gebrauch konstruiert ist. Das philosophische Gewicht verstärkt sich zudem dadurch, dass Heidegger sein Konzept von »Arbeit« in Beziehung setzt zu dem der »Sorge«. So handelt es sich bei der »Arbeit« um eine Festlegung bzw. Verengung der »Sorge«: Lediglich durch ein bestimmtes »Sein-bei« – nämlich durch ein individuelles »Besorgen« und »Entwerfen« umfassend relativierendes, ein »mitgestaltendes« »Sein-bei« der Sache des »volklichen« Kollektivs – kann, so suggerieren es die Einlassungen Heideggers, der Sorgestruktur des Daseins in »eigentlicher« Weise entsprochen, kann diese erfüllt aus-existiert werden. »Arbeit« ist demnach eine konkretisierte, nun freilich eindeutig evaluativ konnotierte und darin modifizierte Weiterführung von »Sorge« (vgl. Grosser 2011: 118 f.). In Analogie zu dem Bemühen, seinen Freiburger Studenten darzulegen, was »wissenswürdig« ist, ist Heideggers »Ontologie der Arbeit« (Lacoue-Labarthe 1990: 154) als der Versuch zu verstehen, zu bestimmen, was im Rahmen der gewandelten politischen Verhältnisse in Deutschland als des Tuns würdig gelten muss. Doch zurück zu dem von Heidegger entwickelten Gemeinschafts-Begriff: Nachdem dieser einmal anhand des Paradigmas des »Volkes« in Grundzügen etabliert ist, nimmt Heidegger eine Binnendifferenzierung vor. Wie seine Ausführungen zu »Führung« und »Gefolgschaft« verdeutlichen, sind es klare Hierarchien, die er als unabdingbar für die Ausgestaltung echter – und das bedeutet für ihn wesentlich: in sich geordneter – Gemeinschaft erachtet. So ist es die breite Unterordnung unter eine Instanz, der der »Rang« der »Führung« zuerkannt wird, welche volksgemeinschaftliche Homogenität sowohl artikuliert als auch vertieft. In dem bereits zuvor zitierten Text mit dem Titel Der deutsche Student als Arbeiter heißt es: »In dieser Gefolgschaft nimmt der Einzelne sich nicht mehr als vereinzelten – er hat den Eigenwillen weggeben an die Mächte [das sind die so genannten »staatgestaltenden Mächte«; FG]. […] Gefolgschaft erwirkt Kameradschaft – nicht umgekehrt. […] Die Kamerad-
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schaft prägt den einzelnen über sich hinaus und schlägt ihn in das Gepräge eines ganz eigenen Schlages der Jungmannschaft.« (Heidegger 2000a: 204; Herv. i. O.)
Um nun herauszufinden, wem es rangmäßig zukommt, den vielen in Kameradschaft aufgehenden Folgenden »führend« voranzugehen, bedarf es nach Heidegger des Durchlaufens polemischer Konstellationen. Denn nur ein solches sorgt dafür, dass gleichsam natürliche, d.h. nicht lediglich »vorgestellte«, »errechnete« und also beliebige Ordnungsverhältnisse sich einstellen. Damit erweist sich der Faktor polemos innerhalb des politischen Feldes als ausschlaggebend, da auf seiner Grundlage Herrschaftsbeziehungen ausgebildet werden.3 In umcodierter Gestalt, nämlich in der Unterscheidung von »Schaffenden« und »Bewahrenden«, taucht das Begriffspaar von »Führung« und »Gefolgschaft« im Kunstwerk-Aufsatz erneut auf (vgl. Heidegger 2003a: 63 ff.). Zu einer inhaltlichen Verschiebung, die Auswirkungen auf die Anlage von Heideggers Verständnis von Gemeinschaft hätte, kommt es dabei allerdings nicht. Denn der »Wesensgegensatz« (Heidegger 1990: 18), auf den Heidegger abhebt, wird in den Überlegungen, die um den Gedanken des »Werkes« – des Kunst- wie
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Im Gegensatz zu dieser Art der Abstufung und Hierarchisierung glaubt Heidegger ein Charakteristikum von Neuzeit und Moderne darin zu erkennen, dass jeglicher Sinn für Unterschiede in »Rang« und »Stärke«, so gerade für den Vorrang künstlerisch, denkerisch oder politisch »Schaffender«, verloren gegangen ist. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung kann es nicht wundernehmen, wenn ihm die die Weimarer Demokratie prägenden – plural und egalitär überwölbten – parteipolitischen Konflikte lediglich als Ausdruck der »allgemeinen Verwirrung der Meinungen und der politischen Tendenzen«, d.h. als pseudo-polemischer Abklatsch und somit als exaktes Gegenmodell zu seiner eigenen Auffassung polemos-basierter politischer Ordnung erscheinen. Kooperative Praktiken, die auf Verhandlung, Verabredung und Ausgleich zwischen Akteuren auf Augenhöhe abzielen, muss Heidegger entsprechend verbuchen als »Geschiebe und Gemenge, wo jegliches gleichviel und gleichwenig gilt«. Umgelegt auf das Politische erweist sich das Prinzip »Rang«, dem die scharfe Trennung zwischen »Führenden« und »Folgenden« aufruht, damit als radikales Gegenkonzept zur demokratischen Wahl (zu den zitierten Stellen siehe: Heidegger 2000b: 655 bzw. 1998: 101). Dieser polemische Ansatz lässt sich, wie in Heideggers Einführung in die Metaphysik von 1935 zu beobachten ist, auch in einem schmittianischen Sinn nach außen wenden: Polemisch hat sich demnach ein »volklich« verfasstes Wir in seinem »Rang« gegen ein demgegenüber unzugehörig-feindliches Die zu behaupten (siehe dazu Heidegger 1998: 28 f.).
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auch des Staatswerkes – kreisen, nicht grundsätzlich in Frage gestellt oder gar revidiert. Ohne hier weiter auf die Einzelheiten »schaffender« Institution und »bewahrender« Aufrechterhaltung von Welt einzugehen, ist festzuhalten: Mit dem »Volk«, der zentralen Bezugsgröße des »Werks«, findet die Frage nach authentischer Kollektividentität allerspätestens hier Eingang in den Kernbereich von Heideggers philosophischem Denken. Was Heidegger zu dieser ihm zufolge erfülltesten Ausprägung, in der sich Gemeinschaft manifestieren kann, zu sagen hat, ist als Anknüpfungspunkt für eine zeitgemäße demokratische politische Theorie und Philosophie freilich denkbar ungeeignet: Überzogene Homogenität und Inklusivität sowie Statik und Eindimensionalität in der Zuschreibung politisch-sozialer Rollen und, daraus resultierend, eine eminent gefährlich antiplurale und anti-egalitäre Schlagseite verunmöglichen jede produktive Bezugnahme auch auf diese Variante des »Mitseins«-Denkens.
IV. »S ICHVERSETZEN « UND »M ITGEHEN « – E IN N EBENPFAD H EIDEGGER ’ SCHEN G EMEINSCHAFTSDENKENS Zweimal lautete der Befund bisher auf Unmöglichkeit sinnvoller und gewinnbringender Bezugnahme auf Heideggers Konzeptionen von Gemeinschaft. Daher liegt die Vermutung nahe, dass das Ungenügende und Verfehlte an diesen, dass also die defizitären bzw. beunruhigenden Modelle aus Sein und Zeit wie auch aus den Stellungnahmen im zeitlichen Umfeld seines politischen Aktivismus systematisch in Verbindung zueinander stehen müssen. Zwei Deutungsvarianten dazu, wie diese Verbindung geartet sein könnte, bieten sich an: Einmal lässt sich argumentieren, Heidegger habe gewisse Anlagen aus Sein und Zeit, so vor allem den angesprochenen Paragraphen 74, einige Jahre später in seinen Einlassungen zum »Volk« voll entwickelt. Alternativ zu dieser auf Kontinuität, auf graduelle Entfaltung, abzielenden Lesart können auch die Diskrepanzen zwischen »monastisch-fürsorglichem« und »volklich-gleichgeschaltetem« Modell betont werden. Gemäß dieser (der Tendenz nach psychologisierenden) Auslegung hat Heidegger von der Rektoratsrede über die Metaphysik-Vorlesung bis hin zum KunstwerkAufsatz, gewissermaßen in einer denkerischen Übersprungshandlung, seine allenfalls rudimentären Überlegungen zum »Mitsein«, jedenfalls zum »Mitsein« aus existenzieller Perspektive, qua rangmäßig gegliederte »Volksgemeinschaft« auszugleichen versucht. Freilich erweisen sich beide Narrative, die die gedankliche Entwicklung als Sättigungs- bzw. Kompensationsprozess beschreiben, bei näherem Hinsehen als allzu glatt. Dies wird besonders klar, wenn man einem
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textgeschichtlichen Nebenpfad der Heidegger’schen Reflexionen zu »Mitsein« und Gemeinschaft folgt. Versteckt inmitten der Grundbegriffe der Metaphysik von 1929/30 finden sich Gedanken, in denen das »Mitsein« im Vergleich zu Sein und Zeit ontologisch aufgewertet und zudem auch existenziell neu und reicher gefasst wird. Im Rahmen der »Frage nach dem Sichversetzenkönnen in ein anderes Seiendes« erörtert Heidegger in Paragraph 49 der Grundbegriffe, wie es möglich sein kann, anderen Menschen nicht lediglich zu begegnen, sondern sich tatsächlich auf diese einzulassen. Zwar soll nicht unterschlagen werden, dass eine der aus Sein und Zeit bekannten großen Linien in Heideggers Erwägungen von Sozialität fortgeführt wird, wenn die Rede davon ist, dass ein derartiges Sich-Einlassen dazu beizutragen vermag, einem Anderen »zu ihm selbst [zu] verhelfen.« (Heidegger 2004a: 297) Jedoch erweitert Heidegger sein Möglichkeitsspektrum, Gemeinschaft gedanklich zu fassen, durch die Einführung der Begriffe des »Sichversetzens« und vor allem des »Mitgehens« erheblich. Gerade im »Mitgehen« kommt es insofern zu einer dezidierten Akzentverschiebung, als die überzogen »selbstische« Ausrichtung des »Fürsorge«-Modells überwunden wird. An deren Stelle tritt die Betonung eines »Mitgehenkönnens«, das die Erfahrung der Andersheit des Anderen zulässt. Das Problem, das Heidegger hier umtreibt, ist dasjenige der Zugänglichkeit des Unzugänglichen; dasjenige eines genuinen Hinübergelangens zum Anderen also, das dessen Andersheit vollumfänglich Rechnung trägt. Dabei legt Heidegger einen Zugang zu einer Sphäre echter und als solcher anerkannter Alterität. Zu profilieren sucht er seine Position in erster Linie über den Kontrast zu einem Cartesianismus bzw. Husserlianismus, der die »Einfühlung« zur conditio sine qua non für jedes erfüllte Verhältnis zwischenmenschlicher Zusammenkunft erklärt. Dieser Ansatz bleibe, so Heidegger, als bloßes »Gedankenexperiment« nicht nur hinter einem tatsächlichen »Erfahren« zurück, sondern reflektiere zudem eine solipsistische Sichtweise des Menschen. So impliziere das Abheben auf »Einfühlung«, ein Ausbruch aus der »Ichsphäre« – und damit ein Miteinander – müsse erst künstlich und willentlich geschaffen werden. In diesen Ansätzen werde jedoch der existenziale Charakter des »Mitseins« (und damit die soziale Konstitution der »Welt«) verkannt, dem es geschuldet sei, dass der Mensch immer schon qua Mensch an andere Menschen verwiesen ist (vgl. ebd.: 298 ff.). An diesem Nachdenken über Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen eines Sich-Einlassens in Bereiche von Alterität ist nicht nur beachtenswert, mit welcher Bestimmtheit Heidegger unterstreicht, dass »Welt« immer »Mitwelt« bedeutet. Vielmehr muss darüber hinaus im Kontext unserer Frage hervorgehoben werden, dass Heidegger in den gedanklichen Figuren des »Sichversetzens«
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und des »Mitgehens« – die später gerade in der Auseinandersetzung mit der Dichtung Hölderlins angereichert werden zu den Konzepten des »Über-setzens« bzw. des »Erfahrens« – eine Route findet, die ihn sowohl die Skylla eines um sich kreisenden, isolationistisch-selbstischen Einzel-Daseins als auch die Charybdis einer individuellen Selbst-Auflösung in das gleichgeschaltete »volkliche« Kollektiv-Dasein umschiffen lässt. Gerade gegen letztere Gefahr, die Gefahr restlosen Überführt- und Aufgelöstwerdens in eine auf gleichgerichtetem »Marsch« befindliche Hyper-Gemeinschaft, muss das »Mitgehen« geradezu als konzeptuelle Bastion erscheinen. So heißt es in den Grundbegriffen: »Es gibt kein Mitgehen, wo der, der mitgehen will und soll, zuvor sich selbst aufgibt.« (Ebd.: 297) Die Inkompatibilität dieser Überlegungen mit den nur wenige Jahre später angestellten zur »Volksgemeinschaft« ist augenfällig – der Kontrast zwischen Heideggers Warnung vor Selbst-Aufgabe und seinem oben angeführten Lob der »Weggabe des Eigenwillens« an den NS-Staat könnte schärfer kaum ausfallen. Deutlich wird hieran, dass von einem linearen Prozess der Radikalisierung und problematischen Politisierung vom »eigentlich geschichtlichen« Volk in Sein und Zeit hin zur »Volksgemeinschaft« in den Texten der mittleren 1930er Jahre nicht die Rede sein kann. Vielmehr zeigt sich, dass Heidegger gewisse Elemente und Potentiale seines eigenen Denkens – wie eben bspw. das »Mitgehen« – erst beschneiden und suspendieren muss, um zu einem Modell totaler Gemeinschaft zu gelangen (vgl. Grosser 2011: 271 ff.). So flüchtig und unzureichend konturiert diese gedankliche Position auch bleibt; so sehr als der Fluchtpunkt derselben auch der Andere im Singular gesehen werden muss: Was Heidegger hier gelingt, ist die Markierung eines Möglichkeitsfeldes, auf dem unvermittelte zwischenmenschliche Begegnung stattzufinden, auf dem Gemeinschaftlichkeit zumindest im kleinsten Maßstab sich einzustellen vermag. Was sich hier – in dieser ersten und freilich allzu schnell wieder aufgehobenen Volte – andeutet, ist ein weiterer, ein aus unserer Sicht deutlich anschlussfähigerer Begriff von Gemeinschaft, der diese auf der Folie gegenseitig respektierter und bewahrter Andersheit bei gleichzeitiger »mitgehend-sicheinlassender« Bezugnahme auf eben diese zu fassen sucht.4 Darauf, wie diese Anlagen zu einem geglückten Gemeinschafts-Verständnis dazu beitragen können, einem robusten Pluralismus-Begriff Gestalt zu verleihen, wird später noch ausführlicher einzugehen sein.
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Auch an dieser Stelle sei auf Tatjana Tömmels Beitrag in diesem Band verwiesen.
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V. »B EDINGUNG « UND »V ERSAMMLUNG « – ANSCHLUSSFÄHIGE B ESTIMMUNGEN VON G EMEINSCHAFT IN DEN B REMER V ORTRÄGEN UND WEITEREN SPÄTEN T EXTEN Die letzte Station, die im Zuge unseres Schlaglichter setzenden Überblicks über die Volten des »Mitseins«, über die unterschiedlichen Gewänder, in welchen Heidegger dieses Konzept auftreten lässt, beleuchtet werden soll, ist nur schwer auf einen einzelnen Text festzulegen; sie kristallisiert sich heraus in einer Reihe von Versuchen Heideggers, das Phänomen der Technik angemessen zu erfassen, die sich über einen Zeitraum von gut zwei Jahrzehnten erstrecken. Ein wesentlicher Zug dieses späten Technik-Denkens ist es, sich nicht mit bloßer TechnikKritik zu begnügen und darin gewisse anti-moderne Anklänge, wie sie sich bereits in Sein und Zeit oder im Weltbild-Aufsatz von 1938 (vgl. Heidegger 2003b) finden, hinter sich zu lassen. Anstatt weiterhin einer radikalen Ablösung des »Machenschaftlich-Technischen« das Wort zu reden, ist Heidegger nun bemüht aufzuzeigen, wie sich dem »planetarischen Geschick« der hochmodernen Technik sowie dem von diesem produzierten Nivellierungs- und Konformitätsdruck mit Gegen-Antworten im Kleinen begegnen lässt. Im Zentrum dieser Überlegungen steht der Begriff des »Dinges«. Denn vor allem an diesem weist Heidegger die Möglichkeit von Verstehen, Befindlichkeit und Rede, kurz: von Verhaltenspraktiken auf, die jenseits der technischen Logik von Effizienz und Funktionalität liegen – und die sich den Forderungen der Technik zumindest partiell und temporär zu entziehen wissen; dem also, was Heidegger als den »Andrang« des »Ge-stells«, d.h. des »Seinsgeschicks« der Technik, namhaft macht.5 Doch welches Verständnis von menschlicher Gemeinschaft geht mit diesen Erwägungen zum »Ge-stell« auf der einen und dem »Ding« auf der anderen Seite einher? Zum ersten ist zu beobachten, dass es Heidegger hier gelingt, so etwas wie globale Gemeinschaft zu denken. Denn das alles Seiende – und insbesondere auch den Menschen selbst – in bloßen »Bestand« verwandelnde »Ge-stell«, als welches sich das Sein in der Spätmoderne manifestiert, konfrontiert alle Menschen mit ein und derselben »Gefahr«; einer Gefahr, die mit Heidegger allgemein als »Wesensverlust« zu beschreiben ist, die sich jedoch durchaus auch an konkreten Technikphänomenen (wie z.B. Massenvernichtungswaffen) oder
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Siehe dazu insbesondere die Bremer Vorträge von 1949 und Die Frage nach der Technik von 1953.
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Technikfolgen (wie z.B. Klimawandel) festmachen lässt. Dies »Geschick« stellt alle Menschen, alle »Sterblichen«, erdumspannend in, so könnte man sagen, ein und denselben Problemhorizont. So ist in Heideggers späteren Texten die Rede von einem »Weltschicksal« (vgl. dazu Heidegger 2000c: 31; 2004b: 14 f.), die belegt, dass Gemeinschaft nun auch jenseits der Grenzen des Volkes verstanden werden kann. Daneben bestimmt Heidegger Gemeinschaft in seinem Bremer Vortrag zum »Ding« und in Schriften wie Gelassenheit (zuerst 1959) oder Die Kunst und der Raum (zuerst 1969) jedoch auch in einem spezifischeren Sinn. Sehen wir uns diesen zweiten Fall etwas genauer an: Die wesentliche Wirkung des »Dinges« beschreibt Heidegger als eine »versammelnde«. Ausführlich schildert er dabei in erster Linie das Sich-Entfalten des »Gevierts«, d.h. das Sich-Einstellen von »Erde« und »Himmel«, von »Göttlichen« und »Sterblichen« im Umkreis des diese versammelnden »Dinges«. Doch auch wenn darauf zweifelsohne nicht sein Schwerpunkt liegt: Was in diesen Gedankengängen zum im »Ding« gleichsam fokussierten »Geviert«6 mit behandelt wird, ist das Thema lokaler menschlicher Gemeinschaft. Auf diesen Aspekt wollen wir uns konzentrieren: So kann sich Heidegger zufolge um das »Ding« – sei dies nun ein Krug wie in seinem eigenen Beispiel, ein Tisch, ein Baum oder eine Plastik – eine »Versammlung« von Menschen gruppieren; diese »Versammelten« bilden dabei eine Gemeinschaft aus solchen, die sich, örtlich und zeitlich begrenzt, in eine geteilte Sphäre oder »Lichtung« einlassen, deren Zentrum das »Ding« bildet. »Das Ding dingt. Das Dingen versammelt« (Heidegger 1994: 13), so bringt Heidegger diesen Grundgedanken im ersten der Bremer Vorträge auf den Punkt. Gemeinschaft wird somit nicht länger anhand des Paradigmas des »Volkes« gedacht. Vielmehr hebt Heideggers Rede von den »Versammelten« – als den im Wortsinne »BeDingten« – darauf ab, dem »Planetarischen« primär im Kleinen, d.h. in überschaubaren Kontexten sinnvolle Alternativen im Selbst- und Welt-Verstehen entgegenzustellen, die über bloße Verweigerung ebenso hinausweisen wie über radikale Überwindung. Damit entwirft Heidegger das Bild einer in ausgezeichneter Weise gemeinsam einnehmbaren Haltung; einer »gelassenen« und darin geradezu subversiven Haltung, die es erlaubt, größere Unabhängigkeit gegenüber dem totalisierend auf den Menschen zugreifenden »Ge-Stell« zu erschlie-
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Im »Geviert« nimmt Heideggers Begriff von »Welt« seine im Vergleich zu früheren Analysen derselben reichste Form an. Dies wird u.a. deutlich im Vergleich zu seiner für den Kunstwerk-Aufsatz maßgeblichen Konzeption von »Welt« als transparentes Gegenstück zur opaken »Erde«.
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ßen und zu erhalten. Skizziert wird hier eine Weise, in welcher sich in Gemeinschaft das gewinnen lässt, was Heidegger (mit Hölderlin) als eine »freie Beziehung« (Heidegger 2000c: 7), ein freies Verhältnis zur Technik als dem Grundzug der Wirklichkeit, benennt. Der aktuell herrschenden geschichtlichen Konstellation – der universal das Seiende ein-»bestellenden« Macht der Technik – wird eine Vielfalt gemeinschaftlich verfasster, lokaler Welten gegenübergestellt, die den zumindest temporären Ausstieg oder Rückzug aus dieser Konstellation erlauben. Im Licht von »Ding« und »Versammlung« gedacht, wird Gemeinschaft, nun als Gemeinschaft der »Be-dingten« und »Versammelten«, von Heidegger als Zufluchtsort – oder weniger passivistisch: als Ort der Widerständigkeit – konzipiert. In dem Moment, in dem Heidegger seinen »Welt«-Begriff dadurch enttotalisiert, dass er ihn an die Figur des »Dinges« koppelt, wird Gemeinschaft für ihn somit in neuer, in für uns tatsächlich an- und aufnehmbarer Art und Weise denkbar. Die Vorzüge dieses späten Konzepts gegenüber seinen monastischen bzw. totalen Vorgängermodellen sind vielfältig: Dass darin zum einen der Kokon der »Selbstischkeit« durchbrochen wird, ist evident. Zum anderen erteilt Heidegger auch dem Ansatz, Gemeinschaft »volklich« zu erfassen, eine Absage, indem innerhalb des Pluriversums raum-zeitlich begrenzter »Ding-Welten« individuelle Entscheidungsspielräume gewährt werden: So wird der Einzelne nicht länger ausschließlich durch ein Kollektivprojekt, nämlich dasjenige des »Aufstellens« und »Bewahrens« einer gänzlich homophonen »Welt« beansprucht. An die Stelle der nach den Maßgaben von »Erbe«, »Auftrag« und »Arbeit« gleichgeschalteten »Bewegung« des Volkes tritt eine echte Beweglichkeit, die den Einund Ausgang in und aus verschiedene(n) »Welten« zulässt. Ein freies Wechseln zwischen einer Vielzahl von je gemeinschaftlich konstituierten »Ding-«Welten wird möglich, die gegenüber der Einheits-Welt des »Werkes«7 ganz anders skaliert sind. Es ergibt sich ein Spielraum der Zugehörigkeiten: Ein in sich aufgefächerter Spielraum der einander in nichts ausschließenden Zugehörigkeiten zu ganz unterschiedlichen »Bewandtnisganzheiten« oder Sinnfeldern. Das einheitliche Bild der einen, »volklich« determinierten, abgeschlossenen und gleichge-
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Eine derart homogene Welt konstituiert sich für Heidegger gemäß seiner Überlegungen zum Ursprung des Kunstwerkes um ein Struktur, Ordnung und Hierarchie stiftendes (Kunst- oder Staats-)»Werk«. Freilich ist zu sagen, dass das »Ding« in Vielem – so gerade in seinen alles »Gängige« und »Bekannte« mit Nachdruck in Frage stellenden Effekten – als funktionales Äquivalent zum »Werk« anzusehen ist. Siehe dazu auch Harries 2009: 69 ff. und 95 ff.
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schalteten Gemeinschaft wird ersetzt durch das Bild einer unüberschaubaren Vielfalt überschaubarer Gemeinschaften mit jeweils permeablen, Inklusion und Exklusion nie definitiv festschreibenden Grenzen. Diese von Heidegger umrissenen Gemeinschaften der »BedingtVersammelten« – und darin dem planetarischen »Ge-stell« samt seiner instrumentellen Logik gegenüber Widerborstigen – lassen sich nun in mehr oder weniger explizit politischer Gestalt weiterdenken: Es spricht jedenfalls nichts dagegen, nicht allein die um das »Krug-Ding« versammelten Bewohner des Schwarzwaldes, sondern bspw. auch Veranstaltungen wie das WoodstockFestival in diesem Sinne zu begreifen.8 Denkbar wäre auch, gerade die künstlerisch sich äußernden anti-kapitalistischen Proteste, die 2011 im Rahmen von Occupy im New Yorker Zuccotti-Park stattfanden, als Instanzen solch gemeinschaftlicher »Ding-«Welten zu verstehen. Insbesondere die bemerkenswert hohe Akzeptanz für nicht-ausschließliche Zugehörigkeiten, die Durchlässigkeit dieser Protest- oder Widerstandsgemeinschaft, die – zumindest während einiger Wochen – von Gewerkschaftern und Bürgerrechtsbewegten alter Schule, von Mitgliedern studentischer und kirchennaher Vereinigungen, von anarchistischen Fahrradkurieren und prekär beschäftigten Akademikern gebildet wurde, scheint sich im Ausgang von Heideggers Gedanken zu »Bedingtheit« und »Versammlung«, von dessen später Gemeinschafts-Konzeption her greifen und ausloten zu lassen. Doch das Potential dieser Konzeption erschöpft sich nicht darin, dass sich auf deren Grundlage ein Pluriversum widerständiger Mikrokosmen denken lässt, die jeweils lokale Gegenentwürfe zu einer universalen Transformation in »Bestand« und »Menschenmaterial« darstellen; Gegenentwürfe, die eigene Weisen des Verstehens, der Gestimmtheit und der Rede mit sich bringen, welche Heidegger in seinen späten Schriften mit Begriffen wie »Wohnen«, »Warten« oder »Sagen« anzeigt. Vielmehr ermöglicht dies gewandelte GemeinschaftsVerständnis – für das sich, wie wohl schon deutlich genug geworden ist, in den Heidegger’schen Texten vor allem Anlagen und nicht tatsächliche Vorlagen finden – auch, Pluralität und Alterität auf Ebene der Einzelnen zu denken. Denn den durchlässigen Grenzen verdankt es sich, dass Einzelne je singuläre Sets von Welt- bzw. Gemeinschafts-Zugehörigkeiten zu entwickeln vermögen. Dadurch, dass jedem Einzelnen ein »Mitgehen«, d.h. ein Sich-Versetzen oder SichEinlassen in ganz unterschiedliche Sinnsphären offen steht, kann sich dessen in
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Dies schlägt Hubert Dreyfus (2006) als eine vorstellbare Konkretisierung von Heideggers spätem Gemeinschafts-Begriff vor.
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sich differente, aus den Quellen dieser gemeinschaftlichen Felder gespeiste Identität formieren. Zu einem Pluralismus der unterschiedlichen GemeinschaftsWelten tritt damit ein interner Pluralismus dieser Welten hinzu, welcher der Verfasstheit von deren einzelnen Träger geschuldet ist. Damit sind die Gemeinschaften nicht länger solche der Gleichgeschalteten und sich »weggegeben« Habenden, sondern ganz im Gegenteil solche der voneinander Verschiedenen und auch in kommunitärem »Mitgehen« stets Verschieden-Bleibenden. Diesem Entwurf einer Vielfalt versammelnder, in sich pluraler DingWelten – als Gegen-Welten zum gleichförmigen Andrang des »Geschicks« der Technik – kann zusätzliches Profil dadurch verschafft werden, dass man ihm Heideggers Gedanken der Ineinander-Verwobenheit von Einheit und Vielheit unterlegt. Dieser Gedanke geht zurück auf Heideggers Heraklit-Interpretation, in deren Zentrum der Begriff polemos steht, welcher in zahlreichen – in den Jahren um 1933 äußerst bedenklichen – Abwandlungen und unter den Titeln »Streit«, »Kampf«, »Auseinandersetzung« und »Unter-Schied« in sämtlichen Werkphasen präsent ist. Im polemos sind die in den Streit verwickelten Parteien, die sich eben darin »aus-einander-setzen« und als »selbst-ständig« definieren, in eine umfassendere Zusammengehörigkeit eingebunden, die Heidegger durch den Begriff »Innigkeit« kennzeichnet. Übertragen auf die Frage nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit im Politischen hieße das, dass pointierte Verschiedenund Andersheit (also »Auseinandergesetztheit«) – und damit die Basis jedes mehr als nur nominellen Pluralismus – durchaus mit der Einbettung in einen weiter gespannten Horizont der Gemeinsamkeit (also einen Kontext der »Innigkeit«) vereinbar ist. Angewandt auf das oben Gesagte, wäre der Problemhorizont, mit dem eine Welt jeweils konfrontiert ist, als einendes, »Innigkeit« gewährendes Band – in der Terminologie des späten Heidegger: als »Ring« – zu betrachten, der die Vielheit der je spezifisch auf diesen Problemhorizont antwortenden Gemeinschaften oder »Versammlungen« einheitlich einfasst. Denkbar wird damit eine Gemeinschaft der Gemeinschaften, die es – ganz im Gegensatz zur »Volksgemeinschaft« – nicht nötig hat, auf geteilte Eigenschaften, Ursprünge oder Werte zu rekurrieren und auf scharfe Ein- und Ausschlusskriterien zu pochen. Jenseits des andrängenden Problemhorizonts, welcher im globalen ebenso wie im nationalen oder lokalen Maßstab gefasst werden kann, fehlt damit jeder substanz- und essenzhafte gemeinsame Nenner, auf den Gemeinschaft zu bringen wäre. Ein letzter Punkt sei noch ergänzt: Was im Zuge dieser letzten Volte, der skizzierten Revision und Neufassung von Heideggers Gemeinschafts-Begriff zusätzlich zu den beschriebenen pluralen Momenten Einzug hält, ist ein egalitäres Moment. So »lichten« sich Sinnhorizonte um das »Ding«, ohne dass es dazu
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noch der Welt aufstellenden »Täter« oder »Schaffenden« bedarf. Sozialität – das Aufgehen von Räumen der Gemeinschaftlichkeit – entspringt also nicht aus den Willens-, Schaffens- oder gar Gewalt-Akten »seltener« Einzelner, sondern ist dem geschuldet, was Heidegger als »Ereignis« anspricht: als das »Ereignis« eines vom Menschen »gehörten« und rezeptiv aufgenommenen »Anklangs« von den »Dingen« her. Dank des »Dinges« bzw. in dessen Kraftfeld wird die Unterscheidung zwischen »Führenden« und »Folgenden« – und mithin jede Form starr hierarchischer Ordnung – hinfällig. Anstelle des Prinzips »Rang« gilt, so deuten es Heideggers Ausführungen an, in den Gemeinschaften der »Be-dingten« das Prinzip Augenhöhe.
VI. H EIDEGGERS D ENKEN DES »M ITSEINS « – M ÖGLICHKEITEN UND U NMÖGLICHKEITEN DER ANKNÜPFUNG Auch wenn Heideggers Einsicht, dass der Mensch in Verstehen, Rede und Befindlichkeit »immer schon« und unhintergehbar an den Anderen verwiesen ist, in allen Werkphasen präsent ist, hat sich doch gezeigt, dass er aus dieser ontologischen Grundfeststellung nur in Ausnahmefällen einen Begriff von Gemeinschaft ableitet, der sich auch als sozial- und politikphilosophisch gehaltvoll erweist; einen Begriff von Gemeinschaft, auf den die politische Philosophie unserer Tage guten Gewissens rekurrieren, auf den sie aufbauen kann. Denn weder die monadischen und monastischen Unterbestimmungen von Gemeinschaft in Sein und Zeit noch die von dort bis in den Kunstwerk-Aufsatz sich erstreckenden Überbestimmungen von Gemeinschaft als »volklicher« Arbeits-, Kampf- und Ordnungsgemeinschaft sind geeignet, um unsere gegenwärtigen Diskurse zu Sozialität, Intersubjektivität und Kommunität zu bereichern. Doch selbst bei Berücksichtigung der Volten des »Mitseins« in Richtung des »Mitgehens« und insbesondere der »Versammlung« bleibt zu konstatieren, dass sich an diese nur unter einer Voraussetzung anschließen lässt: Unter der Voraussetzung nämlich, dass Heideggers Reflexionen nicht als fertige und unmittelbar anwendbare Vorlagen, sondern lediglich als Anlagen begriffen werden; als ebenso ausbausfähige wie ausbaubedürftige Anlagen, die, nachdem sie einmal identifiziert sind, unbedingt selbständig zu präzisieren und auszugestalten sind. Nur unter dieser Voraussetzung kann es gelingen, im Rekurs auf Heidegger’sche Denkradikale dominante politikphilosophische Diskursmuster zu ergänzen bzw. auf die Probe zu stellen: So steht das plurale GemeinschaftsModell, das sich aus diesen Anlagen ziehen lässt, einerseits quer zu liberalen
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Ansätzen, die, was Inklusionskriterien anbelangt, oftmals äußerst anspruchsvoll sind und dadurch die Tendenz an den Tag legen, auf Kosten von anerkannter Alterität nur die members of the same club voll zu berücksichtigen. Und andererseits sperrt sich dieses Bild hartnäckig gegen Ansätze, die Gemeinschaft – in Konzepten wie »Leitkultur« und »Wertegemeinschaft« – identitätspolitisch überfrachten. Nur unter dieser Voraussetzung besteht bspw. auch die Möglichkeit, die ontologische Differenz – Heideggers eigenem ontologischen bias im Politischen zum Trotz – mit Gewinn zur politischen Differenz zu modifizieren (vgl. Marchart 2010) oder die Möglichkeit, seine Ausführungen zum »Weltschicksal« der »Heimatlosigkeit« für eine Politische Theorie des Flüchtlings nutzbar zu machen.9 Und nur unter dieser Voraussetzung eröffnet sich schließlich auch die Möglichkeit, im Ausgang von Heideggers Überlegungen zu »Ding«, »Bedingtheit« und »Versammlung« einen offenen Gemeinschafts- und einen robusten Pluralismus-Begriff zu gewinnen: Den Begriff einer »innigen« Gemeinschaft der »auseinandergesetzten« Gemeinschaften, die in sich wiederum Gemeinschaften differenter und different-bleibender Einzelner sind.
L ITERATUR Agamben, Giorgio (1995): »We Refugees«, in: Symposium Jg. 49(2), S. 114119. Arendt, Hannah (1990): Was ist Existenz-Philosophie?, Frankfurt a. M.: Meisenheim. Brandom, Robert (2007): »Heidegger’s Categories in Being and Time«, in: Dreyfus/Wrathall, A Companion to Heidegger, S. 214-232. Carman, Taylor (2007): »Authenticity«, in: Dreyfus/Wrathall, A Companion to Heidegger, S. 285-296.
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Andeutungsweise findet sich ein solcher Versuch in Arbeiten Giorgio Agambens, so z.B. in seinen Bemerkungen zu Hannah Arendts Aufsatz We Refugees von 1943 (vgl. Agamben 1995). Dazu bedarf es allerdings unbedingt der Auslassung provinzialistischer Tendenzen sowie vor allem gewisser Tendenzen zu einem einseitigen deutschen Opfer-Diskurs, wie diese bei Heidegger wiederholt in Texten der unmittelbaren Nachkriegszeit zu beobachten sind.
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Dreyfus, Hubert L. (2006): »Heidegger on the connection between nihilism, art, technology, and politics«, in: Charles B. Guignon (Hg.), The Cambridge Companion to Heidegger, 2. Aufl., Cambridge et al.: Cambridge University Press, S. 345-372. Dreyfus, Hubert L./Wrathall, Mark A. (Hg.) (2007): A Companion to Heidegger, Malden et al.: Blackwell. Esposito, Roberto (2004): Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin: Diaphanes. Grosser, Florian (2011): Revolution denken. Heidegger und das Politische 19191969, München: C.H. Beck. Harries, Karsten (2009): Art Matters. A Critical Commentary on Heidegger’s »The Origin of the Work of Art«, Heidelberg: Springer. Heidegger, Martin (2004a): Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit, Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (2004b): Gelassenheit, 13. Aufl., Stuttgart: Günther Neske. Heidegger, Martin (2003): Holzwege, 8. Aufl., Frankfurt a.M: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (2003a): »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: Ders., Holzwege, S. 1-74. Heidegger, Martin (2003b): »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders., Holzwege, S. 75-113. Heidegger, Martin (2001): Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer. Heidegger, Martin (2000): Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges 1910-1976 (= GA, Band 16), Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (2000a): »Der deutsche Student als Arbeiter«, in: Ders., Reden und andere Zeugnisse, S. 198-208. Heidegger, Martin (2000b): »Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger«, in: Ders., Reden und andere Zeugnisse, S. 652-683. Heidegger, Martin (2000c): »Die Frage nach der Technik«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze (= GA, Band 7), Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann, S. 536. Heidegger, Martin (2000d): Über den Humanismus, 10. Aufl., Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (1998): Einführung in die Metaphysik, 6. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer. Heidegger, Martin (1994): Bremer und Freiburger Vorträge (= GA, Band 79), Frankfurt a.M: Vittorio Klostermann. Heidegger, Martin (1990): Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Rede, gehalten bei der feierlichen Übernahme des Rektorats der Universität
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Freiburg i. Br. am 27.5.1933, 2. Auflage, Frankfurt a.M: Vittorio Klostermann. Lacoue-Labarthe, Philippe (1990): Die Fiktion des Politischen. Heidegger, die Kunst und die Politik, Stuttgart: Schwarz. Marchart, Oliver (2010): Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin: Suhrkamp.
Subjektivität ohne Souveränität? Politisches Denken im Ausgang von Heideggers Freiheitsbegriff(en) M EIKE S IEGFRIED
E INLEITUNG Das Ziel dieses Beitrags ist es, den Impulsen von Heideggers Daseinsanalyse in Sein und Zeit für unterschiedliche Versuche im 20. Jahrhundert nachzugehen, menschliche Subjektivität neu oder anders zu verstehen und dieses Verständnis für Themen der politischen Philosophie und der Sozialphilosophie fruchtbar zu machen.1 Zentral soll dabei der Bezug zu Heideggers spezifischer Konzeption von Freiheit sein: Freiheit als Vollzug des Daseins in einer Welt. Weshalb die Hinwendung zur Freiheitsthematik bei Heidegger in diesem Kontext als besonders lohnenswert angesehen werden kann, muss jedoch kurz erläutert werden. In seinem aktuellen Beitrag zur philosophischen Gerechtigkeitsdebatte Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit (2011) präsentiert Axel Honneth Freiheit als den zentralen Leitwert der Moderne: »Unter all den ethischen Werten, die in der modernen Gesellschaft zur Herrschaft gelangt sind und seither um Vormachtstellung konkurrieren, war nur ein einziger dazu angetan, deren institutionelle Ordnung auch tatsächlich nachhaltig zu prägen: die
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Bewusst wird somit nicht auf Heideggers Denken nach der ›Kehre‹ eingegangen, deren zentrale Motive – die konsequente Entfaltung der »ontologischen Differenz«, das »Ereignis« – zumeist im Zentrum aktueller Diskussionen einer mehr oder weniger offenkundigen Heidegger-Rezeption im Bereich der politischen Philosophie stehen; vgl. dazu exemplarisch Marchart (2010).
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Freiheit im Sinne der Autonomie des einzelnen.« (Honneth 2011: 35) Bemerkenswerterweise behauptet Honneth gar, dass die sog. ›Postmoderne‹ bzw. die »vermeintlich subjektkritischen Ethiken der ›postmodernen‹ Generation« (ebd.: 37) hier letztlich gar keinen Bruch erzeugt hätten, weil es diesen Ansätzen im Wesentlichen um das Einreißen vermeintlich ›natürlicher‹ Grenzen für die individuelle (freie) Lebensgestaltung ginge.2 Tatsächlich ist offenkundig, dass sich etwa in den Texten des Poststrukturalisten Michel Foucault sowie des Hegemonietheoretikers Ernesto Laclau nicht einfach eine Abkehr von traditionellen Freiheitsverständnissen findet, sondern vielmehr der – mehr oder weniger ausgearbeitete – Versuch, das neuzeitliche Konzept des autonomen Selbst in einer spezifischen Weise zu transformieren. So beschließt Laclau seine ›Dekonstruktion‹ des klassischen Emanzipationsideals in seinem Essay Beyond Emancipation mit dem zweifellos interpretationsbedürftigen Satz: »We can perhaps say that today we are at the end of emancipation and at the beginning of freedom.« (Laclau 2007: 18) Michel Foucault bezeichnet im Zuge seiner Differenzierung zwischen Macht, Herrschaft und Gewalt Freiheit als die »Voraussetzung für Macht« (Foucault 2005a: 257) und beschreibt in dem Interview Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit Freiheit als die »ontologische Bedingung« (Foucault 2005b: 278) der Ethik. Wenn man also heute der Frage nach der Möglichkeit eines nichtmetaphysischen, oder stärker: post-metaphysischen, Freiheitsverständnisses nachgeht, dann scheint mir die nähere Untersuchung der Heidegger-Rezeption bezüglich Subjektivität und Freiheit vielversprechend zu sein. Schließlich müsste diese Ansätze in ihrem Bezug auf Heidegger auszeichnen, traditionelle metaphysische Konzepte konsequent zu überwinden, zu destruieren (oder ›dekonstruieren‹). Da sich die Daseinsanalyse von Sein und Zeit jedoch unterschiedlich auslegen lässt – als tatsächliche Überwindung des subjektzentrierten Denkens oder als konsequente Fortführung des neuzeitlichen Erbes von Descartes bis Husserl –,3 eröffnet Heideggers Verständnis von Freiheit in Sein und Zeit verschiedene Möglichkeiten, Subjektivität (neu) zu bestimmen und auf den Bereich des Politi-
2
Mit dieser Einschätzung wird freilich schon eine bestimmte Kategorisierung des Freiheitsverständnisses der ›postmodernen‹ Ansätze nahegelegt, und zwar die Zuordnung zur (liberalen) Tradition eines ›negativen‹ Freiheitsbegriffs. Zu einer weitaus differenzierteren Diskussion ›postmoderner‹ Ansätze mit Bezug auf politische und ethische Fragen vgl. Honneth (1994).
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Vgl. dazu aus einer dialogphilosophischen Perspektive Siegfried (2010).
S UBJEKTIVITÄT
OHNE
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schen oder Sozialen zu beziehen. Mit Blick auf den Titel dieses Beitrags ließe sich dann sagen: Es gibt nicht nur ein Verständnis von Freiheit, nicht nur einen einzigen Entwurf von Freiheit bei Heidegger in der Phase von Sein und Zeit. Ich möchte in diesem Beitrag zunächst die wesentlichen Akzentsetzungen von Heideggers Denken über die Freiheit zwischen 1927 und 1930 herausarbeiten (I), um anschließend drei Linien einer produktiven Rezeption von Heideggers Freiheitsverständnis zu skizzieren: eine politische (II), eine ethische (III) und eine ontologische (IV). Es wird sich zeigen, dass in aktuellen Diskussionen in der politischen Philosophie die Kernmotive aller drei Rezeptionslinien präsent sind, auch wenn nur eine von ihnen meiner Ansicht nach sinnvoll als explizit politische Rezeption benannt werden kann.4 Den Beitrag beschließen soll ein Ausblick zum Potential von Heideggers Freiheitsverständnis für Fragestellungen der aktuellen philosophischen Freiheitsdebatte.
I.
F REIHEIT
IN
S EIN
UND
Z EIT
›Freiheit‹ wird von Heidegger in Sein und Zeit grundsätzlich als Seinsweise des Daseins als In-der-Welt-sein gedacht, also nicht als Eigenschaft oder Bestimmung des Subjekts, der Person oder des Menschen im Sinne traditioneller Entwürfe der Philosophie, der Einzelwissenschaften, der Theologie. Freiheit entpuppt sich bei Heidegger somit als Seinsweise eines ›Wer‹. Eine Beschreibung von Freiheit, welche den Menschen aus Heideggers Perspektive als ein ›Was‹ begreift, lässt sich exemplarisch bei Thomas Hobbes in folgender Beschreibung aus De Cive finden: »Nach meiner Ansicht ist die Freiheit nichts anderes als die Abwesenheit von allem, was die Bewegung hindert. Deshalb ist das in ein Gefäß eingeschlossene Wasser nicht frei, das
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Zwei Anmerkungen zur Auswahl und Vorgehensweise bei der Skizzierung der drei Rezeptionslinien: Erstens soll nicht behauptet werden, dass sich das gesamte Spektrum der Heidegger-Rezeption im Bereich politischer Philosophie oder Theorie, die auf Heideggers frühes Denken zurückgreift, auf diese drei Lesarten reduzieren lässt – die Entwicklung einer umfassenden Typologie ist nicht das Ziel dieses Aufsatzes. Zweitens ist mir bewusst, dass die präsentierte Kategorisierung jeweils nur ganz bestimmte Motive im Werk der einbezogenen Autorinnen und Autoren in den Vordergrund stellt und dabei kontroverse Sichtweisen und differenziertere Ausführungen zwangsläufig ausblenden muss.
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Gefäß hindert sein Ausfließen; dagegen wird es frei, wenn das Gefäß zerbricht. Ein jeder hat mehr oder weniger Freiheit, je nachdem er mehr oder weniger Raum zur Bewegung hat.« (Hobbes 1949: 171)
Das In-der-Welt-sein des Menschen wird hier gerade nicht im Sinne Heideggers als ein Mit-Welt-immer-schon-Vertraut-Sein verstanden, sondern in Analogie zum Enthaltensein eines Gegenstandes in einer begrenzten Räumlichkeit oder dem Vorhandensein eines Dinges an einem bestimmten Ort begriffen. Frei-sein kann bei Heidegger dagegen nicht primär heißen, frei zu sein von Hindernissen und Widerständen, an denen ich mich stoße wie an einer harten Tischkante oder einem anderen materiellen Objekt. In §23 von Sein und Zeit stellt Heidegger die spezifische Eigenart der Räumlichkeit des In-der-Welt-seins klar heraus: »Das Dasein [...] ist ›in‹ der Welt im Sinne des besorgend-vertrauten Umgangs mit dem innerweltlich begegnenden Seienden. Wenn ihm sonach in irgendeiner Weise Räumlichkeit zukommt, dann ist das nur möglich auf dem Grunde dieses In-Seins.« (Heidegger 2001: 104 f.) Entsprechend lässt sich für Erfahrungen der Behinderung ›freier‹ Bewegung und Entfaltung des Daseins mit Heidegger sagen: »Widerstandserfahrung, das heißt strebensmäßiges Entdecken von Widerständigem, ist ontologisch nur möglich auf dem Grunde der Erschlossenheit von Welt.« (Ebd.: 210; Herv. i.O.) Wichtig ist auch, dass es Heidegger mit seinem Verständnis von Freiheit ausdrücklich nicht um die Modifikation der traditionellen Konzeption der Willensfreiheit, sondern um ein dieser gegenüber ursprünglicheres Frei-sein geht. Wollen, dies macht Heidegger in Sein und Zeit deutlich, sei ebenfalls überhaupt erst möglich aufgrund der vorgängigen Erschlossenheit von Welt in Verstehen, Befindlichkeit und Rede (vgl. ebd.: 136).5 Die Diskussionen in den theoretisch wie praktisch ausgerichteten philosophischen Disziplinen übersehen aus Heideggers Perspektive also die fundamentale Freiheit als Seinsvollzug des Daseins, wenn sie Freiheit vorschnell im Horizont von korrespondierenden Begriffen oder Gegenbegriffen wie Kausalität, Determinismus, Drang, Wollen, Bewegung usw. diskutieren. Betrachtet man nun Heideggers Anmerkungen zur Freiheit bzw. zum Freisein in der Phase von Sein und Zeit näher, dann wird jedoch deutlich, dass hier unterschiedliche Dimensionen von Freiheit thematisch sind: Einmal denkt Hei-
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Siehe auch folgende aufschlussreiche Anmerkung: »Im Wollen wird ein verstandenes, das heißt auf seine Möglichkeit entworfenes Seiendes als zu besorgendes bzw. als durch Fürsorge in sein Sein zu bringendes ergriffen.« (Heidegger 2001: 194).
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degger das Frei-sein des Daseins als nähere Explikation des Existenzvollzugs überhaupt, d.h. der ursprünglichen Erschlossenheit des Daseins. Hier gibt es keine Möglichkeit des Unfreiseins, Unfreiheit ist auf dieser Ebene vielmehr der Seinsmodus von Seiendem nicht-daseinsmäßiger Art. Zudem eröffnet Heideggers Ansatz die Möglichkeit, Freiheit und Unfreiheit als konkrete Modifikationen des ursprünglichen In-der-Welt-seins zu denken. So thematisiert Heidegger in Sein und Zeit Freiheit vor allem im Kontext der Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit – der Analysen des Seins zum Tode, der Angst, des Gewissens –, also der Entdeckung eigentlichen Selbstseinkönnens. Dagegen wird das Sein im Modus des »Man« an zahlreichen Stellen als Unfreiheit präsentiert. Heidegger spricht hier wiederholt von »Herrschaft« oder »Macht« im Sinne von Einschränkung und Unterdrückung (vgl. ebd.: 122; 126; 128; 222; 254. Vgl. auch Figal 1988: 152 f.). Für die Themenstellung dieses Beitrags ist es nun jedoch entscheidend, zu untersuchen, inwiefern sich in diesen unterschiedlichen Dimensionen des Freiseins die Konzeption des Da-seins als tatsächliche Gegenkonzeption oder vielmehr doch als Erbe des neuzeitlichen Subjekts entpuppt. Dabei auf das Problem der ›Souveränität‹ abzuheben meint zu fragen, was es bedeutet, dass Frei-sein bei Heidegger heißt, immer schon zusammen mit anderen Da-seienden in einer so oder so erschlossenen Welt zu existieren.6 Bezogen auf die Dimension ursprünglicher Freiheit als Seinkönnen überhaupt stellt sich die Frage, inwiefern Heidegger hier ein fundamentales Angewiesensein auf Welt plausibel machen kann – oder ob sein weltentwerfendes Dasein nicht doch das transzendentale Subjekt beerbt, das sich als letztes »Worumwillen« aller Sinnbezüge in der Welt erweist.7 Hinsichtlich der Dimension von Freiheit als konkreter Realisierung des Seins in einer Welt mit anderen lässt sich zeigen, dass sich wiederum zwei Möglichkeiten anbieten, die Frage nach der Souveränität des Daseins zu beantworten: Frei-sein ließe sich als eine Weise des unhintergehbaren Eingebundenseins in umweltliche und mitweltliche Bezüge denken, das in noch näher zu bestimmender Weise als gelungene Ausgestaltung dieser Bezüge zu denken wäre. Oder aber das Maximum an Freiheit entpuppte sich doch als Situation eines die konkreten
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Im Vordergrund steht also die Frage nach einer gelungenen Distanzierung von denjenigen ›Wesensmerkmalen‹ des autonomen Subjekts, die auf Motive der radikalen Vorgängigkeit, Ungebundenheit, Überlegenheit, ja Mächtigkeit gegenüber der Welt bzw. dem in ihr Begegnenden hinweisen.
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Zentral hier die Diskussion um die Konzeption der »Freigabe« in Sein und Zeit (§18). Vgl. dazu exemplarisch Siegfried (2010: 111 ff.).
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Weltbezüge hinter sich lassenden Bei-sich-Seins: Freiheit als »Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-wählens und -ergreifens« (Heidegger 2001: 188; Herv. i. O.), bei welchem die Beziehung zur Welt und zu anderen Da-seienden nicht konstitutiv ist.8 Bekanntlich hat Heidegger in den Jahren nach dem Erscheinen von Sein und Zeit versucht, Freiheit und Bindung als unzertrennliche ›Wesensmerkmale‹ des Daseins zu begreifen. Siehe etwa folgende aufschlussreiche Passage aus der Marburger Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz im Sommersemester 1928: »[D]ie Welt, primär gekennzeichnet durch das Umwillen, ist die ursprüngliche Ganzheit dessen, was sich das Dasein als freies zu verstehen gibt. Freiheit gibt sich zu verstehen, sie ist das Urverstehen, d.h. der Urentwurf dessen, was sie selbst ermöglicht. Im Entwurf des Worumwillen als solchem gibt sich das Dasein die ursprüngliche Bindung. Die Freiheit macht das Dasein im Grunde seines Wesens ihm selbst verbindlich, genauer: gibt ihm selbst die Möglichkeit der Bindung. Das Ganze der im Umwillen liegenden Bindung ist die Welt. Gemäß dieser Bindung bindet sich das Dasein an ein Seinkönnen zu sich selbst als Mitseinkönnen mit Anderen im Seinkönnen bei Vorhandenem. Selbstheit ist die freie Verbindlichkeit für und zu sich selbst.« (Heidegger 1978: 247; Herv. i. O.)
Ungleich bekannter sind die Ausführungen in Vom Wesen der Wahrheit, wo Heidegger die Freiheit schließlich als »die Entbergung des Seienden als eines solchen« (Heidegger 1997: 17) und als »das Seinlassen von Seiendem« (ebd.: 16) beschreibt. Es wird jedoch schon anhand dieser Zitate deutlich, dass die grundsätzliche Spannung zwischen Geworfensein und Entwurf des Daseins – zwischen Angewiesensein auf Welt und Überstieg von Welt – auch hier von Heidegger nicht aufgelöst wird.9 Den Orientierungspunkt für die nun folgende knappe Darstellung dreier Rezeptionslinien zu Heideggers Freiheitsbegriff(en) soll daher die Konzeption der Daseinsanalytik in Sein und Zeit darstellen. Es wird sich zeigen, dass die drei Rezeptionsansätze bezüglich des oben genannten Spektrums an möglichen Les-
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Vgl. zur Diskussion um Heideggers Konzeption der vorlaufenden Entschlossenheit und der mit ihr einhergehenden ›Vereinzelung‹ des Daseins exemplarisch Siegfried (2010: Abschnitt V.1).
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Vgl. als prägnanten Überblick zu den zentralen Akzentverschiebungen in Heideggers Ansatz um 1930 mit Bezug auf die Freiheits- und Wahrheitsthematik exemplarisch Frede (2003).
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arten von Freiheit und Subjektivität in Sein und Zeit jeweils unterschiedliche Entscheidungen treffen und sich in ihren Heidegger-zugewandten wie Heidegger-kritischen Anmerkungen für ganz bestimmte Aspekte der Heidegger’schen Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Konzeption des autonomen Subjekts interessieren.
II. D IE
POLITISCHE
R EZEPTION
Die zunächst skizzierte ›politische‹ Rezeption des Heidegger’schen ›Freiseins‹ als eines In-der-Welt-sein soll identifiziert werden mit dem Werk Hannah Arendts. So kritisch sich Arendt – vor allem in Was ist Existenz-Philosophie? (Arendt 1948) – mit Heidegger auseinandergesetzt hat, so deutlich wird an zentralen Stellen ihres Werkes, dass sie in Heideggers Denken ein Potential sieht, das sich für eine politische Theorie nutzen lässt. Die Möglichkeit einer solchen Rezeption von Heideggers Daseinsanalyse ist zunächst einmal gar nicht selbstverständlich: Mit Blick auf die Frage nach der Freiheit ließe sich schließlich sagen, Heidegger entferne sich mit seiner Konzeption eines ontologischen Freiheitsverständnisses – Freiheit als Erschlossenheit des Daseins – so weit von den klassischen Freiheitsbegriffen der politischen Philosophie, dass ein positiver Bezug auf sein Denken im Kontext einer politischen Theorie kaum Sinn macht. Dana Villa bezeichnet Sein und Zeit in seinem Buch zu Heidegger und Arendt entsprechend als einen auf den ersten Blick »supremely unpolitical text« (Villa 1996: 120).10 Wo also sieht Arendt bei Heidegger konkret die Möglichkeit angelegt, den Bereich des Politischen in den Blick zu nehmen? Ohne die Komplexität der Bezüge zwischen dem Werk Heideggers und demjenigen Arendts leugnen zu wollen, ist doch offenkundig, dass Arendt vornehmlich im Aufweis des Situiertseins des Daseins als eines ›Wer‹ in einer mit anderen geteilten und je konkret gestalteten Welt den für sie reizvollen Anknüpfungspunkt sieht.11 Zentral ist dabei
10 Entsprechend geht Günter Figal in seiner Untersuchung von Heideggers Konzeption in Sein und Zeit als einer »Phänomenologie der Freiheit« auch nicht ausführlicher auf die Dimension einer politischen Freiheit ein (vgl. Figal 1988). 11 Aufschlussreich für Arendts Sichtung anschlussfähiger Motive bei Heidegger sind ihre Bemerkungen in Concern with Politics in Recent European Thought (Arendt 1994b). Vgl. zu den unterschiedlichen Akzentsetzungen in Arendts publizierten Auseinandersetzungen mit Heidegger Villa (1996: Ch. 4).
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einmal die Abkehr von der Fixierung auf den theoretischen Weltbezug, die in Heideggers Hermeneutik der Faktizität der 20er Jahre ein zentrales Motiv darstellt, an das Arendt mit ihrer Untersuchung unterschiedlicher Weisen menschlichen Tätigseins in Vita activa anschließt (vgl. Arendt 2008). Wegweisend für Arendts eigenen Ansatz ist zudem die Grundidee Heideggers, die Entfaltung von Freiheit erstens nicht als Aus-sich-Heraustreten eines zunächst isolierten Subjekts zu denken und Freiheit zweitens nicht auf das traditionelle Konzept der Willensfreiheit zu reduzieren. Dana Villa hebt diese beiden Aspekte in seiner Studie zu Arendt und Heidegger prägnant hervor: »Being and Time provides a conception of human freedom that largely (but not totally) avoids the reductionist, antiworldly tendencies of the subject-centered conceptions of freedom that dominate the tradition.« (Villa 1996: 13) Weiter heißt es: »By thinking freedom existentially and ontologically, Heidegger breaks fundamentally with the ground of the will, opening the way to elucidation of freedom as a mode of being-in-theworld.« (Ebd.: 119) In ihrem Essay Freiheit und Politik stellt Arendt klar heraus, inwiefern für sie Freisein primär als Phänomen des Politischen verstanden werden muss: »Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit Anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in Bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist« (Arendt 1994a: 201; Herv. i. O.). Im Werk von Arendt entfaltet sich somit ein Potential von Heideggers Neubestimmung der Freiheit in Sein und Zeit, welches dieser selbst nicht konsequent umgesetzt hat: Anders als Heidegger gelingt es Arendt, die Freiheit des Einzelnen mit einer fundamentalen Pluralität menschlichen Daseins zusammenzudenken und menschliches Handeln – welches in Sein und Zeit selbst völlig unterbelichtet bleibt – als ein Geschehen im Zwischen zu verstehen. Als solches lässt sich das Handeln nach Arendt gerade nicht als gemeinschaftliches Herstellen von etwas begreifen. Das traditionelle Konzept eines souverän auf die Welt zugreifenden und die Welt nach dem eigenen Willen gestaltenden einzelnen Subjekts als die philosophische Variante des Homo faber verbannt Arendt somit aus der Sphäre des Politischen und vollzieht hiermit eine konsequente Kritik der Identifikation von (politischer) Freiheit mit Souveränität.12
12 Siehe zu Arendts Identifikation des traditionellen Konzepts der Willensfreiheit mit dem (Welt) herstellenden souveränen Subjekt Arendt (1994a: 205 ff.; 210 ff.; 224 f.). Vgl. dazu ausführlicher Rosenmüller (2007) sowie Meints (2011: 189 ff.).
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Entsprechend hebt sie in ihrer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Existenzialontologie in Was ist Existenz-Philosophie? vor allem diejenigen Motive in Sein und Zeit hervor, die auf ein nicht überwundenes oder gar zugespitztes Denken der »Selbstischkeit« verweisen und somit darauf hindeuten, dass Heidegger dem eigenen Anspruch, Dasein als Mitsein zu denken, nicht gerecht geworden ist, und dass er die für Arendt so wichtige Sphäre der Öffentlichkeit lediglich als Verhinderung eigentlicher Rede begreift (vgl. Arendt 1948: 72 f.).13
III. D IE
ETHISCHE
R EZEPTION
Bemerkenswerterweise beziehen sich jedoch unterschiedliche Texte der politischen Philosophie der Gegenwart bei ihrem Versuch, politische Schlüsselbegriffe wie ›Freiheit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Gemeinschaft‹ neu zu denken, auf Phänomene, die Heidegger im Umfeld der Analyse der vorlaufenden Entschlossenheit freilegt: den Gewissensruf, die Angst, das Sein zum Tode. Gerade diejenigen Motive, welche oftmals als Hinweis auf einen spezifischen Solipsismus des Daseins gedeutet wurden und somit als Ausdruck einer Konzeption des Freiseins als eines Frei-seins von den anderen, werden hier als Ausgangspunkt für die Offenlegung einer ethischen Dimension ursprünglichen Frei-seins gelesen, in dem der Einzelne immer schon verwiesen ist auf den anderen als einen sich dem Verfügungsstreben des souveränen Subjekts entziehenden Anderen.14 Ich spreche bewusst von Texten, welche diese Lesart repräsentieren, weil an dieser Stelle – anders als im vorigen Absatz – die Identifizierung dieser HeideggerRezeption mit einem einzelnen Autorennamen nicht sinnvoll erscheint.
13 Im Kontrast zu Heidegger würdigt sie dabei Karl Jaspers’ Verständnis von Kommunikation, das Folgendes berücksichtige: »Die Existenz ist wesensmäßig nie isoliert; sie ist nur in Kommunikation und im Wissen um andere Existenzen. Die Mitmenschen sind nicht (wie bei Heidegger) ein zwar strukturell notwendiges, aber das Selbstsein notwendig störendes Element der Existenz.« (Arendt 1948: 80). 14 In unüberhörbarer Anspielung auf Heidegger schreibt Arendt: »Nur im Tod oder angesichts des Todes kann menschliches Dasein ganz und gar singularisch werden.« (Arendt 1994a: 214) Für eine Interpretation, die dagegen die Gewinnung der Eigentlichkeit im Gewissensruf als überzeugenden Ausdruck eines grundlegenden Draußenseins des Daseins liest, das jegliche ›Innerlichkeit‹ des Rufes sprenge, vgl. Dastur (1998).
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Zu denken wäre vornehmlich an Jean-Luc Nancys Heidegger-Auslegungen in Die undarstellbare Gemeinschaft und Singulär plural sein, ebenso wie an Jacques Derridas späte Werke zu Themen und Fragen der praktischen Philosophie. Während Nancy in Die undarstellbare Gemeinschaft in Anlehnung an die Todesanalyse aus Sein und Zeit das Motiv einer Nicht-Herstellbarkeit des Todes nutzt, um traditionelle Ideen von Gemeinschaft als Projekt oder Werk zu dekonstruieren (vgl. Nancy 1988: 36 ff.),15 liest Derrida (z.B. 2002) Heidegger nun konsequenter als in seinen früheren Schriften als einen Überwinder des klassischen philosophischen Ideals der Selbstpräsenz. Von großem Gewicht ist dabei für Derrida ohne Frage die Rezeption des Werks von Emmanuel Lévinas und dessen Ziel einer Freilegung von Ethik als Erster Philosophie.16 Um aus pragmatischen Gründen an dieser Stelle einen tatsächlichen Vergleich zwischen Nancy und Derrida zu vermeiden,17 werde ich kurz auf ausgewählte Kernstellen in Derridas Texten zu ethischen und politischen Themen mit Blick auf eine ›ethische‹ – d.h. hier: die Öffnung zum Anderen hin akzentuierende – Wendung zentraler Motive aus Sein und Zeit eingehen. Solche werden in Derridas späten Schriften oftmals entweder explizit thematisiert – z.B. in Politik der Freundschaft – oder sie werden scheinbar beiläufig angesprochen, etwa an einer zentralen Stelle in Gesetzeskraft, wo es um die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Dekonstruktion geht. Derrida erwähnt hier die Bedeutung der Angst als Entdeckung der ›Abgründigkeit‹ des rechnenden, berechnenden, souveränen Subjekts (vgl. Derrida 1991: 42).18 Die Offenheit und Kontingenz (das Nichts), die aufklaffen bei der radikalen Hinterfragung und Verunsicherung althergebrachter Begriffe, Definitionen und somit den gefestigten Sinnbezügen unseres Existierens, zwingen nach Derrida geradezu zur Übernahme einer ›unendlichen Ver-antwortung‹ gegenüber dem – groß geschriebenen – Anderen. Die Perspektive, dass Frei-sein zugleich heißt, ver-antwortlich in einem geradezu
15 Zur Distanzierung vom souveränen Subjekt als Bezugspunkt für ein Denken von Gemeinschaft vgl. auch Nancy (1988: 56 f.). 16 Vgl. zur Inspiration durch Lévinas exemplarisch Quadflieg (2007) sowie Krauß (2001: 165 ff.). 17 Zu Gemeinsamkeiten und Differenzen in Nancys und Derridas Denken zur Freiheit vgl. Mules (2010). Zu Nancys Heidegger-Lektüre und den signifikanten Unterschieden zu dem für Derrida so wichtigen Ansatz Lévinas’ Ethik als Erster Philosophie vgl. Critchley (1999). 18 Vgl. zu Motiven Heideggers (und Husserls) in Derridas Beschäftigung mit Gesetz und Gerechtigkeit auch Lorenzer (2007).
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wörtlichen Sinne zu sein, ließe sich als ein Grundmotiv von Derridas Texten zur Gastfreundschaft, zur Gerechtigkeit, zu einem Europa jenseits des ›Denkens des Kaps‹, und somit jenseits des klassischen Souveränitätsdenkens, verstehen.19 In der Beschäftigung mit Heideggers Auslegung des Gewissensrufes in Politik der Freundschaft wird entsprechend die »Stimme des Freundes, den jedes Dasein bei sich trägt« (Heidegger 2001: 163) von Derrida gerade nicht mit dem »Phänomen einer idealen Selbstpräsenz in der inneren Stimme« (Derrida 2002: 429) identifiziert. Vielmehr sieht Derrida hier Heidegger auf dem Weg zur Beschreibung eines Ereignisses, das im Hereinbrechen des ›radikal Anderen‹ in den Horizont des Selbst besteht.
IV. D IE ONTOLOGISCHE R EZEPTION
ODER EXISTENZIALISTISCHE
Zuletzt möchte ich auf Spuren der Heidegger’schen Analysen zum Frei-sein des Daseins in philosophischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts mit Relevanz für politische Fragen eingehen, die unmittelbar auf Heideggers Vokabular zurückgreifen. Es handelt sich hier weniger um Werke, die einen konkreten Gedanken bei Heidegger zum Ausgangspunkt für ganz eigene Reflexionen nehmen, sondern vielmehr um Texte, die sich wesentlicher Kernmotive oder Begriffe aus Heideggers Existenzialanalytik bedienen, um sie leitmotivisch oder auch nur punktuell einzusetzen. Zu denken wäre hier an die Heidegger-Rezeption bei Jean-Paul Sartre, der zwar bei seiner Analyse der ontologischen Verfasstheit von Freiheit zunächst nicht normativ nach der gut eingerichteten Gesellschaftsordnung für den freien Menschen fragt, dessen Unterscheidung zwischen »An-sich-« und »Für-sich-sein« sowie die Konzeption der »radikalen Wahl« jedoch immer wieder in der politischen Philosophie der Gegenwart positiv aufgegriffen oder kritisch durchleuchtet wurden, letzteres z.B. bei Charles Taylor (vgl. 1992: 29 ff.).20
19 Vgl. Derridas (1992) Essays zu Europa, wo er das Denken des Kaps mit zahlreichen Phänomenen der philosophischen wie politischen Tradition Europas identifiziert, darunter u.a. mit dem Identitätsdenken, dem Ursprungsdenken, dem Souveränitätsdenken. 20 Als aktuelles Beispiel einer fruchtbaren Sartre-Lektüre mit Blick auf Fragen der politischen Philosophie und Sozialphilosophie vgl. Richter (2011).
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Zwar ohne traditionelle Subjektmetaphysik betreiben zu wollen, aber dennoch stärker vom Subjekt ausgehend als die zuvor präsentierten Entwürfe, hat Sartre bekanntlich diejenigen Motive bei Heidegger aufgegriffen, welche die Freiheit des Subjekts im Selbstentwurf der je eigenen Existenz aufgehen lassen. So heißt es in Das Sein und das Nichts: »Der Mensch ist frei, weil er nicht Sich ist, sondern Anwesenheit bei sich. Das Sein, das das ist, was es ist, kann nicht frei sein. Die Freiheit ist genau das Nichts, das im Kern des Menschen geseint wird [est été] und die menschliche Realität zwingt, sich zu machen statt zu sein« (Sartre 2002: 765; Herv. i. O.).
Zwar hebt Sartre das unhintergehbare Engagiertsein des Menschen in der Welt hervor – frei ist der Einzelne nur in bestimmten Situationen. Deren Erschlossenheit als Situation des Scheiterns, Situation des Erfolgs usw. wird jedoch wiederum nur im Lichte der Freiheit des Entwurfs verstehbar. Deutliche Spuren dieser Idee lassen sich etwa bei Richard Rorty finden, z.B. bei der Charakterisierung des kontingenten Selbst in seinem Streben nach ›Authentizität‹ in Kontingenz, Ironie und Solidarität. Hier bezieht sich Rorty bei der Beschreibung des kontingenten Selbst mehrfach auf Sartres Analyse des ›metastabilen‹ Für-sich-seins (vgl. Rorty 1992: 128), um anschließend sogleich für eine strikte Privatisierung des »Nietzsche-Sartre-Foucaultschen Versuch[s] zur Authentizität und Reinheit« (ebd.: 117) zu plädieren. Offensichtlich ist jedoch auch, dass Rorty sich lediglich eines bestimmten existenzphilosophischen Vokabulars, genauer noch: bestimmter Bruchstücke eines solchen Vokabulars, bedient, die ihm für seine Zwecke geeignet erscheinen. Sowohl der frühe Heidegger als auch Sartre, dies wird in Kontingenz, Ironie und Solidarität deutlich, sind in seiner Sicht noch ›Metaphysiker‹ (›Subjektphilosophen‹ oder ›Transzendentalphilosophen‹) (vgl. ebd.: 183). Spätestens mit dieser Diagnose drängt sich jedoch die Frage auf, welche Perspektiven Heideggers Konzeption der Freiheit als Frei-sein des Daseins eröffnen kann, wenn man nicht nur einige ausgewählte Motive oder einige prägnante Schlagwörter aus Sein und Zeit aufgreifen möchte. So offenkundig die in den letzten Abschnitten thematisierten Autorinnen und Autoren fundamentale Aspekte der Daseinsanalyse mit ihrem Anliegen einer Transformation des neuzeitlichen Verständnisses von Subjektivität und Freiheit für Fragen der politischen Philosophie fruchtbar zu machen suchen, so offensichtlich beziehen sie sich auf Heideggers Konzeption, um sich an entscheidenden Stellen gerade von dieser zu distanzieren.
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Ich möchte daher abschließend noch einmal auf die zuerst geleistete Darstellung von Heideggers Grundansatz bei der Frage nach dem Frei-sein des Daseins zurückgehen und fragen, in welcher Weise man diesen für die politische Philosophie der Gegenwart und die hier stattfindenden Diskussionen über unterschiedliche Konzeptionen individueller Freiheit fruchtbar machen könnte.
AUSBLICK ZUM P OTENTIAL VON H EIDEGGERS F REIHEITSVERSTÄNDNIS Zunächst möchte ich wieder anknüpfen an eine bei der Beschreibung von Heideggers Konzeption des Frei-seins in diesem Beitrag bereits in Aussicht gestellte Möglichkeit, diesen Ansatz als konsequente Verabschiedung des vereinzelten Subjekts zu begreifen. Nimmt man Heideggers Verständnis von Frei-sein als Sein-in-der-Welt ernst, dann ließe sich Frei-sein als eine Weise des unhintergehbaren Eingebundenseins in umweltliche und mitweltliche Bezüge denken, das in noch näher zu bestimmender Weise als gelungene Ausgestaltung dieser Bezüge zu denken wäre (siehe I.). Die von mir unter die Kategorien einer politischen und einer ethischen Heidegger-Rezeption subsumierten Ansätze versuchen schließlich ebenfalls, in unterschiedlicher Weise genau diejenigen Motive bei Heidegger stark zu machen, die als Ausdruck einer Überwindung des Subjekts als eines ›Einzelgängers‹ in der Welt, einer monologischen oder solipsistischen Seinsweise, gelesen werden können. Suchte man nun möglichst konkret mit Heidegger selbst ein Verständnis von Freiheit als gelungener Ausgestaltung des In-der-Welt-seins zu entwickeln, wären die Stellen und Passagen aus dem Werk der 1920er Jahre aufschlussreich, in denen sich Perspektiven andeuten, inwiefern eigentliches Dasein als weltzugewandtes Dasein mit anderen beschrieben werden könnte. Solche Stellen sind ohne Zweifel rar.21 Es ist jedoch offenkundig, dass die Grundvoraussetzung eines solchermaßen begriffenen Frei-seins nach Heidegger sein müsste, sich als ein ›Wer‹ in der Welt wiederfinden zu können, d.h. diese als eine gemeinsam mit anderen verstehenden, redenden, befindlichen ›Wer‹ gestaltete zu erleben. Mit Blick auf Hannah Arendts Unterscheidungen menschlicher Tätigkeiten wäre zu
21 Anknüpfungspunkte böten sich bei Heideggers Charakterisierung der ›vorausspringenden Fürsorge‹ (vgl. Heidegger 2001: 122) sowie bei einer Herausarbeitung derjenigen Motive, die in Heideggers Schilderung des ›Man‹ als positive Formen des gemeinsamen In-der-Welt-seins anklingen.
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ergänzen: ›Gestalten‹ soll hier bewusst nicht heißen ›herstellen‹. Und noch eine Akzentsetzung wäre wichtig: Dem Vollzug des Mitseins müsste jegliche Nachträglichkeit abgesprochen werden, d.h. frei wäre das Dasein im Sinne einer solchen Heidegger-Auslegung dann, wenn sich seine je eigene Selbstdeutung in gelingenden Prozessen der Aneignung von Zuhandenem und Vorhandenem und der Begegnung mit anderen Mitdaseienden überhaupt erst entfaltete. Es ist offenkundig, dass ein solches Freiheitsverständnis signifikant abwiche von der Minimalvorstellung einer rein ›negativen‹ Freiheit, bei der es zunächst schlicht um die Abwesenheit äußerer Hemmnisse und Hindernisse geht.22 Vielmehr legen die eben geleisteten Beschreibungen eines möglichen Denkens der Freiheit mit Heidegger nahe, einen solchen Entwurf in ein Gespräch zu bringen mit Ansätzen, die bewusst nicht von einer Nachträglichkeit umweltlicher oder mitweltlicher Bezüge gegenüber dem selbstbestimmten Entwurf des Daseins – bzw. Subjekts oder Individuums – ausgehen möchten. Bei Axel Honneth finden wir diesen Anspruch eingelöst in der Konzeption ›sozialer‹ Freiheit.23 Das Kernmotiv eines solchen Freiheitsverständnisses beschreibt Honneth folgendermaßen: »Für vergesellschaftete Subjekte muß es eine Art von Selbstverständlichkeit bilden, daß der Grad ihrer individuellen Freiheit davon abhängig ist, wie responsiv sich die sie umgebenden Handlungssphären gegenüber ihren Zielen und Absichten verhalten: Je stärker sie den Eindruck haben können, daß ihre Zwecke von denjenigen unterstützt, ja getragen werden, mit denen sie regelmäßig zu tun haben, desto eher werden sie ihre Umwelt als den Raum einer Expansion ihrer eigenen Persönlichkeit wahrnehmen können.« (Honneth 2011: 113)
Dass sich Heideggers Ansatz in einer Weise fruchtbar machen lässt, die ihn anschlussfähig werden lässt an die Diskussionen um ein solches Verständnis von
22 Um nicht zu tief in die unterschiedlichen Kategorisierungsmodelle moderner Freiheitsverständnisse einsteigen zu müssen, stütze ich mich hier auf die Dreiteilung von Honneth, welcher von einer ›negativen‹, einer ›reflexiven‹ und einer ›sozialen‹ Freiheit ausgeht (vgl. Honneth 2011). 23 Entsprechend können diejenigen Heidegger-Rezipienten, die vornehmlich die Idee des Selbstentwurfs aufnehmen wie Sartre, mit Honneth nur ein ›negatives‹ oder – wenn sie den Prozess der Ziel- und Zwecksetzung beim eigenen Lebensentwurf als wesentliches Moment bedenken – ein ›reflexives‹ Verständnis von Freiheit entwickeln; vgl. zur Einschätzung Sartres Honneth (2011: 48 ff.).
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Freiheit, zeigt nicht zuletzt die Interpretation des Mitseins von Robert Brandom in seinem Aufsatz Heideggers Kategorien in »Sein und Zeit«. Brandom legt das Hauptaugenmerk konsequent auf die »soziale« Verfasstheit des Daseins und begreift das Mitsein – unter Bezugnahme auf Hegel – als »Anerkennungsgemeinschaft« (vgl. Brandom 1997: 540 ff.). Zwei Aspekte scheinen mir jedoch zentral zu sein: Einmal müsste ein Rückgang auf Heideggers Verständnis von Frei-sein reflektieren, inwiefern sich heute noch – oder wieder – Heideggers ursprünglicher Anspruch einer phänomenologisch-hermeneutischen Analyse des Frei-seins wachhalten ließe. Im besten Fall könnte gezeigt werden, dass der methodische Zugang, welcher Heidegger überhaupt erst zur Prägung seines spezifischen Vokabulars motivierte, auch in der Gegenwart noch Perspektiven eröffnen kann, die eine Verständniserweiterung und kritische Prüfung bestimmter Entwürfe des freien Subjekts ermöglichen – und dass, ohne sich als fragwürdige Wesensbeschreibungen menschlicher Existenz präsentieren zu müssen.24 Zuletzt jedoch darf eine Interpretation von Heideggers Deutung des Freiseins im Horizont des Modells ›sozialer‹ Freiheit nicht übersehen, dass eine solche – mit Heidegger selbst gedacht – nur im Horizont einer fundamentaleren Unheimlichkeit und Abgründigkeit des Daseins verstanden werden kann. Nur weil Dasein ›frei‹ im Sinne von ›radikal unbestimmt‹ ist, lässt sich Welt überhaupt so oder so gestalten – als Welt, in der sich die einzelnen Daseienden wiederfinden können, ebenso wie als Welt, in der einem die anderen lediglich in »der Maske des Füreinander« (Heidegger 2001: 175) begegnen. Mit dem Verweis auf eine solche ›Abgründigkeit‹ ist jedoch ein Motiv benannt, das vor allem dann in den Blick gelangt, wenn der Entwurfcharakter des Daseins fokussiert wird – also dasjenige Motiv aus Sein und Zeit, welches vornehmlich dazu einlädt, das Frei-sein des Daseins als Variante ›negativer‹ oder ›reflexiver‹ Freiheit zu begreifen. Das bedeutet: Wenn man Heideggers Verständnis von Freiheit als Spielart einer ›sozialen‹ Freiheit verstehen möchte, dann muss das ›Soziale‹ hier als etwas begriffen werden, das in seiner spezifischen ›Grund-losigkeit‹ in – zwangsläufig kontingenten und geschichtlichen – Prozessen der ›Stiftung‹ immer wieder neu be-gründet und stabilisiert werden muss.
24 Das Potential eines phänomenologisch-hermeneutischen Zugangs zeigt sich besonders eindringlich im Rückgang auf Heidegger’sche Kernmotive bei Charles Taylor sowie ganz aktuell bei Hartmut Rosa, der unter Einbeziehung zentraler Gedanken Taylors die Möglichkeiten einer ›neuen Gesellschaftskritik‹ auszuloten sucht: Vgl. Rosa (2012).
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OHNE
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Heideggers ›liebender Streit‹ Ein Modell der Anerkennung? T ATJANA N OEMI T ÖMMEL »Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder.« HÖLDERLIN 1957: 160
Ob Karl Löwith oder Ludwig Binswanger, Jean Paul Sartre oder Emmanuel Levinas, Karl Jaspers oder Hannah Arendt – sie alle sind sich einig, dass Heideggers Konzeption des Mitseins mangelhaft, ja ungenügend sei (vgl. Löwith 1928; Binswanger 1942: 16; Sartre: 1943: 286; Levinas 2003: 18; Jaspers 1978: 34; Arendt 1990: 37). Tenor der Forschung ist bis heute die relativ stereotyp wiederholte These, dass Heideggers Fundamentalontologie »nichts mit persönlicher Begegnung, Freundschaft, Liebe oder Sorge für einen oder zwei andere zu tun« habe (Knauber 2006: 111; vgl. auch Peperzak 1988: 204). Da Heidegger immer wieder zugeschrieben wird, er blende so bedeutende Phänomene wie Liebe und Freundschaft systematisch aus (Pattison 2006: 171), ist es nur folgerichtig, dass kaum Analysen dieser Begriffe vorliegen. Dass dieser Vorwurf nicht aus der Luft gegriffen ist, kann jeder bestätigen, der die wichtigsten Texte des Heideggerschen Œuvres auch nur ein wenig kennt. Und doch halten seine Schriften für den aufmerksamen Leser Überraschungen bereit; kleine Trouvaillen, die belegen, wie vielseitig, widersprüchlich, wie anregend dieses Opus ist. Dabei sind es gerade die weniger bekannten Schriften, gewissermaßen der Saum des Werkes, an dem man in Bezug auf die Liebe fündig wird: Briefe, Notizen und Vorlesungen, selbst Gedichte. So stößt man zum Beispiel in der Vorlesung Der Anfang des abendländischen Denkens. Heraklit vom Sommersemester 1943 auf einen Aspekt, der mir
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eine dieser erwähnenswerten Ausnahmen in der sonst weitgehend undialogischen, auf Vereinzelung ausgerichteten Philosophie Heideggers zu sein scheint. Es handelt sich dabei um den – zunächst recht seltsam anmutenden – Begriff des mit der Liebe identifizierten polemos, der in anderen Texten Heideggers auch als der »Urstreit« (Heidegger 1977: 42; 48) von Erde und Welt auftaucht. Im Folgenden will ich der Frage nachgehen, inwieweit diese Konzeption eines innigen oder gar liebenden Streites (vgl. Heidegger 1976: 336) als Modell intersubjektiver Anerkennung taugt. Im ersten Teil des Beitrages werde ich den Begriff, der für Heideggers Wahrheitsverständnis nach der sogenannten Kehre entscheidend ist, in seinen wesentlichen Grundzügen vorstellen (I). In einem zweiten Schritt möchte ich zeigen, dass Heideggers Konzeption des innigen Streites strukturelle Parallelen zu Karl Jaspers’ Begriff des »liebenden Kampfes«, Hegels Begriff des »Kampfes um Anerkennung« sowie Schellings und Hölderlins Liebesbegriff aufweist und vermutlich durch Heideggers Auseinandersetzung mit Jaspers beziehungsweise mit dem Deutschen Idealismus angeregt wurde (II). Anschließend soll der Begriff des Streites aus dem Kontext des Wahrheitsbegriffes gelöst und mit Heideggers Mitseins- und Liebeskonzeption in Verbindung gebracht werden, aus denen er meiner Ansicht nach ursprünglich hervorgegangen ist (III). Im letzten Teil möchte ich diskutieren, inwieweit sich an Heideggers innigen Streit systematisch anschließen läßt, wobei ich seinen Begriff kurz mit Axel Honneths Theorie der Liebe als Anerkennung vergleichen möchte (IV). Zunächst aber zum Streit selbst.
I.
D ER S TREIT
VON
E RDE
UND
W ELT
Verschiedene Texte aus den dreißiger Jahren, unter anderem der Vortrag Vom Wesen der Wahrheit, aber auch der Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes oder die Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) zeigen den weitreichenden Wandel, den Heideggers Wahrheitsbegriff nach Sein und Zeit durchgemacht hat. Dort hatte er, stets auf das alpha-privativum der aletheia verweisend, Wahrheit als Unverborgenheit bestimmt (Heidegger 2001: 219). Nun will er Wahrheit nicht mehr als stete Unverborgenheit, sondern als Einheit von Verborgenheit und Unverborgenheit verstehen (vgl. Heidegger 1977: 41). »Erde« und »Welt« sind dabei die Bezeichnungen, die Heidegger für die gegenläufigen Prinzipien der Wahrheit, Verdeckung und Entbergung wählt. Während die Welt für das Prinzip der Lichtung, der Offenheit steht, ist die Erde das »Bergende« und »wesenhaft sich Verschließende« (ebd.: 33), sie entzieht sich jeder zudringlichen Entdeckung. Die
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Einheit dieser Gegensätze sei darin begründet, dass Erde und Welt im Urstreit miteinander liegen, wie Heidegger eigenwillig formuliert. Hinter dem Begriff dieses Streites steht der heraklitische polemos, den Heidegger nicht als Krieg, sondern als »vor allem Menschlichen und Göttlichen waltende[n] Streit« übersetzt (Heidegger 1983: 66). Der Streit sei nicht im Sinne des »Haders« oder der »Zwietracht«, gar der »Zerstörung« zu verstehen, sondern als wechselseitige Steigerung: »Im wesentlichen Streit jedoch heben die Streitenden, das eine das andere, in die Selbstbehauptung ihres Wesens. [...] Im Streit trägt jedes das andere über sich hinaus.« (Heidegger 1977: 35) Das Ziel dieses Streites ist nicht das »fade Übereinkommen« (ebd.: 36), die Versöhnung oder Schlichtung: Erde und Welt bilden eine Einheit in der Entzweitheit. Heidegger betont, daß der Streit keine Kluft zwischen den Streitenden auf-, sondern Erde und Welt in eine Einheit reiße. Ihr Streit miteinander verbindet sie, ohne sie miteinander zu verschmelzen, er ist Aus-einander-setzung, zugleich Zuwendung und Absetzung voneinander: »Der Streit [...] ist die Innigkeit des Sichzugehörens der Streitenden.« (Ebd.: 51) Dieses weder symbiotische noch sich dialektisch auf einer höheren Stufe auflösende Verhältnis beschreibt Heidegger als den innigen Streit von Verbergung und Entbergung, wobei beide ihr jeweiliges Wesen bewahren müssen, ungleich bleiben müssen, damit es so etwas wie Wahrheit gibt. So schreibt er in der Heraklit-Vorlesung, dass das Aufgehen, also die Welt, dem Sichverbergen gönne, dass dieses im eigenen Wesen des Aufgehens wese; das Sichverbergen, also die Erde, wese aber, indem es dem Aufgehen vergönne, das Aufgehen zu ›sein‹ (vgl. Heidegger 1979: 132). Mit anderen Worten: Verbergung und Enthüllung als Wesenszüge der Wahrheit stehen weder unvermittelt nebeneinander noch zielt ihr Streit auf die Überwältigung des einen durch den Anderen ab, sondern der Streit besteht in der Anerkennung und Förderung der jeweiligen Andersheit des Anderen. In ihrem Streit gönnen sich Erde und Welt wechselseitig zu sein, was sie sind – gerade dadurch, dass sie sich nicht angleichen, sind sie miteinander verbunden. Als Anerkennung ist der Streit eine Einladung an den jeweils Anderen, so zu sein, wie er ist. Insofern lässt der Kampf die Kämpfenden allererst entspringen, wie Heidegger in der Einführung in die Metaphysik behauptet (Heidegger 1983: 66). Der Streit ist damit das Geschenk des eigenen Wesens: »Eines gönnt sich dem anderen und vergönnt dem anderen die Freiheit seines eigenen Wesens, die in nichts anderem beruht, als in diesem das Verbergen und Entbergen durchwaltenden Gönnen, worin frei sich anhebt das Wesen und Walten von Unverborgenheit. [...] In diesem Gönnen ist der Innigkeit beider das einfache ›Wesen‹ vergönnt.« (Heidegger 1979: 131; 133)
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Auch an anderer Stelle macht Heidegger deutlich, dass er den Streit oder polemos als logos oder »Sammlung«, als Vereinigung des Verschiedenen auslegt (Heidegger 1983: 66). Wie Heraklit, der mit den ähnlich lautenden Worten eris und eros spielt, versteht er den Streit also nicht im Gegensatz zu einer wohlwollenden Zuwendung. Im Gegenteil, die »Gunst« sei der »Grundzug« des Streites (Heidegger 1979: 133). Scheinen »Streit« und »Gunst« zunächst auch in entgegengesetzte Richtungen zu deuten, stimmen sie in Heideggers späterem Denken doch darin überein, dass sie eine Form der Interaktion sind, in der beide Interaktionspartner sich wechselseitig seinlassen und hingeben. Tatsächlich beschreibt Heidegger den Urstreit nicht nur als innigen Streit, sondern identifiziert ihn in mehreren Vorlesungen mit der philia, der Freundschaft oder Liebe: »Die Freundschaft, philia, ist demgemäß die Gunst, die dem anderen das Wesen gönnt, das er hat, dergestalt, dass durch dieses Gönnen das gegönnte Wesen zu seiner eigenen Freiheit erblüht.« (Ebd.: 128) Die Liebe lässt den Urstreit nicht nur zu, sie ist selbst der Streit oder »Kampf«: »Der Kampf ist nach dem alten Spruch des Heraklit das Grundgesetz und die Grundmacht des Seyns. Der größte Kampf aber ist die Liebe, weil sie den tiefsten Streit erregt, um in seiner Bewältigung sie selbst zu sein.« (Heidegger 1988: 281) Heidegger kann Freundschaft oder Liebe (soweit ich sehe, unterscheidet er hier nicht) mit dem Streit gleichsetzen, weil er sie nicht als symbiotische Verschmelzung, sondern als Innigkeit der Auseinandergesetzten, als Einklang der Verschiedenen begreift – Einklang aber beruht auf Gegensätzen und Spannungen, die gleichwohl eine komplexe Einheit der Vielfalt bilden. Die Polarität, ja Widersprüchlichkeit der Wahrheit, ihr Oszillieren zwischen Verbergung und Enthüllung ist auf die Liebe angewiesen, weil sie diese Gegensätze zu einer Einheit verbindet, ohne deren Gegensätzlichkeit selbst aufzulösen. Angesichts dieser Konzeption drängt sich die Frage auf, ob Heidegger auch zwischenmenschliche Sozialität – Mitsein – als wechselseitige Auseinandersetzung denkt, durch die im Wechselspiel von Alterität und Identität das Dasein zu sich selbst kommt. Bevor ich auf diese Frage zurückkomme, scheint es aus zwei Gründen ratsam, den philosophiegeschichtlichen Hintergrund des liebenden Kampfes zumindest kurz zu beleuchten. Erstens weist Heidegger selbst daraufhin, dass Heraklit als der Urvater der dynamischen Seinsauffassung von Schelling, Hegel und Hölderlin gelten kann, die alle – wie Heidegger selbst – die Einheit der Gegensätze zu denken versuchen (Heidegger 1980). Der Anerkennungs- und Liebesbegriff des Deutschen Idealismus erweist sich folglich als Folie, vor der Heideggers Konzeption sich entfaltet und zugleich als Maßstab, an dem sie gemessen werden kann. Zweitens nimmt die zeitgenössische Anerkennungstheorie
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Honneths, die im letzten Teil angesprochen werden soll, ebenfalls Bezug auf Hegel. Der folgende Abschnitt kann dabei allerdings nur einige Schlaglichter setzen, die die genannten Theorien nicht einmal annähernd in ihrer ganzen Komplexität erhellen.
II. L IEBE UND DER K AMPF UM ANERKENNUNG IM D EUTSCHEN I DEALISMUS UND BEI K ARL J ASPERS Dass Selbstbewusstsein auf die Anerkennung durch ein anderes Selbstbewusstsein angewiesen ist, wird in erster Linie mit Hegels Phänomenologie des Geistes in Verbindung gebracht. Doch schon Fichte hatte in seiner Grundlage des Naturrechts das Rechtsverhältnis aus dem Modell wechselseitiger Anerkennung endlicher Vernunftwesen abgeleitet: Ein Bewusstsein der eigenen Autonomie entwickeln Subjekte nur durch die intersubjektive Aufforderung zu deren Gebrauch (vgl. Siep 1979: 22; Honneth 2003: 28 f.; Honneth 2000: 177; Schnädelbach 2000: 150). Während Fichte das Anerkennungsverhältnis auf die Rechtssphäre beschränkt und damit bloß die Entwicklung des »subjektiven Rechtsbewusstseins« erklärt, unterscheidet Hegel drei verschiedene Formen wechselseitiger Anerkennung, denen unterschiedliche Formen der Selbstbeziehung entsprechen (Honneth 2000: 176). Zum formalen Rechtsverhältnis, das in etwa der Kant’schen Achtung entspricht, gesellt sich bei ihm die auf affektive Bedürfnisse ausgerichtete, partikulare Anerkennung durch Liebe, die er nach dem Muster von Hölderlins Vereinigungsphilosophie versteht, sowie die Solidarität als Kennzeichen staatlicher Sittlichkeit, die bestimmte Eigenschaften in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft wertschätzt (ebd.: 178). Da sich auf jeder Stufe dieser Anerkennungsformen das Bewusstsein einer neuen Dimension der eigenen Identität ausbildet, versöhnen sich die Individuen nicht nur miteinander, sondern erfahren sich zugleich als einander entgegengesetzte Einzelwesen, die nach einer höheren Stufe der Anerkennung streben (Honneth 1994: 31). In der Annahme eines solchen kämpferischen Prozesses verknüpft Hegel Fichtes Anerkennungstheorie mit dem Motiv des sozialen Kampfes, auf das er bei Machiavelli und Hobbes gestoßen ist (ebd.: 32). Gegen letzteren, dessen Ziel die Einhegung des bellum omnium contra omnes durch die Konzentration der Herrschaft im Souverän war, behauptet Hegel die Notwendigkeit des Kampfes, der bei ihm freilich nicht mehr um Selbsterhaltung oder Machtsteigerung ausgefochten wird, sondern um die wechselseitige Anerkennung selbst (ebd.: 12 sowie das gesamte Kap. I.1). Das Ziel des Kampfes ist mithin nicht Entzweiung, sondern die »konflikthaft[e] Universalisierung von ›moralischen‹ Potentialen [...], die in der na-
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türlichen Sittlichkeit bereits als ein ›Eingehülltes und Unentfaltetes‹ angelegt sind« (ebd.: 28; für die Zitate im Zitat siehe Hegel 1971: 507). Da Heidegger, soweit ich sehe, nicht an die rechtlichen oder politischen Aspekte des Anerkennungsbegriffes anschließt, sondern ausschließlich am Moment der Selbstwerdung durch Anderssein interessiert ist, werde ich mich im Folgenden auf die interpersonale Anerkennungsbeziehung der Liebe beschränken. Dies ist auch deshalb gerechtfertigt, weil der junge Hegel wesentlich durch Hölderlins Liebesbegriff beeinflusst wurde. Ja, dieser kann sogar als Keimzelle des gesamten Systems angesehen werden (Henrich 1988: 27). Der idealistische Liebesbegriff ist beseelt von dem Gedanken, dass der Liebende im Geliebten, also außerhalb seiner selbst, sich selbst finden kann. Der Andere ist nicht nur ebenbürtig, er wird zur Quelle der eigenen Existenz, insofern diese sich nur durch den Anderen steigern kann. Dieses Verständnis der Liebe als Selbstfindung im Anderen – das »sein selbst Sein in einem fremden« (Hegel 2002: 13) – findet sich gleichermaßen bei Hölderlin, bei Schelling und bei Hegel: Das wahrhafte Wesen der Liebe bestehe darin »das Bewusstsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, um in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen.« (Vgl. Kuhn 1975: 227) Die Paradoxie, dass Selbstverlust zur Selbstwerdung führen soll, ist nicht ohne weiteres verständlich. Einfacher dagegen ist Hölderlins Einsicht, dass es ohne Objekte kein subjektives Bewusstsein geben könne, dass ein absolutes, durch nichts beschränktes Ich also das Nichts sei (Frank 1991: 457). Jedes Bewusstsein ist folglich auf Entgegensetzung angewiesen, um überhaupt zu sein (Hölderlin 1961: 254). Aus dieser Tatsache schließt Hölderlin auf zwei grundsätzliche Strebensrichtungen: Das Streben nach der Unendlichkeit der eigenen Subjektivität, dem absoluten Ich, und das Streben nach der Hingabe an das Nicht-Ich: »Den Widerstreit der Triebe, deren keiner entbehrlich ist, vereinigt die Liebe.« (Hölderlin 1957: 195; vgl. Frank 1991: 459; Henrich 1988: 28) Liebe ist damit nicht mehr als Beziehung von Person zu Person, von Subjekt und Objekt begriffen, sondern als Einheit von »Lebenstendenzen, deren eine selbst schon Einigung ist. Liebe wird damit zu einem Metaprinzip der Vereinigung von Gegensätzen im Menschen.« (Henrich 1988: 17) Liebe ist, mit anderen Worten, dasjenige Prinzip, das der Dichotomie von Identität und Alterität überlegen ist (Frank 1991: 461), sie ist die Einheit der Verschiedenheit oder die Verschiedenheit der Einheit. Dieses Gleichgewicht von symbiotischer Hingabe und Selbstständigkeit in der Liebe findet sich auch in Schellings Identitätsphilosophie. So bezeichnet er es als »das Geheimnis der Liebe, dass sie solche verbindet, deren jedes für sich
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sein könnte und doch nicht ist, und nicht sein kann ohne das andere« (Schelling 1997: 79). Und in einem frühen Fragment von Hegel heißt es: »Der Geliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir sehen nur uns in ihm – und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder, das wir nicht zu fassen vermögen.« (Hegel 1986: 244) Das »Wunder« oder »Geheimnis« der Liebe liegt für beide Denker in der Paradoxie, dass der Liebende zugleich mit dem Geliebten identisch wird und doch seine Eigenständigkeit bewahrt, ja sogar erst zu dem wird, was er ist. Hintergrund dieser Paradoxie der Liebe, ihres »Geheimnisses« ist ein spezifischer Identitätsbegriff: Identität im Sinne Hölderlins und Schellings ist eine echte Relation, also keine Tautologie (Frank 1991: 461). »Identität« ist also nicht das statische Verhältnis »A=A«, sondern die schöpferische Handlung »A ist A«, also »A bringt A hervor« oder »A lässt A sein«. Das so verstandene »Seyn«, das zum Synonym für die Liebe wird, hält die Liebenden im Innersten zusammen, weil sie deren einzelne Existenzen bewahrend hervorbringt. Heidegger kannte diese Texte nicht nur, er bezieht sich auch durchaus zustimmend auf sie. Ja, daran, dass Heidegger sich Schelling und Hölderlin in dieser Hinsicht zum Vorbild genommen hat, kann kaum Zweifel bestehen, das zeigen Schriften wie Identität und Differenz (vgl. Heidegger 2006: 34). »Einheit« ist auch für Heidegger nie »leere Einerleiheit, nicht Selbigkeit als bloße Gleichgültigkeit. Einheit ist Zusammengehörigkeit der Gegenstrebigen. Dies ist das ursprünglich Einige.« (Heidegger 1983, 147) Zu Recht weist Jacques Derrida darauf hin, dass es stets dasselbe Prinzip sei, dem Heideggers Interesse gilt, ob als Streit, Anerkennung oder Liebe: Die Entzweiung versammelt und eint, die Versammlung entlässt in die Eigenständigkeit (vgl. Derrida 2002: 466). Warum es durchaus einleuchtend ist, Liebe als Relation zu fassen, die zugleich verbindet und trennt, zeigt Heideggers Schelling-Vorlesung von 1936. Hier heißt es, die Liebe sei »die ursprüngliche Identität, die als solche das Verschiedene und für sich sein Könnende auseinanderhaltend verbindet. [...] [Sie wolle], daß die Verschiedenen, die für sich sein könnten, verschieden sind und auseinander weichen; denn ohne dieses hätte die Liebe nicht, was sie einigte, und ohne solche Einigung wäre sie nicht selbst. Der Wille der Liebe will also nicht irgendeine blinde Einigung, damit nur eben Einheit sei, sondern will zuerst und eigentlich immer die Scheidung; nicht, daß es bei dieser immer nur bleibe, sondern damit der Grund bleibe zur je höheren Einigung.« (Heidegger 1988: 222 f.)
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Nach dieser Konzeption ist die Liebe notwendigerweise in sich widerstrebend: Sie muss zugleich Vereinigung und Unterscheidung sein, denn die Symbiose als vollkommene Einheit der Liebenden würde nicht nur die Liebe als vereinigende Kraft vernichten, sondern auch die Liebenden selbst als die Individuen, als die sie vom Anderen geliebt werden. Den Anderen selbst kann nur anerkennen und genießen, wer den Anderen noch als Anderen wahrnimmt. So wie das große Glück des Selbstbewusstseins darin liegt, dass man sich selbst Gesellschaft leisten kann, liegt das Glück der Liebe nicht in der Einswerdung, sondern darin, dass ein Anderer und Fremder zum Begleiter und Gefährten wird. Wer wirklich mit dem Geliebten verschmelzen würde, wäre wieder allein. So meinte auch Herder im Rückgriff auf Aristoteles, Freundschaft und Liebe müssten die Eigenständigkeit der Liebenden fördern und seien überhaupt nur möglich »zwischen gegenseitigen freyen, consonen, aber nicht unisonen, geschweige identificirten Geschöpfen« (Herder 1994: 423). Die Liebe ist deshalb nicht Einheit, sondern Vereinigung der Verschiedenen, sie vernichtet sich, sobald sie diese grundsätzliche Andersheit zugunsten der Einheit übergehen will. Ich möchte hier nicht weiter auf eine mögliche Beeinflussung Heideggers durch Hegel, Hölderlin oder Schelling eingehen, obwohl sich ein ausführlicher Vergleich sicherlich als fruchtbar erweisen würde. Stattdessen will ich in aller Kürze eine Position darstellen, der eventuell die Rolle eines Vermittlers zukommt, nämlich Jaspers »liebenden Kampf«, der mir seinerseits von Hegels »Kampf um Anerkennung« inspiriert zu sein scheint. Nicht nur die Tatsache, dass Heidegger zuerst in einem Brief an Jaspers von der Freundschaft als »Kampfgemeinschaft« (Heidegger/Jaspers 1990: 33) spricht, macht diese Ergänzung ratsam. Jaspers Schriften zeigen auch, wie sich der Begriff des Kampfes auf eine Weise verstehen lässt, die von derjenigen Carl Schmitts ganz verschieden ist. In der Psychologie der Weltanschauungen, vor allem aber in seiner dreibändigen Philosophie entwirft Jaspers eine Kommunikationslehre, welche die Auseinandersetzung mit dem Anderen als Grund des eigentlichen Selbstseins versteht. Nicht das fraglose Sein des Menschen in einer Gemeinschaft, das Heidegger als »Man« angeprangert hatte, auch nicht die Entschlossenheit des isolierten Ich, sondern die Kommunikation ist das Fundament des Selbstseins für Jaspers: Jedes Selbstbewusstsein ist auf ein anderes Selbstbewusstsein angewiesen – »ich muss veröden, wenn ich nur ich bin« (Jaspers 1956: 56; vgl. ebd.: 50 f.; 55). Die Kommunikation schafft dabei eine Verbindung zwischen zwei Menschen, die keine symbiotische Einswerdung ist, sondern bei aller Nähe doch die Eigenständigkeit der einzelnen Person wahrt: »Kommunikation findet jeweils nur zwischen zweien statt, die sich verbinden, aber zwei bleiben müssen.« (Ebd.: 61)
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Jaspers verbindet Hegels Grundgedanken der kämpferischen Auseinandersetzung mit Kierkegaards existentiellem Ringen um Selbstsein; das Prinzip der Sittlichkeit wird bei ihm zu einer philosophischen Praxis der Existenzerhellung: Ich kann nur ich selbst werden im Austausch mit einem ebenbürtigen Gegenüber, der auf gleiche Weise in Freiheit er selbst sein will. Will der eine über den anderen herrschen oder sich unterwerfen, verlieren beide: »Erst im gegenseitigen Anerkennen erwachsen wir beide als wir selbst. Nur zusammen können wir erreichen, was jeder erreichen will.« (Ebd.: 57) Selbstsein ist für Jaspers nie möglich in der Isolierung, sondern unbedingt daran gebunden, sich dem anderen auszusetzen, ja, sich ihm hinzugeben (ebd.: 66). Wie Hegel, Hölderlin oder Schelling entdeckt Jaspers die Einheit von Identität und Differenz als Grund des Selbstseins vor allem in der Liebe: »[L]iebend erst bin ich im anderen zugleich ich selbst.« (Jaspers 1947/1991: 1011) Doch diese Liebe besteht nicht in der fraglosen Akzeptanz, die Jaspers als Gleichgültigkeit versteht: »Wer liebt, kämpft in Verstehen unter Distanzlosigkeit, Aufdringlichkeit, aber wenn er auch intolerant ist, ist er es ohne Gewalt, ohne Machtwillen.« (Jaspers 1922: 110) Zu den Regeln des liebenden Kampfes, der zweifellos strukturelle Ähnlichkeit mit Heideggers liebendem Streit aufweist, aber nicht wie dieser die Struktur der Wahrheit, sondern menschliche Praxis ist, gehört die Rückhaltlosigkeit des Sichzeigens und Infragestellens sowie grenzenloses Rede- und Antwortstehen (Jaspers 1956: 65 f). Da sich der eine nur mit, durch und im Anderen gewinnen kann, gilt es, Gleichheit herzustellen, die eigenen »Kampfmittel (des Wissens, der Intelligenz, des Gedächtnisses, der Ermüdbarkeit)« (ebd.: 66 f.) zur Verfügung zu stellen, statt sie gegen den anderen in Stellung zu bringen. Im kommunikativen Prozess der Selbstoffenbarung verliert sich das Selbst in seinem empirischen Gegebensein um sich als mögliche Existenz zu gewinnen (vgl. ebd.: 65). Anders als die Nächstenliebe bei Augustinus und Kierkegaard, die das mögliche Sein des Anderen aus ihm ›hervorliebt‹, versucht Jaspers eine Synthese von Wirklichkeit und Möglichkeit, Sein und Werden im »Offenbarwerden« zu erreichen, welche das empirisch gegebene Ich ebenso wenig verleugnet wie die Möglichkeit der freien Entwicklung – Liebe ist die Bejahung von Sein und Werden, sie ist »die Anerkennung des Soseins und die Verleugnung jedes fixierten Soseins« (ebd.: 64).
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III. S ELBSTWERDUNG IM ANDEREN – H EIDEGGERS L IEBESBEGRIFF Wenn Heidegger davon spricht, dass sich Erde und Welt in ihrem ›Urstreit‹ wechselseitig gönnen zu sein, was sie sind und dadurch erst zu dem werden, was sie sind, knüpft er unausgesprochen nicht nur an Jaspers, Hölderlin, Schelling oder Hegel an. Er überträgt auch sein Verständnis zwischenmenschlicher Liebe auf die interne Struktur der Wahrheit. Der Gedanke einer Selbstwerdung durch den Anderen ist das wesentliche Merkmal dieses immer noch wenig bekannten Liebesbegriffes. Anders als in Sein und Zeit, in dem das Dasein nicht durch Mitsein, sondern durch die Vereinzelung im Vorlaufen zum Tode zu sich findet, konzipiert Heidegger in seiner parallel entstandenen persönlichen Korrespondenz – vor allem der mit Hannah Arendt – einen alternativen Weg zur Eigentlichkeit. Hier ist es der Liebesaugenblick, der die Verwandlung in die Eigentlichkeit ermöglicht: »Warum ist die Liebe über alle Ausmaße anderer menschlicher Möglichkeiten reich und den Betroffenen eine süße Last? Weil wir uns in das wandeln, was wir lieben und doch wir selbst bleiben. Dem Geliebten möchten wir dann danken und finden nichts, was dem genügte. [...] Liebe wandelt die Dankbarkeit in die Treue zu uns selbst und in den unbedingten Glauben an den anderen. So steigert die Liebe ständig ihr eigenstes Geheimnis.« (Arendt/Heidegger 1998: 12 f.)
Genau wie Schelling und Hegel erblickt Heidegger in der Liebe ein »Geheimnis«, nämlich die Paradoxie, dass der Liebende zugleich mit dem Geliebten identisch wird und doch seine Eigenständigkeit bewahrt, ja sogar erst zu dem wird, was er ist. Er beschreibt in diesem Brief, wie sich die Liebenden verändern – doch die Veränderung ist keine Vereinnahmung durch den Anderen, sondern ein Eigentlichwerden. Obwohl er etwas anderes geworden ist, als er vorher war, ist der Liebende erst jetzt zu sich gekommen. Die Begegnung mit dem Anderen führt also nicht zur Vernichtung der eigenen Identität, sondern zu ihrer Aufhebung – durch Veränderung und Bewahrung wird das Sein auf eine höhere, eigentlichere Stufe gebracht. Wie eng verknüpft der Begriff der Selbstwerdung oder der Eigentlichkeit mit dem der Liebe bei Heidegger ist, lässt sich zu allen Phasen seines Werkes zeigen. So schreibt er beispielsweise in der Vorlesung Augustinus und der Neuplatonismus vom Sommersemester 1921: »Mitweltliche Liebe hat den Sinn, dem geliebten Anderen zur Existenz zu verhelfen, so daß er zu sich selbst kommt.« (Heidegger 1995: 292; vgl. Tömmel 2013) Um deutlich zu machen, dass die
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Liebe ein Wille zum Sein des Anderen ist, fasst er seinen Liebesbegriff immer wieder in den Worten »amo: volo ut sis – ich liebe, ich will, dass Du seist« (Arendt/Heidegger 1998: 31) zusammen: »Volo ut sis, ich will, dass Du seiest, so interpretiert einmal Augustinus die Liebe. Und er erkennt sie damit als innerste Freiheit des Einen zum Anderen.« (Heidegger/Blochmann 1990: 23) ªWohl die tiefste Deutung dessen, was Liebe ist, steht bei Augustinus, in dem Wort, das lautet: ›amo volo ut sis‹, ich liebe, das heißt, ich will, dass das Geliebte sei, was es ist. Liebe ist das Sein-lassen in einem tieferen Sinn, demgemäß es das Wesen hervorruft.« (Heidegger 1960: 19) Diese zwei Zitate, zwischen denen übrigens rund dreißig Jahre liegen, erhellen auch den Zusammenhang zwischen Selbstwerdung und »Seinlassen« oder »Freiheit«: Nur durch eine Zuwendung, die durch solch eine Gelassenheit zum Anderen geprägt ist, lässt sich das Wesen einer Person hervorrufen. Dass dieser Liebesbegriff sich nicht auf die private Korrespondenz beschränkt, zeigt der Brief über den ›Humanismus‹ aus dem Jahre 1946: »Sich einer ›Sache‹ oder einer ›Person‹ in ihrem Wesen annehmen, das heißt: sie lieben: sie mögen. Dieses Mögen bedeutet, ursprünglicher gedacht: das Wesen schenken. Solches Mögen ist das eigentliche Wesen des Vermögens, das nicht nur dieses oder jenes leisten, sondern etwas in seiner Her-kunft ,wesen’, das heißt sein lassen kann. Das Vermögen des Mögens ist es, ,kraft’ dessen etwas eigentlich zu sein vermag.« (Heidegger 1976: 316)
Heidegger hat auch in früheren für die Öffentlichkeit bestimmten Schriften wiederholt betont, dass Transzendenz Selbstheit konstituiere (Heidegger 1976: 138; 164), und dass Dasein nur dann zu ihm als ihm selbst sein könne, wenn es sich im Umwillen übersteige (ebd.: 161). Die Liebe als Form der Begegnung, die zur Eigentlichkeit aufruft, wird in diesen Schriften zwar so gut wie nie explizit genannt, jedoch lässt sie sich unter anderen Bezeichnungen aufspüren: So unterscheidet Heidegger in Sein und Zeit zwei positive Formen der Fürsorge, von denen die zweite sehr nah an dem ist, was er in Briefen aus derselben Zeit über die Liebe schreibt: Die Fürsorge, heißt es in § 26, äußere sich entweder, indem sie dem Anderen seine Sorge abnehme, für ihn beherrschend einspringe oder aber ihm befreiend vorausspringe (Heidegger 2001: 122). Im ersten Fall entlastet sie den Anderen zwar, dominiert ihn aber zugleich, da er selbst nicht mehr die Möglichkeit hat, zu wählen und zu entscheiden. Im zweiten Fall dagegen eröffnet ein Dasein dem anderen die Möglichkeit, für sich selbst zu sorgen: Es öffnet ihm den Weg zur eigenen Sorge. Den Anderen weder zu beherrschen noch ihm gleichgültig gegenüber zu stehen, ist die Gratwanderung, welche die vorausspringende Fürsorge meistern soll. Die eigentliche Fürsorge, die den Anderen
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nicht entlasten oder erziehen will, sondern sich ihm in seinem Wesen zuwendet, »verhilft dem anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden« (ebd.). Der relativ kurze Abschnitt über die Formen der Fürsorge in Sein und Zeit deutet an, dass Mitsein und Selbstsein in einem fruchtbaren Verhältnis stehen können, nämlich dann, wenn ein Dasein dem anderen mitseiend deutlich macht, dass der Sinn des je eigenen Daseins in der Sorge um sich liegt. In diesem Sinne muss wohl auch die enigmatische »Stimme des Freundes« verstanden werden, von der in § 34 die Rede ist: »Das Hören auf... ist das existenziale Offensein des Daseins als Mitsein für den Anderen. Das Hören konstituiert sogar die primäre und eigentliche Offenheit des Daseins für sein eigenstes Seinkönnen, als Hören der Stimme des Freundes, den jedes Dasein in sich trägt.« (Ebd.: 163) Jacques Derrida hat diese etwas rätselhafte, nicht näher ausgeführte Stimme des Freundes in einem Aufsatz ausführlich thematisiert. Er versteht den Satz nicht nur so, dass die »Stimme des Anderen, des Anderen als Freund [...] die Bedingung meines Eigen-seins« (Derrida 2002: 428) ist, sondern geht noch einen Schritt weiter, wenn er ausführt, dass das Eigene des Daseins, die »Nähe des Daseins zu sich selbst« nicht möglich ist »ohne dieses ›Bei-sich-tragen‹ des anderen in seiner Verschiedenheit, des unterschiedenen anderen, den es als Freund, aber als anderen bei sich trägt« (ebd.: 427). Der Freund sei die Bedingung der Möglichkeit des Daseins, insofern seine Stimme erst die Offenheit konstituiert. Die Konfrontation mit, ja, die Internalisierung von Alterität wäre demnach die Bedingung des Selbstseins für Heidegger – auch im vermeintlich solipsistischen Sein und Zeit. Diese Deutung der Freundschaft als Bei-sich-tragen des Anderen spricht nicht nur für die Kontinuität zwischen den früheren Schriften aus den zwanziger und den späteren aus den vierziger Jahren. Die interpersonale Beziehung wäre damit auch der Vorläufer des späteren dynamischen Wahrheitsverständnisses. Die These, Heideggers Begriff der Freundschaft oder Liebe bleibe unabhängig vom Kontext derselbe, lässt sich weiter festigen, wenn wir noch einmal die Heraklit-Vorlesung zur Hand nehmen: »In der ›Freundschaft‹ wird das wechselweise gegönnte Wesen zu sich selbst befreit. Nicht die Betulichkeit, nicht einmal das ›Einspringen‹ in Notfällen und gefährlichen Lagen ist das Kennzeichen der Freundschaft, sondern das füreinander Dasein, das irgendwelcher Veranstaltungen und Beweise nicht bedarf, das wirkt, indem es auf die Beeinflussung verzichtet.« (Heidegger 1979: 128 f.)
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Die Unterscheidung, die Heidegger zwischen »Einspringen« und »Vorausspringen« in Sein und Zeit getroffen hatte, ist auch hier noch gültig. »Füreinander Dasein« besteht nicht in der Alltäglichkeit des Helfens und Kümmerns. Wie in den Briefen an Hannah Arendt und Elisabeth Blochmann ist es die Befreiung des Anderen zu sich selbst, die Heidegger zufolge eine eigentliche Bindung ausmacht. Die Liebe ist also eine Beziehungsform, die bindet, indem sie loslässt, denn sie »wirkt, indem [sie] auf Beeinflussung verzichtet.« Dieses Umschlagen von Freigabe in Bindung drücken auch die Liedverse aus Rainer Maria Rilkes Malte Laurids Brigge aus, die Heidegger Elisabeth Blochmann zu Weihnachten 1934 schickte: »weil ich niemals dich anhielt, / halt ich dich fest.« (Heidegger/Blochmann 1990: 85) Das Absehen der Liebe vom eigenen Willen zugunsten der Freigabe des Anderen erklärt sich aber nicht durch die normative Einforderung einer Selbstverleugnung, sondern aus der inneren Logik der Freiheit: Der nach Herrschaft oder Besitz Strebende steht selbst nicht jenseits der Herrschaftsstrukturen und ist deshalb ebenso unfrei wie der Beherrschte. Erst im Freilassen des Anderen befreit sich das Selbst. Und so erstaunt es nicht, dass Heidegger in seiner Auslegung eines Gedichtes von Hölderlin am Beispiel des Grüßens eine Dialektik der Anerkennung entdeckt: Der Schenkende wird selbst zum Beschenkten, die Hingabe wird zu einer Rückkehr in sich, denn: »Der Gruß will nichts für sich und empfängt dadurch gerade alles, was dem Grüßenden zur Einkehr in sein eigenes Wesen verhilft.« (Heidegger 1981: 97) Liebe als Anerkennung des Anderen führt also sowohl in ihrer passiven wie ihrer aktiven Form – als Anerkanntwerden und Anerkennen – zur Eigentlichkeit, das legt auch eine Notiz Heideggers zu Hegel nahe: »In der Anerkenntnis erst kommt das Anerkennende zu sich selbst zur Wesensfülle.« (Heidegger 1991: 184) Fassen wir Heideggers Thesen zusammen: Erstens behauptet er, Liebe und Freundschaft als Formen eigentlicher Fürsorge schenkten dem Geliebten sein Wesen, weil sie von ihm nichts fordern und ihm nichts abnehmen, sondern zulassen, dass er zu sich selbst kommt. Diese aktiv ergriffene Passivität des Seinlassens bringt zweitens auch den Liebenden zurück in sein eigenes Wesen. Die Verbundenheit scheint also, drittens, darin zu liegen, dass die Liebenden sich gerade nicht einengen und angleichen, sondern loslassen. Wie die gegenläufigen Bestrebungen, die in der Wahrheit am Werk sind, liegt die Einheit offenbar im Zulassen der Andersheit. Doch selbst wenn sich die Kontinuität zwischen dem früheren, zwischenmenschlichen Liebesbegriff und dem späteren Wahrheitsverständnis als eine solche Einheit der Verschiedenheit belegen lässt, bleiben zwei Dinge unklar: Ers-
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tens scheint die Liebe in den frühen Texten ohne das Moment des Kampfes auszukommen. Zweitens bleibt über der Betonung des »Freigebens« und »Seinlassens« unterbestimmt, worin das ›Mit‹ des Mitseins eigentlich besteht. Ist die Selbständigkeit der Liebenden nicht auch auf eine positiv charakterisierte Bindung angewiesen, wie sie der Kampf als Auseinandersetzung später darstellt? Anders gefragt: Was ist der Unterschied zwischen dem Loslassen des Anderen, das eine Bindung konstituieren soll, und völliger Bindungslosigkeit? Kann Heidegger in seinen frühen Schriften hier überhaupt differenzieren? Zunächst zum ersten Einwand: Zwar taucht der Begriff des Kampfes oder Streites bei Heidegger im Frühwerk nicht in Bezug auf Liebe auf, wohl aber im Zusammenhang der Freundschaft, allerdings zunächst biographisch: Die für ihn zeitweilig bedeutsame Freundschaft mit Karl Jaspers versteht Heidegger als »Kampfgemeinschaft« (Heidegger/Jaspers 1990: 33). Gekämpft wird hier aber weniger miteinander um das eigene Selbst – das ist Jaspers Vorstellung von echter Kommunikation – sondern gekämpft wird für die geistige Revolution, die Heidegger heraufbeschwören will (vgl. Heidegger 2005: 90). Das »Sachliche« steht überhaupt im Fokus von Heideggers frühem Mitseinsbegriff; eine Tatsache, durch die sich auch die zweite Frage nach der Bindung beantworten lässt: So ist eine echte Freundschaft in Heideggers Verständnis nicht eine solche, in der zwei Menschen »unentwegt zusammen schwatzen oder [sich] gar […] auf ihre Komplexe beschnüffeln« (Heidegger 1996: 86). Das »Für-einander-offenbar-sein« bestehe nicht darin, »dass ich den Anderen – und umgekehrt der Andere mich – in seinem sogenannten Innenleben kenne, dass ich weiß, was in ihm vorgeht, was er für Anlagen, Eigentümlichkeiten und Grillen hat« (ebd.: 88), nein, das eigentliche Mit des Mitsein liegt im gemeinsamen Bezug auf dasselbe, in der gemeinsame Hingerissenheit an eine Sache, wie Heidegger in der Vorlesung Einleitung in die Philosophie ausführt (vgl. ebd. 86). Sozialität scheint also auf ein drittes, ein tertium comparationis angewiesen zu sein. Im Fokus steht nicht der Andere, sondern die Sache, auf die sich beide richten und die sie damit zugleich trennt und verbindet. Dass dieses wahre Mitsein seine Erfüllung nur in der Philosophie bzw. dem eigentlichen Denken finden kann, wird nicht nur in Einleitung in die Philosophie, sondern auch in der Vorlesung über Heraklit deutlich: Freundschaft, heißt es hier, erreiche »in der Freundschaft für das Zu-denkende ihren Gipfel«, d.h. sie empfange »von da ihre Wesensbestimmung« (Heidegger 1979: 129). Ob Heidegger damit innerhalb des eigentlichen Mitseins implizit zwischen Liebe und Freundschaft unterscheidet, ist aufgrund der Quellenlage schwer zu entscheiden. Deutlich aber ist, dass die Bindung zwischen zwei Menschen durch eine gemeinsame Sache gestiftet wird, nicht durch die Auseinandersetzung, die
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in der Wahrheit am Werk ist. Hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Mitsein und Wahrheit, so ähnlich sie auf den ersten Blick auch scheinen. Ein Dasein begegnet dem Anderen nicht face à face, sondern ist dem Nächsten nah über den Umweg des ›Fernsten‹, der Wahrheit des Seins (zur Kritik dieser Position vgl. Levinas 2003: 18).
IV. S YSTEMATISCHE R ELEVANZ – H EIDEGGER IM V ERGLEICH MIT H ONNETH Es entbehrt nicht der Ironie, dass Heidegger gerade in einem so opaken Gedanken wie dem vom Urstreit zwischen Erde und Welt ein Modell der Liebe liefert, das meines Erachtens lebensweltlich überzeugender ist als seine sonstigen Gedanken zum Mitsein: Denn meistens neigt Heidegger dazu, entweder, wie in Sein und Zeit, die Unabhängigkeit, die »Entschlossenheit« des Einzelnen zu glorifizieren oder aber sich einer mystischen Selbstaufgabe zu verschreiben. So steht »Liebe« bei Heidegger im Allgemeinen für Leidenschaft, Hingabe, Aufgabe des eigenen Willens, und stimmt damit mit dem Begriff des Seinlassens oder der Gelassenheit überein. In Bezug auf den innigen Streit aber ist sie nicht einfach Hingabe, sondern die Vereinigung von Hingabe und Autonomie. Vergleicht man die Gunst, von der in der Heraklit-Vorlesung die Rede ist, mit der »vorausspringenden Fürsorge« oder »Liebe« aus früheren Schriften, springt meines Erachtens vor allem ein Unterschied ins Auge: Die Liebe ist in den frühen Schriften für Liebenden und Geliebten in erster Linie ein Anlass, sich um sich selbst zu sorgen. Die Stimme des Freundes ruft den Einzelnen in die Einsamkeit, nicht in die Gemeinschaft. Vorbild dieser Fürsorge ist die caritas Augustins, die den Anderen liebt, um ihn in sein wahres Sein zu führen: »Nicht das liebst Du an ihm, was er ist, sondern was, was Du willst, daß er sei.« (Augustinus 1938: 113 f.; vgl. Arendt 2006: 71) In diesem Sinne ist sie ein bedeutendes, aber ephemeres Ereignis. Dagegen scheint der polemos eine fortwährende Auseinandersetzung zu sein.1 Obwohl sich etliche Textstellen heranziehen lassen, die belegen, dass Heideggers frühe Daseinsanalyse entgegen weitverbreiteter Annahmen nicht solipsistisch ist, sondern sogar auf Mitdasein angewiesen, bleibt der Sinn der Sozialität fragwürdig, denn sie scheint auf ihre eigene Überwindung abzuzielen. Einzigartig ist dagegen der Begriff des liebenden Streites im Kontext von Heideg-
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Vgl. Florian Grossers Aufsatz in diesem Band.
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gers Schriften, weil die Selbstwerdung nicht darauf beruht, vom Anderen bloß seingelassen zu werden, sondern ihr ein interaktives Element zugrunde zu liegen scheint. Der liebende Streit ist meines Erachtens deshalb die einzige vielversprechende Konzeption von Mitsein bei Heidegger. Sein Gedanke einer Einheit in der Entzweitheit kann durchaus als ein Beitrag zu einer Theorie der Anerkennung angesehen werden, insofern sie ein Denkmodell anbietet, das Liebe nicht als Symbiose denkt. Damit weist sein Liebesbegriff eine überraschende Parallele zu der Anerkennungskonzeption von Axel Honneth auf, der vermutlich einflussreichsten Anerkennungstheorie der Gegenwart (Ikäheimo/Laitinen 2011: 9). Honneth nimmt sich Hegels Grundgedanken eines kontinuierlichen Kampfes um Anerkennung sowohl zum Vorbild seiner »Grammatik sozialer Konflikte« (Honneth 1994), als auch seiner Theorie der sozialen Freiheit (Honneth 2011: Absch. III). Im Rückgriff auf Schriften aus Hegels Jenenser Zeit unterscheidet er drei Formen der Anerkennung, namentlich Liebe, Recht und Solidarität (Honneth 1994). Ich will die Parallelen zwischen Heideggers »liebendem Streit« und Honneths Verständnis der persönlichen Anerkennung in Liebesbeziehungen kurz skizzieren. Ich beschränke mich dabei nicht nur deshalb auf die Liebe als eine Form der Anerkennung, weil diese die größte Nähe zu Heideggers Konzeption aufweist, sondern weil sie Honneth zufolge »jeder anderen Form der reziproken Anerkennung sowohl logisch als auch genetisch« (Honneth 1994: 172) vorausgeht. Im Anschluss an die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie bezeichnet Honneth Liebe als »eine durch wechselseitige Individuierung gebrochene Symbiose«. Das Gelingen affektiver Bindung an andere Personen sei »von der wechselseitigen Aufrechterhaltung der Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung abhängig« (ebd.: 154), denn »nur die zerbrochene Symbiose lässt zwischen zwei Menschen jene produktive Balance zwischen Abgrenzung und Entgrenzung entstehen, die [...] zur Struktur einer durch wechselseitige Desillusionierung gereiften Liebesbeziehung gehört.« (Ebd.: 169 f.) Die Anerkennung in der Liebe sei die »unterstützende Bejahung von Selbständigkeit«, doch diese »Freigabe zur Unabhängigkeit« müsse von einem Vertrauen »in die Kontinuität der gemeinsamen Zuwendung getragen« (ebd.: 173) sein. Es ist, denke ich, leicht zu sehen, worin die Parallele zwischen Honneths und Heideggers Gedanken besteht, ungeachtet dessen, dass Heidegger von der Struktur der Wahrheit und Honneth von zwischenmenschlichen Beziehungen spricht: Beide behaupten, dass eine gelungene Beziehung im Gleichgewicht zwischen
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Unabhängigkeit und Hingabe besteht. Liebe ist auch in Honneths Verständnis die Einheit von Einheit und Differenz. Doch es scheint noch eine weitere erwähnenswerte Parallele zu geben. In seinem jüngsten Buch Das Recht der Freiheit behauptet Honneth, dass sich in der Liebe »eine besondere, schwer zu charakterisierende Form von Freiheit verwirklicht« (Honneth 2011: 233), die neben der reflexiven und negativen Freiheit eine ganz eigene Erfahrung des Freiseins ist. Obwohl Heidegger der These, dass Bindung und Freiheit keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen, sicherlich zugestimmt hätte, ist die Ähnlichkeit beider Positionen letztlich doch nur oberflächlich. Anders als Heidegger nämlich denkt Honneth diese soziale Freiheit kommunikativ, wobei der Dialog in Intimbeziehungen durchaus nicht so agonal gedacht wird wie bei Karl Jaspers. Das bloße Sichmitteilenkönnen und -dürfen, die in Freundschaften und Liebesbeziehungen selbstverständliche Bereitschaft, dem Anderen sein Ohr zu leihen, konstituiert Honneth zufolge eine Heimat, einen Raum des Vertrauens, in dem wir ganz unabhängig von allen Forderungen der Vortrefflichkeit unsere Sorgen, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen aussprechen dürfen (vgl. ebd.: 248 ff.). In engen Beziehungen erfahren wir den Anderen nicht als Begrenzung, sondern im Gegenteil als Ermöglichung unserer Freiheit (vgl. ebd.: 250), insofern wir ohne den Anderen stumm blieben, ohne sein liebendes Interesse an unserer Person sich diese in allen ihren Schattierungen nie zeigen könnte. Was Heideggers Position trotz allem fehlt und für die Gegenwart letztlich unattraktiv macht, ist genau dies: Dialogizität. Vergleicht man seine Position mit derjenigen von Honneth oder auch Jaspers, fällt der Mangel an Kommunikation auf, der für Heideggers Philosophie so kennzeichnend ist. Abgesehen davon, dass es sicherlich kein Zufall ist, dass Heidegger nicht von einer Beziehung zwischen Personen spricht, sondern von Strebensrichtungen, die der Wahrheit inhärent sein sollen, bleibt es offen, wie die Anerkennung, die Erde und Welt einander wechselseitig zugestehen, eigentlich zum Ausdruck kommt. Auch hier scheint die Distanz zum Anderen letztlich die Nähe zu überwiegen. Das Gleichgewicht, das mit dem Begriff des »innigen Streites« doch angestrebt wird, ist immerzu gefährdet, weil Heidegger die Angst vor der Einflussnahme konzeptuell letztlich doch nicht überwindet. Der liebende Streit als Modell der Anerkennung kann als Ehrenrettung Heideggers dienen, als Hinweis darauf, dass er in einigen wenigen, abgelegenen Stellen Alterität und Selbstheit, Freiheit und Bindung, Zuwendung und Auseinandersetzung miteinander verbindet. Systematisch relevant sind diese Einsichten aber insofern nur bedingt, als sich weitaus leichter und mit größerem Gewinn an andere Positionen, sei es Hegel, Jaspers oder Honneth, anschließen lässt.
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Heideggers politische Ästhetik Geschichtliche Grenzsituationen im »Ursprung des Kunstwerkes« T ILMAN R EITZ
Hegels Beobachtung, dass wir von der Kunst nicht mehr Wahrheit, Freiheit oder Erhebung zum Absoluten erwarten, scheint wie dafür gemacht, die Distanz zwischen hochmodernen und gegenwärtigen Kunstauffassungen zu bestimmen. Das Gefälle hat verschiedene Gründe. Einerseits waren die Intellektuellen des mittleren 20. Jahrhunderts bemerkenswert offen für ästhetische Irritationen, andererseits konnte die Kunst selbst damals eher als nichtbeliebig gelten; im relativ kleinen Bereich, den man ernst nahm, war vergleichsweise Gewagtes möglich. Will man diesen Impuls in die pluralisierte, kommerzialisierte und demokratisierte ästhetische Situation der Gegenwart tragen, eignen sich Theorien, die das Besondere autonomer oder avantgardistischer Kunst nicht bloß abgrenzend, sondern im kulturellen Funktionskontext untersuchen. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass Heideggers Ursprung des Kunstwerkes hierfür einige Ansätze bietet, und fragen, wohin sie führen. Heidegger arbeitet zwar mit der ungeprüften Voraussetzung, dass es schlechthin epochale Werke (wie auch Philosophien und Staatsereignisse) gibt, stellt jedoch eine welterschließende Leistung des Ästhetischen heraus, die nicht auf diesen Sonderfall begrenzt bleiben muss. Genauer gesagt ergibt sich so die kritische Frage, für die hier das Stichwort ›politisch‹ steht und auf die ich meine Rekonstruktion zuspitzen werde: Kann man sagen, dass ästhetische Artefakte Welt erschließen und vielleicht sogar Geschichte machen, ohne nur schlechthin autoritative Werke und repräsentative Konflikte zu meinen? Der 1936 abgeschlossene, in den Holzwegen publizierte Kunstwerkaufsatz bietet (zusammen mit den früheren Versuchen von 1931/32 und 1935, der soge-
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nannten ›ersten‹ und ›zweiten Ausarbeitung‹) eine in Heideggers Werk singuläre Reflexion des Problems. Die Gründe gehen über Kunsttheorie, zumal Heideggers zunehmende Fixierung auf Dichtung hinaus.1 Der Aufsatz markiert den Punkt, an dem sein Denken gerade geschichtlich wird, ohne sich schon zum seinsgeschichtlichen Ablaufschema verfestigt zu haben; und er enthält Wendungen, mit denen sich Heidegger später vom Nationalsozialismus distanzieren kann. Das heißt nicht, dass der Kunstwerk-Komplex frei von Nazi-Motiven wäre. Zumal die erste Ausarbeitung (Heidegger 1931 f./2007) läuft auf eine Blut und Boden nahe Figur von ›Entscheidung‹ und ›Erde‹ zu, die auch noch im Kernargument des Holzwege-Texts (Heidegger 1936/1994) zu erkennen ist. In den zwei Jahren, die den Aufsatz von Heideggers Rektoratsrede (Heidegger 1933/2000) trennen, ist jedoch das aktivistisch-kämpferische Engagement für das neue Regime einem passiveren Sinn fürs Unbewältigte und Unbeherrschbare in der Geschichte gewichen. Heideggers politische Ästhetik zu verhandeln heißt auch zu fragen, wie weit die Distanzierung geht. Diese Nebenfrage ist zugleich für das umrissene allgemeine Thema wichtig. Mit Walter Benjamin lässt sich annehmen, dass eine Ästhetik, die Grundzüge autonom-auratischer Kunst unverändert in die Ära der Massenkultur überführt, faschistisch (bzw. totalitär oder modern-autoritär) wird. Es wird zu sehen sein, ob die avantgardenahen und gestaltungsskeptischen Ansätze Heideggers diese Verbindung aufbrechen, oder ob allein eine massenkulturelle ›Zerstreuung‹, wie sie Benjamin vertritt, dem Sog konzentrierter Macht entgeht. Das ist die heikle Seite der Frage, inwiefern Ästhetik politisch Geschichte machen kann.
I.
Z WEI
PHILOSOPHISCHE
K UNSTVERSTÄNDNISSE
Wo die Erscheinungswelt als solche bearbeitet wird, kann dies entweder weitgehend selbstständig, vielleicht auch selbstgenügsam und selbstzweckhaft stattfinden oder eine relativ eindeutige kulturelle Funktion haben. Die meisten Ansätze philosophischer (wie auch künstlerischer oder kunstkritischer) Ästhetik entscheiden sich für eine der beiden Möglichkeiten. Auf der einen Seite stehen etwa Kants Begriff interesselosen, von sinnlichen Trieben wie moralischen Motiven
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Genauer müsste man von einer Fixierung auf Hölderlin sprechen, bei dem Heidegger eher gewichtige Aussagen als ästhetische Qualitäten entdeckt (vgl. Knoche 2000: 155 ff.). Das Sachproblem Dichtung tritt, wie sich zeigen wird, bereits im Kunstwerkaufsatz selbst auf.
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POLITISCHE
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unabhängigen Wohlgefallens, die u. a. Phänomenologen wichtige Idee, dass Kunst unsere Wahrnehmung neu einrichtet, und selbst auch Adornos These, dass sie in der verwalteten, von Austauschbarkeit beherrschten Welt das NichtFunktionale verteidigt.2 Auf der anderen Seite begreift man ästhetische Artefakte und Inszenierungen als Selbstdeutung geschichtlicher Gemeinschaften bzw. das Schöne als das »sinnliche Scheinen der Idee« (Hegel 1986: 151), erhofft von Literatur, dass sie ihre Leserinnen sittlich bildet, oder fordert eine Ästhetik, die politischen Zwecken dient. An Heideggers Kunsttheorie ist interessant, dass sie eine Position zwischen diesen Alternativen bezieht. Für ihn ist Kunst fraglos eine der Weisen, in denen Menschen ihre Welt auslegen bzw. Wirklichkeit erschließen. Damit verweist er zunächst auf die Selbstdeutung geschichtlicher Gemeinschaften. In ihr können etwa kultische Bauten eine orientierende Rolle spielen: »Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich die Einheit jener Bahnen und Bezüge um sich, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall – dem Menschenwesen die Gestalt seines Geschickes gewinnen. Die waltende Weite dieser Bezüge ist die Welt eines geschichtlichen Volkes.« (Heidegger 1936/1994: 28) Hatte Sein und Zeit (Heidegger 1927/1993) geschildert, wie individuelle Lebensvollzüge vom Werkzeuggebrauch bis zur Zukunftssorge Wirklichkeit strukturieren, wird hier thematisch, wie Kulturen solche Vollzüge koordinieren. Wenn die Handwerker etwa Waffen herstellen, mit denen Bürger, wechselhaft unterstützt von den launischen Göttern, für ihre Stadt in den Krieg ziehen sollen, um später ihre Siege zu feiern und ihre Toten zu betrauern, kann die Infrastruktur der Tempel viele dieser Sinn-Zuordnungen regeln. Kürzer und terminologisch: »Das Werk stellt als Werk eine Welt auf. Das Werk hält das Offene der Welt offen.« (Heidegger 1936/1994: 30) Doch das ist nicht alles und nicht das letzte Wort. Zu klären bleibt, was es heißt, dass gerade ein sinnlich prägnantes (Bau-)Werk die symbolischen Rahmungs- und Orientierungsleistungen erfüllt. Heidegger gibt in
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Die Ästhetische Theorie schreibt autonomer Kunst eine »Gegenposition zur Gesellschaft« als solcher zu: »Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als ›gesellschaftlich nützlich‹ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein [...]. Nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das nicht wortlos Kritik übte, die Erniedrigung durch einen Zustand denunzierte, der auf die totale Tauschgesellschaft sich hinbewegt: in ihr ist alles nur für anderes.« (Adorno 1973: 335).
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seinem Ansatz der Eigenständigkeit des sinnlich Erscheinenden einigen Raum und nähert sich so der Autonomieästhetik. Sein Begriff für diesen Aspekt lautet, der ›Welt‹ entgegengesetzt, ›Erde‹. Er wird von Heidegger einigermaßen kryptisch (wie gleich zu sehen sein wird, sogar durch Bezug aufs Kryptische selbst) bestimmt und ist daher sehr verschieden interpretiert worden. Unstrittig dürfte sein, dass es in irgendeiner Weise um sinnliche Erscheinungsqualitäten geht. Heidegger setzt erläuternd bei der (als Grundbegriff abgelehnten, weil einseitig auf zweckgebundene Produktion bezogenen) Kategorie des Stoffs an: »Das Tempel-Werk [...] lässt, indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen [...]: der Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen. [...] Das Werk rückt und hält die Erde selbst ins Offene einer Welt. Das Werk lässt die Erde eine Erde sein.« (Ebd.: 32)
Soweit gibt es wenig Probleme. Ein Kunstwerk ›stellt‹ für Heidegger eine Welt ›auf‹ und die Erde ›her‹, eröffnet also einen Deutungshorizont und lässt sinnliche Qualitäten der sinnhaft nicht erschöpften Wirklichkeit wahrnehmen.3 Schwierig ist erst die weitere Angabe, die Erde sei das »wesenhaft sich Verschließende« (ebd.: 33). Auch sie kann sinnliche Qualitäten meinen, die als solche den Deutungsmustern der ›Welt‹ entzogen bleiben. Im Kontext heißt es: »Die Farbe leuchtet auf und will nur leuchten. [...] Sie zeigt sich nur, wenn sie unentborgen
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So stellt die Lage auch David Espinet in einem jüngeren Kommentar dar – bis darauf, dass er die Erde durch die (altgriechische) Natur ersetzt. Ihm gilt die »physis als der sinnliche Erscheinungscharakter dessen, was sich von sich selbst her zeigt«: »Als solchermaßen vorphysikalische physis sind die zahllosen sinnlichen Qualitäten die zugängliche Erscheinungsseite der Erde.« (Espinet 2011: 54; Griechisch gebe ich durchgängig in Umschrift wieder.) Beide Begriffe sind bei Heidegger in der Tat verwandt (auch in Bezug auf ›Verborgenheit‹), doch seine Sprachregelung scheint mir genau umgekehrt: physis ist das umfassende Sichzeigen von Wirklichkeit, Erde ihre sinnlichmaterielle Eigenständigkeit gegenüber Deutungen: »Der Baum und das Gras, der Adler und der Stier, die Schlange und die Grille gehen erst in ihre abgehobene Gestalt ein und kommen so als das zum Vorschein, was sie sind. Dieses Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen [!] nannten die Griechen frühzeitig die physis. Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es Erde.« (Heidegger 1936/1994: 28).
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und unerklärt bleibt. [...] Die Erde ist das wesenhaft Sichverschließende. Die Erde her-stellen heißt: sie ins Offene bringen als das Sichverschließende.« (Ebd.) Da die Erde als das »Bergende« (ebd.: 32) der Weltbeziehungen eingeführt wird, ist sogar an hier und jetzt umgebende Materialität zu denken. Heidegger hatte die Erde allerdings in der ersten Ausarbeitung »ebenso sinnlich wie unsinnlich« genannt (1931 f./2007: 159),4 und er hätte dafür mit dem Medium Sprache, das auch im Holzwege-Text wichtig bleibt, ein bedeutsames Beispiel. Gesteht man Lernschritte zu und nimmt eine eigene Materialität von Rede, Schrift oder Sprechsituationen an, kann man unter ›Erde‹ auch so noch die deutungsresistenten Erscheinungsqualitäten verstehen, die Kunstwerke herausstellen.5 Der Gegensatz von ›Offenem‹ und ›Sichverschließendem‹ verweist jedoch darauf, dass es Heidegger vorrangig um die Rolle geht, die solche Qualitäten im Prozess kollektiver Weltauslegung spielen. Sie können ihr wie im Tempelbeispiel Nachdruck, »Würde und Glanz« (Heidegger 1936/1994: 30) verleihen. Doch das
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Das hebt etwa Andrea Kern hervor, für die »der Begriff der Erde nicht den Gedanken ausdrücken soll, dass ein rein sinnliches Seiendes der Welt des Sinns gegenübersteht und sich gegen die Integration in diese Welt sperrt« (2003: 169). Als Alternative schlägt sie vor, die »Erde« als Namen für das »Gegebensein des bedeutungshaft Seienden« (ebd.) zu verstehen – wobei (für mich) offen bleibt, ob sie das Gegebensein symbolischer Ordnungen oder das kulturell thematisierter Wirklichkeit meint. Präziser ist, wenn man in diese Richtung denken will, Alexander Schwan, der in politischer Perspektive auf die »materialhafte Lage vorgegebener Verhältnisse« verweist (1965/1989: 21). »›Erde‹ bedeutet also: das jeweilige Zufallen einer materialen Situation, die Entscheidungen verlangt, aber den Raum möglicher Entscheidungen bereits begrenzt.« (Ebd.: 21) An diese Lesart werde ich im Folgenden noch anschließen.
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Die Liste anderer, oft weit hergeholter Deutungen ist freilich lang. Zwei neuere Beispiele sollen genügen: John Sallis assoziiert den »earthy character« von Kunstwerken zwar vier Seiten lang immer wieder mit ihren sinnlichen (sensible) und materiellen (material) Qualitäten, ist aber nicht fähig, vom Alltagssinn des Worts ›Erde‹ zu abstrahieren; anlässlich einer Statue fragt er: »is it not its purely sensible character – the shining proper to bronze – that is set forth more than its earthy character?« (Sallis 2008: 185 f.) Und Julian Young gibt zwar Heideggers Argument zur »selfsecludingness« des Materiellen korrekt wieder (vgl. Young 2001: 48), sieht darin jedoch unsere Erfahrungen mit Kunst nicht richtig erfasst und beschließt, dass Heidegger eigentlich etwas Anderes meint: »The fundamental character of ›earth‹ as it appears in the ›Origin‹ is, I believe, that it is the principle of holiness.« (Ebd.: 38).
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Hauptargument legt eine Alternative nahe: Sie kommen etablierten Auslegungsformen tatsächlich auch in die Quere. Um das zu entwickeln, werden weitere, geschichts- und wahrheitstheoretische Schritte notwendig sein. Um es allgemein nachvollziehbar zu machen, genügt zunächst eine Liste möglicher Beispiele. Der Kunstwerkaufsatz wurde oft und zurecht dafür kritisiert, dass er Erde tendenziell mit dem »heimatliche[n] Grund« (ebd.: 28) gleichsetzt (vgl. Alloa 2011: 260 f.). Verzichtet man auf diese Beschränkung, öffnet sich ein weites Anwendungsfeld. Man kann erstens ausgehend von Sein und Zeit (Heidegger 1927/1993: § 16) Situationen heranziehen, in denen die sinnhafte Weltauslegung gestört ist oder ausgesetzt wird. Wenn Gebrauchsdinge beschädigt oder außer Gebrauch gekommen sind, gewinnen sie gewöhnlich sinnliche Präsenz: Der schabende Lärm oder das riesige Förderrad werden auffällig. Oft wird die Erfahrung, dass man nur wahrnimmt, statt auf Zweck oder Nutzen zu sehen, auch eigens gesucht – Naturerfahrung scheint in der Neuzeit bevorzugt diesen Charakter zu haben. Und selbstverständlich hat auch die Kunst der Moderne solche Situationen eingesetzt, um Verweisungszusammenhänge aufzubrechen. Sie bildet jedoch einen eigenen weiteren Fall, weil hier sinnliche Qualitäten als solche kultiviert werden. Von der absoluten Musik bis zu Geräuschkompositionen, vom emanzipierten Pinselstrich bis zur Farbfeldmalerei wird das erscheinende Material gegen tradierte Funktionen, Bezüge, Sinnordnungen, ab und zu sogar gegen Form als solche (eine bei Heidegger eher randständige Kategorie) zur Geltung gebracht. Schließlich kommt es in Kunst wie Alltag vor, dass sich eine Störung der symbolischen Ordnung unmittelbar sinnlich äußert. Jemand wiederholt so lang eine routinisierte Wortfolge, bis vor allem (komisch, verunsichernd, nervtötend, treibend ...) die Klanggestalt Aufmerksamkeit bindet, Künstler montieren Bilder gegen semantische Regeln, um auf bewusst nicht verfügbare Verbindungen zu stoßen. Heidegger führt Beispiele dieser Art – die bei den Avantgarden seiner Zeit zur Genüge bereit standen – wie gesagt nicht an. Er prägt aber eine Verhältnisformel, die darauf gut passen würde: den ›Streit zwischen Erde und Welt‹. Diese Formel ist nun im geschichtstheoretischen Zusammenhang zu diskutieren.
II. D IE G ESCHICHTE DER W ELTAUSLEGUNGEN UND IHRE AVANTGARDE Nur so lässt sich zunächst klären, inwiefern Heidegger ernsthaft von ›Streit‹ handelt. Er bleibt nicht nur starke ästhetische Beispiele schuldig, sondern scheint prinzipiell eher ein Ergänzungsverhältnis zu meinen:
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»Allzuleicht verfälschen wir freilich das Wesen des Streites, indem wir sein Wesen mit der Zwietracht und dem Hader zusammenwerfen und ihn deshalb nur als Störung und Zerstörung kennen. Im wesenhaften Streit jedoch heben die Streitenden, das eine je das andere, in die Selbstbehauptung ihres Wesens. [...] Die Erde kann das Offene der Welt nicht missen, soll sie selbst als Erde im befreiten Andrang ihres Sichverschließens erscheinen. Die Welt wiederum kann der Erde nicht entschweben, soll sie als waltende Weite und Bahn alles wesentlichen Geschickes sich auf Entschiedenes gründen.« (Heidegger 1936/1994: 36)
Die erdbezogene Seite des Arguments wurde bereits erläutert – doch was heißt es, dass die Strukturen der Welt ›auf Entschiedenes gründen‹? Die Antwort erlaubt den Streit vielleicht doch als Konflikt zu sehen. Der Grundgedanke ist einfach: Wenn es verschiedene Ordnungen der Weltauslegung gibt, werden sie ab und an kollidieren – sei es als unvereinbare Kulturen oder, wie es Heidegger eher im Blick hat, in epochalen Umbrüchen. Die Bewohner der Tempelwelt können zu fragen beginnen, ob sie wirklich für Götter in den Krieg ziehen oder für ihre Demokratie, einige könnten sogar den Krieg als solchen ablehnen. Wenn sich Differenzen dieser Art häufen, werden Entscheidungen fällig und die Bahnen der Weltdeutung neu gezogen. Heidegger geht davon aus, dass große Umbrüche selten sind, und er ordnet sie zunehmend in eine ›Geschichte der Metaphysik‹ ein, die alle Formen der Weltauslegung umfasst. Gut zwei Jahre nach dem Kunstwerkaufsatz ist die Konzeption spruchreif: »Die Metaphysik begründet ein Zeitalter, indem sie ihm durch eine bestimmte Auslegung des Seienden und durch eine bestimmte Auslegung der Wahrheit den Grund seiner Wesensgestalt gibt. Dieser Grund durchherrscht alle Erscheinungen, die das Zeitalter auszeichnen.« (1938/1994: 75) Den theoretischen Ansatz dazu entwickelt bereits der Kunstwerktext selbst, mit starkem Bezug auf die sinnlich-sichverschließende Erde. Heideggers Entwurf hat eine positive und eine negative Seite. Zunächst nimmt er wie erwähnt an, dass große Politik, Philosophie und eben auch Kunst allererst eine Welt begründen oder eine ›Lichtung‹ des Seins stiften. Sie legen nicht nur Wirklichkeit aus, sondern bestimmen auch den Horizont dafür. Die vollständigste, um Religion ergänzte Passage hebt beide Aspekte hervor: »Lichtung der Offenheit und Einrichtung in das Offene gehören zusammen. Sie sind dasselbe eine Wesen des Wahrheitsgeschehens. Dieses ist in mannigfaltigen Weisen geschichtlich. Eine wesentliche Weise, wie die Wahrheit sich in dem durch sie eröffneten Seienden einrichtet, ist das Sich-ins-Werk-setzen der Wahrheit. Eine andere Weise, wie die Wahrheit west, ist die staatsgründende Tat. Wieder eine andere Weise, wie Wahrheit
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sich gründet, ist das wesentliche Opfer. Wieder eine andere Weise, wie Wahrheit wird, ist das Fragen des Denkers, das als Denken des Seins dieses in seiner Frag-Würdigkeit nennt.« (Heidegger 1936/1994: 49)
Der Öffnungsprozess hat jedoch eine Rückseite, die für die Geschichte der Metaphysik ebenso wichtig wird: Er verschließt jeweils andere Deutungsmöglichkeiten. Heideggers Pointe ergibt sich nun daraus, dass man nie sicher sein kann, ob sich im eingerichteten Weltverhältnis etwas schlechthin nicht Zugängliches ›versagt‹ oder ob man nur kulturell-kontingent Aspekte der Wirklichkeit ›verstellt‹ hat, die sehr wohl offenheitsfähig wären. Weltauslegung, die sich selbst begreift, muss sich immer an diesen unsicheren Grenzen der Verstehensordnungen bewegen: »Die Lichtung, in die das Seiende hineinsteht, ist in sich zugleich Verbergung. [...] Die Verbergung kann ein Versagen sein oder nur ein Verstellen. Wir haben nie geradezu die Gewissheit, ob sie das eine oder das andere ist. Das sagt: die offene Stelle inmitten des Seienden ist niemals eine starre Bühne mit ständig aufgezogenem Vorhang, auf der sich das Spiel des Seienden abspielt. Vielmehr geschieht die Lichtung nur als dieses zwiefache Verbergen. Unverborgenheit des Seienden, das ist nie nur ein vorhandener Zustand, sondern ein Geschehnis.« (Ebd.: 41)
Heidegger hat seine Begriffe von Philosophie, Politik und wohl auch Religion durch die Bestimmungen von Fragwürdigkeit, Gründung und ›wesentlichem‹ Opfer von vornherein auf den Umbruch der Deutungsordnungen ausgerichtet (und mit dem ›Entscheiden‹, wie zu sehen sein wird, einen weiteren politischen Akzent gesetzt). Das Spiel von Offenheit und Verbergung ist im Aufsatz jedoch sinnfällig der Kunst zugeordnet:6 Da sie es als Streit von Erde und Welt ohnehin inszenieren muss, eignet sie sich vorzüglich als Avantgarde der jeweils neuen Epoche. Sie bringt nicht bloß die deutungsresistenten sinnlichen Qualitäten zum
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Man kann deshalb sogar annehmen, dass Heidegger im Umgang mit Kunst Erfahrungen einräumt, die er sonst als geschichtlich vergangene schildert: »Wahrheit als Unverborgenheit ist also keine Erfahrung, die nur in der Antike möglich war« bzw. »durch die Interpretation antiker Texte freigelegt werden kann. [...] Wahrheit als Unverborgenheit, so Heideggers Neuansatz in Der Ursprung des Kunstwerkes, erfahren wir nämlich immer dann, wenn wir ein Kunstwerk erfahren.« (Keiling 2011: 70) Das wirft nur die Folgefragen auf, ob es für ihn eine Geschichte der Kunst gibt und wie sie sich zur Seinsgeschichte insgesamt verhält.
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Vorschein, denen sich jede Weltauslegung gegenüber sieht, sondern macht durch ihre Deutungsbrüche erst kulturelle (und wohl auch politische) Entscheidungen möglich. »[D]ie Welt ist nicht einfach das Offene, was der Lichtung, die Erde ist nicht das Verschlossene, was der Verbergung entspricht. Vielmehr ist die Welt die Lichtung der Bahnen der wesentlichen Weisungen, in die sich alles Entscheiden fügt. Jede Entscheidung aber gründet sich auf ein Nichtbewältigtes, Verborgenes, Beirrendes, sonst wäre sie nie Entscheidung.« (Ebd.: 42) Die Formulierung ist ebenso reichhaltig wie schwierig. Sie zeigt eine bemerkenswerte und systematisch weiterführende Nähe zu Motiven Walter Benjamins – ich werde darauf zurückkommen (vgl. IV.). Sie widerspricht zudem tendenziell dem oben zitierten Satz, dass die Welt selbst auf ›Entschiedenes‹ gründet, indem sie das Entscheiden zunächst auf bereits gezogene Bahnen begrenzt – ich halte im Weiteren an der ersten Option fest, da sie die schlüssigere Gesamtdeutung ermöglicht. Vorerst genügt es nachzuvollziehen, dass der betont sinnliche Charakter der ›Erde‹ hier definitiv überschritten wird. Das geschichtlich Problematische mag aus verschiedenen Gründen, etwa weil es beirrend, verdeckt oder unbewältigt ist, Deutungen widerstreben, es ist jedoch etwas Anderes und verlangt andere Darstellungsweisen als der sinnliche Widerpart aller Weltauslegung.7 Heidegger umreißt an einem klassischen (und nun nicht umsonst sprachlich verfassten) Beispiel, dass es von Kunstwerken auch thematisch durchgearbeitet werden kann: »In der Tragödie wird nichts auf- oder vorgeführt, sondern der Kampf der neuen Götter gegen die alten wird gekämpft. Indem das Sprachwerk im Sagen des Volkes aufsteht, redet es nicht über diesen Kampf, sondern verwandelt das Sagen des Volkes dahin, dass jetzt jedes wesentliche Wort diesen Kampf führt und zur Entscheidung stellt, was heilig und was unheilig, was groß und was klein, was wacker und was feig, was edel und was flüchtig, was Herr und was Knecht ist.« (Ebd.: 29)
Das mag das Gewicht übertreiben, das die Tragödienfeste fürs Athener Stadtgespräch hatten, doch das Schema ist deutlich und interessant: Kunstwerke sind gerade in Umbruchzeiten an der Selbstverständigung von Gemeinwesen beteiligt, weil sie nicht nur Wahrnehmungen umorientieren, sondern Entscheidbarkeit jenseits der schon gezogenen Bahnen aufweisen. Ihre deutungsresistente Sinnlich-
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Diese Schwierigkeit könnte auch die zuvor diskutierten Deutungsunsicherheiten zur ›Erde‹ bedingen. Der Begriff wird nicht nur mit einer gewissen Bedeutungsoffenheit eingeführt, sondern auch im Textverlauf neu bestimmt.
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keit trägt dazu ebenso bei wie ihre von Heidegger kaum gesehene Fiktionalität. Sie reden nicht über Tatsächliches, sondern machen im mimetischen Probehandeln wirkliche Sprach-, Beurteilungs- und Handlungsweisen problematisch. Damit sind Mittel erarbeitet, die den Begriff des Streits genauer zu fassen und auch die Avantgardefunktionen von Kunst präziser zu bestimmen erlauben. Ein wirklicher Streit zwischen etablierten Deutungsmustern und deutungsresistenten Qualitäten findet in Kunstwerken dann statt, wenn sie an Konflikten teilhaben, die auf den Umbruch eines Deutungssystems oder die Verschiebung des Horizonts von Weltauslegung hintreiben. Sie tragen dann, an den Grenzen des bislang Verständlichen wirkend, dazu bei, fixierte ›Verstellungen‹ aufzubrechen – wenn auch vielleicht nur, um neuen den Weg zu bereiten. Eben dies gilt selbst für moderne Kunst, die sinnliche Qualitäten aus ihren funktionalen, semantischen und formalen Bindungen löst. Sie wird nicht einfach immer autonomer, sondern bleibt weiter in Deutungskämpfe eingespannt, die etwa zwischen bürgerlicher Kultur und libertären oder kollektivistischen Lebensexperimenten, zwischen dem ›Volk‹ verpflichteten Diktaturen und ›Freiheit‹ propagierenden kapitalistischen Demokratien geführt werden. Heidegger neigt ab den mittleren 1930er Jahren dazu, alle diese Kämpfe als Scheingefecht innerhalb eines Regimes technischer Weltbeherrschung zu sehen – doch selbst dazu bzw. dagegen hat die Kunst der Moderne, wie Adorno zeigt, einiges vorzubringen. Bleibt man bei Heidegger, wirft die vorgeschlagene Interpretation jedoch noch eine ganz andere Frage auf: Was geschieht, wenn der Streit zwischen Erde und Welt so avantgardistisch oder ent-gründend aufgefasst wird, mit der gründenden und sogar einrichtenden Funktion der Kunstwerke?
III. K ONZENTRIERTE G RÜNDUNGSMACHT Heidegger hätte vermutlich nicht viel dagegen gehabt, Gründung und EntGründung eng aneinander zu rücken. Mit Begriffen wie dem des Ur-Sprungs, der Neues gewinnt, indem er vom bisherigen Boden fortspringt,8 verfolgt er ein zu-
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Die erste Ausarbeitung des Kunstwerk-Themas macht diesen Gedanken deutlicher als die der Holzwege: »Immer ist da der Sprung des Anfangs, den man gerade nur dann begreift, wenn man grundsätzlich davon absteht, diesen Sprung nun am Ende doch verständlich zu machen, d. h. auf Bekanntes zurückzuführen. Der Sprung des Ursprungs bleibt aber seinem Wesen nach Geheimnis, denn der Ursprung ist eine Weise
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mindest verwandtes Ziel. Der Kunstwerk-Aufsatz betont dagegen deutlich den Bodengewinn. Viele Stellen legen nahe, dass der destruktiven Leistung der Kunst, Auslegungsmuster fraglich zu machen und zu blockieren, eine konstruktive entsprechen muss, die schließlich die gemeinsame Welt als heimatliche Erde ausweist. In der finalen Erläuterung zum Streit lässt Heidegger nur noch eine kleine Lücke für die Möglichkeit, dass die geschichtliche Problemlage zwar erkannt, aber nicht bewältigt wird: »In dem Streit wird eine Einheit von Erde und Welt erstritten. Indem eine Welt sich öffnet, stellt sie einem geschichtlichen Menschentum Sieg und Niederlage, Segen und Fluch, Herrschaft und Knechtschaft zur Entscheidung. Die aufgehende Welt bringt das noch Unentschiedene und Maßlose zum Vorschein und eröffnet so die verborgene Notwendigkeit von Maß und Entschiedenheit.« (Ebd.: 50)
Obgleich hier auffällig bleibt, dass selbst die ›aufgehende Welt‹ bloß das Problem deutlich macht, wird die Lösung (Maß und Entschiedenheit) als mindestens nötig und vielleicht sogar notwendig bestimmt. Die heikle Frage ist allerdings vielleicht gar nicht, wie viel Neuordnung die ambivalenten Umbruchsprozesse versprechen. In anderen Kontexten neigt Heidegger auch der anderen Seite zu, favorisiert also den unaufgelösten Konflikt. Doch gerade diese Äußerungen sind seine faschistischsten. In der Rektoratsrede zum Beispiel, um gleich mit ihr zu beginnen, fordert er von den Philosophen bzw. der ›Wissenschaft‹ eine Avantgardehaltung, die deutlich radikaler ist als die später der Kunst zugetraute: »Wollen wir das Wesen der Wissenschaft im Sinne des fragenden, ungedeckten Standhaltens inmitten der Ungewissheit des Seienden im Ganzen, dann schafft dieser Wesenswille unserem Volke seine Welt der innersten und äußersten Gefahr, d. h. seine wahrhaft geistige Welt.« (Heidegger 1933/2000: 111) Hier ist nichts von einer Heimat zu spüren, in der man sich einrichten könnte, und selbst das Angebot, die gefahrvolle deutsche Welt konstruktiv zu schaffen, wird kurz später als Aufruf variiert, »in den äußersten Posten der Gefahr der ständigen Weltungewissheit« (ebd.: 112) vorzurücken. Was das inhaltlich bzw. geschichtlich heißen kann, umreißt dann kurz vor dem Kunstwerk-Aufsatz die Einführung in die Metaphysik: Um Europa aus der »Zange« zu befreien, die »Rußland und Amerika« bilden, gelte es »das Maßlose Und-so-weiter des Immergleichen und Gleichgültigen«, die »trostlose
jenes Grundes, dessen Notwendigkeit wir Freiheit nennen müssen.« (Heidegger 1931 f./2007: 169).
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Raserei der entfesselten Technik und [die] bodenlose Organisation des Normalmenschen« aufzubrechen (Heidegger 1935/1998: 34; 28) – also das, was Heidegger dann zur Zeit oder Epoche des Weltbildes zusammenzieht. Auch hier ist keine neue Welt in Sicht, aber sehr deutlich, dass die »geschichtliche Sendung unseres Volkes der abendländischen Mitte« (ebd.: 38) darin besteht, die gerade eingerichtete radikal zu bestreiten. Heideggers Denken der frühen und mittleren 1930er Jahren ließe es also prinzipiell zu, Kunst parallel zur Politik und Philosophie oder zusammen mit ihnen, vermutlich auch mit neuen ›wesentlichen Opfern‹, als Aufbruch zur Führung der Fragenden zu begreifen. Seiner Kritik der Metaphysik käme dies wohl sogar entgegen, weil es nicht bloß eine bestimmte Weltordnung, sondern verfestigte Auslegungsmuster als solche in Frage zu stellen erlaubt. Mit etwas Abstand ergeben sich jedoch Einwände. Der stärkste ist klar: Die fragliche Position passt nahtlos zur völkischen Sieg-oder-Tod-Politik, die Heidegger wie einige deutsche Geistesgrößen (mit) anführen wollte.9 Er hat damit nicht nur die schlimmstmögliche kollektive Entscheidung befürwortet, sondern auch ihren Einsatz verkannt; gerade der Nationalsozialismus war, wie er später (selbst-entschuldigend) festgestellt hat, technische Welt- und Menschenbeherrschung. Eine weitere, ebenfalls bereits angesprochene ideologische Einstellung hat Heidegger über die 1940er Jahre hinaus bewahrt: die Überschätzung schlechthin großer Philosophen und Künstler. Dass die »Kunst« oder sogar ein einziger Dichter die Grundzüge des »geschichtlichen Daseins eines Volkes« (Heidegger 1936/1994: 66) bestimmen soll, ist wenig plausibel. Und selbst wenn man an ihre Stelle die massenhafte kulturelle Praxis setzen würde, in der Welt täglich ausgelegt wird, bliebe offen, weshalb diese thematische Auslegung über die Erschließungsleistungen gebieten soll, die allen sonstigen praktischen Weltbezügen innewohnen, vom Befehlen, Organisieren und Aushandeln übers Begehren, Lieben und Sorgen bis zum Produzieren, Konsumieren und Tauschen. Sie prägen ja nicht nur Weltverhältnisse, sondern haben vielfältige sinnliche Anteile. In Sein und Zeit war dies teilweise noch denkbar, auch die Theorie technischer Weltbeherrschung böte hier Möglichkeiten – doch im Ursprung des Kunstwerkes bleiben von Sinnlichkeit und
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So sieht es auch Alexander Schwan: »Die Zustimmung, die Heidegger vornehmlich in seiner Rektoratsrede vom Mai 1933 der nationalsozialistischen Machtergreifung gab, [...] geht [...] von Grundelementen seines Denkens in dieser Zeit aus, wie er sie dann 1935 (›Einführung in die Metaphysik‹) und 1936 (›Kunstwerk‹-Vorträge) auf philosophischer Ebene formuliert.« (Schwan 1965/1989: 95).
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Materialität nur Erscheinungsqualitäten oder heimatlich-völkische Bodenverhaftung. Wenn alles dies nicht das rekonstruierte Verständnis ästhetischer Praxis als Avantgarde neuer Weltauslegungen entwerten soll, ist eine grundlegende Korrektur nötig. Ansetzen kann sie bei einem Motiv, das auch unabhängig von Heideggers Nazismus (sowie seiner sonstigen Heimattümelei und ProfessorenSelbstherrlichkeit) begreifbar, aber trotzdem stark ideologieträchtig ist: dem Bedürfnis nach politischer Konzentration, Zuspitzung oder ›Sammlung‹. Dieses Bedürfnis zeigt sich auch dort, wo Heidegger nicht von Kunst und nicht direkt von Politik spricht. In der Zeit des Weltbildes wagt er sich zwar weit ins Gewöhnliche, um die Neuzeit zu bestimmen; der »mathematischen Naturwissenschaft« wird hier gleichberechtigt die »Maschinenpraxis« zur Seite gestellt (Heidegger 1938/1994: 75). Doch statt auch die zentrumslosen Zusammenhänge von Tausch, Konkurrenz und Profitproduktion zu benennen, in denen diese Technik steht, ergänzt er nur noch »Ästhetik«, »Kultur« und »Entgötterung« als Wesenszüge der Epoche, die alles aufs Subjekt – sein »Erleben«, seine »Werte« und seine »Weltanschauung« – ausrichtet (ebd.: 75f.). Und statt unfassbar vieler Wissenschaftler, Techniker und Arbeiter sind es schließlich doch nur Philosophen wie Descartes und Nietzsche, die den epochalen Gang von der subjektiven Selbstgewissheit zu technischen Weltbeherrschung (an)greifbar machen. Das Resultat ist die einheitliche Formation ›Neuzeit‹, auf die Heidegger seine inzwischen kryptopolitischen Vorschläge10 richten kann. Nur in oder gegenüber dieser Gesamtformation öffnet sich der »Spielraum der Entscheidung«: »Dort, wo die Vollendung der Neuzeit die Rücksichtslosigkeit der ihr eigenen Größe erlangt, wird allein die zukünftige Geschichte vorbereitet.« (Ebd.: 112) Heidegger richtet jedoch nicht nur seine Gegenwart auf politische Entscheidbarkeit aus. Jacques Derrida hat rekonstruiert, wie er schon in die Urgeschichte der Philosophie die Grundfigur der »Sammlung« oder »Versammlung« einschreibt. Die zentrumslose Praxis der Vielen, konkret der »Markt der Kultur«, erscheint hier unmittelbar als Bedrohung: »Die Versammlung, der Einklang, die Homologie und das philein waren in ihrer Einheit bedroht [...]. Einige aber, von geringer Zahl, versuchten das sophon zu retten – gegen die Sophisten, Männer des kulturellen Marktes und des gemeinen Verstandes.« (Derrida 1994: 453) Ei-
10 Viele politische Andeutungen sind sogar mehrfach verschlüsselt; Sidonie Kellerer (2011) hat gezeigt, dass Heidegger seinen 1938 ausgearbeiteten Vortrag Die Zeit des Weltbildes erst für die Publikation von 1950 merklich auf Distanz zum NS-Regime gebracht hat.
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ne ergänzende Pointe lautet, dass gerade der Konflikt die bedrohte Einheit neu herstellen kann: »Der Kampf ist Selbstversammlung. Er ist der Selbstbezug als Streit.« (Ebd.: 473) Oder, in Heideggers eigenen Worten: »Die Auseinandersetzung trennt weder, noch zerstört sie gar die Einheit. Sie bildet diese, ist Sammlung (logos). Polemos und logos sind dasselbe.« (Heidegger 1935/1998: 47) Der Kunstwerkaufsatz kommt daher wohl nicht umsonst immer wieder auf ›Streit‹ und ›Entscheidung‹ zurück. Sie zeigen formal sein politisches Interesse an.11 Beide Muster haben für den Bereich tatsächlich eine grundlegende Funktion. Will man Politik sehr offen, nicht festgelegt auf bestimmte Institutionen verstehen, sollte man Probleme, die sich einer Vielzahl zusammenlebender Menschen stellen, auf Lösungen beziehen, die alle mittragen können oder hinnehmen müssen.12 Problematisch ist dabei nicht zuletzt, dass man Dinge so oder anders regeln kann; oft favorisieren verschiedene Gruppen verschiedene Lösungen, und nicht selten stellt ihr Konflikt selbst die Schwierigkeit dar. So rückt der Streit ins Zentrum der Politik,13 und spezifische, im Regelfall mittels Durchsetzungsmacht bindende Entscheidungen werden nötig. Der Prozess, in dem die Probleme benannt und Konflikte zugespitzt, Entscheidungen als sinnvoll oder alternativlos dargestellt werden, ist jedoch nicht auf Regelungsinstanzen begrenzt – er findet in der Öffentlichkeit von Rede, symbolischem Handeln und eben ästhetischer Darstellung statt.14 Damit diese politisch funktionieren, müssen sie umgekehrt verbreitete Problemerfahrungen überhaupt zu einem Streit zusammen- und einer Entscheidung zuführen. Dies kann man den konzentrierenden, zuspitzenden oder auch, bildlich prägnant, den (ver-)sammelnden Charakter von Politik nennen.
11 Im selben Zug könnte man sagen: sein ontologisches Interesse. Heidegger entwickelt, indem er Sein und Logos von der Versammlung her denkt, nicht nur eine politische Ästhetik, sondern auch eine ›politische Ontologie‹ (wie es Bourdieu mit anderer Intention nennt). Diese Verschränkung, die wie oben angedeutet zudem die Geschichte der seinsverstellenden Metaphysik betrifft, wird hier nicht näher untersucht. 12 So lautet, um einen nicht totalitarismusverdächtigen Zeitgenossen zu zitieren, etwa der Vorschlag von John Dewey (1926/1984). 13 Entsprechend bestimmt bekanntlich, Heidegger und dem Nationalsozialismus näher, Carl Schmitt (1932/1996) Politik durch Konflikt – wobei die faschistische Qualität in beiden Fälle dadurch zustande kommt, dass der Inhalt der Kämpfe außen vor bleibt, stattdessen die existenzielle Verschärfung zentral wird und Kompromisse kein Thema sind. 14 Dies ist schließlich die Lehre, die man (Heidegger-nah) Hannah Arendts Handlungskonzeption oder (sachgerecht) Antonio Gramscis Hegemonietheorie entnehmen kann.
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Heidegger wird ihm auf eigene Weise gerecht. Er bezieht sich mit seinem Streitbegriff, wie zu sehen war, selektiv auf Probleme der Weltauslegung, spitzt sie aber fallweise auch zum ›Kampf‹ zwischen kollektiven Akteuren zu. In gleichem Maß bindet er die Entscheidungen, die er den Kollektiven oder ihren Vertretern zutraut, an Weisen der Weltauslegung. Für die Kunst lässt er dabei klugerweise offen, inwieweit sie bloß Entscheidungsbedarf evident macht oder selbst die Bahnen von Verstehen und Handeln bestimmt. Bis hierhin lässt sich Heideggers Ansatz als unproblematische Aspektanalyse lesen: Man kann sicher mit Gewinn die Schnittmenge von (ästhetischer) Weltauslegung und (politischen) Handlungsordnungen untersuchen. Und man kann dabei auch spezifisch Versuche betrachten, die an den Grenzen des Verständlichen arbeiten. Verzeichnet wird das Bild jedoch, wenn allein diese Figuren als entscheidende erscheinen – und völlig schief, wenn der politische Konflikt selbst als Kampf von Geisteshelden gegen eine rechtlose Normalität stilisiert wird. Dann findet sozusagen geistespolitische Überkonzentration statt, und die sachliche Einschränkung schlägt in einen totalen theoretisch-praktischen Bestimmungsanspruch um. Heidegger vollzieht dies in der bereits kritisierten Weise, in erbaulichen Sätzen wie dem, Hölderlin sei »der Dichter, dessen Werk zu bestehen den Deutschen noch bevorsteht« (Heidegger 1936/1994: 66), oder wenn er gegen die amerikanischrussische Nivellierung das »Wesentliche« setzt, das »den Menschen [...] zur Überlegenheit zwingt und aus einem Rang heraus handeln lässt« (Heidegger 1935/1998: 35). Der ›gewöhnliche‹ politische Konflikt zwischen gleichrangigen oder gar nicht nach Rang geordneten, nur verschieden starken und allgemeinheitsfähigen Kräften ist für Heidegger dagegen undenkbar – und das beschränkt auch seine Ästhetik. Die spezifischen Fehler im Kunstwerkaufsatz und in seinem Kontext sind damit benannt. Fraglich bleibt, ob man dem darunter wirkenden Sog zu politischer Sammlung entgehen kann, ohne das Politische in der Ästhetik überhaupt preiszugeben. Das Problem lässt sich in zwei Fragen aufgliedern, in denen Heideggers Entscheidungen weniger eindeutig bzw. weniger eindeutig falsch sind: Diejenige, ob politisch aufgeladene Kunst direkt zum Handeln treiben muss, und die, ob statt der politischen Logik der Konzentration eine der Zerstreuung denkbar ist. Für beides ist wie angekündigt ein Seitenblick auf Walter Benjamin hilfreich.15
15 Der Vergleich Heidegger-Benjamin ist seit der postmodernen Auflockerung von Rechts-Links-Fronten üblich; die im Folgenden verhandelten Punkte kommen dabei jedoch recht kurz. Willem van Reijen (1998) und Stefan Knoche (2000) übersehen
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IV. Z ERSTREUTE E NT -G RÜNDUNG Heideggers Formulierung, dass alles Entscheiden auf ›ein Nichtbewältigtes, Verborgenes, Beirrendes‹ gründe, hat einen Vorläufer in Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels. Dort heißt es über die barocke Allegorie: »Die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein in einem Totenkopfe aus.« (Benjamin 1928/1977: 145) Der Totenkopf kann hier außen vor bleiben; ansonsten lassen die Begriffe zur Geschichte beinahe einen Punkt-für-Punkt-Vergleich zu. Selbst die Entscheidung, die in Benjamins Satz fehlt, hätte im Kontext gepasst. Eine Pointe allegorischer Praxis ist ja, dass Bedeutungen nicht organisch aus der sinnlichen Gestalt hervorgehen, sondern ihren Bestandteilen sozusagen per Dekret zugewiesen werden. Und dass dies nicht direkt ins Verständnis der Politik und Geschichte umgesetzt wird, hat exakte Gründe. Benjamins Buch stellt (gegen Schmitt) die Kategorie der Entscheidung in Frage; gerade wo alles auf sie zuläuft, fehlen Gründe, die sie tragen könnten, und Ratlosigkeit setzt ein.16 Umgekehrt lassen sich so Heideggers neue Nominaladjektive fürs geschichtlich Prekäre erklären. Wenn das Unzeitige zum Nichtbewältigten, das Verfehlte zum Verborgenen und das Leidvolle zum Beirrenden wird, resultieren durchweg Handlungsimpulse: Bewältigen, Aufdecken, wieder festen Kurs finden. In Benjamins Liste ist dagegen alles irreparabel missglückt; das vergangene Leid kann nicht geheilt, das Unzeitige und Verfehlte nicht nachträglich zurechtgerückt werden. Erst in Über den Begriff der Geschichte zeichnet Benjamin ein anderes, aktivistischeres Bild (zu dem etwa der Begriff des ›Nichtbewältigten‹ passt). Die Alle-
weitgehend, dass die beiden ästhetische Fragen ähnlich stellen, aber konträr beantworten. Norbert Bolz hat dagegen grundsätzlich erkannt, dass Heidegger seit Sein und Zeit verurteilt, was Benjamin später positiv schildert: »Den spezifisch modernen Prozess der Entauratisierung beschreibt er als ›Einebnung aller Seinsmöglichkeiten‹. Durch sie konstituiert sich eine Öffentlichkeit, die Vorrang, Ausnahme, Echtes, Ursprüngliches und Geheimes nivelliert.« (Bolz 1989: 121). 16 Bezogen auf typische Dramensituationen schreibt Benjamin: »Der Fürst, bei dem die Entscheidung über den Ausnahmezustand ruht, erweist in der erstbesten Situation, dass ein Entschluss ihm fast unmöglich ist.« (Benjamin 1928/1977: 52) Allgemein kann man das Argument so fassen, dass die dezisionistisch begriffene Ordnung »nicht nur ihrerseits kontingent, sondern auch in Kontingentem fundiert [ist]: in subjektiver Willkür« (Makropoulos 1997: 119; detailliert zu Benjamins Schmittkritik ders. 1989: 34-41).
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gorie-Passage hat eine eigene Pointe: Kunstwerke können Geschichte auch so dem politischen Verständnis zuführen, dass sie nicht auf politisches Handeln drängen. Ein Vorteil dieser Version ist, dass sie Wahlmöglichkeiten nicht ontologisch einordnet – und ein vielleicht noch größerer, dass sie Fehler und Niederlagen zulässt. In Heideggers Sätzen zur geschichtlichen Weltauslegung fehlen interessanter Weise beide Begriffe bzw. werden durch ›Schmach‹ und ›Knechtschaft‹ ersetzt. Benjamin kann dagegen noch seine politisch engagierte Geschichtstheorie in eine Tradition der Besiegten stellen. Der »ontologische Ausnahmezustand« (Makropoulos), den er seit dem Barockbuch im Blick hat, fordert nicht Rangordnungen neu zu erfinden, sondern erlaubt zu fragen, was angesichts ihrer Suspendierung sozial möglich wird. Die Gegenüberstellung ließe sich auch ästhetisch weiter ausführen, da Benjamin im Trauerspielbuch und später Möglichkeiten auffächert, die Heidegger ausblendet: Neben der bloßen Zurschaustellung von Sinnesqualitäten stellt er ihre pointierte Verweigerung fest (in der barocken Vanitas- wie in der Brechtschen Verfremdungsästhetik), statt einer gespannten Wechselsteigerung von Erscheinung und Sinnstrukturen kann er auch eine bloße Zersetzung der letzteren denken (ob in der Allegorie oder in der surrealistischen Collage), als geschulter Literaturwissenschaftler kennt er nicht nur ein Eigenleben des StofflichSinnlichen, sondern auch eine Geschichte der Formen (vom Trauerspiel bis zur Lyrik an der Schwelle der Massenkultur). Im gegebenen Zusammenhang ist jedoch die Möglichkeit einer substanziell vorpolitischen (oder politisch resignierten) Kunst und Kunsttheorie wichtiger, auf die man alle genannten Elemente beziehen kann. Kulturelle Artefakte und Formationen können ›Welt‹ und ›Erde‹ bzw. (konventionell gesagt) Sinn, Form und Material so verbinden, dass politisch zuvor Verbindliches haltlos wird – und umgekehrt vielleicht bisher Unvorstellbares möglich. Den zweiten Schritt werden sie jedoch als vorpolitische nie avantgardistisch erproben. Die Rückseite der praktisch nicht festgelegten Weltzersetzung ist eben, wie Benjamins Barockbuch sehr deutlich macht, Rat- und Perspektivlosigkeit. Diesen Punkt erreicht schließlich auch Heidegger, der seinen Abstand vom Nationalsozialismus gewinnt, indem er den Willen zur Weltbeherrschung insgesamt anklagt, die technisch fehllaufende Geschichte der Metaphysik nur noch mahnend protokolliert und passiv die rettende Wendung dazu erwartet, das Sein sein zu lassen. Die Möglichkeiten einer aktivistisch-autoritären und einer resignativdesorientierenden Ästhetik bilden keine vollständige Disjunktion. Sie sind jedoch in der modernen Kunst und Kunsttheorie verbreitet gewählt worden, und konkrete Alternativen finden sich nicht ohne Weiteres. Der schon genannte Titel für die vermutlich wichtigste führt aus dem Bereich der autonomen Kunst her-
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aus: massenkulturelle Zerstreuung. Wenngleich sich die kommerziell vorangetriebene, technisch erneuerte, sozial nivellierte Vergnügungs- und Ereigniskultur viel besser totalitär einspannen ließ als avancierte Kunst, hat sie strukturelle Eigenheiten, die Anderes versprechen (und teilweise gehalten haben). Sie kann Weltauslegung aus alten Bahnen befreien, auch ohne sie auf ein geschichtliches Avantgardeprojekt festzulegen oder im Nichts-geht-mehr zu münden. Benjamin verortet seine Theorie der Zerstreuung markant in diesem Problemhorizont. Gleich zu Beginn seines Kunstwerkaufsatzes behauptet er, dass die »unkontrollierte (und augenblicklich schwer kontrollierbare) Anwendung« klassischer Ästhetik unter technisierten Produktionsbedingungen »zur Verarbeitung des Tatsachenmaterials in faschistischem Sinne führt« (Benjamin 1935/1991: 435). Was gemeint ist, erschließt sich erst im Bezug aufs Grundargument des Aufsatzes – und erst dieses Argument erlaubt auch zu klären, weshalb Benjamin zwar etwa die gleichen Begriffe ablehnt wie Heidegger (»Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Stil, Form und Inhalt«; ebd.), aber eine Gegenposition zu dessen Versammlungsontologie eröffnet. Vergleichbar sind beide, weil auch Benjamin sinnliche Qualitäten im Blick hat, deren Bearbeitung Epochenumbrüche vermittelt. Er geht dabei nicht von der erschlossenen Wirklichkeit, sondern von den Wahrnehmenden aus: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der Kollektive auch ihre Wahrnehmung« (ebd.: 439), und bei anspruchsvollem Wandel können Kunstformen eine Art Anleitungsfunktionen erhalten: »Der Film dient, den Menschen in denjenigen neuen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt.« (Ebd.: 444) So weit ist noch offen, inwiefern Deutungsgefüge berührt sind. Doch auch Benjamin arbeitet mit dem Bezug auf kultische Weltverhältnisse. Er entwirft zwischenzeitlich sogar eine technische Abschaffung des Opfers (Benjamin 1936/1991: 359), und als er schließlich die neue Apperzeption als zerstreute fasst, stehen zugleich (bildungsbürgerliche) Privilegien und (kryptoreligiöse) Autorität zur Debatte. Benjamin wirft, wie man weiß, noch dem l'art pour l'art eine »Fundierung aufs Ritual« (Benjamin 1939/1991: 482) vor, weil hier weiter Originale verehrt werden; dagegen setzt er den zentrumslosen Gebrauch ästhetischer Massenprodukte. Zerstreuung heißt also nicht bloß Unaufmerksamkeit – »Man konzentriert sich nicht mehr« (Bolz 1989: 122) –, sondern vor allem die Ablösung von einem herausgehobenen, ›auratischen‹ Hier und Jetzt. Eine vorbereitende, nicht exklusiv gegenwartsbezogene Passage lässt sich gut Heideggers Tempelbeispiel entgegenstellen: »Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein [...]. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich. Am sinnfälligsten die Bauten. Die Architek-
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tur bot von jeher den Prototyp eines Kunstwerks, dessen Rezeption in der Zerstreuung durch das Kollektivum erfolgt.« (Benjamin 1939/1991: 504) Die Bauten stehen hier nicht umsonst im Plural, sie sind nicht als Zentrum von Weltauslegung angelegt. Der Gegensatz ergibt sich aus konträren Ablehnungen der Autonomieästhetik: Während Heidegger statt subjektiver Versenkung ein in der Entscheidungslage versammeltes Volk vorsieht, will Benjamin die individuelle wie die kollektive Sammlung auflösen. Erfahrungen mit der Gegenstandswelt mögen (etwa im Kinosaal) zusammentreffen, sie sind jedoch prinzipiell raumzeitlich verteilt, nicht kultisch-ästhetisch-politisch gebündelt. Und statt zu erwarten, dass alles Handeln erneut sinnhaft orientiert wird, umreißt Benjamin eine ebenso »optische« wie »taktile« »Gewöhnung« an neue, allenfalls organisatorisch koordinierte praktische Anforderungen (ebd.: 505). So lässt sich seine These erklären, dass das Muster Kunst in der technischen Ära faschistisch wird: Sein Gegner ist eine ästhetische Praxis und Theorie, die als Publikum entstrukturierte Massen vorsieht, sie aber mit den Wahrnehmungs- und Sinnordnungen hierarchischer Gesellschaften und bürgerlicher Selbstbeherrschung zentral ausrichtet. Ob Benjamins bekannte Formel von der faschistischen »Ästhetisierung der Politik« (ebd.: 508) genau diesen Zusammenhang bezeichnen sollte und kann, muss hier nicht geklärt werden. Zu fragen ist aber, ob das rekonstruierte Argument wirklich eine alternative »Politisierung der Kunst« (ebd.) erkennbar macht bzw. ihre »Fundierung aufs Ritual« tatsächlich durch eine nicht-autoritäre »Fundierung auf Politik« (ebd.: 482) zu ersetzen verspricht. Geläufige Beispiele lassen sich eher mit jeweils beiden Formeln begreifen: Futuristische Kriegsfreude, nazistische Herrschaftsbauten, Massenaufmärsche, Kampflieder, Jugendbünde und Bilder gestählter Arbeitskräfte ästhetisieren die Politik und politisieren die Kunst, verstaatlichen den Alltag und nutzen dazu neokultische Rituale.17 Sie folgen zudem alle dem Muster der Versammlung; schon die Betonung von Konflikten ist ein Sonderfall. Alternativen bietet erst eine Alltags- und Massenästhetik, die – im demokratischen Zwischen- und Nachkriegseuropa und in den USA, bereichsweise aber auch in der Sowjetunion und selbst in faschistischen Staaten – nicht vorrangig politisch ausgerichtet ist. Werbung, Freizeit, Jazz, Jeans und Ki-
17 Philippe Lacoue-Labarthe hat den Nationalsozialismus daher als »Nationalästhetizismus« geschildert. Er geht von Benjamins Formeln aus, will jedoch Heidegger explizit nicht als Anwendungsfall gelten lassen – mit dem schwachen Argument, dass er »die abendländische Philosophie der Kunst insgesamt angreift und versucht, die Frage der Kunst auf ganz andere Grundlagen zu stellen« (Lacoue-Labarthe 1990: 145; zum Nationalästhetizismus: 99-111).
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no singen nicht nur »das Lob des stählernen Rhythmus« (Horkheimer/Adorno), sondern schaffen tatsächlich auch eine Zerstreuung, die unter anderem gegenkulturell besetzt werden kann. Umgekehrt macht die kommerzielle Massenkultur nahezu jede politische Regung zu einem Kaufanreiz unter anderen. Um hierzu mehr zu sagen, müsste man die auch in Benjamins Kunstwerkaufsatz marginale Logik von Kulturverwertung und Warenästhetik diskutieren.18 Für die vorliegende Frage genügt der ernüchternde Schluss, dass Ästhetik offenbar wirklich erst dann politisch wird, wenn sie versammelnd wirkt. Massenkultur bietet hier nur einen deutlichen Fall, keine prinzipielle Alternative. Die Politisierung muss nicht immer totalitär ausfallen, und die zerstreuende Massenkultur kann unbeabsichtigt Möglichkeiten für eine zuvor nicht denkbare Politik öffnen – doch eine Strategie dafür, beide Dynamiken zu verbinden, ist mit und ohne Benjamin nicht absehbar. Als positives Ergebnis bleiben eine deutliche Erweiterung der TrauerspielThese und eine grundsätzliche Korrektur an Heidegger. Über das Trauerspielbuch geht der späte Benjamin hinaus, weil er nicht mehr vorrangig einen Ordnungsverlust schildert. Der Massenkultur, die er analysiert, entspricht keine »leere Welt« (Benjamin 1928/1977: 119 f.), in der orientierende Sinnordnungen fehlen,19 sondern eine unübersichtliche Wirklichkeit, in der Deutungshorizonte gegenüber praktischen Problemen zurücktreten. Der sinnliche (oder anderweitig Sinn unterminierende) Aspekt ästhetischer Praxis zeigt daher auch nicht an, dass neue Auslegungsmuster heraufdrängen oder verzweifelt gesucht werden, sondern antwortet direkt verbreiteten Handlungsproblemen – durch Anregung oder Entspannung, Temposteigerung oder Reizbewältigungstraining. Massenkulturel-
18 Die stärkste Aussage, die Benjamin zum Thema macht, betont – zurecht – den entstrukturierten und ästhetisch rearrangierten Charakter der Masse selbst, nutzt aber – höchstens rhetorisch überzeugend – das Wort ›zerstreuen‹ mit verschobener Bedeutung. Sein Ausgangspunkt ist, dass der »freie Markt« die keiner Klasse zuzuordnenden Massen »rapid und in unübersehbarer Menge vermehrt, indem nunmehr jede Ware die Masse ihrer Abnehmer um sich sammelt. Die totalitären Staaten haben diese Masse zu ihrem Modell genommen. Die Volksgemeinschaft sucht alles aus dem einzelnen Individuum auszutreiben, was seiner restlosen Einschmelzung in eine Kundenmasse im Weg steht. Den einzig unversöhnlichen Gegner hat der Staat [...] dabei an dem revolutionären Proletariat. Dieses zerstreut den Schein der Masse durch die Realität der Klasse.« (Benjamin 1939/1991: 468) Zerstreuung heißt hier konfrontative Desillusionierung. 19 Vgl. für dieses Szenario und den Kontext noch einmal Makropoulos (1989: 28-33).
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le Artefakte können dabei weiterhin Sinn und Bedeutung transportieren – und werden dies großzügiger tun als Avantgardekunst –, doch immer vorläufig, ersetzbar oder sogar ironisch. Statt Streit von Erde und Welt herrscht eine friedliche Koexistenz von periodisch erneuerter Sinnlichkeit und dauerhaft reduzierten Sinnansprüchen. Die ästhetischen Bedingungen möglicher Politik sind damit gegenüber Benjamins Barock-Extrapolation deutlich verschoben; sie lösen nun nicht nur den Drang zur Entscheidung, sondern die Dramatik des ›Ausnahmezustands‹ insgesamt auf.20 Für Heidegger wäre wie angesprochen bereits die Möglichkeit hilfreich, solche Bedingungen einzuräumen. Epochal wichtige ästhetische Produktion muss nicht selbst oder gemeinsam mit Politik, Philosophie und Religion eine neue Epoche stiften und einrichten. Sie kann vielmehr auch (mit reduziertem Kunstanspruch, zusammen mit Gebrauchs- und Alltagsästhetik) die Situation verändern, in der Deutungsansprüche erhoben, politische Ziele verfolgt und (mehr oder weniger) Opfer gefordert werden. Benjamins Gang von der Entleerungs- zur Zerstreuungsästhetik stellt jedoch zusätzlich den Status thematischer Weltauslegung als solcher in Frage. Selbst wenn man nicht sowieso glaubt, dass kulturelle Muster vom Wandel der Produktionsweisen und Machtverhältnisse abhängig sind, fällt es schwer, die Weltstrukturen in der massenkulturellen Moderne vorrangig an das zu binden, was die Philosophen denken, die Dichter sagen und Gläubige verehren. Benjamin wird dieser Lage in seinem Kunstwerkaufsatz pionierhaft gerecht; der Heideggers hätte noch einige Schritte zu gehen gehabt, um sie auch nur strukturell anzuerkennen.
*** Damit ist begrifflich der Ausgangspunkt eingeholt, dass sich heute von Kunst weniger Wahrheit, Erhebung oder auch Opposition erwarten lässt als in der Hochmoderne. Das gilt für autoritäre wie anarchistische Avantgardekunst, für eine faschistische wie eine pluralistische Massenkultur. Die Chancen politischer oder politisierter Ästhetik lassen sich allerdings nicht gut in einer allgemeinen Theorie der Moderne fassen. Sie stehen und fallen mit wechselnden Kräfteverhältnissen. Schon die Rollen, die avancierte und Propagandakunst in den Revolutionen, Staatsstreichen und totalitären Staaten ab 1917 spielen, sind äußerst
20 Auch Makropoulos erkennt bei Benjamin die Frage, »ob nicht möglicherweise gerade die Massenkultur ein entdramatisiertes Verhältnis der Menschen zur vehementen Modernisierung [...] vorbereiten könnte« (Makropoulos 2008: 91).
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uneinheitlich; die Protestbewegungen der 1960er und 70er Jahre tragen Avantgarde und Politik in die Massenkultur und umgekehrt; gegenwärtig sind ästhetische Bemühungen eher ein üblicher Standard als ein eigenständiges Element politischer Mobilisierung. Mit Heidegger lässt sich jedoch ein strukturelles, von allen fatalen Fehlern nicht desavouiertes Kriterium dafür festhalten, dass und wie ästhetisches Handeln politisch wird: Es muss in Konfliktlagen Aufmerksamkeiten und Kräfte bündeln, um problematisch gewordene Regelungen herauszufordern. Das kann, wenn man wie Heidegger theoretische, politische, ästhetische und womöglich religiöse Sammlung verbindet, massive Herrschaftsbejahung bedeuten, aber auch als Störung und Ärgernis stattfinden. Eine Ästhetik befreiender Zerstreuung dagegen hat, wie sich in der Diskussion Benjamins zeigte, nur als Korrektiv der Überkonzentration politischen Sinn. Zumindest die Sammlung an Streitfronten scheint unausweichlich zu sein, wo überhaupt Politik stattfindet. Für die politisch Handelnden und vor allem Unterliegenden ist dabei zu hoffen, dass einige Hintergrund-Zerstreuung bestehen bleibt – und für die ästhetische Produktion und Reflexion, dass sie mit dem Zurücktreten von Sinnfragen nicht selbst bedeutungslos wird.
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»Die eigentliche Würde des Menschen ist noch nicht erfahren.« Heideggers Kritik an der Kantischen Würdekonzeption O LIVER B RUNS
Der Begriff der Menschenwürde ist in aktuellen philosophischen, politischen, juristischen und religiösen Debatten äußerst umstritten. Diskutiert wird, was die Menschenwürde beinhaltet, für wen sie gilt und wie sie begründet werden kann, aber auch, ob dem Menschen überhaupt eine besondere Würde zukommt. Nicht wenige Theoretiker/-innen1 nehmen an, dass der Würdebegriff nur ein politischer »Kampfbegriff« (Kissler 2005: 15), eine »Leerformel« (Luhmann 2009: 59) oder ein »Glaubensartikel« (Birnbacher 1995: 4) sei. Während Art. 1 Abs. 1 GG für die einen der tragende Grund der Verfassung ist, behaupten andere, dass der Würdebegriff mehrdeutig und juristisch nicht operationalisierbar sei. Die Skepsis gegenüber der Annahme einer allgemeinen Menschenwürde wird auch dadurch bestärkt, dass sie anthropozentrisch erscheint. Für Nietzsche ist das Wort ein »Phantom«, eine »Begriffs-Halluzination« und Ausdruck der Dekadenz (vgl. Wildfeuer 2002: 29 f.). Von Seiten neuer philosophischer Strömungen werden Aussagen mit universellem Geltungsanspruch und Verabsolutierungen – wie sie beispielsweise in der Kantischen Formulierung vom »absoluten Wert« der Person enthalten sind – relativiert. Die Menschenwürde setze ein metaphysisches Substanzdenken voraus, das in der Postmoderne im Rahmen einer »Ethik ohne Metaphysik« (Patzig 1983) überholt sei. In Sein und Zeit fordert Heidegger ebenfalls die »Destruktion« (Heidegger 2006: 108) der Metaphysik. Ihm geht es zugleich um den positiven Aufweis eines Sachverhalts, so wie dieser jenseits
1
Eine Übersicht der kritischen Positionierungen bietet Wildfeuer (2002: 22-31).
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metaphysischer Verklärungen zu denken ist. Aufgrund der Radikalität der Heideggerschen Kritik, bietet es sich an, die Frage nach einem postmetaphysischen Würdeverständnis ausgehend von seinem Werk zu stellen. In meinem Beitrag möchte ich den Versuch unternehmen, Heideggers Auffassung von der Menschenwürde im Hinblick auf die von ihm vorgetragene Metaphysikkritik herauszuarbeiten. Die Frage lautet: Wie ist die Menschenwürde jenseits des neuzeitlich-individualistischen Menschenbildes, von dem er sich deutlich abgrenzt, zu denken? In den folgenden einleitenden Bemerkungen zur Thematik (I.), möchte ich andeuten, dass Heidegger nach der Menschenwürde in einer Weise fragt, die gänzlich außerhalb der bisherigen philosophischen Denkbemühungen liegt. Auf diese kann nur äußerst knapp eingegangen werden. Eine dezidierte Auseinandersetzung mit aktuellen Theorien drängt sich zunächst nicht auf, da es laut Heidegger ohnehin nicht darauf ankommt, bezüglich der Vermögen, Fähigkeiten oder Bedürfnisse des Menschen hier und da Korrekturen am Menschenbild vorzunehmen, sondern die dabei angewandte Denkweise – das vorstellend-wertende Denken – fallen zu lassen. Dies ist nur möglich, wenn die metaphysischen Denkkategorien im Ganzen destruiert werden. Die Kritik2 muss demnach an den Anfang des metaphysischen Denkens in der Antike zurückgehen. Der Anspruch, eine Würdekonzeption jenseits metaphysischer Denkstrukturen zu entwickeln, wird in einigen Theorien zur Menschenwürde vertreten. Zumeist wird die einseitige Interpretation des menschlichen Wesens als animal rationale hinterfragt. Auf drei Beispiele werde ich im Anschluss an die Darstellung der Würdekonzeption Kants (II.) kurz eingehen. Meines Erachtens greifen diese Auseinandersetzungen mit der Metaphysik zu kurz – beispielsweise dann, wenn gegenüber der Vernunft das Gefühl, gegenüber einer rationalen Begründung die ethische Praxis oder entgegen einer Wesensbestimmung des Menschen deren Gestaltbarkeit zur Begründung der Würdeachtung betont werden soll. Die seit alters her geltenden philosophischen Grundunterscheidungen, von Theorie und Praxis, Vernunft und Gefühl sowie Möglichkeit und Wirklichkeit, bleiben dabei völlig unangetastet. Durch den Sprung in das begriffliche Gegenteil wird die metaphysische Unterscheidung selbst nicht beseitigt, sondern gefestigt. Die Würde wird willkürlich an metaphysische Kategorien geheftet, deren Infragestellung unergiebig zu sein scheint. Laut Heidegger setzt die Erfahrung der eigentlichen Würde des Menschen jedoch einen freien Blick auf dessen Wesen voraus. Dieses beruht im Seinsverständnis (III.). Das Verstehen von Sein ist gegenüber jedem
2
Zum Begriff der Kritik bei Heidegger vgl. Heidegger (1987: 99 f.).
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besonderen Vermögen tiefer im Wesen des Menschen verankert, weil es untrennbar davon ist. Ohne ein vorausgehendes Seinsverständnis, könnte über das Möglich- oder Wirklichsein der jeweiligen Vermögen nicht das Geringste gesagt werden. Die Würde ist demnach an das fundamentale Verhältnis des Menschen zum Sein geknüpft. Die hier gemeinte »Wesenswürde« hat mit den in der philosophischen Tradition konzipierten Begriffen der Wesenswürde nichts tun. Den Heideggerschen Würdegedanken möchte ich in zwei Richtungen näher erläutern. Erstens: Im Hinblick auf das Seinsverständnis kann der Eindruck entstehen, dass dieses sich an einem allgemeinen und leeren Begriff von Sein orientiere und auch die Würde somit inhaltsarm gedacht werde. Deshalb ist es unumgänglich, deutlicher zu beschreiben, wie denn das »Sein« gegenwärtig überhaupt ist (IV.). Dazu gibt Heidegger u.a. in dem Aufsatz Die Frage nach der Technik Auskunft. Der Mensch wird durch die moderne Technik zwar auf vielerlei Weise bedroht, in seinem Wesen bleibt er aber jeder technischen Vereinnahmung entzogen. Zweitens: Sowohl im Technik-Aufsatz als auch im Brief Über den Humanismus argumentiert Heidegger vorwiegend auf der ereignisgeschichtlichen Ebene, sodass unklar bleibt, inwiefern an dem Gedanken einer »unantastbaren Menschenwürde« im konkreten Fall einer entwürdigenden Handlung, beispielsweise durch körperliche Gewalt, festgehalten werden könnte. Meines Erachtens lässt sich dies nur auf phänomenologischem Wege zeigen. Eine Phänomenologie möglicher Formen der Missachtung der menschlichen Würde kann hier nicht einmal im Ansatz besprochen werden. Dennoch möchte ich anhand einer kurzen Analyse des Phänomens der Leiblichkeit andeuten, inwiefern auch dieses die Unantastbarkeit der Würde bezeugt. Eine ausführlichere Leibphänomenologie (vgl. Johnson 2010) ist für die Würdethematik deshalb so bedeutsam, weil der Mensch dem Anschein nach gerade im Hinblick auf sein leibhaftiges Dasein »vorhanden« und somit einer instrumentalisierenden Gewalt ausgeliefert zu sein scheint. Der vorliegende Beitrag geht über eine erste skizzenhafte Darstellung der Schwierigkeiten eines postmetaphysischen Würdeverständnisses nicht hinaus. Zu den zahlreichen Debatten, in denen die Würdethematik eine Rolle spielt, kann nicht Stellung genommen werden. Ersichtlich werden soll aber, dass der Grundsatz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde in einem ereignisgeschichtlich-phänomenologischen Sinne aufweisbar ist.
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I.
V ORBEMERKUNGEN ZUR F RAGE NACH DER M ENSCHENWÜRDE
Unter »Metaphysik« versteht Heidegger nicht nur einen Teilbereich der philosophischen Systematik neben Logik und Ethik, sondern das Ganze der Philosophie. »Philosophie ist Metaphysik« (Heidegger 2000a: 61), heißt es in Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. Der Versuch einer »Überwindung der Metaphysik« bezieht demzufolge auch die Ethik, den Humanismus sowie die metaphysisch begründeten Vorstellungen von Menschenwürde und -rechten mit ein. Bezüglich der Würdethematik betrifft dies insbesondere die SelbstzweckFormel, den absoluten Wert der Person und die Autonomievorstellung bei Kant – also aufeinander verweisende Theoreme, die für eine Begründung der Menschenwürde unentbehrlich scheinen. Zu Recht stellt Georg Mohr fest, dass »wir beim Thema ›Menschenwürde‹ plötzlich alle Kantianer, quasi ›natürliche Kantianer‹ [seien]« (Mohr 2007: 16), trotz bemerkenswerter Unterschiede bei der Auslegung der Kantischen Würdeauffassung und den moralisch-rechtlichen Schlussfolgerungen. Für Heidegger ist die Metaphysik im Ganzen unzureichend für eine Erläuterung des Phänomens der Menschenwürde, daher kann ausgeschlossen werden, dass er schlicht den Gegensatz zur »autonomischen Deutung«, das heißt, die »heteronomische«, an die Einhaltung bestimmter Pflichten gebundene Deutung, befürwortet.3 Die beiden Deutungen setzen dasselbe Verständnis des Menschen als animal rationale voraus. Erschwert wird die hier vorgenommene Untersuchung dadurch, dass im Werk Heideggers nur selten dem Wortlaut nach von der Menschenwürde die Rede ist. Auch in der Heidegger-Forschung ist die Frage nach einem postmetaphysischen Würdeverständnis bislang kaum aufgeworfen worden.4 Dabei ist es doch ein Anliegen Heideggers zu zeigen, dass »[g]egen den Humanismus […] gedacht [wird], weil er die Humanitas des Menschen nicht hoch genug ansetzt.« (Heidegger 1949a: 19) Die Wesensbestimmungen des Menschen als animal rationale, Person oder körperlich-geistiges Wesen, gehen, so Heidegger, an der »eigentlichen Würde des Menschen« vorbei. Der im Titel zitierte Satz aus Über den Humanismus bringt durch das »noch nicht« zum Ausdruck, dass Heidegger die Erfahrung einer Würde, die dem Menschsein tatsächlich entspricht, für möglich hält. Das »noch nicht« ist geschichtlich zu verstehen. Es impliziert, dass das
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Zur Unterscheidung dieser Kategorien vgl. Tiedemann (2006: 38 ff.).
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Eine Ausnahme ist: Platte (2004).
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Denken ein zureichendes Würdeverständnis bisher nicht erreicht hat, aber in Zukunft erlangen könnte. Ausgehend von Heideggers Bemerkungen zur Würde des Menschen möchte ich zeigen, dass diese seiner Ansicht nach an die Weltbezüglichkeit des Daseins gebunden ist und nicht an eine wie auch immer geartete Substanz des Menschen, die mal in der Fähigkeit, als vernünftiges Wesen Zwecke zu bestimmen, mal in der Gottesebenbildlichkeit oder in der Leistungsfähigkeit (z.B. nach Pico della Mirandola 1990 oder Luhmann 2009: Kap. 4) entdeckt wird. Dass der Mensch eine allein ihm zukommende Würde hat, wird weniger durch eine Fixierung auf bevorzugte Eigenschaften und Vermögen des Menschen ersichtlich als dadurch, dass er in ein Weltverhältnis eingelassen ist, das er nicht sich selbst zu verdanken hat. Auch unter der Bedingung der Weltentfremdung durch die moderne Technik – die nur auf der Grundlage einer Weltbezüglichkeit konstatiert werden kann – bleibt die ekstatische Verfasstheit des Daseins (vgl. Heidegger 1949a: 16 f.) ein Verhältnis, in das der Mensch nicht hineinhandeln kann, weshalb die Unantastbarkeit der Menschenwürde ein »fundamentalontologisches« Faktum ist. Die Heideggersche Deutung der Menschenwürde lässt sich im Rahmen der gängigen, zumeist dualistischen Unterscheidungskategorien »abstrakte Wesenswürde« versus »Würde als konkreter Gestaltungsauftrag« (Wetz 2005: 15), »autonomische« versus »heteronomische Deutung« oder schlicht »gegeben«5 versus »erworben« (Menke/Pollmann 2007: 132 ff.) nicht verorten. Ebenso wie die Definitionen im Einzelnen setzen diese Kategorien stillschweigend voraus, dass der Mensch sich zum Gegenstand einer neutralen Betrachtung und Wertung machen und dabei zugleich sein Wesen gemäß der ihm innewohnenden Würde gewürdigt werden könne. Wie noch zu zeigen sein wird, steht jede Wertschätzung des Menschen im Widerspruch zu dessen Würde. Als fundamentalontologisches Faktum ist die Würde keine natürliche Mitgift. Vielmehr nimmt Heidegger an,
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Dass die Menschenwürde ein fundamentalontologisches Faktum ist, heißt nicht, dass sie auch »gegeben« ist. Wäre sie dies, dann stünde die Erfahrung der eigentlichen Würde nicht noch aus. Obwohl Menke und Pollmann mit der einfachen Kategorie »gegeben« kein Urteil darüber treffen wollen, nach welcher Qualität diese Gegebenheit der Würde konstatiert wird, ist die Kategorie nicht voraussetzungslos. Die Gegebenheit und damit zugleich unterstellte Zugänglichkeit für das menschliche Erkennen beruht, wie ich in Abschnitt III erläutere, auf einer Auslegung des Seins als etwas stets Vorhandenes. Die Würde im Heideggerschen Sinne ist nicht einfach gegeben, sondern wird geschichtlich auf unterschiedliche Weise »zugewiesen« (vgl. Heidegger 1982b: 4).
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dass sich dem Menschen ein Verständnis der eigenen Würdigkeit gegenwärtig entzieht. Es geht nicht nur darum, an die Stelle einer metaphysischen eine fundamentalontologische »Begründung« zu setzen, sondern um eine Erfahrung der eigentlichen Würde.6 Eine Folge der metaphysischen Betrachtungsweise des Menschen ist der unaufhebbare Widerspruch zwischen einer basalen und einer anspruchsvolleren Würdekonzeption.7 Je anspruchsvoller die Voraussetzungen sind, auf denen die Würde beruhen soll – zum Beispiel bezüglich der Ausbildung des Vernunftvermögens, des freien Willens, der Fähigkeit zur Empathie oder bestimmter Praktiken der Achtung und des Respektierens – desto mehr Menschen müsste sie abgesprochen werden, wenn diese außerstande sind, die Voraussetzungen zu erfüllen oder sich die Verhaltensweisen anzueignen. Das hat jedoch zur Folge, dass gerade diejenigen Menschen vom Würdeschutz ausgeschlossen werden, die eines besonderen Schutzes bedürfen. Auch die Verlagerung der geforderten Vermögen und Fähigkeiten in die Potentialität bietet keine Lösung für das Problem, weil bei vielen Menschen – zum Beispiel im Falle einer schweren geistigen Behinderung – auch das Potential zur Erfüllung der jeweiligen Anforderungen nicht vorhanden ist. Wenn umgekehrt auf diese Voraussetzungen verzichtet wird, hängt die Würde zuletzt von der bloßen Zugehörigkeit zur Gattung Mensch ab. In diesem Falle tendiert die Rechtfertigung zum »Speziesismus«, ohne dass konkrete Gründe für eine besondere Würde des Menschen vorgetragen werden. Die Zuerkennung oder Zurückweisung der Gattungszugehörigkeit erscheint willkürlich. Mit der Aufweisung des Würdephänomens werden biologische und psychologische Erkenntnismaßstäbe vermengt. Vom Standpunkt der Heideggerschen Metaphysikkritik aus gesehen, genügt es schon, dass in den Theorien zur Menschenwürde häufig ein Begriff von Menschheit gebraucht wird, demzufolge diese als »Gattung« vorgestellt wird. Die biologischen oder psychologischen Kriterien der Zugehörigkeit müssen in den Menschenwürde-Theorien nicht unbedingt ausdrücklich thematisiert werden. Sie sind indirekt aber bereits präsent, wenn beispielsweise bei der Frage, inwiefern körperlich oder geistig Schwerbehinderte
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Das fundamentalontologische Denken zielt darauf ab, das auf Setzungen beruhende Denken der Metaphysik zu überwinden. Die Fundamentalontologie soll gerade nicht ein »Fundament« für neue Begründungen bereitstellen. Heidegger geht es demnach nicht um eine »Begründung« der Menschenwürde. Der Raum des Politischen ist ein potentieller Erfahrungsbereich menschlicher Würde (vgl. Bruns 2009).
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Zu den Paradoxien der Würdethematik vgl. auch Seelmann (2009: 166 f.).
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dem Würdeschutz unterliegen, die Behinderung unhinterfragt als ein physiologisch-psychologischer Zustand und nicht phänomenologisch8 betrachtet wird. Naturwissenschaftlich wird der Mensch als ein Lebewesen unter anderen begriffen. Laut Heidegger beruht jede Wissenschaft auf metaphysischen Grundlagen. Gemessen an seiner Metaphysikkritik sind somit alle wissenschaftlichen Begründungs- und Widerlegungsversuche der Menschenwürde unzureichend – ob sie den Menschen nun primär als rationales oder animalisch-körperliches Wesen betrachten und ihm dabei mehr oder weniger abverlangen. »Die Metaphysik denkt den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas hin.« (Heidegger 1949a: 13) Nicht durch eine Umgewichtung von Fähigkeiten oder Bedürfnissen des Menschen lässt sich die eben skizzierte Aporie der Menschenwürde umgehen, sondern ausschließlich dadurch, dass das Werten selbst aufgegeben wird. Auch die Verabsolutierung oder Leugnung der Werthaftigkeit des Menschen steht im Horizont des Wertens. Bevor ich näher erläutere, wie diese Kritik zu verstehen ist, gehe ich zuerst auf die Kantische Würdebegründung ein, gegen die sie sich unter anderem richtet.
II. AUTONOMIE
UND
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K ANT 9
Wenn von der Menschenwürde die Rede ist, ist Kant unumgehbar. Indirekt wird die Würde in der zweiten Formulierung des kategorischen Imperativs angesprochen. »Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« (Kant 1999: 54 f.) Kant unterscheidet zwischen Sachen und Personen sowie zwischen relativem und absolutem Wert. Der Person kommt ein abso-
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In der Phänomenologie kommt es laut Heidegger darauf an, das Phänomen in seinen eigenen Grenzen »einfach hinzunehmen und nichts außerdem« (vgl. Heidegger 1987: 96 f.). Jede wissenschaftliche Erkenntnis oder Gegenstandsbetrachtung ist aber durch erkenntnistheoretische Voraussetzungen bedingt, die den Blick vom Phänomen weglenken. Eine Phänomenologie der Behinderung müsste dementsprechend bei dem ansetzen, was sich weltbezüglich im Behindertsein selbst offenbart, ohne dabei auf philosophische, psychologische oder physiologische Theorien Rücksicht zu nehmen. Die phänomenologische »Methode« ist für Heidegger grundverschieden von jeder wissenschaftlichen Methodik.
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Die Darstellung der Kantischen Würdebegründung ist zum Teil übernommen aus Bruns (2009).
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luter Wert zu, weil sie keinen Preis hat. Denn, »[w]as einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.« (Ebd.: 61; Herv. i. O.) Aufgrund des absoluten Wertes der Person ist es dem Menschen verboten, über sich selbst oder andere willkürlich zu verfügen. Warum aber darf der Mensch gemäß dem kategorischen Imperativ nicht bloß als Mittel gebraucht beziehungsweise instrumentalisiert werden? Geachtet werden soll nach Kant die Menschheit der Person. »Menschheit« meint hier jedoch nicht die Gattung als Summe aller Individuen, sondern das wesentliche Charakteristikum des Menschseins, also das, was den Menschen zum Menschen macht. Dieses Charakteristikum ist laut Kant die »Autonomie«. »Autonomie ist […] der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« (Ebd.: 63; Herv. i. O.) Autonomie als das Vermögen, sich selbst Zwecke zu setzen, verlangt, dass der Mensch nicht nur als Mittel für die Zwecke anderer benutzt wird. Die Autonomie ist bei Kant ihrerseits begründet in der »Vernunftfähigkeit, durch die der Mensch allgemeine Gesetze denken kann, einen durch Vernunft bestimmbaren freien Willen, der sich Gesetze unabhängig von naturkausaler Determination durch Triebe geben kann [sowie] einer ›Empfänglichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), […] das moralische Gefühl‹« (Mohr 2007: 19; Herv. i. O.). Der letzte Punkt, die Empfänglichkeit für das moralische Gefühl, verweise, so Mohr, darauf, dass die menschliche Würde bei Kant nicht allein auf der Vernunftfähigkeit beruht, sondern auf einer »Relation zwischen den beiden Grundvermögen der Sinnlichkeit und der Vernunft« (ebd.: 20). Allerdings erklärt Kant, dass das moralische Gefühl nicht »pathologisch« ist, das heißt, durch die Sinnlichkeit ausgelöst wird. Ganz im Gegenteil, die Einsicht in das moralische Gesetz führt zum Abbruch der sinnlichen Neigungen. Dass dennoch ein Gefühl die Achtung vor dem moralischen Gesetz mit konstituiert, ergibt sich aus der Tatsache, dass nur ein Gefühl ein anderes ersetzen kann (vgl. Heidegger 1975: 189 f.). Das Gefühl der Achtung ist nicht nur eine Begleiterscheinung, die sich nachträglich zur Vernunfterkenntnis einstellt, sondern an der Erschließung des moralischen Gesetzes selbst beteiligt (vgl. ebd.: 191). »Ohne alles moralische Gefühl ist kein Mensch; denn bei völliger Unempfänglichkeit für diese Empfindung wäre er sittlich tot, und, wenn (um in der Sprache der Ärzte zu reden) die sittliche Lebenskraft keinen Reiz mehr auf dieses Gefühl bewirken könnte, so würde sich die Menschheit (gleichsam nach chemischen Gesetzen) in die bloße Tierheit auflösen und mit der Masse anderer Naturwesen unwiederbringlich vermischt werden.« (Kant 1990: 34)
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Ich betone den Zusammenhang von Vernunft und Gefühl als Grund der Würde, um hervorzuheben, dass Kant die essentia des Menschen, also das Zweck-ansich-selbst-Sein, keineswegs nur einseitig von der Vernunft her interpretiert, wie einige Kritiker annehmen. Richard Rorty ist beispielsweise der Ansicht, dass metaphysische Begründungen für die Durchsetzung der Menschenrechte »ineffizient« seien und dass die Fortschritte in der so genannten »Menschenrechtskultur« nicht auf ein Mehr an Vernunfteinsichten, sondern auf einen »Fortschritt der Gefühle« zurückzuführen seien (vgl. Rorty 1996). Rorty stellt Kant als einen »begründungsorientierten Philosophen« dar, der sich eingebildet habe, mit Hilfe rational hergeleiteter Wahrheiten Gewalttäter zu sittlichem Handeln zu erziehen und außerdem behauptet hätte, dass »das Gefühl nichts mit Moral zu tun habe« (ebd.: 154). Allerdings fordert Kant selbst, dass das moralische Gefühl »kultiviert« werden müsse (vgl. Kant 1990: 33). Insofern ist Rortys Vorschlag einer »Kultivierung der Gefühle« nicht einmal begrifflich von Kants Theorie deutlich abgrenzbar. Auch Franz Josef Wetz lehnt metaphysische Aussagen über das Wesen des Menschen ab. Die Würde sei keine mit dem Menschsein verbundene Wesensauszeichnung, sondern werde in einer »Praxis des Respektierens« ausgestaltet (vgl. Wetz 2005). Sie sei, wie Wetz formuliert, ein ethischer »Gestaltungsauftrag«. Ähnlich argumentiert Avishai Margalit. Dem Menschen komme Würde zu, weil er jederzeit dazu in der Lage sei, sein Leben radikal zu ändern und seine Sünden zu bereuen (vgl. Margalit 1999: 92 ff.). Unabhängig davon, was ein Mensch getan hat, gebühre ihm Achtung, weil nicht die faktischen Änderungen der Lebenseinstellung, sondern die Möglichkeit dazu zu respektieren sei. Nach Heidegger wird die neuzeitlich-metaphysische »Grundstellung« (vgl. Heidegger 1952: 91 f. und 96) jedoch nicht überwunden, indem das Gefühl gegen die Vernunft beziehungsweise die Praxis gegen die philosophische Theorie ausgespielt werden. Rorty unterlässt es schlichtweg zu erklären, inwiefern sein Maßstab der Effizienz ohne rationale Kriterien angelegt werden soll. Unklar bleibt auch, weshalb rationale Begründungsstrategien die Kultivierung der Gefühle nicht begleiten dürfen. Wetz meint offenbar, dass es genüge, den Würdebegriff an die Erfüllung bestimmter ethischer Anforderungen zu heften und die Frage, was den Menschen überhaupt dazu befähigt, den so genannten Gestaltungsauftrag anzunehmen, im Dunkeln zu lassen. Wenn jeder Mensch, die Fähigkeit dazu hat, an der Erfüllung der drei notwendigen Aspekte für ein würdevolles Leben mitzuwirken – das sind eine »gelungene Selbstdarstellung«, die »Achtung der Bürger voreinander« sowie die »materielle Sicherheit« (vgl. Wetz 2005: 214 f.) –, weshalb sollte die Würde als Gestaltungsauftrag dann nicht im Wesen des Menschen als Potential verankert sein? Rorty, Wetz und Margalit ge-
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lingt die Loslösung von der Metaphysik nicht, weil sich ihr Unbehagen ausschließlich gegen eine Überschätzung des Vernunftvermögens richtet – nicht aber gegen die Begründung der Einheit von Vernunft, Wille und Gefühl, so wie sie bei Kant vorliegt. Eine tatsächliche Dekonstruktion der Metaphysik müsste die Frage mit einbeziehen, weshalb der Mensch überhaupt Selbstgestalter sein kann – ob er sich nun mehr als vernünftiges, mitfühlendes oder sich selbst achtendes Wesen entwirft, ist dabei zunächst unerheblich.
III. D IE M ENSCHENWÜRDE
IST KEIN
»W ERT «
Entscheidend ist, dass Rorty, Wetz und Margalit ebenso wie Kant die Personalität des Menschen als etwas Vorhandenes begreifen. In der Marburger Vorlesung Die Grundprobleme der Phänomenologie von 1927 erklärt Heidegger: »Auffallend bleibt das eine: Kant spricht vom Dasein der Person als vom Dasein eines Dinges. Er sagt, die Person existiert als Zweck an sich selbst. Existieren gebraucht er im Sinne von Vorhandensein. Gerade da, wo er die eigentliche Struktur der personalitas moralis berührt, Selbstzweck zu sein, weist er diesem Seienden die Seinsart der Vorhandenheit zu.« (Heidegger 1975: 209; Herv. i. O.)
Mit dieser Äußerung leitet Heidegger von der Darstellung der personalitas moralis bei Kant über zur näheren Kennzeichnung der Seinsweisen (Existenzialien) des Daseins, die bekanntlich ausführlicher in Sein und Zeit erläutert werden. Zuvor war jedoch behauptet worden, dass Kant mit dem Nachweis des Gefühls der Achtung einem phänomenologischen Sachverhalt äußerst nahe gekommen ist. »Kants Interpretation des Phänomens der Achtung ist wohl die glänzendste phänomenologische Analyse des Phänomens der Moralität, die wir von Kant besitzen.« (Ebd.: 189) Wie ist es zu verstehen, dass Kant einerseits eine phänomenologische Analyse erbringt, andererseits aber die Person als etwas Vorhandenes betrachtet? Zunächst war in der Vorlesung dargestellt worden, dass anhand der personalitas transcendentalis und der personalitas psychologica die wesentliche Charakteristik des Ich, der Subjektivität nicht zu gewinnen ist. Heidegger setzt sich mit der personalitas moralis folglich unter dem Gesichtspunkt auseinander, inwiefern diese »eine bestimmte Modifikation des Selbstbewußtseins ausdrück[t], also eine eigene Art von Selbstbewußtsein darstell[t]« (ebd.: 186; Herv. i. O.). Zu sich selbst kommt das moralische Bewusstsein im Gefühl der Achtung, das zwiefach ausgerichtet ist. Es erschließt als »Gefühl-für« das moralische Gesetz und zugleich wird sich die Person im »Sichfühlen« selbst offenbar. »Das
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phänomenologisch Entscheidende im Phänomen des Gefühls ist, daß es das Gefühlte direkt entdeckt und zugänglich macht, und zwar nicht in der Weise der Anschauung, sondern im Sinne eines direkten Sich-selbst-Habens.« (Ebd.: 187) Da sich die Person durch die Achtung unmittelbar in ihrem Selbstsein gewahr wird, kann es sich bei diesem Gefühl nicht um ein beliebiges unter anderen handeln, die das Subjekt im Wechsel seiner Stimmungslagen affizieren. Obwohl in der Kantischen Deutung der moralischen Person also die Existenz des Menschen thematisch berührt wird, verbleibt er doch im Bereich der überlieferten Ontologie, weil die Person grundsätzlich als vorhandene Sache – ausgehend von der Unterscheidung zwischen res cogitans und res extensa –verstanden wird.10 Dagegen hebt Heidegger hervor, dass die Seinsart des Daseins nie als Vorhandenheit zu begreifen ist. »Das Dasein ist nicht unter den Dingen auch vorhanden, nur mit dem Unterschied, daß es sie erfaßt, sondern es existiert in der Weise des In-der-Welt-seins, welche Grundbestimmung seiner Existenz die Voraussetzung ist, um überhaupt etwas erfassen zu können.« (Ebd.: 234; Herv. i. O.) Was meint Heidegger mit »Vorhandenheit«? Der Mensch wird bei Kant als Selbstzweck gedacht, daher kann Vorhandenheit nicht dasselbe bedeuten wie Instrumentalisierung. Gemeint ist vielmehr, dass das Wesen des Menschen als etwas Offenbares und für das vorstellende Denken Zugängliches verstanden wird. Alles, was als Gegenstand des Denkens beziehungsweise des Bewusstseins in Betracht gezogen werden kann, wird laut Heidegger in die Vorhandenheit gerückt.11 Dies setzt aber voraus, dass das Sein sich zuvor einseitig als Anwesenheit gelichtet hat. Vorhandensein kann nur das, was da ist. Selbst das, was untergegangen, vernichtet oder tot ist, ist in diesen jeweiligen Weisen noch. Metaphysisch gesehen schließt das Sein das Nichts aus, daher sind Sein und Anwesenheit identisch. Ursprünglich sind sie aber nicht dasselbe. Auf die Frage, mit welchem Recht Sein als Anwesenheit ausgelegt werden darf, antwortet Heidegger in Zeit und Sein: »Die Frage kommt zu spät. Denn diese Prägung des Seins hat sich längst ohne unser Zutun oder gar Verdienst entschieden. Demnach sind wir in die Kennzeichnung des Seins als Anwesen gebunden.« (Heidegger 2000b:
10 Laut Heidegger ist die res cogitans bei Kant insofern etwas Vorhandenes, als sie ebenso wie die ausgedehnten Dinge zu den endlichen Substanzen gehört, denen entsprechend der antiken und mittelalterlichen Ontologie die eigentliche Substanz (Gott) gegenübergestellt wird (vgl. Heidegger 1975: 210-218). 11 Das heißt allerdings nicht, dass sich das Denken im Vorstellen von Vorhandenem erschöpft. Vom vorstellend-rechnenden Denken unterscheidet Heidegger das »besinnliche Nachdenken« (vgl. Heidegger 1979: 13).
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6) Die Interpretation des Seins (ȠރıȓĮ) als das ständig Anwesende und somit immer Vorhandene wurde im griechischen Denken vollzogen (vgl. Heidegger 1982a: 51 ff.). Die Begriffe »Sein«, »Anwesenheit« und »Vorhandensein« bezeichnen dasselbe. Es liegt nicht am Menschen, sondern am »Seyn«,12 dass alles, was ist, als vorhanden und vorstellbar gedacht wird. Die eingangs erwähnte Kritik gegenüber dem Humanismus – nämlich, dass dieser das Wesen des Menschen zu gering schätzen würde – betrifft nicht nur den aufklärerischen Humanismus der Neuzeit, sondern die gesamte metaphysische Tradition von Platon bis Nietzsche. Das Wesen des Menschen wird verkannt, weil es seit der griechischen Antike als etwas Vorhandenes neben anderem Vorhandenen aufgefasst wird. Zum Beispiel wird die Vernunftnatur des Menschen von der Triebhaftigkeit des Tieres abgegrenzt oder die Unvollkommenheit des menschlichen am vollendeten göttlichen Wesen gemessen. Wenn die Wesensbestimmungen des Menschen nur aufgrund einer vorgängigen Auslegung des Seins möglich wurden, diese Auslegung aber wiederum in einem Sichzeigen und -verbergen des Seyns fundiert ist, dann folgt daraus, dass der Mensch für die vorstellend-vergegenständlichende Zugangsweise zum Seienden – also auch zu sich selbst – in letzter Instanz nicht selbst verantwortlich ist. Denn jedes Antworten, jede Bezugnahme auf etwas setzt bereits voraus, dass sich der dafür notwendige Weltbereich im Dasein gelichtet hat. Deshalb ist das Seyn schlechthin »vorgängig« im Hinblick auf jede Bestimmung des menschlichen Wesens. Der Mensch kann dem Seyn nur entsprechen, auf dieses hören oder es vernehmen, aber er setzt nicht, dass es Seyn gibt. Aufgrund der »Seinshörigkeit« des Menschen entsteht leicht der Eindruck, als werde der Mensch gegenüber dem Seyn herabgesetzt oder in seiner Würde geringer geschätzt. Tatsächlich kann die Weltbezüglichkeit thematisch erst in den Vordergrund rücken, wenn von einer Wertschätzung des Menschen abgesehen wird. Der Mensch ist dann nicht mehr ein »Wert«, weil er nicht mehr Gegenstand der Vorstellung ist. Erst jenseits der Wertungen kann der Mensch die ihm eigene Würde erfahren. »Das Denken gegen die ›Werte‹ behauptet nicht, daß alles, was man als ›Werte‹ erklärt – die ›Kultur‹, die ›Kunst‹, die ›Wissenschaft‹, die ›Menschenwürde‹, ›Welt‹ und ›Gott‹ – wertlos sei. Vielmehr gilt es endlich einzusehen, daß eben durch die Kennzeichnung von etwas als ›Wert‹ das so Gewertete seiner Würde beraubt wird. Das besagt: durch die Ein-
12 Zur Abgrenzung vom metaphysischen Seinsbegriff schreibt Heidegger das von der Unverborgenheit (ܻȜȒșİȚĮ) her gedachte Sein mit »y«.
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schätzung von etwas als Wert wird das Gewertete nur als Gegenstand für die Schätzung des Menschen zugelassen.« (Heidegger 1949a: 34)
Den Wesensbestimmungen hält Heidegger den Hölderlinschen Vers »Ein Zeichen sind wir, deutungslos …« (Heidegger 1978b: 131 ff.) entgegen. Die Absicht ist allerdings nicht, anstelle der Auslegungen des menschlichen Wesens deren Überflüssigkeit zu behaupten, so als sei damit die Metaphysik überwunden. Die Unbestimmtheit beziehungsweise Freiheit nicht nur des Menschen, sondern auch seines Wesens, gehört zum festen Ideenbestand der Tradition. Nicht zuletzt spiegelt sich diese Ansicht in den Debatten über die juristische Bedeutung des Würdegrundsatzes wider, wenn zum Beispiel Theodor Heuss erklärt, die Menschenwürde müsse »als nicht interpretierte These« ohne weitere juristische Definition hingenommen werden. Ginge es nur darum, die Wesensbestimmungen fallen zu lassen, wäre das Zeichen gerade nicht deutungs-los. »Deutungslos« in dem Sinne, dass das menschliche Wesen einer Deutung entbehrt, kann es nur sein, weil die Entfaltung in die Fülle seines Wesens (vgl. Heidegger 1949a: 5) noch aussteht. Wäre es bisher je das Anliegen des Humanismus gewesen, diese Entfaltung zu vollbringen, ließe sich der Heideggersche Denkansatz durchaus als »Humanismus«13 bezeichnen. »So bleibt doch die Humanitas das Anliegen eines solchen Denkens; denn das ist Humanismus: Sinnen und Sorgen, daß der Mensch menschlich sei und nicht un-menschlich, ›inhuman‹, das heißt, außerhalb seines Wesens. Doch worin besteht die Menschlichkeit des Menschen? Sie ruht in seinem Wesen.« (Ebd.: 10) Das Wesen des Menschen, also seine Menschlichkeit, kennzeichnet Heidegger als »Ek-sistenz«. Nur der Mensch eksistiert, indem er es vermag, Seyn zu vernehmen. Würde kommt dem Menschen zu, weil er seinsverständig ist. Daher entspricht der Mensch der eigenen Würde dann im höchsten Maße, wenn er sich auf das Seyn besinnt, also dessen Frag-
13 Heidegger selbst sieht davon ab, sein Denken dem Humanismus zuzuordnen, weil seiner Ansicht nach alle »-ismen« dem geschichtlichen Denken im Wege stehen. »Soll man diesen ›Humanismus‹, der gegen allen bisherigen Humanismus spricht, aber gleichwohl sich ganz und gar nicht zum Fürsprecher des Inhumanen macht, noch ›Humanismus‹ nennen? Und das nur, um vielleicht durch die Teilnahme am Gebrauch des Titels in den herrschenden Strömungen, die im metaphysischen Subjektivismus ersticken und in der Seinsvergessenheit versunken sind, mitzuschwimmen? Oder soll das Denken versuchen, durch einen offenen Widerstand gegen den ›Humanismus‹ einen Anstoß zu wagen, der veranlassen könnte, erst einmal über die Humanitas des homo humanus und ihre Begründung stutzig zu werden?« (Heidegger 1949a: 32).
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würdigkeit zur Sprache bringt. »Der Würde würdig ist allein das Denken des Seyns; daß es sich ereignet und nichts sonst.« (Heidegger 2005: 39) Die Würde gehört zum Seyn, die Menschenwürde besteht darin, dieses fragend zu würdigen. Laut Heidegger wird weder die Würde des Seyns noch die davon untrennbare Menschenwürde verliehen, zugesprochen oder erst durch die Anerkennung konstituiert. »Würde eignet dem Seyn nicht kraft einer ihm erst zugetragenen Würdigung. Würde erlaubt ja erst ein Würdigen und verstattet ihm den Spielraum seiner Versuche, die doch stets unter der Würde zurückbleiben müssen.« (Ebd.: 38) Mit den »Versuchen« einer Würdigung des Seyns ist das bisherige Denken und Dichten, das das Seyn zur Sprache zu bringen versucht, gemeint. Die Menschenwürde wird nicht von der Würde des Seyns »abgeleitet«, sondern ist mit dieser gleichursprünglich. Ich wiederhole kurz die beiden Argumentationsschritte. Im ersten Schritt wurde behauptet, dass alle Zuschreibungen bezüglich des menschlichen Wesens im Hinblick auf seine Natur, Vermögen oder Befähigungen dieses Wesen nur unzureichend bedenken. Der Mensch stellt sich denkend vor und verstellt sich dadurch den freien Blick auf sein offenes Wesen. Zwischen allem Vorgestellten und der menschlichen Existenzweise klafft immer ein Abgrund. Im zweiten Schritt wurde konstatiert, dass dem Menschen Würde aufgrund des Seinsverständnisses zukommt. Nun scheint damit jedoch die Würde mit dem allgemeinsten und unspezifischsten Verhältnis, in welchem sich der Mensch wiederfinden kann, verbunden worden zu sein. Aber hat der Mensch schon nach dem Fragwürdigen, dem Seyn, gefragt und dieses zur Sprache gebracht? Die Erfahrung der »eigentlichen Würde« wäre dann schon längst erfolgt und würde nicht noch ausstehen. Einerseits hält sich der Mensch zwar je schon in einem Seinsverständnis auf, andererseits versteht er sich in seiner Angewiesenheit auf das Seyn gegenwärtig nicht. Das Seinsverständnis ist für den Menschen nichts Beiläufiges. »Wäre im Menschen nicht das Verstehen von Sein, er könnte sich nicht zu sich selbst als Seiendem verhalten, er könnte nicht ›ich‹ und nicht ›du‹ sagen, er könnte nicht er selbst, nicht Person sein. Er wäre in seinem Wesen unmöglich. Das Seinsverständnis ist demnach der Grund der Möglichkeit des Wesens des Menschen.« (Heidegger 1982a: 125; Herv. i. O.)
Die Seinsfrage ist die existenzielle Frage schlechthin. Die Erläuterung des Seinsverständnisses bedingt daher zugleich, dass nur eine Verwandlung des
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Seinsverhältnisses14 den Menschen in seine eigentliche Würde entlassen kann. Da der Mensch sich dazu aber nicht selbst vorstellen darf, kann die Erfahrung der Menschenwürde konsequenterweise nur vom Seyn ausgehen. Wenn der Mensch aber den Zuspruch des Seins bloß erwarten soll, um die ihm eigentümliche Würde zu erfahren, welche Bedeutung kommt dann dem eben erwähnten »Sinnen und Sorgen, daß der Mensch menschlich sei« zu? Hier wird doch offenbar an eine gewisse Aktivität appelliert. Ist es darüber hinaus nicht ohnehin völlig absurd und weltfremd, die Würde des Menschen von einer Erfahrung des Denkens abhängig zu machen – angesichts alltäglicher Menschenrechtsverletzungen und aktueller Bedrohungen der Menschenwürde? Wird die Würdeanerkennung dadurch nicht auf die wenigen Denkenden eingeschränkt? Der Eindruck, dass Heidegger die eigentlichen Herausforderungen, vor denen der Mensch steht, übersieht, lässt sich vielleicht mit dem Hinweis zerstreuen, dass das Seyn nicht einfach nur ein allgemeiner Begriff für das Seiende im Ganzen ist, sondern in geschichtlichen Wandlungen die Weltbezüglichkeit, also das Nächste für den Menschen, als solche austrägt.
IV. T ECHNIK
UND
M ENSCHENWÜRDE
Für die Gegenwart bemerkt Heidegger, dass das Seyn im Wesen der Technik als »Gestell« verborgen ist (vgl. Heidegger 1978a). Das Technische verbirgt sich, insofern die Technik als neutrales Mittel zum Zweck vorgestellt wird. Es scheint so, als ob der Mensch die Technik beherrscht und das Technische nichts weiter ist als das allen technischen Gegenständen Gemeine. Ein Atomkraftwerk wäre insofern nur ein komplexeres Werkzeug als das Wasserrad einer Mühle. Als »Gestell« unterliegt das Technische jedoch nicht der menschlichen Verfügbarkeit, sondern ist die Art und Weise, wie das Seiende in die Anwesenheit gelangt. Demnach ist alles, was ist, in seinem Sein mehr oder weniger durch die Technik bedroht, insofern es in seinem Wesen nicht zugelassen wird. Während die traditionelle Technik ein Hervorbringen (ʌȠȓȘıȚȢ) ist, wird die Entbergungsweise der modernen Technik als »Herausfordern« gekennzeichnet (vgl. ebd.: 18
14 »Alles Verhalten aber hat seine Auszeichnung darin, daß es, im Offenen stehend, je an ein Offenbares als ein solches sich hält. Das so und im strengen Sinne allein Offenbare wird frühzeitig im abendländischen Denken als ›das Anwesende‹ erfahren und seit langem ›das Seiende‹ genannt.« (Heidegger 1949b: 11; Herv. i. O.).
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ff.). Das in der Herausforderung begegnende Seiende wird bereitgestellt, um an anderer Stelle bereit zu stehen – nicht um für sich zu sein. Von der technischen Vergegenständlichung sind wir nicht als Subjekte und zuletzt in der Burg des cogito abgegrenzt, weil das Gestell als Seyn selbst gar nicht gegenständlich oder vorstellbar für ein Ich-denke ist.15 Technisch affiziert ist also das Ganze der Weltbezüglichkeit – das Selbstverhältnis, das Miteinandersein, die Dingwelt, das Verhältnis zum eigenen Leib, der als Körper vorgestellt wird, sowie das Vermögen zu sterben. Weil das Wesen der Technik unerkannt bleibt, droht der Mensch entwürdigt zu werden. »Die Übermacht des rechnenden Denkens schlägt täglich entschiedener auf den Menschen selbst zurück und entwürdigt ihn zum bestellbaren Bestandstück eines maßlosen ›operationalen‹ Modelldenkens.« (Heidegger 1983: 151) Diese Herausforderung kann hier nicht ausführlich erläutert werden, aber zu beachten ist, dass Heidegger nicht nur in den neueren Errungenschaften der Biotechnologie – beispielsweise der Klontechnik oder der Präimplantationsdiagnostik – eine Gefährdung der Menschenwürde sähe.16 Die Herausforderung durch die Technik muss alles Seiende
15 Zur Bedeutung des Descartesschen cogito ergo sum für das moderne Subjektverständnis vgl. Heidegger (1961: 141-168). 16 In Die Frage nach der Technik verdeutlicht Heidegger das Wesen des Gestells anhand einiger Beispiele, durch die auch der Unterschied zur vormodernen Technik ersichtlich wird: »Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann. Gilt dies aber nicht auch von der alten Windmühle? Nein. Ihre Flügel drehen sich zwar im Winde, seinem Wehen bleiben sie unmittelbar anheimgegeben. Die Windmühle erschließt aber nicht Energien der Luftströmung, um sie zu speichern.« (Heidegger 1978a: 18) Die weiteren Beispiele (die Herausforderung eines Landstrichs auf die Förderung von Kohle, des Erdreichs auf Erze, des Rheinstroms auf Wasserkraft usw.) verweisen auf ein wesentliches Kennzeichen des Gestells. Im Stellen des Gestells wird etwas – im weitesten Sinne – zur Ressource. Der Rhein ist nicht nur Ressource für die Energiegewinnung, sondern ebenso für die Tourismusindustrie. »Aber der Rhein bleibt doch, wird man entgegnen, Strom der Landschaft. Mag sein, aber wie? Nicht anders denn als bestellbares Objekt der Besichtigung durch eine Reisegesellschaft, die eine Urlaubsindustrie dorthin bestellt hat.« (Ebd.: 19 f.) Auf die vielfältigen Weisen, in denen der Mensch als human resource herausgefordert ist, kann hier nicht eingegangen werden. Offensichtlich ist aber, dass die Entwürdigung des Menschen im Gestell nicht ausschließlich gewaltsame oder grundrechtswidrige Handlungen voraussetzt oder sich an besonders gefährlichen
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betreffen, wenn die Prämisse, dass sich das Seyn gegenwärtig als Gestell zeigt, stimmt.17 Laut Heidegger gefährden nicht nur die bedrohlichen Neuerungen der Technik die Menschenwürde, sondern zum Beispiel ebenso die »technische«, d. h. vorgestellte Verständnisweise der Würde. In Über den Humanismus war deutlich gesagt worden, dass die Bestimmung der Würde als Wert, eine Beraubung der Menschenwürde ist. Der »absolute Wert« ist nicht allen Wertungen enthoben, weil er dennoch als »Zweck« angesetzt wird. In Die Frage nach der Technik heißt es: »Wo Zwecke verfolgt, Mittel verwendet werden, wo das Instrumentale herrscht, da waltet Ursächlichkeit, Kausalität.« (Heidegger 1978a: 11) Aus einer Notiz Heideggers zum aktuellen Würdeverständnis unter dem Titel »Menschenwürde – herstellen!« wird deutlicher, weshalb auch die Selbstzweck-Formel den Menschen nicht in die ihm eigentümliche Würde versetzt. »Sicherung eines menschenwürdigen Lebens auf der Erde. Aus welchem Wesensraum kommt dem Menschen sein Wesen zu und welches? Ist er, wo er jetzt ist, dieses Wesens und seiner Würde würdig? Genügt es, für die Erhaltung der Menschenwürde einzutreten, ohne auf die Wesensherkunft dieser Würde und den aus ihr waltenden Bezug zum Menschenwesen sich einzulassen? Genügt es, einen Lebensstandard herzustellen und zu sichern? Sichern woher und wodurch? Sicherheit wozu? Genügt es, dem entgegen und zur eigentlichen Ergänzung die überirdische Bestimmung zu predigen? Beides ist unumgänglich und doch bewegt sich beides nur noch im Gemächtebezirk des Menschen dieses Weltalters, der bereits etwas anderes ist als das, was er sich aus den geläufigen Vorstellungen vorstellt.« (Heidegger 1999: 260; Herv. i. O.)
In der Überschrift kündigt Heidegger durch den Gedankenstrich an, was den Menschen von der Würde trennt. Es ist der Versuch, diese herstellen und sichern zu wollen. Die entsprechende Praxis und deren metaphysische Begründung hält Heidegger für »unumgänglich«. Die Eindämmung von Menschenrechtsverletzungen duldet keinen Aufschub und die »überirdische Bestimmung« als Teil der
Technologien orientiert. »Die Bedrohung des Menschen kommt nicht erst von den möglicherweise tödlich wirkenden Maschinen und Apparaturen der Technik. Die eigentliche Bedrohung hat den Menschen bereits in seinem Wesen angegangen.« (Ebd.: 32). 17 Am Rande möchte ich hier anmerken, dass die seinsgeschichtliche Verortung der Technik der Grund dafür ist, weshalb Heidegger sich jedem Technikpessimismus gegenüber verwehrt.
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Metaphysik wird, wie die gesamte Metaphysik, nur durch ein gewandeltes Seinsverständnis überwunden, wozu der Mensch beitragen kann.18 Weshalb ist der Mensch aber bereits ein anderer als er sich vorstellt? Die Kritik Heideggers ist doch, dass der Mensch sich in wertenden Vorstellungen seiner selbst versteht. In Die Frage nach der Technik wird gesagt, dass der Mensch durch die Technik herausgefordert wird. Im Gestell erhält sich nicht mal mehr der Rest an Weltbezüglichkeit, der in der Vergegenständlichung und Instrumentalisierung vorhanden ist. »Er [der Bestand] kennzeichnet nichts Geringeres als die Weise, wie alles anwest, was vom herausfordernden Entbergen betroffen wird. Was im Sinne des Bestandes steht, steht uns nicht mehr als Gegenstand gegenüber.« (Heidegger 1978a: 20) Das missverständliche Wort »Bestand« besagt hier nicht, dass das Seiende im Gestell beständiger, also haltbarer oder dauernder wird, sondern »bestellt [ist], auf der Stelle zur Stelle zu stehen, und zwar zu stehen, um selbst bestellbar zu sein für ein weiteres Bestellen.« (Ebd.) Ein Signum dafür, dass neben der dinglichen Welt auch der Mensch in den Bestand eingerückt wird, ist für Heidegger die »umlaufende Rede vom Menschenmaterial, vom Krankenmaterial einer Klinik« (vgl. ebd.: 21). Entscheidend ist im Zusammenhang mit der Würdethematik aber, dass der Mensch niemals zu Material oder zur Ressource werden kann. »[G]erade weil der Mensch ursprünglicher als die Naturenergien herausgefordert ist, nämlich in das Bestellen, wird er niemals zu einem bloßen Bestand.« (Ebd.: 22) Der Grund dafür ist, dass das Seinsverhältnis, also der offenbare Bereich, durch den jede Weltbezüglichkeit überhaupt erst möglich ist, unverfügbar bleibt. »Der Mensch kann zwar dieses oder jenes so oder so vorstellen, gestalten und betreiben. Allein, über die Unverborgenheit, worin sich jeweils das Wirkliche zeigt oder entzieht, verfügt der Mensch nicht.« (Ebd.: 21) Wenn aber das Seinsverhältnis im Gestell unverfügbar bleibt und somit die Würde des Menschen letztlich unantastbar ist, wie soll diesem dann zugleich eine Entwürdigung drohen? Wie bereits erwähnt, konstituiert die Anerkennung oder eine Rechtsgarantie nicht die Menschenwürde. Anerkannt oder rechtlich geschützt werden kann nur das, was von sich aus bereits Würde hat. Demütigung, Verachtung und Gewalt als Würdeverletzungen sowie die subtileren Bedrohungen im Gestell
18 Der Mensch kann die Technik nicht beherrschen, weil das Wesen der Technik das Seyn ist. Allerdings kann sich der Mensch auf das Wesen des Seyns besinnen und so zu einem Wandel des Geschicks beitragen. Ebenso wie die Technisierung der Welt ohne die Mithilfe des Menschen nicht möglich gewesen wäre, kann auch die Überwindung des Gestells nicht ohne dessen Mithilfe geschehen (vgl. Heidegger 1994: 69 f.).
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sind nur unter der Bedingung der eigentlichen Würde möglich. Wenn Heidegger von einer Beraubung der Menschenwürde oder Entwürdigung spricht, heißt das nicht, dass die Würde »vernichtet« ist, sondern dass sich jemand in einer Lage befindet, in der ein »freier Bezug […] zu dem, was ihm begegnet, daß er sich diese Bezüge aneignet und daß er sich dafür in Anspruch nehmen läßt« (Heidegger 1987: 199), nicht gegeben ist. Die Verletzung verhindert, dass das Dasein sich seinem Wesen gemäß entfaltet, das heißt, die »Person« sein kann, die es schon ist. Nun liegt es nahe, zum Schutze des eigentlichen Daseins das Kantische Instrumentalisierungsverbot auf die in Sein und Zeit dargestellte Existenz des Daseins zu übertragen. Aber dadurch würde die Heideggersche Kritik an Kant falsch verstanden werden, denn eine Übertragung der Zweck-Mittel-Kategorie auf das Dasein oder dessen Existenzialien ist überhaupt nicht möglich. Die »Eksistenz« liegt außerhalb des Kantischen wie des metaphysischen Denkhorizonts. Die Weltbezüglichkeit ist als solche nicht instrumentalisierbar. Da sie ein Strukturmoment des Daseins ist, folgt daraus, dass sie weder Zweck noch Mittel sein kann. Selbst dann, wenn der »bloß« als Mittel missbrauchte Mensch in diesen Missbrauch einwilligt, kann das Menschsein nie in der Gegenständlichkeit aufgehen. Instrumentalisierung ist »nur« innerhalb der Weltbezüglichkeit möglich. In Sein und Zeit sowie an vielen anderen Stellen in seinem Werk weist Heidegger immer wieder darauf hin, dass »Seiendes von der Art des Daseins« nie als etwas Vorhandenes betrachtet werden kann – vorausgesetzt, dass tatsächlich die Existenz des Daseins thematisiert wird (vgl. bspw. Heidegger 2006: 42). Die Unmöglichkeit einer Instrumentalisierung des Daseins ließe sich im Anschluss an eine phänomenologische Aufhellung der Weltbezüge des Daseins näher illustrieren. Dies soll im Folgenden kurz am Beispiel des Existenzials der Leiblichkeit erläutert werden (vgl. auch Platte 2004: 77-122), denn es scheint so, als ob der Leib antastbar und instrumentalisierbar wäre. Wie Heidegger anmerkt, ist das Leibphänomen besonders schwer aufzuweisen (vgl. Heidegger 1987: 292), was umgekehrt bedeutet, dass es leicht missdeutet wird. Ich wähle dieses Beispiel aber auch, weil das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein Menschenrecht der ersten Stunde ist, das ontologisch durch Locke mit der Theorie des Körperbesitzes begründet wurde. Der Leib dürfte nach dem bisher Gesagten nicht vorgestellt werden, da wir leiblich sind und das Leiblichsein nie irgendwie vor uns haben können. Was auch immer über den Leib als Phänomen gesagt werden kann, das Phänomen wird nur dann zureichend bedacht, wenn berücksichtigt wird, dass das Leiblichsein je schon zur Seinsart des fragenden Daseins gehört. Es ist zwar möglich, den Leib als Körper vorzustellen, aber das Leiblichsein, zum Beispiel das tat-
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sächliche Hände-Haben, kann von der anatomisch-physiologischen Betrachtung aus nicht verstanden werden. Bei allem, was Medizin und Anatomie über die Hand sagen können, werden sie von ihren Erkenntnissen aus nie auf den ontisch gesehen einfachen und phänomenologisch gesehen schwierigen Sachverhalt des leiblichen Hände-Habens schließen können. Wissenschaftlich untersuchen lässt sich nur ein Gegenstand, aber weder die eigene Hand noch die des Anderen ist je als Gegenstand vorhanden. Zum Phänomen der Leiblichkeit gehört beispielsweise, dass der Leib an der Erschließung der Welt unscheinbar beteiligt ist. Wenn jemand im Gespräch »bei der Sache« ist, ist er gerade nicht auf das Hören oder Sprechen als Leibphänomen fokussiert. Dieses Phänomen wird nicht durch die zugeordneten Körperteile umgrenzt – so als sei Hören ein Vorkommnis am Ohr, sondern durch den Weltbezug. Zum Hören erklärt Heidegger: »Hören und Sprechen und damit Sprache überhaupt ist immer auch ein Leibphänomen. Das Hören ist ein Leibend-beim-Thema-sein. Das Hören auf etwas ist in sich der Bezug des Leibens zum Gehörten. Das Leiben gehört immer mit zum In-der-Welt-sein. Es bestimmt das In-der-Welt-sein, das Offensein, das Haben von Welt immer mit.« (Heidegger 1987: 126; Herv. i. O.)
Das Dasein ist zwar leiblich da, aber zumeist so, dass der Leib unthematisiert ist. Im Gespräch sprechen die Hände gestikulierend mit, aber sie sind nicht in einer spezifischen Weise als Hände präsent. Wenn dagegen versucht wird, die Bewegungen der Hände zu kontrollieren, ist der Bezug zur besprochenen Sache und zum Anderen gestört, aber ist deshalb das leibliche Hände-Haben schon thematisch in den Vordergrund gerückt? Offenbar nicht. Selbst dann, wenn auf die beteiligten Leibregionen eigens geachtet wird, entzieht sich das Leibphänomen der Zugänglichkeit. Die Weltbezüge, die der Beteiligung des Leibes bedürfen – auch das Achten auf etwas – können sogar nur dann vollzogen werden, wenn das Leibphänomen verborgen bleibt. »Verborgen« heißt, dass phänomenologisch nicht aufgehellt werden kann, wie beispielsweise das Gehirn an der Achtsamkeit beteiligt ist, obwohl feststeht, dass ohne Gehirn das Achten auf etwas unmöglich ist.19 Daraus folgt: »Der Leib ist die notwendige, aber nicht zureichende Bedin-
19 »Wir haben gar keine Möglichkeit zu erkennen, wie das Gehirn beim Denken leibt. Das, was wir beim EEG sehen, hat mit dem Leiben des Gehirns nichts zu tun, sondern damit, daß der Leib auch als Körper und dieser chemisch-physikalisch gedacht werden kann. Ich kann nur sagen, daß am Leiben auch das Gehirn beteiligt ist, aber nicht,
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gung für den Bezug.« (Heidegger 1987: 232) Daher konnte Heidegger die grundlegenden Existenzialien in Sein und Zeit weitgehend unter Ausschluss eines direkten Aufweises des Leibphänomens darstellen. Dass der Weltbezug über das Leibphänomen nicht zureichend erklärt werden kann, bedeutet aber nicht, dass die Leiblichkeit unwesentlich wäre für ein Verständnis des menschlichen Wesens.20 Auch einer umrissartigen Einsicht in das Leibphänomen lässt sich entnehmen, dass die Welterschließung, an der die Leibbereiche (Augen, Ohren, Hände usw.) beteiligt sind, jeweils »ausgezeichnet« ist. Das heißt, in das leibliche, je meine Hände-Haben kann weder ich noch jemand anderes hineinhandeln. Selbst dann, wenn einem Menschen die Hände von Geburt an fehlen, bleibt er handelnden Wesens, denn das »Fehlen« von etwas kann nur im Bereich der wesensmäßigen Zugehörigkeit konstatiert werden. Ebenso kann in mein Sehen nicht hineingesehen werden. Weder ich kann mein Sehen sehen noch könnte jemand anderes es sehen, es wäre dann nicht mehr »je meines«. Wenn das Leiblichsein zum Weltbezug gehört, heißt das, dass der Leib nicht wie der Körper als »ausgedehnte Sache« begrenzt ist, sondern durch den Horizont der sinnlichen Bezugsmöglichkeiten. »Das Leiben gehört als solches zum In-der-Welt-sein. Aber das In-der-Welt-sein erschöpft sich nicht im Leiben. Zum Beispiel gehört zum In-der-Welt-sein auch das Seinsverständnis, das Verstehen dessen, daß ich in der Lichtung des Seins stehe, und das jeweilige Verständnis des Seins, dessen, wie Sein im Verständnis bestimmt ist. Diese Begrenzung ist der Horizont des Seins-Verständnisses. Hierbei geschieht kein Leiben. […] Leiben ist überall, wo die Sinnlichkeit beteiligt ist, aber da ist immer auch schon das primäre Seinsverständnis.« (Heidegger 1987: 244 f.; Herv. i. O.)
Im Gegensatz zum Körper ist der Leib nicht als Gegenstand vorstellbar. »Das Leibliche des Menschen kann nie, grundsätzlich nie als etwas bloß Vorhandenes betrachtet werden, wenn man es sachgemäß betrachten will; wenn ich das Leibliche des Menschen als etwas Vorhandenes ansetze, habe ich es zum vorhinein schon als Leib zerstört.« (Ebd.: 215)
wie. Die Naturwissenschaft kann grundsätzlich nicht das Wie des Leibens erfassen.« (Heidegger 1987: 232; Herv. i. O.) 20 In der Parmenides-Vorlesung heißt es: »Der Mensch ›hat‹ nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen des Menschen inne, weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des Menschen ist.« (Heidegger 1982b: 119)
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Das Existieren ist nicht etwas, das für den Menschen irgendwie zur Disposition steht, worüber er verfügen könnte oder das erst durch sein Selbst oder die Subjektivität gesetzt wäre. Jede Setzung, Selbstbestimmung usw. bedarf schon einer vorgängigen Bezüglichkeit zu der Sache, die definiert werden soll. Die ekstatische Verfassung an sich ist unantastbar und selbstredend auch unveräußerbar. Die eigene Weltbezüglichkeit kann nicht an den Nächstbesten weitergereicht werden. Auf der Grundlage einer Leibphänomenologie ließe sich zum Beispiel zeigen, dass das Recht auf »Unversehrtheit des Körpers« nicht deshalb unveräußerbar ist, weil eine entsprechende Norm dies vorschreibt, sondern weil die Leiblichkeit zur Existenz gehört und diese selbst nicht antastbar ist. Weltbezüglichkeit ist der Grund dafür, dass der Mensch eine unantastbare Würde »hat«. Er besitzt die Würde aber nicht, sondern ist sie. Die Würde ist identisch mit der Existenz. Insofern die ekstatische Verfasstheit das Menschsein ausmacht, kann jede Entwürdigung nur auf dem Grunde der ursprünglichen Würdigkeit geschehen. Wie im Humanismusbrief angemerkt wurde, zielt die Sorge des Humanismus darauf ab, dass der Mensch menschlich werde. Ent-würdigt ist der Mensch, wenn er von der ihm innewohnenden Würde getrennt ist, das heißt, sein Wesen nicht zur Entfaltung kommt. Im Humanismusbrief wird in erster Linie über die Ereignisgeschichte gesprochen, sodass nicht unmittelbar klar wird, inwiefern der Mensch als Einzelner entwürdigt werden kann. Deutlich werden kann dies nur anhand einer daseinsanalytischen Sicht auf den Menschen, die im Hinblick auf die jeweiligen individuellen Erfahrungen die Störungen, gewaltsamen Eingriffe und Verletzungen innerhalb der Weltbezüglichkeit phänomenologisch aufhellt. Mit Hilfe einer solchen Phänomenologie kann zwischen unterschiedlichen Formen der Entwürdigung näher differenziert, der Begriff »Menschenwürde« genauer umgrenzt sowie über ethische und politisch-rechtliche Konsequenzen nachgedacht werden. Anhand des Existenzials der Leiblichkeit habe ich zu zeigen versucht, dass der Beitrag einer phänomenologischen Daseinsanalytik darin besteht, die Unantastbarkeit des Weltbezugs – und damit auch der Würde des Menschen – hervorzuheben. Die Existenz ist nicht etwas Kontingentes, sie ist dem Menschen auch nicht von einer höheren, göttlichen Macht anvertraut worden. Das Existieren ist im Gegensatz zum »Leben« nach christlicher oder Kantischer Vorstellung nichts, worüber sich der Mensch, nochmals hinwegsetzen könnte, wenn er gegen göttliches oder sittliches Gebot verstoßen wollte. Kant spricht sich gegen die Selbsttötung aus, weil sich der Mensch damit zum Gebieter über die Sittlichkeit aufschwinge.
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»Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist ebensoviel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, soviel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponieren, heißt die Menschheit in seiner eigenen Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertraut war.« (Kant 1990: 60)
Über das Leben kann sich der freie Wille gegebenenfalls hinwegsetzen, über die Existenz allerdings nicht. Der Grund dafür, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, ist dessen Existenz.
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II. Perspektiven
Politisches Denken im Ausgang von der »Man-Analyse« in Sein und Zeit? O LE M EINEFELD
Es scheint auf den ersten Blick evident, dass sozialphilosophische Anschlüsse an Heideggers »Man-Analyse« in Sein und Zeit nicht auf die Bestimmungen von »Wir« und »Öffentlichkeit« verzichten können.1 Die Frage nach dem »Man« und mit diesem nach seiner Erscheinungsweise in der »Öffentlichkeit«, oder auch der »öffentlichen Welt« und »Wir-Welt« gehören in Sein und Zeit in den Bereich der »vorontologischen Seinsauslegung« (Heidegger 2006: 127; 71; 65; 15). Die Klärung dieser Begriffe in sozialphilosophischer Absicht jedoch stellt Interpreten vor einige Schwierigkeiten, die im Folgenden exemplarisch dargestellt werden sollen. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit Hannah Arendt als einer Interpretin der »Man-Analyse« in Sein und Zeit (vgl. Heidegger 2006: §§ 25-27), die sich an den genannten Begriffen und Passagen abgearbeitet hat.2 Das gilt für verschiedene Phasen von Arendts Heidegger-Rezeption,3 und im Besonderen auch für die Phase der Entwicklung ihrer politischen Theorie in Vita activa (Arendt 1960; 1
Für einen Überblick zu dieser Debatte vgl. Schmid (2005: 243-308).
2
Der folgende Beitrag wird diese ideengeschichtliche Konstellation zwischen Arendt und Heidegger aufweisen. Bei diesem Unterfangen bin ich weder an einer (möglichen) Kritik an Heidegger und seiner Konzeption interessiert noch an den politischbiographischen Ableitungen, die sich aus einer solchen Analyse gewinnen ließen. Der Fokus liegt ausschließlich auf einer strukturellen Analyse, die Heideggers Daseinsanalyse und seine eigenen Ansätze zu deren Transformation als Ideengeschichte für Arendts Werk auffasst.
3
Die Unterscheidung, die Thomä (2003) vorgeschlagen hat, bietet hier Orientierung.
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engl.: 1958), in die eine intensive (Re-)Lektüre und Interpretation von Heideggers Schriften fällt, wie Arendts Denktagebuch (und andere Veröffentlichungen) belegen. Insgesamt zeigt sich über diese Quellen das Bild eines komplexen Feldes begrifflicher Bezüge und konzeptioneller Umdeutungen, das sich hier exemplarisch darstellen lässt. Um herauszufinden, inwieweit eine positive Weiterentwicklung von Heideggers Ansatz zu einer politischen Theorie – was in diesem Beitrag ebenso exemplarisch an Arendt vorgeführt werden soll – direkt bei der »Man-Analyse« ansetzen kann, sind mehrere Begriffe aufzunehmen, deren Verhältnis untereinander in einer eingegrenzten Analyse von Texten bestimmt werden kann: Diese Begriffe sind »Miteinandersein«, »eigentlich«/»Eigentlichkeit« und »Öffentlichkeit« (Heidegger 2006: 122; 184; 128). Aus dem Verhältnis der Konzepte, so die These dieses Beitrags, kann unter der Leitfrage nach dem »Wer« des Daseins (ebd.: 117) – auf die schließlich das »Man« in Sein und Zeit vor allem eine Antwort ist – bei Arendt eine andere Antwort als bei Heidegger aufgezeigt werden. Arendt reflektiert dabei, weshalb sie nicht direkt beim »Man« ansetzt und einen Umweg über den Begriff des »Jedermann« geht, um zu einem Verständnis von Handeln in der Öffentlichkeit zu kommen (Arendt 2003a: 218). Diese begriffliche Verschiebung wiederum soll als eine Möglichkeit politischen Denkens erwiesen werden, die in der Auseinandersetzung mit Heideggers »Man-Analyse« entsteht. Der zentrale Unterschied, den es hier herauszuarbeiten gilt, besteht dabei darin, dass sich nach Arendt Heideggers Verständnis einer verdeckenden Öffentlichkeit, »die Öffentlichkeit verdunkelt alles« (Heidegger 2006: 128), in dieser Allgemeinheit nicht halten lässt. Diese Verdunkelungsthese Heideggers kann sie lediglich für das Miteinander in der defizienten »Öffentlichkeit des Man« teilen (ebd.: 167); sie entwickelt demgegenüber jedoch ferner eine alternative Konzeption von Öffentlichkeit. Auf diese Weise ist es möglich, dass sowohl Heideggers »Man-Analyse« in sich schlüssig erscheint als auch Arendts Modifikation dieser Konzeption, um politische Handeln denken zu können. Dies geschieht jedoch nicht einfach in Absetzung von Heidegger, sondern wird in ihrem Denktagebuch (Arendt 2003a) so ins Spiel gebracht, dass Arendts Alternative als eine »existenzielle Modifikation des Man« zu verstehen ist, wie sie Heidegger in Sein und Zeit als Bedingung des »eigentlichen Selbstseins« bzw. von »Eigentlichkeit« bezeichnet hatte (Heidegger 2006: 131). Die existentielle Modifikation läuft bei Heidegger auf eine selbstständig urteilende Aneignung von sozial vermittelten Möglichkeiten des Daseins hinaus.4 Für Arendt geht es, wie gesagt, um eine Öf-
4
Vgl. dazu Wesche (2013).
P OLITISCHES DENKEN IM A USGANG VON DER »M AN -A NALYSE«
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fentlichkeit des politischen Handelns, in der das eigentliche »Wer« erscheinen kann. Dies soll im Folgenden in der Untersuchung der arendtschen Rezeption ausgewählter Stellen des § 27 von Sein und Zeit über das »Man« und dessen »Öffentlichkeit« herausgearbeitet werden. Dieser Paragraph ist gerade deshalb für die »Man-Analyse« von entscheidender Bedeutung, weil darin die für politische Fragen maßgebliche Seinsweise des Miteinanderseins, nämlich die »Öffentlichkeit des Man« (ebd.: 167), beschrieben wird. Der Beitrag wird zeigen, wie weit(gehend) Arendt zwar bis in die – bei ihr meist nicht als Termini markierten – Begrifflichkeiten an Heidegger anschließt, diesen jedoch eigene Deutungen verleiht und systematische Einsichten abgewinnt, auch und gerade in Absetzung von Heidegger. Der Gesamtkontext von Heideggers Sein und Zeit und Arendts Vita activa muss hier außer Betracht bleiben. Es soll stattdessen anhand einer vertieften Textanalyse von § 24 Vita activa, in dem sich die Rezeption von Sein und Zeit in besonderem Maße verdichtet, gezeigt werden, dass Arendt ihre Theorie öffentlicher Interaktion insbesondere in enger Auseinandersetzung mit der »ManAnalyse« in § 27 entwickelt hat. Anhand eines Vergleichs beider Textpassagen und der zusätzlichen Analyse verschiedener Notizen aus Arendts Denktagebuch kann so ein wichtiger Unterschied von Arendts Heidegger-Rezeption exemplarisch beleuchtet werden. Im Rahmen dieser Analyse wird auch auf die Untersuchungen von Villa (1996), Jaeggi (1997), Taminiaux (1997) und Benhabib (2006) zurückgegriffen werden, die bereits Grundsätzliches zum Verhältnis von Handeln und Verhalten, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, sowie Alltäglichkeit und Außerordentlichkeit gesagt haben. Die zentrale These dieses Beitrags kann eingeholt werden, wenn sich nachweisen lässt, dass Sein und Zeit über das »Man« eine interpretatorische Leerstelle für Arendt eröffnet.5 Diese lässt sich sachlich in der existenzialen Analyse von Sein und Zeit an dem Punkt festmachen, an dem sich die Bestimmungen von Eigentlichkeit und öffentlichem Miteinandersein kreuzen (könnten), die in Sein und Zeit aber nicht verknüpft werden. Diese Leerstelle füllt Arendt mit ihrem Verständnis politischen Handelns, das als ein öffentliches Miteinandersein im Modus der Eigentlichkeit verstanden werden kann. Will man dabei den Status der Öffentlichkeit klären, geht es dann ausdrücklich nicht um alle denkbaren Formen des Miteinanderseins, auch nicht darum, ob ein eigentliches Miteinandersein möglich ist, wie man es durchaus in der Systematik von Sein und Zeit als
5
Zu dieser Leerstelle vgl. Gander (2001).
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die »vorspringend-befreiende Fürsorge« (Heidegger 2006: 122) findet.6 Vielmehr soll im Folgenden das öffentliche Miteinandersein herausgegriffen werden, insoweit dies eigentlich sein kann.
I.
N IEMAND
Im Weiteren ist aufzuweisen, wo genau die behauptete Leerstelle in Sein und Zeit liegt. Dass Heidegger das Phänomen, das hier öffentliches Miteinandersein im Modus der Eigentlichkeit genannt wurde, schlechterdings negiere, lässt sich so nicht feststellen.7 Es sind zumindest zwei Varianten für eine Ausfüllung der behaupteten Leerstelle innerhalb der textimmanenten Systematik denkbar: Zum ersten besteht die Möglichkeit einer existenzialen Modifikation – in der ja laut Heidegger die Eigentlichkeit liegen soll – als die Verrichtung des je Eigenen mit Rücksicht auf das je Eigene der Anderen im Bezug auf die »Man-Analyse« (vgl. Figal 2000: 260), was man wiederum in Richtung eines öffentlichen Austragens der daraus resultierenden Konflikte (z.B. im politischen Handeln) weiterentwickeln könnte; dies geschieht bei Heidegger selbst zwar nicht, schließt diese Möglichkeit des Weiterdenkens anhand des Textes aber auch nicht aus. Zum zweiten ließe sich die geschichtliche »Entschlossenheit des Daseins« (Heidegger 2006: 363), dem über das »Geschick« sein jeweiliges »Schicksal« im »Geschehen der Gemeinschaft« mitgegeben ist, als Ausgangspunkt denken (ebd.: 384).8 Damit meint Heidegger ein im Selbstverhältnis erfahrenes Geschehen von Ge-
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Daran hat schließlich auch Arendt (2003b) in ihrer Dissertation über Der Liebebegriff bei Augustinus angeschlossen hat. Vgl. dazu auch Thomä (2003).
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Dass Heideggers Sein und Zeit sozialphänomenologische Elemente enthält, zeigt
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Dass der Begriff des Volkes zwar auf eine unmittelbar einsichtige Weise für modernes
Schmid (2005: 243-308). politisches Denken nicht anschlussfähig sein kann, berücksichtigt Schmid (2005: 275277), auch wenn gezeigt wird, dass man mit dem Vorwurf einer allzu einfach gedachten ›Kollektivierung von Dasein‹ gegenüber Heidegger ebenso Vorsicht walten lassen sollte. Die Möglichkeiten einer Interpretation der geschichtlichen Erschlossenheit hat Trawny ausgeschöpft, der eine Kohärenz der Begriffe »Entschlossenheit«, »Geschichte«, »Geschick« in Sein und Zeit im Spiegel anderer Heidegger-Schriften belegen kann. Vgl. Trawny (2004).
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schichte.9 Wie diese Geschichtlichkeit, die als eine geteilte gedacht ist, öffentlich, d.h. allgemein zugänglich sein kann, bleibt allerdings in Sein und Zeit offen.10 In beiden Varianten der Interpretation ist folglich der Status von öffentlich in diesem Miteinandersein zumindest ungeklärt und tendenziell auch problematisch. Die »Man-Analyse« (vgl. ebd.: §§ 25-27) in Sein und Zeit bietet also – und dies ist für Arendts Argument sehr wichtig – unmittelbar keine Möglichkeit ein öffentliches Miteinandersein zu denken, das nicht per se die negative Konnotation der Uneigentlichkeit hat. Ein eigentliches Miteinandersein wird von Heidegger zwar als »vorspringend-befreiende Fürsorge« skizziert, aber deren Vollzug lässt sich kaum öffentlich denken, wenn es im Singular jeweils um die »die Existenz des Anderen« (ebd.: 122) geht. Eine authentische Form des politischen Handelns etwa scheint so nicht darstellbar und ist anscheinend von Heidegger auch gar nicht intendiert gewesen.11 Selbst da, wo Heidegger mit Fürsorge ein »Sicheinsetzen für eine gemeinsame Sache« (ebd.) bezeichnet, ist der Status von Öffentlichkeit in diesem Sicheinsetzen zumindest unklar.12 Das gilt selbst dann noch, wenn man das Sicheinsetzen als eine breiter angelegte intersubjektive Praktik auslegt. Auch dann bleibt nämlich stets unklar, wie diese als eine Interaktion, etwa analog zu einem arendtschen Handeln in der Öffentlichkeit zu verstehen ist. Möglicherweise ist in der Konzeption Heideggers dieser öffentliche Status auch nicht ohne weiteres zu klären. Öffentlichkeit ist in Sein und Zeit schließlich in Bezug darauf, »Wer jemand jeweilig ist« (Arendt 1960: 169), aus seinen eigensten Möglichkeiten heraus, ausschließlich in ihrer verdeckenden Funktion begriffen. So meint Heidegger (2006: 127): »Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus.« Zu bemerken ist dabei, dass sich die Verdunkelung dabei nur auf das eigentliche Selbstsein bezieht, während die fraglose Selbstverständlichkeit jeder Form von alltäglicher Geschäftigkeit schließlich gerade von der »öffentlichen Ausgelegtheit« abhängt (ebd.: 169).
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Zu dieser Konzeption von Geschichtlichkeit vgl. Gander (2001).
10 Vgl. zu einer Problematisierung des Sachverhalts Koselleck (2003: 299). 11 Ob Heidegger deshalb allerdings tatsächlich »Sitte, Gesetz und Institution« von seiner Analyse der Öffentlichkeit ausnimmt, erscheint jedoch zweifelhaft. Vgl. dazu von Herrmann (2005: 341). 12 Das Sicheinsetzen kann als ein gemeinschaftliches Handeln interpretiert werden, wie Wesche (2013) gezeigt hat.
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Dennoch wird mit Blick auf den eigentlichen Modus der Fürsorge deutlich, dass Heideggers Konzeption in Sein und Zeit sicherlich nicht mit einer funktionalistischen Bestimmung von Dasein vereinbar ist, wie sie Arendt 1949 in einer Polemik gegen Heidegger unterstellte (vgl. Arendt 1990) – noch bevor eine erneute Heidegger-Rezeption Arendts in den 1950er Jahren beginnt.13 Dass der in dieser Polemik ebenso zum Ausdruck kommende Solipsismusvorwurf, den Arendt gegenüber der Konzeption von Eigentlichkeit in Sein und Zeit erhoben hatte, so nicht haltbar ist, kann man auch als arendtsche Selbstkritik einer späten Notiz explizit entnehmen; sie sieht in Heideggers Denken späterhin vielmehr einen wichtigen Schritt zur Abkehr von subjektphilosophischen Konzeptionen cartesischer Provenienz, die auch in ihrer Handlungstheorie keinen Platz haben.14 Die Überzeugung jedoch, dass das Denken Heideggers nicht ohne Weiteres geeignet ist, politisches Handeln in der Öffentlichkeit zu denken, bleibt für die arendtsche Politikkonzeption aus nachvollziehbaren Gründen verbindlich.15 Arendts Modifikation der Konzeptionen von Sein und Zeit lässt sich daher aus anderen Motiven verständlich machen, nämlich aus der Suche nach einer Theorie des öffentlichen Handelns in Vita activa. Zwar hat Arendt jenes heideggersche Verständnis von der verdunkelnden Öffentlichkeit einerseits geteilt, darin aber nur die defiziente Form öffentlichen Miteinanderseins gesehen (Arendt 2003a: 218). Sie hat deshalb andererseits versucht, die öffentliche Möglichkeit des Miteinanderseins anders zu interpretieren als Heidegger, nämlich als politisches Handeln. Dies begreift Arendt als eine Aktivität, die eine Person in ihrem eigensten Sein enthüllt, was in einer noch näher zu klärenden Weise mit der Öffentlichkeit zusammenhängt. So kann man verstehen, weshalb das, was Heidegger als »das Bekannte und jedem Zugängliche« im Sinne der Verdeckung der eigentlichen Seinsmöglichkeiten begreift, bei Arendt ganz anders konnotiert ist. Arendt versteht daher, wie aus der Bestimmung des Öffentlichen in § 7 von Vita activa hervorgeht, das Gemeinsame als etwas, das »für jedermann sichtbar und hörbar ist [und] vor der Allgemeinheit« erscheint (Arendt 1960: 49; Herv. OM). Was es dabei genauer mit dem »Jedermann« auf sich hat – ein Begriff der auch in Sein und Zeit vorkommt (Heidegger
13 Zu einem Überblick der Phasen von Arendts Heidegger-Rezeption vgl. Thomä (2003). 14 Vgl. dazu Villa (1996: 130-136). 15 Die Studie von Grosser (2011) hat umfassend gezeigt, wie heideggerschen Begriffen eine Ambiguität in Bezug auf das Politische innewohnen kann. Auf dieser Einsicht beruhend lassen sich gerade in den Umdeutungen dieser Begriffe, wie in Arendts Werken geschehen, Möglichkeiten des politischen Denkens zeigen.
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2006: 362) – wird noch zu zeigen sein. Die gegebene Bestimmung ist jedenfalls tragend für eine auf »Gleichheit und Verschiedenheit« beruhende »Enthüllung der Person« in der Öffentlichkeit, die dann das Thema des § 24 von Vita activa ist. Über ein vorpolitisch Gemeinsames, das von Arendt in Bezug auf Sein und Zeit, wie noch zu sehen sein wird, über die Gedankenfigur des Jedermann entwickelt wird, lässt sich dann aus diesem Miteinandersein eine öffentliche, allgemein zugängliche Form des »In-Erscheinung-treten[s]« von Personen entwickeln, wie Arendt (1960: 165) dies vorschlägt. Das heißt: Heideggers Verdunkelungsthese in Bezug auf das eigentliche Selbstsein von Personen in der defizienten Öffentlichkeit veranlasst Arendt dazu, gerade die öffentliche Phänomenalität des Miteinandersein so zu entwickeln, dass das »eigentlich personale Wer jemand jeweilig ist« (ebd.: 169) darin zum Vorschein kommen kann.16 Eigentliches Selbstsein, wie es in Sein und Zeit gefasst ist, wird hier umgedeutet und aus dem Modus der Öffentlichkeit von Jedermann in einer »existenziellen Modifikation des Man« entwickelt.
II. J EDERMANN Die Öffentlichkeit wird in Sein und Zeit als eine Weise der »Erschlossenheit des Man« charakterisiert. Daher muss eine Erörterung dieses Verhältnisses bei der »Man-Analyse« ansetzen. Arendt hat genau das getan und das Phänomen des »Man« entsprechend um-interpretiert.17 Richtet man also zunächst die Aufmerksamkeit auf die Konzeption des »Man«, so scheint diese gänzlich ungeeignet als Ausgangspunkt für ›authentische‹ soziale Praktiken. Denn im Grunde »entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur« (Heidegger 2006: 126) in diesem Bereich, in dem die geordnete Selbstverständlichkeit des Alltags im permanenten »Gerede« sich stets derart in der Uneigentlichkeit bewegt, dass »Man« seine eigensten Möglichkeiten nicht ohne Weiteres entdecken kann. Mit »Gerede« meint Heidegger dabei eine Form
16 Diesen enthüllenden Charakter der Öffentlichkeit beschreibt Arendt im Widerspruch zu Heideggers ›Verdunkelungsthese‹ über die Metaphorik des Lichts. Vgl. Arendt (1960: 38). 17 Inwieweit auch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Arendt 2009) eine Interpretation der »Diktatur des Man« darstellen, kann hier außen vor bleiben, sofern sich der Beitrag auf die Theorie der Öffentlichkeit und das »Man« konzentriert.
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der Rede, die der »Öffentlichkeit des Man« verfallen ist (ebd.: 167).18 Die besagte Uneigentlichkeit besteht allerdings noch nicht einfach in der Seinsweise des »Man«, sondern, wie Figal gezeigt hat (vgl. Figal 2000: 173 f.), in seiner Orientierung an der »Durchschnittlichkeit« des Verhaltens sowie der »Abständigkeit«, die jenem Durchschnitt implizit in allem immer zugleich nahe und fern sein will, und der »Botmäßigkeit der Anderen« als permanente Asymmetrie der Beziehungen; diese Bestimmungen wiederum führen unweigerlich zur »Einebnung« der je nur eigenen Seinsmöglichkeiten in das »Man« (Heidegger 2006: 127). Dabei muss man beachten, dass erst durch das Gerede die nicht per se uneigentliche »Erschlossenheit des ›Man‹ zur Öffentlichkeit modifiziert« wird (Figal 2000: 175). Daraus ist dann zu folgern, und dies ist für Arendts Umdeutung der Sache wichtig, dass sich von der alltäglichen »Erschlossenheit des Man« (Heidegger 2006: 167) weitere Arten der Modifikation als die genannte uneigentliche denken lassen. Auch Heidegger hat schließlich in der »Man-Analyse« angegeben, dass das »eigentliche Selbstsein« auf einer »existenzielle[n] Modifikation des Man« beruht. Das ist in Sein und Zeit jedoch nur als die Meisterung des Alltags in der nächsten Umwelt gedacht oder aber als die existenzielle Möglichkeit der Phänomenologie (vgl. ebd.: 371; 19), die an die Stelle der im »Gerede« (ebd.: 167) uneigentlichen Seinsweise treten. Der Rezeptionsstrang der Rede respektive Gerede kann hier allerdings weitgehend ausgeklammert werden,19 da Arendt dem Gerede nicht einfach ein entdeckendes »Sprechen« entgegensetzt, sondern ihre Modifikation durch eine vor-prädikative Erfahrung begründet wird.20 Wie im Folgenden näher zu sehen sein wird, denkt Arendt eine weitere derartige Modifikation im Rekurs auf »Jedermann«, um das öffentliche Miteinandersein als eine eigentümliche Möglichkeit menschlichen Lebens verständlich zu machen. Das ist allerdings so ohne Weiteres nicht möglich, denn Öffentlichkeit wird, wie gesagt, auf diese Weise von Heidegger nicht intendiert; sein Begriff hebt auf die Modi der Abständigkeit, Botmäßigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung und Entlastung ab. Aus den gezeigten Schwierigkeiten in einem so einsei-
18 Wie aus der Struktur der Sprache eine Möglichkeit der Ethikkritik und Ethikbegründung bei Heidegger entwickelt werden kann zeigt Wesche (2013). 19 Es wäre eine andere Aufgabe in demselben Textbestand zu untersuchen, wie sich Arendts »Sprechen« anders verhält als »›bloßes Gerede‹« (1960: 170), das sie sicher nicht ohne Seitenblick auf Sein und Zeit anführt. Das Sprechen wird dabei von Arendt als Artikulationsmöglichkeit von Handlungen verstanden. Vgl. Arendt (1960: 169 f.). 20 Dass eine solche vorprädikative Ebene für die Ethikkritik Heideggers von entscheidender Bedeutung ist, zeigt Wesche (2013).
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tig gedachten Verhältnis von »Man« und Öffentlichkeit zieht Arendt für sich Konsequenzen. Der für sie zentrale Begriff des »Jedermann« kommt jedoch bemerkenswerterweise auch in Sein und Zeit, wenn auch nicht im Rahmen der »Man-Analyse«, vor (ebd.: 361; 372; 411; 413; 418). Zwar lässt sich nicht eindeutig klären, ob sich Arendt mit dem »Jedermann« in der Terminologie von Sein und Zeit bedient. Aber ihre eingehenden Lektüren des Buches und der sachliche Zusammenhang legen dies nahe. Mit »Jedermann« wird in § 80 von Heidegger die »öffentliche Zeit« als ein Maß des Verhaltens angegeben, das als »Uhrzeit« errechenbar sein kann, die – und dies ist hier entscheidend – eine Verbindlichkeit im Sinne eines Gemeinsamen darstellt (ebd.: 413). Arendt deutet in eben dieser Richtung das Jedermann derart um, dass die alltägliche Weise des Miteinanderseins zwar noch nicht die Anderen als begegnende Personen von der Unscheinbarkeit abhebt, aber doch auch nicht mehr zwangsläufig ein anonymes und nicht identifizierbares »Niemand« bedeutet, wie dies Heidegger für das »Man« angibt – Jedermann meint schließlich gerade jeden im Gegensatz zu keinem. Wie Arendt diesen Schritt vollzieht, zeigte sich implizit schon an der öffentlichen Phänomenalität dessen, »was für jedermann sichtbar und hörbar ist«. Das schließt zwar zunächst noch an die Durchschnittlichkeit des Man an, setzt sich aber gerade vom »Berechenbaren« ab (Arendt 1960: 167). Wer »Jemand« eigentlich ist, kann sich also weder über ein Maß wie das der »öffentlichen Zeit« zeigen, noch kann aus der anonymen Indifferenz des »Man« jemand anderes als »Niemand« hervorgehen. Arendt modifiziert daher in einer wichtigen Notiz ihres Denktagebuchs in entscheidender Weise Heideggers »Man-Analyse«. Daraus entspringt eine Kritik Arendts an Sein und Zeit, die zum Verständnis dieser Sache wichtig ist: »Der elementare Fehler der Heideggerschen Man-Analyse, die als solche außerordentlich zutreffend ist, ist, dass, das Man in der Spanne Man – Selbst gesehen ist. Dem Man aber, der das ›Niemand‹ in (Sein und Zeit, 253) ist, steht der Jedermann (und nicht das Selbst) gegenüber, der wir alle immer auch sind, insofern wir gleich jedermann an die ਕȞĮȖțĮĮ gebunden sind. Dem Man tritt nie das Selbst entgegen, sondern der Jedermann.« (Arendt 21
2003a: 218; Herv. i. O.)
Aus dem Zitat wird deutlich, dass Arendt das Kontinuum von »Man«(-Selbst) und Selbst also nicht für geeignet hält, um die Bestimmung von Dasein und des-
21 Das Zitat bezieht sich auf eine Ausgabe von Sein und Zeit, die mit der hier verwendeten seitengleich ist.
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sen konstitutivem Mitsein auf eine Weise einzulösen, die es erlaubt, dass eine »existenzielle Modifikation des Man« in ihrem Sinne gedacht werden kann.22 Denn Dasein kann nur schlüssig im eigentlichen Miteinandersein existieren, wenn es sich nicht an das »Man« und dessen Anonymität verliert, wie dies laut Heidegger für das alltägliche Selbstsein ja aber »zunächst und zumeist« der Fall sein soll (Heidegger 2006: 16). Der Grund für diese Einschränkung der Beschreibungskraft des »Man«, die Arendt diagnostiziert, liegt darin, dass sie eine Theorie des öffentlichen Handelns zu entwickeln versucht, in der weder die konventionelle Zuweisung von Rollen bestimmend ist, noch die äußerste »Vereinzelung« von Dasein (ebd.: 128) als ein Ausweg aus dieser Problematik gelten kann. Dies schließt für Arendts Begriff des politischen Handelns auch aus, dass im Miteinandersein die Anderen primär in der Rücksicht auf das sozusagen (nur) je Ihrige freigegeben werden (vgl. Figal 2000: 260). Unter diesen Voraussetzungen kann folglich weder ein sich-wählendes Selbst noch das »Man« ein Ausgangspunkt für plurales Handeln sein, dessen konstitutive Bedingung die Interaktion von Personen ist. Aus diesen Überlegungen, dass eine Theorie öffentlichen Handelns weder direkt beim Selbst noch direkt beim »Man« ansetzen kann, kommt Arendt auf ihre Bemerkung zum Jedermann. Deshalb kann sie auch von einem »elementaren Fehler« sprechen, weil der von Heidegger gewählte Ansatz eine Theorie öffentlichen Handelns nur durch Modifikationen im elementaren Bereich der »Man«Konzeption ermöglicht. So kann an dieser Stelle die These eingeholt werden, dass ihre Konzeption des Handelns in der Öffentlichkeit nicht direkt beim »Man« ansetzen kann und Arendt deshalb eine »existenziale Modifikation des Man« mit dem Jedermann denkt, die ihrer Meinung nach geeignet ist, den Handlungsbegriff zu fundieren. Ob der Umweg über den Begriff des Jedermann tat-
22 Dass Arendt aber, wie aus dem Zitat deutlich wird, auch in Vita activa an das »Man« anschließt, ist in der Forschung gesehen worden. Die arendtsche Figur um dies zu denken, ist das Soziale. Dazu haben insbesondere Benhabib und Jaeggi Interpretationen vorgelegt, die jenen Begriff mit der »Man«-Analyse bei Heidegger in Zusammenhang bringen und als Differenzbegriff zum Politischen darstellen (vgl. Benhabib [2006] und Jaeggi [1997]). Auf diese Weise werden das Soziale und das Politische sozusagen mit Arendt gegen Arendt stärker als ein Kontinuum begriffen als vor allem einige praktische Einlassungen Arendts dies nahelegen. Dieser Ansatz ist fruchtbar, um den arendtschen Anschluss an die soziale Normalität des »Man«, in dem alles seine konventionelle Richtigkeit hat, mit ihrer Beschreibung einer authentischen sozialen Interaktion, die im politischen Handeln geschieht, zu verbinden.
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sächlich derart zwingend ist, wie Arendt es sich notiert, darf bezweifelt werden, sofern, wie gesehen, auch andere Anschlüsse an Heidegger plausibilisiert werden können. Für die hier untersuchte Rezeption ist dies allerdings von sekundärer Bedeutung, da ein anderes Motiv erkennbar ist, um das es Arendt primär geht. Dieses Motiv ist ein Gemeinsames, das durch die erfahrbare Gleichheit von Jedermann ins Spiel gebracht wird. Nun ist allerdings noch eingehender zu klären, welchen Status »Jedermann« für Arendts Gedankenführung denn hat. Es bildet als das vorpolitisch Gemeinsame den Ausgangspunkt für eine Gleichheit bestimmter Grundbedingungen, den ਕȞĮȖțĮĮ, die sich im menschlichen Leben nur so und nicht anders verhalten können. Und es sind diese Bedingungen, aus denen erst eine Gleichheit gegenüber den veränderlichen Möglichkeiten des Handelns begründet werden kann.23 Über das, was also für Jedermann die gleiche Bedingung ist, begründet Arendt die Existenz eines unthematisch und vorpolitisch Gemeinsamen, das als Antwort auf die Frage nach dem »Wer« im Sozialen weder von einem anonymen Niemand noch einem eigentlichen Selbstsein ausgeht.24 Die Frage nach dem »Wer«, sofern sie derart beim Miteinandersein ansetzt, lässt sich so zunächst und zumeist mit »Jedermann« beantworten, und zwar nicht mehr so, wie Jedermann in Sein und Zeit gefasst ist. In Sein und Zeit ist der Begriff eine Seinsweise des »Man«, die Heidegger als eine Übersetzung für das »zumeist« in »zunächst und zumeist« im Bereich des öffentlichen Miteinanderseins ausweist, während »zunächst« bedeuten soll, was offensichtlich erscheint:
23 Was dies über das Verhältnis des Handelns gegenüber dem wissenschaftliche Erkennen und der theoretischen Philosophie bedeutet, ließe sich mit Arendts Überlegungen zur Tätigkeit des Denkens auslegen, ist aber für die Struktur von öffentlichem Handeln hier nicht entscheidend. Vgl. dazu Arendt (1979). An Arendts Notiz wird so auch deutlich, dass es ihr nicht um eine Kritik an der Unterscheidung von singulär vollzogenem Denken und plural vollzogenen sozialen Formen gehen kann. Sie fordert jedoch eine Unterscheidung von Handeln und Denken gegenüber Heidegger wieder ein, der diese in seiner Unternehmung einer Fundamentalontologie unterlaufen wollte. Das hält Arendt für problematisch, weil diese Nichtunterscheidung nach ihrer Überzeugung auf das Kontinuum von »Man«(-Selbst) und Selbst hinausläuft, in dem die Pluralität auf das »Man« und die Singularität auf das Selbst zulaufen, was, wie gesehen, für das Handeln problematisch ist. 24 Die Fürsorge und ihre angedeuteten Möglichkeiten des Dialogs stehen ohnehin auf einem anderen Blatt.
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»Zunächst bedeutet: die Weise, in der das Dasein im Miteinander der Öffentlichkeit offenbar ist, mag es auch im Grunde die Alltäglichkeit gerade existenziell überwunden haben. Zumeist bedeutet: die Weise, in der das Dasein nicht immer, aber in der Regel sich für Jedermann zeigt.« (Heidegger 2006: 370)
Wie sich im Folgenden zeigen lässt, hat Arendt ihre Bestimmung von Öffentlichkeit an diesen Passagen von Sein und Zeit geschärft und der Sache in der begrifflichen Aneignung eine andere Bedeutung gegeben: Sie übernimmt Heideggers Formel des zunächst und zumeist und bezieht diese derart auf »Jedermann«, dass darüber eine Öffentlichkeit ohne das Problem der Uneigentlichkeit gedacht werden kann, weil der öffentliche Bezug auf jeden geht und zwar gerade nicht im Sinne von ›auf jeden und damit auf keinen‹. Denn Jedermann konstituiert sich schließlich durch das, was »für jedermann sichtbar und hörbar ist« (Arendt 1960: 49). Arendt geht also so vor, dass sie einen Begriff, der auch in Sein und Zeit vorkommt, verwendet, um die oben beschriebene existenzielle Modifikation des »Man« zu denken. Mit dem Jedermann bildet sich nach ihrer Darstellung so etwas wie Öffentlichkeit heraus, deren problematische Seite, wie sie die »ManAnalyse« hervorbringt, Arendt zwar durchaus teilen kann,25 wie ja schon aus dem obigen Kommentar zu Sein und Zeit hervorgeht. Die Umdeutung des Verständnisses jedoch zeigt sich dann deutlich in Vita activa: »[Das Wort »öffentlich« meint] erstens, daß alles, was vor der Allgemeinheit erscheint, für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt. Daß etwas erscheint und von anderen genau wie von uns selbst als solches wahrgenommen werden kann, bedeutet innerhalb der Menschenwelt, daß ihm Wirklichkeit zukommt.« (Ebd.: 49)
Was für Jedermann zugänglich ist, beruht also für Arendt auf einer wohl verstandenen Bedingtheit menschlicher Angelegenheiten, wie z.B. der Wahrnehmung, doch das ist hier im Einzelnen nicht entscheidend. Wichtiger als die Umgrenzung der ਕȞĮȖțĮĮ ist die Erscheinung eines zunächst vorpolitisch Gemeinsamen, das Jedermann angeht und sich analog zu Heideggers vorontologischer Erschlossenheit verhält. Es geht dabei aber ferner erkennbar nicht um die ›nackte‹ Gemeinsamkeit anthropologisch begründbarer Bedürfnisse. Vielmehr ist die
25 Zwischen Arendts Analysen des Totalitarismus als Herrschaft des Niemand und der »Man«-Analyse in Sein und Zeit lassen sich Bezüge herstellen, die aber hier nicht aufgenommen werden.
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geteilte Erfahrung bzw. Erfahrbarkeit hier entscheidend. Aus dieser Bestimmung wird dann die Zugänglichkeit der öffentlichen Angelegenheiten »für jedermann« abgeleitet. Was öffentlich ist, ist als solches für Jedermann zugänglich, es steht jedem frei, sich eine Meinung über es zu bilden. Zugleich bildet dieses Meinen den wesentlichen Bezug auf die öffentliche Angelegenheit, wie Arendt im Rekurs auf Aristoteles Bestimmung in der Nikomachischen Ethik feststellt: Was als Seiendes unter Menschen erscheint, ist im Handeln nur in der Pluralität der Meinungen zugänglich.26 Was sich so für Jedermann bekundet, jeden angeht, unterscheidet sich wesentlich vom »Man«, in dessen Seinsweise der anonymen Öffentlichkeit ein öffentliches »In-Erscheinung-Treten« durch eine einzelne Tat nicht möglich ist, weil es letztlich immer um »Niemanden« eigentlich ginge, dessen Betroffenheit von den gemeinsamen Angelegenheiten sich öffentlich trivialerweise auch gar nicht bekunden kann. »Man« bewegt sich schließlich alltäglich in der Öffentlichkeit im Modus von »Gleichgültigkeit und Fremdheit« (Heidegger 2006: 121) gegenüber den Anderen und ist auf der Ebene der Betroffenheit doch selbst nicht anders als diese. Von einer Person, die faktisch eine Tat begeht, verwiese das »Man« im Modus der Öffentlichkeit bei Heidegger daher immer auf die konventionelle Bedeutung dieser Tat, in gewisser Analogie zu einem einzelnen Ding, mit dem man es als Zeug zu tun hat, und das immer auf eine Bewandtnisganzheit verweist, nur dass hier das Gelingen instrumentell nach der Verrichtung zu bewerten ist, dort an der sozialen Angemessenheit qua Konvention (vgl. ebd.: §§ 18 und 26 f.). Bei Heidegger wird daher eine Konzeption des öffentlichen Miteinanderseins, das man analog zu Arendts Handlungsbegriff verstehen könnte, nicht ausgearbeitet und so wie man Arendt hier verstehen kann, liegt dies darin begründet, dass ihrer Interpretation zufolge Gleichheit bei Heidegger stets auf eine konventionell vermittelte Gleichförmigkeit (der Masse) hinausläuft. In Sein und Zeit bedeutet das »Auch-da-sein« von Anderen »die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-der-Welt-sein« (ebd.: 118), was gerade jenen nivellierenden Charakter der Alltäglichkeit im öffentlichen Miteinandersein besitzt. Allenfalls im Anschluss an die obigen Interpretationen zur Fürsorge ließen sich reziproke und auf Gleichheit beruhende soziale Beziehungen, wie z.B. der Freund-
26 Arendt zitiert sehr frei und ganz in ihrem Sinne kommentierend Aristoteles: »was allen als glaub- und meinungswürdig erscheint, nennen wir Sein – ਘ Ȗȡ ʌ઼ıȚ įȠțİ, IJĮ૨IJૃ İੇȞĮȚ ijĮȝȞ«. Vgl. Aristoteles, Ethica Nicomachea X; 1172b. Was die Grundlagen der Politik angeht, so sind sie nur diskursiv im Miteinandersein zugänglich. Zur Rehabilitierung der įંȟĮ als Weltzugang bei Arendt vgl. Großmann (2009).
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schaft, denken, jedoch wiederum nicht mit Bezug auf ihre öffentliche Erscheinungsweise. Arendt versucht deshalb, wie gesehen, einen anderen Weg als Heidegger einzuschlagen, indem sie von einem anonymen »Aufgehen« zu einem »InErscheinung-Treten« eines »Jemand« durch den gedanklichen Zwischenschritt des Jedermann gelangt. Dass im Miteinandersein prinzipiell »jeder Andere wie der Andere« (ebd.: 126) ist, könnte zwar auch Arendt ganz ähnlich zu Heideggers kulturkritischem Unterton mit Verweis auf die moderne »Massengesellschaft« sagen (Arendt 1960: 41). Daraus folgt aber für Arendt nicht die Durchschnittlichkeit der Masse als einzig möglicher Ausprägung. Vielmehr denkt sie eine auf gemeinsamen Erfahrungen im öffentlichen Bereich beruhende Gleichheit, für die nicht mehr gilt, dass wie beim »Man« gerade ›keiner wie der Andere‹ ist oder in demselben Sinne ›jeder wie der Andere‹ ist. Also geht es um eine Gleichheit des Weltzuganges, die als solche, im Unterschied zu Heideggers »Gleichheit des Seins«, dann einen gemeinsamen Bezug aus der Pluralität erzeugt. So gibt es also keineswegs zwingend eine Nivellierung in der Art einer anonymen Erschlossenheit des Gemeinsamen. Daraus kann, wie zu zeigen sein wird, Arendts Konzeption der Enthüllung von Personen mit entspringen, die sich im Zusammenspiel von »Verschiedenheit« und »Gleichheit« (ebd.: 164) offenbaren. Ihr Handeln geschieht dann trotz der gleichen Voraussetzungen in einer Weise, in der gerade keiner wie der Andere ist, und damit vertretbar wäre. Folglich ist die Verschiedenheit eine Abhebung der Personen – im Gegensatz zur Einebnung –, die in dieser Konzeption unverwechselbar und unvertretbar im Handeln auftreten und sich dabei auf die alltäglichen Dispositionen beziehen. Die Verschiedenheit, die hier nur vermittelt über die Gleichheit gedacht werden kann, stellt so auch eine Modifikation der zwischen Angleichung und Absetzung gefangenen Abständigkeit dar. So entsteht über das Jedermann ein vorpolitischer Ausgangspunkt für gemeinsames Handeln in der Öffentlichkeit, das nicht mehr den Seinsweisen des Man entsprechen kann – nicht der Abständigkeit, denn es geht um jeden jeweils gemeinsam, und zwar ohne die anonyme Herrschaft der Anderen, nicht der Einebnung, denn die Interaktion individuiert, und ergo nicht der Durchschnittlichkeit, denn es enthüllt sich die Person, Arendt zufolge, unwillkürlich in diesem Handeln. Folglich muss dieses öffentliche Miteinandersein auch nicht mehr per se eine Seinsentlastung durch eine alltägliche Orientierung an Konventionen bedeuten, sondern erschließt so etwas wie Eigentlichkeit oder das »Außerordentliche« im öffentlichen Miteinandersein. Davon unberührt bleibt jedoch für Arendt die Tatsache, dass im Bereich des Sozialen ein alltägliches Verharren in jeder anderen Tätigkeit als dem Denken und Handeln möglich ist.
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III. J EMAND Was Heidegger in seiner Analyse der Alltäglichkeit des Selbstseins für das Man kritisch diskutiert, nimmt Arendt zum Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie diese Alltäglichkeit im öffentlichen Handeln unterbrochen werden kann. Es ist dabei keineswegs so, dass sie schlicht die von Heidegger entwickelte Phänomenologie umwidmet. Auch Arendt denkt das Handeln als eine Negation des sozialen Verhaltens, das im Alltag faktisch nivellierend wirkt (vgl. Arendt 1960: 42 f.). Insofern ist das Handeln eher in Analogie zu den Möglichkeiten der Phänomenologie in Sein und Zeit zu begreifen und insofern klarerweise als etwas anderes denn das alltägliche »zunächst und zumeist«. Um dieses Sich-Absetzen vom Verhalten zu charakterisieren, orientiert sich Arendt wie der § 27 von Sein und Zeit an der ›Wer-Frage‹. Arendt geht es wie Heidegger darum, die Möglichkeit von etwas anderem als Alltäglichkeit zu denken, jedoch, wie gezeigt wurde, spielt die Öffentlichkeit dabei eine unterschiedliche Rolle – einmal ist diese nivellierend und einmal die gleiche Ausgangsbasis für etwas nicht Nivellierendes. Konventionelles Verhalten, wie es am Phänomen des Man aufgezeigt werden kann, wird in dieser Konzeption durchbrochen, wie sich besonders deutlich an Arendts Verständnis des Handelns in § 24 als »Etwas Neues Anfangen« ablesen lässt.27 Analog dazu lässt sich auch in der Konzeption von Sein und Zeit die Unterbrechung der selbstverständlichen »Position des Verhaltens« (Figal 2000: 173) als Voraussetzung für das eigentliche Selbstsein erkennen. Das »Außerordentliche« der vita activa liegt für Arendt gegenüber dem vorpolitisch Gemeinsamen von Jedermann im Sichzeigen von Jemandem in der Pluralität des Handelns. In Bezug auf das Handeln wird dieses Gemeinsame von Arendt jedoch anders als bei Heidegger als eine eigentliche Möglichkeit des Daseins – über den Umweg des Jedermann – gesehen. Die so besehenen Gemeinsamkeiten erzeugen dasjenige, was Arendt in dem Wort »Gleichheit« am Anfang von § 27 von Vita activa zur Voraussetzung der Interaktion erklärt. Gemeint ist damit die Möglichkeit, das »eigentliche Miteinander« zu erschließen, wie sie mit Blick auf Heidegger sagt (Arendt 1960: 170), indem man sich auf das jedem Gemeinsame so bezieht, dass die unterschiedlichen Perspektiven als eine Pluralität zur Geltung kommen. Im Sinne des Jedermann handelt es sich also um eine simultane Erfahrbarkeit des Gleichen im Bereich des Öffentlichen, so wie es je auf uns bezogen werden kann. Auf diese Weise kann deutlich werden, weshalb Arendt das
27 Wie dies über die Bestimmung der Natalität in Bezug auf Heidegger entwickelt wird, hat Birmingham (2002) gezeigt.
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»im Miteinander unter seinesgleichen sich zu bewegen« (Arendt 1960: 220; Herv. OM) als politisches Handeln verstehen kann. Arendts Grundgedanke ist es dabei, vom Man nicht ein Selbst abzuheben, das sich eigentlich gerade in seiner Andersartigkeit artikuliert, sondern ein Selbst, das in der jeweiligen Verschiedenheit auf dem gleichen »Jedermann« gründet. Deshalb betont sie neben der Gleichheit an der angegebenen Stelle auch die Verschiedenheit, die über das »schiere Anderssein« (ebd.: 165), wie man erfährt, insofern hinausgeht, als sie aus lauter ›Jemanden‹ besteht und nicht aus Niemandem im Besonderen. In Vita activa wird auf diese Weise ausdrücklich ein »Jemand« dem »Niemand« entgegen gesetzt. So ist die einebnende Erschlossenheit des »Man«, in der ›keiner wie der Andere‹ und ›jeder wie der Andere‹ ist, in etwas anderes überführt. Die je gegenüber den anderen Personen verschiedene Person bietet einen Widerstand, an dem die rastlose Suche nach Abständigkeit in einem Verschiedensein aufgehoben ist, das nicht mehr eine implizit in allem Verhalten angestrebte Durchschnittlichkeit darstellt und dennoch eine symmetrische Beziehung meint. Wie gesagt ist dabei jedoch im Blick zu behalten, dass auch Arendt diese Situation des Handelns keineswegs als die alltägliche Weise des Miteinanderseins ansieht. Um nun im Folgenden gänzlich an dem vorpolitisch Gemeinsamen des Jedermann anschließen zu können, muss das Ziel der arendtschen Argumentation noch einmal verdeutlicht werden. Was Arendt an der Vorstellung einer ›verdunkelnden Öffentlichkeit‹ kritisiert, zielt auf die Entwicklung einer öffentlichen Phänomenalität ab, die es Einzelnen ermöglicht im öffentlichen Raum als »Jemand« zu erscheinen;28 d.h. genauer, dass einzelne Personen in der Interaktion in Erscheinung treten und in dieser Weise des »Miteinanderseins« – der Terminus fällt in Vita activa sicher nicht zufällig (ebd.: 173) – sich in der Erscheinung vor anderen als ›authentisch‹ Handelnde erfahren, und zwar von den Anderen her. Auf diese Weise kann das Handeln eine Antwort auf die existenzielle Frage sein, »Wer-einer-ist«, in der Pluralität von anderen, die ebenso »Jemand« sein können. Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht mehr schwer verständlich, warum für Arendt die Mitwelt in der Gestalt einer öffentlichen Welt eine wesentliche Rolle für die Enthüllung des ›eigentlichen‹ Selbst spielt: »Es ist im Gegenteil sehr viel wahrscheinlicher, daß dies Wer, das für die Mitwelt so unmißverständlich und eindeutig sich zeigt, dem Zeigenden selbst gerade und immer verborgen bleibt, als sei es jener įĮȝȦȞ der Griechen, der den Menschen zwar sein Leben lang
28 Zur Spatialisierung und Externalisierung von heideggerschen Konzepten vgl. Villa (1996: 135-136).
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begleitet, ihm aber immer nur von hinten über die Schulter blickt und daher nur denen sichtbar wird, denen der Betreffende begegnet, niemals ihm selbst.« (Ebd.: 169)
In dieser Konzeption wird die so verstandene »Enthüllung« des Selbst vor den Anderen als eine mögliche Entgegensetzung zur »Einebnung« von Seinsmöglichkeiten begriffen, die im Öffentlichen geschieht. Dieses Handeln kann nur in der Öffentlichkeit geschehen, sofern seine Angelegenheit öffentlich ist, oder öffentlich werden kann. Die im Zitat dagegen angesprochene Verborgenheit lässt sich nur auf alltägliche Formen des Miteinanderseins beziehen, in denen andere und man selbst gerade nicht als Personen in Erscheinung treten, d.h. im Sinne des Zitats verborgen bleiben. Die öffentliche Angelegenheit wiederum muss, um dem zu entsprechen, was Arendt Handeln nennt, einer Pluralität von Perspektiven zugänglich sein und für Jedermann derart unverborgen sein, dass er sich mit einer Meinung auf es beziehen kann. Das Handeln ist daher, wie zu folgern ist, mehr als das Tun eines Einzelnen, das als Werk auch in Isolation erbracht werden könnte (vgl. ebd.: § 31). Das veranlasst Arendt dann in Vita activa zu der These, dass sich das »eigentlich personale Wer jemand jeweilig ist« unserer Kontrolle darum entzogen hat, weil es sich unwillkürlich in allem mitoffenbart, was wir sagen oder tun« (ebd.: 169). Begrifflich schließt Arendt hier sicher nicht zufällig an den Modus von ›eigentlich‹ an. Damit ist an dieser Stelle jedoch nicht gemeint, dass der Ausgang des Handelns in der Macht eines einzelnen Handelnden liegt, sondern von einer Pluralität der Einzelnen abhängt. Ein vollkommen ›eigenständiges‹ Selbstsein bleibt der eigenen Verfügung so entzogen, wenn auch nicht im Sinne der oben benannten Entlastung. Denn es resultiert aus dem Vorigen wesentlich eine Angewiesenheit auf die Mitwelt, die so konzipiert ist, dass Jemand erst in dieser Phänomenalität öffentlich in Erscheinung treten kann. Über diese Struktur wird verständlich, weshalb Arendt meint, dass Handeln bedeutet als »ein Jemand im Miteinander in Erscheinung zu treten« (ebd.: 170). So kann sich Eigentlichkeit im Handeln nur als Gleichheit und Verschiedenheit artikulieren, die in eine plurale Mitwelt eingerückt ist. Die von Arendt beschriebene Konzeption setzt daher offensichtlich eine öffentliche Welt voraus, in der dies geschehen kann. Das lässt sich außerdem dadurch belegen, dass Arendt offenbar die Nivellierung des Handelns in Sein und Zeit aus dem Fehlen einer positiven Bestimmung von Öffentlichkeit hergeleitet hat.29 Mit der Öffentlichkeit des Handelns ist bei Arendt dann ein
29 Vgl. dazu den Eintrag zu Sein und Zeit § 27 in Arendts Denktagebuch (2003a: 815).
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»Spielraum« gemeint, in dem das Miteinandersein durch das Verhalten der Personen in diesem Raum zur Gestaltung offen ist. Die Pluralität der Meinungen ermöglicht ohne die Fixierung der Angelegenheit, eben diese Angelegenheiten offen auszutragen und zu Entscheidungen in ihrer Sache zu gelangen. Nicht nur in Bezug auf das »Wer« erzeugt also die Gleichheit keine anonymisierende Nivellierung, sondern der Modus der Öffentlichkeit vermeidet gerade auch eine »Verdurchschnittlichung« oder Verdunkelung der Sache und bietet einen Ansatz zu ihrer Politisierung. Sie kann als solche zum artikulierbaren Gegenstand der Entscheidung von Personen werden.
IV. R ESÜMEE Auf die Leitfrage nach dem »Wer« des Daseins, die Heidegger in Sein und Zeit für das öffentliche Miteinandersein mit dem »Man« beantwortet, gibt Arendt in Vita activa eine andere Antwort. Arendt sieht keine Möglichkeit, politisches Denken direkt beim »Man« anzusetzen und geht einen Umweg über den Begriff des »Jedermann« hin zum Verständnis von Handeln in der Öffentlichkeit. Diese begriffliche Umdeutung wiederum erweist sich als eine Möglichkeit des politischen Denkens im Anschluss an Heidegger, das seine Impulse nichtsdestoweniger aus der »Man-Analyse« empfängt. Insoweit damit eine vorpolitische Form des Gemeinsamen gedacht werden kann, erweist sich Arendts Modifikation von Heideggers »Man-Analyse« als konsequent, auch wenn sie in Bezug auf das eigentliche Selbstsein die Wirksamkeit der defizienten Form der Öffentlichkeit nicht anders als Heidegger einschätzt. Das Phänomen, das hier also wesentlich eine andere Rolle und andere Bewertung in den beiden Texten hat, ist die öffentliche Erscheinung von ebenso gleichen wie verschiedenen Personen. Während es sich bei Heidegger dabei um eine Bedingung handelt, die dafür sorgt, dass man als Selbst darin zu verschwinden pflegt, handelt es sich für Arendt dabei gerade um die Bedingung, aus der heraus ein gemeinsames Handeln möglich ist, bei dem man (»Man«) schließlich als Person, als Jemand und nicht Niemand in Erscheinung tritt. Das politische Handeln bei Arendt ist als Modifikation der Erschlossenheit des Man gedacht; es weicht von den konventionellen Ordnungen des Verhaltens im alltäglichen Miteinandersein ab. Der Anschluss an Heidegger besteht hier darin, dass durch diese »existenzielle Modifikation des Man« das öffentliche Miteinandersein als eine eigentliche Seinsmöglichkeit gedacht werden kann. Die Phänomenalität des öffentlichen Handelns oder anders gesagt das öffentliche »In-Erscheinung-Treten« im Sinne Arendts sind wie gesehen für die Möglichkei-
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ten des politischen Denkens im Ausgang von Heidegger zentral. Die herausgearbeitete Leerstelle bei Heidegger wird für Arendt zum produktiven Anstoß für die Entwicklung einer politischen Theorie genommen. Arendts Konzeption öffentlichen Handelns kann daher auch als Beispiel für die Möglichkeit eines Anschlusses politischer Theorie an Heidegger gelten, die sich nicht zuletzt in einer kritischen Aneignung und Weiterentwicklung von Begriffen zeigt.
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Treffen Heideggers Einwände gegen die Demokratie zu? T ILO W ESCHE
Um es vorwegzunehmen: Heideggers Einwände gegen die Demokratie treffen nicht zu. Alles andere als ein Nein wäre verstörend. Eine abschlägige Antwort, die mit der Tür ins Haus fällt, birgt jedoch die Gefahr, dass man es sich mit Heideggers Demokratiekritik zu leicht macht. Sie verleitet dazu, das Problem zu übersehen, das Heideggers Skepsis motiviert und das für die Demokratietheorie eine Herausforderung darstellen könnte. Was also kann, falls überhaupt, die Demokratietheorie von Heidegger lernen? Heidegger verwendet den Begriff Demokratie selten und polemisch. »Europa will sich noch immer an die ›Demokratie‹ klammern und will nicht sehen lernen, daß diese sein geschichtlicher Tod würde.« (1985d: 193)1 Auch wenn er den Demokratiebegriff in den Veröffentlichungen auslässt, hält er in der Sache an seiner Kritik an der »bedingungslosen Selbstgesetzgebung der Menschheit« (1986: 213) fest. Seine Skepsis gegen politische Selbstbestimmung richtet sich ebenso auf, in Heideggers Worten, den Liberalismus, Amerikanismus und Parlamentarismus. Im postum abgedruckten Spiegel-Gespräch erneuert er seine Skepsis, dass die »Demokratie« den zukünftigen Herausforderungen nicht gewachsen sei (vgl. 1986: 213). In zahlreichen Abhandlungen wird versucht, Heideggers Demokratieskepsis mit der Unbelehrbarkeit eines ehemaligen NSSympathisanten zu erklären. Weder muss man sich mit einer solchen Erklärung zufrieden geben noch auf eine Kritik an Heideggers Vorbehalten gegen die De-
1
In der späteren Veröffentlichung der Nietzsche-Vorlesungen verzichtet Heidegger auf den Begriff. Vgl. Heidegger (1998).
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mokratie verzichten.2 Eine Kritik an Heidegger setzt voraus, dass die Gründe, auf die sich seine Einwände stützen, freigelegt und durch ein besseres Demokratieverständnis widerlegt werden. Zielpunkt der folgenden Überlegungen ist eine solche Demokratiekonzeption, die Heideggers Skepsis zu entkräftigen vermag. Dafür wird im ersten Teil ein vorläufiger Demokratiebegriff eingeführt, der es erlaubt, die an eine Demokratie gestellten Anforderungen zu benennen (I.). Die Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere der Rationalisierung, die von demokratischen Prozessen der Meinungs- und Willensbildung geleistet wird. Die rationalisierenden Effekte sorgen dafür, dass irrationale Überzeugungen nicht in die Waagschale fallen und rationale Überzeugungen die Schwelle zur demokratischen Entscheidungsfindung passieren. Irrationale Überzeugungen nehmen hier die Gestalt von trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen an, die sich strukturell als Selbsttäuschung analysieren lassen. Im zweiten Teil werden Heideggers Einwände gegen die Demokratie nachgezeichnet, die sich auf das Argument stützen, dass Selbsttäuschungen nur durch Ressourcen eingehegt werden können, die im vorpolitischen Bereich der Sprache liegen und für politische Ordnungen unverfügbar sind (II.). Der dritte Teil formuliert einen Gegenvorschlag, der sich von Heidegger absetzt, ohne dass gewichtige Intuitionen von ihm verloren gehen (III.). Im vierten abschließenden Teil wird dieser Gegenvorschlag demokratietheoretisch ausbuchstabiert und auf die These gebracht, dass die Zivilgesellschaft an die Stelle der dichtenden und denkenden Geistesgemeinschaft tritt (IV.).
I.
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Demokratie erfüllt ihr Freiheitsversprechen durch die effiziente Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an der Gesetzgebung. Autor und Adressat der Gesetze fallen in eins. Das demokratische Verfahren der Meinungs- und Willensbildung verschafft den verbindlichen Gesetzen mit Zwangsbefugnis Legitimation unter vier Bedingungen. Eine legitimationsstiftende Selbstgesetzgebung setzt erstens die Gleichheit der demokratischen Teilhabe voraus, derzufolge jede Stimme
2
Zu den ersten Abhandlungen über Heideggers Demokratiebegriff zählen Held (1991) und Fehér (1993). Allerdings wird dabei auf eine demokratietheoretische Rekonstruktion der Argumente Heideggers verzichtet. Ein Beispiel für den Versuch, alle Unterschiede zwischen Heideggers Demokratiekritik und einer liberalen Demokratiekonzeption zu glätten, stellt Porsche-Ludwig (2010) dar.
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gleichviel zählt. Zweitens findet sie unter Bedingungen der Inklusion aller Betroffenen statt, deren Gemeinsamkeit zumeist die Staatsbürgerschaft ist. Die Teilhabe muss drittens zwanglos erfolgen, so dass Bürgerinnen und Bürger ohne Furcht vor Sanktionen ihren Willen öffentlich kundgeben können. Soll aus dem demokratischen Verfahren eine Entscheidung mit möglichst großer Zustimmungsfähigkeit hervorgehen, dann setzt die Meinungs- und Willensbildung viertens einen deliberativen Prozess der Rationalisierung voraus, der in der Lage ist, Irrtümer und sonstige Täuschungen zu vermeiden. Je weniger Täuschungen unterlaufen, desto erfolgreicher ist die Beratschlagung über gemeinschaftliche Zielsetzungen und desto mehr verdienen die aus ihr erwachsenen Entscheidungen die Zustimmung. Damit die öffentliche Deliberation rationalisierende Effekte erzielen kann, muss sie in der Lage sein, zwei Formen von Täuschungen zu vermeiden. Zum einen hilft die Deliberation, Irrtümern zu entkommen, die den Beteiligten im Prozess der Meinungs- und Willensbildung unterlaufen können. Insbesondere durch die Pluralität der Perspektiven und die Stellungnahmen, die von Experten und Gegen-Experten eingebracht werden, wächst der öffentlichen Deliberation eine zunehmende Kraft zu, Irrtümer aufzudecken und auszuräumen. Zum anderen wird kraft der öffentlichen Deliberation der Einfluss von trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen vermindert, die sich nicht kurzerhand mit Irrtümern verrechnen lassen. Damit die demokratische Meinungs- und Willensbildung alles in allem zustimmungsfähige Entscheidungen erzeugt, muss sie ermöglichen, dass rationale Überzeugungen in die Waagschale fallen und andere aussortiert werden. Solche trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen werden von Heidegger in Sein und Zeit unter den Bezeichnungen der »Uneigentlichkeit«, des »Man« und des »Verfallens« beschrieben.3 In seiner Spätphilosophie verwendet er für sie den Begriff der Selbsttäuschung, den ich im Folgenden übernehmen werde. Unter Selbsttäuschung versteht er das »Nichtwissenwollen« (1989: 100), das »Ausweichen vor der Besinnung« (ebd.: 24), die »Flucht in die Begebenheiten und die Machenschaften« (ebd.: 188), das »organisierte Augenschließen« (ebd.: 139), die »Angst vor dem Denken, das bedenkt, was ist« (ebd.:
3
Salem-Wiseman (2003) arbeitet die Kritik an solchen Überzeugungen als eine Schnittstelle des Liberalismus von John Rawls und der Liberalismus-Kritik Heideggers heraus. Allerdings wird dabei nicht der Unterschied berücksichtigt, dass die trivialen, voreingenommenen und verzerrten Überzeugungen von Rawls als Heteronomie und von Heidegger im Sinne von Selbsttäuschungen als Freiheit gedeutet werden.
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62), eine »Beruhigung« (ebd.: 255) und »Entlastung« (ebd.: 266) oder die »Blindheit des Nichtfragenwollens« (ebd.: 433). Selbsttäuschungen sind strukturell erstens durch eine kognitive Entlastung, zweitens durch Unaufrichtigkeit und drittens durch Freiheit gekennzeichnet.4 (1.) Zunächst zur kognitiven Entlastung, die Heidegger auch »Seinsentlastung« nennt:5 In Selbsttäuschungen gibt man sich ohne Not oder Zwang mit einfachen Antworten zufrieden. Wer sich selbst täuscht, versucht vermeintlich sichere Selbst- und Weltbilder für begründeter zu halten, als sie sind, und sich von einer näheren Erkenntnis zu entlasten. Anstatt sich über ethische Fragen aus einer unvertretbaren Teilnehmerperspektive ein eigenes Urteil zu bilden, wird an griffigen Selbst- und Weltbildern festgehalten, die aus der Wissenschafts- und Technikperspektive unbeteiligter Beobachter entworfen werden und vermeintlich gesicherte Erkenntnis suggerieren. Selbsttäuschungen dienen allgemein dem Versuch, beunruhigende Unübersichtlichkeiten kraft eines scheinbar gesicherten Welt- und Lebensverständnisses zu bannen. Mit dem Wegfall autoritativer Deutungshoheiten der Religion oder traditionalistischer Ethiken gehen ein Verlust sicherer Weltbilder und ein zunehmender Legitimationsdruck einher. Selbsttäuschungen entstehen weniger aus der Unübersichtlichkeit der Welt als vielmehr aus deren Simplifikation – der Restauration vereinfachter Weltbilder –, mit der man auf die wachsende Komplexität reagiert und sich vom Legitimationsdruck entlastet. Die kognitive Entlastung ist zunächst einmal kein verwerflicher Wunsch. Sie fällt mit einem Drang zur Täuschung, einem Täuschen um der Täuschung willen, keineswegs zusammen. Sie ist vielmehr Ausdruck eines Wunsches nach Gewissheit, der von vornherein kein unvernünftiges Interesse ist. In Selbsttäuschungen wird das Bedürfnis nach gesichertem Wissen indes voreilig befriedigt. Mit dem Wegfall traditionalistischer Deutungshoheiten wächst nicht nur das emanzipatorische Potential, sich selbständig der Lebens- und Weltdeutungen zu vergewissern. Mit dem Legitimationsdruck wächst auch die Neigung, sich von ihm zu entlasten. Statt Ambivalenzen der modernen Welt anzuerken-
4
Siehe zu Selbsttäuschung: McLaughlin/Oksenberg Rorty (1988); Barnes (1997); Mele
5
Der für die Selbsttäuschung relevante Begriff der Entlastung darf weder mit dem Be-
(2001); Beier (2010). Zur Selbsttäuschung bei Heidegger siehe: Merker (1988). griff der Entlastung bei Arnold Gehlen verwechselt werden, demzufolge das Mängelwesen Mensch durch Institutionen von seinem selbstzerstörerischen Triebhang entlastet wird, noch mit der Entlastung von moralischen und kognitiven Überforderungen, die durch das Recht und die deliberativen Verfahren geleistet werden.
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DIE
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nen, werden sie kurzerhand aufgelöst mittels politischer Vorstellungen einer Welt, in der das simple Entweder-Oder regiert. Charakteristische Beispiele für solche Vereinfachungen sind Parolen des gerechten Krieges, mit denen eine komplexe Welt handstreichartig in Gut oder Böse eingeteilt wird, oder die Stigmatisierung des Fremden, in dessen Licht liebgewonnene Wahrheiten erschüttert werden, oder die Schönfärbereien und Geborgenheitsidyllen, mit denen hausgemachte Krisen klein geredet werden. (2.) Unaufrichtigkeit: Die Selbsttäuschung betrifft nicht nur den Gegenstand, den man nicht wahrhaben will, sondern auch ebendieses Nichtwahrhabenwollen. Der Unaufrichtige hält vor sich verborgen, dass er etwas nicht sehen will. Er glaubt, dass ihm nichts wichtiger als die Wahrheit sei, und verbirgt unter diesem Wahrheitseifer gerade, dass er mehr erkennen könnte, wenn er nur wollte. Auf diese Unaufrichtigkeit, die Jean-Paul Sartre als »mauvaise foi« beschreibt, verweist das am Wort »Selbsttäuschung« herausstechende Pronomen »Selbst«. Es hat drei Bedeutungen und bezeichnet das Wen, das Wer und das Worüber des Täuschens. Erstens benennt es den Getäuschten. Nicht ein anderer, sondern man selbst wird getäuscht. Zweitens gibt das Selbst den Täuscher an. Die Täuschung geht nicht von etwas anderem oder einem anderen, weder von Umständen noch von zweiten oder dritten Personen aus, sondern von einem selbst. Getäuschter und Täuscher fallen in eins. Der Unaufrichtige selbst ist Akteur der Täuschung, von der er befangen ist. In der Einheit von Getäuschtem und Täuscher drückt sich die Freiheit aus, auf die Selbsttäuschungen zurückgehen. Dass jemand selbst sich täuscht, verweist auf den Täuscher als jemanden, der sich aus Freiheit täuscht und nicht aufgrund eines Zwanges oder einer Not getäuscht wird. Drittens betrifft das Pronomen »selbst« die Selbstbeziehung der Täuschung, die selbstbezogen ihre Tätigkeit und Motive verhüllt. (3.) Freiheit: Dass in Selbsttäuschungen ohne Not oder Zwang mit einfachen Weltbildern vorliebgenommen wird, drückt einen Akt der Freiheit aus. Vereinfachte Sichtweisen, die Sachkomplexe in den starren Dualismus von Gut und Böse pressen, gehen auf Freiheit zurück. Hinsichtlich dieser Freiheit unterscheiden sich Selbsttäuschungen von Irrtümern und Zwangsvorstellungen, die unverschuldet widerfahren. Selbsttäuschungen gehen vom Betroffenen selbst aus – Täuscher und Getäuschte sind identisch –, lassen sich aber nicht auf eine intentionale Absicht zurückführen. Sie haben ihren Ort zwischen der Intentionalität absichtlichen Täuschens – etwa der Lüge oder Intrige – und dem unwillentlichen Unterlaufen von Irrtümern. Selbsttäuschungen kennzeichnet eine aktive Passivität, mit der wir sie geschehen machen. Als kognitive Entlastungen, die aus Frei-
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heit hervorgehen, charakterisiert sie eine Urheberschaft vereinfachter Selbst- und Weltbilder, für die man verantwortlich zeichnet. Die Annahme von Selbsttäuschungen ist nicht unumstritten. Nach Aristoteles und Kant ist der Fähigkeit die Ausübung als ein inneres Ziel eingeschrieben, weshalb die Ausübung nur durch äußere Umstände gewaltsam blockiert werden kann. Falsche Meinungen werden vollständig als Dysfunktion oder Defekt einer rationalen Fähigkeit begreiflich gemacht, die als Selbstbewegung (Aristoteles) oder Spontaneität (Kant) durch sich selbst zur Ausübung strebt. Triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen werden demnach hinreichend als ein Mangel – beispielsweise als Informationsmangel oder Bildungsmangel – beschrieben, der durch äußere Umstände verursacht wird. Unter Metaphysik versteht Heidegger ebendiese Auffassung, dass Rationalität notwendig wirksam und Täuschungen durch äußere Umstände verursacht werden. Sein ist das eine Prinzip und Schein sein akzidenteller Mangel. Die Vernunftfähigkeit aktualisiert sich zeitlos, entweder »von Natur aus« (Naturalismus) oder »immer schon« (Transzendentalphilosophie), während Irrationalität nur die akzidentiell verursachte Abweichung von diesem Streben ist. Damit findet die Verständnisschwierigkeit eine Erklärung, weshalb Heidegger seine Kritik der Demokratie in eine Reihe mit der Kritik an der Metaphysik stellt.6 Demokratien seien nicht in der Lage, eine Diagnose von Selbsttäuschungen anzuerkennen, weil sie, so Heidegger, die für die Metaphysik kennzeichnende Vorstellung voraussetzen, dass Täuschungen lediglich als Mangel, Dysfunktion und Defekt widerfahren. Sie scheitern erstens, weil sie von der unberechtigten Prämisse ausgehen, dass Bürgerinnen und Bürger ohne hindernde Umstände vorurteilsfreie Einstellungen ausbilden und in die Waagschale der demokratischen Entscheidungsfindung werfen. Zweitens scheitern Demokratien daran, dass sie den Einfluss von Selbsttäuschungen auf demokratische Entscheidungen nicht eindämmen können, selbst wenn sie es wollten. Die unten geübte Kritik an Heideggers Demokratieskepsis wird diese zweite Annahme bestreiten. Selbsttäuschungen werden von Heidegger im Namen der Metaphysikkritik beschrieben und stellen das Phänomen dar, dass aus Freiheit die Ausübung einer Vernunftfähigkeit unterbleibt. Weil einfache Antworten aus freien Stücken für
6
Siehe zu Heideggers Demokratiekritik als Metaphysikkritik: Dallmayr (1984); Dallmayr (1993: 77-105); Thiele (1995: 161-168); de Beistegui (1998); KrasnodĊbski (2001); Thomä (2007); Vattimo (2007) und in Bezug auf Heideggers Liberalismuskritik: Polt (1997). Das oben beschriebene Metaphysikverständnis weicht von dem der hier genannten Autoren ab.
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wahr gehalten werden, bilden Selbsttäuschungen gegenüber der Wahrheitsorientierung (Rationalität) eine eigenständige Kraft. Selbsttäuschungen sind als Widerspruch entgegengesetzter Größen beschreibbar. Es liegen weder Mängel, Dysfunktionen noch Defekte vor, die jemanden daran hinderten, zur Welt ein offenes Verhältnis einzunehmen und die Dinge so zu sehen, wie sie allem Anschein nach sind. Dass triviale, voreingenommene und verzerrte Überzeugungen für wahr gehalten werden, ist keine Frage des intellektuellen Vermögens, sondern des Willens des Betroffenen. Er hätte besser urteilen können und will insoweit sein Urteil für begründeter halten, als es ist. Wenn etwa Erkenntnisse über die Unfinanzierbarkeit einer Fiskalpolitik öffentlich gemacht werden, dann liegt es nicht an einer Unübersichtlichkeit oder einem Unvermögen, sondern an der Verweigerung, drohende Krisen nicht sehen zu wollen.7 Es ist keine Frage der Fähigkeit, sondern des Willens, wenn ohne Not oder Zwang die Augen vor den Risiken von Technologien verschlossen werden, die den Lebensstandard nur geringfügig anheben; wenn man den Preis nicht anzuerkennen bereit ist, den ein ungebremstes Wachstum hat; oder wenn man dank beschwichtigender Neuverschuldungseuphemismen sich in Sicherheit davor wiegt, dass man über seine Verhältnisse lebt. Demokratien müssen sich auch daran messen lassen, ob sie einer Rationalisierung gerecht werden, die imstande ist, solche politischen Lebenslügen einzuhegen. Die Diagnose von Selbsttäuschungen trägt den Faktoren Rechnung, die den rationalisierenden Effekten der politischen Deliberation entgegenwirken. Anstatt idealisierende Erwartungen an die Bereitschaft, sich als informierte, reflektierte und kritische Bürger einzubringen, in die Höhe zu schrauben, gilt es zunächst, gegenläufige Entlastungsbestrebungen anzuerkennen. Solche Entlastungen stehen im strikten Kontrast zu der oftmals beschriebenen, vermeintlichen Apathie, Politikverdrossenheit oder alteuropäischen Ermüdung. Zum einen sind sie nicht Ausdruck der Passivität. Entlastung ist nicht gleichbedeutend mit Enthaltung. Im Unterschied zur Meinungsenthaltung hält der Selbsttäuscher eine Meinung für wahr und ist geradezu übertrieben von ihrer Wahrheit überzeugt; er verteidigt hartnäckig sein bequemes Weltbild, das er sich bezüglich Gerechtigkeitsfragen zurechtlegt. Zum anderen verweigert die Selbsttäuschungsdiagnose dem Kli-
7
Selbsttäuschungen solcher Art tragen laut Joseph Stiglitz (2010) eine Teilverantwortung für die Finanzkrise von 2008. Liebgewonnene Ökonomiemodelle, aber auch die Überzeugungen von Marktteilnehmern (Kreditgebern und -nehmern) verhinderten, überhöhte Risiken zu sehen, die angesichts des Forschungs- und Erkenntnisstandes hätten gesehen werden können.
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schee die Gefolgschaft, nur Benachteiligte begnügten sich mit trivialen, voreingenommenen und verzerrten Ansichten. Vorurteile und eindimensionale Welterklärungen machen vor sozialen Unterschieden nicht Halt. Teilnehmer an der Meinungs- und Willensbildung geben sich nicht nur jenseits von Universitäten, Kirchen und Parteien mit einfachen Erklärungsangeboten zufrieden. Kognitive Entlastungen laufen quer zur Trennlinie zwischen den Lernbedürftigen auf der einen Seite und den intellektuellen, politischen und sozialen Eliten auf der anderen. Akteure willigen in kognitive Entlastungen ohne Not oder Zwang ein; sie werden deshalb auch durch keine Bildungsinitiative oder Lernmaßnahme aufgefangen. Man mag die Diagnose von Selbsttäuschungen theoretisch bedauern. Sie ist freilich kein Wunschergebnis, aber das Festhalten an einer starken These, nur weil sonst der Boden dünner wird, kann wohl kaum eine Alternative sein. Heideggers Demokratiekritik motiviert sich aus der Diagnose von Selbsttäuschungen und der Annahme, dass Demokratien ihrer nicht Herr werden können. Um der Selbsttäuschungsdiagnose Rechnung zu tragen und zugleich Heideggers Demokratieskepsis zu entkräften, muss dargelegt werden, weshalb Demokratien zur Kritik an Selbsttäuschungen durchaus in der Lage sind. Zuvor aber soll Heideggers eigener Vorschlag erörtert werden, was Selbsttäuschungen entgegengesetzt werden kann.
II. W AHRHEIT
UND
S PRACHE
BEI
H EIDEGGER
Die Diagnose von Selbsttäuschungen hat zur Folge, dass erklärt werden muss, wie sich eine Wahrheitsorientierung überhaupt einstellt, indem sie an die Stelle von Selbsttäuschungen tritt. Dabei stoßen wir auf eine eigentümliche Schwierigkeit. Die Wahrheitsorientierung stellt das erste Grundprinzip dar, demgegenüber das Unwahre kein gleichrangiges Prinzip, sondern dem Wahrheitsvorrang untergeordnet ist. Die kognitive Entlastung, die aus Freiheit hervorgeht, ist dennoch keine bloße Dysfunktion oder akzidentielle Verfehlung, sondern ein selbständiges Prinzip. Wahrheitsorientierung und Selbsttäuschung stehen sich als selbständige Prinzipien gegenüber. Oder wie Heidegger sich ausdrückt: »Das Dasein ist gleichursprünglich in der Wahrheit und Unwahrheit.« (1977: 295) Dennoch gebührt der Wahrheit ein Vorrang. Wahrheitsorientierung und Selbsttäuschung sind demnach selbständige, aber nicht gleichrangige Prinzipien. Heidegger entwirft zwei Modelle für die Ermöglichung eines Wahrheitsvorranges. In Sein und Zeit wird erstens die Auffassung einer zeitlich entstehenden Wahrheitsorientierung unter der Leitfigur einer »Temporalität des Seins« (1977:
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26) und als das Programm avisiert, »Sein aus der Zeit« (ebd.: 25) zu begreifen. Der Wahrheitsvorrang ist ein Erstes (Sein) und zugleich selbst ein Gewordenes (Zeit). Wahrheitsorientierungen sind somit keine Aktualisierungen einer bereits bestehenden Möglichkeit, deren Verwirklichung ein inneres Ziel ist und nur durch äußere Umstände akzidentiell verhindert wird. Die Möglichkeit des Wahrheitsvorranges ist nicht zeitlos, sondern entsteht selbst in der Zeit. Der Wahrheitsvorrang ist ein Sein, dessen Möglichkeit selbst erst wird. Heideggers Gedankenfigur der sogenannten Gleichursprünglichkeit beschreibt eine solche Möglichkeit, die ihrer Wirklichkeit weder logisch vorausgeht noch zeitlich folgt. Die Möglichkeit entspringt vielmehr mit der Wirklichkeit, ohne dass die Wirklichkeit – aristotelisch gedacht – einen Vorrang bereits besitzt. Die Ermöglichung eines Wahrheitsvorranges wird von Heidegger zweitens anhand des Bildes eines Streits beschrieben. »Wahrheit west nur als der Streit zwischen Lichtung und Verbergung« (2003: 50; vgl. 41 f.; 48). Heidegger umschreibt den »Streit« (1989: 413) zudem als Gegenwendigkeit: Wahrheit ist »das Gegenwendige von Lichtung und Verbergung« (2003: 49). Das Recht der Annahme einer selbständigen Gegenkraft zu Wahrheitsorientierung beruht auf der Freiheit, mit der in Selbsttäuschungen ohne Not und Zwang einfachen Antworten ein Vorzug gegeben wird. Als zwei selbständige Kräfte stehen sich Wahrheitsorientierung und Selbsttäuschung im Streit miteinander gegenüber. Ein Wahrheitsvorrang wird demnach begreiflich gemacht, indem erklärt wird, weshalb die Wahrheitsorientierung im Streit sozusagen die Oberhand gewinnt. Zum Bedeutungshof der Streit-Metapher Heideggers gehört wesentlich die Kontingenz. Der Streit zwischen zwei selbständigen Kräften wird als ein Konflikt ausgetragen, dessen Ausgang offen ist. Der Vorrang des Seins gegenüber dem Schein steht von vornherein nicht fest, sondern ereignet sich, wenn er denn eintritt, unberechenbar und unvorhergesehen. Der Vorrang der Wahrheit bleibt ungewiss, weil nicht als ausgemacht gilt, dass die Wahrheitsorientierung die Oberhand gewinnt. Nicht auszuschließen ist, dass stattdessen – wie in der Selbsttäuschung – dem Schein ein Vorzug gegeben wird. Die Verknüpfung des Wahrheitsvorranges mit Kontingenz ist das unverwechselbare Kernmerkmal von Heideggers Wahrheitstheorie. Worauf aber beruht das Recht, die Wahrheitsorientierung mit Kontingenz auszustatten? Eine Wahrheitsausrichtung, die weder gemäß einem Gesetz verursacht noch durch Gründe motiviert wird, entzieht sich einer Kausalerklärung und Begründung. Sie ereignet sich vielmehr mit einem Rest von Kontingenz, der sich durch keine erkenntnistheoretische Aufklärung wegargumentieren lässt. Aus Heideggers Einsicht ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, die Kontingenz der Wahrheitsausrichtung von Zufall und Willkür abzusetzen. Die Wahrheitsausrich-
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tung entspringt zwar einer kontingenten Erfahrung. Sie geschieht dennoch nicht zufällig oder willkürlich. Ihr kontingentes Inkrafttreten ist keine Laune des Schicksals. Für eine solche Kontingenz, die von Zufall, Willkür und Schicksal verschieden ist, steht bei Heidegger der Ereignisbegriff ein. Die Konzeption des Ereignisses soll dem Kontingenzcharakter der Wahrheitsausrichtung auf eine Art gerecht werden, die ihn zugleich von Zufall und Willkür zu unterscheiden erlaubt. Die Kontingenz wird von Willkür und Zufall unterscheidbar, wenn sich die Bedingungen angeben lassen, unter denen Selbsttäuschungen vermieden werden und an ihre Stelle eine Wahrheitsorientierung tritt. Diese Bedingungen werden von Heidegger als Praxisformen der Sprache beschrieben. Sprachliche Praktiken generieren Wahrheit, sofern sie grundsätzlich eine Haltung ermöglichen, in der sich die Dinge unverstellt zeigen. Heideggers Sprachkonzeption liegt hier das Modell der Gleichursprünglichkeit von Möglichkeit und Wirklichkeit zugrunde. Die Gedankenfigur der Gleichursprünglichkeit beschreibt eine Möglichkeit, die der Wirklichkeit weder vorausgeht noch folgt, sondern mit der Wirklichkeit entspringt. Das Zugleich von Wirklichkeit und Möglichkeit besagt, dass mit dem Denkanstoß in eins die Möglichkeit geschaffen wird, empfänglich für den Anstoß zu sein. In der Erfahrung wird das Vermögen, sie machen zu können, zugleich mit erzeugt. Es wird also kein Vermögen bloß aktualisiert oder nur entriegelt, das bereits gegeben, aber blockiert ist. Die Erfahrung schafft vielmehr ihre Zugänglichkeit mit, macht zugleich frei für sie. Im Zentrum von Heideggers Sprachphilosophie steht deshalb das Phänomen eines Ansprechens, das ein Sichansprechenlassen – das »Sichsagenlassen« (1985a: 169 f.) und »Hörenkönnen« – gleich mit erzeugt: »Alles Sagen muß das Hörenkönnen mitentspringen lassen. Beide müssen des selben Ursprungs sein.« (1989: 78; vgl. 422)8 Die Gleichursprünglichkeit betrifft ein Sprachvermögen, das jemand zugänglich für eine unvertretbare Beurteilung macht, von der er sich zu entlasten strebt. Sprachpraktiken geben einen Denkanstoß und erzeugen zugleich die Bereitschaft mit, sich auf ihn einzulassen. Die Sprachpraktiken zeichnen sich durch den Selbstzweck ihrer Darstellung aus. Ihr Selbstzweck ermöglicht, dass die Darstellung zugleich eine Offenheit für sie schafft. Der Selbstzweck deskriptiver Darstellungen setzt einen Sinnüberschuss frei, der das Darstellen im Dargestellten nicht aufgehen lässt. In solchen Darstellungen wird nichts mitgeteilt, was sich unabhängig von der Art ihrer Mitteilung – wie es gesagt wird – sagen ließe. Dieser Überhang selbstzweckmäßiger
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Siehe zu Eigenschaften des Hörens: Espinet (2009).
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Darstellung vermag Befangenheiten zu lösen; wenngleich dies nicht erzwungen werden kann. In autotelischen Sprachpraktiken wird etwas zur Darstellung gebracht nicht aufgrund von kommunikativen, normativen oder kognitiven Absichten, sondern durch die innere Logik der Darstellung, in der etwas sich zeigt. Die Darstellung folgt der Logik eines Darstellens, das Sachverhalten einen Ausdruck frei von Mitteilungsgehalten leiht. Ihre Darstellung dient keinem Zweck des Überzeugens oder Überredens und drängt sich deshalb nicht auf. Aber ebendiese selbstgenügsame Zurückhaltung ermöglicht es, Denkgewohnheiten zu unterlaufen und uns für das, was vor ihrer Schwelle verharrt, zu öffnen. Dies gelingt jedoch nicht aufgrund irgendeines kritischen Anspruchs, den man vor sich herträgt. Es ist gerade der Verzicht auf Mitteilungsabsichten, der den Adressaten, nur scheinbar paradox, zugänglich für die Darstellung macht. Auf den Selbstzweck, den autotelischen Charakter der Sprachpraxis, verweist Heideggers Redeweise »die Sprache spricht«. Die sprachliche Darstellung dient weder der Mitteilung noch der Überzeugungsabsicht, sondern vollzieht sich um ihrer selbst willen. Das Kunstwerk verkörpert geradezu die autotelische Darstellungsform. »Die Kunst läßt die Wahrheit entspringen« (2003: 65; Herv. TW) – so Heidegger in Der Ursprung des Kunstwerkes –, wenn im Kunstwerk eine sprachliche Darstellung gelingt, deren Zweck in ihr selbst liegt. Die Kunstfertigkeit der autotelischen Sprachform nennt Heidegger den Stil der »Verhaltenheit« (1989: 33; 69; 2003: 54; 1985: 166). Die Verhaltenheit gilt den Überzeugungsabsichten. Heidegger beschreibt sie als einen Verzicht auf kommunikative, epistemische oder motivationale Absichten. »Das Verzichten [ist] eine Weise des Sagens.« (1985b: 210; vgl. 215 f.)9 Die Darstellung verfolgt weder das Ziel, die Ansicht eines Autors zum Ausdruck zu bringen, noch den Leser oder Hörer von einer Sichtweise zu überzeugen. Sie trifft auf keine bereits bestehende Haltung der Aufmerksamkeit. Vielmehr muss sie deren Möglichkeit – das »Hörenkönnen« – selbst hervorbringen. Der Darstellung korrespondiert keine Aufgeschlossenheit. Sie hat diese im Sinne einer Gleichursprünglichkeit von Möglichkeit und Wirklichkeit zugleich mit zu erzeugen. Sie muss die Selbsttäuschung aushebeln und an deren Stelle eine Offenheit treten lassen. Diese Sprengkraft speist sich nach Heidegger aus dem Selbstzweckcharakter der Darstellung. Dort, wo man sich mit einfachen Antworten zufrieden gibt, wird die Empfänglichkeit für die Darstellung durch den Verzicht auf eine Mitteilungs- und Überzeugungsabsicht eröffnet. Das Kunstwerk befähigt zu einer Aufmerksamkeit für Bedeutsames, von der sich die Angesprochenen ansonsten entlasten. Der Stil der Ent-
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Siehe zum Verzicht: Heidegger (1985a: 157-159); Heidegger (1985b: 210-223).
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haltsamkeit schafft somit die Aufgeschlossenheit für etwas, wofür die Angesprochenen zunächst nicht zugänglich sind.
III. K RITIK
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Eine Kritik an Heidegger ist nur dann erfolgsversprechend, wenn sie die Frage rettet, auf die seine Philosophie eine Antwort sein will. Welche politische Ordnung trägt dem Umstand Rechnung, dass Bürgerinnen und Bürger ihre Legitimation einsehen können müssen und sie sich zugleich durch die Freiheit auszeichnen, sich von Erkenntnis entlasten und sich mit einfachen Antworten zufrieden geben zu können? Eine rettende Kritik richtet sich gegen dreierlei: erstens die Dichotomie von Urteil und Sprachpraxis; zweitens die Annahme eines Erkenntnisprivilegs, das dem Denken und Dichten vorbehalten ist; und drittens den Entwurf der Seinsgeschichte. Erstens zielt die Kritik auf Heideggers künstliche Dichotomie zwischen traditionellem Wahrheitsbegriff und ursprünglichem Wahrheitsphänomen. Zum einen vermischt Heidegger, wie er in der späten Selbstkorrektur von Zeit und Sein eingesteht (vgl. 2007b: 85 f.), die Ermöglichung von Wahrheit – die wahrheitsverbürgenden Bedingungen der Sprachpraxis – und die von ihnen ermöglichte Wahrheit – wahre Urteile. Zum anderen überreizt Heidegger mit der Entgegensetzung von Urteil und Sprachpraktiken die richtige Intuition, dass das selbstzweckhafte Sprachgeschehen die Quelle einer Wahrheitsorientierung ist, die der Selbsttäuschung entgegensteht. Die Gegenüberstellung von Aussage und Sprachgeschehen verleitet Heidegger jedoch zu zwei Fehlschlüssen.10 Heidegger setzt erstens den Verzicht auf Mitteilungs- und Überzeugungsabsichten in eins mit dem Verzicht auf Argumente. Das Nennen von Argumenten ist indes nicht
10 Ernst Tugendhats Kritik an Heideggers Wahrheitsbegriff zielt zu Recht auf dessen Trennung von Aussage und wahrheitsermöglichenden Sprachpraktiken. In dieser Hinsicht trifft Tugendhats Kritik zu, Heidegger löse den Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Wahrheit in letzter Konsequenz auf. Allerdings schießt Tugendhats Kritik auch über ihr Ziel hinaus. Tugendhat betrachtet Gründe nicht nur als notwendige, sondern als hinreichende Bedingung, unter der ein Wahrheitsvorrang (bei Tugendhat: intellektuelle Redlichkeit) begreiflich wird. Dieser Internalismus verkennt das Erfordernis eines Externalismus, demzufolge unabhängig von den Gründen, die für den Akteur gelten, ein Wahrheitsvorrang in Kraft treten kann. Siehe zur Kritik an Tugendhats Heideggerdeutung u. a.: Gethmann (1989); Willer (2006); Steinmann (2008).
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gleichbedeutend mit einem Mitteilen- und Überzeugenwollen, das vielmehr nur eine sehr direkte Weise des Vorrechnens und Aufzählens von Argumenten ist. Argumente können um ihres Genanntseins willen geäußert werden, wenn man ein Argument sozusagen anführt, um es beim Namen zu nennen. Dieses Nennen der Gründe steht nicht nur nicht dem Sprachgeschehen entgegen, sondern ist eine eigene Form, in der sich das selbstzweckhafte Sprachgeschehen realisiert. Heidegger konstruiert zweitens den Unterschied zwischen der Aussageform und dem Sprachgeschehen zu einem sich ausschließenden Gegensatz. Das »Sagen vom Ereignis in der Weise eines Vortrags« ist ein »Hindernis«, weil hier »nur in Aussagesätzen gesprochen« (2007a: 30) wird. Ein rhetorischer, dialogischer oder ästhetischer Rahmen, in dem Aussagesätze ein zusätzliches Gewicht erhalten, ist Heidegger zu wenig. Die assertorische Form scheint für Heidegger vielmehr an sich unlösbar verknüpft mit epistemischen, ethischen und kommunikativen Absichten zu sein, ganz gleich in welchem Rahmen sie stehen. Damit schürt er die Erwartung, das selbstzweckhafte Sprachgeschehen bedürfe eines »Wandels der Sprache« (1985c: 255) und einer anderen Sprachform, welche die Aussageform nicht bloß ergänzt, sondern ersetzt. »Die Befreiung der Sprache aus der Grammatik in ein ursprünglicheres Wesensgefüge ist dem Denken und Dichten aufbehalten.« (2004b: 314) Die Suche nach einer anderen, nichtassertorischen Sprachform führt Heidegger deshalb hinter die sprachinterne Rationalität zurück, als sei auf Aussagen, Argumente und Diskurse Verzicht zu leisten. Die Kritik entzündet sich zweitens an Heideggers Ansicht vom Erkenntnisprivileg, das Dichtern und Denkern vorbehalten ist. Weil Selbsttäuschungen aus Freiheit hervorgehen, können sie von ihren Akteuren nicht selbst revidiert werden. Deshalb bedarf es einer Zwischeninstanz, die ihre Entlastungshaltungen durchlässig werden und in phänomengerechte Betrachtungen übergehen lässt. Für Heidegger nun besteht diese Zwischeninstanz in dem philosophischen Metawissen um die Entlastung, die von Wissenschaft und Technik im Besonderen und Metaphysik im Allgemeinen ausgeht. Scheinbar setzt der Abbau von Selbsttäuschungen voraus, dass sie als das, was sie sind, von ihren Akteuren erschlossen werden. Deshalb sind, jedenfalls nach Heidegger, die Analysen ihrer Erscheinungsweisen in Technik und Wissenschaft und ihrer Ursache – des Seinsprinzips der Metaphysik – unerlässlich. Sofern die Prinzipienbetrachtung traditionell zu den Aufgaben der Philosophie zählt, fallen die Analysen des Prinzips des Erkenntnisvorranges in das Themenfeld der Philosophie. Und deshalb nimmt die Philosophie die Zwischeninstanz ein. Das philosophische Metawissen ist, so ist einzuwenden, ein unnötiger Umweg. Die Zwischeninstanz wird nicht von der Darstellung der Selbsttäuschung – ihrer Symptome und Ursachen – eingenommen, sondern von der Kritik, wie es
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sich stattdessen verhält. Verzerrte Sichtweisen können einer angemessenen Beurteilung schon deshalb weichen, weil der von ihr verstellte Sachverhalt richtig gestellt wird. Nicht die Selbsttäuschung als solche, sondern der von ihr verstellte Sachverhalt wäre dem Betroffenen aufzuschließen. Die philosophischen Analysen der Selbsttäuschungen und ihrer Ursachen gehen insoweit einen Umweg. Vielmehr hat Kritik direkt den Sachverhalt zur Sprache zu bringen, dessen Einsicht jemand meidet. Nicht die Entlastung als solche, sondern der Sachverhalt, von dessen Verständnis man sich entlastet, ist ausdrücklich zu machen. Der Weg zu einer Wahrheitsorientierung führt nicht über eine weit ausgreifende ›Destruktion‹ oder ›Verwindung‹ der Geschichte der Metaphysik, sondern über die Kritik je konkreter Verzerrungen. Der Umweg drückt sich sinnfällig in Heideggers Zug aus, dass jede Zustandsbeschreibung im Medium von Erläuterungen zur Metaphysik, Geschichte und Wahrheit erfolgt. Heideggers Motiv dafür, die Zwischeninstanz auf einer philosophischen Metaebene anzusiedeln, rechtfertigt sich für ihn aus seiner Auffassung von Seinsgeschichte. Das metaphysische Prinzip des Erkenntnisvorranges entlastet zunehmend von Werturteilen und wirkt als eine geschichtliche Invarianz. Die Herrschaft dieses Prinzips, so Heidegger, verhindert solange eine Korrektur an Selbsttäuschungen, wie das invariante Prinzip nicht außer Kraft gesetzt ist. Die herrschende Entlastungstendenz wird aber ebenso wenig wie die Metaphysik – eine invariante Geschichte – einfachhin beseitigt. Ein Rest von Handlungsspielraum besteht, jedenfalls nach Heidegger, einzig noch darin, dem Prinzip des Erkenntnisvorranges seine Selbstverständlichkeit zu nehmen. Deshalb gelingen Zustandsbeschreibungen laut Heidegger nur im Verbund mit der Einsicht in das metaphysische Prinzip als ein solches, die vom Dichten und Denken zu leisten ist. Die dritte Stoßrichtung der Heidegger-Kritik zielt auf die seinsgeschichtliche Umschlagsfigur der Kehre. Dieselbe Gefahr, die aus der Technik und Wissenschaft erwächst, schlägt in eine rettende Wahrheitsorientierung um, die der Gefahr entgegenwirkt. Technik und Wissenschaft erzeugen eine Entlastung und – jedenfalls nach Heidegger – ermöglichen zugleich eine Wahrheitsorientierung, die an ihre Stelle tritt. Auf die Umschlagsfigur, die sich menschlicher Einflussnahme entzieht, verweist der oft zitierte Satz aus dem Spiegel-Gespräch »Nur noch ein Gott kann uns retten.« (2000a: 671; Herv. TW) Die theologisch aufgeladene Umschlagsfigur setzt die Annahme voraus, dass sich eine Wahrheitsorientierung aus keinerlei menschlichem Vermögen festigen kann. Diese Voraussetzung ist jedoch in zweierlei Hinsicht nicht zwingend. Zum einen totalisiert Heidegger das menschliche Sicherheitsbedürfnis zu einer geschichtlichen Konstante. In Entsprechung zu seiner Metaphysik-Deutung veranschlagt Heidegger die Domestizierung unvertretbarer Werturteile durch die
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(vermeintlich) gesicherte Erkenntnis der Wissenschaft und Technik als ein bzw. das konstante Prinzip in der Geschichte. Dieses Prinzip sei zugleich Ursache für die Not, Gefahr und Bedrohung in der Geschichte und Gegenwart. Zwar trifft Heideggers Deutung des zunehmenden Sicherheitsstrebens zu, das auf einen wachsenden Legitimationsdruck zurückgeht, den die Erfolgsgeschichte der Wissenschaft und Technik ausübt. Aber diese Tendenz ist mitnichten gleichbedeutend mit der Notwendigkeit, dass wir nicht anders könnten, als dem Sicherheitsstreben einen Vorrang zu geben. Zum anderen wird die Entlastung von unvertretbaren Deutungen des eigenen endlichen Lebens zugunsten der Wissenschaft und Technik von Heidegger zu einer geschichtlichen Tendenz totalisiert, die sich der Menschen zunehmend bemächtigt. Die unter dem Druck der Wissenschaft und Technik entstehende Entlastungsneigung und ihre geschichtliche Zunahme werden von Heidegger zu einem unentrinnbaren Verhängnis mystifiziert, als könnten Menschen niemals anders, als sich von einer dauerhaften Wahrheitsorientierung zu entlasten und sich auf einfache Antworten zu verlegen. Beide Prämissen werden in Heideggers Umschlagsfigur vorausgesetzt. Nur wenn eine dauerhafte Wahrheitsorientierung aus keinerlei menschlichem Vermögen entspringen kann, nur dann ist die Behauptung aufrechtzuerhalten, dass es eines »nicht menschlichen« (1989: 329) Geschicks im Sinne eines geschichtlichen Umschlags bedarf, damit sich eine Wahrheitsorientierung stabilisiert (vgl. 1994: 69; 2000b: 35). Heideggers Totalisierung der Selbsttäuschung zur zunehmenden Geschichtstendenz verleitet ihn dazu, die nominelle Unterscheidung zwischen Selbsttäuschung und Irrtum – zwei systematisch verschiedene Grundformen der Täuschung – der Sache nach zu verschleifen. Als geschichtliche Konstante gleicht Heidegger die Selbsttäuschung ungeachtet ihres Freiheitsmoments dem Irrtum – der »Irre« und den »Verstrickungen« (2004a: 197) – an und lässt insoweit außer Betracht, dass sich der Irrtum stets unfreiwillig und gegen ein Wahrheitsinteresse geltend macht.
IV. Z IVILGESELLSCHAFT
STATT
G EISTESGEMEINSCHAFT
In der Demokratietheorie fallen drei Einsichten Heideggers auf fruchtbaren Boden. Erstens müssen Demokratien der Diagnose von Selbsttäuschungen – von trivialen, voreingenommenen und verzerrten Meinungen – Rechnung tragen. Demokratien verdanken ihre Legitimation mitunter der rationalisierenden Kraft, Selbsttäuschungen die Stirn zu bieten. Die Verbindung von Demokratie mit einer Kritik an Selbsttäuschungen gehört zu den Grundgedanken der Demokratietheorie von Jürgen Habermas. Die politische Öffentlichkeit verdankt ihre rationali-
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sierende Kraft, reflektierte Meinungen gegenüber trivialen, voreingenommen und verzerrten Meinungen herauszufiltern, der dezentrierenden Rationalität des Diskurses in der Zivilgesellschaft und Lebenswelt. Die rationalisierende Kraft speist sich aus der Verständigungsorientierung, die von den sprachlichen Praktiken der Kommunikation verkörpert wird. Die diskursive Erzeugung von rationalen Resultaten wird von bestimmten Standards ermöglicht, die den Kommunikationspraktiken unvermeidlich innewohnen. Stillschweigend unterstellen sich die Akteure in der diskursiven Praxis wechselseitig, dass diese rationalen Standards erfüllt werden. Solche Standards werden bereits in der Alltagspraxis faktisch vorausgesetzt und lassen sich als Bedingungen rekonstruieren, unter denen die anspruchsvollere Verständigung über die Geltung moralisch-praktischer Normen stattfindet. Diskurse verdanken ihre Kraft, rationale Ergebnisse zu erzeugen, den Ansprüchen auf Inklusion, Gleichheit, Zwanglosigkeit und Wahrhaftigkeit, die den Kommunikationspraktiken innewohnen. Dass der Prozess der demokratischen Meinungs- und Willensbildung rationale Resultate generiert, hängt insbesondere von der »Kraft zur Kritik an Selbsttäuschungen« (Habermas 1999: 311) ab, die von der Wahrhaftigkeitsvoraussetzung ausgeht (vgl. Habermas 2005: 55). Denn sie sorgt dafür, dass irrationale Überzeugungen sich im Netz der Kritik verfangen und aussortiert werden, damit nur begründete Überzeugungen die Schwelle zur demokratischen Entscheidungsfindung passieren. Nur, so ist gegen Habermas einzuwenden, erklärt sich diese kontrafaktische Macht der Kommunikation nicht aus den pragmatischen Argumentationsvoraussetzungen, die im Diskurs immer schon und unentrinnbar als faktische Geltungsansprüche wirksam sind. »Im Verlauf der kommunikativen Alltagspraxis bewegen sich die Akteure immer schon in einem ›Raum der Gründe‹. Sobald sie sich miteinander über etwas verständigen wollen, können die Beteiligten gar nicht anders, als für ihre Äußerungen gegenseitig Geltungsansprüche zu erheben.« (Habermas 2008: 149)
Entweder wollen sich die Teilnehmer miteinander verständigen und um das bessere Argument wetteifern; dann aber liegt keine Selbsttäuschung vor. Oder jemand gibt sich in der Tat mit einfachen Antworten zufrieden; dann kann er aber durchaus anders, als sich mit Geltungsansprüchen zu konfrontieren. Wer sich von Argumenten nicht beeindrucken lässt, wird nicht durch den erhöhten Druck, Argumente wichtig zu nehmen, umgestimmt. Dieses Rationalitätsverständnis unterschätzt die resistente Kraft von Selbsttäuschungen und die Möglichkeit, einen Rechtfertigungsdruck durch Vereinfachungen kompensieren zu können. Die Frage ist doch vielmehr die, wie jemand, der sich im Gespräch von einer Wahr-
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heitsorientierung entlastet, trotzdem durch das Gespräch zu derselben bewegt werden kann. In einer durch Selbsttäuschung verzerrten Kommunikation wird die Bereitschaft, Begründungsansprüche anzuerkennen, eben nicht vorausgesetzt, sobald man in das Gespräch eintritt. Vielmehr wird die Bereitschaft, sich auf Argumente einzulassen, kraft der Kommunikation erst erzeugt. Für die Demokratietheorie kann zweitens Heideggers Gedanke der Sprachpraktiken fruchtbar gemacht werden, die zu einem Verzicht auf Selbsttäuschungen befähigen. Im Unterschied zu Heidegger müssen solche Sprachpraktiken jedoch entgrenzt werden. Quelle der Kritik an Selbsttäuschungen sind nicht das Dichten und Denken, sondern die lebensweltlichen Sprachpraktiken der Kunst, Kultur und Kommunikation.11 Damit tritt die sprachlich verfasste Lebenswelt von Bürgerinnen und Bürgern an die Stelle der Geistesgemeinschaft von Dichtern und Denkern. Schranken müssen in Bezug auf Heideggers eingeschnürten Sprachbegriff gleich in zwei Richtungen fallen. Zum einen zielt der Einwand auf die spürbare Enge von Heideggers Begriff der Kunst und die Vorstellung, allein die Dichtung, zumal in ihrer dunkelsten Ausprägung bei Hölderlin, befähige zur Offenheit. Hier liegt der Schluss nahe, das Spektrum der Spracherfahrungen innerhalb der Kunst – die bei Heidegger auf Lyrik zugeschnitten wird – beispielsweise um Aspekte der Narrativität oder Werke der Musik zu erweitern. Zum anderen legt die Skepsis gegen den Alleinvertretungsanspruch der Dichtung den Schluss nahe, Sprachpraktiken außerhalb der Kunst in Betracht zu ziehen. Als rationalisierende Sprachpraktiken gelten ebenso bestimmte Praktiken der Kultur und der Kommunikation; wobei ausdrücklich bestimmte Gebilde der Populärkultur eingeschlossen sind. Der zivilgesellschaftliche Hintergrund setzt sich aus dem vorinstitutionellen Geflecht künstlerischer, (populär-)kultureller und kommunikativer Sprachpraktiken der Lebenswelt zusammen. Eine dritte Herausforderung für die Demokratietheorie stellt Heideggers Einsicht in die Kontingenz der rationalisierenden Kraft dar. Die Verschiebung von der Geistesgemeinschaft zur Zivilgesellschaft lässt die Beobachtung unberührt, dass aus den Sprachpraktiken nur kontingenterweise rationalisierende Effekte entspringen. Die lebensweltlichen Sprachpraktiken haben ihren Ort im Vorpolitischen. Damit der demokratische Prozess der Meinungs- und Willensbildung rationale Entscheidungen hervorbringen kann, bedarf es der Vorleistung von Sprachpraktiken einer vorpolitischen Lebenswelt. Die Sprachpraktiken gehören einem vorpolitischen Raum an, weil sie nicht durch Initiativen des Gesetzgebers hervorgebracht werden können. Weder die staatlich garantierten Bildungsein-
11 Siehe hierzu und zum Folgenden: Wesche (2011).
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richtungen noch der durch Privatheit rechtlich geschützte Kommunikationsraum der Familie sind hinreichende Bedingungen, um triviale, voreingenommene und verzerrte Meinungen zu verhindern. Sprachpraktiken können zwar ermöglichen, dass man auf einfache Antworten verzichtet. Sie können diesen Verzicht jedoch nicht erzwingen. Letztlich liegt es in der eigenen Hand jedes Bürgers, ob er sich mit trivialen, voreingenommenen und verzerrten Meinungen begnügt oder ob er reflektierten Meinungen einen Vorrang einräumt. Das politische Demokratiegefüge verdankt seine Effizienz letzten Endes einer vorpolitischen Grundlage von lebensweltlichen Sprachpraktiken, die ihre rationalisierenden Effekte nicht ohne einen Rest von Kontingenz zu erzielen vermögen. Die legitimationsstiftende Kraft der Demokratie hängt von Ressourcen lebensweltlicher Sprachpraktiken ab, die mit Kontingenz behaftet sind und von politischen Ordnungen selbst nicht hervorgebracht werden können.12 Dass Demokratien von kontingenten Grundlagen abhängen, die sie nicht selbst reproduzieren können, ist für Heidegger Grund genug, eine skeptische Haltung ihnen gegenüber einzunehmen. Zwar hängt die Legitimation demokratischer Entscheidungen mit davon ab, ob sie von Verfahren erzeugt werden, die in der Lage sind, Selbsttäuschungen einzudämmen. Das Recht demokratischer Ordnung steht und fällt jedoch nicht mit dieser Aufgabe. Demokratische Entscheidungen besitzen entweder eine schwache Legitimation und werden nur geduldet. Oder sie besitzen eine starke Legitimation und werden sogar gutgeheißen. Wird letzteres verfehlt, weil Entscheidungen von Selbsttäuschungen beeinflusst werden, so verfällt nicht das grundsätzliche Recht der Demokratie, das eben auch auf Gleichheit, Zwanglosigkeit und Inklusion der politischen Selbstbestimmung beruht. Heidegger zieht damit den Unterschied zwischen politischer Ordnung und philosophischer Begründung ein und, in Adornos Worten, ontologisiert das Ontische. Demokratien sind imstande, Selbsttäuschungen die Stirn zu bieten, indem sie für sozioökonomische Bedingungen sorgen, unter denen die lebensweltlichen Sprachpraktiken ihre rationalisierende Kraft entfalten. Instrumentelle Marktimperative können zunehmend den Selbstzweckcharakter der lebensweltlichen Sprachpraktiken überlagern. Ihre instrumentelle Domestizierung trocknet die Ressourcen aus, aus denen sich der rationalisierende Effekt für die demokratische Meinungs- und Willensbildung speist. Darüber hinaus stellt sich die Frage nach der Reichweite der lebensweltlichen Sprachpraktiken und danach, ob und, falls ja, inwieweit sie sich etwa auf den Bereich der Wirtschaft übertragen las-
12 Eine interessante demokratietheoretische Deutung von Heideggers These, dass Demokratien ihre Ressourcen unverfügbar seien, gibt Thomä (2007).
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sen. Es wäre eine Überlegung wert, wo den lebensweltlichen Sprachpraktiken ein Ort auch in der Marktsphäre gegeben und ihre rationalisierende Kraft für die gemeinsame Deliberation von Marktakteuren fruchtbar gemacht werden könnte. Das institutionelle Design, das ihr einen Raum bietet, ist wohl am ehesten die Wirtschaftsdemokratie.13 Marktteilnehmer begegnen sich hier als gleichberechtigte Eigentümer im privat organisierten Produktionsprozess und verständigen sich deshalb auf Augenhöhe über gemeinsame Ziele und Vorstellungen des guten Lebens. Die Zumutungen der instrumentellen Interaktion nach Maßgabe der generalisierten Verwertungslogik leisten den trivialen, voreingenommenen und verzerrten Vorstellungen über das guten Leben Vorschub, weil sie den Zugang zu den eigenen Glücksvorstellungen zunehmend verengen. Unter den Bedingungen der Wirtschaftsdemokratie kooperieren dagegen gleichberechtigte Marktteilnehmer, um über gemeinsame Ziele zu beratschlagen. Damit wird überhaupt erst ein Kommunikationsraum errichtet, in dem sich die Marktakteure je unvertretbar und gemeinsam miteinander über Vorstellungen des guten Lebens auf eine Art verständigen können, dass sich die Imperative der Verwertungslogik nicht von vornherein über die Verständigung schieben, die zum Selbstzweck erfolgt. Die wirtschaftsdemokratischen Rahmenbedingungen schaffen somit möglichst günstige Voraussetzungen, unter denen es gelingen kann, die rationalisierende Kraft der lebensweltlichen Sprachpraktiken innerhalb der Marktsphäre anzuzapfen.
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13 Siehe zur neu einsetzenden Debatte über die Wirtschaftsdemokratie: Schweickart (1996); über das gute Leben: Dörre/Lessenich/Rosa (2009); Martens (2010). Neben der Demokratisierung der Kontrolle und Nutzung des Produktionsprozesses zählt zu den Errungenschaften der Wirtschaftsdemokratie auch, so wäre in der Debatte zu ergänzen, der Beitrag, den sie zur Rationalisierung der Meinungs- und Willensbildung und damit für den politischen Legitimationsprozess insgesamt leistet.
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Linksheideggerianismus? O LIVER F LÜGEL -M ARTINSEN
Martin Heidegger hat keine politische Philosophie vorgelegt. Dies ist zunächst in dem ganz banalen Sinne zu verstehen, dass sich in Heideggers umfangreichem philosophischen Werk kein Entwurf einer politischen Philosophie, ja auch keine eigenständige Arbeit zu Fragen der politischen Philosophie findet. Diese äußerlichen Umstände müssen mitnichten bedeuten, dass Heideggers Denken nicht dennoch von großem Gewicht für das politische Philosophieren sein könnte. Immerhin kann ein Denken, in dessen Rahmen keine politische Philosophie ausgearbeitet ist, dennoch von großem Anregungsreichtum für die politische Philosophie sein. Es kann gewissermaßen eine politische Philosophie implizieren oder wenigstens inspirieren. Das wird insbesondere in einem Strang der kritischen politischen Theoriebildung der Gegenwart mit Blick auf Heideggers Denken offensichtlich ganz entschieden so gesehen. So stützt Chantal Mouffe ihre hegemonietheoretischen Überlegungen zu einer agonalen Demokratie in den grundbegrifflichen Ausrichtungen auf Heideggers ontologische Differenz (vgl. Mouffe 2007: Kap. 2) und Oliver Marchart liest in einer gewichtigen jüngeren Studie die neueren Strömungen der kritischen politischen Philosophie insgesamt im Lichte einer vorsichtig als linksheideggerianisch bezeichneten Deutungsperspektive (Marchart 2010: Kap. 3).1 In Fällen einer solchen Rezeptionsgeschichte stellt sich dann, so auch im Falle Heideggers, üblicherweise die Frage, warum es sinnvoll, vielleicht sogar geboten sein könnte, eine Philosophie, die selbst keine Schritte in diese Richtung unternommen hat, auf Fragen der politischen Philosophie auszuweiten. Üblicherweise verbinden sich mit solchen erweiternden Deutungsversuchen mehr
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Vgl. zur Frage eines Linksheideggerianismus auch: Janicaud (2001: 291-300).
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oder weniger direkt Annahmen, die besagen, dass Fragen der politischen Philosophie dadurch in ein anderes und in irgendeinem Sinne aufschlussreiches Licht getaucht werden, das sich durch andere Bezüge nicht oder jedenfalls nicht so gut erzeugen lässt. Mit Blick auf Heidegger scheinen mir das vor allem die Thesen zu sein, dass sich mithilfe seiner Unterscheidung zwischen Sein und Seiendem, zwischen ontologischer und ontischer Perspektive also, die gegenwärtig für die kritische politische Philosophie so wichtige Unterscheidung zwischen der institutionellen Ordnung der Politik und dem aufbrechenden Charakter des Politischen besser verstehen (Mouffe) bzw. dass sich diese Unterscheidung rezeptionsgeschichtlich auf hermeneutische Auseinandersetzungen der zentralen Autoren mit Heidegger zurückführen lasse (Marchart). Mit der Stichhaltigkeit dieser Thesen, vor allem aber mit der Frage nach der Fruchtbarkeit Heideggers für das politische Denken werden wir uns im Folgenden beschäftigen. Heidegger ist, wenn es um ihn und das politische Denken geht, nicht irgendein Philosoph – dies ist weder eine Neuigkeit noch kann es im vorliegenden Zusammenhang unerwähnt bleiben. Heidegger hat sich nämlich sehr wohl, wenngleich verklausuliert und zuweilen tendenziell rabulistisch, politisch geäußert. Beides hat er in düsteren Zeiten oder im späteren, rechtfertigenden Rückblick auf diese düsteren Zeiten getan. Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass Heideggers Philosophie intern mit dem Nationalsozialismus auf irgendeine Art konzeptionell verwoben ist, lässt sich nicht ignorieren, dass Heidegger selbst sich während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in Wort und Tat politisch geäußert und politisch agiert hat – und dass davon unvermeidlich ein Schlagschatten auf sein Denken fällt, der eine Erläuterung erforderlich macht, insbesondere dann, wenn es um mögliche Implikationen dieses Denkens für die politische Philosophie geht.2
2
Dem Ausmaß der Verstrickung Heideggers in das NS-Reich nachzugehen, ist nicht die Absicht der folgenden Ausführungen. Verwiesen sei hier nur auf seine fragwürdige Rektoratsrede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität aus dem Jahre 1933 (Heidegger 1983/1933), seine nachträglichen, gesprächlichen Verklärungsversuche im Rahmen des berühmten Spiegelinterviews von 1966, erst 1976 posthum erschienen (Heidegger 2000/1966/1976) und auf die erhellenden Ausführungen Safranskis zu diesen Fragen (Safranski 2006: Kap. 14). Dort weist Safranski übrigens anhand von Quellentexten aus NS-Presse-Organen darauf hin, dass Heideggers Rede weder schnell vergessen noch durchweg als nicht NS-konform verstanden wurde, wie es Heidegger in dem Spiegel-Gespräch verklärend darzustellen sucht (vgl. ebd.: 281 f.).
L INKSHEIDEGGERIANISMUS ?
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Wenn diese Zusammenhänge erwähnt werden, geht es nicht darum, die Messlatte für Heideggers mögliche Inspirationskraft für die politische Philosophie höher zu legen, aber wenn man sich in politisch-philosophischen Kontexten auf einen solchermaßen vorbelasteten Denker einlässt, benötigt man dafür gute Gründe. Versteht man unsere Zeit mit Lefort als ein Zeitalter der Ungewissheit in dem Sinne, dass uns feste Gründe nicht zur Verfügung stehen (vgl. Lefort 1986b),3 dann kann es sich dabei naturgemäß nur um komparative Gründe handeln. Mit anderen Worten müsste sich mithilfe einer linken Wendung Heideggers etwas zeigen lassen oder etwas hervortreten, das ohne Rekurs auf ihn nicht hätte deutlich gemacht werden können. Unbestritten ist Heideggers Denken gerade im Frankreich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts enorm einflussreich gewesen4 und Frankreich bildet in der Tat den intellektuellen Kontext, in dem jenes neuere Denken des Politischen vor allem entwickelt wurde, für das Chantal Mouffe oder auch Oliver Marchart Heidegger als wichtige Referenzfigur heranziehen. Dennoch werde ich in den nachfolgenden Ausführungen die These vertreten, dass der linke Bezug auf Heidegger in mehreren Hinsichten einen Abweg darstellt. Er ist zunächst ein unnötiger Weg: Für keine der Überlegungen, die für ein, mit Marchart gesprochen, postfundamentalistisches Denken des Politischen notwendig sind, ist der Rekurs auf Heidegger unumgänglich oder notwendig. Wird Heidegger eine so zentrale Stellung zugeschrieben, werden zudem andere Einflüsse weniger sichtbar gemacht, teils verdeckt. Abweg ist hier keineswegs in dem normativen Sinne gemeint, in dem man alltagssprachlich davon spricht, jemand sei auf Abwegen und damit das Abkommen vom moralisch rechten Pfad meint. Abweg meint also erstens schlicht einen unnötigen Weg. In diesem Sinne ist die linksheideggerianische Deutung, die Oliver Marchart seinen in vielen Hinsichten überaus plausiblen Überlegungen zum Politischen gibt, ein Abweg. Bei Chantal Mouffes Rekurs auf Heidegger tritt aber noch eine andere Hinsicht hervor, in der der Linksheideggerianismus ein Abweg ist: Dort konterkariert die ontologische Denkbahn, auf die sie ihre Überlegungen zum Politischen durch die Hinwendung zu Heidegger bringt, nämlich den fundament- und begründungsskeptischen Charakter ihrer Überlegungen zur Grundlosigkeit des Gesellschaftlichen und des Politischen. In diesem Fall ist der Abweg kein bloßer Umweg, nicht einfach ein unnötiger Weg – er führt dieses Mal tatsächlich in die Irre.
3
Vgl. zur konstitutiven Umstrittenheit von Gründen Oliver Marcharts Überlegungen
4
Vgl. Janicauds Untersuchung Heidegger en France (2001).
zum Postfundamentalismus: Marchart (2010: Kap. 1).
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Ich werde in zwei Schritten verfahren. Zuerst setze ich mich mit Marcharts Studie Die politische Differenz auseinander (I.) und versuche dabei zweierlei zu zeigen: Erstens, dass der Rekurs auf Heidegger keineswegs zwingend ist (und zudem andere geistesgeschichtliche Referenzpunkte verzeichnet); zweitens, dass Marchart den Anspruch des Denkens des Politischen unnötig überhöht, indem er es als eine Art geläuterte prima philosophia zu rekonstruieren trachtet. Danach werde ich abschließend kurz auf Mouffes politische Philosophie verweisen, in der trotz sparsamer systematischer Auseinandersetzungen mit Heidegger die Probleme eines linken Bezugs auf Heidegger sehr deutlich hervortreten (II.). Da es sich bei Marcharts Untersuchung nach meinem Eindruck um einen der wichtigsten Versuche handelt, zugleich eine Philosophie des Politischen zu entwerfen und die verschiedenen Positionen dieses Diskursfeldes (von Nancy und Lefort über Badiou, Laclau bis zu Agamben und Rancière) systematisch, auch in ihrer Nähe und Ferne zu Heidegger, zu reflektieren, werde ich der Auseinandersetzung mit Marchart den größeren Teil der folgenden Ausführungen widmen.
I. P OLITISCHE D IFFERENZ : L INKSHEIDEGGERIANISMUS ALS PRIMA PHILOSOPHIA ? Zum Denken des Politischen wurden vor allem in jüngerer Zeit eine Vielzahl an Aufsatzveröffentlichungen und Sammelbänden vorgelegt, so dass mittlerweile keineswegs mehr behauptet werden kann, die Forschungstätigkeit auf diesem Feld ließe zu wünschen übrig (vgl. etwa Flügel/Heil/Hetzel 2004; Bedorf/Röttgers 2010; Bröckling/Feustel 2010). Oliver Marcharts Untersuchung sucht diesen weitverzweigten Diskursen eine systematische Deutung zu geben, innerhalb der die Bezugnahme auf Heidegger in mehreren Hinsichten eine zentrale Position einnimmt. Zum einen rekonstruiert Marchart die unterschiedlichen Überlegungen zum Politischen im Lichte einer im Anschluss an Janicaud (2001: Kap. 8) als Linksheideggerianismus bezeichneten Deutungsperspektive (vgl. Marchart 2010: 18 f.).5 Zum anderen greift er dann später bei seinem eigenen Versuch, eine postfundamentalistische Philosophie des Politischen zu entwerfen, auf einen gewissermaßen politisch umgestülpten Heidegger zurück (Kap. 9). Beide Perspektiven, die der Rekonstruktion und die des Entwurfs, verweisen in Marcharts Untersuchung freilich aufeinander – im Grunde genommen dient die
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Nachfolgend wird Marchart (2010) ohne weitere Ausweise unter einfacher Angabe von Kapitel- oder Seitenzahl in Klammern im Text zitiert.
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Rekonstruktion (Teil II) der Vorbereitung dieses eigenen Beitrags und der Überblick über eine wichtige neuere Diskussion der politischen Theorie und Philosophie ist deshalb gewissermaßen nur ein erfreulicher Nebeneffekt der rekonstruktiv angelegten Entfaltung von Marcharts eigener Annäherung an das Politische. Die ausgesprochen eigenständige und angesichts der Position, die heideggerschen Denkfiguren zugeschrieben wird, auch eigenwillige Anlage der Rekonstruktion der Diskurse über das Politische zeigt sich schon durch die Fassung der Hintergrunderzählung, in die Marchart seine Lektüren der einschlägigen Autoren von Nancy über Lefort, Badiou, Laclau bis zu Agamben und mit einem kurzen Seitenblick auf Rancière (insg. Teil II) einbettet (vgl. Teil I). Nachdem er im Anschluss an philosophische Überlegungen zur Grundlosigkeit der sozialen Welt und der damit einhergehenden Unmöglichkeit verbindlicher oder gar letzter Begründungen (Kap. 1) Annahmen zusammenfasst, die in den Diskussionen über die Positionen, mit denen sich Marchart beschäftigt, weitgehend common sense sind, gibt er der Erzählung eine sehr spezifische und, wie ich finde auch gewagte, jedenfalls nach meinem Dafürhalten nicht restlos plausible Fassung, indem er kurzerhand die These aufstellt, dass dieses Denken des Politischen sich insgesamt als Linksheideggerianismus und die für es zentrale Differenz zwischen Politik und Politischem sich in Analogie zur ontologischen Differenz zwischen Ontologischem und Ontischem verstehen lässt (Kap. 3). Abgesehen davon, dass mir diese These theoriegeschichtlich die, sicherlich nicht zu bestreitende, Bedeutung Heideggers gegenüber anderen ideengeschichtlichen Referenzfiguren, allen voran Nietzsche und Hegel, zu verzeichnen scheint, schießen die damit einhergehenden Implikationen, wie etwa Marcharts steile Behauptung, dass das Denken des Politischen als politische Ontologie mit dem Anspruch einer, wenn auch gebrochenen, ersten Philosophie verstanden werden müsse (Kap. 9), nach meinem Dafürhalten über das Ziel hinaus. Marcharts eigentlicher Beitrag für den Diskurs über das Politische liegt nach meinem Eindruck auch weniger in diesen Überlegungen als in einem überaus gewichtigen Vorschlag, der, auch wenn er nach Marcharts Überzeugung mit den Überlegungen zur politischen Ontologie verwoben ist, auch unabhängig davon ein starkes Argument zu entfalten vermag. Mir scheint es sinnvoll zu sein, zunächst diese wichtigen, strukturierenden Überlegungen zu einem kritischen Denken des Politischen zu rekonstruieren, und erst danach den Finger auf die beiden wunden Punkte der engen Rückbindung an Heidegger einerseits und andererseits der davon nicht unbeeinflussten Vorstellung, die vorgeschlagene Philosophie des Politischen als gleichsam postfundamentalistische Variante einer prima philosophia einzuführen, zu legen.
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Marchart unterscheidet in seiner Behandlung der verschiedenen Annäherungen an das Politische im Wesentlichen zwei Weisen des Denkens des Politischen: Auf der einen Seite steht dabei ein Verständnis des Politischen, wie es sich trotz vieler interner Unterschiede der Sache nach gemeinsam bei Nancy, Badiou, Agamben, Žižek und in Teilen bei Rancière findet und das darauf hinausläuft, die Seltenheit des Politischen zu betonen, da es sich bei ihm um das völlig Andere der normalen Politik handle. Diesem messianischen Verständnis des Politischen, von dem Marchart zu Recht notiert, das es letztlich zu einem Politischen ohne Politik führe (Kap. 8), das Handlungslosigkeit zur Folge habe (Kap. 10.8), weil es allein die große Politik der Veränderung aller Verhältnisse in den Blick nimmt, kontrastiert auf der anderen Seite ein Denken des Politischen, das, im Anschluss an Machiavellis und Gramscis Betonung der unaufhebbaren Verwiesenheit politischen Handelns auf die Einbettung in strategische Felder, politische Aktivität betont und sich nicht auf die dereinst vielleicht mögliche Aufhebung des Ganzen (was immer das auch sein mag) kapriziert, sondern dem es um eine politische Gestaltung von Welt hier und jetzt geht (Kap. 10). Dieses Denken des Politischen, das den Fluchtpunkt der Untersuchung ausmacht und das sich dem Rekonstruktionsvorschlag des Buches folgend am Ehesten bei Lefort, Laclau, Mouffe und in Teilen auch bei Rancière finden lässt, sucht Marchart einerseits durch eine Theorie minimaler Politik, die auch in kleinsten Protestregungen stattfinden kann, so sie nur an ein größeres Projekt im politischen Kampf um die hegemoniale Einrichtung der Verhältnisse, in denen wir leben, angebunden ist, zu flankieren, und er sucht ihm andererseits in Form einer politischen Ethik der Selbstentfremdung eine normative Orientierungshilfe zu geben, in deren Kern die Überzeugung steht, dass es uns als Bewohnerinnen und Bewohnern einer grundsätzlich ungewissen und umstrittenen Welt immer möglich sein muss, unsere Identität ebenso wie die politischen Strukturen, in die sie eingelassen ist, umzuarbeiten. So steht am Ende des Buches im Grunde ein politisches Plädoyer: Das Ringen um die politischen Strukturen, in denen wir leben, ist eine unendliche Aufgabe, an der teilzuhaben dennoch unbedingt geboten ist. Inwiefern handelt es bei diesem Vorschlag eines Denkens des Politischen nun um ein linksheideggerianisches Projekt? Aus meiner Sicht sind es vor allem drei Dimensionen, die für die philosophischen Konturen von Marcharts Überlegungen wesentlich sind und die mehr oder weniger ausgeprägt auf eine Position verweisen, die sich als linksheideggerianisch bezeichnen lässt. Im Folgenden wird es darum gehen, jede dieser Dimensionen in zwei Hinsichten zu reflektieren: Mit Blick auf ihre Tragfähigkeit und mit Blick auf die Bedeutung, die Heidegger für ihre Formulierung zukommt. Bei den drei Dimensionen handelt es
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sich erstens um den methodischen und normativen Postfundamentalismus; zweitens um eine Konzeptionalisierung der politischen Differenz in Analogie zu bzw. Transformation von Heideggers ontologischer Differenz; und drittens um eine Erneuerung der Vorstellung einer prima philosophia unter geänderten, nämlich politischen und postfundamentalistischen, Vorzeichen. Unter Postfundamentalismus versteht Marchart eine theoretische Haltung, die nachdrücklich auf der Kontingenz letzter Gründe insistiert, ohne dabei Gründe überhaupt aus dem Reflexionshorizont auszuschließen. Gründe bleiben, so ließe sich Marcharts Position vielleicht knapp auf den Punkt bringen, essentiell kontestiert, woraus zweierlei folgt: Erstens, dass sich kein letzter Grund, ein integrierendes Fundament gewissermaßen, begründen lässt und zweitens aber, dass Gründe weiterhin eine Rolle im sozialen und politischen Geschehen spielen – allerdings in der Form, dass sie Gegenstände eines andauernden und nicht stillzustellenden Streits darstellen (vgl. Kap. 3). Diese grundlegende These, die zugleich einen untilgbaren Zweifel konzeptionell wachhält und mit der Behauptung einhergeht, dass Konflikte für soziale und politische Prozesse wesentlich sind, spielt in den skeptischen und kritischen Diskursen von Nietzsche über Foucault und Derrida bis zu Butler eine zentrale Rolle (vgl. Flügel-Martinsen 2008: Kap. 8). Nietzsches Überlegungen zu einem epistemischen und normativen Perspektivismus (vgl. Nietzsche 1999b: 12) lassen sich wie seine Wissenschafts- und Wahrheitskritik insgesamt (vgl. Nietzsche 1999a) insofern als eine postfundamentalistische Position im Sinne Marcharts verstehen, als Nietzsche mit ihnen einen fundamentalen Zweifel an letzten Gründen ebenso wie eine dauerhafte Kontestation von Gründen postuliert (vgl. Flügel-Martinsen 2011: 71-99). Marchart nennt diese anderen Bezüge im Zuge der Entfaltung seiner Position eines Postfundamentalismus zwar, indem er auf Nietzsche und Freud ebenso wie auch auf Butler, Foucault und Derrida verweist (vgl. 62 ff.). Aber dennoch scheint er Heidegger im Kontext dieser anderen Autorinnen und Autoren eine irgendwie herausgehobene Stellung zuzuweisen; zumindest behauptet er, dass der Postfundamentalismus auf Heidegger zurückgeht (vgl. 61). Warum in zeitlicher Verkehrung Heidegger und nicht Nietzsche, warum nicht Linksnietzscheanismus oder warum nicht eine Begriffswahl, die überhaupt stärker von einer Gewährsfigur abstrahiert? Hier kommen Erwägungen ins Spiel, die uns zur Bedeutung von Heideggers ontologischer Differenz in Marcharts Projekt führen. Marchart wirft selbst die Frage auf, wozu eine solche Unterscheidung, deren Sinn von zahlreichen Autoren bestritten werde, sinnvoll sein könnte und beantwortet sie mit einer für die Konturen seiner gesamten Unternehmung wichtigen Weichenstellung: Nach seiner Überzeugung kann der Zweifel an der Möglichkeit eines letzten Grundes
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nicht auf der gleichen Ebene liegen wie die Pluralität von Gründen (vgl. 64), die deshalb eine dauerhafte ist, weil sich keiner von ihnen dazu eignen kann, ein letzter Grund zu sein. Marchart nennt diese These der Unmöglichkeit eines letzten Grundes wohl deshalb »quasi-transzendental«. Ein solcher Anspruch scheint in der Tat in Heideggers Seinsdenken angelegt zu sein: Seine Fundamentalontologie übernimmt im Versuch, die westliche Metaphysik durch eine Befragungsbewegung zu subvertieren, den Anspruch des klassischen okzidentalen Denkens, eine Ordnung zu denken, die jenseits des ephemeren und pluralistischen Spiels der Singularitäten liegt. Nicht umsonst wirft Lévinas Heideggers Seinsdenken deshalb vor, die »ganze Tradition der westlichen Philosophie« nicht zu destruieren, sondern zu resümieren (Lévinas 1999: 192). Marcharts Rekurs auf Heidegger ist deshalb nach meinem Eindruck ein Abweg, der die postfundamentalistische Position unnötig bricht und quasi-transzendentale Argumente dort einführt, wo ein grundlegender Zweifel hätte bleiben können. Foucaults Skeptizismus beschreitet hier, wie Paul Veyne zu zeigen versucht hat (Veyne 2008: Kap. III), einen anderen, von Heidegger wegführenden Pfad, indem Foucault nämlich eine radikale Befragungsperspektive zu eröffnen sucht, die ohne die Unterscheidung zwischen einer empirischen und einer quasi-transzendentalen Ebene auskommt (vgl. Flügel-Martinsen 2010: 149-153). In Foucaults interrogation critique (Foucault 2001: 1396), die in dieser wichtigen Hinsicht eher Nietzsches Perspektivismus als Heideggers Seinsdenken folgt,6 bleibt der Zweifel auch gegenüber der eigenen Möglichkeit des Zweifelns grundsätzlich – und das scheint mir eine wichtige Konsequenz zu sein, die Heidegger und mit ihm auch Marcharts Linksheideggerianismus nicht zu ziehen bereit sind. Mit der Adaption heideggerscher Denkfiguren sucht Marchart demnach gewissermaßen den Zweifel insofern zu begründen, als er die Behauptung der Grundlosigkeit aller Gründe auf eine Ebene jenseits der Grundlosigkeit eines einzelnen Grundes hebt. Die Grundlosigkeit als solche soll so eine höhere Dignität besitzen als die einzelne Grundlosigkeit. Marchart konstruiert dies als eine Weggabelung, für die tertium non datur gelten soll: »Somit stehen uns nur zwei Wege offen: Entweder wir geben unsere Ausgangsthese auf und kehren zu einer fundamentalistischen Position zurück, oder wir akzeptieren die Konsequenzen unserer Ausgangsthese, wagen den letzten Schritt und akzeptieren, dass die
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Dies ist ein wichtiger Bruch mit Heidegger – trotz Foucaults gesprächsweise geäußerter Betonung der Bedeutung Heideggers für sein Denken, auf die Marchart hinweist (vgl. 20).
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Unmöglichkeit einer letzten Gründung alle Gründe kennzeichnet, womit der ontologische Status dieser Unmöglichkeit stärker sein muss als der Status jedes einzelnen pluralen Grundes.« (67)
Der zweitgenannte Denkweg ist es, den Marchart mit Heidegger zu beschreiten sucht. Was er bei Heidegger aufzufinden hofft, ist somit eine Möglichkeit, eine Ontologie der Grundlosigkeit zu denken, eine ontologische Perspektive demnach, die die These der Unmöglichkeit eines letzten Grundes dem Zweifel entzieht. Eine solche Perspektive scheint ihm Heideggers Strategie der Befragung der Seynsgeschichte als Ereignis des Seyns (vgl. Heidegger 1994: Kap. I) zu eröffnen (vgl. 68 ff.), die er in kontingenztheoretischen Termini reformuliert (Kap. 3.4) – wobei Marchart Heideggers Philosophieren als quasi-transzendental (73 f.) versteht und damit, wie er wenig später festhält, durchaus »über-historische oder supra-kontextuelle Geltung« (79) verbindet.7 In Marcharts Erläuterung dieser Entscheidung für eine bestimmte Variante über-historischer Denkfiguren werden sowohl die Gründe als auch die Probleme dieses Linksheideggerianismus deutlich: Marchart entscheidet sich für die über-historische Lesart der Kontingenz-These, um die aus seiner Sicht absurde Behauptung nicht machen zu müssen, »ein vollständig geschlossenes und totalisiertes Signifikationssystem sei zwar heute nicht möglich, aber irgendwann in der Vergangenheit oder zu anderen Zeiten und in anderen Kontexten schon« (79). Das ist zwar richtig, aber die aus meiner Sicht entscheidende Frage ist stattdessen, warum überhaupt eine allgemeine These über die Kontingenz von Gründen erforderlich sein sollte. Hier liegt einer der eigentlichen Erbteile Heideggers in Marcharts Denken des Politischen – und er belastet es mit einer erheblichen Hypothek. Wie Heideggers Befragung den fundamentalontologischen Anspruch einer Befragung der Seynsgeschichte erhebt, so scheint Marchart davon überzeugt zu sein, sein Kontingenzdenken müsse once and for all als unausweichlich erwiesen werden. Es sind Ansprüche wie diese, vor deren Hintergrund Lévinas’ weiter oben zitierte These, Heidegger resümiere die okzidentale Philosophie statt sie zu destruieren, ihren Sinn erhält: Indem Heidegger die seynsgeschichtliche Perspektive im Ganzen offenzuhalten versucht und indem Marchart seine These von der politischen Differenz und der ihr zugrundeliegenden Grundlosigkeit quasi-transzendental zu deuten vorschlägt, übernehmen beide den systemati-
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Eine ähnlichen universalistischen Anspruch hat Judith Butler übrigens vor einigen Jahren in Laclaus Hegemonietheorie ausgemacht und kritisiert (vgl. Butler 2000: 28 ff.).
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schen und umfassenden Anspruch der abendländischen Philosophie, den Heidegger, der das Systemdenken verabschiedet (Heidegger 1994: 5), hatte hinter sich lassen wollen und der für Marchart eigentlich den Ausgangspunkt seiner Absetzungsbewegung ausgemacht hat. Eine Begründung der Grundlosigkeit ist aber weder möglich noch nötig. Möglich ist sie nur um den Preis eines Kontingenzfundamentalismus; und nötig wäre sie nur, wenn das Kontingenzdenken jenseits der einzelnen skeptischen Befragung von Gründen eines Halts bedürfte. Letzteres aber ist, wie etwa Foucaults Arbeiten zeigen, gerade nicht der Fall: Man muss dann nur stets aufs Neue mit einer kritischen Befragung ansetzen und auf die fragwürdigen Weihen eines über-historischen Arguments verzichten. Damit aber zieht man der philosophischen Reflexion keineswegs den kritischen Stachel, um den es Marchart in seinem Denken des Politischen doch gerade geht, sondern man entrümpelt sie beherzt von zweifelhaften Erbteilen der philosophischen Tradition. Marchart beschreitet diesen skeptischen Denkpfad aber nicht, der seiner Philosophie des Politischen, allerdings jenseits Heideggers, durchaus offen gestanden hätte. Stattdessen schließt er semantisch an die klassische Tradition der abendländischen Philosophie an, indem er seine Philosophie des Politischen in einem, wenngleich gewandelten Sinne, als prima philosophia bezeichnet (Kap. 9). Um Missverständnissen vorzubeugen: Es kann an keiner Stelle von Marcharts Studie Zweifel daran bestehen, dass ihm die Schwierigkeiten, quasitranszendentale Ansprüche zu erheben oder sich des Begriffs einer prima philosophia zu bedienen, nicht klar vor Augen stehen. Marchart trifft diese Entscheidungen offenbar nicht leichtfertig und er betont immer wieder aufs Neue, dass er eine gebrochene Beziehung zu diesen Begriffen unterhält, da er ja gerade eine postfundamentalistische Perspektive verfolgt. Allerdings schreibt sich in seine postfundamentalistische Philosophie des Politischen durch die Verwendung solcher Begriffe und die mit ihnen irgendwie mittransportierten Ansprüche, eine Tendenz ein, die auch Heideggers fundamentalontologische Befragungsbahn kennzeichnet: Wie Heidegger seine Befragungen zwar jenseits der okzidentalen Metaphysik und der von ihr implizierten Ontologie, die das Sein als Seiendes denkt, zu situieren sucht und dabei dennoch den Anspruch nicht aufzugeben bereit ist, durch seine Befragungen den Bahnen der Geschichte des Seyns nachzuspüren, so kann auch Marchart letztlich nicht der Versuchung widerstehen, seinen postfundamentalistischen Überlegungen eine höhere Bedeutung zu geben als die einer stets erneut zu überprüfenden Skepsis gegenüber Gründen: Die Grundlosigkeit soll deshalb als eine quasi-transzendentale eingeführt werden – und seine Philosophie des Politischen sucht darum die Position einer prima philosophia zu besetzen. Dem Geschehen des politischen Streits, in dem hegemoniale
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Kämpfe um jene Gründe, die als letzte gelten sollen, ausgetragen werden, soll so eine unwiderlegliche Funktion zugeschrieben werden (276 ff.). Marchart droht dadurch aber infolge seiner Adaption heideggerscher Motive und offenbar auch Ansprüche, die fundamentale Skepsis, die sein Postfundamentalismus auch gegen sich selbst hätte richten können, preiszugeben. Das heideggersche Erbe erweist sich, kurz gesagt, als Ballast.
II. D IE
ONTOLOGISCHE
Ü BERHÖHUNG DES K ONFLIKTS
Diese Tendenz zu einer ontologischen Überhöhung des Konflikts, die bei Marchart nur als problematische Tendenz aufscheint, aber nicht seine Unternehmung im Ganzen kennzeichnet, tritt bei Chantal Mouffe, in deren politisches Denken ebenfalls linksheideggerianische Motive einfließen, ungleich stärker und für ihre Demokratietheorie belastender hervor. An der systematischen Stellung, die heideggersche Motive in ihren Überlegungen einnehmen und an den Problemen, die hieraus erwachsen, lässt sich abschließend noch einmal zugespitzt zeigen, dass der heideggersche Pfad im Versuch, einer begründungstheoretisch skeptischen politischen Philosophie nachzuspüren, besser liegen gelassen werden sollte. Chantal Mouffe nimmt in der Entfaltung ihres Projekts einer agonalen Demokratie gleich auf zwei historisch vorbelastete deutsche Denker Bezug. Während dabei der Rekurs auf den im Unterschied zu Heidegger übrigens nach meinem Dafürhalten auch theoretisch hochgradig belasteten Carl Schmitt8 einer Darlegung der These von der grundlegenden Konflikthaftigkeit des Politischen dienen soll (Mouffe 1999a und b), übernimmt die Bezugnahme auf Heidegger die Rolle, die fundamentale Bedeutung des Politischen für die Einrichtung unserer Welt zu erläutern (vgl. Mouffe 2007: Kap. I und II). Mit Schmitt geht Mouffe zunächst davon aus, dass das Politische konstitutiv konflikthaft verfasst ist (Mouffe 2007: Kap. II), und in einer knappen, aber folgenreichen Adaption von Heideggers ontologischer Differenz behauptet sie dann, dass das Politische analog zum Ontologischen als die Ebene zu verstehen sei, in der es um die Einrichtung der Gesellschaft geht. Diese Überlegungen, die auf den ersten Blick Leforts
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Obwohl Mouffe Schmitts Überlegungen zu einem autoritären und homogenen Führerstaat vehement ablehnt (vgl. Mouffe 1999b: 49-52), bleibt ihre theoretische Teilrehabilitierung Schmitts deshalb nach meiner Überzeugung problematisch: Während der Linksheideggerianismus nur wenig fruchtbar ist und wichtige skeptische Potentiale verschenkt, führt der Linksschmittianismus an politische Abgründe.
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politischem Denken (vgl. Lefort 1986a) zu ähneln scheinen, verlassen aber unvermeidlich den bei Lefort so wichtigen und, wie ich meine, für alle begründungsskeptischen Denkströmungen so wesentlichen Pfad einer Ungewissheit (vgl. Lefort 1986b: 30), die auch die eigenen Annahmen tangiert, und konterkarieren dadurch die postfundamentalistische, mithin skeptische Perspektive, der sich Mouffe eigentlich verbunden erklärt. Das eigentliche Problem Mouffes besteht dabei in der Kombination von Schmitts quasi-ontologischer These über die Fundamentalität des Konflikts mit Heideggers Anspruch das Seyn selbst, in Mouffes Fall das soziale Sein, verbindlich aufklären zu wollen. Sehen wir uns die entscheidenden Passagen aus ihrem Buch Über das Politische etwas genauer an. Hier scheint es sinnvoll zu sein, eine längere Passage im nahezu vollen Wortlaut zu zitieren und sie anschließend einer Interpretation zu unterziehen, in deren Entfaltung sich die Einwände gegen Mouffes Linksheideggerianismus und Linksschmittianismus gebündelt ausweisen lassen. Mouffe erläutert die Unterscheidung zwischen Politik und Politischem folgendermaßen: »So lässt sich einerseits der politischen Wissenschaft das empirische Gebiet der ›Politik‹ zuordnen. Die politische Theorie hingegen ist die Domäne der Philosophen, die nicht nach den Fakten fragen, sondern nach dem Wesen des ›Politischen‹. Wollten wir diese Unterscheidung auf den Begriff bringen, könnten wir in Anlehnung an Heidegger sagen, ›Politik‹ beziehe sich auf die ›ontische‹ Ebene, während das ›Politische‹ auf der ›ontologischen‹ angesiedelt sei. Das bedeutet, daß es auf der ontischen Ebene um die vielfältigen Praktiken der Politik im konventionellen Sinne geht, während die ontologische die Art und Weise betrifft, in der die Gesellschaft eingerichtet ist. [...] Mit dem ›Politischen‹ meine ich die Dimension des Antagonismus, die ich als für menschliche Gesellschaften konstitutiv betrachte, während ich mit ›Politik‹ die Gesamtheit der Verfahrensweisen und Institutionen meine, durch die eine Ordnung geschaffen wird, die das Miteinander der Menschen im Kontext seiner ihm vom Politischen auferlegten Konflikthaftigheit organisiert.« (Mouffe 2007: 15; 16)
Mouffe vollzieht hier zwei für eine gründeskeptische Haltung problematische Schritte: Zum einen tendiert sie dazu, die Unterscheidung zwischen Politik und Politischem insofern zu essentialisieren, als sie der normalen Sphäre der Politik eine grundlegendere des Politischen konstrastiert, die in gewisser Weise die Wahrheit der erstgenannten ist: Auf der Ebene des Politischen wird die Welt ontologisch eingerichtet, aus der sich bestimmte politische Institutionen ergeben. Als analytische Unterscheidung ergibt die Distinktion zwischen Politik und Politischem durchaus Sinn, ja, ist für eine kritische politische Philosophie sogar un-
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gemein wichtig. Aber bei Mouffe scheint sie mit fundamentalontologischen Weihen aufgeladen zu werden, die die Entgegensetzung essentiell werden lassen. Die von Mouffe an Heidegger angelehnte Operation weist allerdings noch einen gewissen Deutungsspielraum auf; die Essentialisierung ist noch schwach. Ihre eigentliche Schärfe und Schwierigkeit erhält sie dann aber in Kombination mit dem schmittianischen Verständnis des Politischen: Das Politische wird im obigen Zitat und im ganzen vorangegangenen Kapitel (Mouffe 2007: Kap. I) mit Schmitt substantiell als Sphäre des antagonistischen Konflikts gefasst. Damit sind die Würfel gefallen. Mouffe versteht das Politische nicht als eine analytisch zu begreifende Kategorie, mit deren Hilfe sich die Einrichtung politischer und sozialer Institutionen im Einzelfall genauer rekonstruieren lässt, sondern sie überhöht es zu einer quasi-ontologischen Größe, die sie zudem mit einem unverrückbaren Inhalt (Konflikt/Antagonismus) versieht. Man verstehe diese Kritik nicht falsch: Auf die Bedeutung des Konflikts und Machtmechanismen hinzuweisen, ist nach meiner Überzeugung ein wesentliches Verdienst der Diskurse über das Politische (vgl. Flügel-Martinsen 2008, Kap. 8) von Lefort bis Rancière,9 wobei auch machttheoretische Überlegungen von Foucault bis Butler einbezogen werden müssen (vgl. Flügel-Martinsen 2013). Aber eine vollkommen andere Angelegenheit ist es, das Politische konflikttheoretisch zu substantialisieren und das dann zudem zu einer Wesensbestimmung zu steigern. Genau das aber ist es, wozu die Kombination von Linksheideggerianismus und Linksschmittianismus bei Mouffe tendiert. Wenn die postfundamentalistische Argumentation, auf die sich auch Mouffe explizit stützt (Mouffe 2007: 25 f.), ernst genommen wird, dann bleiben die antagonismus- und hegemonietheoretischen Annahmen davon nicht unberührt. Konflikte und ihre Bedeutung wären stricte im jeweiligen Einzelfall auszuweisen: Wenn wir keine letzten Gründe ausmachen können, dann sind wir ebenso wenig in der Lage, inhaltlich substantiell bestimmte Konstitutionsmodi anzugeben, wie es Mouffe mit ihrer linksheideggerianischen ontologischen Aufladung der Distinktion von Politik und einem Politischem, das als Sphäre antagonistischer Konflikte angenommen wird, tut. Es ist schlicht eine schwerwiegende methodische Unsauberkeit, die sich bei Mouffe infolge der »linken« Doppelaneignung von Heidegger und Schmitt einschleicht. Antagonismus und Hegemonie lassen sich nicht gleichermaßen zu Grundformen sozialen und politischen menschlichen Seins machen; ihre Wirksamkeit muss,
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Bei dem die Unterscheidung übrigens bekanntlich eine zwischen Politik und Polizei ist, wobei dann der Politik die subversive Dimension zukommt (vgl. Rancière 2002: 33-54).
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um es nachdrücklich zu wiederholen, jedes Mal aufs Neue ausgewiesen werden. Einer postfundamentalistischen Haltung gegenüber letzten Gründen korrespondiert in methodischer und konzeptioneller Hinsicht eine skeptische und unvermeidlich auch reflexiv selbstskeptische Perspektive. Wie in ähnlicher Weise Panajotis Kondylis (vgl. Flügel-Martinsen 2012), der sich übrigens ebenfalls auf eine an Schmitt geschulte Ontologie des Politischen stützt, so verlässt auch Mouffe die skeptische Denkbahn zugunsten einer unplausiblen Überhöhung der konzeptionellen Stellung des Konflikts. Statt je im Einzelfall die Bedeutung von Konflikten nachzuweisen, verrennt sie sich geradezu in den Versuch, Konflikte als den fundamentalen Modus der politischen Konstitution unserer Welt zu verstehen. Die Differenz, die sich zwischen einer linksheideggerianischen Einbettung des Denkens des Politischen und einer skeptischen, wie sie sich etwa im Anschluss an Nietzsche oder Foucault vorstellen ließe, ergibt, mag auf den ersten Blick klein erscheinen, ist aber, recht besehen, folgenreich: Aus beiden Perspektiven kann von einer politischen Ontologie im dem Sinne gesprochen werden, dass die Strukturen des sozialen und politischen Seins nicht immer schon in der Welt sind, sondern erst in die Welt gebracht werden. Während aber die skeptische Perspektive jeweils offenlässt, wie die Modi des Politischen beschaffen sind und die Bedeutung von Konflikten, die vielfach eine sehr große sein dürfte, je im Einzelfall untersucht, versteigt sich eine linksheideggerianisch/linksschmittianische Perspektive wie im Falle Mouffes zu der Behauptung, den Konflikt als den Modus des Politischen angeben zu können. Das ist dann gewissermaßen keine gründeskeptische politische Ontologie mehr, deren kritischer Sinn darin liegt, Versuche einer Festlegung der sozialen und politischen Welt ad absurdum zu führen, sondern eine Ontologie des Politischen, die meint, genau angeben zu können, worin das Politische besteht.
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Heidegger, Sprache und Ökologie C HARLES T AYLOR
Die Philosophie Heideggers ist »anti-subjektivistisch«, wenngleich er sie in polemischer Manier als »anti-humanistisch« bezeichnet.1 Ohne Frage finden sich in seinem Angriff auf den Humanismus düstere und besorgniserregende Aspekte. Unzweifelhaft scheint aber auch, dass er dadurch in der Konsequenz eindeutig und wohl auch in unbedenklicher Weise mit den ökologisch motivierten Protesten gegen ein unreflektiertes Wachstum der Technologiegesellschaft verbunden ist. Damit ist eine Tendenz beschrieben, die wir in Heideggers Spätwerk identifizieren können, auch ohne uns zuvor mit den philosophischen Einsichten auseinandergesetzt zu haben, die es beinhaltet. Freilich finden sich viele verschiedene Formen des Protests gegen die Technologiegesellschaft, die sich einerseits in dem, was sie ablehnen und andererseits in den Begründungen ihrer Ablehnung unterscheiden. Den ersten Punkt betreffend gibt es Personen, die die Technik schlechthin verdammen, während andere lediglich ihren Missbrauch beklagen. Bezüglich Letzterem verweisen einige auf die verheerenden langfristigen Konsequenzen, die sich für die Menschen aus verselbstständigten Technologien ergeben können; andere wiederum behaupten, dass die Gründe für eine Begrenzung unserer Naturbeherrschung auch jenseits unseres eigenen Wohlbefindens zu suchen sind, weil die Natur oder die Welt ihrerseits Forderungen an uns stellt. Diese zuletzt genannte Stoßrichtung ist die der sogenannten Tiefenökologie.
1
Dieser Beitrag erschien zuerst im Jahre 1992 unter dem Titel Heidegger, Language, and Ecology in dem von Hubert L. Dreyfus und Harrison Hall herausgegebenen und bei Blackwell Publishing verlegten Sammelband Heidegger: A Critical Reader. Die vorliegende Übersetzung stammt von Paul Sörensen und Nikolai Münch.
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Es geht grob gesagt also um zwei Aspekte, denen jeweils zwei Hauptpositionen zugeordnet werden können. Einer der interessanten Punkte an Heidegger ist, dass er – bei näherer Betrachtung – keiner der etablierten Positionen hinsichtlich dieser Kernfragen zuordenbar zu sein scheint. Heideggers Philosophie der Ökologie ist eine Philosophie der Ökologie sui generis. Ich kann das hier nicht im Detail ausweisen. Stattdessen möchte ich mich darauf konzentrieren, Heideggers Position hinsichtlich des zweiten Aspektes herauszuarbeiten, wobei er der tiefenökologischen Position sehr nahe kommt. Man könnte sicherlich versucht sein, ihm einfach die zweite der oben genannten Antworten zuzuschreiben, das heißt die Annahme, dass etwas jenseits des Menschen Forderungen an uns stellt, uns anruft. Diese Quelle kann bei Heidegger jedoch nicht mit der Natur oder dem Universum in eins gesetzt werden. Sofern es uns gelingen würde, diese Quelle zu bestimmen, würden wir ins Herzstück eines der rätselhaftesten Bestandteile seines späten Denkens vordringen. Und genau diesen Versuch möchte ich hier unternehmen. Ich gehe dabei davon aus, dass dies am besten vermittels Heideggers Sprachphilosophie erreicht werden kann, weshalb ich dieser den größten Teil des Kapitels widmen werde. Erst ganz am Ende werde ich Hinweise geben, in welcher Weise unser Dasein als Sprachwesen gedacht werden kann, um uns als Lebewesen, die empfindsam für ökologisch bedeutsame Forderungen sind, zu begreifen. Ich werde dies lediglich umreißen können, hoffe jedoch, dass sich der Gedankengang zu diesem Zeitpunkt zumindest ansatzweise als überzeugend und möglicherweise fruchtbar erweist. Heideggers spätere Konzeption der Sprache ist dermaßen anti-subjektivistisch, dass er sogar die übliche Beziehung, in der Sprache als unser Werkzeug begriffen wird, umkehrt und betont, dass vielmehr die Sprache spricht, als dass menschliche Wesen sprechen.2 Diese Formulierung ist bei der ersten Lektüre höchst undurchsichtig. Ich denke jedoch, dass wir sie verstehen können, wenn wir Heidegger zunächst vor dem Hintergrund einer bedeutsamen Tradition des Nachdenkens über Sprache lesen, die sich in den letzten zwei Jahrhunderten entwickelte, um sodann seine Originalität im Verhältnis zu dieser Tradition zu bestimmen. Ich bezeichne diese Denkrichtung als expressivistisch-konstitutiv. Sie entstand im späten achtzehnten Jahrhundert als Reaktion auf die vorherrschende Sprachtheorie, wie sie sich innerhalb der modernen Epistemologie – also derje-
2
»Denn eigentlich spricht die Sprache« heißt es in Heidegger (2009a: 184).
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nigen Philosophie, die in den Werken von Hobbes, Locke und Condillac ihren Ausdruck fand – entwickelt hatte. In dieser klassischen Perspektive wird Sprache als ein Instrument wahrgenommen. Die expressivistisch-konstitutive Sprachtheorie, auf der anderen Seite, lehnte sich gegen diese Sichtweise auf und Heideggers Konzeption der sprechenden Sprache kann als eine Weiterentwicklung dieser frühen Gegenposition betrachtet werden. Die Differenz der beiden Sichtweisen könnte man vielleicht wie folgt begreifen: Die instrumentelle Sichtweise könnte man als »Einrahmungs«-Theorie (enframing theory) verstehen.3 Mit der Verwendung dieses Begriffs beabsichtige ich Ansätze zu beschreiben, die Sprache im Rahmen eines Gesamtbildes von menschlichem Leben, Verhalten, Zwecksetzungen oder mentalen Funktionsweisen (mental functionings) situieren, das seinerseits ohne Bezug auf Sprache beschrieben und bestimmt wird. Sprache entsteht solchen Ansätzen gemäß innerhalb dieses Rahmens und erfüllt darin eine bestimmte Funktion, der Rahmen selbst aber geht der Sprache voraus oder kann zumindest als unabhängig von ihr charakterisiert werden. Im Gegensatz dazu begreift die »konstitutive« Theorie Sprache als neue Zwecksetzungen ermöglichend und andere Verhaltens- oder Bedeutungsmuster erschließend. Sie kann somit nicht innerhalb eines Rahmens menschlichen Lebens begriffen werden, der unabhängig von Sprache ist. Die klassische und einflussreichste erste Variante einer einrahmenden Theorie findet sich in den von Hobbes, Locke und Condillac entwickelten Überlegungen (vgl. Taylor 1985). Kurz gesagt versucht die Hobbes-Locke-Condillac-Theorie (HLC), Sprache innerhalb der Grenzen der modernen repräsentationalen Epistemologie zu begreifen, wie sie von Descartes hervorgebracht wurde. Der Geist enthält »Ideen«. Dabei handelt es sich um Bestandteile einer mutmaßlichen Repräsentation der Wirklichkeit, die sich größtenteils »außerhalb« des Geistes befindet. Wissen besteht nun darin, über Repräsentationen zu verfügen, die tatsächlich mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Doch darauf können wir nur hoffen, sofern es uns gelingt, unsere Ideen gemäß einer verantwortungsvollen Vorgehensweise anzuordnen. Unsere Ansichten von Dingen sind allesamt konstruiert, sie resultieren aus einer Synthese. Zur Debatte steht dann, ob sich die Konstruktion als zuverlässig und vertrauenswürdig oder als unpassend, unreflektiert und trügerisch erweisen wird.
3
Der Begriff »Einrahmung« wird hier nicht im Sinne des Heideggerschen Terminus Gestell als wirkmächtiges An-/Einordnungsmuster begriffen, wenngleich ganz offensichtlich eine gewisse Übereinstimmung besteht.
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Sprache spielt eine wichtige Rolle bei dieser Konstruktion. Worten wird eine Bedeutung zugewiesen, indem sie Dingen zugeordnet werden. Diese Dinge werden durch die Ideen, für welche sie stehen, repräsentiert. Die Einführung von Worten erleichtert die Zusammenführung einzelner Ideen zu einem kohärenten Ganzen ungemein. Für Hobbes und Locke erlauben es Worte, Dinge in Kategorien zu begreifen und somit eine umfassende Synthese zu ermöglichen, wohingegen nichtsprachliche Wahrnehmungen auf das mühevolle Verbinden von Partikularem beschränkt seien. Condillac geht davon aus, dass uns die Einführung der Sprache erstmals die Kontrolle über den gesamten Prozess der Vorstellungsverknüpfung ermöglicht. Sie gewährt uns »empire sur notre imagination« (vgl. Hobbes 1984; Locke 1962; Condillac 2006). Die Konstitutionstheorie tritt erstmals in einer kritischen Replik Herders auf Condillac kraftvoll in Erscheinung. In einer berühmten Passage aus der Abhandlung über den Ursprung der Sprache gibt Herder Condillacs Fabel wieder, die davon handelt, wie zwischen zwei Kindern in der Wüste Sprache entstanden sein könnte (vgl. Herder 1973: 16 ff.). Hierbei stellt er aber umgehend einen Mangel fest: Der Ansatz Condillacs scheint bereits vorauszusetzen, was er zu erklären beabsichtigt. Erklärt werden soll der Übergang von einem Zustand, in dem die Kinder nichts als Tierlaute imitieren, zu einem solchen, in welchem sie in bedeutungsvoller Weise Worte verwenden. Die Verbindung von einem Zeichen und einem mentalen Gehalt besteht bereits mit dem Tierlaut (Condillac spricht von »natürlichen Zeichen«). Mit dem »künstlichen Zeichen« tritt nun für die Kinder die Möglichkeit hinzu, explizit auf die damit verbundene, gedanklich verbundene Idee zu fokussieren und diese zu beeinflussen. Somit können sie auch ihre Vorstellungskraft im Ganzen steuern. Der Übergang läuft darauf hinaus, dass die Kinder zu der Vermutung gelangen, dass die Verbindung von Zeichen und mentalem Gehalt auf genau diese Weise genutzt werden kann. Das also ist die klassische Variante der Einrahmungs-Theorie. Sprache wird im Sinne von feststehenden Bestandteilen verstanden: Ideen, Zeichen und deren Verbindung, die ihrer Entstehung vorausgeht. Zuvor und auch danach ist die Vorstellungskraft am Werk und die Verbindung findet statt. Neu daran ist, dass der Geist die Kontrolle über diesen Vorgang übernommen hat. Genau dabei handelt es sich freilich um etwas, das in früheren Sprachtheorien nicht existierte. Die Einrahmungs-Theorie etabliert jedoch die größtmögliche Kontinuität zwischen dem Davor und dem Danach: Die Bestandteile sind dieselben, der Kombinationsvorgang erfolgt weiterhin, lediglich die Richtung ändert sich. Man kann vermuten, dass es gerade diese Kontinuität ist, die der Theorie ihre vermeintliche Klarheit und ihr explanatives Potenzial verleiht: Die Sprache wird ihres mysteri-
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ösen Charakters beraubt und wird mit scheinbar unkontroversen Bestandteilen in Verbindung gebracht. Herder jedoch geht von der Intuition aus, dass die Sprache eine andere Art des Bewusstseins ermöglicht, die er als besonnen bezeichnet. Eben das ist der Grund, weshalb er eine auf Kontinuität der Zustände basierende Erklärung nach Condillacs Art so frustrierend und unbefriedigend findet. Ein Ansatz, der von präexistenten Elementen ausgeht, könne, so Herder, die Grundlagen dieses neuen Bewusstseins und die Art seiner Entstehung nicht erfassen. Daher beschuldigt er Condillac, einen Zirkelschluss zu begehen: »Der Abt Condillac […] hat das ganze Ding Sprache schon vor der ersten Seite seines Buchs erfunden vorausgesetzt.« (Ebd.: 17) Was meint Herder nun mit »Besonnenheit«? Dies zu erklären ist weit anspruchsvoller. Wir könnten versuchen, es in folgender Weise zu formulieren: Vorsprachliche Lebewesen können auf sie umgebende Dinge reagieren. Die Sprache aber ermöglicht es uns, etwas als das zu erfassen, was es ist. Diese Erklärung ist nicht sehr verständlich, aber sie führt uns auf die richtige Fährte. Herders Grundidee scheint die Folgende zu sein: Während ein vorsprachliches Tier in angemessener Weise lernen kann, unter Berücksichtigung seiner Bedürfnisse auf etwas zu reagieren, so kann das sprachbegabte Lebewesen einen Sachverhalt als einen spezifischen Sachverhalt identifizieren, beziehungsweise – anders ausgedrückt – ihm diese und jene Eigenart zuschreiben. Mit anderen Worten: Ein Tier kann lernen, auf einen Sachverhalt in der richtigen Art und Weise zu reagieren – zum Beispiel vor einem Raubtier fliehen oder etwa auf die Jagd gehen –, wobei ›richtig‹ für ›entsprechend seiner (nichtsprachlichen) Bedürfnisse‹ steht. Der Gebrauch von Sprache aber beinhaltet eine andere Art der ›Richtigkeit‹. Ein richtiges Wort zu gebrauchen impliziert, einen Sachverhalt als mit bestimmten Eigenschaften verbunden zu identifizieren, die den Gebrauch dieses Wortes rechtfertigen. Wir können dieses Verständnis von Richtigkeit nicht unter Rekurs auf außersprachliche Bedürfnisse erklären. Richtigkeit in diesem Sinne ist nicht auf Erfolg im Kontext einer außersprachlichen Tätigkeit reduzierbar.4 Für ein Verständnis dieser irreduziblen Richtigkeit offen zu sein, heißt gewissermaßen, in einer anderen Dimension zu agieren. Ich möchte sie die »semantische Dimension« nennen. Wir können dann sagen, dass genuin sprachbegabte Lebewesen in einer semantischen Dimension ›funktionieren‹. Und eben dies kann als unsere eigene Formulierung des Herderschen Bedeutungsgehalts
4
Eine umfangreichere Rekonstruktion Herders unter diesem Gesichtspunkt habe ich an anderer Stelle vorgenommen: vgl. Taylor (1995).
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von Besonnenheit herhalten. Besonnen zu sein heißt, in dieser Dimension zu operieren: Menschliches Handeln wird unter diesen Umständen durch eine Sensibilität für Aspekte irreduzibler Richtigkeit motiviert. Wir müssen unser Verständnis der semantischen Dimension jedoch noch ein wenig erweitern. Meine obigen Anmerkungen scheinen einzig Formen rein designativer Richtigkeit zu betreffen. Aber wir tun mit der Sprache mehr als nur bezeichnen. Es gibt andere Weisen, in denen ein Wort genau das richtige (le mot juste) sein kann. Wenn ich beispielsweise mit einem Wort meine Gefühle artikulieren möchte, so präge ich diese dadurch zugleich in einer bestimmten Weise. Diese Funktion der Sprache lässt sich nicht auf simple Bezeichnung reduzieren, oder zumindest nicht auf die Bezeichnung eines unabhängigen Objektes. Ich kann z.B. auch etwas sagen, das die gestörte Beziehung zwischen uns wieder herstellt, sie wieder auf eine engere und intimere Grundlage stellt. Um so etwas erfassen zu können, benötigen wir ein breiteres Verständnis irreduzibler Richtigkeit als das, welches nur im Verbinden von Worten mit Objekten besteht. Wenn es mir also gelingt, das richtige Wort zu treffen, um meine Gefühle zu artikulieren, und ich zum Beispiel anerkenne, dass ich von Neid getrieben bin, dann erfüllt der Ausdruck seine Aufgabe, weil es der richtige Ausdruck ist. In anderen Worten: Wir können die Richtigkeit des Wortes »Neid« nicht einfach mit der Situation, welche sich durch die bloße Verwendung des Wortes ergibt, erklären; stattdessen müssen wir uns klar machen, dass dieses Wort diese Situation hervorbringt, gerade weil es das ›richtige‹ Wort ist – richtig ist es, da die Artikulation ›erfolgreich‹ ist. Ein kontrastierendes Beispiel sollte das verdeutlichen können. Man stelle sich vor, dass ich immer wenn ich mich gestresst, angespannt und unter Druck gesetzt fühle, einen tiefen Atemzug tue, sodann explosionsartig durch meinen Mund ausatme und dabei »Puuh!« von mir gebe. Sogleich fühle ich mich gefasster und viel ruhiger. Schlicht und einfach geht es darum, diesen richtigen Ton (und nicht das Wort) von sich zu geben, der von dem erstrebten Zustand der wiederhergestellten Ausgeglichenheit bestimmt wird. Diese Richtigkeit von »Puuh!« gestattet uns, eine solch einfache Verknüpfung zu behaupten. Das liegt daran, dass wir die Richtigkeit des Lautes durch die Hervorbringung der Ruhe erklären können und diese nicht in Begriffen formaler Richtigkeit erklären müssen. Durch diesen letzten Punkt zeigt sich der Unterschied zu »Neid« als einem Begriff, der meine Gefühle sowohl artikuliert als auch klärend erhellt. Selbstverständlich dient er der Präzisierung und das ist auch essentiell dafür, um als richtiges Wort gelten zu können. Aber zentral für seine klärende Wirkung ist die Tatsache, dass es das richtige Wort ist. Wir können seine Richtigkeit also nicht einfach dadurch erklären, dass er ein de facto klärendes Vermögen besitzt. Um
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es anders auszudrücken: Man kann diesen Effekt nicht als Kriterium für seine Richtigkeit nehmen, weil man seiner klärenden Wirkung nicht sicher sein kann, bevor man weiß, dass es der richtige Begriff ist. Wohingegen sich die Richtigkeit von »Puuh!« allein daran erweist, dass es den erwünschten Effekt zeitigt. Die bloße de facto Konsequenz ist hierbei das entscheidende Kriterium. Das ist der Grund, warum wir normalerweise nicht versucht sind, diesen Ausdruck als bedeutungsvoll zu betrachten. Etwas Ähnliches kann man im Falle meiner Wiederherstellung unserer Verbundenheit beobachten, wenn ich »Es tut mir Leid« sage. Es war das »Richtige«, das es zu sagen galt, weil es unsere Beziehung wieder hergestellt hat. Zugleich aber können wir sagen, dass diese Worte hinsichtlich der Wiederherstellung der Beziehung wirkungsvoll sind, weil sie das bedeuten, was sie bedeuten. Die irreduzible Richtigkeit kommt hier insofern ins Spiel, als die Bedeutung der Worte nicht durch ihre Auswirkungen definiert werden kann. Wir könnten uns auch vorstellen, dass ich in unmittelbarer Nachbarschaft eine Explosion auslöse, die Sie dermaßen erschrecken würde, dass sie unsere Streitigkeit vergessen und sich über meine Anwesenheit freuen würden. Aus einer eher kaltblütigen und strategischen Perspektive betrachtet wäre das dann zwar ein »richtiger« Schachzug, aber die Explosion selbst »bedeutet« dennoch nichts. Diese Überlegungen ermöglichen es, die semantische Dimension so zu definieren, dass auf ihrer Grundlage ein reduktiver Ansatz von Richtigkeit entwickelt werden kann. Ein einfach gestrickter Erklärungsansatz für die Richtigkeit eines Zeichens reduziert dieses auf seine Wirksamkeit für irgendeine nichtsemantische Zwecksetzung. Diese Reduktion geht allerdings nicht auf, wenn wir uns in der semantischen Dimension befinden, wenn es also um eine Richtigkeit geht, die sich nicht exakt bestimmen lässt. Insofern erscheint mir auch das Bild einer neuen Dimension angebracht. Sich vom nichtsprachlichen zum sprachlichen Handlungsraum zu begeben heißt, sich in eine Welt zu begeben, in der es um etwas anderes geht, nämlich um den richtigen Gebrauch von Zeichen, dessen Richtigkeit sich nicht auf die Richtigkeit im Sinne von instrumenteller Effizienz reduzieren lässt. Die Welt des Handelnden hat damit eine zusätzliche Achse, die es zu berücksichtigen gilt. Sein Verhalten kann fürderhin nicht mehr als rein zweckmäßige Zielverfolgung in der alten Ebene verstanden werden. Es reagiert nunmehr auf ein neues Bündel an Anforderungen, weshalb ich das Bild einer neuen Dimension gewählt habe. Wenn wir Herder in dieser Weise interpretieren, so können wir seine Ungeduld mit Condillac nachvollziehen. Bei dessen »natürlichen Zeichen« handelte es sich etwa um Schmerzensschreie oder solche der Not. Deren rechter Gebrauch in der Kommunikation konnte auf der Grundlage des einfach gestrickten Mo-
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dells allein gedeutet werden. Die Sprache entstand dann angeblich zu jenem Zeitpunkt, als die Menschen die bereits durch das natürliche Zeichen etablierte Verbindung zwischen dem Schrei und seinem Auslöser in kontrollierter Weise zu nutzen lernten. Damit sei das »künstliche Zeichen« – beziehungsweise ein Element von Sprache im eigentlichen Sinn – geboren. Herder aber konnte nicht akzeptieren, dass der Übergang von der Vorsprache zur Sprache einzig darin bestehe, die Kontrolle über einen bereits bestehenden Vorgang zu übernehmen. Eine solche Perspektive vernachlässigt ihm zufolge, dass eine neue Dimension an Relevanz gewinnt und dass der Handelnde auf einer neuen Ebene operiert. Deswegen bemüht er sich in derselben Passage, in der er Condillacs Ansatz eine inhärente Zirkularität vorwirft, mit seinem Begriff der »Besonnenheit« auch um eine Bestimmung dieser neuen Dimension. In meiner Lesart wird die Herdersche Besonnenheit als semantische Dimension interpretiert und seine Bedeutung ist gerade darin zu sehen, diesen Aspekt ins Zentrum eines jeden Zugangs zu Sprache gerückt zu haben. Zudem zeichnete sich seine Konzeption der semantischen Dimension durch eine ungeheure Vielfalt aus, im Sinne eines weiter gefassten Verständnisses von Richtigkeit, welches sich nicht nur auf Beschreibung beschränkte, wie ich es weiter oben erläutert habe. Herder erkannte, dass mit dieser Dimension zwangsläufig sämtliche Aspekte handelnder Lebensführung einer Transformation unterzogen werden. In ihr gründen ferner ganz neuartige Empfindungen. Sprachbegabte Wesen sind zu andersartigen Gefühlen fähig, die in affektiver Weise ihre gehaltvollere Wahrnehmung der Welt widerspiegeln: Es ist nicht bloß Zorn, der sie treibt, sondern Empörung über etwas; nicht nur reines Begehren, sondern Liebe und Bewunderung. Die semantische Dimension ist es auch, die den Handelnden in die Lage versetzt, neue Beziehungskategorien, neue Fundamente zwischenmenschlicher Beziehungen, andere Arten der Intimität und Distanz aber auch Ordnungsmuster hierarchischer oder egalitärer Natur zu etablieren. In Gruppen zusammenlebende Affen mögen so etwas wie die Rolle eines »dominanten Männchens« haben, aber nur sprachbegabte Lebewesen können zwischen einem Führer, einem König, einem Präsidenten und dergleichen differenzieren. Tiere paaren sich und haben Nachkommen, aber nur sprachbegabte Lebewesen definieren so etwas wie Verwandtschaft. Sowohl Gefühlen als auch Beziehungsmustern liegt eine weitere zentrale Eigenschaft der linguistischen Dimension zu Grunde, denn diese ermöglicht die Ausbildung starker Wertungen. Vorsprachliche Tiere behandeln etwas als begehrenswert oder als abstoßend, indem sie es erstreben oder eben meiden. Aber nur sprachbegabte Wesen sind dazu in der Lage, etwas als des Begehrens oder der Ablehnung wert seiend zu identifizieren. Bei derartigen Identifikationen kom-
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men Überlegungen bezüglich der intrinsischen Richtigkeit ins Spiel. Diese Identifikationen basieren auf einer Charakterisierung von Dingen, die sich nicht darin erschöpft, sie bloß als Objekte des Begehrens oder der Ablehnung zu behandeln. Sie beinhalten eine darüber hinausgehende Wahrnehmung: Sie sollten in dieser oder jener Art und Weise behandelt werden. Ganz offensichtlich verdient es eine Sprachtheorie, die der semantischen Dimension einen derart privilegierten Platz einräumt, als »konstitutiv« bezeichnet zu werden. Sie verdient dies insofern, als die Sprache nach ihrem Dafürhalten in eine ganze Reihe wesentlicher menschlicher Gefühle, Tätigkeiten und Beziehungen hineinwirkt beziehungsweise diese ermöglicht. Sie sprengt den Rahmen der vorsprachlichen Lebensformen auf und entlarvt damit einen jeden einrahmenden Erklärungsansatz als inadäquat. Die aus Herders Kritik hervorgegangene Konstitutions-Theorie besitzt jedoch noch ein weiteres zentrales Merkmal, indem sie der Expression eine schöpferische Rolle zuweist. Vertreter des HLC-Strangs verbanden die sprachliche Expression stets mit einem vorausliegenden Gehalt. Bei Locke wird ein Wort in seiner Verbindung zu einer Idee charakterisiert, für deren Expression es fortan verantwortlich ist (vgl. Locke 1962). Der Gehalt ist seiner artikulierten Bedeutung vorgängig. Condillac entwickelt ein anspruchsvolleres Verständnis: Er argumentiert, dass uns die Etablierung von Worten (»künstliche Zeichen«) eine präzisere Unterscheidung von Nuancen in unseren Gedanken gestatte, weil uns dadurch eine größere Kontrollgewalt über die Gedankengänge selbst ermöglicht werde. Das heißt, dass wir feinere Unterscheidungen treffen können, die zu benennen wir sodann in der Lage sind, was uns wiederum befähigt noch kontrastreichere Unterscheidungen vorzunehmen und so weiter und so fort. Auf diese Weise ermöglicht Sprache Wissen und Aufklärung. Doch auf jeder Stufe dieses Prozesses geht die Idee ihrer Benennung voraus, obgleich ihre Unterscheidbarkeit aus einem vorangegangenen Akt der Benennung resultiert. Auch Condillac sprach der emotionalen Expression eine gewichtige Rolle hinsichtlich der Entwicklung von Sprache zu. Seiner Ansicht nach waren die ersten künstlichen Zeichen von natürlichen geformt. Natürliche Zeichen aber waren nur die originären Artikulationen unserer emotionalen Zustände – tierische Ausrufe der Freude oder der Angst. Dass Sprache sich aus expressiven Ausrufen entwickelt habe, wurde zum Gemeinplatz der gelehrten Welt des achtzehnten Jahrhunderts. Dennoch lag dem ein unbewegliches Verständnis von Expression zu Grunde. Das, was die Expression vermittelte, wurde als unabhängig von seiner Äußerung gedacht. Schreie machen Angst oder Freude für andere demzufol-
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ge zwar erkennbar, aber sie trugen nicht dazu bei, diese Empfindungen selbst zu erschaffen. Herder dagegen entwickelte eine ganz andere Auffassung von Expression, die der soeben von mir beschriebenen Logik der Konstitutions-Theorie folgt. Diese besagt, dass Sprache die semantische Dimension konstituiert, was bedeutet, dass der Besitz von Sprache es erlaubt, uns sowohl in neuer Weise auf Dinge zu beziehen – etwa als Träger bestimmter Merkmale –, und neue Empfindungen, Ziele und Beziehungen zu haben, als auch, sich responsiv gegenüber Fragen starker Wertungen zu verhalten. Man könnte sagen, dass Sprache unsere Welt umformt, wobei der Terminus Welt in einem streng heideggerianischen Sinne zu verstehen ist. Wir reden damit nicht über den Kosmos da draußen, der uns vorausgeht und uns gegenüber indifferent ist, sondern über die Welt unserer Eingebundenheiten, einschließlich all der Dinge, die diese in ihrer Bedeutung für uns verkörpern. Wir können die Konstitutions-Perspektive also neu formulieren, indem wir sagen, dass Sprache neue Bedeutungen in unserer Welt schafft. Die uns umgebenden Dinge werden zu potentiellen Trägern von Eigenschaften. Sie können – als Objekte der Bewunderung oder Empörung – neuartige Formen emotionaler Bedeutsamkeit für uns annehmen. Unsere Beziehungen zu andern können uns in einem neuen Licht erscheinen, beispielsweise als Liebende, Ehegatten oder Mitbürgerinnen – und sie können mit starken Wertungen beladen sein. Das impliziert, der Expression eine schöpferische Rolle zuzusprechen. Etwas zur Sprache zu bringen kann nicht nur bedeuten, etwas bereits existentes nach außen hin verfügbar zu machen. Freilich gibt es zahlreiche banale Sprechakte, die sich darauf zu beschränken scheinen. Aber Sprache als Ganzes muss mehr als das beinhalten, weil sie auch eine möglichkeitserschließende Funktion für uns bietet, die es ohne sie nicht gäbe. Die Konstitutions-Theorie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die schöpferische Dimension der Expression, in der sie, paradox formuliert, ihren eigenen Gehalt erst ermöglicht. Wir können das sogar in ganz gewöhnlichen, alltäglichen Gegebenheiten beobachten, aber das wird aus der Perspektive der EinrahmungsTheorie gewöhnlich ausgeblendet und es bedurfte erst der Entwicklung der Konstitutions-Theorien um überhaupt Licht in diese Angelegenheit zu bringen. Ein gutes Beispiel ist die Körpersprache je individueller Lebensstile. Stellen wir uns vor, wir beobachten einen in Lederkutte gekleideten Rocker, der sich von seiner Maschine entfernt und übertrieben langsamen Schrittes auf uns zu stolziert. Diese Person bringt etwas zum Ausdruck in der Art und Weise wie sie sich bewegt, handelt und spricht. Sie mag dafür vielleicht keine passenden Worte besitzen, obgleich wir selbst bestrebt sein könnten, ihr Verhalten mit machohaft
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zumindest in Teilen gut beschrieben zu finden. Wir haben es hier mit einer elaborierten Form des In-der-Welt-seins, einer Art des Fühlens, Wünschens und Reagierens zu tun, die einerseits eine Empfindsamkeit bestimmten Dingen gegenüber beinhaltet (wie etwa gegenüber einer Kränkung der Ehre: gerade jetzt gilt uns die Aufmerksamkeit des Rockers, weil wir ihn an der letzten Kreuzung versehentlich geschnitten haben), andererseits auf einer wohlgepflegten aber angeblich instinktiven Unempfänglichkeit gegenüber anderen Aspekten (etwa den Empfindungen von Yuppies oder Frauen) basiert. Sie beinhaltet gewisse Vorstellungen von erstrebenswerten Vergnügungen (zum Beispiel mit seinen Kumpels übers Land zu cruisen), aber ebenso von solchen, die verachtet werden (etwa das Anhören gefühlsbetonter Lieder). Und genau diese spezielle Daseinsform wird dabei als in einem starken Sinne schätzenswert codiert. Das heißt, wenn es einem gelingt, demgemäß zu leben, dann ist das bewundernswert, gelingt es nicht, verdient man Verachtung. Wie aber funktioniert diese Codierung? Vermutlich nicht, oder zumindest nicht vollständig, mithilfe beschreibender Begriffe. Möglicherweise besitzt die betreffende Person gar keinen Begriff wie zum Beispiel Macho, um die zugrundeliegenden Werte zum Ausdruck zu bringen und die Begriffe über die sie verfügt, mögen bedauerlicherweise unangebracht sein, um zu erfassen, was das Besondere dieses Lebensstils ist. Der Ausdruck von Lobpreis oder Verachtung ist gegebenenfalls nur innerhalb des Gesamtkontextes des spezifischen Handlungsmusters aufschlussreich und außerhalb dessen viel zu allgemein und nichtssagend. Zu wissen, dass X zur Gang gehört, wohingegen Y ein Outsider ist, sagt allein recht wenig. Die ausschlaggebende Codierung ist in der expressiven Körpersprache zu verorten. In der Welt des Rockers sind die starken Wertungen dieser Lebensform enthalten. Ich möchte sie (wenn es auch in gewisser Weise unangebracht ist, aber irgendeine Bezeichnung brauchen wir hier nun einmal) als Machismus bezeichnen. In welcher Weise aber existiert dieses Bedeutungsmuster für ihn? Ich denke, einzig und allein durch die expressiven Gebärden und die Haltung. Es ist nun nicht nur so, dass ein außenstehender Beobachter ohne dieses Verhalten keine Möglichkeit besäße, ihn als Macho zu bezeichnen; in einer viel grundlegenderen Weise ist es sogar so, dass eine starke Wertung wie diese für ihn (also für den außenstehenden Beobachter) nur dann existiert, wenn sie in irgendeiner Art und Weise zum Ausdruck gebracht wird. Nur durch diesen expressiven Stil gibt es für den Beobachter überhaupt erst Machismus sowie, noch weiter gefasst, der Bereich expressiver Körpersprache für den Mensch schlechthin der Ort einer Vielzahl verschiedenster wertbehafteter Lebensweisen ist: Die Expression ermöglicht ihren Inhalt. Die Sprache eröffnet uns den Bereich der Bedeutungen,
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den sie selbst codiert. Eingedenk dessen lässt sich Expression nicht mehr einfach als unbeweglich begreifen. Wenn wir uns nun von diesem sehr offensichtlichen wieder dem ursprünglichen Beispiel zuwenden, das zentral für den HLC-Strang war, so können wir es in ganz anderem Licht betrachten. Auch in diesem Fall muss die Expression als etwas Schöpferisches begriffen werden, da die Sprache uns den von ihr selbst codierten Bereich erschließt. Bei den Codierungen durch designatives Sprechen handelt es sich um unsere Eigenschaftszuweisungen an Dinge. Diese designative Sprache zu besitzen, ist die Bedingung unserer Empfänglichkeit für Sachverhalte irreduzibler Richtigkeit, die uns – wie oben angeführt – zu leiten hat, sofern wir wirklich Eigenschaften zuzuschreiben gedenken. Indem Expression als etwas Schöpferisches aufgefasst wird, wird Herders Konstitutionstheorie gewissermaßen auf die designative Sprache angewandt. Dies illustriert die, sowohl historische wie auch logische, inhärente Verknüpfung von Konstitutionstheorie und einem starken Verständnis von Expression. Entweder – wie im Falle der Körpersprache oder des emotionalen Ausdrucks im Allgemeinen – kann uns ein Verfechten der Ersteren dazu führen, nach Sachverhalten zu suchen, in denen die Expression uns ganz offensichtlich zu ihrem eigenen Gehalt führt. Oder aber die Ansicht, dass Expression schöpferisch ist – eine Tatsache die uns höchstwahrscheinlich auffallen wird, wenn wir die Welt der Gefühle genau betrachten – bringt uns dazu, unser Verständnis des vieldiskutierten Falles der Designation zu revidieren. Wenn überhaupt, ist Letzteres für Herder wohl wichtiger als Ersteres, wenngleich auch für ihn die Verbindungen vermutlich in beide Richtungen bestehen. Die Hauptvertreter des HLC-Strangs waren in einem gewissen Sinne allesamt Rationalisten: Eines ihrer zentralen Anliegen war es, die Vernunft auf einer soliden Basis zu etablieren und ihre Analysen von Sprache waren in erster Linie diesem Ziel gewidmet. Das proto-romantische Ansinnen, die Vernunft von ihrem Thron zu stoßen und die genuin menschlichen Fähigkeiten im Empfinden zu situieren, führte hingegen selbstverständlich zu einem reichhaltigeren Konzept von Expression, als es in Condillacs natürlichen Schreien, die lediglich feststehende Weisen der Äußerung bezeichneten, Platz gefunden hätte. Aus der Perspektive dieses reichhaltigeren Verständnisses betrachtet, sehen sogar die Formen designativen Sprechens ganz anders aus. Welchen Weg auch immer man einschlägt, es ist unzweifelhaft, dass eine Verbindung zwischen der Einsicht in die Konstitutivität und dem starken Verständnis von Expression besteht. Insofern kann die Alternative zu der Einrahmungs-
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Theorie mit einigem Recht auch als konstitutiv-expressivistisch bezeichnet werden.5 In ihrer reifen Form besitzt diese Konzeption drei weitere Kernmerkmale. Zunächst impliziert die zentrale Stellung der Expression ein revidiertes Verständnis dessen, was es heißt, Sprache zu erwerben. Der entscheidende Schritt wird nun nicht länger im Erwerb der geistigen Fähigkeit zur Verknüpfung von Zeichen und Idee gesehen, sondern in dem Einstieg in den und der zunehmenden Teilhabe am Prozess des Sprechens als aktive Tätigkeit. Um in Humboldts berühmten Worten zu sprechen: Wir müssen Sprache auch und vor allem als energeia verstehen und nicht nur als ergon (vgl. Humboldt 1963: 418). Diese Form von Sprache, Sprache als Tätigkeit, hat unvermeidlich eine expressivistisch-projektive Dimension; selbst wenn wir eine uninteressierte Beschreibung von etwas liefern, nehmen wir als Sprecher gegenüber unseren Gesprächspartnern und der Sache, um die es geht, einen bestimmten Standpunkt ein. Sprache als Tätigkeitsform hat jedoch auch noch ein zweites Kerncharakteristikum: Es ist in ihrer Gesprächsbasiertheit zu finden. Der primäre und unhintergehbare Ort von Sprache ist im Austausch zwischen Gesprächspartnern anzusiedeln. Sprache beinhaltet stets, in bestimmter Art und Weise mit Anderen verbunden zu sein. Im Besonderen beinhaltet sie eben, dass man als Konversationspartner mit jemandem verbunden ist, sprich als dessen »Interlokutor« fungiert. Sprache macht diesen grundlegenden Unterschied durch den Gebrauch verschiedener Personalpronomen deutlich. Als Gesprächspartner spreche ich jemanden mit Du an, über andere aber spreche ich als Beobachter unter Verwendung von er oder sie. Dem entspricht die Art und Weise, in der wir einen geteilten Raum dadurch begründen, dass wir ein Gespräch beginnen. Einer Unterhaltung kommt der Status gemeinsamen Handelns zu. Wenn ich mit Ihnen über den Gartenzaun hinweg ein Gespräch über das Wetter beginne, so wird aus dem Wetter ein geteilter Sachverhalt, es wird ein für uns beide bestehender Gegenstand. Es ist nicht mehr nur meine oder nur Ihre Angelegenheit, auch wenn man zu dieser Perspektive hinzuzählt, dass ich natürlich stets weiß, dass sie auch für Sie besteht und Sie wissen, dass sie für mich besteht, auch wenn wir nicht zusammen darüber reden. Erst durch unsere Unterhaltung wird das Wetter zu einem Gegenstand unserer
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Charles Guignon (1989) hat für sein Sprachverständnis unter expliziten Rekurs auf Heidegger die Begrifflichkeit expressiv verwendet. Das ist natürlich ebenso angebracht, wie meine Doppelung konstitutiv-expressivistisch oder auch nur konstitutiv als Bezeichnung zu verwenden.
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gemeinsamen Betrachtung. Die Betrachtung ist gemeinschaftlich, weil wir das Hintergrundwissen teilen, dass wir beide gemeinsam die die Betrachtung tätigende Instanz sind, und nicht ein jeder von uns je für sich versucht, die eigene Betrachtung mit derjenigen des Gegenübers in Übereinstimmung zu bringen.6 Drittens liegt diesem Herder-Humboldt-Verständnis die Erkenntnis zugrunde, dass sich die konstitutiven Formen der Expression, also diejenigen, die uns neue Bedeutungsgehalte eröffnen, über die designative Sprache – und sogar Sprache jeglicher Art – hinaus erstrecken und auch so etwas wie Körperhaltung und Gestik umfassen. Dadurch wird nahegelegt, dass es sich bei dem für die Erklärung herauszuarbeitenden Phänomenbereich um die gesamte Bandbreite expressiv-konstitutiver Ausdrucksformen handelt. Wir sind höchstwahrscheinlich nicht in der Lage, das Wesen designativer Sprache verstehen zu können, bevor wir sie in einem breiteren Kontext solcher Formen einzuordnen vermögen. Das zu gewährleisten, sollte daher unser vorrangiges Ziel sein. Diese Ansicht wird noch zusätzlich bestärkt, wenn wir berücksichtigen, wie dicht verwoben diese verschiedenen Formen sind. Unsere Projektionen werden sowohl in sprachlicher (Sprachstil und Rhetorik), als auch in nichtsprachlicher (Körperhaltung, Gestik) Weise transportiert. Designation ist stets in körperlich-leibliche Handlungen eingebettet, die immer auch etwas projektiv zum Ausdruck bringen. Die Vorstellung, dass es sich um etwas unaufhebbar Zusammengehöriges handelt, wurde bereits in meiner obigen Definition der semantischen Dimension umrissen. Selbst durch Körpersprache hervorgebrachte Projektionen sind dazu zu zählen, insofern sie ihre eigene Art intrinsischer Richtigkeit besitzen. Der prahlerische Gang des Rockers ist im Kontext des von ihm wertgeschätzten Lebensstils genau der richtige, ohne dass sich dafür Kriterien rein praktischer Richtigkeit finden ließen. Konstitutionstheorien zielen also auf das ganze Spektrum expressiver Formen ab (und damit auf das, was Cassirer als »symbolische Formen« bezeichnete; vgl. Cassirer 2010). Hierzu zählt aber auch eine bisher noch nicht erwähnte Unterform: das Kunstwerk. Das Kunstwerk ist weder einfach eine expressive Projektion noch Designation. Gewissermaßen spielte das Kunstwerk in der Entwicklung des Expressivismus eine noch viel größere Rolle als das, was ich als Projektion bezeichnet habe. Wir können das, in Abgrenzung zum Konzept der Allegorie, am Begriff des Symbols erkennen, das in der Ästhetik der Romantik und freilich auch seitdem stets eine gewichtige Rolle spielte. Das Symbol stand, wie
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Ich habe das an anderer Stelle ausführlicher diskutiert: Taylor (1992).
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etwa auch von Goethe betont, paradigmatisch für das, was ich als konstitutive Expression bezeichne. Ein allegorisches Kunstwerk führt uns zu einer Erkenntnis oder Wahrheit, zu der wir auch einen direkteren Zugang hätten haben können. Eine Allegorie beispielsweise, die uns Tugendhaftigkeit und Weisheit als zwei Tiere zeigt, sagt uns etwas, das genauso gut durch bloße Aussagen über Tugendhaftigkeit und Weisheit hätte vermittelt werden können. Im Gegensatz dazu ist das Kunstwerk etwas symbolhaftes,7 insofern sich in ihm etwas nicht derart »Übersetzbares« manifestiert. Es eröffnet einen Zugang zu Bedeutungsgehalten, die auf andere Weise nicht zugänglich wären. Jedes wahrhaft großartige Kunstwerk ist in dieser Hinsicht ein Gebilde sui generis. Es ist unübersetzbar. Diese in Kants dritter Kritik wurzelnde Auffassung ist sehr einflussreich gewesen. Sie wurde von Schopenhauer und seinen Nachfolgern für ihr Verständnis des Kunstwerks als Manifestation dessen, was mithilfe der gewöhnlichen Sprache nicht auszudrücken ist, adaptiert. Der Einfluss, den sie auf Heideggers Überlegungen hatte, bedarf hier keiner gesonderten Ausführung. Das Kunstwerk als Symbol war möglicherweise das paradigmatische Beispiel, auf dem die frühen Konstitutionstheorien gründeten. In seiner ureigenen Definition, also der Auffassung, nicht in Prosa übersetzbar zu sein, findet sich die Annahme einer unbegrenzten Vielheit expressiver Formen angelegt. Aus diesem Blickwinkel muss die expressivistisch-konstitutive Macht des Menschen – oder anders: die semantische Dimension – als etwas komplexes und vielschichtiges gesehen werden, worin die höheren Modi expressiver Artikulation in die niedrigeren eingebettet sind. Neben der bloßen Zuschreibung von Eigenschaften habe ich drei weitere Bereiche von Bedeutungshaftigkeit erwähnt, die uns durch Sprache zugänglich werden: Die genuin menschlichen Emotionen, gewisse Beziehungsmuster und starke Wertungen. Ein jeder von diesen spielt sich jedoch auch in den drei Ebenen der expressiven Formen ab: der projektiven Ebene, der symbolischen Ebene (der des Kunstwerks) und der designativen Ebene. Durch unsere Körpersprache, unsere Verhaltensweise und unsere Rhetorik bringen wir Gefühle zum Ausdruck, etablieren wir Beziehungen und artikulieren wir unsere Wertungen. Aber
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Der Begriff Symbol wird hier in der Tradition Goethes verwendet. Heidegger (1994) sagt in Der Ursprung des Kunstwerkes, dass das Kunstwerk kein Symbol ist. Er nimmt damit eine Sichtweise ein, die das Kunstwerk als Allegorie begreift, was heißt, dass es über sich hinaus weist. Goethe hingegen kontrastiert die Verständnisse von Symbol und Allegorie.
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wir können all das auch in Gedichten, in Romanen, im Tanz und der Musik zum Ausdruck bringen. Und ebenso können wir all das auch designativ zum Ausdruck bringen, indem wir die Gefühle, die Beziehungen und die Wertungen benennen, sie beschreiben und über sie disputieren. Ich habe die Darstellung der konstitutiv-expressivistischen Theorie in dieser Länge entwickelt, weil ich glaube, dass Heideggers Verständnis von Sprache in genau dieser Tradition zu verorten ist. Heidegger ist ein Konstitutionstheoretiker. Damit möchte ich nicht nur behaupten, dass er über eine derartige Sprachtheorie verfügt, sondern auch, dass diese für sein gesamtes Denken von eminenter Bedeutung ist. Das mag in Bezug auf Heideggers frühe Schriften mitunter fraglich sein, aber sein Denken nach der Kehre scheint die zentralen Ansichten der konstitutionstheoretischen Perspektive zu beinhalten. Wenn man beispielsweise Sprache als das Haus des Seins bezeichnet, so bedeutet das, ihr viel mehr als einen nur instrumentellen Status zuzuschreiben. Dem entspricht, dass Heidegger immer wieder gegen Sprachverständnisse wetterte, die in ihr nur ein reines Instrument des Denkens oder der Kommunikation sahen. Sprache, so Heidegger, ist unerlässlich für die Lichtung. Heidegger steht fraglos in der Tradition Herders, aber er transformiert diesen Denkmodus in einer ihm eigenen Weise. Während Herder im Zuge der Einführung der Konstitutionstheorie nach wie vor von Besonnenheit und dergleichen spricht, was ja eher nach einer Bewusstseinsform klingt, so dreht Heidegger die Sache auf den Kopf und betrachtet Sprache als das, was überhaupt erst Zugang zu Bedeutung eröffnet: Die Sprache erschließt. Ich werde sogleich noch auf die tiefgründigere und undurchsichtigere, sowohl schwierigere als auch problematischere These eingehen, dass die Sprache spreche. An dieser Stelle aber ist zumindest klar, dass die Sprache als Bedingung der Erschließung der menschlichen Welt gilt. Die Erschließung ist nichts Intrapsychisches, sondern ereignet sich in dem Raum zwischen den Menschen; sie hilft, den von Menschen geteilten Raum zu bestimmen. Das ist, nebenbei bemerkt, bereits in Der Ursprung des Kunstwerkes (Heidegger 1994) ebenso so ersichtlich wie die Tatsache, dass Heidegger dem expressivistischen Topos des Symbols verpflichtet ist. Das Kunstwerk bewirkt die wesentliche Erschließung einer Lebensform in einer Weise, wie sie rein designativen Aussagen niemals möglich wäre. Sie mögen zwar als Beschreibungen in dem Sinne korrekt sein, als sie die Wirklichkeit korrekt repräsentieren, aber das Kunstwerk ist keine Repräsentation oder zumindest nicht in erster Linie: »Ein Bauwerk, ein griechischer Tempel, bildet nichts ab.« (Ebd.: 30) Es definiert
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vielmehr Objekte, die von starkem Wert sind: »Das Tempelwerk fügt erst und sammelt zugleich um sich die Einheit jener Bahnen und Bezüge, in denen Geburt und Tod, Unheil und Segen, Sieg und Schmach, Ausharren und Verfall die Gestalt und den Lauf des Menschenwesens in seinem Geschick gewinnen.« (Ebd.: 31) Es tut dies nicht für Einzelne, sondern für ein ganzes Volk: »Die waltende Weite dieser offenen Bezüge ist die Welt dieses geschichtlichen Volkes.« (Ebd.) Freilich, die zentralen Ansichten der expressivistisch-konstitutiven Tradition sind von Heidegger in ganz eigener Weise in Besitz genommen worden: Sie sind nicht länger Wahrheiten über »Bewusstsein«, sondern nun die essentiellen Bedingungen des Seins beziehungsweise der Lichtung.8 Aber Heidegger ist gleichzeitig auch mehr als nur irgendein Konstitutionstheoretiker. Vor allem mit seiner Spätphilosophie nimmt er innerhalb dieses Lagers eine genuin eigene Stellung ein. Hier finden wir auch die zuvor erwähnten, ominösen Aussagen darüber, dass es nicht die Menschen seien, die sprächen, sondern die Sprache selbst. Ich beanspruche nicht, dies gänzlich zu durchdringen, denke aber, dass man es zumindest teilweise verständlich machen kann, indem wir gewisse Potentiale herausarbeiten, die in allen Konstitutionstheorien zu finden sind, die aber von Heideggers Vorgängern nicht umfänglich erkundet wurden. Diese seine Theorie basiert auf der Intuition, dass sich Erschließung für die Menschen durch die Sprache vollzieht. Es kann sein, dass Tiere eine eigene Form der Lichtung haben,9 unsere aber wird durch Sprache konstituiert. Genauer gesagt bedeutet das, dass die Dinge in unserer Welt einen Wert haben, dass sie in einem starken Sinne Güter sind: Dinge, die es wert sind, nach ihnen zu streben.
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Das erscheint mir zumindest mit Blick auf den späten Heidegger unbestreitbar. Die Behauptung, der Autor von Sein und Zeit (Heidegger 2006) sei ein Konstitutionstheoretiker, mag hingegen bezweifelt werden. Ich würde dahingehend argumentieren, dass die von Herder ausgehende Traditionslinie auch in den frühen Schriften schon sehr präsent war, wenngleich er zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Schlussfolgerungen gezogen hatte, die sein Spätwerk prägen sollten. Nach meinem Dafürhalten müssten in Sein und Zeit vor allem die Diskussionen über das »apophantische Als« (vgl. ebd.: §32 und §33) im Lichte einer semantischen oder linguistischen Dimension gelesen werden.
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Das scheint zumindest für Heidegger (2009b: 266) so zu sein: »Sichentbergen und Sichverbergen sind im Tier auf eine Art einig, daß unser menschliches Auslegen kaum Wege findet […]. Weil das Tier nicht spricht, haben Sichentbergen und Sichverbergen samt ihrer Einheit bei den Tieren ein ganz eigenes Lebe-Wesen.«
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Güter treten – paradigmatischerweise und in Goethes Worten – symbolisch in Erscheinung. So also, wie sich etwa die Güter der alten Griechen im Tempel manifestierten. Dieser Tempel wurde von Menschen errichtet, weshalb die Konstitutionstheorie eine neuartige Frage auf die Agenda setzte: Was ist die Natur dieser (ganz offensichtlich) menschlichen Expressionsmacht mit all ihren verhängnisvollen Konsequenzen? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Die meisten Denkschulen der kontinentalen Philosophie besitzen unterschiedliche Antworten auf diese Frage. Angefangen bei Schopenhauer und seinen Schülern über Heidegger und seine geistigen Erben bis hin zu den Dekonstruktivisten und Postmodernisten. Die Frage hat nicht zuletzt die modernistische Poetik umgetrieben. Die Einrahmungstheorien hingegen, sei es nun in ihren Mainstream-Varianten oder den postfregeschen Sprachtheorien, wie etwa der von Donald Davidson, befinden sich auf einer ganz anderen Wellenlänge, da sich diese Frage für sie gar nicht stellt. Wie könnte sie auch? Nur für eine Konstitutionstheorie ist sie von Belang. Ich denke, dass dies einer der wichtigsten Gründe dafür ist, dass wir stets ein »Aneinander-vorbei-Reden« beobachten können, wenn sich Vertreter dieser beiden Denkschulen über den Weg laufen. Diese Scheidelinie führt gewissermaßen zurück bis zur Wiege unserer philosophischen Tradition. Aristoteles bestimmte den Menschen als zoon logon echon, was für gewöhnlich mit vernünftiges Tier übersetzt wurde. Heidegger jedoch legte nahe, über die traditionelle Interpretation hinauszugehen, die diese gewöhnliche Ausdeutung verehrt und stattdessen von sprachbegabten Tieren zu sprechen, mit der ganzen darin enthaltenen Vieldeutigkeit, die nichtsdestotrotz in der Sprache ihr Gravitationszentrum hat. Menschen sind Sprach-Tiere, die in irgendeiner Art und Weise diese konstitutive Macht der Expression besitzen oder deren Sitz sind. Im Bestreben, das Wesen des Menschen zu begreifen, muss man Sprache in eben jenem weiten Sinne verstehen, wie er von den KonstitutionstheoretikerInnen gebraucht wird. Das führt einen zu der areté des Menschen, zu dem, was deren Leben ausmacht. Trotz all der Differenzen können sowohl Aristoteles (1985) als auch Heidegger als Vertreter dieser Ansicht gelesen werden. Somit besteht die Aufgabe darin, die konstitutive Dimension der Sprache und ihre expressive Potenzialität zu erklären. Eine unmittelbare Versuchung liegt darin, dies als etwas zu betrachten, was in unserer Macht steht: Erschlossenheit sei etwas, das wir herbeiführen. Für Heidegger ist das eine völlig verfehlte Sichtweise – für ihn handelt es sich nicht nur um einen ganz trivialen oberflächlichen Fehler, sondern um einen, der aus der grundlegenden Stoßrichtung unserer Kultur und Tradition herrührt. Diese Lesart kann man als subjektivistisch bezeich-
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nen. Tatsächlich aber kann sie verschiedene Formen annehmen und um diese zu verstehen, sollten wir untersuchen, worum es hier eigentlich geht. Sprache ist grundlegend für das, was man als zentralen Fokus von Heideggers Philosophie bezeichnen könnte: für die Tatsache oder das Ereignis, dass Dinge überhaupt erscheinen. Das ist Heideggers Konzept der Lichtung. Heidegger lehrt uns, die Geschichte von Philosophie und Kultur danach neu zu ordnen, wie Lichtung jeweils verstanden wurde. Ein entscheidender Punkt für Heidegger ist, dass die Lichtung nicht mit den Entitäten identifiziert werden dürfe, die in ihr erscheinen. Sie lässt sich grundsätzlich nicht durch diese Entitäten erklären, als etwas, das diese verursachen, als eine ihrer Eigenschaften oder als auf diesen gegründet. Der späte Heidegger dachte, dass einige Vorsokratiker eine Vorstellung besaßen, die diese Identifikation vermied. Mit Plato aber gerät die westliche Kultur auf eine verhängnisvolle Bahn. Platos Begriff der Idee verortet die Lichtung unter anderem Seienden. Eine Idee ist nicht nur eine Entität, die ihrer Entdeckung harrt. Sie ist nicht mit den Dingen vergleichbar, die an ihr teilhaben. Sie kann als selbst-manifestierend verstanden werden, das heißt, sie gibt sich selbst zu verstehen. Dies liegt Platos Metaphorik des Lichts zugrunde, mithilfe welcher er die Idee häufig erläutert, insbesondere die Idee des Guten. Denn das Gute ähnelt der Sonne und sich von den wandelnden weltlichen Dingen hin zu den Ideen zu wenden, entspricht dem Verlassen der dunklen Höhle. Unter anderem spricht er auch davon, dass die Seele sich der erleuchteten Seite zuwendet. Plato, so kann man sagen, hatte einen ontischen Begriff der Lichtung. Trotzdem ist dieser in einem offensichtlichen Sinne nicht-subjektivistisch. Aber nach Heidegger führt uns dies auf eine abschüssige Bahn, die beim Subjektivismus endet. Vielleicht, weil die ontische Verortung der Lichtung selbst schon eine Tendenz widerspiegelt, sich ihrer zu bemächtigen und Kontrolle über sie auszuüben, was – vollständig zu Ende gedacht – im Willen zur Macht endet. Jedenfalls wird das platonische Verständnis in der Nachfolge von Aristoteles durch eine Reihe von Zwischenschritten, jeder davon ein Schritt mehr in Richtung Subjektivismus, transformiert hin zu einer modernen Sichtweise, die die Lichtung durch eine Fähigkeit des Subjekts – die der Repräsentation – erklärt. Die Vorstellung, dass Realität in der Verfügungsgewalt des potenten Subjekts steht, wurde stark befördert durch die mittelalterliche Vorstellung von der Welt als Kreation eines omnipotenten Gottes. Diese besteht anfangs neben den platonischen und aristotelischen Theorien der Idee. Dies ist die Hochphase der von Heidegger so bezeichneten »Onto-Theologie«. Alles in allem aber läuft diese Realitätsvorstellung darauf hinaus, dass das Sein als abhängig von subjektiven Fähigkeiten zu begreifen ist.
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In der Moderne nimmt diese Auffassung zuerst im Idealismus Form an, der aus der zentralen Tradition der modernen Epistemologie erwächst und für Heidegger zumindest implizit bereits bei deren Gründervätern Descartes und Locke angelegt ist. Das Wirkliche ist in dieser Perspektive das, was durch ein Subjekt repräsentiert werden kann. Diese Vorstellung kulminiert in verschiedenen Formen des Antirealismus. Aber für Heidegger führt die gleiche Tendenz zur der Auffassung, dass Realität dem Willen entspringt. Sie könne nicht allein in Bezug auf ein wissendes Subjekt verstanden werden, sondern nur in Relation zu einer Subjektivität, der auch Begierden und Zielsetzungen zugeschrieben werden müssen. Leibniz ist offensichtlich eine der Schlüsselfiguren dieser Entwicklung, die in der nietzscheanischen Behauptung gipfelt, alles sei auf den Willen zur Macht zurückzuführen. Der moderne Subjektivismus konzipiert die Lichtung ebenso wie der Platonismus als ontisch, allerdings in einem entgegengesetzten Sinne. Nun erscheinen Dinge, weil es Subjekte gibt, die sie repräsentieren und ihnen gegenüber eine Haltung einnehmen. Die Lichtung ist hier nur die faktische Repräsentation und diese findet allein im Bewusstsein statt, im Streben der Subjekte, oder in ihrem Gebrauch von verschiedenen Formen der Abbildung, zu denen auch die Sprache gehört. Aber das eigentliche Wesen der Lichtung ist keines der eben beschriebenen. Beide Sichtweisen können so verstanden werden, dass sie den gleichen Fehler machen, jedoch in verschiedene Richtungen. Beide verfehlen je für sich einen wichtigen Punkt. So hat die platonische Sicht keinen Platz für die Rolle des Menschen. Tatsächlich aber entsteht die Lichtung nur im Umkreis von Dasein. Unser In-der-Welt-Sein ermöglicht, dass sie sich ereignet. Zumindest das kann die repräsentationale Theorie erfassen. Sie kann ihrerseits aber nicht der Tatsache Rechnung tragen, dass die Lichtung nicht einfach in uns passiert, dass es sich dabei also nicht einfach um unser Tun handelt. All unser Tun, jegliches Spiel mit Repräsentationen, setzt voraus, dass Dinge schon durch Sprache erschlossen sind. Wir können dies nicht als etwas betrachten, das wir kontrollieren oder was einfach in unserem Einflussbereich passiert. Die Vorstellung, dass dies in unserem Kopf abläuft setzt, um überhaupt sinnvoll zu sein, bereits voraus, dass wir unsere Köpfe und uns selbst als in die Welt gestellt betrachten und dieses Verständnis passiert nicht nur in unseren Köpfen. Man könnte dabei gewissermaßen von einer Neuauflage der hegelschen Widerlegung des kantischen Ding an sich durch Heidegger sprechen. Aber auch die Vorstellung von Lichtung als unserem Tun fällt als inkohärent in sich zusammen; erst durch die Lichtung haben wir eine Vorstellung von Tun überhaupt und davon, dass Handeln uns möglich ist.
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Somit ist die Lichtung also mit dem Dasein verbunden, sie wird jedoch nicht vom Dasein kontrolliert. Sie ist schlicht und ergreifend nicht unser Tun. An diesem Punkt wird klar, inwiefern für Heidegger die Einrahmungstheorien der Sprache vom modernen Subjektivismus durchtränkt sind. Ihr Konzept von Sprache impliziert, dass die Entstehung der Lichtung durch eine Art von Repräsentation erklärt wird, die im Rahmen eines menschlichen Lebens wirksam ist, dessen Zielsetzungen ihrerseits nicht durch Sprache konstituiert sind. Sprache ist eingerahmt und ihr Gebrauch kann als die Ausführung einer Reihe von Funktionen verstanden werden, die – mit Ausnahme der Repräsentation selbst – nichtsprachlich definiert werden können. Sprache ist demzufolge etwas, das wir benutzen können, sie ist ein Werkzeug. Diese Instrumentalisierung der Lichtung ist eine der weitestgehenden Ausdrucksweisen des Willens zur Macht. Aus einer gewissen Perspektive kann Heideggers Position als gänzlich verschieden sowohl vom Platonismus als auch vom Subjektivismus gesehen werden, weil sie den ontischen Zugang völlig vermeidet; aus einer anderen Perspektive kann sie als ein Mittelweg zu einer dritten Position gesehen werden, die außer Reichweite der beiden anderen liegt, und als Daseins-verbunden aber nicht Daseins-zentriert umschrieben werden kann.10 Nun scheint es offensichtlich, dass Heidegger einige Grundlagen, die er für die Entwicklung seiner Position benötigte, in der konstitutiv-expressivistischen Tradition fand. Deren Verständnis des Ausdrucks, insbesondere des Symbols, ist der erste Schritt hin zu diesem Mittelweg. Das Symbol ist zugleich Manifestation und Kreation, es beinhaltet sowohl ein Auffinden wie auch ein Hervorbringen. Die Philosophien, die in der romantischen Phase entstanden sind (und die nicht alle zwangsläufig als »romantisch« bezeichnet werden können, wie etwa Schelling oder Hegel), beginnen, einen solchen Mittelweg abzustecken. In einer Hinsicht haben sie Gemeinsamkeiten mit Plato und mit der ganzen antiken und mittelalterlichen Vorstellung einer kosmischen Ordnung, die auch das Reich der Ideen mit einschließt. Für Hegel stimmt die Realität sogar mit der Idee überein. Gleichzeitig aber betrachten sie den Kosmos solange als unvollständig bis er in adäquater Weise in einem vom Menschen getragenem Medium zum Ausdruck gebracht wird – für Hegel etwa in der Kunst, der Religion und der Philosophie.
10 In seinem Aufsatz über Heraklit, »Logos« (2009c), erklärt Heidegger, dass das menschliche Vorstellen (legein) den logos nicht bestimmen kann, aber ebensowenig bildet es ihn nur nach. Wir müssen einen dritten Weg zwischen diesen beiden Extremen finden: »Gibt es dahin für sterbliches Denken einen Weg?« (Heidegger 2009d: 217).
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Die Idee ist keine Realität, die unabhängig vom Wesen ist, die sie zum Vorschein bringen kann, d.h. vom Menschen. Diese Art, sich von der Antike abzusetzen, nimmt nicht die übliche moderne Form an, die Lichtung in der Repräsentation zu verorten. Die expressive Artikulation der Idee ist nicht reine Repräsentation, sondern eine Art von Vervollständigung; gleichwohl ist diese Vervollständigung selbst nicht allein eine menschliche Leistung. Der handelnde Mensch ist hier eine Emanation des kosmischen Geistes. Damit kann man sehen, inwiefern uns die Idee des Ausdrucks eine dritte Möglichkeit eröffnet, das Wesen der Lichtung zu begreifen. Sie ermöglicht einen Begriff der Lichtung, der essentiell Daseins-verbunden ist und stimmt darin also auch mit der gängigen modernen Vorstellung überein. Aber sie verlegt die Lichtung nicht einfach als Repräsentation in unser Inneres, sondern verortet sie in einem neuen Raum, der durch den Ausdruck erst konstituiert wird. In einigen ihrer Varianten erkennt diese Konzeption auch an, dass die Konstitution dieses Raumes nicht einfach unser Tun ist. Sie kann dies also anerkennen, macht es aber nicht zwangsläufig. Zwei Aspekte sind hier zu erwähnen. Der erste betrifft den ontischen Status der Lichtung, der zweite ist eher ein ganzes Bündel von Punkten und berührt das Wesen der Ausdruckskraft selbst. 1. Zum ersten Punkt: Der Ausdrucksraum ist weder identisch mit dem physikalischen Raum, noch mit dem inneren psychischen Raum, also der »Domäne des Geistes« in der klassischen erkenntnistheoretischen Konstruktion. Auf keinen von beiden kann er reduziert werden. Er ist nicht identisch mit dem ersten, weil er nur zwischen Sprechern entsteht (er ist Daseins-verbunden). Er ist nicht identisch mit dem zweiten, weil er nicht »innerhalb« des Bewusstseins verortet werden kann, sondern »draußen« zwischen Gesprächspartnern. Im Gespräch entsteht ein öffentlicher oder gemeinsamer Raum, in dem die Gesprächspartner zusammen sind. Wenn wir die Lichtung als einen durch den Ausdruck eröffneten Raum betrachten, gibt es eine Basis für einen ent-ontisierenden Schritt hinsichtlich der Kategorien unserer modernen Ontologie: Materie und Geist. Denn dieser Raum ist keines von beiden. Dieser Schritt wird also möglich, aber er wird nicht gleich getan. Hegel stützt sich immer noch stark auf die alte Onto-Theologie und die große Kette der Wesen, um die Manifestationen des Geistes zu fundieren. Später wird mit Schopenhauer eine merkwürdige Wendung eingeführt. Die ontische Basis des Ausdrucks ist der Wille. Aber dies wird nicht mehr als gutartige Quelle des Seins und des Guten gesehen, sondern als Quelle endlosen, ungeordneten Strebens und Leidens. Diese Umkehrung hat ohne Zweifel geholfen, den Schritt vorzubereiten, den Heidegger als erster explizit geht, obwohl man vielleicht Vorläufer im Kreise jener ausmachen kann, die der modernen Poesie den Weg berei-
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tet haben, wie etwa Mallarmé. Mit der Einführung der ontologischen Differenz realisiert Heidegger somit ein Potenzial, das durch den Expressionismus ermöglicht wurde. 2. Wenn wir uns dem zweiten Themenspektrum zuwenden, können wir erkennen, dass die expressivistische Wende dem Subjektivismus kein Ende setzte. Sie eröffnete im Gegenteil eine ganze Bandbreite neuer Formen des Subjektivismus, darunter einige seiner radikalsten Spielarten. Auch hier gibt es ein Potenzial, das womöglich unrealisiert bleibt. Der Expressivismus stellt die Frage nach dem Wesen der Ausdruckskraft, worauf viele verschiedene Antworten möglich sind. Wir können uns drei Teilaspekte herausgreifen, die einen dreidimensionalen Problemraum eröffnen, in dem sich verschiedene Denker und Autoren positioniert haben. A. Wenn man, früheren Theoretikern wie Hegel folgend, Ausdruck dergestalt bestimmt, dass er etwas zur Manifestation bringt, dann kann man diese Realität als das Selbst denken; die wesentliche Aktivität ist dann der Selbstausdruck. Oder man bestimmt sie als etwas jenseits des Selbst, wie es bei Hegel mit dem Geist oder dem Prozess der Fall ist. Dies ist also eine Dimension, in der man sich entweder in Richtung des subjektiven oder des objektiven Pols orientieren kann. B. Radikaler gedacht kann man die Vorstellung, der Ausdruck manifestiere irgendetwas, jedoch in Gänze bezweifeln. Man würde ihn dann nicht als Manifestation [bringing-to-light], sondern als Herstellen [bringing-about] verstehen: Der Raum ist etwas, das wir machen. Das Potenzial für diesen radikaleren Subjektivismus besteht bereits im gängigen kanonischen Begriff des Symbols der romantischen Epoche. Demzufolge manifestiert das Symbol etwas, aber das heißt nicht, dass es nur schlicht ein bereits betrachtetes Modell abbildet. Stattdessen bringt es das Medium hervor, in dem eine zuvor verborgene Realität manifest werden kann. Vor dem Ausdruck ist diese Realität nichts, was in den Blick kommen kann und daher besteht auch keine Möglichkeit der Abbildung. Die Manifestation durch das Symbol beinhaltet also ein Element der Schöpfung, die Herstellung eines Mediums, in dem die Realität zuerst erscheinen kann. Wenn wir, wie Hegel und andere dies taten, ergänzen, dass Erscheinen ein Teil des Potenzials ist, von dem etwas ans Licht kommt, dann zählt diese Schöpfung auch als Vervollständigung der Realität. Die Expression umfasst sowohl ein Finden als auch ein Erschaffen. In der ursprünglichen Variante gibt es eine Balance zwischen diesen beiden, wiewohl letzteres dem ersten dient. Der radikale Schritt besteht darin, diese Balance umzuwerfen und die Lichtung als etwas Projiziertes zu betrachten. Durch die Kraft des Ausdrucks schaffen wir diesen Raum und was in ihm erscheint sollte nicht als Manifestation von irgendetwas verstanden werden. Was erscheint, ist eine
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Funktion des Raumes selbst. Auch hier könnte Mallarmé mit seinem Bild des le néant als Pionier dieser Sichtweise angeführt werden. Wir können Nietzsche so lesen, dass er auf des Messers Schneide zwischen beiden Positionen balanciert und ein Begriff wie »Transfiguration« bleibt hinsichtlich beiden ambivalent. Aber die Hauptvertreter der radikalen »kreationistischen« Position sind heute die Dekonstruktivisten, wie etwa Derrida mit Slogans wie »il n’y a pas de horstexte«. C. Es gibt einen dritten Aspekt, bei dem man mehr oder weniger subjektivistisch sein kann, nämlich die Frage nach dem »Wer« des Ausdrucks. Ist er das Werk des handelnden Individuums? Oder ist er eher etwas, das in der Konversation entsteht, so dass sein Ort die Sprachgemeinschaft ist? Oder sollten wir uns die Gesprächspartner selbst als reine Artefakte des Ausdrucksraumes vorstellen, so dass es überhaupt kein »Wer« des Ausdrucks gibt. Die erste Antwort ist aus oben bereits angedeuteten Gründen in der dekonstruktivistischen Tradition mehr oder weniger diskreditiert. Die zweite, humboldtsche Option war die am weitesten verbreitete. Alle Sprecher, sobald sie in der Kindheit in das Konversationsgeschehen eintreten, finden ihre Identität geformt von ihren Beziehungen in einem schon existenten Ausdrucksraum. In diesem Sinne sind sie Geschöpfe dieses Raumes. Aber wenn sie vollwertige Teilnehmer der Konversation werden, können sie im Gegenzug an seiner Formung mitwirken. Daher kann eine einfache, einseitige Abhängigkeit die Realität von Sprecher und Sprache nicht einfangen, so wie die dritte Theorie dies unterstellt. Derrida ist ein Beispiel dieser dritten Theorie: Différance ist das Aufspannen des Ausdrucksraums, das nicht mit dem Handelnden verknüpft ist. Man könnte diese Position am anti-subjektivistischen Ende des Spektrums der dritten Frage verorten. Ich glaube aber, man sollte stattdessen die zweite, humboldtsche Antwort als die eigentlich nicht-subjektivistische betrachten. Derridas Theorie ist gewissermaßen das Spiegelbild des Subjektivismus. Ihre Plausibilität bezieht sie aus der Unplausibilität dieses Ansatzes, den Derrida uns in seinen extremeren Formen als die einzige Alternative vorführt. Aber um dies auszuführen, fehlt hier der Platz. Diese zwei Hauptfragen, von denen die zweite sich in drei Unteraspekte aufgliedert, spannen einen Problemraum auf, in dem viele Positionen möglich sind, die die verschiedenen Möglichkeiten in den verschiedenen Dimensionen kombinieren. Derridas Philosophie verbindet eine radikal »kreationistische« Position hinsichtlich des Unterpunktes B (daher stellt sich die Frage A, was manifestiert wird, gar nicht) mit einer Herabsetzung des Sprechers in einen rein abgeleiteten Status. Das gibt Derridas Philosophie ihre stark anti-subjektivistische Anmutung, von der ich behaupte, sie sei bloßer Schein. Die Rhetorik vom Ende des Subjekts
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verdeckt die hochgradig subjektivistische Haltung bei B. Und in der Tat könnte man argumentieren, dass die Verbannung des Sprechers nur eine weitere Folge des radikalen Kreationismus bei B ist. Sie ist eine Begleiterscheinung der idealistischen These, dass es nichts außerhalb des Textes gibt. Heidegger bezieht hier, so will ich zeigen, eine ganz andere Position, was bedeutet, dass Derridas Lesart ihn grob missversteht. Er ist »Manifestationist« hinsichtlich des Unterpunktes B; seine stark anti-subjektivistische Haltung drückt sich bei Unterpunkt A aus. Ausdruck ist nicht Selbst-Ausdruck; kreative Sprache heißt einem Ruf zu antworten. Beim Unterpunkt C kommt er der Position Humboldts sehr nahe. Aussagen, wie das bekannte »die Sprache spricht«, verstehe ich als Ausdruck seiner anti-subjektivistischen Haltung zu A, nicht als proto-Derridasche Beschwörung eines Super-(Nicht-)Akteurs. Heidegger steht somit einer verbreiteten Position sehr nahe, die die konstitutive Tradition hinsichtlich des zweiten Fragenkomplexes zum Wesen der Ausdruckskraft einnimmt. Durch das Insistieren darauf, dass die Lichtung nicht ontisch begründet ist, weicht er dagegen beim ersten Hauptkomplex radikal ab. Das könnte man mit der kreationistischen Sicht der Ausdruckskraft bei der Unterfrage B verwechseln. Aber dies sind ziemlich verschiedene Fragen. Die Lichtung als nicht ontisch begründet oder verortet zu verstehen heißt nicht, sie als selbsteinschließend, als mit nichts außerhalb ihrer selbst verbunden, zu betrachten. Ein selbst-einschließendes Bild der Lichtung würde Heideggers Version des AntiSubjektivismus klar zuwiderlaufen. Was bei Heidegger entsteht, ist daher eine neue Position, die man sich nur schwer vorstellen konnte, bevor er die Fragen der Philosophie auf seine ganz eigene Art stellte. Die Verwechslung der deontisierten und der kreationistischen Sicht auf die Lichtung liegt nahe, wenn wir uns innerhalb eingewöhnter Kategorien bewegen. Denn die meisten manifestationistischen Lesarten des Ausdrucksraumes basierten auf starken ontischen Postulaten, die als notwendige Fundamente dieser Lesarten galten, wie etwa Hegels Geist, Schopenhauers Wille oder auch Nietzsches Wille zur Macht. Diese zu bestreiten schien gleichbedeutend mit einer Sicht des Ausdrucksraumes als durch und durch gemachtem. Heidegger aber verändert die gesamte philosophische Landschaft, indem er die Lichtung und ihren ontischen Ort einführt. Sobald wir diese Frage von derjenigen nach dem Wesen der Ausdruckskraft trennen, können wir einen manifestationistischen Blick auf letztere mit einer Ablehnung jeglicher ontischen Fundierung verbinden. Auf welche Basis aber stellen wir die manifestationistische Position, wenn ontische Fundamente der geläufigen Art wegfallen? Auf eine Deutung des Ausdrucksraumes selbst. Anders formuliert werden uns die Lichtung, oder die Sprache selbst, richtig ans Licht gebracht, auf die richtige Spur führen.
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Wie immer tendiert Heidegger dazu, das Verborgene zu bergen, nicht von einem Standpunkt außerhalb, sondern im Ereignis der Erschließung selbst. Darum glaube ich, dass die Artikulation der Motive der konstitutiven Position dabei hilft, Heidegger zu erklären. Er bezieht sich auf diese, weil er die Lichtung erklärt unter Rückgriff auf das, was sie ermöglicht und das ist im Wesentlichen eine sprachliche Handlung bzw. ein sprachliches Ereignis. Ich werde versuchen, Heideggers Vorgehen zu rekonstruieren, indem ich an das anknüpfe, was über Sprache im weiten Sinne der konstitutiven Tradition gesagt wurde, d.h. über das Ausdrucksvermögen. Wir können der von Aristoteles hergeleiteten Spur folgen, die ich oben erwähnte, und die Ausdruckskraft interpretieren, um die ihr implizite Tugend, die areté, herauszulesen. Durch Sprache wird eine Welt erschlossen; eine Welt, die durch Bedeutungen strukturiert ist und die auch ein Ort starker Güter ist, eine Welt von Objekten spezifisch menschlicher Gefühle und menschlicher Beziehungen. So ist deutlich, dass ein Telos, oder eine Reihe von tele, die wir in der Sprache finden, vorgibt, dass diese Erschließung angemessen erfolgt: dass die Aspekte korrekt verortet sind, die Güter voll anerkannt und unsere Gefühle und Beziehungen unverzerrt wahrgenommen werden. Einige dieser Ziele werden im Rahmen dessen realisiert, was wir als Wissenschaft definieren, andere verlangen andere Arten von Diskursen, wozu auch die Literatur, die Philosophie und andere Geisteswissenschaften zu zählen sind. Diese ganze Spannweite an Zielen ordnen die Manifestationisten der Lichtung zu. Im Falle der Naturwissenschaften könnte man das Ziel eher als Abbildung oder Repräsentation eines unabhängigen Objekts definieren, aber wenn man sich etwa über Gefühle klar wird, hilft die Sprache auch bei der Konstitution oder der Vervollkommnung; das adäquate Modell ist dabei das des Symbols. Indem man Heidegger diesen Zugang zu Sprache zuschreibt, macht man aus ihm einen entschiedenen Realisten, was er nach meinem Dafürhalten auch war. Jenseits des Zwecks dieser Erschließung erster Ordnung, gibt es einen der Lichtung immanenten Telos, sich selbst zu enthüllen, sich selbst unverzerrt zu manifestieren. Wenn ihr Zweck die unverstellte Enthüllung ist, wie kann dann diese Enthüllung selbst davon ausgenommen sein? Das Erscheinen sollte selbst erscheinen. Aber dies wirft ein Problem auf, weil Heidegger behauptet, dass es genau hier eine Tendenz gibt, die unser Verständnis der Lichtung deformiert. Zumindest in der Tradition, die von unserem westlichen »Geschick« bestimmt ist, betrachten wir Sprache als unser Werkzeug und die Lichtung als etwas, das in uns passiert und unsere Ziele und Zwecke widerspiegelt. Der Fluchtpunkt dieses Ansatzes ist die Reduktion von Allem zu einem Bestand im Dienste eines
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triumphalen Willens zum Willen. Im Versuch, unser Licht allem aufzuzwingen, rücken wir die Quellen der Lichtung ins Dunkle. Wir verschließen uns vor ihnen. Diese Erschließung zweiter Ordnung ist Teil des Telos der Sprache. Das wird in Heideggers Ausspruch deutlich, dass die totale Mobilmachung von Allem als Bestand das menschliche Wesen bedroht (vgl. Heidegger 2009d). Denn dies ist der nächste Schritt in einer im Grunde aristotelischen Argumentationskette. »Wohl […] ist das Menschliche in seinem Wesen sprachlich.« (Heidegger 1985: 27) Was also dem Telos der Sprache zuwiderläuft, läuft dem menschlichen Wesen zuwider. Aber ich ahne, dass einigen Lesern bei dieser aristotelischen Lesart von Heidegger unwohl ist. Daher möchte ich sogleich auf die Differenzen hinweisen. Das menschliche Wesen wird hier nicht abgeleitet aus einer ontischen Untersuchung einer bestimmten Spezies unbehaarter Affen, die zufälligerweise Sprache gebrauchen. Wir leiten dies nicht ab aus der Natur des animal rationale. Es wird, im Gegenteil, ausschließlich aus dem Seinsmodus der Lichtung abgeleitet, indem man auf die Art und Weise wie Sprache eine Lichtung eröffnet aufmerkt. Wenn wir das unverzerrt ans Licht bringen können, sehen wir, dass dies nichts ist, was wir vollbringen. Es ist nicht unser Werk, nicht unser Gemächte. Es muss da sein, als notwendiger Kontext all unserer Handlungen und Verrichtungen. Wir können nur insofern handeln, als wir bereits mitten drin sind. Dies kann nicht ohne uns geschehen, aber es ist nicht unser Tun. Es ist die Basis für die Bedeutung, die unser Leben hat – oder jeglicher Bedeutung überhaupt. Deshalb muss die Bedeutung unseres Lebens zumindest als ein zentrales Element die Rolle mitumfassen, die wir beim Entstehen der Lichtung spielen. Dies ist nicht die Hauptrolle, wie sie ein Schöpfer innehaben würde, aber eine Nebenrolle, die hilft die Lichtung geschehen zu lassen, sie zu schützen und sie aufrechtzuerhalten. Wir müssen das Sein pflegen, es schonen (vgl. Heidegger 2009e). Der menschliche Akteur ist der »Hirt des Seins« (Heidegger 2004: 331; 342).11 Diese Rolle abzulehnen, zu versuchen, sie zu etwas anderem zu formen, so zu handeln, als hätten wir alles unter Kontrolle, läuft unserem Wesen zuwider und kann nur destruktiv sein. Die Parallele zu Aristoteles’ Argumentation ist unabweisbar. Allerdings ist sie in eine andere Tonart transponiert worden. Unser Wesen wird nicht von einer ontischen Beschreibung hergeleitet, sondern von unserer Rolle, die wir der Lichtung gegenüber einnehmen. Darum versteht Heideg-
11 »Der Mensch ist nicht der Herr des Seienden. Der Mensch ist der Hirt des Seins.« (Heidegger 2004: 342).
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ger seine Philosophie als anti-humanistisch und verbindet »Humanismus« mit der anthropozentrischen Doktrin menschlicher Kontrolle. Aber wie kann man die Seinsart der Lichtung anerkennen? Wie erscheint das Erscheinen unverzerrt? Erschlossenheit ist keine zusätzliche Entität über und jenseits derer, die erscheinen. Daher ereignet sich Meta-Erschlossenheit im Zuge des Erscheinens erster Ordnung von Entitäten. Für Heidegger bedeutet das, dass sie, oder eine wichtige Teilmenge davon, als »Dinge« erscheinen müssen, nicht einfach als Objekte oder, noch schlimmer, als Bestand. Der springende Punkt beim »Ding« ist, dass es, indem es erschlossen wird, seinen Ort in der Lichtung miterschließt. Der späte Heidegger führt den Begriff des »Gevierts« ein, um dies zu erklären: die Sterblichen und Göttlichen, Erde und Himmel. Nehmen wir eine einfache Entität wie einen Krug. Indem er in der Welt des Bauern erscheint, noch nicht mobilisiert durch die moderne Technik, verweist er auf menschliche Aktivitäten, in denen er eine Rolle spielt, wie zum Beispiel das Ausschenken des Weins am gemeinsamen Tisch. Der Krug ist der Ort, an dem dieses dichte Gewebe von Praktiken wahrgenommen werden kann, sichtbar gemacht in der bloßen Form des Kruges und seines Henkels, der sich selbst für diesen Gebrauch anbietet. So viel zum menschlichen Leben, das in diesem Ding miterscheint. Zugleich basiert diese Lebensform auf und ist verwoben mit starken Gütern, Fragen von intrinsischem Wert. Diese Dinge fordern etwas von uns. Man kann sie als »göttlich« bezeichnen. Auch diese werden mit-erschlossen. Heidegger stellt sich vor, dass diese Verbindung von einem realen Trankopfer herrührt, das aus dem Krug gegossen wird. Ich bezweifle allerdings, dass der christliche Schwarzwaldbauer (anders als die alten Griechen) wirklich etwas Derartiges getan hat. Es reicht jedoch aus, darauf hinzuweisen, dass die menschlichen Weisen der Geselligkeit, die der Krug mit-erschließt, durchwirkt sind mit religiöser und moralischer Bedeutung. Es mag sein, dass der Pfarrer ein Tischgebet sprach, aber auch wenn er es nicht tat, hat dieses gemeinsame Leben eine zentrale Bedeutung im Leben der Teilnehmer. Der Krug ist etwas, das für den menschlichen Gebrauch geformt und hergestellt wurde. Er ist eines jener Objekte, die schon eindeutig als Ort von Funktionen identifiziert sind. Als solches steht er auf und geht hervor aus einem unüberschaubaren Bereich von noch ungeformter und unidentifizierter Realität. Dies ist ein Feld möglicher zukünftiger Formung, aber es ist grenzenlos und unerschöpflich. Jegliche Formung ist umgeben und zehrt von diesem Ungeformten. Sofern wir uns nicht davor verschließen, wird der Krug auch von seiner Geschichte als geformter Entität erzählen, von seiner Entstehung aus ungeformter Materie, von seiner andauernden Abhängigkeit vom Ungeformten, da er nur als Entität exis-
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tieren kann, solange er von der ganzen umgebenden Wirklichkeit gestützt wird. Er ruht letztlich der Erde auf und dies ist der Begriff, den Heidegger für diese Dimension der Mit-Erschlossenheit verwendet. Schließlich ist der Krug, der ganze Kreis menschlicher Aktivitäten, von denen er erzählt sowie die Erde offen für größere kosmische Kräfte, die jenseits des formbaren Bereichs liegen und die ihm entweder ein Gedeihen erlauben oder ihn mit fortreißen. Der Wechsel von Tag und Nacht, Stürme, Fluten, Erdbeben oder ihre gütige Abwesenheit – das sind die Dinge, die Heidegger unter dem Begriff »Himmel« versammelt. Sie stellen den Rahmen dar, innerhalb dessen die Erde teilweise als unsere Welt geformt werden kann. Dies alles wird im Ding mit-erschlossen. Heidegger spricht davon, dass es sie versammelt und sie verweilen in ihm (vgl. Heidegger 2009e: 147; 2009f: 170). Wenn dies geschieht, dann kann man davon sprechen, dass die Lichtung selbst unverzerrt erschlossen ist. Die unverzerrte Meta-Erschlossenheit ereignet sich durch diese Art von Erscheinen erster Ordnung. Unter Dingen zu sein, die auf diese Art erscheinen, bezeichnet Heidegger als »wohnen«. Das beinhaltet, dass wir die Dinge »pflegen«. »[D]er Aufenthalt bei den Dingen ist die einzige Weise, wie sich der vierfältige Aufenthalt im Geviert jeweils einheitlich vollbringt. Das Wohnen schont das Geviert, indem es dessen Wesen in die Dinge bringt. Allein die Dinge selbst bergen das Geviert nur dann, wenn sie selber als Dinge in ihrem Wesen gelassen werden. Wie geschieht das? Dadurch, daß die Sterblichen die wachstümlichen Dinge hegen und pflegen, daß sie Dinge, die nicht wachsen, eigens errichten.« (Heidegger 2009e: 145 f.; Herv. i. O.)
Aus dieser Passage wird deutlich, dass Dinge mehr beinhalten als hergestellte Objekte. Sie beinhalten lebende Dinge. Und sie gehen darüber hinaus: »Ding ist aber auch nach seiner Weise der Baum und der Teich, der Bach und der Berg.« (Heidegger 2009f: 175) Das heißt Teil der Bewahrung des Gevierts ist das »Retten der Erde« (Heidegger 2009e: 145). Diese Art unter Dingen zu leben, erlaubt es dem Geviert in ihrer alltäglichen Präsenz manifest zu sein. Das ist bereits ein Effekt der Sprache, weil das Geviert nur mit-erschlossen für uns sein kann, die wir bereits das Ding selbst identifiziert und die vier Dimensionen in der Sprache abgesteckt haben. Aber es gibt einen dichteren Modus der Sprache, in dem wir dem, was im Ding mit-erschlossen ist, seinen im eigentlichen Sinne eigenen Ausdruck geben wollen. Wir versuchen dies in einer bedachten Formulierung, in einer ausdrucksstarken Form einzufangen. Heideggers eigene Weise zu philosophieren (eigentlich »Denken«) ist ein Versuch, dies zu tun. Aber auch durch Kunstwerke ist dies möglich. Die Bauers-
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frau erfährt, wie sie sich ihre Schuhe anzieht, sie erfährt ihr Leben in den Feldern, die Jahreszeiten und das reifende Getreide. »[D]ann weiß sie ohne Beobachten und Betrachten all jenes« (Heidegger 1994: 19). Aber in van Goghs Gemälde der Bauernschuhe wird der dingliche Charakter der Bauernschuhe als etwas gezeigt, worüber wir nachsinnen können; in einer ausdrücklichen Formulierung können wir beobachten und überlegen (vgl. ebd.: 19 f.). Aber wir verschließen uns dem allen, wenn wir uns vom Leben unter den Dingen und vom Ausformulieren dessen, was sie mit-erschließen in der Kunst abwenden und sie als kontextfreie Objekte identifizieren, zugänglich allein durch wissenschaftliche Untersuchungen. Noch mehr trifft dies zu, wenn wir von der technologischen Lebensweise erfasst werden und sie als Bestand behandeln. Wenn wir dies zu unserer vorherrschenden Haltung zur Welt machen, schaffen wir die Dinge ab, und zwar in einem noch fundamentaleren Sinne als wenn wir sie in Stücke schlagen, obwohl dies die Folge sein kann. »Das in seinem Bezirk, dem der Gegenstände, zwingende Wissen der Wissenschaft hat die Dinge als Dinge schon vernichtet, längst bevor die Atombombe explodierte.« (Heidegger 2009f: 162) Was sagt uns dies alles über Sprache? Sie hat ein Telos, das verlangt, dass Dinge in einer bestimmten Weise erscheinen. Das ist schon durch Sprache ermöglicht. Und weiter, wenn dies verloren geht, erwächst bestimmten Weisen der Sprachverwendung in Philosophie und Kunst, oder in ›Heideggerisch‹: dem »Dichten« und »Denken«, eine bedeutende Rolle bei ihrer Wiedergewinnung. Wenn wir die potenzielle Rolle verstehen, die diese haben können, verstehen wir, dass der ursprüngliche Modus des Wohnens, den wir verloren haben, den Gründungsakten des einen oder des anderen entsprungen ist. Durch ihren Telos gibt Sprache eine bestimmte Form der Expression vor, eine Weise, Dinge zu formulieren, die helfen kann, ihre Dingheit wiederherzustellen. Sie gibt uns vor, was zu sagen ist, gibt uns, wie man formulieren könnte, das dichterische oder denkerische Wort vor. Wir können fortfahren zu reden, nur unsere Zwecke berücksichtigend, ohne uns bewusst zu sein, dass es noch irgendetwas anderes zu beachten gibt. Aber wenn wir aufhören, uns der Sprache anzunehmen, wird sie uns eine bestimmte Art des Sprechens vorgeben. Oder, anders formuliert, die Entitäten werden fordern, dass wir die Sprache benutzen, die sie als Dinge erschließen kann. Unser Gebrauch der Sprache ist, in anderen Worten, nicht mehr willkürlich, disponibel, eine Sache unserer eigenen Gefühle und Zwecke. Sogar und gerade in der Kunst, die dem Subjektivismus als der Bereich der am wenigsten gebunden personalen Freiheit und Selbstexpression gilt, sind nicht wir es, sondern die Sprache, die den Ton angibt.
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So sollten wir aus meiner Sicht Heideggers Konzeption der sprechenden Sprache verstehen. Deswegen fasst Heidegger unser Verhältnis zur Sprache als einen Ruf, auf den wir aufmerken. »Die Sterblichen sprechen insofern sie hören.« Und er kann vom Ruf sprechen, der aus der Stille entspringt (vgl. Heidegger 1985: 27-29). Stille ist dort, wo noch nicht die rechten Worte sind, aber wir sind von den Entitäten angerufen, sie als Dinge zu erschließen. Natürlich passiert dies nicht vor der Sprache, es kann nur in ihr passieren. Aber in der Sprache und wegen ihres Telos, sind wir dazu angehalten, neuartige Worte zu finden, die wir aus der Stille herausziehen. Diese Stille steht im Kontrast zum lauten Gerede, durch das wir die Welt mit Ausdrücken unserer selbst und unserer Zwecke füllen. Diese neuartigen Worte sind kraftvoll, wir können sie als wiedergewinnende Worte bezeichnen. Sie konstituieren wahrhaftes Denken und Dichten.12 Sie sind auf einer anderen Ebene als die Alltagssprache – nicht, weil sie »gehobene« Sprache sind, sondern weil Alltagssprache eine Art Eintrübung, ein Abfallen, ein Vergessen der erfüllteren Erschlossenheit ist, die die Worte auf den Weg bringen.13 Deswegen will ich von Wiedergewinnung sprechen.
12 Dass Heidegger »Dichten« neben das »Denken« stellt, spiegelt die Tatsache wider, dass seine Auffassung nicht nur praktisch sondern auch hinsichtlich des Selbstverständnisses maßgeblich von einigen Dichtern des 20. Jahrhunderts vorweggenommen wurde, besonders von Rainer Maria Rilke. In der neunten seiner Duineser Elegien bietet Rilke seine Interpretation des kraftvollen Wortes als eines Wortes der Huldigung: »Preise dem Engel die Welt […] Sag ihm die Dinge […] Zeig ihm, wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser«. Dem Wort »Ding« wird hier eine spezielle Kraft beigelegt, eng verwandt mit der Heideggers. Unsere Aufgabe ist es, Dinge zu sagen. Und Rilkes Beispiele erinnern sehr an die Heideggers: »Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus, Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster – höchstens Säule, Turm«. Diese Worte sind eine Art Rettung: »Und diese, von Hingang lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichen, zu«. Die Rettung ist umso dringlicher ob des Andrangs der technologischen Gesellschaft, alles in einen Speicher der Kraft zu verwandeln, aller Form beraubt, so die siebte Elegie. »Weite Speicher der Kraft schafft sich der Zeitgeist, gestaltlos wie der spannende Drang, den er aus allem gewinnt. Tempel kennt er nicht mehr«. Das Konzept des »Bestandes« war ursprünglich ein poetisches Bild Rilkes. 13 »Eigentliche Dichtung ist niemals nur eine höhere Weise […] der Alltagssprache. Vielmehr ist umgekehrt das alltägliche Reden ein vergessenes und darum vernutztes Gedicht, aus dem kaum noch ein Rufen erklingt.« (Heidegger 1985: 28).
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Heidegger berührt hier einen entscheidenden Punkt, die Kraft von Worten, den die Einrahmungs-Theorien nicht einfangen können. Diese Kraft kann in unglaublich positiver Weise gebraucht werden, aber auch auf erschreckend gefährliche Art. Bezeichnenderweise ist sich Heidegger nur des Ersteren bewusst. Die Gefahr rührt daher, dass sehr viel aus dem Bereich der Repression und Vergessenheit geborgen werden kann. Dort gibt es auch Ressentiments und Hass und Visionen von Allmacht und Rache und diese können durch ihre eigenen Worte der Kraft losgelassen werden. Hitler war ein welthistorisches Genie nur in diesem einen Punkt, dem Finden dunkler Worte der Kraft, Worte, die die Ängste, die Sehnsüchte und den Hass der Menschen einfangen und auf eine dämonische Stufe hieven konnten. Heidegger hat keinen Platz für die Wiedergewinnung des Bösen in seinem System und dies ist zum Teil die Ursache dafür, dass Hitler ihn verblenden konnte und er nie die moralische Tragweite von dem erfasste, was zwischen 1933 und 1945 passierte.14 Aber Heideggers Philosophie besitzt auch eine positive Relevanz für die moderne Politik, eine die besonders heute wichtig ist. Ich kehre hier zu dem Thema zurück, das ich anfangs aufwarf. Heideggers Verständnis der Sprache, ihres Telos und des menschlichen Wesens können die Basis einer ökologischen Politik bilden, die auf etwas Tieferes baut als auf die instrumentelle Kalkulation der Bedingungen unseres Überlebens (obwohl dies allein genug sein sollte, um uns zu alarmieren). Es kann die Basis einer Tiefenökologie sein. Wie ich oben ausgeführt habe, können wir die Forderungen der Sprache auch als solche verstehen, die die Dinge uns auferlegen, sie in einer bestimmten Weise zu erschließen. Das ist gleichbedeutend damit, dass sie verlangen, dass wir sie als in bestimmter Art bedeutungsvoll anerkennen. Aber diese Art der Erschlossenheit kann in bedeutenden Fällen inkompatibel mit einer rein instrumentellen Haltung ihnen gegenüber sein. Nehmen wir die Wildnis als Beispiel. Sie verlangt es, als »Erde«, als Kehrseite der »Welt«, erschlossen zu werden. Das ist vereinbar mit einer Haltung der Erforschung, etwa der Identifikation von Spezies und geologischen Formationen, solange wir einen Sinn für die Unausschöpflichkeit der umgebenden Wildnis behalten. Aber in einer rein technologischen Haltung, in der wir den Regenwald nur als Bestand für die Holzproduktion betrachten,
14 Den unterschiedlichen Gebrauch solch kraftvoller Worte diskutiert mit ihm eigener Einsicht Vaclav Havel (1990) in seinem »Words on Words«, einer Rede, die er bei Entgegennahme eines deutschen Buchpreises [des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1989, Anm. d. Ü.] hielt. Der heideggersche Einfluss auf Teile seines Denkens (teilweise vermittelt über Patoþka) ist in diesem Text evident.
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bleibt für diese Bedeutung kein Platz. Um an Heideggers Anmerkung über Dinge und die Atombombe anzuknüpfen: Die technologische Haltung einnehmend vernichten wir die Wildnis in ihrer Bedeutsamkeit überhaupt, schon bevor wir eindringen und Bäume fällen. Diese Haltung tut unserer Natur als Sprachwesen Gewalt an. Es ist ebenso eine Vernichtung unserer selbst, auch wenn wir den Sauerstoff ersetzen und den Treibhauseffekt kompensieren könnten. So ausgedrückt, könnte es scheinen, als wäre Heideggers ökologische Philosophie hohl, letztlich basierend auf menschlichen Zwecken. Aber wir haben bereits gesehen, dass dies seine Position missversteht. Denn die fraglichen Zwecke sind nicht einfach menschliche. Unsere Ziele sind bestimmt durch etwas, demgegenüber wir uns eigentlich als dienend verstehen sollten. Deswegen muss uns ein angemessenes Verständnis unserer Zwecke über uns selbst hinausführen. In diesem Sinne hat Heidegger mit einer eigenständigen dritten Position vielleicht den Graben zwischen einer tiefen und einer nur oberflächlichen Ökologie überbrückt. Wie ich anfangs erwähnt habe, ist sein Position nicht durch die Begrifflichkeiten zu klassifizieren, in denen die Frage gemeinhin diskutiert wird. Er betritt damit Neuland. Richtig verstanden, kann der »Hirt des Seins« kein Jünger der triumphalistischen instrumentellen Vernunft sein. Deswegen könnte das Lernen, unter den Dingen zu wohnen, zum »Retten der Erde« beitragen. An diesem Punkt, wo wir all die Einsicht in unsere Beziehung zum Kosmos benötigen, die wir aufbringen können, um von unserem desaströsen Kurs abzukehren, könnte Heidegger eine lebensnotwendig wichtige, neue Art zu Denken eröffnet haben.
L ITERATUR Aristoteles (1985): Nikomachische Ethik, Hamburg: Felix Meiner. Cassirer, Ernst (2010): Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bände, Hamburg: Felix Meiner. Condillac, Etienne Bonnot de (2006): Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis. Ein Werk, das alles, was den menschlichen Verstand betrifft, auf ein einziges Prinzip zurückführt, Würzburg: Königshausen & Neumann. Guignon, Charles (1989): »Truth as Disclosure: Art, Language, History«, in: The Southern Journal of Philosophy Vol. XXVIII, Supplement, S. 105-120. Havel, Václav (1990): »Words on Words«, in: The New York Review of Books vom 18.01.1990, S. 5-8.
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Trauer und Menschlichkeit Korrespondenzen zwischen Butlers Politik der Verletzbarkeit und der Daseinsanalyse Heideggers A NNA H OLLENDUNG
E INLEITUNG Nach Vergleichen der philosophischen Denkansätze von Martin Heidegger und Judith Butler suchen Interessierte vergeblich: In polemischer Absicht werden Butler und Heidegger von Alex Gruber (2011: 14) kontextualisiert, der im Poststrukturalismus (in Gestalt von Butler und Jacques Derrida) lediglich eine Wiederholung zentraler Fehlschlüsse Heideggers erblickt und die gesamte Denkrichtung als Suspension der »Regeln der Logik und damit […, des] Denken[s]« abtut. So bleibt es bestenfalls bei einer Rückführung neuer philosophischer Strömungen wie dem Poststrukturalismus, der Postmoderne oder dem Postfundamentalismus – denen Butler allesamt zugeordnet werden kann – auf das Denken Heideggers, begleitet von regelmäßig formulierten Einschränkungen (vgl. z.B. Rockmore 2000; Birault 1977; White 1990; Holzinger 1991). Nur selten werden in der Sekundärliteratur verbindende Elemente diskutiert: So fragt Laurence P. Hemming (2000) danach, wie Butler und Slavoj Žižek den Begriff der »Transsubstantiation« im Anschluss an Heidegger verwenden. Gary A. Olson und Lynn Worsham behaupten, dass es eine Kontinuität zwischen Butlers früher Faszination für Heidegger und ihrem heutigen Sprachverständnis gibt (vgl. Olson/Worsham 2000: 728; 731 f.). Ein systematischer Vergleich von Butler und Heidegger steht jedoch noch aus. Mein Versuch einer vergleichenden Lektüre wird dadurch erschwert, dass es in Butlers Werk nur sehr wenige direkte Bezugnahmen auf Heidegger gibt und diese im Allgemeinen äußerst vage formuliert werden (vgl. z.B. Butler 2011a:
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224; Butler 2012b: 148; 166; 238). Obwohl sie sich in ihrem Philosophiestudium nach eigener Auskunft intensiv mit Heidegger auseinandergesetzt hat (vgl. Bell 2010: 140; Olson/Worsham 2000: 731) und verschiedene von ihr zitierte Denker_innen sich wesentlich auf ihn beziehen, kann von einem systematischen Rekurs Butlers auf Heidegger wohl nicht die Rede sein. Insofern ist es nicht mein Anliegen, aus jenen vermittelten Anschlüssen einen originären Rückbezug Butlers auf Heidegger zu (re-)konstruieren. Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Frage, inwieweit Butlers Subjekttheorie an Heideggers Bestimmungen der »Existenzialien« in seiner Daseinsanalyse anschließt: Definiert Butler die menschliche Existenz in Entsprechung zum »Mitsein« Heideggers? Inwiefern nimmt ihr Denken der Performativität dieses Existenzial auf? Stimmen Elemente ihres Entwurfs einer Sozialontologie1 mit Heideggers Versuch überein, die Subjektontologie zu überwinden? Die philosophische Nähe von Butlers Subjektbegriff zum Daseinsverständnis Heideggers wird anhand folgender Überlegungen nachgezeichnet: Laut Oliver Marchart (2010: 59-84) kann (I.) Butler als postfundamentalistische2 Denkerin charakterisiert werden. Der Postfundamentalismus weist die Behauptung eines letzten Grundes nicht einfach nur zurück, sondern fragt danach, wie ein Wahrheitsanspruch Gültigkeit gewinnt. Diese philosophische Strömung ist Marchart zufolge durch Heidegger begründet worden. Die damit zwischen beiden Denkern hergestellte Beziehung bietet mir einen ersten Anhaltspunkt für einen Vergleich der Theorieansätze. Ich glaube (II.), dass es lohnenswert ist,
1
Leider geht dieser Anspruch in den meisten Übersetzungen verloren. So wird bspw. in Raster des Krieges das englische »social ontology« als »soziale Ontologie« übersetzt (Butler 2010: 10-13). Damit wird – anders als im Angelsächsischen – im deutschsprachigen Raum eine künstliche Dichotomie etabliert, die zwischen einer »sozialen Ontologie« einerseits und einer »Sozialontologie« andererseits unterscheidet, wobei der letztere Begriff jener philosophischen Tradition um John R. Searle vorbehalten wird. Ich gehe hingegen davon aus, dass Butlers Zugang zu ontologischen Fragen sehr viel weitreichender ist, als die Attribuierung durch das Adjektiv »sozial« nahelegt und verwende daher den m.E. zutreffenderen Begriff »Sozialontologie« (vgl. z.B. Butler 2010: 10-13).
2
Das Präfix »post« verweist nicht auf eine temporale Bestimmung, sondern markiert die Differenz zu dem Kernbegriff und seiner Gegenformulierung (in diesem Fall: Fundamentalismus und Antifundamentalismus) und thematisiert ihr Verhältnis zueinander.
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Heideggers Beschreibung des »Geredes« als eine Art Prototyp von Butlers Theorie der Performativität zu lesen. In beiden Fällen geht es um eine Struktur, die Subjekte notwendigerweise permanent unreflektiert übernehmen und die ihr Selbst- und Weltverständnis entscheidend prägt. Als »Gerede« bezeichnet Heidegger ein uneigentliches Verhältnis zur Sprache, in dem sich das Dasein in seiner »durchschnittlichen Ausgelegtheit« (Heidegger 2006: 170) versteht. In der »Rede« wird dagegen ein Wahrheitsgeschehen artikuliert. Der Begriff »Gerede« ist nicht abwertend gemeint, sondern beschreibt die Art und Weise, wie das Dasein sich alltäglich zu anderen verhält. Zu derartigen »Ausgelegtheiten« kann (III.) beispielsweise die binäre Geschlechterkonstruktion gerechnet werden. Während Heidegger ausschließlich das Wie, die Daseinsmodi, darstellt, geht es Butler darüber hinaus auch um das Was, um die jeweiligen Muster, die das Subjekt prägen. Butler und Heidegger dekonstruieren die metaphysische Subjektontologie, in welcher die Subjekte als souveräne Instanzen vor jeder Weltbezüglichkeit verstanden werden. Da Butler (IV.) auf die konkreten Bedingungen der Intelligibilität – also das Was der Subjektkonstitution – eingeht, von der die Anerkennung des Anderen abhängt, kann sie die Kritik an den damit ausgeschlossenen Lebensmöglichkeiten mit der politischen Forderung nach einer Erweiterung der »Grenzen der Wahrnehmung« verbinden. Laut Butler können (V.) diese Grenzen durch die mediale Vermittlung des Leidens anderer verschoben werden. Die Schwierigkeiten einer solchen Grenzverschiebung zugunsten menschlicher Nähe diskutiert Butler im Zusammenhang mit Emmanuel Lévinas’ Konzept des menschlichen »Antlitzes«. Die Theorie Butlers bezieht die Anerkennungsbedingungen kritisch-reflexiv mit ein. Dabei geht sie über die Sphäre des Geredes hinaus und betont die grundlegende Sozialität des Daseins. Diese wird (VI.) von Heidegger anhand eines anderen Existenzials – dem »Mitsein« – beleuchtet. Von der Figur des »Mitsein« hat Butler nachweisbar Kenntnis genommen (vgl. Butler 2012b: 148), allerdings schließt sie nicht explizit daran an. Möglicherweise lassen sich dennoch Parallelen zwischen beiden Beschreibungen der »Subjektivität« ausmachen. Eine Korrespondenz zu Heideggers »Mitsein« wird angedeutet, insofern sie in neueren Schriften vermehrt den Begriff der »Ek-stase« verwendet (vgl. Butler 2011a: 38; 224 und Butler 2012b: 9; 12). Gefragt wird demnach (VII.), welche Rolle diese Bezugnahme in ihrem Denken spielt und ob sie sich mit dem Rückgriff auf Heideggers Vokabular der von ihm angestrebten Analytik des Daseins philosophisch angenähert hat. In der abschließenden Diskussion (VIII.) werden die wesentlichen Gedanken dieses Aufsatzes zusammengefasst und darauf reflektiert, inwieweit die hier formulierten Befunde auf eine zentrale Übereinstimmung von Butlers Subjekttheorie mit Heideggers Daseinsanalyse hindeuten.
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I.
H EIDEGGER
ALS
P OSTFUNDAMENTALIST
Ausführlich diskutiert Marchart (2010) anhand der politischen Differenz3 die philosophischen Aneignungen und Neuinterpretationen Heideggers in den Theorien von Jean-Luc Nancy, Claude Lefort, Alain Badiou, Jacques Rancière, Ernesto Laclau und Giorgio Agamben. Marchart sieht in den Schriften Heideggers den theoriegeschichtlichen Ursprung des Postfundamentalismus. Im Gegensatz zu einem bloßen Antifundamentalismus, der die Annahme metaphysischer Grundlegungen negiert, erkennen postfundamentalistische Positionen die Notwendigkeit von Gründungen an, bestreiten aber deren Universalität und präsoziale Fundierung. Die Verneinung eines absoluten, letzten Grundes impliziert bereits die Notwendigkeit von unvollständigen Gründungsversuchen. Der Grund bleibt damit erhalten, bezeichnet aber eine leere Position, der je nach spezifischer Auslegung ein Inhalt zugesprochen wird. Marchart behauptet, dass Postfundamentalismen damit an Heideggers Verständnis des Grundes als Ab-grund anschließen: Heidegger bestimmt den Grund als offene Weite, die sich in ihrer Offenbarkeit zugleich verbirgt (vgl. z.B. Heidegger 1989: 379-388). Der Grund ist eine Leerstelle, allerdings bleibt »dieser seltsame Ort eines abwesenden Grundes oder Ab-grundes nicht im gewöhnlichen Verständnis des Begriffs leer […]. Wenn er leer oder un-erfüllt bleibt, dann in einer außergewöhnlichen und originären Weise: als ausgezeichnete ›Art der Eröffnung‹. Denn genau indem er seine eigene Er- bzw. Aus-Füllung aufschiebt, ermöglicht der Grund eine Eröffnung und Lichtung. Der Heidegger’sche Begriff des Ab-grunds ist also in keinem Fall als eine bloße Antithese zum Grund vorzustellen, bleibt doch etwas von der Natur des Letzteren immer auch in Ersterem präsent: ›Der Ab-grund ist Ab-grund‹« (Marchart 2010: 68 f.; Herv. i. O.).
Heidegger fordert mit der chiastischen Wendung des »Ab-grunds als Ab-grund« dazu auf, ein Paradox zu denken: Eine Gründung, die auf einer Leere gründet, einer bestimmten Leere, nämlich der des Ab-grunds. »Ab-grund ist die zögernde
3
Bei der »politischen Differenz« handelt es sich um einen Grundbegriff der politischen Theorie. Es geht um die Unterscheidung der Politik als institutioneller Ordnung und Verwaltung einerseits und dem Politischen andererseits. Das Nachdenken über das Politische erlaubt es, jene Momente zu benennen, die die Sphäre des Politischen auszeichnen, bspw. gegenüber den Gebieten der Ökonomie oder des Sozialen (vgl. Marchart 2010).
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Versagung des Grundes. In der Versagung öffnet sich die ursprüngliche Leere, geschieht die ursprüngliche Lichtung, aber die Lichtung zugleich, damit sich in ihr die Zögerung zeige« (Heidegger 1989: 380; Herv. i. O.). Heideggers Formulierung der »zögernden Versagung des Grundes« verdeutlicht, dass das Gründen nicht auf die Subjektivität von Menschen zurückgeführt werden kann. Das Versagen ist kein menschliches Versagen, ansonsten bliebe das subjektive Bewusstsein der Grund. Der Abgrund selbst versagt den Grund. Dies geschieht »zögernd«, weil das Denken laut Heidegger gerade erst begonnen hat, sich vom Abgrund in Anspruch nehmen zu lassen – das heißt, die Abgründigkeit metaphysischer Grundlegungen und Setzungen zu vernehmen (vgl. ebd.). Laut Marchart beruhen Butlers Überlegungen zu Contingent Foundations auf Heideggers Einsichten in die ontologische Differenz4 (vgl. Marchart 2010: 5984). Aus ihrer Zurückweisung universeller Gründe resultiert dabei keine grundsätzliche Ablehnung des Begriffs der »Universalität«, sondern sie setzt sich für eine Befreiung der Universalität von ihrer »fundamentalistischen Bedeutung [ein], um sie in eine Stätte permanenter politischer Auseinandersetzung zu übersetzen« (Butler 1992: 8; Übersetzung AH).
II. S PRACHE
UND
»G EREDE «
Auch die Subjektivität der Menschen ist, so Butler, nicht auf ein unerschütterliches Fundament – die Cartesische res cogitans – zurückführbar. Butler denkt Subjektivität vielmehr als einen grundlosen, sprachlichen Verweisungszusammenhang. Die Bedeutung der Worte ergibt sich aus der Differenz zu anderen Worten. Ein Begriff deutet selbst nicht auf ein wie auch immer geartetes Original, sondern erhält einen spezifischen Sinngehalt, indem er auf frühere sprachliche Äußerungen rekurriert. Sprechakte haben eine Bedeutung, insofern sie als Zitate auf Zitate bzw. Zitationsketten ohne Ursprung und ohne ein außersprachlich vorhandenes Objekt verweisen. Dieses Verweigern einer a priori vorhandenen Sprachbedeutung eröffnet eine Perspektive auf die grundsätzliche Offenheit menschlicher Deutungen und individuellen Erlebens. Wie dieses verstanden
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Mit der »ontologischen Differenz« bezeichnet Heidegger den Unterschied von Sein und Seiendem. Heideggers wesentlicher Vorwurf an die Metaphysik (damit ist die Philosophie von Platon bis Nietzsche gemeint) besteht darin, dass diese das Sein als etwas Seiendes versteht (»Seinsvergessenheit«). Darüber hinaus wird das Seiende (das Selbst, die Welt, die Dinge) aus seinen Bezüglichkeiten künstlich isoliert.
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werden kann, ohne der Beliebigkeit zu verfallen, wird im Folgenden (vgl. III.) anhand des Beispiels der Zweigeschlechtlichkeit erläutert. Damit dabei bereits der Zusammenhang zum Sprachverständnis Heideggers sichtbar werden kann, möchte ich zuvor auf den Sprachmodus des »Geredes« eingehen, in dem sich das Dasein in der Uneigentlichkeit des Man aufhält. Das Sein kann Heidegger zufolge nur in der »Rede« zur Sprache kommen. Da Butler die Seinsfrage nicht stellt und die Möglichkeit eines unverstellten Erkennens von einem ungedeuteten Seienden verwirft, kann nur im Hinblick auf das »Gerede« auf Gemeinsamkeiten geschlossen werden. Heidegger erklärt zum »Gerede« in Sein und Zeit: »Die Mitteilung ›teilt‹ nicht den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden, sondern das Miteinandersein bewegt sich im Miteinanderreden und Besorgen des Geredeten. Ihm liegt daran, daß geredet wird. Das Gesagtsein, das Diktum, der Ausspruch stehen jetzt ein für die Echtheit und Sachgemäßheit der Rede und ihres Verständnisses. Und weil das Reden den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden verloren bzw. nie gewonnen hat, teilt es sich nicht mit in der Weise der ursprünglichen Zueignung dieses Seienden, sondern auf dem Wege des Weiter- und Nachredens. Das Geredete als solches zieht weitere Kreise und übernimmt autoritativen Charakter. Die Sache ist so, weil man es sagt.« (Heidegger 2006: 168; Herv. i. O.)
Heidegger teilt keineswegs die Auffassung, dass Sprache grundsätzlich selbstreferentiell ist. Er sieht in der Sprache die ausgezeichnete Weise, in der das erschlossene Sein miteinander geteilt werden kann. Jedoch ist jene Weise der Welterschließung prekär, stets droht sie in die »Bodenlosigkeit des Geredes« (ebd.: 169) abzugleiten: »Die Rede, die zur wesenhaften Seinsverfassung des Daseins gehört und dessen Erschlossenheit mit ausmacht, hat die Möglichkeit, zum Gerede zu werden und als dieses das Inder-Welt-sein nicht so sehr in einem gegliederten Verständnis offenzuhalten, sondern zu verschließen und das innerweltlich Seiende zu verdecken.« (Ebd.)
Das »Gerede« prägt die alltägliche Ausgelegtheit des Daseins. Die Aufgabe des Verstehens liegt darin, innerhalb der Täuschung durch das »Gerede« »und aus ihr und gegen sie« (ebd.) sich einen Weg zu bahnen zu »den primären und ursprünglich-echten Seinsbezügen zur Welt, zum Mitdasein, zum In-Sein« (ebd.: 170). Meiner Ansicht nach ist das, was Butler als ursprüngliche Konstitutionsweise des Selbst beschreibt, mit Heidegger als »Verfallenheit ans Man« zu charakteri-
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sieren. Möglicherweise kann in Analogie zu Heidegger gesagt werden, dass es notwendig ist, das »Gerede« der Norm (z.B. der heterosexuellen Matrix) aufzudecken, um sich auf das Dasein zu besinnen, das in der Weise der ursprünglichen Verletzlichkeit und der Abhängigkeit von anderen existiert. Zur Überprüfung dieser These wird im Folgenden zunächst das Subjektverständnis Butlers anhand ihrer Geschlechtertheorie dargestellt.
III. I M N ETZ DES S OZIALEN : D AS S UBJEKTVERSTÄNDNIS J UDITH B UTLERS Über die kategoriale Geschlechterordnung werden Menschen attributiv bestimmt und somit unter der Herrschaft gesellschaftlicher Geschlechternormen zu Objekten der Medizin, der Naturwissenschaft, der Psychologie und der empirischen Sozialforschung degradiert. Seit dem 19. Jahrhundert wird diese Zuordnungspraxis medizinisch und biologisch legitimiert und in zunehmendem Maße auch durch hormonelle und chirurgische Eingriffe den Körpern eingeschrieben (vgl. z.B. Laqueur [1996]; Honegger [1996]; vgl. für die historisch kontingente Kopplung von Geschlechtlichkeit an spezifische körperliche Vorgänge auch Duden [1987]). Im Alltag wird die Geschlechterordnung permanent durch eine Vielzahl individueller Handlungen kollektiv (re-)produziert (»Performativität«). Wir sind intelligible Subjekte, indem wir als jemand angesprochen werden, identitätsstiftende Namen annehmen und diesen entsprechend auftreten. Dabei sind wir an gesellschaftliche Vorgaben und Normen gebunden, die durch unsere aktive Zitation bestätigt und gewissermaßen neu erzählt werden. Das »Ich« wird durch dieses und in diesem Netzwerk an Zuweisungen konstituiert und wandelt sich im performativen Vollzug. Das Subjekt ist demzufolge keine geschlossene Entität, sondern befindet sich in einem stetigen Prozess des Werdens. Während Heidegger zunächst behauptet, dass das »Wer« das ist, »was sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnissen als Identisches durchhält und sich dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht« (Heidegger 2006: 114), meint Butler, dass die Identität zwangsförmig durch ständige Wiederaufführungen von sozialen Praktiken permanent bestätigt und gestiftet wird. Anstatt die Bedeutung von Körpern von einer Ontologie des Körpers abzuleiten, die dem Sozialen vorgelagert wäre, schlägt Butler vor, »die Geschlechtsidentität als Inszenierung zu betrachten, die den Anschein ihrer inneren Festigkeit performativ konstituiert« (Butler 1991: 110 f.). Die Konstituierung und Materialisierung des Geschlechts geschieht diskursiv und gewinnt so ihre spezifische historische Erscheinungsform. Die Identi-
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tät des Subjekts und dessen Körperlichkeit werden somit erst durch und im Sozialen ermöglicht. Während Heidegger also einräumt, dass es »[f]raglich bleibt […], ob auch nur der ontische Gehalt der obigen Aussage den phänomenalen Bestand des alltäglichen Daseins angemessen wiedergibt« (Heidegger 2006: 115) und möglicherweise »das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin« (ebd.; Herv. i. O.), geht Butler nicht von einem Dasein aus, das sich in einer Weise der Verfallenheit alltäglich aus dem Blick verliert. Das Subjekt ist in ihrer Idee der Performativität nicht autonom, vielmehr entsteht es erst in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Vorgaben und bleibt den normativen Grundsätzen verpflichtet, denen es im Konstitutionsprozess unterworfen wird (vgl. z.B. Butler 2010: 11). Zwar kann es die Vorgaben subversiv unterlaufen und aktiv an der Veränderung der Normen mitwirken, eine Überschreitung der normativen Grenzen ist jedoch gefährlich und kann mit dem sozialen und/oder mit dem gewaltsamen, physischen Tod bestraft werden. Butler zufolge wird die Aggression gegen Trans-Menschen dadurch ausgelöst, dass diese durch ihr bloßes Dasein die zumeist verborgenen, konstitutiven Normen »der Menschlichkeit« untergraben. Ein Kind wird in dem Moment vermenschlicht (im amerikanischen Original heißt es »humanized«), in dem die Frage nach dem Geschlecht geklärt wird. Andernfalls bleibt der Zugang zum Menschlichen versperrt. Geschlechtslose oder Uneindeutige bilden als Un-menschen jenen Bereich »des Verworfenen«, von dem das Menschliche abgesetzt wird (vgl. Butler 1990: 111). »Festzustellen, dass man vollkommen unintelligibel ist (dass einen die Regeln der Kultur und der Sprache als eine Unmöglichkeit ausweisen), heißt festzustellen, dass man den Zugang zum Menschlichen noch nicht erlangt hat, dass man immer nur so spricht, als ob man menschlich wäre, doch mit dem Sinn, dass man es nicht ist. Man stellt fest, dass die eigene Rede hohl ist und dass die Anerkennung ausbleibt, weil die Normen, durch die sich Anerkennung vollzieht, nicht dafürsprechen« (Butler 2011a: 55; Herv. i. O.).
Wir sind demnach nur Subjekte, insofern wir durch wechselseitige Ansprache und Anerkennung als ein Mann oder als eine Frau adressiert werden. Die grundlegende Sozialität menschlichen Daseins wird überdies durch die Erkenntnis, dass alle Menschen existenziell gefährdet und voneinander abhängig sind, in den Fokus gerückt. Butler stellt den Umstand, dass menschliches Leben bereits mit der Geburt von einem »sozialen Netz helfender Hände abhängt […] [und] man sich um es kümmern [muss], wenn es überleben soll« (Butler 2010: 22), ins Zentrum ihrer Philosophie. Bevor sich ein »Ich« bildet,
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»bin ich ein Etwas, das berührt wurde, das bewegt, gefüttert, zu Bett gebracht, angesprochen und in dessen Umgebung – auch über es – gesprochen wurde. Nicht nur wurde mein frühkindlicher Körper einfach berührt, bewegt, hergerichtet, sondern all diese Einwirkungen fungierten als ›taktile Zeichen‹, die in meine Konstitution eingingen.« (Butler 2007: 95)
Das »Ich« bildet sich demnach in einer ursprünglichen wehrlosen Abhängigkeit von anderen – in einem spezifischen Sein mit anderen. Diese grundsätzliche Verletzbarkeit, die bei Kleinkindern und Babys offensichtlich ist, wird durch das Älterwerden nicht aufgehoben. Das »Ich« kann auch später nur in seiner zwischenmenschlichen Bezüglichkeit existieren, es bleibt auf die Sozialität angewiesen. Ein körperliches Wesen zu sein, bedeutet unweigerlich »anderen ausgeliefert zu sein« (Butler 2011a: 40). Mit Blick auf die zahlreichen Ausschlüsse, die Heteronormativität produziert, konstatiert Butler, dass die »Kategorien des Menschlichen diejenigen ausgeschlossen haben, die mit ihren Begriffen beschrieben und verteidigt werden sollten« (ebd.: 64). Sowohl für Butler als auch für Heidegger kann das Dasein nicht in Kategorien begriffen werden. Heidegger betrachtet es als Aufgabe der Menschen, sich auf die ekstatischen Grundzüge des Daseins zu besinnen. Für diese gilt, dass sie nur dann gemäß ihrer Vollzugsweise verstanden werden können, wenn sie nicht als etwas Vorhandenes, Kategorisierbares begriffen werden (vgl. z.B. Heidegger 1949: 20). In Sein und Zeit sollen die existentialen Strukturmomente – bspw. die Räumlichkeit, das Mitsein, die Befindlichkeit und die Sorge – dementsprechend vom Sein des Daseins her interpretiert werden. Zu dessen Seinsart können nur »Existenzialien« gehören, nicht jedoch »Kategorien«, die laut Heidegger ausschließlich an vorhandenen Dingen festgestellt werden können (vgl. Heidegger 2006: 44 f.).
IV. D IE R AHMEN DER W AHRNEHMUNG UND DER S UBJEKTIVITÄT
DIE
G RENZEN
Laut Butler ist eine Vielzahl der Zuschreibungen, denen Leben ausgesetzt ist, kategorialer Natur und daher zu problematisieren. So zeigt unter anderem das Beispiel von Brenda/David Reimer, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, das eigene Leben jenseits der herrschenden Norm zu behaupten. Nach einem chirurgischen Unfall wurde Brenda/David als Mädchen sozialisiert. Später weist David die normative Anforderung einer kohärenten Geschlechtsidentität zurück und be-
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steht auf die eigene Weise zu sein in einem Bereich, der nicht durch die Norm erfasst wird. »[E]r ist nicht eins geworden mit der Norm und ist dennoch jemand, der spricht, der beharrt und sogar auf sich selbst verweist. Und aus genau dieser Lücke, dieser Deckungsungleichheit zwischen der Norm, die eigentlich sein Mensch-Sein stiften soll, und dem ausgesprochenen Insistieren auf sich selbst […] leitet er seinen Wert ab und spricht seinen Wert aus.« (Butler 2011a: 119)
Sein Menschsein entsteht daher »gerade indem er nicht vollständig erkennbar, nicht völlig verfügbar und kategorisierbar ist« (ebd.). Diese Position erweist sich jedoch als äußerst prekär. Kurz nachdem Butler diese Zeilen schrieb, nahm David sich das Leben. Dieses wurde durch »[d]ie Normen, die darüber befinden, was es heißt, ein achtbares, anerkennenswertes und erhaltenswertes Menschenleben zu sein […] nicht in einer stetigen und stabilen Weise« (ebd.:122) gestützt. Die Wahrnehmbarkeit von Leben ist vorstrukturiert und bringt die »spezifische[n] Ontologien des Subjekts hervor« (Butler 2010: 11), wobei ein Teil des Lebens außerhalb des intelligiblen Bereichs bleibt. Laut Butler ist die Erkennbarkeit eine Voraussetzung für die Anerkennbarkeit von Leben. Allgemeine »Begriffe, Konventionen und Normen ›handeln‹ dabei selbst in spezifischer Weise, indem sie ein lebendiges Wesen zu einem anerkennbaren Subjekt machen, ein ›Handeln‹, das seinerseits anfällig für Irrwege und unvorhergesehene Ergebnisse ist.« (Ebd.: 13) Dieses Handeln der Sprache steht außerhalb des Herrschaftsbereichs der Menschen und transzendiert diese, insofern sie deren Möglichkeiten umrahmt und die Subjektwerdung erlaubt. Damit schließt Butler – vermittels eines Umwegs über Lacan – an Heidegger an, wendet sich aber direkt auch einschränkend gegen diese Überlegung, wenn sie die Handlungsfähigkeit »temporär kohärenter Subjekt[e]« (Butler zit. nach Olson/Worsham 2000: 738) betont. Butler behauptet nicht, dass jeder einzelne Aspekt des Lebens durch Normen hervorgebracht wird und – wie sie darüber hinaus in Anlehnung an Michel Foucault und Giorgio Agamben schreibt – auch nicht, dass »damit die Möglichkeit eines ausgesetzten und phantomhaften Restes von ›Leben‹« (Butler 2010: 15) vollständig negiert wird. Es liegt – wie sie selbst einräumt – eine unaufgelöste Paradoxie in ihrem Denken, wenn »[d]as, was der andere ist, […] nicht reduzierbar [ist] auf das, was sagbar ist« (Butler 2001b: 591). Das Eingeständnis eines Jenseits der sozialen Konstruktion, spricht für meinen Vorschlag, Performativität als eine systematische Ausweitung und Ausarbeitung dessen, was sich im Feld des »Geredes« vollzieht, zu verstehen. Butler legt demnach dar, in welcher
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Weise sich »die Ausgelegtheit des Geredes [im Dasein] festgesetzt« (Heidegger 2006: 169) hat. Die möglichen Auslegungen, beziehungsweise Rahmungen (frames), innerhalb derer Subjekte anerkannt werden, befinden sich in einem ständigen performativen Wandel. »Der Rahmen legt niemals ganz genau fest, was wir denken, anerkennen und wahrnehmen. Immer gibt es etwas, das den Rahmen überschreitet und unseren Sinn für das Reale erschüttert« (Butler 2010: 16). Die Rahmen, die die Erkennbarkeit von Leben (mit-)bestimmen, ändern sich, sie sind geschichtlich und gruppenspezifisch. Und es kann geschehen, dass sie sich »selbst durchbrechen« und andere Wahrnehmungen möglich werden. In den Momenten, in denen Rahmen zerfallen, »wird möglicherweise erkennbar, was oder wer ein Leben führt, ohne dass dieses Leben bislang allgemein ›anerkannt‹ wurde.« (Ebd.: 19) Als beispielsweise in der amerikanischen Öffentlichkeit Bilder auftauchten, die die Gefangenen in Guantanamo in entwürdigenden Positionen zeigen, veränderte dies deren bisherige Wahrnehmung und rückte ihre Verletzbarkeit in den Fokus der öffentlichen Debatte. Auch die Fotos aus Abu Ghraib durchbrachen die hegemoniale Wahrnehmung und stehen in einem direkten Zusammenhang mit einer wachsenden Ablehnung des Krieges. Laut Butler wurden mit diesen Bildern Menschen sichtbar, deren Leben bis dahin nicht allgemein anerkannt wurde. In Raster des Krieges kommt sie deshalb zu dem Schluss, dass die Medien eine direkte Verantwortung für die Wahrnehmung der anderen tragen. »Soll mich der Anspruch des Anderen erreichen können, muss er durch Medien vermittelt sein, was bedeutet, dass unsere Fähigkeit zur gewaltlosen Reaktion […] von den Rahmen abhängt, die uns die Welt vermitteln und die die Sphäre der Erscheinung umgrenzen.« (Ebd.: 166) Butler weist beispielsweise in der Neale Wheeler Watson Lecture 2011 darauf hin, dass mediale Bilder direkt affizieren können und Gefühle von Wut, Zorn, Solidarität und Mitleid auslösen. Jene Affekte rücken die Betrachter emotional in eine Position der Verantwortlichkeit für die abgebildeten Geschehnisse (vgl. Butler 2011b).
V. K ONSTITUIEREN M EDIEN EINE N ÄHE
ZUM
ANDEREN ?
Das Verhältnis von menschlicher Nähe und medialer Vermittelbarkeit wird von Butler und Heidegger völlig unterschiedlich bewertet. An Heidegger anschließend, spricht Byung-Chul Han von einer »totalen Abschaffung der Ferne« (Han 2012: 20) im Kontext der Medialisierung zwischenmenschlicher Verbindungen.
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Es werde versucht, Nähe mit digitalen Medien zu erschaffen. Die Möglichkeit, an alles und jedes näher heranzuzoomen, »erzeugt nicht Nähe […]. Statt Nähe entsteht eine Abstandslosigkeit.« (Ebd.) Nähe entstehe gerade nicht dadurch, dass der »Andere so nahe wie möglich« (ebd.) herangeholt werde – durch eine Vernichtung der Distanz – sondern besitze, als Negativität eine Spannung (vgl. ebd.). Heidegger hatte befürchtet, dass sich gerade durch die Vermessung der Welt »das Abstandlose breit[macht]« (Heidegger 1985: 200): »[I]m Abstandlosen wird alles gleich-gültig zufolge des einen Willens zur einförmig rechnenden Bestandsicherung des Ganzen der Erde. […] Das ist […] die Verweigerung der Nähe.« (Ebd.: 201) Tatsächlich gibt Heidegger selbst auffallend wenige Hinweise auf die Sphäre des Zwischenmenschlichen, die, verglichen mit dem Verhältnis des Daseins zum Sein und zur Welt, von ihm nachrangig behandelt wird. Im Wesentlichen finden sich zwei zentrale Gedanken zu dem sozialen Aspekt der Welt, die auch im Rahmen dieses Aufsatzes eingehender thematisiert werden: Das »Mitsein« und die »Fürsorge«. Diese nehmen aber in seinem Denken eine eher randständige Position ein. »Das Fehlen der Sorge um den Anderen« (Lévinas 2006: 181) bot z.B. Emmanuel Lévinas Anlass zur Kritik. Sein Verständnis der ethischen Situation – auf das Butler sich ausführlich bezieht (vgl. z.B. Butler 2004: 154-178; Butler 2012: 28-68) – begründete er in kritischer Aneignung und Abgrenzung von Heidegger phänomenologisch. Gegen Heidegger gewendet behauptet Lévinas den Vorrang der Ethik: »Der Enthüllung des Seins überhaupt als Voraussetzung der Erkenntnis und als Sinn des Seins geht die Existenz der Beziehung mit dem Seienden voraus, das sich ausdrückt; früher als die Ebene der Ontologie ist die Ebene der Ethik.« (Lévinas 1987: 289) Butler (2004) zeigt sich insbesondere interessiert an Lévinas’ Konzept des »Antlitzes«. Im Anschluss daran beschäftigt sie sich mit den Verpflichtungen, die sich aus den Begegnungen mit anderen ergeben. Lévinas zufolge findet die notwendige Grundlegung für Verantwortung in der Begegnung von Angesicht zu Angesicht statt. Das Antlitz des Anderen offenbart das Ich des Anderen in seiner Differenz zu mir, welche nicht kategorisiert, typisiert und in eine bestimmte Vorstellung vom Anderen aufgehoben werden darf. Das Antlitz tritt nicht durch ein reines Gesehenwerden in Beziehung, sondern indem es spricht. In seinem Sprechen fordert es mich auf zur Antwort, macht mich verantwortlich (vgl. Lévinas 1987; 2007). »Die menschliche Nacktheit fragt mich an – sie stellt das Ich, das ich bin, in Frage – sie fragt mich an in ihrer schutzlosen und wehrlosen Schwäche als Nacktheit. Aber sie fragt mich ebenso an mit befremdlicher Autorität, gebieterisch und ohne Waffen, Wort Gottes und Wort im Antlitz des Menschen. Antlitz, das schon Sprache ist, den artikulierten Wor-
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ten zuvor, ursprüngliche Sprache des menschlichen Antlitzes […], die schon Bitte ist, die als solche eben schon Elend ist, im an sich des Seienden schon Betteln, aber die ebenso auch schon Imperativ ist, der mich, trotz meiner eigenen Sterblichkeit, verantwortlich macht für den sterblichen Nächsten.« (Lévinas 1987: 9 f.)
Im Aussprechen und Erkennen der grundlegenden Vulnerabilität sieht auch Butler das Fundament der Verantwortung. Aus dem face-to-face entsteht unter anderem die Pflicht dazu, von Gewalttätigkeit abzusehen. Während mediale Darstellungen von Gesichtern solche verantwortungsvolle Reaktionen hervorrufen können, können die Bilder, die im Fernseher auf Zeitungen und Zeitschriften gezeigt werden, auch zu einem gegenteiligen Zweck verwendet werden. Die Darstellung kann Nähe verhindern und die Personalität der porträtierten Subjekte verbergen. Butler führt aus, dass dies mit den Porträts von Terroristen wie Osama Bin Laden geschah. Auch in den Bildern afghanischer Frauen, die sich öffentlich ohne Burka zeigten, wurde die Subjektivität der Abgebildeten mit anderen Bedeutungen überschrieben. So wurden die Gesichter zu Platzhaltern, die etwas anderes zeigten als sich selbst: Die ausgestellten Gesichter offenbaren nicht die Personalität der abgebildeten Menschen. Stattdessen wurden die Terroristen als Personifikationen des Bösen gedeutet und die afghanischen Frauen verkörperten den Triumph der Besatzungsmächte (vgl. Butler 2007: 154-178; 2011b: 99-128). In diesen Fällen erzeugen die Medien keine Verhältnisse zwischenmenschlicher Nähe. Die ausgestellten Gesichter werden durch die Bedeutungsüberlagerungen zum Schweigen gebracht. Bislang bin ich der Frage nach der Übereinstimmung von Butlers Gedanken der Performativität mit Heideggers Beschreibung des Geredes nachgegangen. Es hat sich gezeigt, dass einige Erkenntnismomente der Subjekttheorie Butlers bereits bei Heidegger angelegt sind. Nachdem die Grundstellungen beleuchtet wurden, geht die Untersuchung den konkreten Bezugnahmen Butlers auf Heidegger nach, da sich, wie zu zeigen sein wird, in Butlers Beschreibung der Sozialität des Subjekts das »Mitsein« Heideggers widerspiegelt.
VI. D ASEIN
ALS
»M ITSEIN «
Heideggers Denken richtet sich gegen die metaphysische Tradition, innerhalb derer das Subjekt unabhängig von dessen Weltlichkeit und dem »Mitsein« anderer gedacht wird. Der Subjekt-Objekt-Dualismus kommt am deutlichsten in der Philosophie René Descartes’ zum Vorschein. Mit Descartes teilen, laut Heidegger, Kant, Hegel und Nietzsche dasselbe Seinsverständnis – weshalb auch deren
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sich zum Teil gegen Descartes richtenden Denkbemühungen in der Metaphysik verstrickt bleiben. Mit der in Sein und Zeit beanspruchten Fundamentalontologie soll die nachträgliche und künstliche Abhebung des Daseins aus seinen konkreten Weltbezügen vermieden werden. In der Vorlesung Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs heißt es: »Dasein ist als In-der-Welt-sein zugleich Miteinandersein – genauer: ›Mitsein‹.« (Heidegger 1979: 328; Herv. i. O.) Das »Mitsein« ist laut Heidegger ein Existenzial, also ein Aspekt der Verfasstheit, in der Dasein je schon ist. Zum Dasein selbst gehört das Sein mit anderen. Das »Mitsein« ist demnach gleichursprünglich mit dem Dasein und dem »In-der-Welt-sein«. Das Dasein ist nur in seiner Bezugsweise zur Welt zu verstehen, insofern Welt »ein Charakter des Daseins selbst« (Heidegger 2006: 64) ist. Die häufig von Heidegger im Zusammenhang mit den Existenzialien gebrauchte Formulierung »je schon« bringt zum Ausdruck, dass das Dasein jenseits der Welt oder anderer schlechterdings undenkbar ist. Jede Vorstellung von einem isolierten Subjekt übergeht bereits die einfachen Strukturmomente des Daseins. Es gehört zur Seinsart des Menschen, die Welt mit anderen zu bewohnen. Auch im Alleinsein oder der Einsamkeit wird das »Mitsein« nicht aufgehoben. »Das Alleinsein«, so Heidegger, »besagt nur eine Defizienz des Mitseins – der Andere fehlt – damit ist aber gerade der positive Charakter des Mitseins angezeigt. Der Andere fehlt, das besagt: Die Seinsverfassung des Daseins als Mitsein kommt nicht zu ihrer faktischen Erfüllung. Das Fehlen des Anderen, das es nur geben kann, sofern mein Sein selbst Mitsein ist, ist eine Seinsmodifikation meines Daseins selbst und als solche eine positive Weise meines Seins; nur als Mitsein kann Dasein allein sein.« (Heidegger 1979: 328)
Heidegger erklärt zwar, dass das Dasein nie isoliert zu denken ist, was aber die Andersheit des Anderen auszeichnet, bleibt jedoch – wie oben bereits angedeutet wurde – unklar. Im Hinblick auf die alltägliche Seinsweise, das Verfallen des Daseins im Modus des »Man« (vgl. Heidegger 2006: 167-180), zu dem das »Gerede« gehört, können die uneigentlichen Daseinsmöglichkeiten und das heißt auch, die uneigentlichen Möglichkeiten des Miteinanderseins ersichtlich werden. Aber wird damit schon ein Weg aufgezeigt, wie ein »eigentliches Miteinandersein« zu thematisieren wäre? Einen Hinweis gibt Heideggers Unterscheidung der »einspringend-beherrschenden« von der »vorspringend-befreienden Fürsorge«. »Die Fürsorge hat hinsichtlich ihrer positiven Modi zwei extreme Möglichkeiten. Sie kann dem Anderen die ›Sorge‹ gleichsam abnehmen und im Besorgen sich an seine Stelle set-
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zen, für ihn einspringen. Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus seiner Stelle geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen, bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden […]. Ihr gegenüber besteht die Möglichkeit einer Fürsorge, die für den Anderen nicht so sehr einspringt, als daß sie ihm in seinem existentiellen Seinkönnen vorausspringt, nicht um ihm die ›Sorge‹ abzunehmen, sondern erst eigentlich als solche zurückzugeben. Diese Fürsorge, die wesentlich die eigentliche Sorge – das heißt die Existenz des Anderen betrifft und nicht ein Was, das er besorgt, verhilft dem Anderen dazu, in seiner Sorge sich durchsichtig und für sie frei zu werden.« (Heidegger 2006: 122; Herv. i. O.)
Die Möglichkeit, dass die Art der Fürsorge sich von der einspringendbeherrschenden zur vorspringend-befreienden Fürsorge wandelt, ist durch das »Mitsein« stets gegeben. Das Dasein muss sich nicht erst in den Anderen »einfühlen«, sondern ist je schon in den Anderen versetzt. »›Einfühlung‹ konstituiert nicht erst das Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich und durch die vorherrschenden defizienten Modi des Mitseins in ihrer Unumgänglichkeit motiviert.« (Ebd.: 125) Mit dem Hinweis auf die »vorherrschenden defizienten Modi« deutet Heidegger an, dass es ihm nicht darum geht, rein äußerlich die Strukturmomente des Daseins zu beschreiben, sondern dass die Aufhellung der Existenzialität zugleich die Aufgabe beinhaltet, sich in einer »Erfahrung des Menschseins als Da-sein« (Heidegger 1987: 280) zu üben. Das Dasein kann »eigentlich«, das heißt, für sich frei werden, indem es die von ihm in der Sphäre des Geredes übernommenen Auslegungen hinterfragt. Butler bekämpft Rahmungen des Menschlichen, die eine universelle Unantastbarkeit behaupten und lenkt den Blick auf die Kontingenz aller Zuschreibungen. Heidegger hingegen versucht, das Wesen der Menschen jenseits irreführender Bezeichnungen zu verstehen: Menschen »zeigen […] ein Solches, was nicht, was noch nicht in die Sprache unseres Sprechens übersetzt ist. Es bleibt ohne Deutung. Wir sind ein deutungsloses Zeichen.« (Heidegger 2002: 20) Die Bahn, die Heidegger mit seinen Versuchen durch das Dickicht der Vorurteile zu schlagen versucht, um Blicke auf ein »Eigentliches« zu gewinnen, lehnt Butler ab. Die Normen prägen ihrer Ansicht nach die Möglichkeiten der Menschwerdung allzu umfassend, als dass es möglich wäre, ein Für-sich-frei-werden im Sinne Heideggers zu denken. Stattdessen insistiert sie auf der Subversion als Handlungsoption.
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VII. E K - STATISCHES T RAUERN Schon im Frühwerk Butlers war deutlich geworden, dass das Subjekt gesellschaftlich konstituiert wird, in ihren späteren Arbeiten wird die Auflösung des herkömmlichen Subjektbegriffs eingehender thematisiert. Dies belegt ihre Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Trauer, innerhalb derer sie Heideggers Begriff der »Ek-stase« verwendet. Besonders eindringlich beschreibt Butler das Ereignis der Trauer im ersten Kapitel aus Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen: »Man trauert […], wenn man die Tatsache akzeptiert, dass einen der Verlust, den man durchmacht, verändern wird, möglicherweise für immer verändern wird, und dass Trauern damit zu tun hat, eine Verwandlung zu akzeptieren, bei der man nicht vorhersehen kann, was an ihrem Ende steht. […] [D]ie Trauer überkommt einen in Wellen, man beginnt den Tag mit einem Ziel, hat etwas vor, hat einen Plan, und stellt fest, es ist vergeblich. Man ist am Boden. Man ist erschöpft, weiß aber nicht, warum. Etwas ist größer als der eigene Vorsatz, als das Vorhaben, größer als das eigene Wissen. Etwas ergreift Besitz von uns« (Butler 2011a: 36 f.).
Der Verlust des Anderen geht folglich mit einem Verlust von Selbstbeherrschung einher. Auch die Grammatik deutet an, dass wir offenbar die Lage nicht beherrschen, wenn wir davon sprechen, dass die Trauer »über uns kommt« und von uns »Besitz ergreift«. Das, was das Ich ist, verliert sich im Verlust des Anderen. Das Selbst verändert sich mit dem Beziehungsnetz, in dem es steht. Wenn um einen Menschen getrauert wird, dann offenbart sich darin möglicherweise etwas, das die Natur menschlicher Beziehungen betrifft. Wenn sich das, was ich als mein »Ich« zu beschreiben gewohnt bin, verändert, wenn der Andere verlorengeht, muss jenes »Ich« etwas sein, das in einer konstitutiven Weise vom Sein des Anderen abhängig ist. Die Trauer verweist auf das Existenzial des Mitseins, insofern durch sie deutlicher ersichtlich wird, dass das Dasein »je schon« in den Anderen versetzt und auf die vorspringend-befreiende Fürsorge (bzw. auf den Anderen) angewiesen ist. In dem Phänomen der Trauer zeigt sich, dass wir nur innerhalb unserer sozialen Beziehungen, mit anderen »selbst« sind. »Wir werden vom Anderen dekomponiert. Und wenn es nicht so ist, fehlt uns etwas. Bei der Trauer scheint das eindeutig so zu sein, allerdings nur deshalb, weil es schon beim Begehren so war. Man bleibt nicht immer intakt. Vielleicht will man das oder bleibt es, aber es kann auch so sein, dass man trotz aller Anstrengungen aufgelöst wird, beim Anblick
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des Anderen, durch die Berührung, den Duft […]. Wenn wir von meiner Sexualität oder meiner Geschlechtsidentität sprechen, wie wir es tun (und tun müssen), meinen wir also etwas Kompliziertes. Genau genommen [...] sind beide als Modi der Enteignung zu verstehen, als Formen des Daseins für einen Anderen oder sogar kraft eines Anderen.« (Ebd.: 38; Herv. i. O.)
Auch hier legt sich Butler in ihrer Formulierung nicht fest: Dadurch, dass sie zunächst offen lässt, ob das Dasein für oder durch einen Anderen »ek-sistiert«, rückt sie es in die Schwebe und es wird deutlich, dass dies möglicherweise nicht innerhalb des Syntax aufgehoben werden kann. Auch der Andere wird nicht als autonomes Subjekt aufgefasst. »Ich kann nicht sein, wer ich bin, ohne aus der Sozialität der Normen zu schöpfen, die mir vorhergehen und mich übersteigen. In diesem Sinn bin ich von Anfang an außerhalb meiner selbst, und um zu überleben, um in den Bereich des Möglichen zu gelangen, muss ich es sein.« (Ebd.: 58)
Das Leben wird Subjekt, insofern es »ek-statisch« – hier schließt Butler auch orthografisch an Heidegger an – »außer-sich-ist«, d.h. in ihren Worten »mit dem Anderen verknüpft und durch seine Identifikationen, die den fraglichen Anderen weder ein- noch ausschließen, dezentriert ist.« (Ebd.: 224) Butler greift nicht nur auf Heideggers Begriff der »Ek-stase« zurück, sondern überträgt ihn auf die von ihm vernachlässigte politische Ebene: Der ekstatische Zug menschlichen Lebens, der in der Trauer offenbar wird, hat zu tun mit der Verwundbarkeit des Subjektes. Unsere Körperlichkeit liefert uns den Blicken anderer, erwünschten und unerwünschten Berührungen aus. »Der Körper hat eine unveränderlich öffentliche Dimension. Konstituiert als soziales Phänomen in der öffentlichen Sphäre, gehört mir mein Körper und gehört mir nicht.« (Butler 2003: 15; hier und im Folgenden Übersetzung AH) Die originäre menschliche Verletzbarkeit kann nur abgemildert oder verdrängt, jedoch nie überwunden werden. In diesem Zusammenhang kann, so Butler, Gewalt nur als eine Ausbeutung des ursprünglichen Verhältnisses der Abhängigkeit, als Missbrauch der primären Bindungen, verstanden werden. Sie stellt die Verletzbarkeit nicht her, sondern legt sie bloß. Butler überträgt dieses intersubjektive Verhältnis auf den Staat: So haben die Anschläge des 11. September 2001, die imaginierte Unverwundbarkeit der USA als Phantasma entlarvt. Auf die Verletzung des Selbstbildes und den Verlust des Sicherheitsempfindens wurde mit Angst und Wut reagiert und einer verstärkten Ausgrenzung jener, deren Äußeres willkürlich als »arabisch« klassifiziert wurde. Butler schlägt demgegenüber vor, den traumati-
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schen Erfahrungen nachzugehen, die Verluste zu betrauern und die Gelegenheit zu nutzen, um eine realistischere Selbsteinschätzung zu entwickeln und ebenbürtige internationale Partnerschaften zu bilden. Mit einer Verwundung kann auf verschiedene Weisen umgegangen werden, man kann versuchen, die Gewaltspirale zu durchbrechen (vgl. ebd.: 30). »Diese Möglichkeit hat damit zu tun, eine Welt zu fordern, in der körperliche Verletzbarkeit geschützt wird, ohne dafür ausgelöscht zu werden« (ebd.). Mit ihrem Appell, die grundlegende menschliche Verletzbarkeit anzuerkennen, steht Butler für ein neues normatives framing ein: »Verletzbarkeit muss wahrgenommen und erkannt werden, um in einer ethischen Begegnung ins Spiel zu kommen und es gibt keine Garantie, dass dies geschehen wird. Es gibt nicht nur auch immer die Möglichkeit, dass Verwundbarkeit nicht wahrgenommen wird und als das Nicht-Wahrnehmbare konstituiert wird, aber wenn Vulnerabilität anerkannt wird, hat diese Anerkennung die Macht dazu, die Bedeutung und Struktur der Verletzbarkeit selbst zu verändern. In diesem Sinne, wenn Vulnerabilität eine Vorbedingung für Menschwerdung ist, und wenn Menschwerdung auf verschiedene Weisen durch variable Normen der Anerkennung stattfindet, dann folgt daraus, dass Verletzbarkeit grundsätzlich abhängig ist von bestehenden Normen der Anerkennung, wenn sie jedem menschlichen Subjekt zugeschrieben werden soll.« (Ebd.; Herv. i. O.)
Damit fordert sie uns dazu auf, für die Etablierung und für die Wirksamkeit von Normen zu kämpfen, die die grundsätzliche Verletzbarkeit der Menschen anerkennen und darauf beruhend menschliches Leben schützen. Als voneinander abhängige Wesen, haben wir demnach die politische Verantwortung, gefährdetes Leben vor Gewalteinwirkung zu bewahren.
VIII. E NTSCHEIDENDE P RÄGUNG ODER ENTFERNTE B EKANNTSCHAFT ? – E IN VORLÄUFIGER ABSCHLUSS Die bis hierher geführten Überlegungen zeigen, dass das Denken von Butler und Heidegger keineswegs in einer nahen und offensichtlichen Verwandtschaft zueinander steht. So steht bei Butler die soziale Dimension im Zentrum ihrer Philosophie, während Heideggers Denken durch »[d]as Fehlen der Sorge um den Anderen« (Lévinas 2006: 181) gekennzeichnet ist. Mit der Fürsorge und dem »Mitsein« habe ich in der vorliegenden Diskussion jene spärlichen Hinweise aufgegriffen, die in Heideggers Philosophie auf das gemeinsame Sein der Menschen verweisen.
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Zumindest einige Elemente, die Butler und Heidegger miteinander verbinden, konnten aufgezeigt werden. So steht, wie sich herausgestellt hat, die grundlegende Sozialität des Daseins bei Butler in enger Analogie zu Heideggers »Mitsein«, wobei überraschend ist, dass das »Mitsein« von ihm nicht weiter expliziert wird – gerade wenn man die zentrale Position bedenkt, die diesem als Existenzial zukommt. Auch schließt Butler in ihrer Ablehnung des Universellen und des kategorialen Verständnisses von Menschlichkeit an seine Überlegungen an. Ihre Politik der Verletzbarkeit greift auf Heideggers Beschreibung der »Ek-stase« zurück, ohne jedoch alle Konsequenzen, die er daraus zieht, zu teilen. Den zentralen Hinweis zur Deutung des Verhältnisses, in dem Heidegger und Butler stehen, gab uns das zweite Kapitel der vorliegenden Untersuchung: Der Gegensatz dieser Denkpositionen ist weniger eindeutig, als es zunächst den Anschein haben mag, denn Butlers Projekt könnte durchaus als Versuch verstanden werden, mit »[d]ieser alltäglichen Ausgelegtheit, in die das Dasein zunächst hineinwächst« (Heidegger 2006: 169), also der Festschreibung im »Gerede«, der »es sich nie zu entziehen [vermag]« (ebd.) umzugehen. Butler vertritt nicht die Auffassung, dass wir die Möglichkeit hätten in einen originären Seinsbezug einzugehen und auch Heidegger erkennt an, dass es keinen dauerhaften Aufenthalt außerhalb der Ausgelegtheit durch das »Gerede« gibt: »In ihr [der Ausgelegtheit] und aus ihr und gegen sie vollzieht sich alles echte Verstehen, Auslegen und Mitteilen, Wiederentdecken und neu Zueignen.« (Ebd.) Während er vordergründig darauf drängt, diese »Herrschaft der öffentlichen Ausgelegtheit« (ebd.) für Momente der Besinnung zu verlassen, betont Butler die Ubiquität der sprachlichen Ausgelegtheit als Konstitutionsbedingung des Subjekts und verneint die Hoffnung, aus den damit gesetzten Rahmen ausbrechen zu können. Ihr politischer Ansatz besteht darin, jene Rahmen zu thematisieren, die Erkennbarkeit bedingen und zu versuchen ihren Geltungsbereich auszudehnen. In ihren geschlechtertheoretischen Schriften entwickelte sie hierzu den Ansatz einer Politik der Subversion, während sie in ihren neueren Schriften das Panorama einer Politik der Verletzbarkeit entfaltet und explizit für die Etablierung von Normen Stellung bezieht. Heidegger bilanziert lediglich, dass das »Gerede« autoritär ist, stellt jedoch nicht die Frage nach den Machtwirkungen von Sprache bzw. des Geredes. Seine Vernachlässigung des Alltäglichen und sein Desinteresse an Fragen des Politischen ließen ihn die wesentlichen Konsequenzen, die sich aus seinen Überlegungen zum »Mitsein« ergeben, übersehen. Bei Butler wiederum findet sich kein Element, das jene seinseröffnende Dimension der Sprache Heideggers übernimmt. Die Seinsfrage stellt sie nicht. Die wesentliche Differenz der beiden Denkpositionen liegt demnach nicht etwa in den Grundfigurationen ihres Denkens, sondern vor
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allem in den Schwerpunkten und in den Blickrichtungen, die Butler und Heidegger jeweils für sich gewählt haben.
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Autorinnen und Autoren
Oliver Bruns ist Mitarbeiter des Hannah Arendt-Zentrums der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen. Oliver Flügel-Martinsen, PD Dr. phil., ist Akad. Rat für Politische Theorie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Florian Grosser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Philosophie der Universität St. Gallen und Lecturer am Department of Philosophy der University of California, Berkeley Anna Hollendung ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) in Bremen. Ole Meinefeld promoviert in Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nikolai Münch, M. A., arbeitet und lehrt am Ethikzentrum der FriedrichSchiller-Universität Jena. Tilman Reitz lehrt als Juniorprofessor für Wissenssoziologie am Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung und am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Meike Siegfried, Dr. phil., arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim/Holzminden/Göttingen und ist Lehrbeauftragte an der Folkwang Universität der Künste in Essen.
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Paul Sörensen, Dipl.-Pol., arbeitet und lehrt am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Universität Augsburg. Charles M. Taylor ist Professor em. für Politikwissenschaft und Philosophie an der McGill University Montreal/Kanada. Tatjana Noemi Tömmel promovierte in Frankfurt am Main zum Liebesbegriff bei Martin Heidegger und Hannah Arendt. 2012/13 war sie Marie Curie Early Stage Researcher an der Universität Kopenhagen. Tilo Wesche ist Privatdozent an der Universität Basel und vertritt z. Zt. den Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Edition Moderne Postmoderne Friedrich Balke, Marc Rölli (Hg.) Philosophie und Nicht-Philosophie Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen 2011, 342 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1085-7
Michael Fisch Werke und Freuden Michel Foucault – eine Biografie 2011, 576 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1900-3
Oliver Flügel-Martinsen Jenseits von Glauben und Wissen Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne 2011, 144 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1601-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Moderne Postmoderne Anke Haarmann Die andere Natur des Menschen Philosophische Menschenbilder jenseits der Naturwissenschaft 2011, 146 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1761-0
Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Dezember 2013, ca. 224 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1069-7
Sabine Till Die Stimme zwischen Immanenz und Transzendenz Zu einer Denkfigur bei Emmanuel Lévinas, Jacques Lacan, Jacques Derrida und Gilles Deleuze Dezember 2013, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2430-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Moderne Postmoderne Mara-Daria Cojocaru Die Geschichte von der guten Stadt Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie 2012, 256 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2021-4
Stefan Deines, Daniel Martin Feige, Martin Seel (Hg.) Formen kulturellen Wandels 2012, 278 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1870-9
Christian Dries Die Welt als Vernichtungslager Eine kritische Theorie der Moderne im Anschluss an Günther Anders, Hannah Arendt und Hans Jonas 2012, 518 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1949-2
Gerhard Gamm, Jens Kertscher (Hg.) Philosophie in Experimenten Versuche explorativen Denkens 2011, 308 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1681-1
Heike Guthoff Kritik des Habitus Zur Intersektion von Kollektivität und Geschlecht in der akademischen Philosophie Juni 2013, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2424-3
Maximilian Lakitsch Unbehagen im modernen Staat Über die Grundlagen staatlicher Gewalt Mai 2013, 244 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2368-0
Hilge Landweer, Catherine Newmark, Christine Kley, Simone Miller (Hg.) Philosophie und die Potenziale der Gender Studies Peripherie und Zentrum im Feld der Theorie 2012, 346 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2152-5
Christian Lavagno Jenseits der Ordnung Versuch einer philosophischen Ataxiologie 2012, 228 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1998-0
Martin Müller Private Romantik, öffentlicher Pragmatismus? Richard Rortys transformative Neubeschreibung des Liberalismus Dezember 2013, 786 Seiten, kart., 49,80 €, ISBN 978-3-8376-2041-2
André Reichert Diagrammatik des Denkens Descartes und Deleuze August 2013, 278 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2454-0
Sibylle Schmidt, Sybille Krämer, Ramon Voges (Hg.) Politik der Zeugenschaft Zur Kritik einer Wissenspraxis 2011, 358 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1552-4
Juliane Spitta Gemeinschaft jenseits von Identität? Über die paradoxe Renaissance einer politischen Idee 2012, 356 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-2236-2
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