Das Politische denken: Zeitgenössische Positionen [3., unveränderte Auflage 2012] 9783839411605

Die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen ist eine, wenn nicht die Leitdifferenz zeitgenössischer Sozi

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German Pages 338 Year 2015

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Table of contents :
INHALT
Einleitung: Das Politische denken
Claude Lefort: Demokratie und die doppelte Teilung der Gesellschaft
Chantal Mouffe und Ernesto Laclau: Konfliktivität und Dynamik des Politischen
Die Demokratisierung der Demokratie. Etienne Balibar über die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht
Jacques Ranciere: Politik und Polizei im Unvernehmen
Ethik als antipolitisches Denken. Kritische Überlegungen zu Emmanuel Levinas mit Blick auf Jacques Raueiere
Jacques Derrida: Das Politische jenseits der Brüderlichkeit
Jean-Luc Nancy: Das Politische zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft
Die ontologische Wahrheit der Revolution. Politik bei Alain Badiou
Maurice Blanchot: Unterbrechung der Politik
Demokratisch-Werden: Gilles Deleuzes und Felix Guattaris politische Philosophie
Globales Arbeiten und absolute Demokratie. Das Politische bei Michael Hardt und Antonio Negri
Cornelius Castoriadis: Institution, Macht, Politik
»Waffen sind an der Garderobe abzugeben«. Bruno Latours Entwurf einer politischen Ökologie
Jean Baudrillard: Die künstlichen Paradiese des Politischen
Der Fall Lukretia: Mediale Operationen und Gründungstheater bei Livius
Autorinnen und Autoren
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Das Politische denken: Zeitgenössische Positionen [3., unveränderte Auflage 2012]
 9783839411605

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Ulrich Bröckling, Robert Feustel (Hg.) Das Politische denken

ULRICH BRÖCKLING, RoBERT FEuSTEL

Das Politische denken Zeitgenössische Positionen

[ transcript]

(He.)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ fdnb.d-nb.de abrufbar.

©

2010

transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Robert Feustel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-nGo-r Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung: Das Politische denken

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ULRICH BRöCKLINo/R oBERT F EUSTEL

Claude Lefort: Demokratie und die doppelte Teilung der Gesellschaft

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ÜLIVER MARCHA RT

Chantal Mouffe und Ernesto Laclau: Konfliktivität und Dynamik des Politischen

33

MARTIN NoNHOFF

Die Demokratisierung der Demokratie. Etienne Balibar über die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht

59

RoBIN CELIKATES

Jacques Ranciere: Politik und Polizei im Unvernehmen

77

SusANNE KRASMANN

Ethik als antipolitisches Denken. Kritische Überlegungen zu Emmanuel Levinas mit Blick auf Jacques Raueiere

99

BuRKHARD LIEBSCH

Jacques Derrida: Das Politische jenseits der Brüderlichkeit

131

SusANNE L ü DEMANN

Jean-Luc Nancy: Das Politische zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft THOMAS BEDORF

145

Die ontologische Wahrheit der Revolution. Politik bei Alain Badiou

159

GERNOT KAMECKE

Maurice Blanchot: Unterbrechung der Politik

181

MARTIN SA/\R

Demokratisch-Werden: Gilles Deleuzes und Felix Guattaris politische Philosophie

199

PAUL PATTON

Globales Arbeiten und absolute Demokratie. Das Politische bei Michael Hardt und Antonio Negri

229

ULRICH BRIELER

Cornelius Castoriadis: Institution, Macht, Politik

253

RoBERT S EYFERT

»Waffen sind an der Garderobe abzugeben«. Bruno Latours Entwurf einer politischen Ökologie

273

THOM/\S LEMKE

Jean Baudrillard: Die künstlichen Paradiese des Politischen

295

RoBERT FwsTELIHAGEN S cHöLZEL

Der Fall Lukretia: Mediale Operationen und Gründungstheater bei Livius

313

fRIEDRICH BALKE

Autorinnen und Autoren

333

Einleitung: Das Politische denken ULRICH BRöCKLING!ROBERT FEUSTEL

Im Titel dieses Bandes ist das »Politische« groß und »denken« klein geschrieben. Die orthographische Ungleichbehandlung signalisiert keine Gewichtung, etwa im Sinne eines Vorrangs der Entscheidung vor der Reflexion, eines Realismus der Macht vor den Glasperlenspielen der Theorie. »Das Politische« als Substantiv (im Unterschied zum qualifizierenden Adjektiv »politisch«) benennt vielmehr den gemeinsamen Fokus der hier versammelten Überlegungen. Die Verbform »denken« wiederum betont (im Unterschied zum substantivierten »Denken«) die Tätigkeit statt das Ergebnis und verweist auf ihren unabgeschlossenen und auf ihre Unabschließbarkeit geradezu pochenden Charakter. Hier ist kein Kanon politischen Denkens zusammengestellt, sondern ein Tableau disparater Anstrengungen, das Politische zu denken. Die Aufsätze dieses Bandes beschäftigen sich weder mit der politischen Dimension jeder Theorie, ihrer untilgbaren Perspektivität und Machtverwobenheit, noch mit den kurrenten Lehrmeinungen und Glaubenssätzen, wie und welche Politik man »machen« sollte. Sie setzen vielmehr bei jener Frage an, die politische Protagonisten und Vertreter der Politikwissenschaft in der Regel ausklammern, weil sie die Antwort immer schon zu wissen glauben, bei der Frage, was denn das Politische ist. Dass dies selbst eine eminent politische Frage darstellt, ist ein Ausgangspunkt der folgenden Beiträge. Ob diese das Politische emphatisch anrufen, ob sie es nicht minder emphatisch in seine Schranken verweisen oder ob sie seine Fixierung in immer neuen dekonstruktiven Wendungen unterlaufen: Um politische Interventionen handelt es sich allemal. Der Untertitel kündigt »zeitgenössische Positionen« an. Positionen sind räumliche Koordinaten, die eine Ortung und Orientierung ermöglichen; Position bezeichnet aber auch den Standpunkt, den jemand be7

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zieht, die Überzeugung, die er vertritt; und schließlich steht es für Stellung, was gleichermaßen an Status und Ämterhierarchien, an militärische Befestigungen und an erotische Körperanordnungen denken lässt. Eindeutig zurechenbar, in einem radikalen Sinne perspektivisch, umkämpft und zugleich libidinös besetzt sind auch die hier versammelten Positionen. Im Vordergrund steht aber ihre navigatorische Funktion: Sie liefern Vergewisserungen, wo man sich gerade befindet, um dann weiterzugehen. Die Positionen verbinden sich mit konkreten Namen: Die Beiträge porträtieren die Denkbewegungen von Autoren und mit Chantal Mouffe auch einer Autorin, für deren Arbeiten die Frage nach dem Politischen zentral oder deren Arbeiten umgekehrt flir die Frage nach dem Politischen zentral sind. Nicht für alle bildet die Unterscheidung zwischen der Politik und dem Politischen (bzw. die damit verwandte, aber keineswegs identische zwischen »Ia politique« und »le politique« - die meisten der Porträtierten haben ihre Arbeiten in französischer Sprache verfasst) einen expliziten Bezugspunkt. Einige verzichten ganz auf den Begriff des Politischen, aber allen geht es um mehr und anderes als um Haupt- und Staatsaktionen, Verfassungsnormen und Gemeinschaftsappelle. So signifikant die Differenzen zwischen den im Folgenden diskutierten Positionen sind, so unverkennbar ist doch auch der gemeinsame Horizont: Die hier vorgestellten Autoren teilen ein Verständnis des Politischen, das auf die unhintergehbaren Momente des Dissenses und Widerstreits, des Ereignisses, der Unterbrechung und Instituierung abhebt. In die Ressortaufteilungen akademischer Disziplinen und die vertrauten Register wissenschaftlicher Publikationen lassen sich ihre Arbeiten schwerlich einsortieren. Das Hauptgewicht liegt sicher bei einer philosophischen Reflexion des Politischen, aber die vorgestellten Autoren artikulieren ihre Überlegungen ebenso in politischen Manifesten, literarischen Werken und publizistischen Interventionen. Kriterien ihrer Zeitgenossenschaft sind weder die Lebensdaten - nicht wenige der Porträtierten sind bereits verstorben - noch die Resonanz, die sie im aktuellen politischen Diskurs erfahren. Maßgeblich ist vielmehr, ob ihre Denkbewegungen im doppelten Sinne »an der Zeit« sind: der Aktualität verpflichtet und dringend vonnöten. Zeitgenössisch sind sie, weil sie auf drängende (und oft genug verdrängte) Fragen der Gegenwart antworten und die allzu vertrauten, weil allgegenwärtigen Antworten in Frage stellen. Lesen lassen sich die folgenden Beiträge gleichermaßen als Einführungen wie als kritische Anschlussversuche. Manche geben einen Überblick über das CEuvre der porträtierten Autoren und zeigen Zusammenhänge zwischen ihrem Nachdenken über das Politische und ihrem politischem Engagement auf. Andere greifen ein Motiv auf oder schreiben

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einzelne Denkfiguren fort. Die Zusammenstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität; das verbindet sie mit dem anti- oder zumindest asystematischen Anspruch der meisten hier diskutierten Autoren und ihrer Kritik am Prinzip der Repräsentation. Die Kontingenzen der Auswahl sind nicht zuletzt dem begrenzten Seitenumfang einer Buchpublikation geschuldet. Zweifellos fehlen wichtige Stimmen: Giorgio Agamben, Judith Butler, Roberto Esposito, Michel Foucault, Philippe Lacoue-Labarthe, Pierre Legendre, Jean-Franc,:ois Lyotard, Michel Serres, Gayatri Chakravorty Spivak, Paolo Virno, Slavoj Zizek, um nur einige anzuführen. Auch jenseits dieser Leerstellen beantwortet der vorliegende Band die Frage nach dem Politischen keinesfalls erschöpfend, und das ist durchaus programmatisch zu verstehen. Das Politische, wie es hier verhandelt wird, zeigt sich gerade darin, die Frage danach offen zu halten. Die vorgestellten Positionen sind insofern kritisch: Sie insistieren darauf, dass die definitorischen wie praktischen Schließungendes Politischen nicht das letzte Wort sein können. Eine Einleitung in eine solche Zusammenstellung kann keine Synthese liefern, aber sie sollte eine Karte zeichnen und die unterschiedlichen Positionen zueinander in Beziehung setzen. Die in den Beiträgen nachgezeichneten Bewegungen des Öffnens und Offenhaltens lassen sich danach gruppieren, von welchen traditionellen Bestimmungen des Politischen sie sich jeweils absetzen. Sichtet man die einschlägigen Definitionen der politischen Philosophie und Politikwissenschaft, so lassen sich vier Dimensionen unterscheiden, die sich allerdings vielfach überlagern. Kaum eine Bestimmung des Politischen bezieht sich nur auf eine einzige Dimension. Das Politische bezeichnet erstens eine spezifische Sphäre des Sozialen und wird in dieser Bedeutung meist synonym zum Begriff der Politik verwendet. Das Politische und das Staatliche rücken dabei in der Regel dicht zusammen; politisch ist das, was sich auf den Staat bezieht, was staatliche Instanzen tun oder was auf diese Einfluss zu nehmen sucht. Das Verhältnis zwischen der politischen Sphäre und den anderen Sphären wird dabei horizontal als Nebeneinander oder vertikal als Über- bzw. Unterordnung, als vermittelte Stufung oder aber als imperialistische Expansion verstanden: Entweder wird das Politische, etwa im Sinne der Wehersehen Ausdifferenzierung von Wertsphären, auf einen Bereich begrenzt, oder es wird, wie in der marxistischen Orthodoxie, als von der ökonomischen Basis determinierter Überbau gefasst; es erscheint hegelianisch als »Standpunkt der höchsten konkreten Allgemeinheit« (Hegel 1821/1970: 474), in dem die Widersprüche von Familie und bürgerlicher Gesellschaft im Staat aufgehoben sind. Oder das Politische wird, wie bei Carl Schmitt, zum »Gebiet aller Gebiete« (Göbel 1999, vgl. Nassehi 9

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2003: 136), totalisiert- eine Vorstellung, die nicht unbedingt staatszentriert sein muss und noch in der Parole nachhallt, auch das Private sei politisch. Zu diesen gleichsam territorialen Bestimmungen des Politischen gehört auch die traditionelle politische »Fonnenlehre«, die Beschreibung der verschiedenen Staatsformen, ihrer Zusammenschlüsse und Beziehungen (Stemberger 1980: 300) oder, zeitgemäßer gesprochen, die Analyse und der Vergleich politischer Systeme. Die Rede vom Politischen bezieht sich zweitens auf spezifische Modalitäten menschlichen Handeins beziehungsweise menschlicher Kommunikation, auf jene Handlungs- oder Kommunikationsmodi, welche die Sphäre der Politik kennzeichnen oder kennzeichnen sollten. Hierunter fallen so gegensätzliche Bestimmungen wie Schmitts »Unterscheidung von Freund und Feind«, die »den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung« zum Kriterium des Politischen erhebt (Schmitt 1963: 26f.), oder Harrnah Arendts Identifizierung des Politischen mit jenen Formen des Zusammenseins, »in denen man sich untereinander bespricht, um dann in Übereinstimmung miteinander zu handeln« (Arendt 1981: 149). Gegenbegriffe zum Politischen in dieser Bedeutung sind bei Schmitt das Ökonomische, das Ästhetische oder das Moralische mit ihren Leitdifferenzen nützlich - schädlich, schön - hässlich, gut - böse oder in Arendts Trias des Handeins die Tätigkeitsmodi der Arbeit und des Herstellens. Auch Nildas Luhmanns differenzierungstheoretische Definition, die dem politischen System die Funktion zuschreibt, die »Kapazität zu kollektiv bindenden Entscheidungen« (Luhmann 2000: 84) bereitzuhalten, isttrotzder zunächst räumliche Assoziationen weckenden Rede vom politischen System und Luhmanns Privilegierung staatlicher Organisationsarrangements hier zuzuordnen, stellt sie doch auf ein spezifisches Kommunikationsmedium (Macht) und spezifische Codes (Regierende/Regierte, Regierung/Opposition) ab. Eng verbunden mit diesen handlungs- und kommunikationstheoretischen Bestimmungen sind drittens jene, die das Politische von seiner zeitlichen Dimension her zu fassen versuchen. Auch hier finden sich gegensätzliche Theorien- und Theologien: Max Webers berühmtes Diktum, Politik bedeute »ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« (Weber 1919/1988: 560), betont den Aspekt der Kontinuität. Eschatologische Positionen denken dagegen vom Kairos her und erkennen wie Walter Benjamin das politische Moment gerade im revolutionären »Aufsprengen des Kontinuums der Geschichte« (Benjamin 1939/1977: 260). Oder aber sie rücken wie Carl Schmitt die Figur des Katechon in den Mittelpunkt, jenes Aufhalters, der die Herrschaft des Antichrist und damit das Chaos wenn nicht verhindert, so doch aufschiebt. 10

EINLEITUNG:

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Viertens schließlich eignet dem Begriff des Politischen eine - positiv oder negativ konnotierte - normative Dimension. Das Politische erscheint als Garant oder als Gegensatz moralischer Orientierungen. Es steht für Ansprüche, die entweder Sicherheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden usw. gewährleisten sollen; oder diese Werte sollen gerade gegen das Politische (bzw. die Politik) erkämpft werden. Die normative Seite ist immer dann angesprochen, wenn der »Sinn von Politik« (vgl. Arendt 2003: 35ff.) zur Diskussion steht und die Härten politischer Entscheidungen gerechtfertigt oder umgekehrt politische Gewalt, Herrschaft und Zwang delegitimiert werden sollen. Selbst Bestimmungen, die einen rein deskriptiven Begriff des Politischen zu entfalten beanspruchen, werden die normative Imprägnierung nicht los. Auch der Verzicht auf moralische Maßstäbe ist eine moralische Entscheidung. Wie situieren sich die im vorliegenden Band vorgestellten Positionen zu diesen vier Dimensionen des Politischen? Am eindeutigsten ist die Absetzung von den territorialen Bestimmungen, die das Politische mit staatlichen Institutionen zusammenfallen lassen. So betont Oliver Marchart in seinem Beitrag über Claude Lefort das generative Moment des Politischen. Politisch sind für Lefort nicht die Formen, sondern das Prinzip der Formgebung des Sozialen- Institution als Vorgang, nicht als fixierte Struktur. Leforts vielzitiertes Diktum, der Ort der Macht in der Demokratie sei leer, verweist das Politische nicht auf einen paradoxen Nichtort, sondern ist ein Einspruch gegen jeden Versuch seiner Usurpation. Der Ort der Macht ist leer, nicht weil die Macht verschwunden wäre, sondern weil niemand sie legitime1weise für sich beanspruchen kann. Martin Nonhoff zeigt im Hinblick auf die Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, dass Institutionen die grundlegende Konflikthaftigkeit des Politischen, die konstitutiven Antagonismen des Sozialen allenfalls vorübergehend still stellen, hegemoniale Kämpfe aber nicht dauerhaft unterbinden können. In ähnlicher Weise entfaltet Etienne Balibar, wie Robin Celikates herausarbeitet, seinen radikaldemokratischen Begriff des Politischen entlang der Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht, die sich nicht zu einer Seite hin auflösen lässt und die Bürgerinnen und Bürger gleichzeitig zu Staatssubjekten wie zu möglichen revolutionären Subjekten gegen den Staat macht. Cornelius Castoriadis, dessen Denken Robert Seyfert vorstellt, rückt das instituierende Moment vollends ins Zentrum; die schöpferisch-entwerfende Macht des Imaginären erhält Vorrang gegenüber der »expliziten Macht« der Institutionen. Das Politische zeigt sich in jenen Augenblicken, »in denen die instituierende Gesellschaft in die instituierte einbricht, in denen sich die Gesellschaft als instituierte mit Hilfe der Gesell11

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schaft als instituierender selbst zerstört, das heißt sich selbst als eine andere Gesellschaft schöpft« (Castoriadis 1990: 342f.). Auch der Begriff des »Demokratisch-Werdens«, von dem her Paul Patton die politische Philosophie Gilles Deleuzes und Felix Guattaris rekonstruiert, die »notwendige Offenheit und Unbestimmtheit«, die Susanne Lüdemann an Jacques Derridas »Politiken der Freundschaft« hervorhebt, oder Thomas Bedor(5 Versuch, gerade in der Bodenlosigkeit und strikten Relationalität von Jean-Luc Nancys »Philosophie des pluralen Weltsinns« ihr politisches Moment auszumachen, verweisen auf ein deterritorialisiertes Verständnis des Politischen. Dieses Denken in Bewegung trägt der Kontingenz gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe Rechnung und muss ohne gesichertes Fundament auskommen. Augenfällig wird die Kontingenz politischer Institutionen, wenn man das »Gründungstheater« in den Blick nimmt, jene Ursprungsszenen von Staatlichkeit, welche die verstörende Grundlosigkeit und Gewalt des instituierenden Augenblicks dramaturgisch zugleich darstellen und bannen sollen. In diesem Sinne deutet Friedrich Balke Pierre Klossowskis literarische und künstlerische Auseinandersetzung mit Livius' Lucretia-Geschichte. Ausgehend davon skizziert er eine Medientheorie des Politischen, die auf das Umarrangieren von menschlichen Körpern und Dingen abstellt: das Politische als Dislokation. Wenn kein vorgegebener Ort des Politischen existiert, wenn es weder eigenständige Wertsphäre noch bloßer Überbau, weder staatlich vermittelte Allgemeinheit noch totalisiertes Ordnungsprinzip ist, dann verschiebt sich die Frage nach dem Politischen hin zu jener Frage, welche Bereiche des Sozialen politisiert und welche entpolitisiert werden. Das bezieht sich nicht nur darauf, was zum Gegenstand politischer Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse wird, sondern auch darauf, wer oder was als politisches Subjekt einzubeziehen ist. Mit den Grenzen des Sozialen werden auch die des Politischen ungewiss und daher umkämpft. So bestimmt Jacques Ranciere, in dessen Denken Susanne Krasmann einführt, die Politik als Streit über »die Verfassung eines spezifischen Erfahmngsraums, in dem bestimmte Objekte als gemeinsam gesetzt sind und bestimmte Subjekte als fähig angesehen werden, diese Objekte zu bestimmen und über sie zu argumentieren« (Ranciere 2008: 13). Politisch sind jene Konflikte, in denen die Unterscheidung zwischen vernunftbegabten Diskursteilnehmern und jenen, deren Äußerungen man als bloßes Geschrei, als Lärm ignoriert, durchkreuzt wird, weil diejenigen, denen keine Stimme zugestanden wurde, dies nicht länger hinnehmen: »Die politische Aktivität konfiguriert die Aufteilung des Sinnlichen neu. Sie bringt neue Objekte und Subjekte auf die Bühne des Gemeinsamen« (ebd.: 14). 12

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In ganz anderer Weise plädiert auch Bruno Latour, w1e Thomas Lemke in kritischer Auseinandersetzung mit dessen Entwurf einer »politischen Ökologie« ausführt, für ein erweitertes Verständnis des politischen Raums. Die Einbeziehung nichtmenschlicher Akteure - Pflanzen, Tiere, anorganische Natur und Artefakte - , die Latour ins politische Kollektiv einbürgern und denen er ein gleichberechtigtes Stimmrecht im »Parlament der Dinge« (Latour 2001) einräumen will, soll die Anthropozentrik traditioneller Politik überwinden. Sein Versuch, das Verhältnis von Natur und Gesellschaft symmetrisch zu fassen, scheitert jedoch nicht zuletzt daran, dass die Dinge nicht für sich selbst sprechen können und Latour deshalb die Artikulation ihrer Interessen ganz asymmetrisch an menschliche Experten delegieren muss. Ein räumliches Verständnis des Politischen liegt schließlich auch Michael Hardts und Antonio Negris Diagnose zugrunde, wir lebten im Zeitalter des »Empire«. Für dieses »kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts« (Zizek) bricht Ulrich Brie/er, den pathetischen Ton der beiden aufnehmend, mit Verve eine Lanze. Empire ist jener entgrenzte Raum des globalisierten Kapitalismus, der weder ein Zentrum noch ein Außen kennt, und folglich nicht nur die Netzwerke der Ausbeutung und Unterdrückung weltweit aufspannt, sondern, so Hardts und Negris dialektische Volte, auch jeden lokalen Widerstand zum potentiellen Nukleus einer globalen Souveränität von unten macht. Entfaltet sich die topalogische Dimension des Politischen in der Opposition von instituierender Kraft und instituierter Form, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, Dislokation und Fest-Stellung und dem Streit um die Grenzen des politischen Raums, so thematisieren die auf den Handlungs- und Kommunikationsmodus abstellenden Positionen das Politische als Unterbrechung, Ereignis und Dissens. Martin Saar zeigt in seinem Beitrag über Maurice Blanchot, wie der Schriftsteller und Literaturtheoretiker in seinen Artikeln zum Algerienkrieg und zum Mai 68 ein interventionistisches Verständnis politischen Handeins (und des Schreibens als politisches Handeln) vorführt. Für Blanchot ist das Politische gleichermaßen reaktiv wie situativ. Es antwortet auf unabweisbare Forderungen des Augenblicks mit Figuren des Bruchs und der Verweigerung. Blanchots Artikel und Erklärungen, die seine individuelle Stimme in einem anonymen »Kommunismus des Schreibens« aufgehen lassen, sind Kommunikationsstörungen mit den Mitteln der Kommunikation: Gesten der Zerstreuung und Verflüchtigung, die eine Gemeinschaft adressieren und sich zugleich jeder Gemeinschaftlichkeit entziehen. Die politische Praxis, die diese Texte im Visier haben, ist eine der »Verunordnung«; sie verrückt, verwirrt und destabilisiert die bestehende Ordnung, ohne sie durch eine neue zu ersetzen. 13

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Wenn Alain Badiou, den Gernot Kamecke im vorliegenden Band porträtiert, das Ereignishafte des Politischen herausstellt, so liegt ihm nichts ferner als ein Rekurs auf die zeitgenössische Eventkultur, welche die Politik im Dauerspektaktel zum Verschwinden bringt. Politisch sind für Badiou vielmehr jene seltenen Momente, in denen sich Wahrheit ereignet, weil Menschen handelnd ihre Souveränität als Subjekte behaupten und das Ideal einer freien Gemeinschaft von Gleichberechtigten erkämpfen. Im Begriff des Ereignisses liegt allerdings auch etwas, das der Intentionalität des Handeins entzogen ist: der Kairos, der sich nicht herbeiplanen, sondern bestenfalls ergreifen lässt, wenn er da ist. In der Bestimmung der Möglichkeitsbedingungen solcher Wahrheitsereignisse berühren sich politische Praxis und das Denken des Politischen. Aufgabe politischer Philosophie ist es, das Ereignis erinnernd zu vergegenwärtigen, seine Wahrheit zu prüfen und ihm so die Treue zu halten. Der spezifische Wahrheitswert politischer Ereignisse liegt in ihrem Bezug auf Universalität: »Politisch ist nur ein Denken, welches das Denken aller ist«, resümiert Kamecke Badious Überlegungen: »Ein politisches Denken ist nur dann wahr, wenn seine Wahrheit immer für alle auf die gleiche Weise gültig ist.« Man mag eine verborgene oder (so bei Chantal Mouffe) auch explizite Verbindungslinie von den hier vorgestellten Positionen zu Carl Schmitts antagonistischem Begriff des Politischen erkennen. Unübersehbar ist jedenfalls das Abrücken von liberalen, kommunitaristischen oder deliberativen Politikkonzepten, deren Fluchtpunkt ein - immer schon vorauszusetzender und/oder erst diskursiv zu ermittelnder- Konsens bildet. Insbesondere die »Postmarxisten« Lefort, Laclau und Mouffe, Balibar, Ranciere, Badiou sowie Hardt und Negri betonen demgegenüber die konstitutive Spaltung des Sozialen und bestimmen als genuin politischen Modus des Handeins die Artikulation des Dissenses. Während Schmitt jedoch die Unterscheidung von Freund und Feind fundamentalisiert sein Feind »ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existentiell etwas anderes und Fremdes ist« (Schmitt 1963: 27), woraus ein ebenso geschlossener Gemeinschaftsbegriff folgt- versuchen die genannten Autoren, die Konfliktivität jeder gesellschaftlichen Ordnung zugleich anzuerkennen und zu deessentialisieren. Der in Schmitts Definition immer schon geheiligten Gewalt politischer Exklusion und Inklusion setzen sie nicht das Ideal universeller Versöhnung entgegen. Darin läge ein Verleugnen, das die Antagonismen nur umso destruktiver wiederkehren lassen müsste. Vielmehr postulieren sie eine Institutionalisierung des Streits oder identifizieren das Politische gerade mit dem Einspruch gegen die Grenzregime absolut gesetzter Freund-Feind-Bestimmungen. 14

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Ob eine Hegung der antagonistischen Gegensätze zu einer »agonistischen Konfrontation«, wie sie Mouffe (2007: 42ff.) vorschlägt, gelingen und ob sie den post-politischen Status quo liberaler Demokratien repolitisieren kann, das steht dahin. Ebenso offen ist Raueieres Frage, ob sich überhaupt noch ein radikaler Dissens artikulieren kann, wenn die mittels wuchernder Verrechtlichung, verallgemeinerter Expertise und ständiger Umfragen perfektionierte Konsensfabrikation jegliche Störungen dadurch absorbiert, dass sie sie als kybernetische Rückkopplungen zur Systemoptimierung nutzt (vgl. Ranciere 2002: 105ff.; Tiqqun 2007). Begreift man mit Ranciere oder in seinen Spuren mit Slavoj Zizek das Politische nicht einfach als funktionierende Verwaltung der gesellschaftlichen Bedürfnisse im Rahmen der bestehenden Ordnung, sondern als Intervention, die »gerade den Rahmen verändert, der festlegt, wie die Dinge funktionieren« (Zizek 2001: 273), dann ist das Politische rar, wenn nicht unmöglich geworden. Mit der Diagnose, wir lebten im Zeitalter der Post-Politik, ist die temporale Dimension des Politischen angesprochen. Dass sich die Politik als Artikulation gesellschaftlicher Konflikte in den Endlosschleifen medialer Simulacra verflüchtigt hat, ist die These Jean Baudrillards, dessen Gegenwartsdiagnostik Robert Feustel und Hagen Schölzel kritisch sichten. Baudrillard beklagt den Verlust des Realenaufgrund der Übermacht selbstreferentieller Zeichen, die auf nichts anderes verweisen als auf andere Zeichen. Wenn es nur noch von den medialen Inszenierungen abhängt, was und wie etwas als real wahrgenommen wird, und der Rest in den Schwarzen Löchern der Nicht-Repräsentation verschwindet, ist einerseits das »Ende der Geschichte« gekommen, während diese andererseits als »Geschichte ohne Ende«, als ihre unentwegte Simulation, fortwest. Das simulierte Politische provoziert, so eine glückliche Formulierung Baudrillards (1994: 41f.), den >>Streik der Ereignisse«. Dass er die Frage, ob überhaupt noch etwas passieren kann, negativ beantwortet, ist vielleicht die beunruhigendste Botschaft dieses Propheten des postpolitischen Zeitalters. Hält Baudrillard noch - im Gestus des Abschieds - einer Politik des Ereignisses und der Unterbrechung die Treue, wie sie auch die Schriften Badious, Raueieres und Blauehots durchzieht, so rückt Jacques Derrida einen anderen zeitlichen Aspekt in den Mittelpunkt: Das Politische realisiert sich, wie Susanne Lüdemann in Auseinandersetzung mit seinem Konzept der democratie a venir herausarbeitet, als Aufschub, als Öffnung auf eine Zukunft, die notwendig undefiniert bleiben muss. Derridas Demokratie ist jedoch nicht nur eine, die kommen kann (und zugleich niemals gekommen sein wird), im Begriff der democratie a venir steckt

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vielmehr auch die Forderung, dass sie kommen soll (dass aber jeder Behauptung entschieden zu widersprechen ist, sie sei bereits da). Es bleibt Burkhard Liebsch vorbehalten, mit dem Werk von Emmanuel Levinas (und Seitenblicken auf Derrida und Ranciere) ein Denken vorzustellen, das gerade keine politische Ethik im herkömmlichen Sinn entwirft. Statt dessen formuliert es eine antipolitische Herausforderung der Politik bzw. des Politischen im Namen eines gleichermaßen unbedingten wie unverftigbaren Anspruchs des Anderen. Gegen die Reziprozitätsnormen wechselseitiger Anerkennung insistiert Levinas auf dem Vorrang der Alterität. Vom Angesicht des Gegenübers, selbst wenn dieser uns als Fremder oder Feind entgegentritt, geht das absolute Gebot »Du wirst keinen Mord begehen!« aus und begründet eine Verantwortung für den Anderen, die jeder Beweisbarkeit voraus liegt und nur bezeugt werden kann. Die Politik steht für Levinas unter dem Generalverdacht, diesen bindenden Anspruch des Anderen einem Allgemeinen unterzuordnen. Antipolitisch ist sein Denken nicht zuletzt in Reaktion auf die monströsen Verbrechen des 20. Jahrhunderts, deren Protagonisten sich anmaßten, jeden restlos der Politik oder dem Politischen zu unterstellen und über sein Leben zu verfügen. Levinas widersetzt sich einer Versöhnung von Politik und Ethik, doch er belässt es, wie Liebsch zeigt, nicht bei einer bloßen Verweigerungsgeste: Weil die Menschen sich immer schon mehreren Anderen gegenübersehen, müssen sie einen Ausgleich zwischen den jeweils unbedingten Verpflichtungen der jeweils singulär Anderen suchen. Mit dem Anspruch des Dritten (und Vierten und Fünften ... ) kommt das Problem der Gerechtigkeit ins Spiel. Würde die ethische Dyade zwischen Ego und Alter nicht aufgebrochen, erwiese sie sich selbst als gewaltsam, weil sie die nicht minder unbedingten Ansprüche der anderen Anderen missachtet. Levinas relativiert jedoch weder die Verantwortung gegenüber dem singulären Anderen, noch den Anspruch auf eine Gerechtigkeit, die alle einschließt, ohne ihre Singularität zu nivellieren. Vielmehr platziert er sie als Problematisierungen des Politischen in der Sphäre des Politischen selbst. Seine Ethik ist eine Optik: Das Politische antipolitisch zu denken, heißt dann, es auf eine Weise zu denken, welche die Schrecken seiner Verabsolutierung ebenso wie die seiner Selbstabdankung in den Blick rückt. Eine simple Zurückweisung der Politik als »schmutziges Geschäft« wäre demgegenüber so wohlfeil wie der Gemeinplatz von der Politikbedürftigkeit der Menschen, der immer schon ihrer Beherrschung zu anthropologischen Weihen verhelfen sollte. Das Spiegelspiel zwischen der Politik als Machtkampf, die man verachtet, und der Politik als »transzendente Sorge fürs Ganze«, die man heiligt (Fach 2008: 8), ist geradezu das organisierende Prinzip des öffentlichen Diskurses. Die Moralisie16

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rung des Politischen mag polemogen sein, aber im permanenten Hin und Her zwischen Anklage und Rechtfertigung erweist sie sich ebenso als probates Mittel zu seiner normalisierenden Befriedung. Einen ethischen imperativ knüpfen viele der im vorliegenden Band vorgestellten Positionen an den Begriff der Demokratie. Sie ist geradezu der positiv aufgeladene »leere Signifikant« der hier versammelten Versuche, das Politische zu denken. Radikalisierend oder dekonstruierend heben sie unterschiedliche Merkmale hervor - die Souveränität des Sich-selbst-Regierens, die Anerkennung der Anderen und die Instituierung des Konflikts, eine Freiheit und Gleichheit jenseits der formalen des Vertrags, eine Brüderlichkeit jenseits des familialen Gemeinschaftsmodells - und wenden sie kritisch gegen die Politiken (und Politiksimulationen) der als demokratisch firmierenden Staaten. Aber trotz aller Öffnungs-, Dislokations- und Deterritorialisierungsbewegungen, trotz der Unerreichbarkeil eines unendlich aufgeschobenen a venir bleibt die Demokratie der unhinterfragte Fluchtpunkt des Denkens. Sie ist der Name, in dem sich die normative Dimension des Politischen bündelt, und zugleich so vage, dass sich alle danmter versammeln können. Dass auch die Herrschaft aller über alle Herrschaft ist, auch die Selbstregierung eine Regierung und auch das frei gewählte Gesetz ein Gesetz, das wird dann kaum mehr zu einem Problem. Vielleicht ist es unmöglich, auch noch auf diesen »leeren Signifikanten«, auf diese - letzte? Orientierungsmarke zu verzichten, ohne die Dimension des Politischen ganz zu verabschieden und einem romantischen Anarchismus das Wort zu reden. Die Idee einer »freien Assoziation«, welche die Anarchisten auf ihre schwarzen Fahnen schrieben (und Marx und Engels ins »Kommunistische Manifest«), wäre für eine radikale Befragung des Politischen allerdings durchaus fruchtbar zu machen. Zu dekonstruieren wäre freilich auch sie. Manches spricht dafür, dass die hier zusammengetragenen Versuche, das Politische zu denken, genau diese Idee umkreisen, ohne sie beim Namen zu nennen. Der vorliegende Band ist hervorgegangen aus einer Vorlesungsreihe, die 2007 und 2008 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig stattgefunden hat. Die Herausgeber danken den Referentinnen und Referenten ftir ihre Bereitschaft, ihre Vorträge für die Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen und zu überarbeiten. Julia Eckert, Jonas Helbig, Dirk Manske, Kristina Patzelt, Michael Schüßler und Ulrike Wagner haben bei der Erstellung des druckfertigen Manuskripts geholfen. ihnen allen sei ebenfalls herzlich gedankt.

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ULRICH 8ROCKLING/RoBERT FEUSTEL

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Claude Lefort: Demokratie und die doppelte Teilung der Gesellschaft OLNER MARCHART

»Mein Anliegen ist die Wiederherstellung der politischen Philosophie; dazu möchte ich beitragen und anregen« (Lefort 1990: 281). Diese Worte eröffnen einen der prominentesten Artikel Claude Leforts. Und in der Tat kann hinsichtlich der Bedeutung, die Leforts Werk für die gegenwärtige politische Philosophie und im Besonderen ftir die Demokratietheorie besitzt, kein Zweifel bestehen. Auch wenn sie im deutschen Sprachraum noch nicht ausreichend bekannt ist, Lefort hat eine der gewichtigsten Theorien des Politischen, der Demokratie und des Totalitarismus entwickelt. Unglücklicherweise wurde diese Theorie Opfer dessen, was zum Schicksal aller erfolgreichen Theorien zu gehören scheint: Sloganisierung. Im Besonderen kann man in der Literatur zwei Lefort zugeschriebenen Phrasen begegnen. Die erste Phrase porträtiert unsere Zeit als gekennzeichnet von der »Auflösung der Grundlagen aller Sicherheit«, die zweite besteht in der These, in der Demokratie sei »der Ort der Macht leer«. Viele der Bezugnahmen auf den Namen Lefort geben sich mit diesen beiden Phrasen bereits zufrieden; weitere Details werden nicht verraten, kein theoretischer Kontext oder Hintergrund wird vorgestellt. Erwartet wird von diesen »Slogans«- und zeichnet nicht genau das einen Slogan aus? - , dass sie ftir sich selbst sprechen. Doch tun sie das nicht. Ihre Verwendung als Kalendersprüche der politischen Theorie lässt darauf schließen, dass vielen Interpreten die grundlegende Funktion dieser Motive für Leforts Theorie nicht bewusst ist. So darf die Behauptung einer »Auflösung der Grundlagen aller Sicherheit« nicht auf die triviale Einsicht reduziert werden, dass in unserer modernen Zeit vieles unsicher ist (eine Banalität, die Risikotheorien auf

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die Ebene sogenannter Wissenschaftlichkeit zu erheben versuchen). Ähnlich trivialisierend könnte die These vom »leeren Ort der Macht in der Demokratie« auf die simple Behauptung zurechtgestutzt werden, arbiträrer Machtgebrauch sei in Demokratien ausgeschlossen. ln den Kontext von Leforts Theorie gestellt, verraten diese Thesen hingegen etwas über Gesellschaft schlechthin, und sie erzählen etwas über Leforts Theorie. Erstens ist Lefort Kontingenztheoretiker. Aus diesem Grund verbirgt sich hinter dem ontologisch scheinbar weichen Begriff der Unsicherheit der starke einer Kontingenz, die jeder sozialen Identität eingeschrieben bleibt. Und in einem zweiten, damit verbundenen Sinn ist Lefort PostFundamentalist. Beide Motive, die Kontingenz des Sozialen wie auch die Leere des Orts der Macht, verweisen darauf, dass Gesellschaft auf keinem stabilen Grund gebaut ist: Sie bezeichnen die Abwesenheit sozialer oder historischer Notwendigkeit; die Abwesenheit eines positiven Fundaments von Gesellschaft. Worauf sie dennoch zugleich hinweisen, ist die Tatsache, dass die Dimension des Grundes- d.h. die Frage der Institution von Gesellschaft und damit das Politische - auch unter heutigen Bedingungen nicht einfach verschwindet, sondern als abwesende anwesend bleibt. Aus Leforts Perspektive darf daher das Politische nicht einfach mit »Politik« als - marxistisch gedacht- einer Angelegenheit des Überbaus oder als einem bestimmten sozialen Teilsystem neben vielen anderen verwechselt werden, wie dies, Lefort zufolge, in der Politikwissenschaft üblich sei. Diese szientifische »Fiktion« führe dazu, dass moderne demokratische Gesellschaften charakterisiert werden »durch die Abgrenzung einer bestimmten Sphäre von Institutionen, Beziehungen und Tätigkeiten als politische [... ], die sich von den anderen unterscheidet, die wiederum als ökonomische, rechtliche usw. erscheinen« (Lefort 1990: 283f.). Gegen diese (sozial-)wissenschaftliche Perspektivierung von Politik verteidigt Lefort ein philosophisches »Denken des Politischen« (»Ia pensee du politique«). Ein solches Denken distanziert sich von einer bloßen Wissenschaft der Politik, indem es nach dem Ursprung oder den Prinzipien der eigentlichen Differenzierung zwischen den sozialen Sphären (oder Systemen) in der Modeme fragt, also nach ihrer Fundierung, statt bloß deren Ausdifferenzierung zu beschreiben. Es nimmt seinen Ausgangspunkt von jenem Ereignis, welches diese Differenzierung zuallererst konstituierte, nicht von einer Beschreibung der vorgeblichen »Objektivität« dieser Systeme. Lefort besteht darauf, dass dieses Ereignis der Ausdifferenzierung partikularer Sozialsysteme - und damit das moderne Verständnis von Politik als partikulares Teilsystem - selbst eine politische Bedeutung besitzt, was die Frage nach der Form und ln-

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stitution von Gesellschaft aufkommen lässt. Der einschlägige Absatz sei vollständig zitiert: »Doch die Tatsache, daß sich so etwas wie die Politik in einer bestimmten Epoche im gesellschaftlichen Leben abzugrenzen begann, hat gerade eine politische Bedeutung, die als solche nicht partikular, sondern allgemein ist. Mit diesem Ereignis kommt nichts geringeres ins Spiel als die Konstitution eines gesellschaftlichen Raumes, die gesellschaftliche Form oder das Wesen des »Gemeinwesen« (Ia cite), wie es ehemals hieß. Somit enthüllt sich das Politische nicht in dem, was gemeinhin politisches Handeln genannt wird, sondern in der doppelten Bewegung des Erscheinensund Verbergens der Art und Weise, wie sich Gesellschaft instituiert. Ein Erscheinen in dem Sinne, daß der Prozeß, durch den sich die Gesellschaft ordnet und durch ihre Teilungen hindurch vereinigt, sichtbar wird, Verbergung aber in dem Sinne, daß das generische Prinzip der Konfiguration der Gesamtgesellschaft verschleiert wird, sobald sich ein Ort der Politik als partikular bezeichnet (jener Ort, an dem sich der Wettstreit der Parteien vollzieht, an dem sich die allgemeine Machtinstanz ausbildet und erneuert)« (Lefort 1990: 284).

ln dieser zentralen Passage besteht Lefort darauf, dass das Politische die formgebende Dimension von Gesellschaft darstellt. Seine Interpretation erfordert eine Untersuchung jener Frage, welche die politische Philosophie bereits in ihren Anfängen inspirierte und in der griechischen Theorie der politeia angekündigt wurde: Was ist die Natur der Differenz zwischen den verschiedenen Gesellschaftsformen? Ein solches Denken des Politischen erfordert den »Bruch mit dem Standpunkt der politischen Wissenschaft, die gerade aus der Streichung jener Frage entstanden ist«. Denn sie vergisst, »daß es keine Elemente oder Elementarstrukturen, keine Wesenheiten (Klassen oder Klassensegmente), keine gesellschaftlichen Beziehungen, keine ökonomische und technische Bestimmung, keine Dimension des gesellschaftlichen Raumes gibt, die >vor< ihrer Formgebung existierten« (ebd.). So wird das Politische von Lefort auch definiert als Ensemble der »generativen Prinzipien der >form< des Sozialen« (Lefort 1992: 326). Diese »Form« des Sozialen wird ihrerseits als »symbolisches Dispositiv« einer gegebenen Gesellschaft bezeichnet. Wie ist dieses symbolische Dispositiv in der modernen Gesellschaft strukturiert und welchen Mutationen unterliegt es? Lefort gibt eine ganze Reihe von Merkmalen an, auf die wir gleich zu sprechen kommen werden, unter ihnen befindet sich aber ein grundsätzliches Merkmal: Die Form moderner, demokratischer Gesellschaften ist charakterisiert durch die lnstitutionalisierung des Konflikts.

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Es ist diese Frage des Konflikts, die, neben der nach der Macht, für Lefort im Zentrum des Problems des Politischen liegt. Im Kern des Formierungsprozesses von Gesellschaft wird man einer grundlegenden Teilung als Bedingung der (Un-)Möglichkeit jeder Formierung oder jedes formgebenden Prozesses begegnen. Die Teilung ist primordial, d.h. sie kann auf keine ihr vorausliegende Gründung, auf keinen festen Grund, keine historische Teleologie, keine Basis im Produktionsprozess oder was immer zurückgreifen. Wie es Leforts früherer Mitarbeiter Marcel Gauchet pointiert fasst: »Die Teilung ist weder ableitbar noch auflösbar« (Gauchet 1990: 224). Man muss daher die Suche nach einem dem Politischen selbst vorgelagerten Ursprung des Politischen - wie ihn der Marxismus etwa in der »ökonomischen Basis« vermutete - aufgeben. Es ist ein »radikaler Interpretationssprung« vonnöten, da Gesellschaft auf nichts anderem gründet als auf einer originären Teilung, die ihrerseits nichts anderes ist als die Teilung zwischen der Gesellschaft und dieser selbst als ihrem anderen. So ist es »eben jener antagonistische Gegensatz der Gesellschaft zu sich selbst, der die Gesellschaft als solche begründet, ihr zu existieren erlaubt, sie zusammenhält. Die Gesellschaft ist wesentlich gegensätzlich verfasst, sie setzt sich nur im Gegensatz zu sich selbst, d.h., indem sie sich zum Anderen ihrer selbst macht« (ebd.). Gesellschaft ruht also nicht auf einem positiven Prinzip auf, sondern auf einer unauflösbaren Negativität im Verhältnis zu ihrer Selbstidentität Diese Negativität - Teilung- kann nicht von empirischen, »positiven« Fakten abgeleitet werden. Nur indem Gesellschaft sich teilt und zu ihrem eigenen Anderen macht, kann sie überhaupt ein bestimmtes Ausmaß an Identität erreichen. Diese originäre Teilung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass Gesellschaft überhaupt eine Form und ein Verständnis ihrer selbst entwickeln kann. Die philosophische Befragung der Gesellschaft muss mit dieser konstitutiven Aufspaltung des gesellschaftlichen Raums beginnen, mit dem »Enigma« des Verhältnisses zwischen Innen und Außen. An dieser Stelle kommt die Kategorie der Macht ins Spiel, denn die Rolle der Macht besteht genau darin, Gesellschaft zu instituieren, indem sie deren Identität symbolisch repräsentiert, wozu sie auf die symbolische Ordnung zurückgreift. Und wenn nun die Instituierung/Fundierung von Gesellschaft auf der symbolischen Ebene vonstatten geht, dann wird sie notwendigerweise durch Macht inszeniert werden müssen: Das genau meint Lefort, wenn er von einer mise-enscene Gesellschaft spricht. Die Einheit der Gesellschaft mag in unterschiedlicher Weise auf die Bühne gebracht werden: Die »Fabrikation von Louis XIV« (Burke 1992) etwa unterscheidet sich eklatant von der Weise, in der Macht in Demokratien als jener Ort inszeniert wird, der institutionell nicht besetzt werden kann. Im Fall der Demokratie wird, so 22

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könnte man sagen, ein Spiel mit offenem Ausgang auf einer leeren Bühne inszeniert, und doch wird das Theater der Macht keineswegs geschlossen. So wie eine Gesellschaft ohne Macht unvorstellbar ist, so kann es keine Macht ohne Repräsentation geben - ergo: kein sozialer Raum ohne die Inszenierung einer »Quasi-Repräsentation seiner selbst« (Lefort 1990: 285). So führte jenes irreversible Ereignis, das Lefort als »demokratische Erfindung« bezeichnet, die französische Revolution von l 789ff., nicht zum Verschwinden von Macht als solcher. Was historisch geschah, war eine Mutation der symbolischen Ebene, welche die Weise, in der die Einheit von Gesellschaft inszeniert wird, ihre mise-en-scene modifizierte. Zugleich betraf diese Mutation die Weise der Formung von Gesellschaft- ihre mise-en-forme- und die Weise, in der Gesellschaft mit Bedeutung ausgestattet wird- ihre mise-en-sens. Diese drei Aspekte können nicht voneinander getrennt werden: die Weise, in der Gesellschaft durch die Instanz der Macht inszeniert wird, gibt ihr zugleich Form (ohne Macht wäre Gesellschaft eine amorphe Masse) und Bedeutung, da Gmndunterscheidungen zwischen wahr und falsch, gerecht und ungerecht, legitim und illegitim den sozialen Raum flir uns erst intelligibel machen. Es ist diese Dimension »des Politischen« - im Sinne der instituierenden Prinzipien eines gegebenen symbolischen Dispositivs -, die das Soziale formt und mit Bedeutung ausstattet, indem sie das Soziale dem Sozialen selbst gegenüber repräsentiert. Hierauf bezieht sich Lefort mit seiner berühmten These, in der Demokratie bleibe der symbolische Ort der Macht leer: Im Moment der demokratischen Revolution - als das monarchische Dispositiv zum demokratischen wurde - fand diese Mutation auf der Bühne der Macht statt. Im monarchischen Dispositiv verwies die Macht »auf einen unbedingten, außerweltlichen Pol«, während der König den »Garanten und Repräsentanten der Einheit des Königreichs« darstellte (Lefort 1990: 292). Der König war in der Lage, diese Rolle auszufüllen, da er mit zwei Körpern ausgestattet war. Lefort bezieht sich hier auf Kantorowicz' (1957) Darstellung der mittelalterlichen Theorie von den beiden Körpern des Königs. Lefort zufolge repräsentierte sich das Ancien Regime im Bild des Körpers des Monarchen, der in Analogie zum corpus Christi gedacht wurde, als geteilt in einen irdischen, sterblichen Körper und einen himmlischen, unsterblichen, kollektiven Körper, der die Einheit des Königreichs legitimierte. Seine beiden Körper erlaubten es dem Monarchen, zwischen der Sphäre der Immanenz (der »Erde« bzw. Gesellschaft) und jener der Transzendenz (der göttlich verbürgten Legitimität der sozialen Ordnung) zu vermitteln. Einerseits gehörte der Körper des Monarchen einer Sphäre außerhalb der Gesellschaft an, andererseits lag

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hierin der Grund, warum Gesellschaft ihre imaginäre »organische« Einheit auf seinen Körper projizierte. Dieser stand - als Synekdoche - für den Körper der mystischen Gemeinschaft des gesamten Königreichs. Die zwei Körper des Königs ermöglichten eine effektive Vermittlung zwischen Innen und Außen und machten den König selbst zum Vermittler zwischen den Menschen und den Göttern bzw. jenen transzendenten Instanzen, die später die Rolle der Götter einnehmen sollten: die souveräne Justiz und die Vernunft. Diese Verknüpfung zwischen dem Irdischen und dem transzendenten Legitimationsgrund von Gesellschaft, die einstmals im Körper des Königs inkarniert war, wird im Moment der Disinkorporation des Königs endgültig gekappt. Im Zuge der demokratischen Revolution kondensiert dieser Moment - ein Moment des Politischen, wenn es je einen gegeben hat- symbolisch in der Guillotinierung von Louis XVI. Man muss sich vor Augen halten, dass in diesem Spektakel nicht nur die Köpfung des irdischen Körpers des Königs inszeniert wurde, sondern auch und besonders die Disinkorporation seines mystischen, transzendenten Körpers. Vor allem sie wird den Ort der Macht leer hinterlassen und das Band zwischen der Gesellschaft und ihrem transzendenten Fundament der Legitimation durchtrennen. Doch obwohl Macht in diesem Augenblick von jedem positiven oder substantiellen Inhalt befreit wird, verschwindet sie nicht als eine Dimension des Sozialen: »Vielmehr ist sie weiterhinjene Instanz, kraftderer die Gesellschaft sich in ihrer Einheiterfaßt und sich in Zeit und Raum auf sich selbst bezieht. Allerdings wird die Machtinstanz nicht mehr auf einen unbedingten Pol zurückbezogen. ln diesem Sinne markiert sie eine Spaltung zwischen dem gesellschaftlichen Innen und Außen, die zugleich deren Beziehung begründet. Stillschweigend gibt sie sich so als rein symbolische Instanz zu erkennen« (Lefort 1990: 293).

Aber es ist nicht allein diese Teilung zwischen der Gesellschaft und ihrem Außen, die im demokratischen Dispositiv akzeptiert wird. Mehr als diese sind es die inneren Teilungen der Gesellschaft, die inneren Konflikte zwischen unterschiedlichen Interessen, Klassen und Gruppen, die akzeptiert werden müssen. So machen Lefort und Gauchet also eine weitere Achse aus, über die soziale Negativität und Konflikt operieren, so dass das Soziale letztlich entlang zweier Achsen des Politischen konstituiert wird. Die erste wurde gerade beschrieben als Achse der gesellschaftlichen Selbstentfremdung: In jenem Moment, in dem Gesellschaft sich ihrer Selbstidentität versichert, teilt sie sich und errichtet ein Außen, dass durch die Instanz der Macht inkarniert wird. Es bildet sich ein Antagonismus zwischen der Gesellschaft und ihrem Außen. Nun wurde 24

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festgestellt, dass eine zweite Trennung oder Teilung im Inneren der Gesellschaft operiert: Hier ist es die unauflösbare Spannung zwischen ihren Mitgliedern, die den Antagonismus konstituiert. Dieser Aspekt der inneren Teilung von Gesellschaft illustriert anschaulich, in welchem Ausmaß Leforts und Gauchets Theorie als eine Konflikttheorie betrachtet werden muss. Der Klassenantagonismus wird von ihnen nicht - wie von den Marxisten - als etwas verstanden, das an einem fernen Punkt in der Zukunft, nach der Sozialisierung der Produktionsmittel und dem Absterben des Staates, auflösbar wäre. Nicht nur ist dieser Konflikt unauflösbar, er ist auch notwendig für die Selbstinstituierung von Gesellschaft und stellt eine der Hauptquellen sozialer Kohäsion dar. Das mag paradox erscheinen. Wie kann Konflikt - als unauflösbarer Kampf zwischen den Menschen - eine der Hauptquellen sozialer Kohäsion sein? Wenn wir verstehen wollen, aus welchen Quellen sich Leforts positive Beurteilung von Konflikt speist, müssen wir uns seinen frühen Studien zu Machiavelli zuwenden, denn es war vor allem Machiavellis Denken, das es Lefort erlaubte, mit dem marxistischen Postulat der sekundären Natur von Konflikt zu brechen. Zwischen 1956 und 1972 arbeitete Lefort an seiner these d'etat, seiner Befragung des Machiavellschen CEuvre, die sich zu einem 800 Seiten starken Buch entwickeln sollte (Lefort 1986b). Für Lefort ist Machiavelli, und dies wäre an sich noch keine originelle Einsicht, Erfinder des politischen Denkens im eigentlichen Sinn. Darüber hinaus baut Lefort seine Interpretation jedoch auf eine radikalere These. Machiavelli entdeckte - eine Entdeckung, die ihm erst die Begründung des modernen politischen Denkens ermöglichte -, dass im Zentrum jedes Gemeinwesens ein radikaler Konflikt existiert. Im neunten Kapitel des Fürsten erklärt Machiavelli, die Noblen auf der einen und das Volk auf der anderen Seite seien aufgrund ihrer gegensätzlichen umori - ihrer Begehrensstrukturen könnte man sagen - in einem unauflösbaren Kampf gefangen. Gehört es zum Begehren der Noblen, zu kommandieren und zu unterdrücken, so gehört es zum Begehren des Volkes, nicht kommandiert und nicht unterdrückt zu werden (ebd.: 3 82). Diese konstitutive und irreduzible Opposition zwischen dem Volk und den Noblen geht allen partikularen sozialen Umständen oder Traditionen voraus, in die sie jeweils eingebettet ist. Wo immer es Gesellschaft gibt, dort ist sie von einem inneren Antagonismus gekennzeichnet. Auf der anderen Seite muss dieser innere Konflikt ein symbolisches Ventil finden, soll er die Gesellschaft nicht zerstören. Am äußersten Punkt käme eine Gesellschaft des reinen Antagonismus (eine Gesellschaft ohne symbolische Dimension der Machtregulierung im Lefortschen Sinn) dem Hobhesseherr Naturzustand gleich und könnte wohl

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kaum als Gesellschaft bezeichnet werden. Für Machiavelli ist es das symbolische Dispositiv der Republik - als ein auf der Souveränität der Gesetze basierendes Regime der Freiheit -, welches es ermöglicht, den Konflikt wie auch die Regulierung des Konflikts zwischen Volk und Noblen anzuerkennen, womit es beiden Parteien verunmöglicht wird, die jeweils andere zu beherrschen bzw. zu unterdrücken. In gewisser Hinsicht macht dies Machiavelli nicht nur zum ersten Antagonismus-Theoretiker, insofern er den unauflösbaren Konflikt am Grunde jeder möglichen Gesellschaft betont, sondern auch zum ersten, der eine Theorie des Agonismus als symbolisch regulierter Form des Antagonismus entwickelte (reguliert etwa durch das Arrangement einer republikanischen Mischverfassung), wobei betont werden muss, dass unter Regulierung keinesfalls eine Art Aufhebung der Opposition zwischen Noblen und Volk zu einer harmonischen oder sogar homogenen Gemeinschaft verstanden werden darf. Der radikale Antagonismus verschwindet nie; er muss akzeptiert werden als eigentliche Ermöglichungsbedingung jeder Gesellschaft. Es kommt vielmehr darauf an, mit diesem Konflikt sowie mit der Nicht-Selbstidentität von Gesellschaft symbolisch umzugehen, und gerrau das ist ftir Machiavelli die Aufgabe des symbolischen Dispositivs der Republik bzw. für Lefort die des demokratischen Dispositivs. Konkret müssen folgende institutionell-symbolische Arrangements des Dispositivs erwähnt werden. Das erste wurde bereits angesprochen: Das demokratische Dispositiv wird dadurch charakterisiert, dass es den Ort der Macht leer hält und davon Abstand nimmt, irgendeinen anderen Grund als seine eigene Selbst-Teilung postulieren zu wollen. Die Leere des Ortes der Macht muss institutionell anerkannt werden. Das demokratische Dispositiv muss einen institutionellen Rahmen bereitstellen, der Akzeptanz im Hinblick auf die Grundlosigkeit des Sozialen garantiert. Diese Entleerung des Ortes der Macht wird begleitet von der Entknüpfung der Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens. Macht ist auf dauernder Suche nach ihrer eigenen Legitimationsbasis, da die Prinzipien der Gerechtigkeit und des Wissens (Wahrheit), nicht länger von der Person des Herrscher inkorporiert werden (Lefort 1988: 17f.). Im demokratischen Dispositiv müssen daher die Grenzen zwischen diesen Handlungssphären anerkannt werden. Und im Zuge der Autonomisierung der Sphären der Macht, des Rechts und des Wissens entwickeln und definieren diese ihre eigenen Normen und Legitimitätsprinzipien. Man sieht, dass der Umstand des Verschwindens eines singulären Grundes nicht das Verschwinden der Fragen nach institutioneller Grundlegung des Sozialen impliziert. Nur wandeln sich diese Fragen, insofern sie sich nicht länger auf eine äußere Quelle der Gründung richten können, zu Fragen der autonomen Selbst-Institution von Gesellschaft.

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Alle Fragen autonomer Selbst-Institution müssen nun innerhalb der Gesellschaft verhandelt werden, was ermöglicht wird durch die Abtrennung einer Zivilgesellschaft vom Staat. In einem weiteren Schritt entsteht in dem vom Prozess der Abtrennung gerissenen Spalt zwischen Zivilgesellschaft und Staat ein öffentlicher Raum, in dem kein Monarch, keine Mehrheit und kein oberster Richter entscheiden kann, welche Debatte legitim ist und welche nicht. Demokratie sei auf der Legitimität der Debatte um das Legitime bzw. Illegitime gegründet, die sich notwendigerweise ohne Garantie und ohne Endpunkt entfalte (ebd.: 39). Die Unabstellbarkeit der Debatte, die den öffentlichen Raum formt, wurde durch die Erklärung der Menschenrechte sichergestellt (Gauchet 1991). Der Begriff der Menschrechte deutet auf ein Territorium, das aufgrund der Entknüpfung von Macht, Recht und Wissen jenseits des Einflussbereichs der Macht angesiedelt ist. Die Menschenrechte werden innerhalb und durch die Zivilgesellschaft selbst erklärt und sind Bestandteil ihrer Autoinstitutionalisierung. Sie konstituieren keinen neuen positiven Grund und bestehen daher aus keiner angehbaren Reihe präetablierter ewiger Prinzipien. Sie sind also auf charakteristische Weise offen, was ihren Inhalt betrifft. Obwohl die universelle Instanz der Menschenrechte alle partikularen, bereits etablierten positiven Rechte potentieller Kritik und Revision aussetzt, garantiert sie doch, dass ein Recht nicht in Frage gestellt wird: das Recht, Rechte zu haben, wie Lefort (1986a: 258) in Anlehnung an Hannah Arendt formuliert. Einmal anerkannt, erlauben es die Menschenrechte immer mehr sozialen Gruppen, ihr Recht auf Rechte einzufordern. Leforts Pointe ist, dass die Ausweitung des Einzugsgebiets der Menschenrechte auf immer weitere Gruppen für die Existenz von Demokratie von unabdingbarer Notwendigkeit ist. Der andauernde Rufnach Inklusion weiterer Gruppen (man denke an die heutigen Kämpfe, etwa um die Rechte von Homosexuellen, Arbeitslosen oder Papierlosen) in die Kategorie des Rechts aufRechte generiert Demokratie immer aufs Neue. Dieses generative Prinzip des Kampfes um weitere Inklusionen in einen sich ausdehnenden Raum, der ursprünglich durch die Erklärung der Menschenrecht eröffnet worden war, ist offensichtlich konfliktorischer Natur und wird daher von der lnstitutionalisierung des Konflikts in der Demokratie begleitet (Lefort/Gauchet 1990). Das allgemeine Wahlrecht gehört aus diesem Grund zu den wesentlichsten Elementen des demokratischen Dispositivs. Das mag trivial klingen, aber die demokratische Letztbedeutung des allgemeinen Wahlrechts besteht für Lefort nicht darin, Repräsentanten des Volkes zu entsenden; dies wäre gleichsam nur die eine Seite der Instituierung allgemeiner und freier Wahlen. Seine wirkliche Bedeutung besteht erstens darin, den politischen Wett27

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bewerb mit Regeln zu versehen, die eine periodische Entleerung des Ortes der Macht garantieren, womit dessen »Leere« immer neu in Erinnerung gerufen wird; und zweitens, den sozialen Konflikt (den Interessenswie den Klassenkonflikt) auf die symbolische Bühne der Politik zu heben. Dieser Mechanismus betuht wieder auf einem Prozess der Disinkorporation im Moment der Wahlen, wenn Wahlbürger, die in unterschiedliche soziale Zusammenhänge verstrickt sind, erfahren, was Lefort die »Disinkorporation des Individuums« nennt (Lefort 1986a: 303). Die sozial verwurzelten Individuen werden in reine Zahlen konvertiert, von ihrer Verortung im Sozialen wird abstrahiert. Die Einheit der Gesellschaft wird im Moment der Wahlen in Zahlenverhältnisse auseinandergebrochen: »Number replaces Substance« (Lefort 1988: 19). Was im Moment der Wahlen auf diese Weise repräsentiert wird, ist nicht etwa der »Volkswille« in seiner unvermittelten Emanation. Ganz im Gegenteil, auf die Bühne gebracht wird die Fragmentiemng, Teilung und Konfliktualität von Gesellschaft. Daraus folgt, dass der Wille des Volkes nichts Einheitliches darstellen kann, insofern seine Fragmentiemng durch den simplen Umstand bewiesen wird, dass er zuallererst ausgezählt werden muss. Aus diesem Grund existiert das >Volk< nicht. Und was hinzukommt: dieses Argument widerlegt jede Kritik an Demokratie als >bloß formalwirklichen< ökonomischen Machtverhältnisse maskieren und mystifizieren, da bei Wahlen nicht über die Verteilung >realer< oder tatsächlicher Macht entschieden werden könne. Dabei wird übersehen, dasses-aus Lefortscher Perspektive- bei Wahlen von vomherein nicht um die (Neu-)Yerteilung >realer< Macht geht, da ihre Funktion vor allem darin besteht, Konflikt und Macht symbolisch als real zu inszenieren. Wahlen erfüllen im demokratischen Dispositiv die paradoxe Rolle, als institutionelle Markierungen von Unsicherheit, von Kontingenz zu dienen. All diese Aspekte des demokratischen Dispositivs tragen zur Institutionalisierung der originären Dimension der Gesellschaft bei: ihrer Teilung. Was Teilung originär macht, ist die Unmöglichkeit eines positiven Grundes. Weil die Identität der Gesellschaft nicht auf Basis eines positiven Grundes errichtet werden kann, muss Gesellschaft ihren Gmnd in sich selbst finden, und zwar qua Selbst-Teilung. Diese Behauptung bezüglich der allgemeinen Bedingungen von Identitätsformation macht nur Sinn, wenn sie aufjede moderne Gesellschaft zutrifft, auch auf die totalitäre. Den Unterschied zwischen Demokratie und Totalitarismus macht nicht aus, dass letzterer Zugang zu einem positiven Grund besäße und erstere nicht. Was Demokratie von Totalitarismus und anderen Formen von Ideologie unterscheidet, ist, dass in einer Demokratie die allgemeine

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Bedingung der Abwesenheit eines positiven Grundes nicht verdunkelt, sondern institutionell anerkannt und diskursiv aktualisiert wird. Daher bleibt selbst der Totalitarismus auf die demokratische Revolution verwiesen. Er stellt nichts anderes dar als eine Mutation und Verlängerung ihrer wesentlichen Merkmale, die er zugleich invertiert und radikalisiert, weshalb er nicht mit prädemokratischen Regierungsformen wie jener der Tyrannei oder Despotie verwechselt werden darf, wie Lefort darin Arendt verwandt- nicht zu betonen müde wird. Vielmehr ist Totalitarismus der Name für eine der beiden Richtungen, in die sich die demokratische Revolution entwickeln kann: hin zur Demokratie oder hin zum Totalitarismus. Denn sofem der Totalitarismus in der demokratischen Revolution wurzelt, lässt er sich nicht klar und definitiv von der Demokratie trennen. Dies hat seinen Grund darin, dass Gesellschaft, sobald sie im Moment ihrer Instituierung (oder »Erfindung«) auf sich selbst zurückgeworfen wird, notwendigerweise Ausflucht in Fantasien totaler Beherrschung des sozialen Raums sucht, in Fantasien eines allmächtigen Wissens und einer allwissenden Macht. So versucht der Totalitarismus die originäre Teilung zu verkleistem und den leeren Ort der Macht wiederzubesetzen. Indem er Gesellschaft mit der Dimension der Macht verschmilzt, schließt und homogenisiert er den sozialen Raum. Es kommt zur Reinkamation von Macht, deren Ort zuerst von einer Partei besetzt wird, die behauptet, sich von allen traditionellen Parteien zu unterscheiden und das Volk als Ganzes zu repräsentieren. Letzteres wird mit dem Proletariat identifiziert, das wiederum mit der Partei identifiziert wird, sodann mit dem Politbüro und schließlich mit dem, was Lefort, einen Ausdruck Solschenizyns aufnehmend, den »Egokraten« nennt. Im Unterschied zum Monarchen, der mit sich selbst nicht identisch war, besitzt der Egokrat, der den Ort der Macht innerhalb der Gesellschaft vollständig auszufüllen versucht, nur einen einzigen Körper: corpus mysticum und corpus naturale sind ununterscheidbar. Der Egokrat fällt mit sich selbst in eins, so wie die totalitäre Gesellschaft mit sich selbst in eins fallt. So besteht das Hauptmerkmal des Totalitarismus in seinem Verhältnis zum gründenden Konflikt darin, dass jede Form des Antagonismus verdeckt werden soll und eine homogenisierte und sich selbst gegenüber transparente Gesellschaft postuliert wird. So wird »die gesellschaftliche Teilung in allen Formen geleugnet, werden alle Zeichen des Unterschieds zwischen Glaubensansichten, Meinungen und Sitten bestritten« (Lefort 1990: 287). Das heißt, der innere Antagonismus wird überschrieben, indem der Egokrat das »Volk-als-Einheit« und damit Gesellschaft als ungeteilte zu irrkamieren vorgibt. Doch da sich die Teilung nie vollständig auslöschen lässt und weiterhin in Form von Störungen der ima-

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ginären Verbergungen zu Tage treten wird, muss sie verschoben werden. Damit das »Volk-als-Einheit« in seiner Totalität und prallen Identität präsentiert werden kann, ist ein Verhältnis zu irgendeinem Außen unabdingbar. Dieses Außen, an sich verleugnet, findet eine Reihe interner Substitute, die den »inneren Feind« repräsentieren sollen: die Kulaken, die Bourgeoisie, die Juden, Spione und Saboteure. Und doch verstrickt sich der Totalitarismus in ein Paradoxon. Sein Ziel ist es, die innere Teilung loszuwerden, doch um diese Ziel erreichen zu können, muss ein Feind produziert werden: »Teilung wird verneint [... ), und während sie noch verneint wird, wird eine andere Teilung auf der Ebene des Phantasmas affirmiert, die Teilung zwischen dem Einen-Volk und dem Anderen« (Lefort 1986a: 298). Der Totalitarismus benötigt den Feind als Referenzpunkt, stützt sich noch in jenem Moment auf Teilung, in dem er Teilung verleugnet. Jede moderne Form von Ideologie besteht, zusammenfassend gesagt, in der Verleugnung sowohl der instituierenden Rolle von Teilung als auch der Leere des Ortes der Macht. Doch mit der demokratischen Revolution wurde es unmöglich, den Ort der Macht, der unumkehrbar dekorporiert wurde, auf Dauer zu besetzen. War dieser externe Ort in der Vergangenheit von den Götter und, auf supplementäre Weise, vom transzendenten Körper des Monarchen besetzt, so ist ein solch transzendentes oder fundamentales Außen - ein unabhängig von der Identität der Gesellschaft >real existierendes< Außen positiven Inhalts - im Rahmen des demokratischen Dispositivs undenkbar geworden. Niemand könnte legitimerweise noch behaupten, ein natürliches Anrecht auf die Besetzung dieses Ortes und somit auf die Inkarnation eines transzendenten Referenzpunktes der Gesellschaft zu besitzen. Das Außen ist von den Göttern verlassen worden, und Macht als repräsentationaleForm dieses Außen wurde >entleertSoziale Marktwirtschaftradikale Souveränität< oder >Selbst-Schaffung< und wird von einigen radikaldemokratischen Theorien vertreten: So behält etwa in den Arbeiten Antonio Negris die >Multitude< ihre Souveränität über die stets nur als abgeleitet begriffene konstitutionelle Form - die Revolution wird als Ausdruck einer Art ursprünglichen Macht in der politischen Ontologie verankert. (4) Derirresolution thesis zufolge sind die beiden Formen der Macht ununterscheidbar miteinander verwoben: Die konstituierende Macht wird aufunzählige Weisen innerhalb der und gegen die konstitutionalisierten Formen der konstituierenden Macht ausgeübt, denen sie unterworfen ist und die sie zugleich en passanttransformiert (auf diese Weise lässt sich etwa Michel Foucaults Analytik der Macht verstehen). Balibars eigene Position lässt sich am ehesten als radikaldemokratisch gewendete Variante der zweiten Sichtweise-also als Gegenposition zu Habermas in diesem Segment- verstehen. Wichtiger als der Versuch einer positiven Bestimmung seiner Position ist zunächst aber der Hinweis auf ihre konsequent negative Ausrichtung, auf die Kritik eines jeden Versuchs, diese Spannung aufzulösen, sei es in einer etatistischen und Iegalistischen Verabsolutierung der konstitutierten Macht, sei es in einer anarchistischen Verabsolutierung der konstituierenden Macht. lnsofern ist die von Balibar diagnostizierte Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht primär eine negative; jeder Versuch, das Spannungsverhältnis nicht nur temporär zu vermitteln, sondern zu überwinden, muss scheitern - auf der theoretischen Ebene, vor allem aber in der Praxis, und hier mit politisch desaströsen Konsequenzen. Die »grundlegende Heterogenität des politischen Prozesses« (Balibar 2006d: 10) lässt sich nur um den Preis umfassender Entpolitisierung homogenisieren. Wie aber lässt sich die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht genauer fassen? Balibar selbst bietet eine konkretere Fassung des Spannungsverhältnisses an, indem er von einer »Dialektik konstituierender und konstituierter Staatsbürgerschaft« spricht (Balibar 2001 : 126). Tatsächlich ist der Begriff der Bürgerschaft bzw. der Staatsbürgerschaft zentral ftir sein gesamtes Denken des Politischen. So charakterisiert Balibar sein Projekt als das einer »Neufassung der grundlegenden Kategorie der politischen Philosophie, jener des >BürgersPolitikenmnd« hier nicht so zu verstehen, als würden im Folgenden zwei unterschiedliche Gruppen von Rechten für zwei unterschiedliche Gruppen von Personen deklariert, zum einen die Rechte der Menschen und zum anderen die Rechte der Bürger. Balibar zufolge trifft die Erklärung keinerlei Unterscheidung zwischen »Mensch« und »Staatsbürger« und demnach auch nicht zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten. Es ist deshalb auch nicht der Fall, dass die Menschenrechte die Bürgerrechte begründen (wie das heute oft angenommen wird); vielmehr werden sie in der Erklärung miteinander identifiziert - und das ist selbst ein politischer Akt, eine Ausübung konstituierender Bürgerschaft: »Les representants du peuple fran>Universellen Recht auf Politik«, das er analog zu Hannah Arendts >>Recht, Rechte zu haben« versteht. Da dies eine genuin emanzipatorische Leistung ist, kann Balibar in den Menschen- und Bürgerrechten nicht, wie tendenziell Marx, bloße Schutzvorrichtungen für die Privatinteressen der Bourgeoisie sehen. Die Selbstermächtigung der Bürger zum politischen Handeln eröffnet vielmehr die Möglichkeit einer Politisierung der Forderung nach Rechten, nach einer anderen - intensiveren: auf den Abbau diverser Exklusionen zielenden und/oder extensiveren: auf einen »kosmopolitischen Horizont« gerichteten -Konzeption und Praxis der Staatsbürgerschaft (Balibar 2006b: 312). Und genau diese intensivere wie extensivere Realisierung von Staatsbürgerschaft bezeichne ich im Anschluss an Balibar (2008b: 526, 528) als »Demokratisierung der Demokratie«. Sie ist als ein als unabschließbarer Prozess zu verstehen, der von einer permanenten Spannung durchzogen wird »zwischen der universell politischen Bedeutung der >Menschenrechte< und der Tatsache, daß ihre Aussage es völlig der >PraxisKampfsozialen Konflikt< überlässt, eine >Politik der Menschenrechte< existieren zu lassen« (Balibar 1993: lll f.), die stets auf spezifische historische, soziale und politische Kontexte bezogen und daher notwendig partikular ist. Diese Idee einer kontinuierlich geforderten, nicht abschließbaren »Demokratisierung der Demokratie« werde ich nun in drei Schritten näher charakterisieren. In einem ersten Schritt lassen sich mit Balibar (1 997: 17ff.) drei wesentliche Aspekte demokratischer Politik unterscheiden, die in einem Verhältnis der Irreduzibilität und der Komplementarität, aber auch der Spannung zueinander stehen. (a) Unter dem Aspekt der Emanzipation fasst Balibar den Kampf etwa der Arbeiter, der Frauen und der Kolonisierten gegen die Vorenthaltung der Staatsbürgerschaft und des damit verbundenen Rechts auf Politik, also den Kampf flir Selbstbestimmung und egaliberte, der sich in die Tradition von 1789 stellt und der Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei von der »Erkämpfung der Demokratie« sprechen lässt: Das Volk - im doppelten Sinne von plebs und populus »macht« sich zum politischen Subjekt, indem es sich seine Rechte nimmt. 4

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Die Selbstkonstitution des Volkes als demos steht in einem wechselseitigen und doch von Spannungen geprägten Verhältnis mit der Fremdkonstitution des Volkes als Nation durch den Staat, etwa durch die »Schule der Nation« und andere ideologische Staatsapparate, deren Aufgabe es ist, das Volk zu »schaffen« (vgl. Balibar 200 l: 3lff.).

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(b) Unter »Transformation« versteht Balibar einerseits die Herstellung von Herrschaftsstrukturen und Machtverhältnissen, die eine Emanzipation allererst erlauben (und schließt damit an Marx ' Kritik der bürgerlichen Revolutionen an); andererseits verweist er so auf die transformativen Effekte der Emanzipation selbst: Emanzipation und Inklusion lassen sich nicht einfach als Ausweitung schon bestehender Rechte auf bisher nicht berücksichtigte Personengruppen verstehen (wie das die liberale Fortschrittsgeschichte der Menschenrechte suggeriert). Vielmehr müssen sich neben ihrer institutionellen Realisierung auch die entsprechenden Rechte und die ihnen zugrunde liegende Konzeption der Staatsbürgerschaft ändern, indem etwa - wie im Fall der feministischen Emanzipationsbewegungen - die Grenze zwischen privat und öffentlich neu verhandelt (und etwa die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern problematisiert) wird (vgl. Balibar 1988: 724). (c) Der Aspekt der Zivilität bezieht sich auf die notwendige Zivilisierung der Gewalt, die den ersten beiden Dimensionen demokratischer Politik innewohnt und die mit den Mechanismen der Identitätsbildung unter Bedingungen des gewaltsamen Austragens von Konflikten zusammenhängt. Hier geht es um die Herstellung der Bedingungen politischen Handeins und damit eines genuin politischen Konflikts, der sich vom Krieg, in dem es um die Vernichtung des Gegners geht, unterscheiden lassen muss. Dass die Emanzipationskämpfe selbst nicht vor den Formen der Barbarei gefeit sind, gegen die sie sich richten, und dass auch sie in diesem Sinne zivilisiert werden müssen, kann man sich an zahlreichen Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart schnell vor Augen führen. Diese letzte Dimension ist auch deshalb zentral, weil jede Demokratie mit zwei Problemkomplexen konfrontiert ist, die ihren Anspruch, eine Demokratie zu sein, herausfordern und einen kontinuierlichen Prozess der Demokratisierung und der Zivilisierung notwendig machen. Diesen beiden Problemkomplexen wende ich mich nun im zweiten Schritt zu. Die Idee der Menschen- und Bürgerrechte geht auf einer konzeptionellen wie praktischen Ebene mit neuen und massiven Formen der Exklusion einher, die man sowohl von der einen Seite- jener der Menschenrechte - wie von der anderen - jener der Bürgerrechte - in den Blick nehmen kann, die aber, wie Menschen- und Bürgerrechte selbst, untrennbar miteinander verwoben sind. (a) Balibar zufolge ist der mit den Menschen- und Bürgerrechten einhergehende Universalismus zugleich »extensiv« und »intensiv«, da er nicht nur eine permanente Infragestellung der äußeren Grenzen jeder partikularen Gemeinschaft und deren inklusivere Organisation im inneren fordert, sondern auch den Modus der Inklusion durch den Abbau in-

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BALIBAR: DIE DEMOKRATISIERUNG DER DEMOKRATIE

terner Diskriminierungen verändert. Damit ist allerdings das Risiko des Expansionismus und des Assimilationsdrucks und mithin physischer wie symbolischer Gewalt nach außen wie nach innen verbunden. 5 Die für die modernen Formen des Universalismus spezifische Rückseite der Menschenrechte besteht in jenen neuen Formen der Exklusion, die besonders krass sind, weil sie den Betroffenen den Status des »vollwertigen« Subjekts und des »normalen« Menschen zumindest teilweise entziehen müssen, um sie ausschließen zu können (denn alle anderen Formen des Ausschlusses wären unvereinbar mit den Menschenrechten). Eine Demokratisierung des Universalismus- was Balibar eine »Politik der Universalität« nennt - müsste denmach zumindest auf dessen wesentlich umstrittenen und konflikthaften Charakter bestehen und darauf ve1weisen, dass jede Realisierung und Inanspruchnahme des Universellen notwendig eine historisch situierte und damit partikulare Gestalt annimmt, die im Konflikt mit anderen Artikulationen der Universalität steht. Deshalb spricht Balibar (2006a: 10) im Anschluss an Judith Butler von »konfligierenden Universalitäten«. Balibar bezeichnet diese Struktur auch als Hegels Paradoxon: »Das Universelle lässt sich nicht aussagen, ohne es dadurch sofort in einen >partikularen< Diskurs (oder eine >partikulare< Repräsentation) zu transformieren« (Balibar 2006a: 9; vgl. ders. 2006c). Neben ihren exkludierenden Effekten eröffnet diese Struktur zugleich die Möglichkeit der Kritik problematischer Universalitätsansprüche. Der von notwendig partikularen Praktiken und Diskursen erhobene Universalitätsanspruch ist wesentlich umstritten und kann sich nicht dauerhaft den sozialen und politischen Kämpfen um die Artikulation der Universalität entziehen. Damit aber verliert der Konflikt seine abgeleitete Bedeutung und wird konstitutiv für die nie anders als partikulare Verwirklichung der Universalität selbst. (b) Ein strukturell ähnliches Problem stellt sich für jede Demokratie von der Seite der Bürgerrechte her: das Problem der Grenze als anti-demokratischer Bedingung der Demokratie. Bürgerschaft scheint es als institutionelle Realität per definitionem nur dort geben zu können, wo es eine begrenzte Gemeinschaft gibt, wo zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern unterschieden wird, wo die einen bestimmte Rechte und Pflichten haben, die andere nicht haben. Neben die egalitäre Dimension von Bürgerschaft treten damit- wie im Fall des Universalismus- ihre exkludierenden Effekte. Besonders deutlich führt dies der mit der ldee der Bürgerschaft und der konstituierenden Macht eng verbundene Mythos des »Souveränen Volkes« vor Augen, der eine Art homogenen Kollektivak5

Vgl. Balibar 2001: 62, lOlf.; ders. 2006c: 29f. Zum gegen die exkludierenden Effekte zu mobilisierenden emanzipatorischen Potential dieser beiden Formen des Universalismus vgl. ders. 2006b: 312.

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teur mit einem einheitlichen Willen suggeriert (Balibar 2005a: 58), so dass die Politik zum Ausdruck einer ihr vorgängigen - ethnisch oder kulturell verbürgten- Einheit und damit entpolitisiert zu werden droht. 6 Der in der Form der Nation organisierten Demokratie wohnt mithin eine inteme Tendenz zur rassistischen Ab- und Ausgrenzung inne, die mit der Bestimmung der Grenzen der Zusammengehörigkeit Hand in Hand geht (vgl. Balibar/Wallerstein 1997: Kap. 5). Der Abbau der inneren Grenzen (insbesondere in Gestalt sozialer Inklusion durch Etablierung sozialer Rechte) geht dabei empirisch gesehen ebenso häufig mit einer Stärkung der Grenzen nach außen einher wie die Bürger sich ihrer eigenen - in der politischen Wirklichkeit häufig als illusorisch erscheinenden - Macht versichem, indem sie sich von den Nicht-Bürgem abgrenzen. Da sie als Meta-Institution in gewisser Hinsicht alle anderen Institutionen der Demokratie bedingt, bezeichnet Balibar (2001: 174f.) die Grenze auch als nicht- oder gar anti-demokratische Bedingung der Demokratie, an der sich die Antinomien des Politischen in seiner demokratischen Form manifestieren. Sie kann aber zugleich zum Objekt der Politik- der Demokratisierung und der Zivilisierung- werden. Was ist damit gemeint? Da es sich bei Grenzen um Institutionen handelt - denn keine Grenze ist natürlich -, ist es wie bei jeder Institution möglich, sie mehr oder weniger demokratisch zu gestalten, den Betroffenen also etwa mehr oder weniger Mitspracherechte einzuräumen (konkret zeigt sich dies an den Regelungen zur Reisefreiheit, am Abbau polizeilicher Willkürlichkeit und Selektivität, an der Zulassung multipler Staatsbürgerschaft etc.). Anti-demokratisch ist eine Grenze, solange für ihre »Nutzer« keine Möglichkeit besteht, deren Regeln und Administration individuell und kollektiv in Frage zu stellen und neu auszuhandeln (vgl. Balibar 2005b: 170f.; ders. 2001: 175). Demokratisierung der Demokratie heißt neben Demokratisierung der Grenze in diesem Sinn aber auch Demokratisierung der Staatsbürgerschaft als Status, also Schließung der Lücke zwischen denen, die qua Bewohner eines bestimmten Gebietes dem dort geltenden Recht unterworfen sind, und jenen, die als Bürgerinnen und Bürger das politische Recht haben, ihre Rechte einzufordem. Beide Forderungen hat Balibar in seiner Kritik der Europäischen Union aufgegriffen. Seine provozierende Rede von einer »europäischen Apartheid« geht auf den doppelten Befund einer massiven Verstärkung der äußeren und inneren Grenzen 6

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Vgl. Balibars Ausführungen im Abschnitt »Produire Je peup1e«, in: ders./Wallerstein 1997: 126ff. Die unüberwindbare Ambivalenz des Gemeinwesens - auch des demokratisch verfassten Gemeinwesens - steht im Zentrum von Balibars Theorie der imaginären Konstitution kollektiver ldentitäten.

BALIBAR: DIE DEMOKRATISIERUNG DER DEMOKRATIE

zurück: einerseits durch die Militarisierung der so genannten Außengrenzen und des dort geführten Kriegs gegen die verzweifelten Flüchtlingsmassen; andererseits durch die Einführung der Unionsbürgerschaft, die den Bürgem qua Staatsbürgerschaft in einem der Mitgliedstaaten der EU zukommt, von der aber alle anderen Bewohner ausgeschlossen sind. Manche Fremde (Spanier und Italiener zum Beispiel) werden so weniger als Fremde, während andere Fremde (Algerier und Türken zum Beispiel) mehr als bloße Fremde und dadurch ein zweites Mal ausgeschlossen werden (vgl. Balibar 2007b: 19f.). Die Demokratisierung der Demokratie ist also weit davon entfemt, abgeschlossen zu sein. Vielmehr ist das demokratische Projekt offensichtlich mit massiven und von staatlicher Seite beförderten Tendenzen der Entdemokratisierung und der Entzivilisierung konfrontiert. Das dritte Element einer »Demokratisierung der Demokratie« lässt sich unter dem Stichwort »Konflikt und Politik der Insurrektion« fassen. Ich habe oben schon auf Balibars Unterscheidung zwischen einer Politik der Konstitution und einer Politik der Insurrektion sowie seine These hingewiesen, dass der Universalismus als politische (und nicht bloß moralische) Position wesentlich konflikthaft ist. Der Konflikt ist eine spezifische, für die Demokratie wesentliche Form politischen Handelns, nicht Störfall oder bloßer Anlass politischer Interventionen oder Praktiken des Regierens, die auf die Etablierung von Ordnung und Konsens zielen (Balibar 2007b: 4). Balibar schließt hier an »Machiavellis Theorem« von der »konfliktuellen Demokratie« an, die sich nicht auf die Institutionen der Demokratie reduzieren lässt, sondem zugleich die Praktiken der Problematisierung dieser Institutionen und des Streits um sie umfasst (vgl. Balibar 2005b: l25ff.). Machiavelli schildert in den Discorsi, wie der Konflikt zwischen Adel und Volk (zwischen grandi und popolo), der einer konventionellen Auffassung von Politik zufolge eigentlich den Untergang der römischen Republik hätte herbeiführen müssen, gerade ihrer Überlebensfähigkeit und Dynamik zugrunde lag. Dafür aber musste diesem Konflikt ein politischer Ausdruck verliehen, er musste also zumindest teilweise institutionalisiert werden (und zwar im Volkstribunat; Balibar zufolge ließ sich die Rolle der kommunistischen Parteien W esteuropas eine Zeit lang auf ähnliche Weise verstehen). Für diesen dritten Schritt ist mithin die doppelte Abgrenzung einer als Konflikt oder Antagonismus begriffenen Politik zentral: gegen Gewalt und Krieg auf der einen, gegen Konsens und Dialog auf der anderen Seite. Beide Altemativen sind letztlich apolitische Auflösungen jenes Spannungsverhältnisses zwischen konstituierender und konstituierter Macht, das flir das Politische konstitutiv ist und das sich institutionell nicht restlos einfangen lässt. Dennoch ist auch die Frage, wo der Konflikt beginnt und wo er en71

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det, ebenso wte die Unterscheidung politischer und nicht-politischer Konflikte potentiell umstritten und daher Gegenstand weiterer Konflikte, die gerade in revolutionären Momenten diese Grenze auf unvorhergesehen Weise verschieben können (vgl. Balibar 2008a). Aus diesem Grund spricht Balibar vom »fait insurrectionnel«, also der umstürzlerischen Tatsache (die auf der stets zumindest latenten Möglichkeit des Umsturzes oder Aufstands beruht), dass die Demokratie sich per definitionem nicht durch die Auferlegung eines bestimmten Status oder die Verteilung von Funktionen durch eine übergeordnete Autorität etablieren lässt. Demokratie kann nur realisiert werden durch die direkte oder indirekte Teilnahme und Intervention des Volkes im Sinne des demos (also gerade nicht als substantialistisch oder vorpolitisch verstandene Einheit), die, ob nun als eine Politik der Konstitution oder der Insurrektion, auf eine Demokratisierung der Demokratie in den drei Dimensionen der Emanzipation, Transformation und Zivilität zielt und sich zugleich gegen die Ausschlüsse richtet, die Balibar zufolge die anti-demokratischen Bedingungen der Demokratie darstellen (Balibar 2001: 188; vgl. ebd.: 25lf.; ders. 2008b).

3. Ziviler Ungehorsam und radikale Demokratie Um zu zeigen, dass diese recht abstrakten Überlegungen zur konflikthaften, agonalen Struktur des Politischen, insbesondere aber der Demokratie konkrete Implikationen haben, könnte man nun auf verschiedenen Wegen der politischen Essayistik Balibars folgen, die exemplarisch die Verschränkung von theoretischer Reflexion und politischer Intervention vorführt. Man könnte insbesondere darauf eingehen, wie Balibar den Umgang Frankreichs mit seinen Minderheiten, wie er die faschistische Politik des Front National, aber auch die Unruhen in den Pariser Vorstädten und die Kontroverse darüber, ob Schülerinnen ihren Schleier in der Schule aufbehalten dürfen, auf differenzierte und doch zugleich politisch unnachgiebige Weise analysiert und kommentiert. lch werde in diesem letzten Abschnittjedoch einen anderen Weg gehen, den Balibar in einigen seiner Texte ebenfalls andeutet, aber selbst nicht beschreitet. Damit versuche ich zugleich, einige der abstrakteren Überlegungen der letzten Abschnitte etwas zu konkretisieren, also zumindest kurz skizzieren, was aus einer solchen Konzeption des Politischen und insbesondere der Demokratie für die politische Praxis der Demokratisierung der Demokratie folgt. ln einem kurzen Text, den Balibar anlässlich der Bewegung der sans papiers in Frankreich verfasst hat, wendet er sich gegen ein individualis72

BALIBAR : DIE DEMOKRATISIERUNG DER DEMOKRATIE

tisches Verständnis zivilen Ungehorsams, dem zufolge einzelne Bürger, dem Ruf ihres Gewissens folgend, den staatlichen Exekutivorganen, der Legislative und vielleicht auch der Mehrheit ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger entgegentreten und sagen >Nicht in meinem Namen< (vgl. Balibar 2002: 10, 17ff.: »Sur Ia desobeissance civique«). Ziviler Ungehorsam muss seines Erachtens vielmehr als spezifische Form kollektiven politischen Handeins verstanden werden - wobei »zivil« dann nicht im Sinne von »anständig« oder »manierlich« (das ist eine gängige und selbst aussagekräftige Fehlinterpretation des englischen »civil« in »civil disobedience«), sondern eben im Sinne von »bürgerlich« (»civic«) verstanden werden muss.7 Ziviler Ungehorsam als wesentlich außerinstitutionelle Form kontestatorischen Handeins ist demnach ein Handeln der Bürgerinnen und Bürger als Bürgerinnen und Bürger, das heißt: als politische Gemeinschaft in ihrer Funktion oder Rolle als konstitutive Macht. Diesem Verständnis zufolge zielt ziviler Ungehorsam immer auch auf eine Neubestimmung dessen, was es heißt, eine Bürgerin und eben nicht bloß ein Untertan zu sein. Er entzündet sich daran, dass es nicht einzelnen, sondern einer Menge unvereinbar mit dem Selbstverständnis als Bürgerin erscheint, auf diese Weise regiert zu werden. Nimmt man Balibars Rede von den konstituierenden und konstituierten Dimensionen der Bürgerschaft ernst, so kann es einem Minimalverständnis von Bürgerschaft zufolge - das den Bürger vom Untertan unterscheidet - ohne die Möglichkeit der Praxis zivilen Ungehorsams keine legitime Institutionalisierung des Bürgerstatus geben.8 Das Gegenstück zu zivilem Ungehorsam ist demnach nicht der Gehorsam als solcher, sondern jener Gehorsam, der eine Form freiwilliger Knechtschaft darstellt und der unvereinbar mit dem Selbstverständnis als Bürgerin ist. Im zivilen Ungehorsam wird - ganz wie es die Idee der konstituierenden Macht nahe legt- eine vertikale Form der Autorität mit der horizontalen Macht der Assoziation der Bürgerinnen und Bürger konfrontiert.9 Eine politische Gemeinschaft, die den Anspruch erhebt, demokra7

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Und dennoch muss dieses Handeln, um als emanzipatorisch gelten zu können, im oben erläuterten Sinn zivilisiert- also vereinbar mit der Rolle der anderen als Mitbürger sein (ob ziviler Ungehorsam immer gewaltfrei sein muss, ist eine andere Frage und hängt offensichtlich vom zugrunde gelegten Begriff der Gewalt ab). Vgl. Balibar 2007a: 730, 735: »Dissidenz- insbesondere in der modernen Form zivilen Ungehorsams- wird zum Kriterium einer rechtlichen Institution, die Reziprozität zu etablieren vermag. [... ] Ungehorsam gegenüber dem Gesetz steht nicht auf einer Ebene mit Gesetzes gehorsam, aber ohne die Möglichkeit des Ungehorsams g ibt es keine legitime Institution des Gehorsams.« Vgl. Balibar 2007a: 736: »Was Arendt zivilen Ungehorsam nennt, ist weder ein bloß individueller, subjektiver Widerspruch des Gewissens - sie

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tisch zu sein, ist demnach unvereinbar mit der auch von Habermas kritisierten »Gesetz ist Gesetz-Mentalität des autoritären Legalismus«, die nur die vertikale Perspektive kennt und der zufolge Ruhe die erste Bürgerpflicht ist. 10 Damit vertritt Balibar ein republikanisches oder besser radikaldemokratisches Verständnis zivilen Ungehorsams, das im Unterschied zu liberalen Modellen (wie demjenigen von John Rawls) nicht den individuellen Protest gegen Rechtsverletzungen seitens des Staates oder einer Mehrheit in den Mittelpunkt stellt, sondern eine anti-oligarchische Politik der Insurrektion und der Kontestation. Sie erzwingt gegen die sei es privatwirtschaftliche, sei es staatliche und administrative Usurpation oder Einhegung demokratischer Selbstbestimmung politische Partizipation dort, wo die Entscheidungsfindung monopolisiert oder privatisiert wird. Ein solches Verständnis richtet sich gegen die - mit bestimmten Konzeptionen des zivilen Ungehorsams einhergehende- Zähmung kantestatarischer und partizipatorischer Praktiken zu einem nachträglichen Einspruchsrecht oder einer Form der Beteiligung und der Konsultation, die im Dienste einer effizienteren Verwaltung- der good governancesteht und die konstituierende Macht der Bürgerinnen und Bürger zu verstaatlichen versucht (vgl. Bevir 2006; Celikates 2009; Honig 2003). Ziviler Ungehorsam ist demzufolge als Ausdruck, nicht als Begrenzung demokratischer Selbstbestimmung und Volkssouveränität zu verstehen. Sein Ziel und seine Funktion ist es, intensivere und extensivere Formen der demokratischen Selbstbestimmung zu ermöglichen sowie die Dialektik von konstituierender und konstituierter Macht in Gang zu halten oder von neuem in Gang zu setzen, deren Stillstellung das Ziel der Staatsmaschine ist, mit der die Bürgerinnen und Bürger sich immer schon konfrontiert sehen. Auch wenn wir- wie Foucault uns erinnertnicht der Versuchung erliegen sollten, im Staat ein ein ftir alle Mal zu erledigendes »monstre froid en face de nous« zu sehen, sollten die Bürger zumindest in diesem Sinne wenn auch nicht immer gegen, dann aber spricht wiederholt von organisierten Minderheiten, sogar Massen - noch die bloße Tatsache, dass ein Regime, wenn es seine Legitimität verliert, mit dem Anwachsen von Straftaten und Insubordination rechnen muss: In gewisser Hinsicht ist genau das Gegenteil der Fall, denn es handelt sich um eine kollektive Bewegung, die in einer bestimmten Situation und mit einem bestimmten, begrenzten Ziel die >vertikale< Form der Autorität unterdtückt und eine >horizontale< Form der Assoziation schafft, um die Bedingungen flir eine >freie Zustimmung< zum Gesetz wiederherzustellen.« 10 Vgl. Balibar 2001: 91; ders. 2007a: 737: »Ohne die Integration eines Prinzips des Ungehorsams oder der Dissidenz innerhalb des rechtlichen Rahmens des Gehorsams gibt es keine politische Gemeinschaft - diese Idee stellt das rein legale Verständnis des Rechts radikal in Frage und widerlegt die souveräne Tautologie >Gesetz ist Gesetzpolitique communistewas es gibtPolizei< gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß« (Foucault 1991, 25). 91

SusANNE KRASMANN

nung in gewisser Weise selbst hervorgebracht hat, so dass das Unsichtbare und Unsagbare wie ein Schatten erst ihr Profil zeigt. Ranciere sucht mit seiner politischen Philosophie das scheinbar Unmögliche zu bewerkstelligen, nämlich dem Ausgeschlossenen zu seinem Recht zu verhelfen, ohne die Kraft des Imaginären, die sich aus dem Unverfügbaren schöpft, als Movens der Politik zu zerstören. Dabei ist seine politische Philosophie anspruchsvoll schon darin, dass sie mit der Frage nach der sinnlichen Aufteilung der Welt auf einer Ebene ansetzt, die zunächst einmal unvorstellbar oder zumindest ungreitbar erscheint - Politik als Artikulation dessen, was gerade nicht artikulierbar ist, was die gesellschaftliche Topologie als Mögliches ausschließt. Anspruchsvoll ist Ranciere auch in der Figurierung eines politischen Subjekts, das nicht nur einen Willen zum Wissen, sondern auch eine Fähigkeit zum Diskurs aufbringen muss. »Politik beginnt aber erst dann,« so heißt es zum Beispiel in einem Interview auf eine Frage zum gewaltsamen Protest der Jugendlichen in den Pariser Banheus im Jahr 2005, »wenn man seine Handlung als Diskurs gestaltet« (Ranciere 2006b: 78). Wie aber ist dies zu verstehen, maßt Raueiere sich hier selbst die Unterscheidung zwischen Lärm und diskursfahiger Politik an? Erhebt er sich über die Vorstadtjugendlichen, indem er zum Gebrauch ihres Verstandes auffordert? Ist der unwissende Lehrmeister am Ende doch elitär? Oder hieße, auf eine solche Erwartung zu verzichten, nicht vielmehr umgekehrt, nichts zu wollen und auch den Dissens nicht herauszufordern? 1st der Appell an das Verstandesvermögen nicht gerade eine Anrufung zur Emanzipation, die weder eine spezifische aufklärerische Vorstellung von Vernunft, noch eine spezifische Form der Emanzipation vor Augen hat, wohl aber eine Formgebung, welche die politische Aktion erst zu einer solchen werden lässt? Politik, so heißt es bei Ranciere selbst, ist eine »Form der Gewalt«, die sich nicht zufrieden geben will mit dem Diktum des Konsenses und einer spezifischen Rationalitätsform des Konflikts (vgl. 2000: 108). Es handelt sich um eine »symbolische Form der Gewalt« (ebd.: 96), eben weil Politik auf die Aufteilung des Sinnlichen zielt. Sie schreibt sich in die symbolische Ordnung ein - und ist insofern nur diskursiv vermittelbar. Dabei beschränkt sie sich nicht darauf, diese Ordnung zu unterbrechen, sie erschüttert sie vielmehr. Sie ermöglicht eine Neuordnung und eine neue Erfahrungsweise, das macht ihre Gewaltförmigkeit aus. So gelesen geht es Raueiere in jenem Interview weder darum, die protestierenden Jugendlichen zu diskreditieren, noch ihren Gewaltaktionen grundsätzlich ein Potenzial der Lesbarkeit abzusprechen. Doch erkennt er in ihren Aktionen eben das, was die polizeiliche Ordnung in dieser

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RANGIERE: P o LIZEI UND PoLITIK IM UNVERNEHMEN

konkreten historischen Situation als unvernehmlich und unerhört zu diskreditieren erlaubt.

Die Unauflösbarkeit von Polizei und Politik Wenn Raueiere das Gegensatzpaar von Politik und Polizei aufmacht, so spielt er weniger auf die Polizei als staatlicher Ordnungskraft an - gleich ob man dabei an die Polizeigewalt denkt, die den Gummiknüppel einsetzen kann, oder an den bürgernahen Beamten, der als freundlicher Helfer auftaucht. Vielmehr greift Raueiere Foucaults Verständnis von Polizei als einer Regierungstechnik auf, die ihren historischen Ort in der Polizeywissenschaft und ihre Funktion in der wissenschaftlichen Zurichtung und Ordnung der Gesellschaft hat (vgl. Raueiere 2002: 40). Als solche verkörpert die Polizei, die gegen Demonstranten vorgeht, eben auch und gerade eine polizeiliche Ordnung des Sagbaren und Sichtbaren. Der gesellschaftliche Konflikt, der sich in öffentlichen Protesten als Auseinandersetwog zwischen Oppositionellen und Polizeiapparat darstellt, markiert zugleich den Konflikt zwischen zwei »Konfigurationen des Sichtbaren«, zwischen zwei Welten und »Weisen, den öffentlichen und den privaten Raum aufzuteilen, die Angelegenheiten zu bestimmen, die hier verhandelt werden oder nicht, und auch die Akteure, die das Recht haben, sie zu behandeln«. Die Aufforderung der Ordnungskräfte: »Gehen Sie weiter! Es gibt hier nichts zu sehen!« ist paradigmatisch: »Die Polizei erinnert so an die Abwesenheit von dem, >was es nicht gibtmnverfiigbarer« bzw. unbedingter einzustufen, so Levinas. Zu warnen ist hier vor einer Hypostasierung »des Unbedingten«, die sofort in religionsphilosophisches bzw. ausdrücklich religiöses, wenn nicht sogar konfessionelles Fahrwasser münden würde, was Levinas ausdrücklich nicht gewollt hat (Bernstein 2002: 257). Statt sich in einer partikularen religiösen Tradition zu verschanzen, an die sich Levinas nur anlehnt, auf die er sich aber keineswegs einfach beruft, wollte er sich aus ihrem fragwürdigen Schutz herausbegeben, um das eigene Denken wie ein offenes, gastliches Haus begehbar zu machen für fremde Gedanken anderer Herkunft. Als solches hat es sich ungeschützt der Agora des Politischen ausgesetzt, wo die Regelung, institutionelle Sicherung und Umformung menschlicher Lebensformen und ihr Sinn zur Diskussion stehen. Levinas' Ethik situiert sich im Politischen und wirft die Frage auf, was sie für das Denken des Politischen bedeutet. Wenn sie im Kern auf dem ethischen Sinn eines unver:fiigbaren Anspruchs des Anderen insistiert, der auch dann ins Spiel kommen kann, wenn der Andere fremd ist und fremd bleibt, widerstreitet sie dann aber nicht einem Begriff des Politischen, der mit der Unterwerfung unter einen unbedingten Anspruch des Anderen (jedes Anderen) unvereinbar ist?

das wahrnehmende »Konfrontiertsein« mit dem Anderen nur eine unvermeidliche minimale, ethisch indifferente Wahrnehmung impliziert oder ob es bereits eine ethische Bestimmung zu einer ihm Antwort gebenden Bezugnahme, etwa im Sinne des Hörens auf ihn bzw. des Zuhörens impliziert (vgl. Nancy 1990: 87; Barthes 1990: 249ff.). Während für Levinas das Hören-auf (das Gebot bzw. auf das Verbot) entscheidend ist, öffnet sich das für den Anderen als Anderen aufgeschlossene Zuhören bei Barthes dem Auftauchen-lassen unabsehbaren Sinns. Dieses Zuhören gibt zwar dem Verlangen des Anderen, in seiner Existenz bezeugt zu werden, Antwort, aber es erscheint nicht dazu geradezu verurteilt, wie es bei Levinas immer wieder den Anschein hat. 22 Ricreur (1969: 56ff.); Waldenfels (1995: 39ff.); Derrida (2001a: 106, 199). 115

BuRKHARD LIEBSCH

4. Das Politische: inspiriert und überfordert Wenn der Nächste, welcher der zufällig Erstbeste sein mag, mir bedingungslos abverlangen23 kann, dass ich ihm gerecht werden soll, so droht jeder politische Spielraum ruiniert zu werden. Denn das Politische als radikale Auseinandersetzung um die - sei es gerechte, sei es gute oder schlicht funktionierende - Regelung, institutionelle Sicherung und Umformung menschlicher Lebensformen hat es niemals nur mit zweien, sondern mit einer (meist nicht scharf abgegrenzten) Pluralität von Anderen zu tun. Umgekehrt anerkennt Levinas ohne Umschweife die »Präsenz« des Politischen im Ethischen, wenn er an einer oft zitierten Stelle in Totalität und Unendlichkeit sagt, angesichts des Anderen sei auch der Dritte gegenwärtig (Levinas 1987: 308ff.). (Das bedeutet nicht unbedingt: ein bestimmter Dritter, sondern die Dimension des Dritten, der nicht näher bestimmt sein muss, spielt in die Präsenz des singulären Anderen hinein.) D. h. noch in der vermeintlich exklusivsten, privatesten Beziehung ist eine Dimension der Tertialität im Spiel. Nie sind wir bloß zu zweit und in diesem Sinne ganz unter uns. Jederzeit sind wir Andere unter unabsehbar vielen anderen Anderen, auch wenn letztere faktisch außen vor, unbeachtet oder ausgeschlossen bleiben wie in einer Dyade, die Dritten keinen Einblick gewährt. Gerade als Ausgeschlossene gehören Dritte in diesem Falle zum Sinn der Beziehung. 24 Demgegenüber bezieht sich der Begriff des Politischen auf die Wirklichkeit eines irreduzibel plural verfassten Lebens, das offenbar die Unterwerfung unter einen unbedingten Anspruch eines singulären Anderen absolut ausschließen muss. Aber heißt das, dass ein solcher Anspruch gar keine Rolle mehr spielen dürfte? Selbst eine nach dem Vorbild der Nikomachischen Ethik vergleichende und gleich machende Gerechtigkeit bleibt in Levinas' Verständnis von der Spur eines solchen Anspruchs gezeichnet. Denn sie lässt als vergleichbar bzw. als gleich gelten, was nicht von sich aus einfach gleich oder vergleichbar ist. Was sich aber am radikalsten der Vergleichbarkeit und der Gleichheit entzieht und gerade als solches nach Gerechtigkeit verlangt, ist der singuläre Anspruch des Anderen, über den sich alles Vergleichen und Gleichmachen hinwegsetzt. Infolge dessen zeichnet sich eine Ungerechtigkeit in der Gerechtigkeit ab, denn indem ich x, y, z gleich mache, setze ich mich über den Anspruch einer singularen Gerechtigkeit hinweg oder klamme23 Eigentlich ist bei Levinas kein derart erhobener Anspruch gemeint. Der Andere braucht nichts ausdrücklich zu »reklamieren«, um uns doch als Verantwortliche anzusprechen. 24 Was aber nicht heißt, dass es diese Beziehung nur gibt, um die Anderen auszuschließen. Letzteres kann einfach eine Folge exklusiver Zuwendung zum Anderen als zweiter Person sein. 116

LEVINAS: ETHIK ALS ANTIPOLITISCHES DENKEN

re diesen Anspruch ein und suspendiere ihn (ohne ihn aber darum schon zu vernichten oder zu vergessen). Selbst wenn eine gleich machende Gerechtigkeit gar nicht anders verfahren kann, bedeutet das nicht, dass eine suspendierte Gerechtigkeit, die wir dem singulären Anderen schulden, ganz aus dem Spiel wäre. Bewahrt nicht allein die Erinnerung daran, dass wir der suspendierten, aber der Singularität des Anderen geschuldeten Gerechtigkeit nicht gerecht werden können, die tatsächlich angestrebte Gerechtigkeit vor schierer Selbstgerechtigkeit? Würde die Gerechtigkeit nicht in Selbstgerechtigkeit umschlagen, wenn sie nicht mehr von dem Wissen inspiriert wäre, der Gerechtigkeit, die wir jedem singulären Anderen als Anderem schulden, nicht gerecht werden zu können? Derrida spricht in diesem Zusammenhang von einer inneren UnMöglichkeit der Gerechtigkeit, um deutlich zu machen, dass es sich nicht einfach um eine faktisch im Einzelfall nicht realisierbare Gerechtigkeit, sondern um das Zugleich zweier miteinander unvereinbarer und doch unaufhebbarer Herausforderungen in der Gerechtigkeit selbst handelt. Es geht um die Unausweichlichkeit, sich zu singulären Gerechtigkeitsansprüchen im Plural zu verhalten, und um die Vereitelung jeder Aussicht, ihnen insgesamt als solchen gerecht zu werden. Levinas (den ich hier gleichsam mit Derridas Augen gelesen habe) zeigt sich überzeugt davon, dass die Gerechtigkeie5 im Politischen auf Dauer nur »lebt«, weil wir jederzeit mit diesem inneren Widerstreit in der Gerechtigkeit konfrontiert sind, der allerdings keine Auflösung in Aussicht stellt. Gerade deshalb wird die Gerechtigkeit ständig dazu herausgefordert, gerechter als sie selbst zu sein, sie wird aber auch überfordert von diesem Anspruch. Zwischen Inspiration im Sinne einer Hyperbolik der Gerechtigkeit, die sich im Recht und im Politischen nicht aufheben lässt, einerseits und Überforderung andererseits kommt die Gerechtigkeit nicht zur Ruhe und widersetzt sich deshalb einer fatalen Normalisierung, die auch der vermeintlich gerechtesten Politik in dem Moment drohen würde, in dem sie vergäße, es in jedem Falle mit einer unbedingten und unverfügbaren Herausforderung zur Gerechtigkeit angesichts jedes singulären Anderen zu tun zu haben. Offenbar geht es Levinas nicht etwa darum, das Politische als ewiges Versagen gegenüber einer ethisch geforderten unbedingten Gerechtigkeit zu brandmarken, die wir jedem Anderen als Anderem schulden. Vielmehr schreibt er diese Gerechtigkeit dem Politischen selbst ein und nimmt so deren absolute Überfordetung in Kauf. Die ethische Gerechtigkeit kommt auf diese Weise als außeror25 Eine systematische Differenzierung der Gerechtigkeit (wie sie heute mit

Blick auf verschiedene Formen wie Beteiligungs-, Bildungs-, Verteilungs-, Generationengerechtigkeit usw. üblich ist) nimmt Levinas nicht vor. 117

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denfliehe Herausforderung und Widersetzlichkeit gegen jede Normalisierung einer umstandslos politisierten Gerechtigkeit zur Geltung. 26 Die Ethik bzw. das, was Levinas den Humanismus des anderen Menschen nennt, der sich rückhaltlos der Singularität des Anderen verschreibt, wird derart mitten ins Herz des Politischen verpflanzt, dass von einer Depolitisierung durch diese Ethik schlechterdings nicht die Rede sein kann, obwohl das oben ins Spiel gebrachte Zitat von Finkielkraut gerrau diesen Eindruck erweckt. Wenn es heißt, Levinas siedle das Menschliche - und das fällt flir diesen Humanismus mit dem singulären Anspruch des Anderen gelegentlich zusammen - fern von jeglicher weltlichen Politik an, so hat es den Anschein, als verabschiede sich dieser Philosoph von allem, was wir üblicherweise mit diesem Wort verbinden. Tatsächlich ist aber kein apolitisches »Jenseits« gemeint, sondern ein antipolitisches Moment im Politischen selbst, das es vor selbstgerechter Ignoranz gegenüber dem singulären Anspruch des Anderen bewahren soll. So kann gerade die vermeintliche Auskehr aus einer Politik, die ihre totalitären Neigungen offenbart hat, in Folge ihrer ethischen Infragestellung zu einer Intensivierung des Politischen führen, das zu verkümmern droht, sobald es sich keinen außer-ordentlichen Ansprüchen mehr verpflichtet sieht, sondern nur noch Normalität produziert- sei es auch die fragwürdige Normalität fortgesetzter politischer Auseinandersetzung in einer sogenannten Streitkultur, in einer guten Eristik (Nietzsche), im gepflegten Dissens (Ranciere), im Widerstreit (Lyotard) oder in rhetorisch entschärfter Polemik, die nur einen sprachlichen Machtkampf aufführt, auf symbolische Gewalt aber zu verzichten vorgibt, wie es eine »Neue Rhetorik« lehrt (Perelmann u. a.; vgl. v. Verf.: 2007). Wenn Levinas so zu verstehen ist, dass er einer radikalen Widersetzlichkeit gegen politische Normalisierung jeglicher Couleur (auch einer Streitkultur oder Kultur des Dissenses) das Wort redet, so muss man seine Philosophie in dieser Hinsicht deutlich absetzen von agonalen oder polemologischen Modellen, die zwar ebenfalls mit außerordentlichen Störungen politischer Normalität rechnen (und liebäugeln), die aber nicht so weit gehen, sie auf einen nur zu bezeugenden Anspruch des Anderen zurückzuführen.

26 Was keineswegs bedeutet, gegen jegliche Normalität den abgründigen Verdacht anti-ethischer Gewalt zu hegen. Der Bezug auf eine gewisse Normalität von politischen Ordnungen ist auch fiir die Vorstellung einer außer-ordentlichen Gerechtigkeit, wie sie Levinas verteidigt, wesentlich. 118

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5. Levinas' Beitrag zur Revision des Politischen Jean-Luc Nancy spricht von bodenloser Kontingenz einer irreduziblen Pluralität heterogener Sinnentwürfe, die nur eine zwiespältig »geteilte« Gemeinschaft als politische Form menschlicher Koexistenz zulasse (vgl. Nancy 1994: 167ff.; ders. 1996). Man neigt heute dazu, Begriffe wie Kontingenz und Pluralität unbesehen hinzunehmen und flir selbstverständlich zu erachten, wofür sie stehen, so als ob sie nur unsere tatsächlichen Lebensverhältnisse widerspiegeln würden. Darüber hinaus besteht die Neigung, die Pluralität für nicht in einer übergreifenden Einheit versöhnbar zu halten, heiße sie nun Gemeinschaft oder Gesellschaft, Lebensform oder kosmopolitisches Dorf. Demzufolge bleibe uns nur die Möglichkeit, im Widerstreit des Unvereinbaren zu leben und uns irgendwie mit ihm zu arrangieren - sei es durch einen rhetorisch entschärften Sprachkampf, in dem sich die machtvolleren Positionen durchsetzen, sei es durch Vergleichgültigung von einander widerstreitenden Alternativen, sei es durch forcierte Nachgiebigkeit, im Verzicht darauf, sich rhetorisch durchsetzen und »Recht behalten« zu wollen. So wandelt sich, was zunächst als bloße Beschreibung politischer Verhältnisse gemeint ist, unter der Hand zu einer kryptanormativen Position, die von uns verlangt, wir sollten uns so oder so mit den zeitgemäßen Bedingungen irreduzibler Pluralität arrangieren. Aus der bloßen Beschreibung gegenwärtiger Lebensverhältnisse wird sich eine explizit normative Position allerdings niemals ergeben können. Hier tut sich ein Hiatus auf (auch wenn die Beschreibung im Vorgriff auf eine normative Position erfolgt und von ihr mitgeprägt wird; auch wenn umgekehrt letztere an bestimmte Beschreibungen politischer Wirklichkeit anknüpft). Ein anderer Punkt erscheint noch wichtiger: Die Rede von einer Pluralität von Sinnentwürfen, von politischen (Handlungs-) Perspektiven und Ansprüchen (darunter Erfahrungs- und Geltungsansprüche) ist ihrerseits einer gewissen Indifferenz verdächtig, wenn sie leichthin von einer Vielfalt spricht, über der sie als ihrem analytischen Gegenstand zu stehen scheint, ohne in die Vielfalt selbst verstrickt zu sein. Wenn es sich so verhalten sollte, kann es tatsächlich leicht fallen, sich zu allem, was in dieser Vielfalt begegnet, distanziert, ja sogar gleichgültig zu verhalten. Anders steht es, wenn man die Rede von Pluralität mitten in ihr situiert sich vorstellt. Dann zieht sie sich ihrerseits die Herausforderung zu, sich zu einer nicht-indifferenten Vielzahl von Ansprüchen zu verhalten. Unter diesen Ansprüchen finden sich zweifellos viele, die nach Gerechtigkeit dieser oder jener Art verlangen; andere dagegen haben lediglich damit zu tun, dass viele ein so oder so näher bestimmtes »gutes Leben« führen wollen 119

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und ein Anrecht darauf reklamieren. Unter all diesen Ansprüchen finden sich auch solche, die aus Gewalterfahrungen, z.B. aus Erfahrungen der Grausamkeit oder der Demütigung resultieren, wie sie sich bei Richard Rorty, Judith Shklar und Avishai Margalit bedacht finden. 27 Hier handelt es sich um erlittene Verletzungen, welche die Frage aufwerfen, ob ihrer Berücksichtigung nicht Vorrang gebührt sowohl in der Anstrengung, eine in der Regel überkomplexe politische Wirklichkeit zu beschreiben, als auch im Versuch, ihr auf dem Weg zu normativen Forderungen irgendwie gerecht zu werden. Wenn man sich im Feld solcher Ansprüche situiert, kann eine indifferente Rede von Pluralität und von unaufhebbarem Widerstreit, kaum mehr befriedigen. Wir müssen nicht der Auffassung sein, Konflikte zwischen einander widerstreitenden Ansprüchen müssten in jedem Fall dialektisch aufhebbar sein, um anzuerkennen, dass uns manche aus sich heraus wichtiger, ja zwingender erscheinen als andere. Wie ließe sich etwa bestreiten, dass das Ziel, erlittener Grausamkeit entgegenzuwirken, Vorrang haben sollte vor Aspirationen guten, besseren oder noch besseren Lebens? Den gerechten Anspruch, Grausamkeit entgegenzuwirken, ziehen wir uns vielfach gleichsam pathologisch zu, er drängt sich auf, auch wenn keineswegs ohne weiteres gute Gründe dafür zur Hand sind, warum Fragen guten Lebens nachrangig zu behandeln sind. (Der Streit zwischen einer teleologischen Deutung des Guten und einer deontologischen Deutung des Gerechten und um ihr angemessenes Verhältnis dauert an; und es besteht wenig Aussicht, dass er je geschlichtet werden wird. Auch der Widerstreit zwischen dem Guten und dem Gerechten erweist sich, vorläufig wenigstens, als unaufhebbar.) Am Beispiel des Anspruchs, jeglicher Grausamkeit entgegenzuwirken, zeigt sich, dass sich eine Diagnose politischer Pluralität von Ansprüchen, die sich in ihnen situiert und ihnen nicht geradezu weltfremd gegenübersteht, nicht mit einer indifferenten Vielfalt konfrontiert sieht, sondern mit einer Vielzahl unterschiedlich zu gewichtender und dringlicher Ansprüche. Dazu sagt eine Apologie der Pluralität zu wenig, die nur feststellt, dass wir in geteilter Gemeinschaft, im Konflikt zwischen einander widerstreitenden Ansprüchen immer neu ein soziales Band gleichsam in statu nascendi knüpfen müssen, das keinerlei »substanziellen« Bestand haben könne. Bedeutet »müssen« schiere Unvermeidlichkeit, wie es Nancy nahe legt, wenn er schreibt, wir könnten es gar nicht vermeiden, in einer geteilten Gemeinschaft zu »ko-existieren«? Bedeutet der Begriff der Ko-Existenz nur ein indifferentes Nebeneinanderherleben derer, die sich glücklicherweise (oder dummerweise) auch vollkommen gleichgültig zu Anderen verhalten können? Levinas würde diese »existenzielle« Möglich27 Rorty (1991); Shk1ar (1984); Marga1it (1997).

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keit nicht bestreiten, aber darauf insistieren, es handle sich um eine Vergleichgültigung dessen, was nicht von sich aus gleichgültig ist. Eine »Bestimmung« (wenn nicht gar Verurteilung) zur Nicht-Indifferenz aber ziehen wir uns nach seiner Überzeugung vom Anderen her zu. Wer von gleichgültiger Koexistenz spricht, hat demzufolge den Anspmch des Anderen bereits neutralisiert und insofern gerade zum Schweigen gebracht. Während Ranciere, aber auch Lyotard, Badiou und andere auf einen gmndlegenden, nicht bereits diskursiv verfassten Streit damm zurückgehen wollen, wer überhaupt Andere in Anspmch nehmen, zur Rede stellen und zur Verantwortung ziehen kann, d.h. wer in diesem Sinne als politisches Subjekt »zählt«, besteht Levinas darauf, dass auch in diesem radikalen Streit nicht über den Anspmch des Anderen verfiigt werden kann. Wir sind demzufolge unbedingt mit einer Quelle der Nicht-Indifferenz konfrontiert, zu der wir uns nicht gleichgültig verhalten können. Darüber kann nach Levinas' Überzeugung nicht hinwegtäuschen, dass man sie übergeht. Er insistiert in der prä-normativen Dimension der Konfrontation mit dem Anspruch des Anderen auf dessen Verlangen, wahrgenommen, gehört, berücksichtigt und einbezogen zu werden. Darüber hinaus affirmiert er dieses Verlangen als einen unabdingbaren ethischen Anspruch, dem das Politische gerecht werden soll. Wenn dagegen Ranciere darauf hinweist, dass es »grundlegenden« Dissens bereits auf der Ebene der Wahrnehmung und Artikulation miteinander konfligierender Ansprüche gibt, so zeigt er nur auf, was auf dem Spiel steht, wenn man entscheidet, welcher von ihnen zählt und Gewicht haben soll. Immer werden so oder so einige Ansprüche keine Berücksichtigung finden; immer werden einige (oder viele) nicht gehört werden können, usw. Aber wenn das unvermeidlich ist, scheint daraus rein gar nichts folgen zu können im Hinblick auf die kritische Frage, wie denn Regelungen menschlicher Lebensformen zu treffen sind, wie sie institutionell zu sichern und durch mehr oder weniger radikale Umformungen vor Degeneration oder hoffnungsloser Überforderung zu bewahren sind. Mit Ranciere gelangen wir nur dahin festzustellen, dass sich im stillschweigenden Dissens oder offenen Konflikt Ereignisse abspielen, die sich wie Lyotards Widerstreit nicht in einem versöhnenden Ganzen aufheben lassen. Aber um welche Ereignisse sollten wir uns vordringlich sorgen? Welche von ihnen verdienen besonders unsere Aufmerksamkeit? Scheinbar alle oder gar keine, wenn wir ihnen immer und unvermeidlich nur höchst selektiv (und exklusiv) gerecht zu werden vermögen. 28 28 Wenn mit dieser wiederum kryptanormativen Formulierung nicht bereits zu viel gesagt wird: Es wird ja der Eindruck erweckt, es gehe hier um eine Frage der Gerechtigkeit (der wir »gerecht werden« sollten). Aber auf der pränormativen Ebene des Dissenses, die Ranciere im Blick hat, steht der121

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Anders könnte es sich allerdings dann verhalten, wenn anzunehmen ist, dass es sich hier nicht bloß um ein Problem der Reduktion von Komplexität handelt, wie man mit Luhmann gerne sagt, wenn vielmehr der Verdacht ins Spiel kommt, dass wir den einen oder anderen Anspruchsereignissen nur mehr oder weniger gewaltsam (oder gar nicht) gerecht werden. Von Gewaltsamkeit und erst recht von Gewalt im engeren Sinne kann nur die Rede sein, wennjemand verletzt wird (wie indirekt auch immer). Und das wiederum setzt voraus, dass bereits ein Anspruch im Spiel ist, nicht verletzt zu werden. Ohne einen solchen Anspruch könnten wir von Gewalt überhaupt nicht sprechen. Ob ein solcher Anspruch aber im Spiel ist, werden wir jeweils nur vom Anderen her erfahren. Stets werden Andere verletzt; streng genommen wird niemals nur »etwas« verletzt. Etwas kann von sich aus überhaupt keinen Anspruch ins Spiel bringen, nicht verletzt zu werden. (Von subhumanen Lebensformen sehe ich an dieser Stelle ab.) Mit anderen Worten: im Widerstreit pluraler Ansprüche sind wir mit mehr als nur einem indifferenten Spiel heterogener Optionen selektiv-exklusiven Anknüpfens an sie spätestens dann konfrontiert, wenn derartige Ansprüche, nicht verletzt zu werden, eine Rolle spielen. Davon ist aber immer auszugehen, wenn wir es mit Anderen zu tun haben. Früher oder später sehen sich alle Autoren, die sich zunächst einer Apologie der Pluralität, des unauthebbaren Dissenses und des Widerstreits befleißigt haben, dazu genötigt, die Alterität des Anderen (und der anderen Anderen, der Dritten) ins Spiel zu bringen, wenn sie nach einem Ausweg suchen aus einem eventuell systemtheoretisch reformulierbaren Modell politischer Komplexität, demzufolge in einem permanent mehr oder weniger überforderten Zusammenleben ständig irgendwelche, letztlich bodenlosen, oft dezisionistisch gerechtfertigten Entscheidungen getroffen werden müssen. So beruft sich Nancy auf die Gerechtigkeit, nach der jeder singuläre Andere verlange; Ranciere lädt das Pathos der Stimme des Anderen, die gehört zu werden verlange, ethisch auf, ohne im Geringsten etwa normative Ethik betreiben zu wollen; und Lyotard spricht pseudo-normativ von einem »Unrecht«, das geschehe, wo das »Versprechen des Gesprächs« angesichts des Anderen nicht gehalten werde (Lyotard 1996: 176f.). Jedes Mal sind mehr oder weniger explizit Rekurse auf eben das im Spiel, was man mit Blick auf Levinas als eine Ethik der Alterität bezeichnen könnte. Aber nur letzterer riskiert dieses hohe und fragwürdig emphatisch klingende Wort, indem er im Modus der Bezeugung affirmiert: Es gibt diesen Anspruch des Anderen, nicht gleichen überhaupt noch nicht fest. Vielmehr handelt es sich um eine Ebene, auf der die Möglichkeit einer Auseinandersetzung um solche Fragen selber erst entsteht. 122

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verletzt zu werden, d. h. nicht nur (negativ): keine tödliche Gewalt gegen ihn zu verüben, sondern (positiv): ihm gerecht zu werden. Doch eben das kann auch Levinas nicht beweisen. Er lehnt sich vielmehr an eine religiöse Überlieferung an, die er in der Agora, wo nicht nur um Politiken und Politik, sondem auch um das Politische gestritten wird, nur platzieren kann, indem er die zitierten Traditionen nicht als Instanzen der Berufung auf sie bemüht. Insofem steht er mit seiner Philosophie rückhaltlos in diesem öffentlichen Raum, ohne zureichende Gründe vorbringen zu können, und ohne Aussicht, gegen Andere, die ihm nicht folgen können, letztlich Recht zu behalten. Allerdings liegt es auch gar nicht in seiner Absicht, in einem eristischen, agonalen oder polemischen Sprachkampf über andere »Positionen« triumphieren zu wollen. Für die Philosophie, wie er sie praktiziert, gibt es tatsächlich Lohnenderes und Fruchtbareres als die Aussicht, den Sieg davonzutragen in einem Kampf um Anerkennung des richtig Gedachten, in dem der Gegner schließlich aus eigener Einsicht kapitulieren muss. Sie will nicht vermittels der angeblich unnachsichtigen Kraft des besseren Arguments Einsicht erzwingen, vielmehr erheischt sie gerade im Verzicht darauf und im Zu-denken-Geben selbst Anerkennung, die vom Empfänger des Gegebenen zwanglos zu gewähren ist. Das Entscheidende bleibt ihm überlassen. Wenn das wirklich Levinas' Absicht war, so wird sie allerdings nicht ohne weiteres dem neo-sophistischen Verdacht entgehen, auf diese Weise besonders subtil auf Macht aus zu sein, wenn nicht gar Gewalt auszuüben. Widerlegen lässt sich dieser Verdacht zwar nicht, doch sitzt er einem Missverständnis auf. Er missversteht als Kampf ums bessere, Andere womöglich aus eigener Einsicht zwingende Argument oder als bloß diskursives Manöver, was tatsächlich eher als eine Art »Optik« gemeint ist, welche die menschlichen Verhältnisse neu, nicht nur als politische und politischer Macht rückhaltlos unterworfene begreiflich werden lässt (Levinas 1978: 23) und ihr Augenmerk auf das richtet, was Prozessen der Politisierung unterworfen wird (ohne immer schon und von sich aus politisch verfasst zu sein). Politisiert (und in Fragen guten oder gerechten Zusammenlebens transformiert) werden Levinas zufolge Ansprüche, vor allem Ansprüche darauf, nicht verletzt zu werden. Sie ragen aus einer unüberschaubaren Pluralität anderer Ansprüche heraus, wo man ihnen zuwider handelt - vorausgesetzt, sie werden als solche wahrgenommen und politisch artikuliert. Genau hier setzt Raueieres politische Philosophie des Dissenses an. Eine zeitgemäße Revision des Politischen hätte so gesehen zuerst die Frage zu beantworten, wie sie sich zu dem phänomenologischen Befund verhält, dass im menschlichen Zusammenleben verletzbare Ansprüche im Spiel sind, die überhaupt erst von Gewalt zu reden erlauben. Sie 123

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müsste Antwort geben auf die Frage, ob und wie sie diese Ansprüche aufgreift und artikuliert, ob sie also kenntlich macht, was sich von sich aus zeigt und danach verlangt, berücksichtigt zu werden. Eine solche Revision hätte von Anfang an mit der Frage der gewaltsamen Verletzung von Ansprüchen zu tun - und zwar im doppelten Sinne: hinsichtlich ihres Gegenstandes und in sich selbst. Sie dürfte sich aber nicht -sei es in einer Apologie des Politischen (wie bei Ranciere), sei es in einer Auskehr aus dem Politischen (wie sie Levinas zu empfehlen scheint) - hochmütig von dem abwenden, was üblicherweise als Politik bezeichnet wird. Sowohl eine Radikalisierung des Politischen als auch eine Abkehr vom Politischen droht im schlechtesten Sinne apolitisch auszufallen, wenn sie nicht wenigstens die Perspektive eines womöglich besseren politischen Handeins offen hält, statt nur die wirklich fatale Normalisierung einer Politik zu bemängeln, die in ihrer »realpolitischen« Rechtschaffenheit nicht einmal mehr ahnt, wie sie versagt und was sie verkennt.

6. Resümee Ich glaube nicht, dass Levinas einen klar geschnittenen »Begriff des Politischen« anzubieten hat. Das Politische begegnet uns in seinen Schriften primär im Zeichen des Verdachts, Andere rücksichtslos einer ethisch indifferenten Macht zu unterwerfen, die sie scheinbar ohne weiteres ausschließen und vernichten kann. Insoweit ein absoluter Widerstand dagegen in der Geschichte europäischer Philosophie nicht gedacht worden ist, rückt für Levinas insbesondere das Staatsdenken von Platon über Hege! bis hin zu Stalin und Hitler in den Verdacht eines totalitären Grundzugs, gegen den er sich mit einer radikalen Auskehr aus dem Politischen wendet. 29 Dabei stützt er sich auf eine ethisch inspirierte Phänomenologie des Anspmchs des Anderen, weder getötet noch sonstwie gewaltsam, sondern vielmehr »unendlich« gerecht behandelt zu werden. Dieser Anspmch geht auch vom Feind aus und steht ihm zu. Er muss deshalb eine radikale, »gastliche« Aufgeschlossenheit demokratischer Lebensformen nach sich ziehen, die aufgrund ihrer Aufgeschlossenheit überfordert und gleichsam zu Auto-Immunreaktionen gedrängt werden könnten, die sie sowohl im Versuch, sich zu schützen, als auch in wehr29 Vgl. Levinas (1991: 165). Keineswegs handelt es sich dabei um eine Neuauflage der Totalitarismuskritik Poppers, der gerade zu der ethisch entscheidenden Frage bemerkenswert wenig zu sagen hat, wie denn die »Feinde« der angeblich so überaus »offenen« Demokratie zu behandeln sind. Vgl. v. Verf. (2005: 299ff.). lm Zeichen des Lagers von Guantanamo ist die Dringlichkeit dieser Frage kaum mehr zu übersehen.

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loser Auslieferung an Andere zu ruinieren drohen. Dieser Anspruch soll aber mitten im Politischen als antipolitische Herausforderung zur Geltung kommen, die in einer Vielzahl miteinander konfligierender Ansprüche Anderer den Anspruch auf unbedingte Gerechtigkeit als denjenigen auszeichnet, dem vor allen anderen und in allen anderen Rechnung zu tragen ist. Dabei handelt es sich indessen um eine buchstäblich un-berechenbare Herausforderung, für die es keine »politische Lösung« gibt, die aber jede (auch explizit der Gerechtigkeit verpflichtete) Politik vor fataler Selbst-Gerechtigkeit bewahren soll - als Inspiration und Überforderung. Aus dieser knappen Zusammenfassung ergeben sich vor allem folgende Kritikpunkte bzw. offene Probleme: (a) Levinas handelt von einem nur zu bezeugenden Anspruch des Anderen. Aber wie kann die Bezeugung überzeugen? Und zwar auch diejenigen, die sich nicht einer »inspirierten« Rede vom Anderen anschließen mögen? Ist Levinas' Denken nicht auf die Rechtfertigung eines »lebenspraktischen« Wahrheitsmodus der Bezeugung angewiesen? 30 (b) Bedarf die Rede von einem außer-ordentlichen Anspruch des Anderen nicht der Rückbindung an politische Ordnungen, die er durchkreuzt? Levinas bedenkt zu wenig die Ambiguität der Herausforderung durch den singulären Anspruch des Anderen, der auch als unser radikaler Feind auftreten kann. Gerade daran zeigt sich: Nur verlässliche politische Lebensformen bewahren uns vor absoluter Überforderung, die ebenso in Gewalt umschlagen kann wie die rigorose Exklusion, die sich gegen jede Überforderung zu immunisieren sucht. (c) Levinas unterschätzt in einer fahrlässig das europäische Staatsdenken nivellierenden Kritik die »konstruktive« Bedeutung politischer Lebensformen, die im Zeichen einer primär >>Unbedingt« gastlichen Aufgeschlossenheit für den Anspruch des Anderen doch stets nur eine beschränkte Gastlichkeit werden realisieren können. Kann nicht allein die politisch geregelte Beschränkung einer exzessiven (nicht geleugneten) ethischen Überforderung durch eine »unbedingte« Gerechtigkeit gerecht werden? Muss also die ethische Auskehr aus dem Politischen nicht doch wieder zu ihm zurückfinden? Nicht, um sich in ihm aufheben zu lassen, sondern um eine fruchtbare Überkreuzung von Ethik (im Zeichen des Anderen) und Politik (im Zeichen des Dritten) möglich zu machen? Vielleicht ist es nicht so dermaßen wichtig (wie Levinas glaubt), ob wir »ursprünglich« zum verantwortlichen Hüter des Anderen bestimmt sind- statt wie bei Hobbes nur als dessen potenzieller radikaler Feind zu 30 Levinas selbst spricht vom Wahrheitsmodus der »Bewährung [... ] oder Verifikation«. Gerade dieses »oder« ftihrt aber in die lrre. Eine Bezeugung kann nichts verifizieren ( 1991: 117). 125

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erscheinen (Levinas 1992: 347f.). Blumenberg hat Recht, wenn er insistiert, von einer indifferenten oder aversiven Beziehung zum Anderen führe kein direkter Weg in eine »souveräne« Vernichtungspolitik, die für Levinas gleichsam der wunde Punkt war, um den sich seine Philosophie drehen musste. Während Levinas alles daran setzt, den Nachweis einer ursprünglich nicht »allergischen« Beziehung zum Anderen zu führen, besteht Blumenberg (1997: 143ff.) darauf, dass man unabhängig von jeglicher »ursprünglichen« Bestimmung dieser Beziehung politisch allemal nur durch mehrere Schritte dorthin gelangt, wo Levinas das ethisch indifferente politische Denken immer schon angekommen sieht: bei der gleichgültigen Exklusion, Aburteilung und schließlich Vernichtung Anderer. Wenn Blumenberg Recht hat (und einschlägige politische Analysen sprechen dafür), dann müssten gerade die »Zuverlässigkeitsformen« einer politischen Kultur am ehesten versprechen, sich einer absoluten Vergleichgültigung der unbedingten Gerechtigkeit, die wir jedem Anderen schulden, in den Weg zu stellen? 1 So kommt das Desiderat einer neuen Besinnung auf das Politische im Zeichen dieser radikalen ethischen Herausforderung in dieser selbst wieder zum Vorschein.

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31 Zum Begriff der Zuverlässigkeitsform vgl. v. Verf. (2008a), zu einem ethischen Kulturbegriffbei Levinas (1995: 25 f.). Einer Rhetorik des Versprechens steht Levinas allerdings sehr skeptisch gegenüber (ebd.: 217; 2007: 154, 171). 126

LEVINAS: ETHIK ALS ANTIPOLITISCHES DENKEN

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BuRKHARD LIEBSCH

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Jacques Derrida: Das Politische jenseits der Brüderlichkeit SusANNE L ü DEM ANN

»Und in dieser großen Tradition gibt es nicht nur Kontinuität [suite], sondern Fortschritt. Frankreich hat das Werk der römischen Welt und des Christentums fortgefiihrt. Was das Christentum versprach, hat es gehalten. Die brüderliche Gleichheit, welche jenes auf ein anderes Leben verschob, hat es der Welt als Gesetz für hinieden gegeben. Diese Nation hat zwei sehr große Vorzüge, die ich nirgends sonst erblicke. Sie hat zugleich das Prinzip und seine Auslegung [legende], eine reichere und menschlichere Idee und zugleich eine ununterbrochene Tradition. Dieses Prinzip, diese Idee, welche das Mittelalter unter dem Dogma von der Gnade vergrub, heißt in menschlicher Sprache: die Brüderlichkeit. Diese Nation, die man als den Zufluchtsort der Welt betrachtet, ist weit mehr als eine Nation, sie ist die lebendige Brüderlichkeit« (Michelet 1845: 387 f.).'

Dieses Zitat stammt nicht von Jacques Derrida, sondern von Jules Michelet, dem großen Historiker der Französischen Revolution und glühenden Verfechter der Demokratie. Jacques Derrida hat es als Motto einem Kapitel seines Buchs Polititiques de l 'amitie I Politik der Freundschaft vorangestellt, das auf Französisch 1994 erschienen ist und auf Deutsch im Jahr 2000. Der deutsche Titel ist insofern ungeschickt gewählt, als er den Plural des fran zösischen Titels »Politiques de I 'amitie« I »Politiken der Freundschaft« unterschlägt und ihn auf den monolithischen Singular der einen Politik reduziert. Womit wir schon beim Thema wären. Es wird für Derrida, soÜbersetzung leicht verändert, S. L. 131

SusANNE LüDEMANN

viel steht fest, stets mehr als eine Politik gegeben haben. Sein >Begriff des PolitischenVäterlichkeit< des Monarchen gegenüber seinen Untertanen tritt die >Brüderlichkeit< der Menschen untereinander. Sowohl Natalität (im Sinn von Gebürtigkeit) als auch Fraternität weisen jedoch aus dem eigentlich politischen, durch die Schrift der Verfassung bezeichneten Raum der Republik zurück in einen präpolitischen Vorstellungskreis, der, wie im Ancien Regime, durch Werte der gemeinsamen Abkunft und der leiblichen Verwandtschaft gekennzeichnet bleibt. Ist das politische Basisnarrativ der Republik die Erzählung vom Gesellschaftsvertrag, das Grundmodell der neuen Gesellschaft mithin der Vertragsschluss einer unbestimmten Zahl einzelner, unabhängiger, selbstmächtiger Individuen, so wird dieses Modell durch die (auch affektiv zunehmend höher besetzten) Leitwerte >Natalität< und >Fraternität< doch ethnozentrisch und androzentrisch eingeschränkt: Aus dem Brüderbund der Republik bleiben letztlich sowohl die Fremden als auch die Frauen ausgeschlossen. Ebenso wie Freiheit und Gleichheit gehört Brüderlichkeit zu den Synonymen der Republik, 2 aber im Gegensatz zu ihnen ist sie niemals 2

Am Tag der Abschaffung der Monarchie (21.9.1792) erklärte Innenminister Roland in einem Erlass an die Behörden, Republik und Brüderlichkeit

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SusANNE LüDEMANN

institutionalisiert worden. Während Freiheit (der Rede, der Versammlung, des Eigentums usw.) und Gleichheit (vor dem Gesetz) zu den verfassungsmäßig garantierten Grundrechten des Individuums in seinem Verhältnis zum Staat gehören, bezeichnet Brüderlichkeit die soziale Praxis, das Verhältnis der Bürger untereinander, in dem diese Rechte sich so bewähren sollen, dass die Freiheit und Gleichheit aller in dieser Praxis (in den »Handlungen der guten Bürger«) anerkannt, dargestellt, kurz: verkörpert werden. Man kann daher sagen, dass »Brüderlichkeit« die beiden anderen Begriffe interpretiert, dass sie selbst den Richtungssinn angibt, in dem Freiheit und Gleichheit zu implementieren seien. »In der triadischen Verbindung mit >libertt~< und H~galite< fiel der >fratemite< gleichsam die Rolle des Schrittmachers zu: mittels ihrer vereinigenden Kraft sollte die politische Freiheit und Gleichheit der >Citoyens< verwirklicht werden« (Schieder 1997: 565). Es wäre also voreilig, aus der Abwesenheit der Brüderlichkeit in den Gesetzestexten auf ihre mindere Bedeutung flir das politische Imaginäre der Republik zu schließen: Außerhalb der offiziellen Verlautbarungen ist sie als politisches Modell überall gegenwärtig. Sie ist der Name für die soziale Liebe, welche die Bürger der Republik aneinander und an ihr Gemeinwesen binden soll; sie ist der zentrale Term einer Zivilreligion, die aus dem sozialen Band >mehr< machen soll als einen Vertrag- überschießende Zutat und nicht-juridischer Schauplatz des Rechts zugleich. In diesem Sinn erwähnt die Verfassung von 1791 »Brüderlichkeit« nur, um ihr ihren extralegalen Ort anzuweisen, der sie mit dem Fest und zugleich mit dem Projekt einer nationalen Erziehung verbindet: »Es sollen Nationalfeste eingeführt werden, um die Erinnerung an die Französische Revolution zu bewahren, die Brüderlichkeit unter den Bürgern aufrechtzuerhalten (entretenir) und sie an die Verfassung, das Vaterland und die Gesetze zu binden« (Godechot 1970: 37). Brüderlichkeit ist also nicht einfach eine Gabe der Natur, die natürliche Vertrautheit, Familiarität und Nähe der von Herrschaft befreiten Gemeinschaftlich-Gleichen, sondern sie ist etwas, das »unterhalten« oder »aufrechterhalten« (entretenu) werden muss: Es bedarf auch in der neuen Ordnung kollektiver Gedächtnisrituale und nationaler Zeremonien, um das soziale Band zu stabilisieren oder überhaupt erst herzustellen. Wenn es »das anthropologische Schema der Familie [ist], das hier die Dinge in Gang hält« (Derrida 2000: 354 f.), wenn es die Werte der gemeinsamen Abstammung und einer als >natürlich< unterstellten Liebe sind, die im Namen der Brüderlichkeit aufgerufen werden, so bleibt doch stets das seien daselbe (»Veuillez, Messieurs, proclamer Ia Republique, proclamez donc Ia fratemite, ce n'est qu' une meme chose«) Zit. n. Schieder 1997: 566. 134

DERRIDA: JENSEITS DER BRüDERLICHKEIT

Bewusstsein wach, dass Brüderlichkeitjenseits der Familie eine gewählte (und daher kündbare) Verbindung ist, die manifestiert und beglaubigt werden muss, um Bestand zu haben. Es gibt kein natürliches Zeichen, das mir den anderen als Bruder beweist (>frater semper incertus estnatürlicher< und >substantieller< Grund des Politischen vorgestellt wird. Auch hier stellt sich daher wie im Fall der Nation- die Frage der Zugehörigkeit. Wenn man nicht einfach qua Gesellschaftsvertrag zum >Bruder< wird, muss man es einerseits vorher schon gewesen sein (selbst ohne es zu wissen oder sich daran zu >erinnernNationalisierunggrenzenlosen Stadt Philadelphia< träumt, in der alle Menschen eine einzige Familie bilden, macht man sich an die sukzessive Ausmerzung derer, die sich dieser universalen Eintracht nicht fügen wollen oder können- des Königs zuerst, der Aristokraten sodatm, und schließlich einer bunten Reihe von >Verräternguten Bruder< erscheinen lässt: als den einzigen, der nicht mehr zum Verräter werden kann.

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SusANNE LüDEMANN

Das Ritual, das die Spreu vom Weizen scheidet, die Urszene, welche die Brüderlichkeit an einen Urspnmg bindet und ihr Versprechen zugleich in den Horizont einer unbestimmten Zukunft stellt, ist dabei in der Französischen Revolution der Bürgereid: Anagnorisis der Brüder und säkulares Sakrament zugleich, bildet er den Höhepunkt aller revolutionären Feste. Er ist der Akt der Verbrüderung schlechthin; er stiftet »das unzertrennliche Band, das die Menschen zwischen sich schließen und das sie zum Ausgangspunkt eines neuen Bundes machen werden« (Starobinski 1981: 78), und er überantwortet alle, die sich dieser öffentlich inszenierten Selbstbindung entziehen, dem Vergessen oder dem Tod. Insofern der Bürgereid dazu dient, »eine Verbindung zwischen der Macht und dem individuellen Gewissen herzustellen« und damit »die Spaltung zwischen der staatlichen und der privaten Sphäre, zwischen Politik und Moral« (Prodi 1997: 393) zu überwinden, ist er vom Gesellschaftsvertrag als dem juridischen Ursprung der Republik deutlich unterschieden. Während der Gesellschaftsvertrag die Freiheit des Individuums im Rahmen der Gesetze gerade auch als Bekenntnis- und Gewissensfreiheit begründet, schränkt der Bürgereid als Initiation in den mystischen Körper der Republik diese Freiheit wieder ein. Es geht um eine »Sakralisierung [und Nationalisierung] der Politik, um das Aufkommen eines Staats, der in der mystisch-patriotischen Initiation die Möglichkeit fand, die beiden Aspekte des individuellen Gewissens und der Macht fest im jakobinischen Geist der neuen Demokratie zu vereinen« (Prodi 1997: 396). Weit davon entfernt, die Nation oder gar die Gemeinschaft der Menschen zu pazifizieren, fuhrt also gerade das Prinzip der Brüderlichkeit zu einer unaufhörlichen Spaltung oder Teilung des Gemeinwesens von innen her. Es bringt das Phantasma einer homosozialen Autopoiesis zum Ausdruck, die nach Derrida eine Art ungedachtes und symptomatisches >Wesen< jedes Brüderbunds bildet: Autopoiesis, weil die Brüder sich gegenseitig Geburtshelfer, durch den Schöpfungsakt des Eides gleichsam ihre >eigenen Söhne< sind; homosozial, weil sie Brüder (und nicht Schwestern, Töchter, Frauen oder einfach irgend jemand) sind, die sich als Gemeinschaft der Gleichen - in der Differenz zu allen anderen konstituieren. Was hier nur in aller Kürze am Beispiel der Französischen Revolution aufgezeigt wurde, gilt jedoch nach Derrida flir das politische Modell der Brüderlichkeit oder der Verbrüderung schlechthin, ob man es nun in Griechenland aufsucht oder in Rom, im christlichen Mittelalter oder in den modernen Demokratien, und auch unabhängig davon, ob der >Bruder< jeweils unter seinem eigenen Namen in Erscheinung tritt oder unter dem Namen des >FreundesJenseits des B1üderlichkeitsprinzips< aussehen könnte« (Derrida 2000: 10). Die eine Möglichkeit, in ein solches >Jenseits der Brüderlichkeit< zu gelangen, bestünde darin, den »alten Namen« und damit zugleich die Logik der Verbrüderung preiszugeben, auf sie zu verzichten, oder ihr eine Politik der Mütterlichkeit, der Schwesterlichkeit oder einfach der Weiblichkeit entgegenzusetzen. Und watum nicht? Die andere Möglichkeitund es ist diese, die Derrida wählt - besteht darin, den »alten Namen« und die »Logik« festzuhalten und sie zugleich zu dezentrieren, zu dislozieren, eine »Partisanenoperation« (ebd.: 219) in sie einzuführen. Denn seine These ist, »daß es hier keine Wahl gibt«: »Hätte der vorliegende Essay eine These, so wäre es vielleicht die, daß es hier keine Wahl gibt. Die Entscheidung läge einmal mehr darin zu entscheiden, ohne das eine oder das andere auszuschließen, andere Namen, andere Begriffe zu erfinden und über dieses [familiäre, fratemalistische und androzentrische, S. L.] Politische hinauszugehen, ohne darum aufzuhören, verändernd in es einzugreifen« (ebd.: 219). »Einmal mehr.« Ich hebe diese Passage hervor, weil sie es zugleich erlaubt oder nahelegt, einige grundsätzliche Anmerkungen zum Unternehmen der Dekonstruktion einzuflechten, das so oft als eine Art >Traditionsabrissunternehmen< gebrandmarkt worden ist, das alle heiligen Werte der Demokratie, des Humanismus und der Aufklärung verunglimpft und zerstört. Es ist, um hier nur das mindeste zu sagen, alles andere als das. 137

SusANNE LüDEMANN

Als philosophisches Projekt schreibt sich »Dekonstruktion« zwar ein in die Linie einer Metaphysikkritik, die von Nietzsche über Heidegger und - übrigens - auch Adomo bis in die Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus reicht. Der Name »Dekonstruktion« ist dabei vor allem von Heidegger inspiriert, der in Sein und Zeit von einem »Abbau« und von der »Destruktion« der abendländischen Metaphysik als dem Programm einer künftigen Philosophie gesprochen hatte. Philosophische Metaphysikkritik seit Nietzsche bezieht sich einerseits auf den Universalismus abendländischer Logik und Ontologie, also auf die Annahme ihrer transkulturellen und überhistorischen Geltung, andererseits auf ihren Substanzialismus, also auf die Annahme, die Ordnung der abendländischen Vernunft würde mit der Ordnung des Seins oder der Natur selbst konvergieren - woraus sich dann die heute »ethnozentrisch« und »eurozentrisch« genannte Annahme ergab, alle anderen Denksysteme, die man im Verlauf der imperialistischen Expansion Europas im 19. Jahrhundert kennenlemte, seien logisch gesehen zurückgeblieben und ontologisch gesehen schlicht falsch. »Metaphysikkritik« und »Dekonstruktion« arbeiten also mit an einem Projekt der Selbstrelativierung des griechisch-römisch-christlichen Abendlandes und der von ihm hervorgebrachten logischen, ontologischen und politischen Formen (das Stichwort »Eurozentrismus« fällt ja unter anderem immer auch dann, wenn es zum Beispiel um die Universalität der Menschenrechte geht oder um die Exportierbarkeit der Demokratie in außereuropäische Länder). Wie der Name »Dekonstruktion der Metaphysik« - im Unterschied zu Heideggers »Destruktion der Metaphysik« - sagt, ist dieses Unternehmen jedoch nicht einfach eines der Zerstörung, des Abbaus oder der nihilistischen Annihilierung humanistischer Werte, schon gar nicht mit der Absicht, »fundamentalontologische« Strukturen des Daseins aufzudecken und so gleichsam vor die abendländische Seinsvergessenheit zurück in die Nähe eines >eigentlicheren< und >wesentlicheren< Seins zu gelangen (wenn ich das Projekt Heideggers für den Augenblick in dieser ganz unzulässigen Weise so abkürzen darf). Vielmehr folgt »Dekonstruktion« von vomherein der Einsicht, dass es ein Diesseits oder Jenseits unserer logischen, ontologischen und politischen Formen nicht gibt, jedenfalls nicht in dem Sinn, dass es uns einfach freistünde, aus dieser Tradition, in der wir gefangen sind, herauszuspringen (»Es gibt keine Wahl«). »Diese destruktiven Diskurse«, heißt es in Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen - und es war vorher von Nietzsches Kritik an der Metaphysik, von Freuds Kritik am Bewusstsein und von Heideggers Destruktion der Ontologie die Rede138

DERRIDA: JENSEITS DER BRüDERLICHKEIT

»sind aber allesamt in einer Art von Zirkel gefangen. Dieser Zirkel ist einzigartig; er beschreibt die Form des Verhältnisses zwischen der Geschichte der Metaphysik und ihrer Destruktion: es ist sinnlos. auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache - über keine Syntax und keine Lexik -, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefUgt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte« (Derrida 1976: 425).

(Es wäre also auch »sinnlos«, so kann man folgern, dem Andro-PhalloZentrismus der Brüderlichkeit einen >Gynaiko-K.ratismus< der Schwesterlichkeit oder Mütterlichkeit entgegenzusetzen. Er bliebe denselben Werten der Familiarität, der Substantialität und des Ähnlichen verpflichtet.) Die Dekonstruktion, sagt Derrida, habe daher »notwendigerweise von innen her zu operieren, sich aller subversiven, strategischen und ökonomischen Mittel der alten [metaphysischen] Struktur zu bedienen« (Derrida 1983: 45), um diese von innen her zu dezentrieren und über sich hinauszutreiben. Der Geste des »Abbaus«, der Destruktion, hat daher in dieser Arbeit an der Tradition eine Geste des »Aufbaus«, der Konstruktion zu entsprechen; in gewisser Weise ist »Dekonstruktion« nichts anderes als dieses Zugleich zweier widersprüchlicher und heterogener Gesten. »Zum Beispiel hier«, wenn wir nach diesem Exkurs zur Frage der Brüderlichkeit zurückkehren wollen. Im Bezug auf diese bestünde die doppelte Geste der Dekonstruktion darin, »die Logik der Verbtiiderung nicht preiszugeben [... ] und zugleich an einer Denaturalisierung der Gestalt des Bruders, seiner Autorität, seiner Glaubwürdigkeit, seines Phantasmas zu arbeiten. Die Präferenz für eine bestimmte Verbtiidemng (die demokratische) setzt selber schon voraus, daß man eine solche Arbeit auf sich nimmt und daß die Gestalt des Bmders keine Naturgegebenheit, nichts Substantielles, Wesentliches, Unantastbares ist. Dieselbe Arbeit aber müßte, um sie zu verändern, die demokratische Verbrüderung affizieren, sie müßte alles erschüttern, was in der Demokratie weiterhin diese natürliche Brüderlichkeit voraussetzt- mit all ihren Risiken und all den Grenzen, die sie aufrichtet« (Derrida 2000: 219). Ging es bisher darum, die inneren Paradoxien des politischen Modells der Brüderlichkeit aufzuzeigen und die semantischen Latenzen bewusst zu machen, die der Begriff mitschleppt und die ihn heimsuchen (und ja nicht nur den Begriff, sondern auch die politischen Gemeinwesen, die 139

SusANNE LüDEMANN

sich an ihm orientieren), so geht es jetzt darum, ihn so zu verschieben oder ihn so seiner ontologischen Prämissen zu entkleiden, dass er für das Prinzip einer »kommenden Demokratie« (une democratie a venir) fruchtbar werden kann. Und es ist dieses Prinzip einer »kommenden Demokratie«, in Verbindung mit einem, wenn man so will, >aus dem Lot gebrachten< Begriff der Brüderlichkeit, das uns jetzt abschließend noch beschäftigen soll (und zwar vorwiegend unter Bezug auf ein zweites Buch von Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, von 2003) In diesem Buch analysiert Derrida das, was er einen »Geburtsfehler« der Demokratie nennt, ein ihrer Form inhärentes und insofern irreparables Paradox, das er auch als »Prozeß der Autoimmunisierung« beschreibt und in dem wir unschwer das eben schon beschriebene Paradox der Brüderlichkeit wiedererkennen können. Es besteht darin, dass die Demokratie notwendigerweise solche Elemente aus sich ausschließen muss, die ihre Existenz als politische Form gefährden. Insofern sich diese Gefahr jedoch nur durch eine gewaltsame Grenzziehung bannen lässt, eine (selbst nur undemokratisch zu nennende) Dezision, die das (gerade noch) Demokratische vom Nicht-(mehr-)Demokratischen trennt, kommt die Durchführung der Operation ebenso wie ihre Aussetzung einem Selbstmord der politischen Form gleich. Derrida nennt als Beispiel die Parlamentswahlen in Algerien 1992, die von der algerischen Regierung abgebrochen wurden, weil man einen Sieg der islamistischen Fundamentalisten und damit eine Gefährdung der Demokratie von innen her befürchtete. Auf der anderen Seite wäre hier auch an die Reichstagswahlen von 193 3 zu denken, durch die Hit! er auf mehr oder weniger demokratische Weise an die Macht kam. Beide Prozesse, sowohl die Aussetzung der Wahlen in Algerien 1992 als auch ihre Durchführung in Deutschland 1933 mündeten in eine Selbstverletzung des demokratischen Systems, in Deutschland in seine völlige Zerstörung. Es ist wichtig zu sehen, dass diese Gefährdung der Demokratie durch sich selbst, diese Anfälligkeit der politischen Form, nach Derrida keine Kinderkrankheit und kein mit entsprechendem politischen Geschick zu behebender Mangel ist, sondern, wie gesagt, ihrer Form inhärent, die notwendig auf Offenheit und Unbestimmtheit angelegt ist. Insofern lässt sich sagen, der Demokratie eigne ein unhintergehbarer Mangel an Eigenheit, an Sinn und Identität: »Was der Demokratie fehlt, ist eben genau der eigentliche Sinn, der Sinn des Seiben selbst [ ... ], das, was sie selbst ist, das Selbe, das wahrhaft Selbe ihrer selbst [Je soi-meme, Je meme, Je proprement meme des soi-meme]. Dieser Sinn definiert die Demokratie und selbst das Ideal der Demokratie durch diesen Mangel des Eigenen und Seihen. [ .. . ] Was darauf hinausläuft, daß es [ ... ]

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DERRIDA: JENSEITS DER BRüDERLICHKEIT

kein absolutes, konstitutives oder konstitutionelles Modell, keine absolut erkennbare Idee, kein eidos, keine Idee der Demokratie gibt. So wenig, wie es letzten Endes ein demokratisches Ideal gibt« (Derrida 2003: 59f.) - sei es als platonisches »Urbild« gedacht, sei es als »regulative Idee« im Sinne K.ants. Von alledem hätte man sich zu verabschieden. Was ist aber dann, unter Abwendung von jeder bestimmten oder bestimmenden Form, der Sinn einer »kommenden« oder >>zukünftigen« Demokratie, einer »democratie a venir« (und in diesem französischen »a venir«, das Derrida von Maurice Blauehot bezieht, schwingt immer auch eine Art ethischer Imperativ mit; es geht hier nicht nur um eine Demokratie, die vielleicht noch kommt oder kommen kann, sondern die kommen soll): »In ihrer konstitutiven Autoimmunität [ ...] hat die Demokratie stets nacheinander und gleichzeitig zwei miteinander unvereinbare Dinge gewollt: Sie hat einerseits Menschen nur unter der Bedingung aufnehmen wollen, daß sie Staatsbürger [Citoyens], Brüderund Ähnliche/Gleiche [semblables] waren, und dabei alle anderen ausgeschlossen, insbesondere die schlechten Bürger - die Schurken - die Nicht-Bürger und alle Arten von anderen, die Unähnlichen/ Ungleichen [dissemblables] und Verächtlichen [meconnaissables]. Andererseits hat sie sich, gleichzeitig oder nacheinander, fiir alle diese ausgeschlossenen anderen öffnen, ihnen Gastfreundschaft anbieten wollen. [. ..] Doch [... ] ist es der Demokratie angemessen, das eine oder das andere zu tun, manchmal auch das eine und das andere, manchmal beides zugleich oder nacheinander. Die Schurken und die Roues sind manchmal Brüder, Bürger und Gleiche« (ebd.: 93). Der Widerspruch, der hier am Werk ist, wird sich um so stärker bemerkbar machen, je stärker die Identifizierung der Bürger, Brüder und Gleichen untereinander und mit der politischen Gemeinschaft ist. Je stärker das Bild des Eigenen und Selben, desto heftiger die Bewegung der Exklusion. Auf der anderen Seite wächst der Wille zur Gastfreundschaft, zur Aufnahme der Ausgeschlossenen im selben Maß, in dem die Identifizierungen im Innern problematisch, unterbrochen und heterogen werden. Wenn der >autoimmunitäre< Widerspruch auch in gewisser Weise unvermeidlich ist, so wird er doch durch alle Formen der Selbstaffektion, des Willens zur Abschließung und der exklusiven und exkludierenden Identifizierung noch erheblich verstärkt. Wenn also die Formel der »kommenden Demokratie« nicht eine andere Demokratie (Urbild oder Ideal), sondern einen anderen Gebrauch der Demokratie bezeichnet, dann verweist sie auf eine Reduktion oder eine Abschwächung gemeinschaftsstiftender Identifizierungen. Sie bezeichnete hier, gegenstrebig 141

SusANNE LüDEMANN

zur Brüderlichkeit, gegenstrebig zu jeder gemeinsamen Teilhabe der Ähnlichen oder Gleichen, den Ort einer Öffnung aufs Ungleiche, auf eine maximale Heterogenität ohne gemeinsames Maß. Von dieser Öffnung an wäre die Demokratie nicht mehr das Regime der b1üderlich Gleichen oder der »lebendigen Brüderlichkeit« im Sinne Michelets, sondern das Regime von jedem, jenseits jeder ausschließenden Bedingung. Die Zukunft der Demokratie erscheint hier als Zukunft des »erstbesten«: »Paulhan sagt irgendwo, ich gebe es in meinen Worten wieder, die Demokratie denken heiße ;den erstbesten< [le premier venu] denken: irgendwen, einen beliebigen. [ ... ] Und ist ;der erstbeste< nicht die beste Übersetzung für ;den ersten, der kommen sollWirKommunismus< zur Gemeinschaftlichkeit der >Existenz>la science de l'etre-en-tant-qu'etre« (Badiou 2005a: 17) - hat jedoch eine andere Wahrheitsfunktion als die Politik, die in der Praxis des (nicht mathematisch fassbaren) menschlichen Zusammenlebens eine andere Weise des Denkens beschreibt. Man kann sagen, dass bei Badiou die Ereignisse der Wissenschaft parallel zu den Ereignissen im Bereich der Politik verlaufen (bzw. diese erst im Unendlichen schneiden). Der Gegenbegriff zu la science ist le savoir (vom lateinischen Verb sapere, im Substantiv sapientia, der Übersetzung des griechischen Begriffs dianoia). Diese Form des Wissens ist für Badiou das normale, alltägliche Gegenstück zur scientia als der Wissenschaft der großen und seltenen Entdeckungen. Auf die Unterscheidung aus dem siebten Buch der Politeia zurückgreifend, in dem Platon den Gesamtschatz menschlicher Erkenntnis als Zusammenspiel aus episteme (dem perfekten Denken der Dialektik) und dianoia (dem diskursiven Denken aus den Wissensschätzen der Geometrie, der Astronomie und der Harmonielehre) bestimmt (Politeia 534a), interpretiert Badiou den Begriff des savoir als eine Art Reservoir oder Archiv des bestehenden Wissens einer jeden historischen Epoche, dessen status qua für das auf Bewegung und Ereignisse ausgerichtete philosophische Denken irrelevant ist. Diese Bedeutung des Begriffs Wissen belegt Badiou mit dem durchaus abfällig gemeinten Term der »Enzyklopädie« (der auch eine Kritik an den Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts darstellt, welche die Gegner seiner Helden der Aufklärung und der Französischen Revolution waren). Das savoir als enzyklopädisches Wissen ist ein strukturaler Gegenstand, der aus Normen besteht und auf diese Normen herstellenden Institutionalisierungen beruht. Das savoir bezieht sich auf die Eigenschaften der Abzählbarkeit, der Konstruierbarkeit und der Klassifizierbarkeit. Bewegung entsteht hier allein durch Ersetzung, wenn Errungenschaften der episteme Teile des Reservoirs als ungültig überführen. Eine Politik, die aus dem Geist eines solchen Wissens entspringen würde, wäre aus der Sicht des strengen Antistrukturalisten Badiou eine »falsche Politik«, denn sie könnte die Macht bestehender Strukturen von Staaten oder Verfassungen nur

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GERNOT KAMECKE

festigen und niemals aus einer gegen sie gerichteten Bewegung etwas Neues verfolgen. (2) Politik steht in keinem Verhältnis zum Wissen, weder als savoir noch als science (den sciences politiques zum Trotz), sondern zur Wahrheit. In der Politik können sich laut Badiou zu bestimmten historischen Konstellationen Momente der Wahrheit ereignen. Solche Ereignisse, zum Beispiel die Erfindung der Ethik im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr., die Sklavenerhebung um Spartakus im 1. Jahrhundert v. Chr. oder die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu Beginn der Französischen Revolution, sind jedoch äußerst selten und bedürfen, so Badiou, nachträglicher, zum Teillang andauernder, konsequenter Eingriffe oder Verteidigungen durch Subjekte, d.h. durch Personen oder Gruppen, die in ihrer Treue zu den Ereignissen deren Wahrheit erst bezeugen, hervorbringen und im günstigsten Fall aufrechterhalten. Diese anschauliche Beschreibung historischer Situationen beruht auf einem philosophisch problematischen Wahrheitsbegriff Es ist in der Philosophie sehr schwierig geworden, den Begriff der Wahrheit jenseits der analytischen Aussagenlogik im Bereich der Phänomenologie anwendbar zu halten, und Badiou ist vielleicht der einzige lebende Philosoph, der dies versucht (Kamecke/Teschke 2008: 8). Insbesondere der Versuch, die Begriffe Wahrheit und Politik miteinander zu verknüpfen, dies zeigt z.B. die Totalitarismusforschung in der Folge Harrnah Arendts, hat in der politischen Praxis des 20. Jahrhunderts zu desaströsen Missinterpretationen geführt. Badiou beharrt jedoch auf dieser Verknüpfung, die ihm als eine Frage des genuinen Verhältnisses von philosophischem Denken und nicht-philosophischen Praktiken fundamental erscheint. Die Wahrheit ist in seiner Philosophie, die dem griechischen Paradigma der Ontologie treu verschrieben ist und dasselbe mit den Mitteln der modernen Mathematik neu zu bekräftigen sucht, ein unverzichtbarer Begriff flir die Konsistenz des Denkens überhaupt. Wenn Politik konsistent denkbar ist, dann nur als Wahrheit. Um den Begriff der Wahrheit recht zu verstehen, sind die übrigen, durch ihn implizierten Begriffe des badiouschen Gebäudes heranzuziehen, die für das politische Denken notwendig sind. Dazu gehören der Begriff des »Ereignisses« (ewinement), als möglicher Auslöser einer Wahrheit, und der Begriff des »Subjekts«, als ihr möglicher Vollstrecker. Dazu gehört sodann ein Ensemble von Tem1en, welche die Tätigkeit des Subjekts in Bezug auf das Ereignis beschreiben und worin das Erkennen der Wahrheit des Ereignisses und der manchmal sehr langwierige Kampf um deren Erhaltung zum Ausdruck kommen: Dies sind der »Eingriff« (intervention), der auf einer Entscheidung und dem Akt einer Benennung beruht, sowie die entsprechenden Techniken der Auswahl, 162

BADIOU: DIE ONTOLOGISCHE WAHRHEIT DER REVOLUTION

der Unterscheidung, der Zählung, der Ermittlung, der Deduktion usw. Alle zusammen werden unter einem Oberbegriff zusammengefasst, den Badiou prägnant die »Treue« (jidelite) nennt. Schließlich benötigt man neben dem Ereignis, dem Subjekt und der Treue noch den Begriff der »Situation«, der als grundlegender Rahmen für jede konsistente Existenzbehauptung fungiert und die topalogischen Grenzverläufe beschreibt, in denen Ereignisse auftauchen können, sowie den Begriff der »Generizität« - , um die besondere Beschaffenheit derjenigen Situationen zu bestimmen, die vom Ereignis zur Wahrheit führen können. Auf fünf Hauptbegriffe heruntergebrochen, könnte man sagen, dass Badiou die Ereignisse (1) generischer Situationen (2) denkt, deren Wahrheit (3) durch die Treue (4) bestimmter Subjekte (5) entfaltet wird. Das Problem der Politik findet sich nun innerhalb dieses Grundgerüsts der badiouschen Terminologie an der Stelle, wo der Begriff der Generizität die Richtung der begrifflichen Verknüpfung bestimmt. Das Wörterbuch im Anhang von Das Sein und das Ereignis (Badiou 2005a: 535ff.), an dem der mathematisch-technische Hintergrund aller definierten Begriffe systematisch entfaltet wird, fuhrt den Namen Politik an der Stelle auf, wo es um die Definition der »generischen Treue« geht. Die Politik, heißt es dort, ist ein bestimmter Typ einer »generischen Treueprozedur«. Ins Anschauliche übersetzt, bedeutet dies, dass die Politik einen Bereich der menschlichen Existenz darstellt, in denen es handelnden Subjekten möglich ist, bestimmte Ideen oder Phänomene, denen ein besonderer Wert beigemessen wird, zu verfolgen und zu verfechten. Außer der Politik gibt es nur noch drei weitere solcher Treueprozeduren: die Wissenschaft (im oben bestimmten Sinne von scientia bzw. episteme), die Kunst und die Liebe. Für jeden Gattungsbereich dieser eindrucksvollen Quadriga der menschlichen Existenz, Politik - Wissenschaft- Kunst- Liebe, gilt die gleiche Gesetzmäßigkeit: Sie sind ereignisanfällig und können Subjekte erzeugen. Sie zählen somit zu den so genannten »Quellen der Wahrheit« (Badiou 2005a: 542). Allgemein gesprochen sind generische Treueprozeduren also Gegenstandshereiche - oder Gattungen - des menschlichen Denkens und Handelns, in denen sich aufgrund bestimmter Konstellationen Wahrheiten ereignen können und in denen unter bestimmten Bedingungen, in Bezug auf solche Ereignisse, Prozesse der Subjektivierung möglich sind. Bemerkenswert an der Quadriga der Beispiele ist, dass jedes von ihnen für sich eine einzigartige Gattung darstellt und dass sie insgesamt alle Bereiche des menschlichen Denkens und Handeins repräsentieren, in denen die interdependenten Funktionen von Wahrheit, Ereignis und Subjekt konstitutiv sind.

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Um die Bestimmung auf die Gefahr der begrifflichen Unschärfe anschaulich zu beschreiben, will ich versuchen, das Gedankengebäude als ein Gesamtkomplex zu fassen (vgl. Kamecke 2008: 53fT.). Dies ist insofern möglich, als Badiou in der Tat so etwas wie eine Gesamtheit von Denkbarkeiten konzipiert, wenngleich diese nicht als Totalität zu betrachten oder »als Eins zu zählen« ist, sondern eine unendliche Anzahl von Vielheiten oder Mengen darstellt. Die Gesamtheit der menschlichen Existenz besteht für Badiou zum allergrößten Teil aus einem Geflecht so genannter »natürlicher Situationen«, die eine strukturale Gesetzmäßigkeit besitzen und auf logisch ableitbare sowie vorhersagbare Weise aufeinander abfolgen. Zu diesen natürlichen Situationen gehören nicht nur die physikalischen und biologischen Bedingungen, die den Menschen in ihrer Vergänglichkeit eine bestimmte Dauer und Bewegungsgeschwindigkeit in einem bestimmten Raum zuschreiben, wobei deren Kenntnis (und Manipulierbarkeit) natürlich von Ereignissen der Physik oder der Biologie als Wissenschaft abhängig ist. Zu den natürlichen Situationen gehören auch die strukturalen bzw. in einer jeweiligen historischen Epoche als gegeben und »normal« angesehenen Formen des sozialen Zusammenlebens der Menschen, wie überkommene Staatsformen, das (kodifizierte oder gewohnheitsmäßige) Recht, religiöse oder rituelle Institutionen, herrschende ästhetische Überzeugungen, Regeln des Paarungsund Fortpflanzungsverhaltens usw. Neuerungen, die einer Wahrheit entsprechen, sind bei Badiou stets gegen diese Strukturen gerichtet, sie brechen als Ereignisse aus dem Nichts in die Strnkturen ein und verändern sie nachhaltig. ln der Politik sind dies die wenigen großen Revolutionen, deren Wahrheit dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie die Gewalt staatlicher Herrschaft auszusetzen vermögen. ln der Wissenschaft sind es die Ideen der Theorie sowie die großen Entdeckungen, die das Bild von der Natur des Menschen verändern. In der Kunst sind es die großen Schöpfungen epochemachender Werke, die unhintergehbaren Errungenschaften der Literatur, der Malerei und der Musik. In der Liebe schließlich ist das Ereignis zumeist die individuelle Begegnung mit einem Menschen. Alle diese Ereignisse - dies ist der Badiou eigentümliche Nominalismus - sind mit Namen verlmüpft, welche die Person als Urheber eines bestimmten Denkens oder Handeins oder einen revolutionären Gegenstand bezeichnen. In der Politik finden sich z.B. die Namen Platon, Spartakus, Rousseau, womit die Idee der gerechten Polis, die organisierte Befreiung von der Leibeigenschaft oder die Souveränität des Volkes per Gesellschaftsvertrag aufgerufen sind. In der Wissenschaft stehen z.B. Aristoteles, Kopernikus, Leibniz, Einstein, welche die Ideen der Metaphysik, des Heliozentrismus, des Infinitesimalkalküls oder der Relativitätstheorie bezeichnen. ln 164

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der Kunst sind die Namen gemeint, die ihre jeweiligen Gattungen so nachhaltig verändert haben, dass man sich nach ihnen nicht mehr auf die gleiche Weise künstlerisch betätigen kann. Folgt man hier dem recht klassischen Kanon Badious, so wären dies im Theater z.B. (und unter wenigen anderen) Aristophanes, Moliere oder Brecht, in der Malerei Raphael oder Picasso, in der Dichtung Dante oder Mallarme, in der Musik Bach, Haydn oder Schönberg. In der Liebe schließlich, welche die einzige nicht öffentliche Treueprozedur ist, dürfen Sie für sich behalten, ob der Name Ihrer Begegnung ein Ereignis ausgelöst hat, dessen Wahrheit unter dem Signum der »immanenten Zwei« (Badiou 1999: 190) für Sie von nachhaltiger Dauer ist. Für all diese Ereignisse, die an einem bestimmten Punkt plötzlich ex nihilo auftauchen, gilt auf analoge Weise, dass es sich immer erst nachträglich, durch ihre Benennung erweist, ob sie (im Futur II) einen Moment der Wahrheit ausgelöst haben werden, welcher sich sodann aber ohne das Verfolgen der Effekte dieses Namens oder der Punkte innerhalb der Treueprozedur ebenfalls wieder im Nichts auflösen würde. Was aber ist genau eine »generische« Situation? Welchen spezifischen konzeptuellen Sinn hat die Bestimmung der Generizität einer Treueprozedur? Hier wird die eigentümliche Schwierigkeit der grundlegenden Kategorien Badious offenkundig, die zwar allesamt einen anschaulichen Kern haben und somit intuitiv verständlich sind, aber zugleich eine mathematisch technische Entsprechung besitzen, die sie als streng logisch erschließbare Funktionen innerhalb der axiomatischen Mengenlehre lesbar machen. Diese grundsätzliche Forderung nach Gesetzen der Entsprechung zwischen dem philosophischen und dem mathematischen Denken, die für einen Griechen in der Zeit zwischen Pythagoras und Aristoteles vielleicht eine ganz gewöhnliche Vorgehensweise wäre, stellt eine weitere Besonderheit Badious dar, die im 20. Jahrhundert, wenn überhaupt, nur von den französischen Mathematiker-Philosophen Jean Cavailles und Jean-Taussaint Desanti geteilt worden ist. Der Begriff »generisch« ist hierfür ein zentrales Beispiel. Er bezieht sich nicht allein auf das Konzept der »Gattung«, das laut Badiou eine Anleihe an den Begriff des »Gattungswesens« ist, mit welchem schon der frühe Marx den eigentümlichen »Charakter der Menschheit, deren Träger das Proletariat war, zu beschreiben suchte« (Badiou 2005a: 435). Das Wort generisch hat auch eine präzise mathematische Bedeutung, denn es bezeichnet den technischen Begriff des generic set, der auf den Mengentheoretiker Paul Cohen zurückgeht. Der generic set oder auch generic extension genannt, zu deutsch die »generische Menge« oder die »generische Erweiterung«, ist ein elementarer Baustein für die Gültigkeit von Quantitätsaussagen innerhalb der axiomatischen Mengenlehre. Tech165

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nisch gefasst, definiert dieser Begriff eine speziell konstruierte Menge, deren Eigenschaft es erlaubt, den Beweis der Unabhängigkeit (d.h. der Unentscheidbarkeit) bestimmter mathematischer Probleme zu erzwingen. Die auf der generischen Menge beruhende Methode der »Erzwingung«, oder auch Forcing-Methode genannt, ist im Jahre 1963 - als ein mathematisches Ereignis erster Güte - berühmt geworden, als es Paul Cohen gelang, die Unabhängigkeit der Kontinuumshypothese von Georg Cantoraus dem Jahre 1878 zu beweisen und damit eines der 23 großen, zum Teil bis heute ungelösten Hilbertschen Probleme der Mathematik zu lösen (Cohen 1966: I 07ff.). Es ist unumgänglich, hier einen kleinen Schritt in das Feld der Mathematik hinein zu wagen, um die badiousche Begrifflichkeit in ihrer mengentheoretischen Bedeutung zu erfassen, die keinesfalls, wie bei manch anderem poststrukturalistischen Philosophen französischer Sprache, auf einer rein metaphorischen Analogie beruht (vgl. Schubbach 2008). Der Rückgriff auf die Mathematik, den Badiou - nicht als Dilettant, sondem als studierter Mathematiker - vornimmt, beschränkt sich in allen Werken vor Logiques des mandes (Badiou 2006) auf einen besonderen Teilbereich der Zahlentheorie, der »Mengenlehre« genannt wird. Die Mengenlehre, französisch theorie des ensembles, ist ein besonderer Zweig der Mathematik, denn ihr historischer Verlauf ist ebenso exakt beschreibbar wie ihr Gegenstand konstitutiv für die gesamte Disziplin ist. Die Geschichte der Mengenlehre beginnt mit Georg Cantor, der im Jahr 1878 die Entdeckung macht, dass die Unendlichkeit kein einförmiger Begriff ist, der annäherungsweise in ein vages Jenseits der Denkbarkeit führt (und der bis heute durch das mengentheoretisch sinnlose Zeichen der liegenden Acht als solcher bezeichnet wird), sondem dass es mehrere Unendlichkeiten geben muss, die verschiedene Größen bzw. »Mächtigkeiten« haben (Cantor 1885). Cantor konnte dies durch das so genannte Diagonalverfahren beweisen, das ein leicht nachvollziehbarer Beweis ist und darauf beruht, die Elemente der Menge der natürlichen Zahlen auf die Elemente anderer Zahlenmengen »eineindeutig« abzubilden. So stellte Cantor fest, dass die Menge der natürlichen Zahlen und die Menge der rationalen Zahlen gleich groß bzw. »gleich mächtig« sind, dass es also, anschaulich gesagt, ebenso viele natürliche Zahlen wie rationale Zahlen gibt. Die reellen Zahlen sind dagegen mächtiger als die natürlichen Zahlen, da man sie nicht mithilfe der natürlichen Zahlen vollständig durchzählen kann. Sie sind »überabzählbar«, könnten aber ihrerseits der Mächtigkeit anderer Mengen wie der Menge der komplexen Zahlen, der Menge der reellen Zahlen im Intervall zwischen 0 und 1 oder der Potenzmenge der natürlichen Zahlen entsprechen. 166

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Nachdem Cantor diesen Größenunterschied zwischen zwei verschiedenen unendlichen Mengen nachgewiesen hatte, stellte er zwei Fragen, deren ideengeschichtliche Reichweite und revolutionäres Potential insbesondere für die Wissenschaftsgeschichte und die Theologie der Unendlichkeit Gottes man erst heute - mit Badiou - wahrzunehmen beginnt. Cantor fragte zuerst, wie viele unterschiedlich mächtige Unendlichkeiten es geben könne, wobei er zu dem Schluss kam, dass man mit unendlich vielen unterschiedlichen Unendlichkeiten rechnen müsse, insofern man ausgehend von jeder existierenden Menge jeweils eine mächtigere Menge konstruieren kann, und zwar nahezu beliebig oft, indem man schlicht die Potenzmenge, also die Menge aller Teilmengen der gegebenen Menge bildet. Die zweite Frage Cantors war, ob es eine Menge geben könne, die in ihrer Mächtigkeit zwischen den natürlichen Zahlen und den reellen Zahlen liege, oder ob der Schritt von der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen zur Unendlichkeit der reellen Zahlen das kleinstmögliche Maß für die Differenzierung aller verschieden mächtigen Unendlichkeiten sei. Die letztgenannte Option ist, da Cantor diese Frage nicht abschließend entscheiden konnte, der Gegenstand der so genannten Kontinuumshypothese: Es gibt keine Menge, deren Mächtigkeit zwischen den natürlichen Zahlen und den reellen Zahlen (dem Kontinuum) liegt. In der Folgezeit ist die frühe, aufgrund der anschaulichen, aber mathematisch noch ungenauen Begriftlichkeit auch »naiv« genannte Mengenlehre Georg Cantors weiter geftihrt und präzisiert worden. An dieser Arbeit haben sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast alle Mathematiker von internationalem Rang beteiligt, allen voran Richard Dedekind, Felix Hausdorff, Bertrand Russell, John von Neumann, David Hilbert, Kurt Gödel sowie schließlich Ernst Zermelo und Abraham Fraenkel, denen es in den 1920er Jahren gelungen ist, das gesamte Feld der Mengenlehre mithilfe von zehn Axiomen, der so genannten Zermelo-Fraenkel-Axiomatik (plus Auswahlaxiom), als Fundament der mathematischen Zahlentheorie zu systematisieren (vgl. Zermelo 1930). Die Axiomatisierung der Mengenlehre, welche das bahnbrechende Ereignis der cantorschen Entdeckung historisch betrachtet zu einer absolut grundlegenden, nämlich universalen Wahrheit geführt hat, zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Fundament ftir die gesamte klassische Mathematik in einem formal geschlossenen System bilden kann. In der Sprache der axiomatischen Mengenlehre lassen sich, wie man seit Zermelo und Fraenkel weiß, alle üblichen mathematischen Begriffe wie Zahlen, Relationen, Funktionen, Räume usw. konstruieren. Diese Sprache bildet so etwas wie die Meta- oder Maschinensprache der Mathematik, auf die sich die meisten höheren mathematischen Sprachen zurückführen lassen, 167

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aus der sich aber auch- dies hat die Aussagenlogik Ludwig Wittgensteins sowie die modelltheoretische Semantik Alfred Tarskis nachhaltig beeinflusst - das formallogische Gerüst der »natürlichen Sprachen« gewinnen lässt. Die graphische Realisierung der Sprache der Mengenlehre besteht darin, nicht mehr als fünf verschiedene Arten von Zeichen festzulegen: die Variablen (welche die Individuen einschreiben), die logischen Verknüpfungen (Negation, Konjunktion, Disjunktion, Implikation und Äquivalenz), die Quantaren (universell: »für alle« und existentiell: »es existiert«), die Eigenschaften oder Relationen (die Gleichheit und die Zugehörigkeit) sowie schließlich die Interpunktion (die durch drei verschiedene Formen von Klammem hergestellt wird). Allein mithilfe dieses extrem konzentrierten Zeichenreservoirs enthalten die zehn Axiome der Mengenlehre, laut Badiou »die größte Denkanstrengung, die bis auf den heutigen Tag jemals von der Menschheit vollbracht worden ist« (Badiou 2005a: 536), ein hinreichendes Instrumentarium, um beweisbare Aussagen über die Existenz und die Eigenschaften jeder beliebigen Menge zu treffen und die Relationen der Differenz bzw. der Übereinstimmung zwischen zwei verschiedenen Mengen zu bestimmen. 3 Die technischen Operationen der Zermelo-Fraenkel-Axiomatik ergeben im Einzelnen, und dies macht die Kenntnis der Mathematik schließlich zur Bedingung für ein adäquates Verständnis der badiouschen Philosophie insgesamt, den formallogischen Hintergrund für die oben präsentierten Grundbegriffe, die in ihrer jeweiligen mathematischen Entsprechung auf einem strengen Existenzbeweis beruhen. Ausgehend von zwei fundamentalen Existenzbehauptungen, die sich auf die Unendlichkeit der Situationen sowie die Existenz der Leere beziehen (dies sind das Unendlichkeitsaxiom und das Axiom der leeren Menge), und einem 3

Der Begriff der Menge selbst stützt sich dabei intuitiv auf die ursprünglich »philosophische« Interpretation Cantors: Eine Menge oder Mannigfaltigkeit ist seiner Definition gemäß »jede Zusammenfassung von bestimmten wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen« (Cantor 1895: 481 ). Die mathematische Problematik dieser naiven Auffassung des Mengenbegriffs besteht darin, dass sie keine konsistente mengentheoretische Ontologie begründen kann. Die mathematische Fom1alisierung durch Ze1melo/Fraenkel (und Cohen) hat alle Begriffe der frühen cantorschen Mengendefinition - das Ganze, das Objekt, die Unterscheidung und die Anschauung - aufgelöst: »Weder ist eine Menge eine Ganzheit, noch sind ihre Elemente Objekte, noch kann man ohne besonderes Axiom - die unendlichen Mengenansammlungen unterscheiden, noch besitzt man die geringste Anschauung der angenommenen Elemente in einer nur geringfügig >großen< Menge« (Badiou 2005a: 55). Der intuitive Mengenbegriff ergibt somit eine philosophische Negativfolie für die formalisierte (subtraktive) Ontologie.

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grundlegenden ontologischen Theorem, welches dem Sein das Primat vor der Sprache zuweist (dies ist das Trennungsaxiom), erweisen sich die Begriffe, welche die Treueprozedur als Verhältnis von Wahrheit und Subjekt beschreiben, letztlich als anschauliche Übersetzungen der übrigen Zermelo-Fraenkel-Axiome: Die Axiome der Ersetzung, der Extensionalität, der Vereinigung, der Paarmenge sowie der Potenzmenge bestimmen die Verhältnisse und internen Verflechtungen zwischen den Situationen, die Verzweigung der Elemente, die Differenzierung zwischen gleichen und ungleichen Teilen, die internen Größenverhältnisse sowie die Struktur ihrer Repräsentation durch übergeordnete, mächtigere Mengen. Das Fundierungsaxiom bestimmt die untere Grenze der Situationsvergleiche, indem es flir jede Menge die Existenz eines ungeteilten Elements beweist und das Verbot der Zugehörigkeit einer Menge zu sich selbst ausspricht. Das Auswahlaxiom schließlich führt den Existenzbeweis des Eingriffs- »für jede nichtleere Menge x existiert eine Menge y, die mit jedem Element von x genau ein Element gemeinsam hat« - und liefert das fonnale Schema für die subjektkonstituierenden Konzepte der Auswahl und der Benennung! Ein Begriff bildet bei Badiou eine Ausnahme: das Ereignis, dessen Sein grundsätzlich illegal ist und aus dem Nichtsein eines Ununterscheidbaren entspringt. Das Ereignis kann durch die Mengenlehre mit ihren klassischen Axiomen nicht entschieden werden und seine Feststellung bzw. Benennung muss ex nihilo durch ein Subjekt erzwungen werden. Alle übrigen phänomenalen oder strukturalen Gegenstände, die in der Philosophie Badions aus einer ontologischen Perspektive präsentiert werden (inklusive ihrer Bewegungsabfolgen, Binnendifferenzierungen und Mächtigkeitskonflikte), gehorchen hingegen einer fundamentallogischen Beweisfolge. Bzw. umgekehrt gesagt, erst wenn sich in der universal gültigen Sprache der mengenlogischen Axiome die Existenz eines Gegenstands oder eines Phänomens beweisen lässt, kann der mathematisch denkende Ontologe Badiou dessen Sein akzeptieren, welches er sodann der »Enzyklopädie« des Wissens zuschreibt. An diesem Punkt lässt sich erkennen, wie grundlegend das Verhältnis zur Mathematik bei diesem mathematisch-philosophischen Denker ist. Dieses Verhältnis ist die einzige genuin philosophische Entscheidung, die Badiou der eigenen Aussage zufolge in Das Sein und das Ereignis trifft und die unmittelbar mit der klassischen Frage nach der Ontologie zusammenhängt: Das Sein 4

Die mathematische Präsentation der mengentheoretischen Axiome (einschließlich der Definition der logischen Zeichen) ist Teil des philosophischen Textes, vgl. Badion 2005a: 77ff., 211ff., 535ff. Eine gute allgemeine Einführung in die Mengenlehre (in deutscher Sprache) liefert Deiser (2002).

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als solches ist nicht Gegenstand der Poesie, wie Heidegger behauptet, der dem Verlust der poetischen Kraft und der Seinsvergessenheit nachtrauert, sondern der Mathematik, die ihre letzte Bestimmung im Ereignis der Mengenlehre gefunden hat: »Die Ontologie im eigentlichen Sinne, welche die Geburt der okzidentalen Philosophie darstellt, ist gerade nicht das Hervorkommen des Gedichts in seinem (mächtigen und blendenden) Versuch, das Erscheinen als das Zutagetreten des Seins bzw. als Unverborgenheit zu benennen. Dies geschieht viel früher in der Geschichte und an vielfältigen Stätten (China, Indien, Ägypten ... ). Das griechische Ereignis beruht vielmehr auf dem zweiten Weg, der das Sein subtraktiv auf ideelle bzw. axiomatische Weise denkt. Die eigentliche Erfindung der Griechen besteht darin, dass das Sein sagbar wird, sobald eine Entscheidung des Denkens es von jeglicher Präsenzinstanz abzieht. Die Griechen haben die Dichtung nicht erfunden. Sie haben vielmehr das Poem durch das Mathem unterbrochen« (Badiou 2005a: 146, Herv. i. T.). Mit dieser Entscheidung, dass die ontologische Frage nach dem Sein von jeher eine mathematische Frage ist, spannt Badiou einen großen Bogen vom » Wahrheitsereignis der Mengenlehre«, die sich in die historisehe Sequenz von 1878 bis 1963 einschreibt, bis zurück zur Metaphysik der griechischen Antike, der Ursprungsstätte der Wahrheitsfrage überhaupt. Um den Einsatz dieser Verknüpfung richtig zu situieren, muss man sich vor Augen halten, dass Badiou die Gleichsetzung von Ontologie und Mathematik als Antwort auf die drei Grundfragen der Seinsphilosophie versteht, die im Fragment des Vorsokratikers Parmenides gestellt worden sind (vgl. Platon: Parmenides 160b-166c). Die erste Frage lautet: Was ist das Sein als solches? Hier bleibt Badiou mit Parmenides von der Überzeugung geprägt, dass das Sein im Grunde nichts anderes ist als das Denken selbst. »Das Selbe aber sind Denken und Sein«, heißt es im achten Fragment des Lehrgedichts Über die Natur (deutsch nach Heidegger 1953: 104). Gegen Parmenides beantwortet er dagegen die beiden daran anschließenden Fragen: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« Badiou sagt: Für das Sein entscheidet man sich, indem man denkt. Und das Nichtseiende (welches als solches die Idee der leeren Menge ist) inexistiert auf besondere Weise, nämlich im Modus der Subtraktion, es kann potentiell, durch eine Entscheidung, die mächtig genug ist, zum Sein kommen. Schließlich stellt Parmenides die Frage: »Ist das Sein Eines oder Vieles?«. Darauf antwortet Badiou salomonisch, das ausschließende »oder« aufhebend: Beides. Die Präsentation des Seins als solchem erweist sich als unendliche Vielheit unendlicher Vielheiten, innerhalb derer aber Teilvielheiten durch Rechenopera-

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tionen »als Eins gezählt« werden können. So lautet nach Badiou die moderne Rückversicherung der antiken Gleichsetzung von Ontologie und Mathematik durch die Theorie der Mengenlogik folgendermaßen: Das, was ist, ist insofern, als seine Existenz axiomatisch beweisbar ist. Mit diesem großen Bogen, der Zermelo/Fraenkel über Cantor, Leibniz und Platon mit Parmenides verbindet, erhalten wir den Schlüssel zum ontologischen Begriffsgebäude Badious. Auf der Seite des Seins präsentiert sich alles, was ist, in mannigfaltigen Situationen, deren Verhältnismäßigkeiten und interne Verzweigungen formallogisch analysierbar sind. Der Gegenbegriff des Seins ist sodann das Ereignis, das seinen Einsatz an den Stellen hat, in denen das formallogische System der axiomatischen Mengenlehre auf Widersprüche bzw. Unentscheidbarkeiten stößt. Man weiß seit Gödeis Unvollständigkeitssatz, dass formale Systeme nicht zugleich vollständig und widerspruchsfrei sein können. Setzen wir Widerspruchsfreiheit voraus, so muss es Aussagen geben, die sich zwar in der formalen Sprache ausdrücken, aber nicht aus den Axiomen ableiten oder widerlegen lassen (Gödel 1931 ). Hier kommt der oben erwähnte Paul Cohen ins Spiel, dem es 1963 gelungen ist zu beweisen, dass die beiden grundlegenden Entdeckungen der Mengenlehre, das Auswahlaxiom und die Kontinuumshypothese Cantors, »unabhängig«, d.h. mit den klassischen Axiomen Zermelo-Fraenkels (ohne Auswahlaxiom) nicht entscheidbar sind. Aus diesem Beweis der zwingenden Unentscheidbarkeit der wichtigsten Verhältnissetzungen zwischen verschiedenen Situationen folgt letztlich die Kohärenz des Schemas der Wahrheitsereignisse. Stößt man nämlich in einer Situation aus der Rückbetrachtung einer Folge-Situation auf eine nachweisbare Unentscheidbarkeit, so kann man die Entscheidung >>erzwingen«- »forcen« -,wobei das Werkzeug dieser Erzwingung die generische Menge ist. Mathematisch betrachtet, ist die generische Menge eine besondere Teilmenge, welche aus allen Elementen zusammengesetzt ist, die in der Ausgangsmenge ununterscheidbar sind (und deren Dominanten schneiden). Das Grundmodell der Ununterscheidbarkeit ist dabei die leere Menge, welche das kleinste Element ist, aus dem alle Mengen aufgebaut sind, die sich die Mengenlehre zum Gegenstand nimmt. Philosophisch betrachtet, erhält man mit der generischen Menge ein Werkzeug, mit dem man per Intervention von außen, rückwirkend, diejenigen Eigenschaften einer gegebenen Situation zum Sein kommen lässt, deren Sein aus der Perspektive der Situation selbst undenkbar ist. Dies gilt paradigmatisch flir die »Ereignisstätten« (sites evenementiels) der zu betrachtenden Situationen, die aufgrunddes Verbots der Selbstzugehörigkeit - man kann innerhalb einer Situation nicht wissen, ob sie ereignishafte Teile enthält, die in der Folge zur Wahrheit 171

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führen können-, nie entscheidbar sind und somit immer, in Abhängigkeit von der Konsistenz der Treueprozeduren der Subjekte, nachträglich unterschieden und benannt werden müssen: »Die generische Orientierung des Denkens [... ] lässt das Sein unbenennbarer bzw. ununterscheidbarer Teile zu. Sie sieht in solchen Teilen sogar den Ort der Wahrheit. Denn eine Wahrheit ist ein Teil, der durch Sprache ununterscheidbar ist (gegen den Konstruktivismus) und der trotzdem nicht transzendent ist (gegen die Onto-Theologie). Das generische Denken ist die ontologische Entscheidung, die jeder Theorie zugrunde liegt, welche versucht, die Wahrheit als Lücke des Wissens zn denken« (Badiou 2005a: 543). Rekapitulieren wir, mit anschaulichen Mitteln, im Hinblick auf die ftlnf Hauptbegriffe- Ereignis, generische Situationen, Wahrheit, Treue, Subjekt - noch einmal die Gesamtbewegung des Gedankengebäudes: Alles was existiert, entfaltet sich in einem Geflecht natürlicher Situationen, deren Abfolge, Verhältnissetzungen und strukturale Gesetzmäßigkeiteil ontologisch, in Bezug auf ihr Sein, mittels der mathematischen Mengenlogik beschreibbar sind. Dieses Sein wird philosophisch, noch bevor es zur Sprache kommt, als das Denken der jeweiligen Situation selbst gefasst. Solange es sich um normale, abzählbare oder strukturierbare Situationen handelt, ist dieses Sein berechenbar und lässt sich auf natürliche Weise als Gegenstand des Wissens oder der Enzyklopädie darstellen. Sobald aber der normale Verlauf der mannigfaltigen Konstellationen an bestimmten historischen Sequenzen durch um1atürliche Situationen unterbrochen und in Frage gestellt wird, bricht das Denken aus sich selbst heraus in das bestehende Wissen ein und verändert dessen Parameter. Dies sind die Ereignisse, deren struktural unbestimmbare Stätten in der Situation liegen, aber aufgrund der Ununterscheidbarkeit ihrer Elemente für die Situation selbst unerkannt bleiben und ontologisch nicht zur Präsentation kommen. Konsistent werden diese Ereignisse erst, wenn ihre Präsentation erzwungen wird. Das ist die Aufgabe der Treueprozedur, durch die sich die Subjekte konstituieren, welche aber nur dann gelingt, wenn der Eingriff einer generischen Treue entspricht, d.h. wenn die Benennung des Ereignisses - seine Überführung in die natürliche Sprache -allein aus denjenigen Elementen zusammengesetzt ist, die in der Situation ununterscheidbar sind. Die Elemente, die mit dem Namen des Ereignisses in der Folge treu verknüpft werden, müssen also genuin zu dessen Stätte gehören. Sie müssen zugleich absolut neu sein und zudem Anspruch auf universale Gültigkeit erheben. Ein Ereignis wie die Französische Revolution, das seine Stätte in einer bestimmten historischen Situation einnimmt- also etwa das Frank172

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reich von 1789 bis 1794 -, wird nicht durch die Historiker benannt, die laut Badiou allein die Elemente dieser Stätte abzählen: »die Wahlmänner der Generalstände, die Bauern der Großen Angst, die Sansculotten der Städte, das Personal des Konvents, die Jakobinerklubs, die Soldaten der Massenaushebung, die Lebensmittelpreise, die Guillotine, die englischen Spione, die Aufständischen der Vendee, die Assignaten, das Theater, die Marseillaise usw.« Die wahre Benennung des Ereignisses muss aus sich selbst heraus geschehen, aus den generischen Elementen ihres Seins bzw. aus der Folge ihres eigenen Denkens. Der Historiker läuft bei der Inventarisierung der Stätte Gefahr, »dass die Elemente des Ereignisses so weit zerlegt werden, dass es gerade nichts anderes mehr als die stets unendliche Aufzählung der Gesten, Dinge und Worte ist, die mit ihm koexistieren«. Für Badiou ist es das Sein selbst, welches dieser Verzweigung eine Grenze - oder mathematisch: einen Limes - entgegensetzt: »Der Haltepunkt dieser Verzweigung ist der Modus, in dem die Revolution ein axialer Term der Revolution selbst ist, d.h. die Art und Weise, in der das Bewusstsein der Zeit- und der rückwirkende Eingriff unseres Bewusstseins - die gesamte Stätte durch das Eins ihrer ereignishaften Qualifizierung filtert« (Badiou 2005a: 207, Herv. i. T.). An dieser Stelle lässt sich Badious Schema der politischen Treueprozedur verallgemeinern. Die generischen Treueprozeduren sind diejenigen Situationen des Gesamtbereichs des menschlichen Denkens und Handelns, deren potentielle Wahrheit an bestimmten Punkten ihrer Unterbrechung durch eine ontologische Illegalität oder eine logische Unentscheidbarkeit zum Ausdruck kommen kann. Es gibt wie e1wähnt nur vier solcher Prozeduren: die Politik, die Wissenschaft, die Kunst und die Liebe. Dies sind die vier Arten der Existenz, deren logisches Gefüge nicht exhaustiv zu erfassen ist bzw. deren Sein überhaupt nur dann wahrhaft zur Geltung kommt, wenn es das logische Gefüge der normalen Existenzweisen aufhebt. Nun unterscheiden sich diese vier generischen Prozeduren durch die Beschaffenheit der ereignishaften Situationen, die einander gegenübergestellt werden müssen, damit die Subjekte sich durch die Eingriffe ihrer Treue konstituieren und der Wahrheit zum Sein verhelfen können. Oder um es noch einmal mathematisch zu sagen: Die generischen Prozeduren unterscheiden sich durch die Mächtigkeit der Vielheiten, die zueinander in Bezug gesetzt werden, um durch die Zählung der ununterscheidbaren Elemente die Entscheidung einer Unentscheidbarkeit zu erzwingen. In der Liebe werden gewöhnlich nur zwei Subjekte benötigt, um die Wahrheit eines Ereignisses für sich zu entscheiden. Der Wissenschaftler benötigt für die Anerkennung, dass seine Beweisführung lückenlos ist, die überschaubare Gemeinschaft seiner Fachkollegen. Der Künstler braucht im Prinzip überhaupt niemanden 173

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und es kann sehr lange Zeiträume in Anspruch nehmen, bevor die ästhetische Erfahrung einer ebenfalls überschaubaren Gemeinschaft von Lesern, Hörern oder Betrachtern zur Anerkennung seiner künstlerischen Wahrheit führt. Wissenschaft, Kunst und Liebe sind, wie Badiou sagt, »aristokratische Wahrheitsprozeduren« (Badiou 2003a: 152). Die Politik zeichnet sich nun dadurch aus, dass sich in ihrem Bereich die Wahrheitsfrage - ontologisch- aus der Konfrontation zweier Situationen heraus entscheidet, die beide unendlich sind. Die Wahrheit der politischen Entscheidungen, der subjektiven Eingriffe in das Sein der Politik, muss universelle Gültigkeit haben. Die Politik ist, wie Badiou sagt, die einzige Wahrheitsprozedur, die nicht nur in ihrem Ergebnis, also den zur Sprache gekommenen Elementen ihrer Ereignisstätte, sondern auch »in der lokalen Zusammensetzung des Subjektes generisch ist.« Oder anschaulich gesagt: Politisch ist nur ein Denken, welches das Denken aller ist. Ein politisches Denken ist nur dann wahr, wenn seine Wahrheit immer für alle auf die gleiche Weise gültig ist. Die Topologie des politischen Denkens ist die Universalität, die philosophisch durch den klassisch marxistischen Begriff des »Kollektivs« übersetzt wird: »Ein Ereignis ist politisch, wenn die Materie dieses Ereignisses kollektiv ist oder wenn das Ereignis ausschließlich der Mannigfaltigkeit eines Kollektivs zugeschrieben werden kann. >Kollektiv< ist hier kein numerisches Konzept. lch nenne das Ereignis ontologisch kollektiv, insofern dieses Ereignis einen virtuellen Anspmch an alle transportiert. >Kollektiv< ist unmittelbar universalisierend. Die Wirklichkeit der Politik gehört der Behauptung an: >Es gibt ftir jedes x DenkenDenken< bezeichne ich eine beliebige Wahrheitsprozedur, die in Subjektivität ergriffen wird. >Denken< ist der Name des Subjekts einer Wahrheitsprozedur. Durch das Wort >kollektiv< wird also anerkannt, dass zu einem Denken, wenn es politisch ist, alle gehören. Anders als bei den anderen Wahrheitstypen [Wissenschaft - Kunst - Liebe] ist dies nicht nur eine Frage der Adresse. Gewiss wendet sich jede Wahrheit an alle. Aber im Fall der Politik ist die Universalität wesentlich und nicht bloß schicksalhaft. In der Politik gilt, dass das Denken, welches das Subjekt definiert, jederzeit ftir alle verftigbar ist« (Badiou 2003a: 151, Herv. i. T.). Das Politische zu denken heißt, dem Denken der Politik selbst zu folgen. Dies ist die Aufgabe der politischen Philosophie, nämlich Metapolitik zu sein. »Unter >Metapolitikdas Politische< zu denken« (Badiou 2003a: 13). Insofern kommt es dem Philosophen Badiou eher darauf an, die Bedingungen zu beschreiben, unter denen bestimmte ereignishafte Sachverhalte politisch genannt werden können, als bestehende Politiken (die nur in den seltensten Fällen den strengen Wahrheitsansptüchen gerecht werden können) zu beurteilen. Abschließend will ich das Schema der politischen Treueprozedur aus Badious eigener politischer Erfahrung heraus exemplifizieren: Badiou versteht sich selbst, wie es aus seiner Sicht jeder Mensch tun sollte, als politisches Subjekt, als Teil einer Treueprozedur bzw. als engagierter Aktivist oder militant, wie man im Französischen sagt. Die besondere Stellung, die der Politik als generischer Treueprozedurpar excellence in der Philosophie Badious zukommt, erklärt die Radikalität seiner politischen Position. Politik ist bei Badiou keine Ethik, keine Theorie des gerechten Handelns, noch weniger ein Ort des Konsenses zwischen Interessensgruppen. Politik stellt immer den Ort eines Kampfes dar, in dem sich die Treue der Aktivisten dadurch erweist, dass sie die Stimme für die Unterdrückten erheben, für die Nichtrepräsentierten, für diejenigen, die von den Strukturen der jeweils herrschenden Macht nicht gezählt werden. Die aktuelle Stätte des Politischen befindet sich, das Ereignis des marxistischen Paradigmas treu fortschreibend, auf der Straße, vor den Toren der Fabriken, in den kommunalen Versammlungen, die dem heutigen »Proletariat«, also den Arbeitslosen oder den Flüchtlingen, eine Heimstätte geben. Wenn man die politische Landschaft nach der Sitzordnung eines imaginären Parlamentes anordnen würde, so ist angemerkt worden, dann gebühre Badiou der Platz ganz links außen (Hetze) 2004: 211 ). Dies ist jedoch insofern nicht ganz richtig, als auch die extrem linke Position aus der Sicht von Badiou der Gefahr des Dogmatismus ausgesetzt ist. Badious Position ist noch radikaler. Für ihn kann die Politik gar nicht repräsentiert werden, sofern sie das Denken der Wahrheit bleiben möchte. Dort, wo das politische Denken durch Interessengruppen vertreten wird, kann die Wahrheit nicht liegen, denn die Wahrheit, so schreibt er in seiner Ethik, ist »in ihrer Erfindung die einzige Sache, die für alle da ist, und daher vollzieht sie sich in der Wirklichkeit nur gegen die herrschenden Meinungen, die nie für alle, sondern immer nur für einige arbeiten« (Badiou 2003b: 49, Herv. i. T.). Daraus erklärt sich seine Position gegen jede Form der Identitätspolitik, auch wenn diese für bestimmte Minderheitsrechte eintritt, was in gewissen historischen Situationen seine Berechtigung hat, niemals aber dem Anspruch der universalen Wahrheit genügen kann. Daraus erklärt sich auch die viel kritisierte Position gegen den Parlamentarismus der modernen Demokratien, in denen der 175

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Staat sich nicht fiir Belange der Menschen als solche interessiert, sondern sie stets nur statistisch als Wähler, als Konsumenten oder als Objekte der Überwachung repräsentiert. Die dezidiert antiparlamentarische, ja antidemokratische These lautet, dass der Staat selbst »gerade nicht politisch ist, da man an ihm nichts ändern kann, außer den ihn führenden Händen, was bekanntlich wenig strategische Bedeutung hat« (Badiou 2005a: 130). Die Politik stellt also den Raum subjektiver, ereignisabhängiger Treueprozeduren dar, die abseits der Parlamente und gegen die Machtstrukturen eines Staates gerichtet, letztlich der ursprünglichsten aller Maximen der Revolution von 1789 genügen muss, nämlich der Behauptung von Gleichheit und Gerechtigkeit im Sinne einer >>Universalen Singularität«. Das große Vorbild für Badious politisches Denken ist JeanJacques Rousseau, dessen Gesellschaftsvertrag in seiner radikalen Interpretation als das politische Ereignis schlechthin gedacht wird, mit dem »Treueoperator« eines absoluten Gemeinwillens, der ohne jegliche Repräsentation, ohne Vermittlung eines Fremdwillens, das genuine »Verhältnis der gemeinsamen Zugehörigkeit des Volkes zu sich selbst« (Badiou 2005a: 390) zum Ausdruck bringt. Historisch gesehen, haben vor Rousseau die politischen Ereignisse dem Anspruch einer universellen Wahrheit nicht vollständig genügen können. Vor der Erfindung der generischen Souveränität haben sich in den für Badiou interessanten politischen Sequenzen stets nur Teilwahrheiten ereignet, praktisch in der Bewegung des Spartakus und den Folgeereignissen (Badiou 2005b: 95105) oder theoretisch in den Briefen des Apostels Paulus, welcher mit seiner Kritik am Gesetz, das zwischen Juden und Griechen, Männern und Frauen, Herren und Sklaven unterscheidet, für Badiou der eigentliche Begründer des Universalismus ist (Badiou 2002: 141-159). Anhand der Namen, die in der badiouschen Politikgeschichte auftauchen, lässt sich die Stringenz in der Abfolge der historischen Wahrheitsereignisse erkennen. Während der Französischen Revolution selbst sind Saint-Just und Robespierre (vor dessen Korruption) die treuesten Verfechter der rousseauschen Idee der Absolutheit des Gemeinwillens. Nach der Revolution, der genuinen Stätte der ontologischen Wahrheit der Politik, heißen die treuesten Subjekte der generischen Treueprozedur, auch dies ist für einen Schüler Althussers wenig erstaunlich, Marx und Lenin. Es bleibt jedoch die Frage, ob es auch heute noch möglich ist, in der politischen Praxis einer potentiellen Wahrheit treu zu sein. Auf diese Frage gibt Badiou, der in der philosophischen Landschaft Frankreichs jüngst für so viel Aufruhe gesorgt hat, 5 eine erstaunlich leise 5

Vgl. die polemischen Angriffe gegen Badiou von Seiten des französischen Feuilletons anlässtich der »Gelegenheits«-Büchlein über die politische

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Antwort. Seit den 1980er Jahren agiert Badiou als politischer Aktivist streng nach seinen philosophischen Prinzipien, wozu auch gehört, dass er anonym handelt, als Teil einer ununterscheidbaren Vielheit, die er durch seinen berühmten Namen nicht beherrschen möchte. Das politische Engagement hat fur Badiou im Ursprung auch familiäre Gründe. Sein Vater, der Mathematiker Raymond Badiou, kämpfte als Mitglied der kommunistischen Splittergruppe Section franr;aise de l 'internationale ouvriere aktiv in der Resistance und war ab 1944 für 14 Jahre Bürgermeister von Toulouse. Alain Badiou, 1937 in Maroldm geboren, wurde als Kind gleichsam in der Klandestinität sozialisiert, welche dann nach dem Krieg in den Kompromiss einmündete, den der moderate französische Kommunismus mit der Bürgerlichkeit geschlossen hatte. Als Badiou 1960 die Ecole normale superieure als bester seines Jahrgangs mit der Agregation abgeschlossen hatte, blieb er an dieser Institution und wurde in die Gruppe um Louis Althusser aufgenommen, in dessen Seminaren viele der späteren Größen der Französischen Intelligentsia versammelt waren: Jacques Lacan, Michel Foucault, Pierre Macherey, Etienne Balibar, Jacques Ranciere... Hier zeichnete sich Badiou durch vermeintlich extremistische Positionen aus, die ihm den Ruf des Maoisten einbrachten, einen Ruf, den er auch als junger Professor an der Universität Vincennes zunächst zu verteidigen suchte, etwa durch Gründungen politischer Gruppen wie der Union des communistes de France marxiste-leniniste oder der Groupe Foudre, die sich als »groupe maolste d'intervention dans l'art et Ia culture« verstand. 6 Dochall diese lärmenden Versuche, sich im Feld der Politik zu bewegen, zählen für Badiou heute nicht mehr, auch wenn er manchmal mit der von außen an ihn herangetragenen Fama des Extremisten kokettiert. Seit seiner Arbeit an Das Sein und das Ereignis in den 1980er Jahren, welche als das philosophische Ereignis in der Biographie Badious gelten kann, gibt es nur noch ein einziges politisches Organ, das er aktiv unterstützt, nämlich die so genannte Organisation politique, die er 1984 zusammen mit seinen Freunden Sylvain Lazarus und Natacha Michel gegründet hat (vgl. Hallward 2003a: 167ff. ). Die Organisation politique versteht sich in der Ursprungsidee exakt als der Versuch, den theoretischen Prinzipien der Politik als generischer Treueprozedur zu folgen. Die Organisation politique ist als Gegensatz zur Form der klassischen politischen Partei konzipiert und prinzipiell offen für jede Form der Partizipation. Die Positionen, die gleichsam basisdemokratisch entwickelt

6

»Tragweite des Wortes >jüdisch«< (Badiou 2005c) und die »Bedeutung des Namens Sarkozy« (Badiou 2007). Zu den frühen Elementen der politischen Biographie Badious vgl. Barker 2002: 13ff. sowie Bosteels 2005. 177

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werden und stets die Stimme der Betroffenen selbst zu verkörpern suchen, welche aufgrundvon Exzessen politischer Macht unberücksichtigt bleiben, werden in der vierteljährig erscheinenden Zeitschrift La distance politique publiziert. Die Texte, die stets anonym erscheinen, auch wenn Badiou selbst zur Feder greift, sind Aufsätze und Leitartikel über Demonstrationen und Versammlungen, Interviews mit Arbeiter- und Immigrantengruppen, Analysen von Wahlergebnissen sowie allgemeine Diskussionen darüber, »was zu tun ist«. Die Organisation politique ist in der Praxis der französischen Zeitgeschichte immer wieder auf den Plan getreten, so in den 1980er Jahren zur Verteidigung der Arbeiter während der großen Streiks von Billancourt und Montreuil, oder erst jüngst zur Verteidigung der Bewegung der Sans-papiers. All diese Aktionen zeigen, bei aller Bescheidenheit des Erfolgs, die grundlegende Überzeugung Badious, dass es immer möglich ist, zumindest annäherungsweise und stets auf die Vorraussetzungen und Strukturen einer bestehenden Situation gerichtet, der großen Frage der Politik treu zu sein. Nur hängt es wesentlich von den handelnden Subjekten ab, ob ein politisches Denken wahrheitsfähig ist. Denn »wenn die Wahrheit existiert«, so kann man die Praxis der politischen Ontologie Badions zusammenfassen, dann existiert sie »in actu, im Detail einer übernommenen Verpflichtung oder einer Kampagne. Die Philosophie als solche kommt immer erst nach der Handlung« (Hallward 2003b: 180).

Literatur Ashton, Paul/Bartlett, A. J./Clemens, Justin (Hg.) (2006): The Praxis of Alain Badiou, Melbourne. Badiou, Alain (1975): Theorie de Ia contradiction, Paris. Badiou, Alain!Balmes, Francais (1976): De !'Ideologie, Paris. Badiou, Alain (1985): Peut-on penser Ia politique?, Paris. Badiou, Alain (1988): L'etre et l'evenement, Paris. Badiou, Alain (I 992): Conditions, Paris 1992. Badiou, Alain (1993): L'ethique. Essai sur la conscience du mal, Paris. Badiou, Alain (1997): Saint-Paul. La fondation de l'universalisme, Paris. Badiou, Alain (1998a): Abrege de metapolitique, Paris. Badiou, Alain (1998b): Court traite d'ontologie transitoire, Paris. Badiou, Alain (I 998c): D'un desastre obscur. Sur Ia fin de Ia verite d' Etat, Paris. Badiou, Alain (1999): »La sc(me du Deux«. In: De l'amour, hg. v. Ecole de Ia cause freudienne, Paris, S. 177-190. 178

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die politische Einbettung des Schreibens in ein kollektives Projekt, hier in das des Comite d'action etudiants-ecrivains au service du mouvement, das ja schon im Namen den Schriftsteller in den »Dienst« der politischen Sache, »der Bewegung« stellt. Ein »Kommunismus des Schreibens« wäre dann weniger ein kollektivistisches Einebnen der Eigentümlichkeiten und Leugnen der Leistungen des einzelnen Schreibenden als ein Würdigen und Herausstellen des Praxis- und Gemeinschaftscharakters noch des einzelnen Schreibens, das mit dem nie nur individuell verfügbaren Produktionsmittel der Sprache immer schon von Ressourcen zehrt, die es selbst nicht bereitstellen kann. Dass ein so hochidiosynkratischer Autor wie Blanchot die Kollektivität oder Kommunalität des Schreibens hervorhebt, kann nicht bedeuten, dass die Art von Gemeinschaftlichkeit, die sich im gemeinsamen Dienst an einer Sache herstellt, die einfache Form einer Kooperation annimmt. Der »Kommunismus des Schreibens« muss eher einen Raum des bezogenen Schreibens bezeichnen, in dem Texte, Botschaften und Handlungen miteinander kommunizieren, ohne sich in der einen gemeinsamen Sprache zu vereinen. 24 Aber auch hier gilt, was flir die »Weigerung« und den Widerstand als Projekt galt: Das Schreiben ist kein Werk und kein Ins-Werk-Setzen, sondern immer auch eine Zerstreuungs- und Verflüchtigungsbewegung.25 Die publizistische politische Intervention stellt dies aufbesondere Weise aus: Einerseits enorm zweckhaft und direkt, sind die politischen Flugblätter und Plakate zugleich in ihrer Zeitgebundenheit auf eine unbeherrschbare Weise ephemer und darin mehrdeutig. In einem weiteren fragmentarischen Text flir Comite huldigt Blanchot diesen Texten (lange vor Baudrillards Eloge der Graffitis), gerade weil sie etwas über das Schreiben selbst offenbaren: »Flugblätter, Anschläge, Communiques, Straßenworte oder unendliche Worte [paroles], die sich nicht aus der Sorge um Effizienz heraus aufdrängen. Effizient oder nicht, sie gehören der Entscheidung des Augenblicks an. Sie erscheinen, sie verschwinden. Sie sagen nicht alles, im Gegenteil, sie führen alles dem Ruin zu, sie sind außerhalb von allem. Sie handeln, reflektieren auf fragmentarische Weise. Sie hinterlassen keine Spur: Linie ohne Spur. Wie die Worte an den Wänden werden sie in der Unsicherheit geschrieben, werden in 24 Blauehots Formel vom »Kommunismus des Schreibens« zitiert möglicherweise die Hölderlin zugeschriebene, apoktyphe Rede vom »Communismus der Geister«, bezieht sich aber auch, wie Marcus Coelen (in seinen »Vorbemerkungen«, in: PS, 7-1 7, hier: l2f., und im Kommentar zu diesem Text, PS, 101) überzeugend zeigt, auf Dionys Mascolos Rekonstruktion des Kommunismus als einer Theorie der Kommunikation von Werten und Bedürfnissen. Vgl. Blauehots Text über Mascolo (1971: 109-114). 25 Zum Verhältnis von Schreiben und Zerstreuung bei Blauehot vgl. Bürger (1998: bes. 200f.). 192

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der Bedrohung empfangen, tragen selbst die Gefahr mit sich, gehen vorüber mit dem Passanten, der sie übermittelt, sie verliert oder sie vergisst.«26 Was Blauehot in vielen anderen Texten desa!uvrement nennt, beschreibt er hier als einen Effekt, einen Zug des politischen Schreibens: Sie setzen ins Werk und setzen das Werk zugleich aus, sie desorganisieren, was sie der politischen Organisation zuführen. 27 Aber trotz dieser Destrukturierung und Entsetzung des Schreibens und durch das Schreiben, das keine gutgemeinte Intention und keine programmatische Absicht verhindern kann, besitzt das Schreiben, besitzt die schreibende Intervention eine Kraft, die ihr genau deshalb zukommt, weil sie nicht nur zielgerichtet ist und damit gegen die bloße Instmmentalität der Macht opponieren kann. Aus diesen Gründen kann sich Blanchot überraschenderweise auch die Rede von der Rolle des Intellektuellen zu eigen machen, der er allerdings eine ganz eigene Wendung gibt. 28 In seinem schon zitierten Brief an Sartre im Zusammenhang mit dem »Manifest der 121« fasst er seine Erfahrung zusammen: »So sind sich die Intellektuellen dieser neuen Macht bewusst geworden, die sie darstellen, sowie, wenngleich auf unklare Weise, der Originalität dieser Macht (Macht ohne Macht)« (PS, 56). Diese paradoxale »Macht ohne Macht« spiegelt die paradoxe Gemeinschaft ohne Gemeinschaftlichkeit, die sich in der politischen Kooperation, im gemeinsamen Kampf einstellt, ohne dass sie auf völlig einigen Interessen, Ausgangslagen oder Feindschaftserklärungen beruhen würde. In vielen seiner übrigen Texte, oft in Auseinandersetzung mit Bataille, hat Blauehot diese Figur der grundlosen Gemeinschaft umkreist, einer Gemeinschaft derer, die nichts gemein haben. 29 Auch seine politischen Texte bauen auf ihr auf, denn der »Kommunismus des 26 Blanchot, »Flugblätter, Anschläge, Communiques« (1968), in: PS, 123124, hier: 124/EP, 120, Übers. geänd. 27 Zum kaum übersetzbaren Begriff des desceuvrement vgl. die diesbezüglichen Bemerkungen in Die uneingestehbare Gemeinschaft (Blanchot 2007a: 9-49, bes. 24-26, 60, 94-98), die sich an Überlegungen Batailles und Jean-Luc Nancys orientieren; vgl. Nancy (1983, 1999) und die Erläuterungen von Gelhard (2005: 191-212). 28 Vgl. vor allem den späten Text »Die Intellektuellen im Kreuzfeuer« (Blanchot 1991); zu dessen Subtexten und Kontexten vgl. Bruns (1997: 254262). 29 Vgl. die Bemerkungen zur Frage der Bataille'schen Acephale-Gemeinschaft, der »Kopflosigkeit« (decapitation) und der »negativen Gemeinschaft«, in Die uneingestehbare Gemeinschaft, a.a.O., 29-38, und die Bataille gewidmeten Abschnitte in L 'amitie (Blanchot 1971: 326-330); zu Nancy und der Frage der Gemeinschaft vgl. Derrida (2000), Bonacker (2002), Gelhard (2005: 266-275) und Bedorf(2005, 2007). 193

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Schreibens« ist ein Zusammenhang, eine Beziehung von Schreibenden, die noch nichts gemeinsam haben. Die Praxis der Anonymität des Schreibens und die Reflexion auf die gemeinschaftsstiftende wie gemeinschaftsentziehende Kraft des Schreibens artikulieren also eine Einsicht in das »Wesen« der Politik oder des Politischen, wenn dieses Wort hier angebracht ist - und anders als Carl Schmitt oder Claude Lefort macht Blanchot hier keine bedeutsame terminologische Unterscheidung. Aber für Blauehot ist dies zugleich ein »Unwesen« des Politischen, nämlich ein Entzug, keine Beziehung zum erklärten Feind, sondern eine Unbezogenheit, eine Beziehungslosigkeit von gleichwohl aufeinander bezogenen Individuen. Dass dieser Bezug stattfindet, ist Politik. Die dritte Signatur, das dritte Merkmal des politischen Schreibens von Blanchot ist also eine ernsthafte, extreme Reflexion auf den Ort und die notwendige Ortlosigkeit des politischen Schreibens oder Sprechens und auf die unvermeidbare Entindividualisierung im Schreiben und im politischen Handeln und auf den prekären Status dessen, der spricht und handelt, in einem Raum zwischen absoluter Anonymität und festgesetzter Gemeinschaftlichkeit.

Schluss: eine Politik des Schreibens Hat der Versuch, den Zusammenhang von Blauehots »politischen Schriften« über eine Serie von Topoi des Politischen zu erschließen, ein Ergebnis? Was ergibt sich daraus, dass sich in diesen Texten eine Landschaft, eine Topik der Politik oder des politischen Schreibens abzeichnet? Diese Ortsbestimmung und Rekonstruktion ergab, dass für ihn erstens der Anlass der politischen Stellungnahme als eine aufgezwungene, dem Gebot von Dringlichkeit und Forderung folgende Reaktion zu kennzeichnen ist, dass sich zweitens der Modus der politischen Intervention als einer der aussetzenden und zurückweisenden Weigerung und des »Bruchs« benennen lässt und dass drittens der Ort der politischen Intervention als ein nicht von einem Autorsubjekt allein bewohnter Raum der Anonymität und der nicht vorauszusetzenden Gemeinschaft zu bestimmen ist. Eine solche Charakterisierung der Anlässe, der Funktionsweisen und der »Standpunkte« des politischen Schreibens Blauehots ist sicher keine Konstruktion oder Rekonstruktion von Blauehots politischer Theorie; eine solche besitzt er nicht. Seine Form der politischen Intervention kann aber zumindest als Modellfall einer politischen Praxis, eines Schreibens zur und anlässlich der Politik, betrachtet werden, das sich zur Politik verhält und sich in eine Beziehung zum Politischen setzt. Denn 194

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Blauehots Ecrits politiques sind keine Schriften »über« Politik und weit davon entfernt, wie die vieler seiner Zeitgenossen in benachbarten Milieus (wie Sartre, Castoriadis, Merleau-Ponty, Lefort oder Althusser) in politisch-historische Erläuterungen und empirische Analysen zu münden. Blauehots politische Texte bleiben wesentlich okkasionell, d.h. wesentlich vom Anlass erfordert und dem spezifischen historischen-politischen Fall verpflichtet. Blauehots Beitrag zur Debatte um (d.h. »für« oder »wider«) den spezifischen oder universellen Intellektuellen besteht darin, daran zu erinnern, dass der Intellektuelle seit seinem historischen Auftauchen in der Dreyfus-Affäre nie mehr getan hat als den Mut aufzubringen zu sprechen, wo jeder hätte sprechen können, und dass er »nur vorübergehend und für eine genau umrissene >Sache< Intellektueller ist, nur einer unter anderen ist, der die Hoffnung hat (und sei sie vergeblich), sich wieder in der dunklen Unscheinbarkeit aller zu verlieren und in eine Anonymität einzutauchen, die ja gerade sein tiefstes und stets geleugnetes Bestreben als Schriftsteller oder Künstler ist« (Blanchot 1991: 235). 30 Was aus dieser Praxis der politischen Intervention für die Politik folgt, ist, dass es keine »Politik des Intellektuellen« (oder des Schriftstellers) in dem Sinne gibt, dass dieser die politische Order ausgeben oder die politische Ordnung selbst »entwerfen« würde- und man darf vermuten, dass der politische Journalismus Blanchots in der Vorkriegszeit eine solche Prämisse noch gehabt hatte. Der Intellektuelle oder Schriftsteller wird in bestimmten, ereignishaft anbrechenden Fällen zur Politik, zur politischen Stellungnahme genötigt, weil er ihr wesentlich fremd gegenübersteht, gerade weil das Schreiben der Politik heterogen ist, weil die »Macht ohne Macht« der Intellektuellen gerade keine (normale, politische) Macht ist. Das würde heißen, dass ein Riss oder Bruch zwischen Schreiben und Politik immer bestehen bleibt, der Schriftsteller durch seine Intervention nicht zum Politiker wird, sondern im Raum des Politischen im Extrem-, im Krisen- oder Ernstfall, der zur Stellungnahme nötigt, etwas Anderes erscheinen lassen muss, das die Politik ihrerseits von außen verpflichtet, das aber weder vollständig in Politik aufgeht, noch einen Grund in einer positiven Ethik hätte: der Wille des Volkes, die Freiheit, die (grundlose) Gemeinschaftlichkeit. Wo diese ihrerseits nie vollständig politisierbaren, vermachtbaren Grenzen und Außenseiten der Politik in die Verfügung und Verregelung der politischen Macht gelangen, steht das Politische als solches auf dem Spiel, droht die Gefahr (oder das Verhängnis) der Implosion der Politik in die reine Immanenz der Macht. 31

30 Ganz ähnliche Überlegungen zur Rolle des Intellektuellen finden sich bei Gilles Deleuze und Michel Foucault (vgl. 2001).

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Blanchots Interventionen sind von diesem Extremfall, dieser Krise her motiviert, in dem die Politik selbst in Frage steht/2 ihr extremer, ja militanter Charakter ist gerade kein Ruf nach einer grenzenlosen Politisierung, sondern ein Einspruch gegen die grenzenlose Ausdehnung der politischen Ordnung, ihr Total- und Totalitär-Werden. Daraus folgt aber, dass die Intervention des Schriftstellers (oder Intellektuellen) kein Griff nach der Macht sein kann, sondern nur eine Abwehr, nur eine Befragung der Politik der Macht. Darin ist sie zugleich viel mehr, nämlich Bestreitung, Anfechtung, Kritik der Macht. Sie »macht« keine Politik, sondern verhindert, dass es nur noch Politik gibt. Auch die »Revolution« ist nicht der zukünftige Moment der Machtübernahme, ab dem alles anders wird, sondern der immer schon vergangene Moment, in dem man verhindern konnte, dass alles beim Alten bleibt. Ein politisches Schreiben, das sich heute von dieser Praxis inspirieren ließe, und eine politische Theorie, die solche Impulse aufnehmen könnte, würden sich also nicht scheuen müssen, dem Begriff der so verstandenen Militanz einen Platz einzuräumen; und die Zuspitzung auf den Fall und die Praxis der Verweigerung als des exemplarischen Falls, des eigentlichen Falls politischen Handeins könnte gegen den Anschein des A- oder Antipolitischen verteidigt werden. 33 Nur eines könnte eine solche Praxis oder eine solche Theorie nicht von dem politischen Schriftsteller Maurice Blanchot lernen: Wann gerrau sie heute einzugreifen, einzurufen und was genau sie heute zu bestreiten hätte. Dies bliebe heute, wie immer schon, selbst eine politische Frage. 34

31 Eine solche, hier nur unvollständig entwickelte Charakterisierung des Standpunkts Blanchots zur Politik in der Nachkriegszeit würde es einerseits erlauben, einen radikalen »Bruch« mit den nationalrevolutionären, in einem gewissen Sinn »totalitären«, d.h. auf eine totale politische Ordnung gerichteten Aspirationen von Blanchots politischem Journalismus der dreißiger Jahre zu konstatieren, ohne andererseits die Behauptung nötig zu machen, dieser Standpunkt liefe auf »Anarchismus« hinaus; vgl. Bruns (1997: XXlf., 235-265), der mit diesem Begriff sogar das verbindende Element von Blanchots literaturtheoretischen, literarischen und politischen Projekten bezeichnen will. 32 Vgl. Niederberger (2008). 33 1n eine solche Richtung gehen - mit völlig unterschiedlichen Akzentsetzungen - etwa Hamacher (1994), Holloway (2004), Hoy (2005) oder Brossat (2006). 34 Anlass flir eine erste Fassung des vorliegenden Textes war ein Maurice Blanchot-Kolloquium am Institut ftir Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. im Juli 2007. lch bedanke mich bei Wemer Hamacher flir die Einladung und vielfältige Unterstützung und bei Andreas Gelhard und Michael Eggers flir hilfreiche Diskussionen.

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Demokratisch-Werden: Gilles Deleuzes und Felix Guattaris politische Philosophie· PAUL PATTON

Deleuze bezeichnete seine Arbeit mit Guattari oft als Philosophie, gelegentlich gar als politische Philosophie, etwa wenn er berichtet, wie er begann, sich mit spezifischen politischen Problemen rund um den Mai 1968 zu beschäftigen, und er behauptet: »Der Anti-Ödipus ist von Anfang bis Ende ein Buch der politischen Philosophie« (Deleuze 1993c: 244). 1 Dies ist für viele politische Philosophen ein verblüffender Anspruch, da in Deleuzes und Guattaris gemeinsamen Schriften normative Fragen zur Rechtfertigung, zu den Grundlagen und Grenzen politischer Macht oder zu den Prinzipien einer gerechten Gesellschaft weitgehend fehlen. Nur beiläufig diskutieren sie institutionelle Formen politischer Macht und dann immer aus der Perspektive einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft, die auf den Begriffen des Begehrens/ der Wunschmaschinen oder- wie in Tausend Plateaus beschrieben- auf verschiedenen Formen von Gefügen (agencement) beruht.' Sie verwenden nicht die

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Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Hechler. Besonderer Dank gilt Daniela Voss. In einem Interview nach der Veröffentlichung von Mille Plateau.x (1980) antwortet Deleuze auf die Frage, in welchen Bereich dieses Buch fallt: »In die Philosophie, nur der Philosophie, im traditionellen Wortsinn« (Deleuze 2005a: 169). In einem Interview aus dem Jahr 1988 sagt er: »Eine Philosophie - Felix Guattari und ich haben versucht, so etwas zu machen, im Anti-Ödipus und in Tausend Plateaus, vor allem in Tausend Plateaus, die ein dickes Buch ergeben und viele Begriffe vorschlagen« (Deleuze l 993b: 199). Der Begriff Desir (engl.: desire) wurde gelegentlich- etwa im Anti-Ödipus- mit >Wunsch< übersetzt. Im Folgenden wird dieser Begriff mit Ausnahme der Wunschmaschinen mitBegehren wiedergegeben (A.d.Ü.). Anti-Ödipus entwickelt eine Theorie des Begehrens, die es - im Gegensatz zu der von Platon über Hegel bis Freud reichenden Traditionslinie - eher

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Sprache oder die Methoden der zeitgenössischen liberalen politischen Philosophie. Anders als Habermas streben sie nicht danach, klare und widerspruchsfreie normative Standards zur Bewertung politischer Institutionen oder sozialer Praktiken bereitzustellen. Im Unterschied zu Rawls beschäftigen sie sich nicht mit der systematischen Rekonstruktion von Gemeinplätzen zum Wesen der Gerechtigkeit, der Freiheit und der politischen Organisation. In mancher Hinsicht weist ihr Ansatz eine größere Nähe zu einer dekonstruktiven als zu einer rekonstruktiven politischen Philosophie auf. Deleuzes und Guattaris Bemerkungen werfen daher folgende Fragen auf: Um was für eine Art politischer Philosophie handelt es sich und welchem Zweck oder welchen Zwecken dient sie? Unter dem Einfluss des Marxismus legen Deleuze und Guattari den Fokus eher auf die Bedingungen eines revolutionären sozialen Wandels als auf die Bedingungen des Erhalts der politischen Gesellschaft als einem fairen System der Kooperation. Dennoch interessieren sie sich weniger für die (revolutionäre) Ergreifung der Staatsmacht als für qualitative Veränderungen individueller und kollektiver Identitäten, die sich neben oder unterhalb des öffentlichen Bereichs ereignen. Ihrer Auffassung nach ist alle Politik zugleich eine Makropolitik, die soziale Klassen und Institutionen der politischen Regierung einschließt, und eine Mikropolitik, welche die latenten Bewegungen des individuellen und kollektiven Empfindungsvermögens, Affekts und Gehorsams umfasst. Nehmen sie auch viel von Marx' Analyse des Kapitalismus auf, so verwerfen sie infolge ihres mikropolitischen Fokus die zentralen Ansätze der marxistischen Theorie der Gesellschaft und des Politischen. Ihre politische Philosophie umfasst sowohl eine marxistisch imprägnierte Kritik der kapitalistischen Gesellschaft als auch die post-marxistische Variante einer reals einen aktiven und produktiven Prozess denn als eine Reaktion aufunerfüllte Bedürfnisse begreift. Deleuze und Guattari bezeichnen in der Nachfolge Freuds die Energie, die im Prozess des Begehrens umgewandelt wird, als libidinöse Energie, bestehen aber darauf, dass diese keine primär sexuelle Energie ist. Sie zeigen, dass das Begehren nicht von Natur aus in die Produktion stabiler Subjekte fließt, sondern die Formation des Egos und die Konstitution der Subjekte Produkte historisch spezifischer Formen des Begehrens darstellen, die unter dem Einfluss von Familienstrukturen, sozialen Kodes und Verhaltensmustern hervorgebracht werden. Sie argumentieren, dass Begehren immer über irgendeine Form von Maschine oder Gefüge operiert und dass die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens als ein umfassendes System der Maschinisierung des Begehrens verstanden werden könnte. ln Tausend Plateaus wird diese Theorie des Begehrens in eine allgemeinere Theorie der affektiven, linguistischen, sozialen etc. Gefüge eingeordnet. Zur detaillierten Darstellung von Deleuzes und Guattaris Theorie des Begehrens vgl. Holland (1999, 2005). Zur Auseinandersetzung mit ihrer Theorie der Gesellschaft und Geschichte vgl. Patton (2000: Kap. 5).

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volutionären Avantgardepolitik und der sie tragenden Geschichtsphilosophie. Sie plädieren für eine nicht-teleologische Vorstellung von Geschichte und eine differenziertere Beurteilung der deterritorialisierenden wie der reterritorialisierenden4 Aspekte des Kapitalismus. Sie insistieren darauf, dass sozialer Wandel weniger von Klassenwidersprüchen als von Bewegungen der Deterritorialisierung und Fluchtlinien angestoßen wird. Ihre Zurückweisung der organisatorischen und taktischen Formen der traditionellen marxistischen Politik findet ihren deutlichen Ausdruck gegen Ende der Dialoge, wenn Deleuze und Parnet das Ziel der revolutionären Eroberung der Staatsmacht zugunsten eines Revolutionär-Werdens aufgeben. Dieser neue Begriffumfasst die Vielfalt der Möglichkeiten, in denen Individuen und Gruppen von den majoritären Normen abweichen, welche die Rechte und Pflichten von Bürgern bestimmen (Deleuze/Parnet 1980: 157). Deleuze und Guattaris 1991 erschienenes Buch Was ist Philosophie? erschwert diese Angelegenheit weiter, da hier eine Vorstellung von Philosophie als inhärent politischer entwickelt wird. Philosophie schafft Begriffe, deren Funktion weniger im Verständnis oder in der Rekonstruktion dessen liegt, wie die Dinge sind, als vielmehr in der Veränderung der bestehenden Formen des Denkens und der Praxis. Sie ist »utopisch« in dem Sinn, als sie die Kritik ihrer Zeit zum höchsten Punkt treibt, »um so nach einerneuen Erde, einem neuen Volk zu rufen« (Deleuze/Guattari 2000: 115). Offensichtlich ist das eine normative Definition, erfasst sie doch nur einige, nicht aber alle historischen und gegenwärtigen Formen der Philosophie. Philosophie wird von Wissenschaft und Kunst abgegrenzt, indem diese als drei unterschiedliche Modalitäten des Denkens betrachtet werden. Jede besitzt ihre eigenen Rohmaterialien, Methoden und Produkte: Die Wissenschaft zielt auf die Repräsentation von Objekten und Zuständen mit den Mitteln mathematischer oder aussagenlogischer Funktionen. Die Kunst strebt das Einfangen und Ausdrücken des objektiven Inhalts partikularer Empfindungen - von Affekten und Perzepten - in einem gegebenen Medium an. Die Philosophie hat weder das Ziel, unabhängig existierende Objekte oder Zustände zu repräsentieren, noch partikulare Affekte oder Perzepte einzufangen, sondern strebt danach, Begriffe zu erschaffen, wobei diese eine andere Art Denkobjekt darstellen, als jene, die von den Künsten oder Wissenschaften hervorgebracht werden. Philosophische Begriffe drücken reine Ereignisse wie »werden«, »deterritorialisieren«, »vereinnahmen« oder »nomadisieren« aus. Sie erfüllen ihre intrinsisch politische Funktion, indem sie uns »Gegenverwirklichungen« bestehender Zustände ermöglichen, d.h. diese als Ausdrücke von virtuellen Ereignissen oder Prozessen 4

Diese Begriffe werden weiter unten erläutert.

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begreifen. Deleuze fasst diese virtuellen Ereignisse oder »das Werden« in einer Bergsansehen Weise als eine immanente, innere Dimension der Realität. Einzelne Ereignisse oder Zustände sind begrenzte Ausdrücke dieses virtuellen Bereichs, schöpfen aber nie das Potenzial flir weitere, andersartige Aktualisienmgen aus. Aus diesem Gtund, so behaupten Deleuze und Guattari, vermitteln philosophische Begriffe immer den »Umriss, die Konfiguration, die Konstellation eines künftigen Ereignisses« (Deleuze/Guattari 2000: 40). Eine Möglichkeit, sich der Frage nach der Art der politischen Philosophie von Deleuze und Guattari zu nähern, bietet die Dreiteilung des Denkens, wie sie in Was ist Philosophie? skizziert wird. In mancher Hinsicht ähnelt sie der Einteilung in Kants drei Kritiken: Als distinkte Modalitäten des Denkens entsprechen die Wissenschaft, die Philosophie und die Kunst den Kautsehen Bereichen der theoretischen, praktischen und teleologischen Vernunft. Kant unterscheidet die theoretische von der praktischen Vernunft, wobei sich die theoretische auf das Wissen von jenen Gegenständen bezieht, die uns über die Sinne gegeben sind, während sich die praktische Vernunft auf jene richtet, die wir mittels Handlungen in Übereinstimmung mit bestimmten Prinzipien hervorbringen. Denn wenn wir mit dem praktischen Gebrauch der Vernunft beschäftigt sind, betrachten wir ihn in Bezug auf die Bestimmung des Willens, der nach der Definition Kants »ein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubringen oder doch sich selbst zur Bewirkung derselben« (Kant 1996: 120). Deleuze und Guattari verlassen sich jedoch nicht auf einen Begriff des Willens, geschweige denn auf einen der menschlichen Natur, der über die Willensfreiheit und die Fähigkeiten der Vernunft bestimmt wird. Stattdessen stützen sie sich auf eine konstruktivistische Vorstellung von Philosophie als Schöpfung von Begriffen, die allerdings weniger vorgängige Objekte repräsentieren, sondern das Hervorbringen einer neuen Erde und eines neuen Volks fördern. Aus diesem Grunde können wir Deleuzes und Guattaris Philosophie als eine Form der praktischen Vernunft begreifen. Der Zweck dieses Vergleichs ist aber keineswegs eine systematische Untersuchung der Beziehungen zwischen Deleuze/Guattari und Kant, sondern vielmehr die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage nach den Grundlagen ihrer politischen Philosophie. Auf diese Weise können wir fragen, ob uns diese Analogie hilft zu erkennen, in welchem Sinn die philosophischen Begriffe von Deleuze und Guattari eher als handlungsleitende denn - oder vielleicht ebenso - als deskriptive hinsichtlich vergangeuer oder gegenwärtiger Ereignisse intendiert sind. Wir können fragen, ob die Unterscheidung von Wissenschaft und Philosophie mit der Kants übereinstimmt, die zwischen der Vorstellung von gegebenen Ge-

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genständen und dem Hervorbringen von Gegenständen (oder Ereignissen und Zuständen), die nicht durch die Erfahrung gegeben sind, differenziert. Das Verständnis von Deleuzes und Guattaris politischer Philosophie als einer praktischen Vernunft verweist uns auf die normativen Prinzipien, die den Begriffen und Analysen implizit sind. Das wiederum gestattet es uns, ihre Beziehung zu liberalen, demokratischen Institutionen und Praktiken zu untersuchen. Vor dem Hintergrund des entschieden antisubjektivistischen und anti-voluntaristischen Zugangs im Anti-Ödipus wie in Tausend Plateaus und angesichts von Deleuzes und Guattaris Vorliebe für minoritäre Bewegungen, die über den Gegensatz zu majoritären Formen gesellschaftlicher Kontrolle definiert werden, ist es überraschend, dass sie sich auf ein »Demokratisch-Werden« als eine derzeitgenössischen Widerstandsformen gegen die Gegenwart beziehen (Deleuze/Guattari 2000: 131 ). Ebenfalls überraschend ist die geringe Aufmerksamkeit, die diesem Element des Deleuzeschen Spätwerks zuteil wurde. Seine Analyse der Kontrollgesellschaften (Deleuze 1993d) fand beträchtlich mehr Beachtung' als seine positive Aufnahme einiger jener politischer Werte, die den Institutionen und Praktiken der liberalen Demokratie zugrunde liegen. Ich möchte zeigen, dass hier kein fundamentaler Bruch in seinem Zugang zu Politik und Philosophie vorliegt, wenn auch das Erscheinen des Begriffs »Demokratisch-Werden« in Was ist Philosophie? eine signifikante Wende im politischen Denken von Deleuze markiert. Wir können im Gegenteil seine explizite Befürwortung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer Weise nachvollziehen, die nicht nur mit Teilen des früheren Werkes konsistent ist, sondern sich sogar darauf stützt. Um die oben gestellte Frage zu beantworten und den Sinn zu erläutern, in dem Deleuzes und Guattaris Werk als politische Philosophie verstanden werden kann, beginne ich damit, die Entwicklung von der formalen Narrnativität ihrer frühen Arbeiten hin zu einer verstärkten Beschäftigung mit einer explizit politischen Theorie nachzuzeichnen.

Narrnativität und das Politische in Anti-Ödipus und in Tausend Plateaus Trotz Deleuzes Behauptung, dass Anti-Ödipus ein Werk der politischen Philosophie sei, beleuchtet das Buch politische Institutionen lediglich aus der Perspektive einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft und der Geschichte. Die Betrachtung des Politischen ähnelt der von Marx, sieht 5

Vgl. Hardt ( 1998a, 1998b); Surin (2006, 2007); Razac (2008).

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man davon ab, dass sie auf einer Theorie des Begehrens statt auf einer der sozialen Organisation der Produktion gründet: »In Wahrheit ist die gesellschaftliche Produktion allein die Wunschproduktion selbst unter bestimmten Bedingungen. Wir erklären, daß das gesellschaftliche Feld unmittelbar vom Wunsch durchlaufen wird, daß es dessen historisches Produkt ist und daß die Libido zur Besetzung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse keiner Vermittlung durch Sublimation, keiner psychischen Operation noch Transformation bedarf. Es gibt nur den Wunsch und das Gesellschaftliche, nichts sonst« (Deleuze/Guattari 1977: 39 [H.d.A.]).

Aus dieser Perspektive spielt die spezifisch politische Organisation der Gesellschaft keine unabhängige Rolle. Vielmehr bildet sie ein Kontinuum mit der Koordination und Kontrolle von Materie- und Begehrensströmen in den nicht-staatlichen Teilen der Gesellschaft, die von einer territorialen Maschine mit ihren Systemen der Allianz und Filiation regiert werden. Den Staat stellen Deleuze und Guattari eher als einen neuen Mechanismus der Allianz dar und weniger als die Verkörperung eines idealen Abkommens oder Vertrags seiner Mitglieder (Deleuze/Guattari 1977: 250f.). Er erschien in der Menschheitsgeschichte in der Form verschiedener Ausprägungen der despotischen Maschine, jede mit ihren eigenen Mechanismen zur Übercodierung von Begehrensströmen, bevor sie der »zivilisierten Maschine« untergeordnet wurde, die als der globale Kapitalismus auftritt. Was die beiden als territoriale, despotische und zivilisierte soziale Maschinen bezeichnen, deuten sie lediglich als unterschiedliche Regime zur Koordination und Kontrolle lokaler Maschinen, die wiederum das individuelle, familiäre und soziale Leben konstituieren. Hier findet sich keine konkrete Diskussion von Normen, die das moderne politische Leben bestimmen, sondern nur eine Normativität, die der Typologie der Wunschmaschinen inhärent ist, erscheinen diese doch als Verkörperung entweder des paranoischen, reaktionären und faschistischen oder des schizoiden und revolutionären Begehrenspols (Deleuze/Guattari 1977: 440). Aus diesem Grund bieten ihre »Schizoanalytische« Theorie und ihre Praxis des Begehrens weder ein politisches Programm noch einen Entwurf für eine künftige Gesellschaftsform. Als Alternative zur Psychoanalyse bietet die Schizoanalyse einen Begriffsapparat, um Fragen zur gesellschaftlichen Rolle des Begehrens aufzuwerfen, einschließlich der Mittel und Wege, die es an seiner eigenen Unterdrückung mitwirken lassen und den Möglichkeiten, durch die es kreative oder revolutionäre Prozesse stützen könnte. Das vorrangige Ziel ist ein praktisches: die Blockaden gegenüber jenen schizoiden Prozessen, die in einem gegebenen gesellschaftlichen Feld präsent sind, zugunsten einer 204

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kreativen Transformation des individuellen und kollektiven Lebens aufzuheben. Sowenig wie Anti-Ödipus widmen sich Tausend Plateaus Fragen bezüglich der Beschaffenheit, der Rechtfertigung oder der Kritik spezifisch politischer Institutionen und Praktiken. Deleuze und Guattari erweitem und generalisieren hier ihre soziale Ontologie zu einer allgemeinen Theorie der Gefüge (agencements) und der Formen, in denen diese im Verlauf der Geschichte ausgedrückt werden. Die letzten Spuren der marxistischen Teleologie sind nun aus ihrer Universalgeschichte getilgt: »Statt uns wie im Anti-Ödipus an die traditionelle Reihenfolge Wilde-Barbaren-Zivilisierte zu halten, sehen wir nun alle möglichen nebeneinander bestehenden Formationen: primitive Gruppen, die in einer seltsamen Marginalität mit Serien und der Berechnung des >letzten< Endes operieren; despotische Gemeinschaften, die dagegen Ensembles bilden, die Zentralisierungsprozessen (Staatsapparaten) unterworfen sind; nomadische Kriegsmaschinen, die sich der Staaten nicht bemächtigen können, ohne daß diese sich die Kriegsmaschine, di e sie anfangs nicht besaßen, einverleiben; Subjektiviemngsprozesse, die in den Staats- und Kriegsapparaten am Werk sind; die Vereinigung dieser Prozesse im Kapitalismus durch die entsprechenden Staaten; die Modalitäten einer revolutionären Aktion; die in jedem Einzelfall miteinander verglichenen Faktoren des Territoriums, der Erde und der Deterritorialisiemng« (Deleuze 2005b: 296).

Die aufeinander folgenden Plateaus bieten eine Reihe neuer Begriffe und eine damit verbundene Terminologie, die die Beschreibung verschiedener Arten von Gefügen erlaubt. Diese Plateaus umfassen eine Terminologie, um soziale, linguistische und affektive Gefüge zu beschreiben (Schichten, Inhalt und Ausdruck, Territorien, Flucht- oder Deterritorialisierungslinien); Begrifflichkeiten also, deren Gebrauch der Skizzierung einer der Makropolitik entgegen gesetzten Mikropolitik dient (organloser Körper, Intensitäten, molare und molekulare Segmentaritäten, verschiedene Arten von Linien, aus denen wir zusammengesetzt sind); und eine Terminologie, die eine Darstellung des Kapitalismus erlaubt, der als eine nicht-territorial verankerte Axiomatik der Ströme (von Materie, Arbeit und Informationen) einem territorialen System der Übercodierung entgegensteht. Sie umfassen einen Begriff des Staates als Vereinnahmungsapparat, der in seinen gegenwärtigen Aktualisierungsformen zunehmend den Erfordernissen der kapitalistischen Axiomatik untergeordnet wird, und einen Begriff von abstrakten Maschinen der Metamorphose (die nomadischen Kriegsmaschinen), welche die Akteure des sozialen und politischen Wandels sind.

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Diese Maschinentheorie der Gesellschaft ist eine Ontologie in dem Sinn, wie man von Marx', Rawls' oder der Ontologie einer bestimmten wissenschaftlichen oder sozialen Theorie spricht. Es ist eben diese Bedeutung, in der auch Foucault seine eigene genealogische Praxis in einer Traditionslinie mit jenen verortet, die eine »Ontologie der Gegenwart« unternommen haben (Foucault 1992: 48). Dies ist keine Ontologie im starken philosophischen Sinn des Wortes, sondern eine pragmatische und relativierte. Deleuzes und Guattaris Maschinenontologie ist normativ in dem Sinn, dass sich die verschiedenen Arten von Gefügen zu einer Welt verbinden, in der bestimmten Arten der Bewegung der systematische Vorrang zukommt: dem Minoritär-Werden als einem Prozess der Abweichung vom majoritären Standard, den Flucht- oder Deterritorialisierungslinien und den nomadischen Maschinen der Metamorphose gegenüber den Vereinnahmungsapparaten, dem glatten gegenüber dem gekerbten Raum etc. ln diesem Sinn ist ihre Ontologie der Gefüge auch eine Ethik. Diese Ethik könnte in der Sprache des einen oder anderen Plateaus als eine Ethik des Werdens, der Ströme oder der Fluchtlinien charakterisiert werden oder als eine Ethik und Politik der Deterritorialisierung (vgl. Patton 2000). Diese ist nur in dem sehr weiten Sinn »politisch«, als sie uns erlaubt, die Kräfte des Wandels und der Bewegung ebenso zu konzeptualisieren und zu beschreiben wie die Formen der » Vereinnahmung« oder Blockade, denen diese unterworfen sind. Man beachte, wie dieses in der Sprache der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung funktioniert: Am Ende von Tausend Plateaus, innerhalb der abschließenden Darstellung jener Regeln, die maßgebend für einige ihrer wichtigsten Begriffe sind, wird Deterritorialisierung als eine Bewegung definiert, durch die etwas einem gegebenen Territorium entflieht oder es verlässt (Deleuze/Guattari 1997: 703), wobei das Territorium ein System jeder Art sein kann: begrifflich, linguistisch, gesellschaftlich oder affektiv. lm Gegensatz dazu verweist die Reterritorialisierung auf die Vorgänge, in denen sich deterritorialisierte Elemente erneut vermischen und in der Konstitution eines neuen oder der Modifikation eines alten Gefüges neue Verbindungen eingehen. Systeme jeglicher Art enthalten immer »Deterritorialisierungsvektoren«, wobei die Deterritorialisierung stets »untrennbar von damit zusammenhängenden Reterritorialisierungen« (Deleuze/Guattari 1997: 704) ist. Die Deterritorialisierung kann entweder eine negative oder positive Form annehmen: Sie ist negativ, wenn das deterritorialisierte Element der Reterritorialisierung unterworfen wird, die seine Fluchtlinie verstopft oder beschränkt. Sie ist positiv, wenn sich die Fluchtlinie gegenüber den Formen der Reterritorialisierung durchsetzen kann und es ihr gelingt, sich mit anderen deterritorialisierten Elementen in einer Weise zu verbinden, die ihre Bewegungs-

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bahn verlängert oder gar zur Reterritorialisierung in ein gänzlich neues Gefüge führt. Ebenso wie zwischen negativer und positiver Fluchtlinie unterscheiden Deleuze und Guattari zwischen einer absoluten und einer relativen Form dieser Prozesse. Verweist die absolute Deterritorialisierung auf den virtuellen Bereich des Werdens und des reinen Ereignisses, so verbleibt die relative Deterritorialisierung innerhalb des aktuellen Bereichs der ausgedrückten historischen Ereignisse und Prozesse. In den Begriffen ihrer Ontologie der Gefüge: Es ist die virtuelle Ordnung des Werdens, die das Geschickjedes aktuellen Gefüges bestimmt. In Übereinstimmung mit ihrer Methode der Spezifikation von Begriffen durch die Vervielfältigung von Unterscheidungen differenzieren sie schließlich zwischen Konnexionen und Konjugationen. Während die Konnexionen deterritorialisierter Elemente Formen bezeichnen, in denen distinkte Deterritorialisierungen so interagieren können, dass sie einander wechselseitig beschleunigen, verweisen die Konjugationen distinkter Elemente auf Formen, in denen ein Element durch ein anderes vereinnahmt oder übercodiert und so dessen Bewegung blockiert werden könnte. Die tatsächliche Transformation einer bestehenden Realität erfordert die Rekombination deterritorialisierter Elemente in einer sich wechselseitig fördernden und produktiven Weise, um eher Gefüge der Konnexion als der Konjugation zu bilden. Absolute und relative Deterritorialisierung werden positiv, wenn sie die Konstruktion von »revolutionäre[n] Konnexionen gegen die Konjugationen der Axiomatik« (Deleuze/Guattari 1997: 655 [H.d.A.]) beinhalten. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Deterritorialisierung dann absolut, »wenn sie Fluchtlinien miteinander verbindet, sie in die Potenz einer abstrakten Lebenslinie versetzt oder eine Konsistenzebene absteckt« (Deleuze/Guattari 1997: 705). Absolute Deterritorialisierung ist die grundlegende Bedingung jeder Form von relativer Deterritorialisierung. Sie ist der Begriff eines abstrakten, nicht-organischen und schöpferischen Lebens, das sowohl in der Deterritorialisierung existierender Gefüge als auch in der Verbindung deterritorialisierter Elemente und ihrer Rekonfiguration in neue Gefüge ausgedrückt werden kann. Sie ist die immanente Quelle der Transformation, das tatsächliche Reservoir der Freiheit oder Bewegung, die immer dann aktiv wird, wenn eine relative Deterritorialisierung stattfindet. Daher drückt sie das normative ideal aus, das Deleuzes und Guattaris Ethik zugrunde liegt. Der Sinn, in dem die absolute Deterritorialisierung auf ein ethisches Prinzip hinausläuft, das in eine bestimmte Vorstellung von Welt eingebettet ist, wird an folgender Stelle deutlich: Sie ist

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»etwas Absolutes, aber es ist weder undifferenziert noch transzendent ... Die tiefere Bewegung, die Materie und Funktion verbindet- die absolute Deterritorialisierung, die mit der Erde selbst identisch ist- erscheint nur in Form der jeweiligen Territorialitäten, negativer oder relativer Deterritorialisierungen und komplementärer Reterritorialisierungen« (Deleuze/Guattari 1997: 197).

Als solche steht sie Bergsous Konzept der Freiheit in der Welt näher als dem Kautsehen der Willensfreiheit. Es ist die Freiheit, die sich in der schöpferischen Transformation dessen ausdrückt, was ist, allerdings ist dieser Begriff der Freiheit zugleich unvereinbar mit liberalen Konzepten, die auf der kontinuierlichen Existenz eines stabilen Subjekts der Freiheit basieren (Patton 2000: 83-87). Im Gegensatz zu der molaren Linie, aus der individuelle und kollektive Subjekte gebildet sind, stellt die molekulare Linie bereits eine tödliche Gefahr für die Integrität eines solchen Subjekts dar. Auf dieser Linie vollziehen sich im Subjekt »molekulare Veränderungen, Umverteilungen von Begehren, so daß, wenn etwas passiert, das Ich, das es erwartete, schon tot ist oder das Ich, das es erwarten würde, noch nicht da ist« (Deleuze/Guattari 1997: 272). Die Freiheit, welche durch die dritte Linie von Deleuze und Guattari - die Fluchtlinie oder die Linie der absoluten Deterritorialisierung - ausgedrückt wird, bedroht die Integrität des leiblichen Subjekts (embodied subject). Einmal auf diese Linie gelangt, ist man selbst »in einer bewegungslosen Reise unwahrnehmbar und klandestin geworden. Weder kann etwas passieren, noch ist etwas passiert ... Man ist nur noch eine abstrakte Linie, wie ein Pfeil, der die Leere durchquert. Absolute Deterritorialisierung« (Deleuze/Guattari 1997: 273).

Paradoxe Narrnativität Deleuzes und Guattaris Begriffe sind- wie alle Begriffe - normativ in dem Sinn, dass sie einige Folgerungen ermöglichen und andere blockieren (vgl. Braudom 2001). Normativ sind sie allerdings auch, insofern sie einen Rahmen bereitstellen, um bestimmte Ereignisse und Prozesse zu bewerten. Sie ermöglichen es Fragen aufzuwerfen wie: Ist das eine negative oder positive Reterritorialisierung? Handelt es sich um eine echte Fluchtlinie? Wird sie zu einem revolutionär neuen Gefüge führen, in dem es eine Ausweitung an Freiheit gibt, oder führt sie zu neuen Formen der Vereinnahmung (Deleuze/Parnet 1980: 154f.)? In diesem Sinn sind sie - wie oben angedeutet - eher Elemente der praktischen als der theoretischen Vernunft.

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Aus der Normativität der Begriffe von Deleuze und Guattari folgt erstens, dass eine rein darstellende bzw. beschreibende (representationalist) Lesart ihren Analysen nicht gerecht wird. Der Reichtum des zur Darstellung ihrer Begriffe verwendeten empirischen Materials erzeugt gemeinsam mit dem anscheinend deskriptiven Charakter großer Teile ihrer Arbeit die Versuchung, sie als eine empirische Beschreibung der affektiven, sprachlich vermittelten und sozialen Welt zu lesen, die wir bewohnen. Auf diese Weise liest etwa Antonio Negri Tausend Plateaus als »eine äußerst wirksame Phänomenologie der Gegenwart« (Negri 1993: 64). Nach demselben Muster machen Negri und Michael Hardt Deleuzes und Guattaris Beschreibung des Kapitalismus als einer Axiomatik oder eines Sets beweglicher Verbindungen zwischen den Elementen der Produktion von Mehrwert zur Grundlage ihres Verständnisses der gegenwärtigen Gesellschaft. Deleuzes Konzept der »Kontrollgesellschaft« bildet gemeinsam mit ihrer eigenen Analyse der realen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital die Grundlage ihrer Untersuchung der »materiellen Transformation« der Produktionsmittel der sozialen Realität im Spätkapitalismus (Hardt/Negri 2002: 37-41, 334-340). Mit Bezug auf ihre Analyse der biopolitischen Produktion von Subjektivität merken sie daher an, wie sehr sie Deleuze und Guattari sowie ihren Tausend Plateaus zu Dank verpflichtet seien, bieten diese doch »eine elaborierte phänomenologische Beschreibung des Industrie-Geld-Welt-Natur-Zusammenhangs, der die erste Stufe der Weltordnung konstituiert« (ebd.: 424, Fn. 31). Doch Hardt und Negri sind nicht allein in der Annahme, dass Deleuze und Guattari eine Form von Sozialwissenschaft betreiben. In der Kritik der empirischen Basis ihrer Konzepte stützen sich Kommentatoren wie Christopher L. Miller auf eben diese Annahme. Miller argumentiert, dass ihr Vertrauen in ethnologische Quellen in ihren Ausführungen zum Nomadismus sie an einen »anthropologischen Verweisungszusammenhang« bindet, der durch den primitivistischen und kolonialistischen Charakter dieser Quellen kompromittiert ist (Miller 1998)." Zweitens stellt Deleuzes und Guattaris Maschinenontologie - obwohl die Ausgangsbasis des Bewertungsrahmens eher GefUge als Individuen sind- Richtlinien für individuelles Handeln bereit. Foucault mach6

Vgl. auch den Austausch zwischen Miller und Eugene Holland zur Frage des referentiellen Status von Deleuzes und Guattaris Begriffen (Holland 2003a, 2003b; Miller 2003). 1m Unterschied zu Miller begreifen Hardt und Negri den Begriff der Nomaden eher als einen n01mativen denn als einen empirischen, dessen Funktion im Ausdruck der Widerstandskräfte gegen die Kontrollmechanismen liegt. Sie präzisieren, dass diese eine Kraft sein müssen, »die nicht nur die destruktiven Fähigkeiten der Menge organisieren kann, sondern mittels der Bestrebungen der Menge auch eine Alternative aufzeigen kann« (Hardt/Negri 2002: 226).

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te darauf durch seinen berühmten Vergleich des Anti-Ödipus mit der Anleitung zum frommen Leben des Hl. Franz von Sales aufmerksam: »Ich würde sagen, der Anti-Ödipus (mögen seine Autoren mir vergeben) ist ein ethisches Werk, das erste Ethik-Buch, das in Frankreich seit sehr langer Zeit geschrieben worden ist« (Foucault 1978: 228). Er fuhr mit der Behauptung fort, Anti-Ödip us könne als eine individuelle Anleitung verstanden werden, um sämtliche Spielarten von »Faschismen« zu identifizieren und zu vermeiden, die unser Begehren binden und uns in Formen der Macht verstricken, die Systeme der Ausbeutung und Herrschaft aufrecht erhalten. In diesem Sinn ließen sich Deleuze und Guattari so deuten, dass sie Regeln für eine nicht-faschistische Lebensführung bereitstellen, z.B.: Folge einem Denken und Handeln der Wucherung, des Nebeneinanders und der Disjunktion statt einem der Hierarchisierung und Parzellierung; bevorzuge die Positivität gegenüber der Negativität, die Differenz gegenüber der Uniformität, die nomadischen und beweglichen Gefüge gegenüber den sesshaften Systemen etc. Besteht auch kein Zweifel, dass Deleuze und Guattari gelegentlich handlungsleitende Empfehlungen formulieren, so ist es wichtig zu verstehen, welche Art von Anleitung diese anbieten. An mehreren Punkten in Tausend Plateaus scheinen sie- als ob sie aufFoucaults provozierende Charakterisierung antworteten - vom Standpunkt des praktischen Ethikers aus zu sprechen. So bieten sie etwa eine Anleitung zur Schaffung eines »organlosen Körpers« (oK) :7 »Man geht nicht mit Hammerschlägen vor, sondern mit einer ganz kleinen Feile. Man erfindet Selbstzerstörungen, die man nicht mit dem Todestrieb verwechseln darf. Den Organismus aufzulösen, hat nie bedeutet, sich umzubringen, sondern den Körper für Konnexionen zu öffnen, die ein ganzes Gefüge voraussetzen, Kreisläufe, Konjugationen, Abstufungen und Schwellen, Übergänge und lntensitätsverteilungen, Territorien und Detenitorialisierungen, die wie von einem Landvermesser vermessen werden ... Man muß genügend Organismus bewahren, damit er sich bei jeder Morgendämmenmg neugestalten 7

Deleuze und Guattari übernehmen den Begriff »organloser Körper« von Antonin Artaud und verwenden ihn, um auf das nicht-aktualisierte oder virtuelle Feld zu verweisen, von dem spezifische »Organisationen« des Körpers herrühren. ln ihrer schizoanalytischen Theorie des Begehrens bezieht sich der oK auf das schöpferische oder »schizophrene« Potenzial des Begehrens. ln ihren späteren Schriften vetweist der oK auf die »Konsistenzebene«, die alle Arten von Elementen, Energien und intensiven Beziehungen umfasst, die bestimmte Arten von Körpern bilden: physikalische, psychische, soziale oder ideelle. In diesem Sinn sprechen sie vom oK als dem Begehren eines Individuums (masochistisch, schizoid, paranoisch etc.), dem oK der feudalen oder kapitalistischen Gesellschaften oder dem oK eines literarischen, künstlerischen oder philosophischen Werks.

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kann; und man braucht kleine Vorräte an Signifikanz und Interpretation, man muß auf sie aufpassen, auch um sie ihrem eigenen System entgegenzusetzen, wenn die Umstände es verlangen, wenn Dinge, Personen oder sogar Situationen euch dazu zwingen; und man braucht kleine Rationen von Subjektivität, man muß so viel davon aufheben, daß man auf die herrschende Realität antworten kann« (Deleuze/Guattari 1997: 219f.). Unmittelbar nach der Formulierung solcher Leitlinien warnen Deleuze und Guattari den Leser allerdings vor den Gefahren, die diese in sich tragen und betonen die Notwendigkeit, weitere Unterscheidungen vorzunehmen. Mit anderen Worten: Sie bestreiten, dass es eindeutige, unzweifelhafte Kriterien gibt, gemäß denen man ein nicht-faschistisches Leben führen oder sich einen organlosen Körper schaffen kann. Der Grund dafür ist, dass organlose Körper in zahlreichen Gestalten auftreten. Sie existieren bereits in den Schichten und in den destratifizierten Konsistenzebenen, auf denen sie geformt werden, während die auf der Konsistenzebene geformten oKs sich leicht in krebsbefallene verwandeln. Das Problem der Bewertung und der Unterscheidung entsteht auf jeder Ebene neu: »Wie kann man sich einen oK fabrizieren, ohne daß er zum krebshaften oK eines Faschisten in uns selber wird, oder zum ausgezehrten oK eines Drogensüchtigen, eines Paranoikers oder eines Hypochonders« (Deleuze/Guattari 1997: 224)? Diese Art der Ambivalenz wohnt allen Begriffen des Lebens, des Schöpferischen und der Transformation von Deleuze und Guattari inne. Betrachten wir die Fluchtlinien, entlang derer individuelle oder kollektive Gefüge zusammenbrechen oder transformiert werden. Einerseits kommen wir - so weit wir am Hervorbringen von Wandel interessiert sind nicht umhin, mit solchen Linien zu experimentieren, denn »schöpferisch tätig wird man immer nur auf einer Fluchtlinie« (Deleuze/Parnet 1980: 147). In diesem Sinn sind Fluchtlinien immer mögliche Pfade der Mutation in einem individuellen oder sozialen Gewebe und Quellen des Affekts, die mit dem Übergang von einem niedrigeren zu einem höheren Zustand der Macht, genauer der Freude, verbunden sind. Auf der anderen Seite haben Fluchtlinien ihre eigenen Gefahren. Hat sie einmal die von den molaren Formen der Segmentarität und der Subjektivität auferlegten Grenzen überschritten, kann es eine Fluchtlinie versäumen, sich mit den notwendigen Bedingungen einer schöpferischen Entwicklung zu verbinden oder sie verwandelt sich aufgrund ihrer Unfahigkeit, derartige Verbindungen einzugehen, in eine Zerstörerische Linie. Wenn das ge-

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schieht, dann sind Flucht- oder Deterritorialisierungslinien Wege in die extremsten Zusammenbrüche... Sie können zu Quellen eines Affekts werden, der mit dem Übergang zu einem niedrigeren Zustand der Macht verbunden ist: »eine seltsame Verzweiflung ... , so etwas wie ein Geruch von Tod oder Opfer, so etwas wie ein Kriegszustand, aus dem mangebrochen hervorgeht« (Deleuze/Guattari 1997: 312). 8 Abschließend dazu können wir einige Schlussfolgerungen bezüglich der Arten von Bewertungen ziehen, die von Deleuzes und Guattaris praktischer Philosophie getragen werden. Erstens wird eine Bewertung immer kontextabhängig sein oder auf den Charakter der Ereignisse oder Prozesse reagieren, in die sie eingebunden ist sowie deren Beziehung zum Charakter des Urteilenden. Daher finden sich Deleuze und Guattari auf der Seite Artauds hinsichtlich seiner Feindschaft gegenüber dem Gottesgericht wieder: Das Gottesgericht stratifiziert den organlosen Körper und macht ihn zu einem Organismus. Es verwandelt den oK des Begehrens in ein Subjekt. Im Gegensatz dazu praktizieren die beiden eine Form des Urteils, das nicht den Organen, wohl aber dem Organismus entgegen gesetzt ist: »Der oK widersetzt sich nicht den Organen, sondernjener Organisation der Organe, die man Organismus nennt« (Deleuze/Guattari 1997: 218). In der praktischen Sphäre impliziert das Gottesgericht einen einzigen, einseitigen Bewertungsrahmen, wie wir ihn bei Kant finden: Letztlich fallen hier Handlungen entweder auf die Seite des Guten oder des Bösen. Für Deleuze und Guattari - darin Nietzsche und Artaud nachfolgend - sind die Dinge niemals so einfach. Handlungen finden zwischen endlichen Wesen in spezifischen Umständen statt. Sie sind weit eher das Resultat eines bestimmten Kräftespiels als das Ergebnis universeller Ansprüche der Rationalität oder der Freiheit. Sie haben spezifische und lokale Formen der Verpflichtung, der Antipathie oder der Anziehung zur Folge. Bewertungen werden immer irgendwo innerhalb eines solchen Felds der Kräfte- und Machtbeziehungen vorgenommen. Zweitens bleibt der Bewertungsprozess unabschließbar, wird er doch immer aus der Perspektive eines bestimmten Handelnden oder eines Gefüges vorgenommen. In diesem Sinn existiert keine abschließende Bestimmung des Charakters eines gegebenen Ereignisses oder Vorgangs. Auch die Kautische Bewertung des moralischen Charakters von 8

Todd May lenkt die Aufmerksamkeit auf die Gefahren der verschiedenen Formen der Linie und den kontextuellen und experimentellen Charakter von Deleuzes und Guattaris ethisch-politischen Regeln. Er beschreibt diese als »ways to conceive ourselves and our being together that allow us to begin to experiment with alternatives. But there is no generat prescription. There are only analyses and experiments in a world that offers us no guarantees, because it is always other and more than we can imagine« (May 2005: 152).

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Handlungen ist endlos, allerdings aus einem anderen Grund. Nach Karrt können wir niemals vollkommen sicher sein, dass wir aus Pflicht und nicht aus Eigeninteresse gehandelt haben. Das ist eher ein epistemologisches Problem als eine Konsequenz des zweideutigen Charakters von Handlungen, wie er sich für Deleuze und Guattari darstellt. Die mit den Fluchtlinien verbundene Unsicherheit und potenzielle Gefahr ist der Hauptgrund, warum für Deleuze und Guattari Klugheit eine so wichtige politische Tugend ist. Vorsicht ist notwendig, weil wir niemals im Voraus wissen, welchen Weg eine Fluchtlinie einschlägt oder ob eine gegebene Menge heterogener Elemente fähig sein wird, eine konsistente und funktionale Mannigfaltigkeit zu bilden. Nichts ist im Bewertungsschema von Tausend Plateaus eindeutig gut oder böse: »Nichts ist absolut gut, alles hängt von der Verwendung und Klugheit im Systemzusammenhang ab. In Tausend Plateaus versuchen wir zu sagen: das Gute ist niemals sicher (beispielsweise genügt ein glatter Raum nicht, um die Einkerbungen und Zwänge zu überwinden, auch nicht ein organloser Körper, um die Organisation zu überwinden)« (Deleuze 1993: 51). Drittens führen die Bedingungen der Bewertung zu einem Paradox. An diesem Punkt weist Deleuzes und Guattaris praktische Philosophie Parallelen zu Derridas Dekonstruktion auf. Insofern absolute Deterritorialisierung die zugrunde liegende Bedingung relativer Deterritorialisierung in all ihren Formen ist, enthält sie die gleiche Art einer paradoxen Formel: Absolute Deterritorialisierung ist zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Wandels und die seiner Unmöglichkeit. Diese Nähe zu DerTidas Aporie ist nicht ohne Bezug zum kontextuellen Charakter der Deleuzeschen Bewertung. Sie teilen eine ethische Ausrichtung auf das Ereignis oder die Entstehung des Neuen, was einen Bruch mit der gegenwärtigen Aktualität und ihrer möglichen Zukunft einschließt. Wie Kant in seiner Analyse des künstlerischen Genies zeigte, impliziert die Ankunft des genuin Neuen die Reorganisation der Regeln zur Produktion und Bewertung entsprechender Werke. Per definitionem können wir nicht im Voraus wissen, welche Form sie annehmen werden. Daher sind Deleuzes Prinzipien der Bewertung mehrdeutig und offen: Sie sind Richtlinien für die Schöpfung des Neuen. Wenn sie generelle Vorschriften vermeiden, dann weil sie einer pragmatischen Absicht entsprechen, die gerade nicht auf einen universellen Zweck ausgerichtet ist: »[E]xistieren machen und nicht richten ... Welches Expertenurteil könnte sich etwa in der Kunst auf ein künftiges Werk beziehen« (Deleuze 2000: 183)?

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Eine Rechtstheorie von Deleuze? Innerhalb der Sphäre der praktischen Vernunft unterscheidet Karrt zwischen dem Ethischen, in dem der Anreiz, gemäß dem moralischen Gesetz zu handeln, allein an die Idee eines solchen Gesetzes gebunden ist, und dem Juridischen, in welchem äußere Anreize den öffentlich verkündeten Gesetzen entspringen. Die Theorie jener Gesetze, fiir die lediglich äußere Anreize wie Zwang durch Gewalt oder die Bedrohung mit Strafe möglich sind, bezeichnet er als Rechtslehre. Sie behandelt die Summe der Bedingungen, unter welchen die Handlungen der Individuen in Übereinstimmung mit der Freiheit eines jeden in Beziehung gesetzt werden können: »Eine jede Handlung ist recht, die ... mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann« (Karrt 1996a: 337). Die Theorie des Rechts kann wiederum in das private und das öffentliche Recht unterteilt werden. Ersteres umfasst die Gesetze, die das Verhalten von Individuen betreffen, die sogar in der Abwesenheit jedweder öffentlicher, politischer Autorität gelten und die notwendig sind, damit die Handlungen der Einzelnen mit der Freiheit der anderen vereinbar bleiben. Letzteres umfasst das System von Gesetzen, die benötigt werden, damit eine Menge von Menschen in einem bürgerlichen Zustand zusammen leben kann (ebd.: 455). Anti-Ödipus und Tausend Plateaus befassen sich nicht direkt mit dem Bereich des öffentlichen Rechts. Sie betrachten die verschiedenen Formen der modernen Regierung nur aus der marxistischen Perspektive hinsichtlich ihrer Unterordnung unter die Axiome der kapitalistischen Produktion. Von diesem Standpunkt aus erscheinen autoritäre, sozialistische und liberal-demokratische Staaten als äquivalent zueinander, insoweit sie als Modelle der Realisierung der globalen Axiomatik des Kapitals funktionieren. Zwar erkennen Deleuze und Guattari durchaus an, dass es hier wichtige Differenzen zwischen den verschiedenen modernen Staatsformen gibt, befassen sich damit allerdings nur am Rande. Ebenso bekräftigen sie die Wichtigkeit von Veränderungen im Regelwerk des öffentlichen Rechts, die durch Kämpfe um zivile und politische Rechte, für die Gleichheit der ökonomischen Bedingungen und Möglichkeiten sowie fiir regionale und nationale Autonomie angestoßen werden, bieten aber weder eine normative Theorie zu den Grundlagen solcher Rechte noch zu den Arten und dem Ausmaß der Gleichheit und Autonomie, die sich durchsetzen sollten (Deleuze/Guattari 1997: 650-652). Sie liefern auch keine Rechtfertigung fiir die Etablierung unterschiedlicher Rechte für kulturelle oder nationale Minderheiten oder für bestimmte Arten der Umverteilung des Reichtums. Stattdessen fokussieren sie die mikropoli-

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tischenQuellen des politischen Wandels wie etwa das Minoritär-Werden, das den affektiven Impuls für diese Kämpfe bildet. Aus ihrer Perspektive müssen die Quellen politischer Kreativität immer entlang der unterirdischen Verschiebungen von Zugehörigkeitsgefügen, von Einstellungen, Empfindungen und Überzeugungen auf Seiten der Individuen und Gruppen zurückverfolgt werden. Solche mikropolitischen Bewegungen können ein Ausmaß erreichen, dass sie in den majoritären Standards Veränderungen, neue Formen des Rechts oder einen anderen Status für bestimmte Gruppen, ja tatsächlich ein »neues Volk« hervorbringen. Zugleich hängt die Bedeutung eines solchen minoritären Werdens für das öffentliche politische Recht von seiner Übersetzung in neue Formen des Rechts und einen anderen Status für Individuen und Gruppen ab: »[M]olekulare Fluchtbewegungen wären nichts, wenn sie nicht über molare Organisationen zurückkehren würden und ihre Segmente, ihre binären Aufteilungen in Geschlechter, Klassen und Parteien nicht wieder herstellen würden« (Deleuze/Guattari 1997: 295). Auf diese Weise bieten Deleuze und Guattari- auch wenn sie weder deskriptive noch nonnative Darstellungen makropolitischer Institutionen und Verfahren vorlegen - eine Sprache zur Beschreibung mikropolitischer Bewegungen und infra-politischer Prozesse, die neue Fom1en der verfassungsmäßigen und rechtlichen Ordnung zur Folge haben. Die Begriffe, die sie erfinden, haben so einen indirekten Bezug zu Formen des öffentlichen Rechts. Begriffe wie Minoritär-Werden, Nomadismus, glatter Raum und Flucht- oder Deterritorialisierungslinien sind nicht als Substitute für bestehende Begriffe wie Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit gedacht, vielmehr sollen sie die Entstehung einer anderen Gerechtigkeit, neuer Formen der Gleichheit und Freiheit und neue Wege der politischen Differenzierung und Beschränkung fördern.' Vom Standpunkt des politischen Urteils aus finden wir bezüglich dieser Bewegungen des Werdens, der Deterritorialisierung oder der Produktion des glatten Raums dieselbe Art von Unbestimmtheit und Ambivalenz, die hinsichtlich der ethischen Beurteilung individueller Transformationen auftritt. Revolutionär-Werden ist eine Frage des Aufspürens von Fluchtlinien, welche die bestehende Ordnung unterminieren und die Konturen einerneuen ziehen.

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May stellt Deleuzes post-nietzscheanisches Interesse an der Frage, wie wir angesichts der Abwesenheit jeglicher transzendenten Begründung von Handlungsweisen leben könnten, der Karrtsehen Frage gegenüber, wie wir handeln sollten. Legt Deleuze auch keinen allgemeinen Rahmen fiir Urteile in der Art Kants vor, so gibt es doch keinen Grund anzunehmen, er würde die Bedeutung historischer und kontingenter Prinzipien des öffentlichen Rechts leugnen, welche die Weisen unseres Zusammenlebens regeln. 215

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Es ist notwendig, hier den Zusammenhang mit Deleuzes und Guattans Interesse ftir die Entstehung des Neuen oder - wie Derrida sagen würde - die Ankunft des ganz Anderen, im Auge zu behalten. Dieses Andere ist irreduzibel gegenüber den möglichen zukünftigen Formen der aktuellen Gegenwart. In dieser Hinsicht ähneln die glatten Räume den Flucht- oder Deterritorialisierungslinien: Laufen sie auch nicht auf Räume reiner Freiheit hinaus, so sind sie dennoch von jener Art, die zu einer Transfonnation bestehender Institutionen oder zur Verschiebung der Ziele von politischen Konflikten führen kann. Unter den Bedingungen der Entstehung glatter Räume »macht das Leben erneut seine Einsätze, trifft es auf neue Hindernisse, erfindet es neue Haltungen, verändert seine Widersacher« (Deleuze/Guattari 1997: 693). Allerdings müssen wir auch hier- in Übereinstimmung mit der Ambivalenz, die stets Deleuzes und Guattaris Bewertung kennzeichnet - immer abschätzen, mit welcher Art glattem Raum wir es zu tun haben: Ist es einer, der von den Kräften des Staates vereinnahmt wurde oder einer, der aus der Auflösung eines gekerbten Raums entstand? Erlaubt er mehr oder weniger Bewegungsfreiheit? Wir sollten aber vor allem niemals glauben, »daß ein glatter Raum genügt, um uns zu retten« (Deleuze/Guattari 1997: 693). 10

Deleuzes Wende zur politischen Narrnativität Ich hatte zunächst die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, in welcher Art es uns Deleuzes und Guattaris politische Ontologie ermöglicht, die Kräfte und Bewegungen des Wandels und der Schöpfung zu konzeptualisieren und zu beschreiben und zudem aufgezeigt, in welchem Sinn diese Ontologie eine nonnative Dimension umfasst. Wir sahen, wie diese Ontologie eine Welt der verkoppelten maschinischen Gefüge vorführt, die eine grundlegende Tendenz zur Deterritorialisierung bestehender Gefüge und deren Reterritorialisierung in neue Formen aufweist. Diese Tendenz gewährt dem minoritären Werden gegenüber dem majoritären Sein einen systematischen Vorrang, den Fluchtlinien gegenüber den Formen der Vereinnahmung, der Konsistenzebene gegenüber dem Organisationsplan etc. Setzten sich Deleuze und Guattari auch mehrfach kritisch mit dem marxistischen politischen Denken auseinander, so vollzogen sie all ihre begrifflichen Innovationen und Modifikationen innerhalb einer deutlich 10 Eyal Weizman (2006) bietet ein treffendes Beispiel ftir die politische

Mehrdeutigkeit des Begriffs »glatter Raum«: Er beschreibt die israelische Militärtaktik des buchstäblichen Durch-die-Wand-Gehens und belegt anband von Interviews mit Offizieren der 1DF die These, dass sie sich auf Deleuzes und Guattaris Begriffe des glatten und gekerbten Raums beziehen, um diese Taktik zu theoretisieren. 216

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marxistischen Perspektive, die auf die Entstehung neuer und besserer Formen des gesellschaftlichen und politischen Lebens abzielte. Allerdings haben sie nie die normativen Prinzipien, die ihrer kritischen Perspektive auf die Gegenwart zugrunde liegen, expliziert, geschweige denn sich mit der Frage befasst, wie diese im Hinblick aufjene Prinzipien, die vorgeblich das politische Leben in der spätkapitalistischen Gesellschaft bestimmen, artikuliert werden können. Nirgends beschäftigen sie sich direkt mit jenen politischen Werten, die in die liberal-demokratischen politischen Institutionen und Lebensweisen eingebettet sind, etwa mit der moralischen Gleichheit von Individuen, der Gewissensfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit oder der ausgewogenen Verteilung materieller Güter, die durch die gesellschaftliche Kooperation hervorgebracht werden etc. Die prinzipiellen Unterschiede zwischen liberal-demokratischen, totalitären und faschistischen Staaten erwähnen sie lediglich en passantim Verlauf ihrer Analyse des Kapitalismus und der gegenwärtigen Politik als einem Prozess der Axiomatisierung des gesellschaftlichen und ökonomischen Feldes. In diesem Sinn bleibt ihre maschinische gesellschaftliche Ontologie in Bezug auf die aktuellen Gesellschaften und Formen politischer Organisation formal. Vor dem Hintergrund des westlichen Marxismus der 1960er und 1970er Jahre kann das Ausbleiben einer direkten Auseinandersetzung mit den politischen Werten und normativen Konzepten, die vermeintlich den wesentlichen Institutionen moderner liberaler Demokratien zugrunde liegen, kaum überraschen. Ihre politische Philosophie datiert vor dem Zeitpunkt, als die Verknüpfung von marxscher Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und dem Begriff der Verteilungsgerechtigkeit allgemeines Verständnis und Akzeptanz fand. Ebenso geht sie den Bemühungen voraus, die maßgeblichen Prinzipien der Gerechtigkeit zu bestimmen, die unter dem Einfluss des so genannten analytischen Marxismus im Verlauf der l980er Jahre erfolgten. Seitdem gab es zahlreiche Bestrebungen, die marxistische Gesellschaftstheorie mit jenen normativen Prinzipien zu kombinieren, die einer Vielzahllinks-liberaler politischer Theorien zugrunde liegen. 11 Während diese Entwicklungen in Frankreich nur marginale Wirkungen hatten, gab es im französischen politischen Denken während dieser Periode eine Wiederentdeckung der ethischen und politischen Normativität, die sich etwa in einem erneuerten Interesse für Menschenrechte, Subjektivität, Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit zeigte. Einen Beleg daflir bietet 11 Z.B. Mandie (2000); Peffer (1990, 2001). Zur Einführung in die Vielfalt des »analytischen« Marxismus vgl. Kymlicka (1997: 132-168). Einen um-

fassenden Überblick zur Debatte um Marx und Gerechtigkeit bietet Geras (1985).

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etwa die Schwerpunktverschiebung Derridas, die ihn während der 1980er Jahre zu einer direkten Beschäftigung mit den Begriffen der Demokratie, des Gesetzes und der Gerechtigkeit führte (Patton 2007b). Deleuzes Schriften und Kommentare in den Interviews der 1980er Jahre markieren eine signifikante Verschiebung in seinem Denken über solche normativen Fragen. So antwortet er beispielsweise auf das erneuerte Interesse an den Menschenrechten mit der Betonung der Bedeutung der Rechtsprechung als Mittel zur Schaffung neuer Rechte. Während er die Art kritisiert, in der Menschenrechte als »ewige Werte« und als »neue Formen der Transzendenz« präsentiert werden, stellt er klar, dass er Rechte nicht als solche ablehnt, sondern nur die Idee, dass es eine definitive und a-historische Liste vermeintlich universeller Rechte gäbe. 12 Er argumentiert, dass Rechte nicht die Schöpfung von Gesetzesbüchern oder Deklarationen seien, sondern der konkreten Rechtsprechung entspringen, was den »Singularitäten« einer spezifischen Situation Rechnung tragen kann (Deleuze 1993b: 223). Er kehrt zu der Frage der Rechte und der Rechtsprechung in den 1988 aufgezeichneten Abecedaire-Interviews mit Claire Parnet zurück und bekräftigt die Bedeutung der Rechtsprechung - verstanden als die Erfindung neuer Rechte - ebenso wie seine eigene Faszination für das Gesetz. In seinem 1990 mit Antonio Negri geführten Interview »Kontrolle und Werden« bestätigt er mit Blick auf die Frage, welche Rechte bezüglich neuer Formen der Biotechnologie etabliert werden sollten, die Wichtigkeit der Rechtsprechung als eine Quelle des Gesetzes (Deleuze 1993c: 243f.). Mit der Befürwortung von Rechten und Rechtsprechung bindet sich Deleuze deutlich an Formen von Rechtsstaatlichkeit und den sie tragenden Rechtsstaat. Der bloße Begriff eines Rechts impliziert, dass bestimmte Handlungsweisen seitens aller Bürger durch das Gesetz geschützt sind und dass umgekehrt Grenzen hinsichtlich des Ausmaßes, in dem die Handlungen der Bürger Dritte beeinträchtigen dürfen, durchgesetzt werden. Kants universelles Prinzip des Rechts bietet eine einflussreiche Formulierung der zugrunde liegenden Idee, dass Handlungen rechtens sind, wenn sie mit der Freiheit der Anderen in Übereinstimmung mit einem allgemeinen Gesetz vereinbar sind (Kant 1996a: 337). Deleuzes politische Schriften seit den 1980er Jahren bezeugen zudem seine Bindung an die Demokratie. Bereits in seinem 1979 verfassten »Offenen Brief an die Richter von Negri« spricht er aus der Position eines Demokraten, der sich für bestimmte Prinzipien hinsichtlich eines ordentlichen Gerichtsverfahrens und der Rechtsstaatlichkeit engagiert (Deleuze 2005). Noch deutlicher wird die Beschäftigung mit der Demokratie in Was ist Philosophie?, das eine Reihe sehr kritischer Anmerkun12

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Vgl. De1euze (1993a, 1993b). Weiterfuhrend vgl. Smith (2003: 314-315).

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gen zu den gegenwärtig bestehenden Demokratien enthält. Weit von der Ablehnung des demokratischen Ideals entfernt, deuten diese Äußerungen an, dass andere Aktualisierungen des Begriffs oder des »reinen Ereignisses« der Demokratie möglich sind.u Was ist Philosophie? bietet jedoch keine explizitere Darstellung der Prinzipien, die vermeintlich die modernen demokratischen Gesellschaften bestimmen als Tausend Plateaus. In diesem Sinn enthält es keine Theorie des öffentlichen Rechts. Viele Elemente, die der früheren Bindung von Deleuze und Guattari an den Marxismus entstammen, bleiben auch in der in Was ist Philosophie? skizzierten Gegenwartsbeschreibung erhalten. So wird beispielsweise die Analyse des isomorphen und zugleich heterogenen Charakters aller Staaten bezüglich der globalen kapitalistischen Axiomatik in nahezu identischen Wendungen wiederholt. In dieser Sichtweise gibt es zwar politische Differenzen zwischen den verschiedenen Staatsformen, aber ebenso eine Komplizenschaft mit dem zunehmend globalen System der Ausbeutung. Deleuze und Guattari weisen darauf hin, dass auch die demokratischsten Staaten durch ihre Rolle in der simultanen Produktion von menschlichem Elend und großem Reichtum kompromittiert sind (Deleuze/Guattari 2000: 124f .; Deleuze 1993c: 248). Gegenüber dem traditionellen marxistischen Begriff der Revolution halten sie am Revolutionär-Werden der Menschen fest, weisen jedoch darauf hin, dass Revolution selbst ein philosophischer Begriffpar excellence ist- einer, der die »absolute Deterritorialisierung an jenem Punkt, an dem diese nach der neuen Erde, dem neuen Volk ruft« (Deleuze/Guattari 2000: 117) ausdrückt. Der Fokus von Was ist Philosophie? liegt also auf der inhärent politischen Bestimmung der Philosophie. Diese Bestimmung ist im Hinblick auf die Gegenwart allerdings mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden, etwa wenn darauf hingewiesen wird, dass philosophische Begriffe in dem Maße kritisch gegenüber der Gegenwart sind, in dem sie »sich mit dem verbinden, was es hier undjetzt im Kampf gegen den Kapitalismus an Realem gibt« (Deleuze/Guattari 2000: 116). An dieser Stelle erscheint etwas Neues in Deleuzes und Guattaris politischem Wortschatz. Als der Ausdruck absoluter Deterritorialisierung wird der Begriff oder das reine Ereignis der Revolution stets durch seine spezifische historische Verkörperung weitergehend bestimmt, indem er etwa die Form einer bestimmten Art von Revolution annimmt. Das in Was ist Philosophie? gewählte Beispiel für eine Revolution bezieht sich nicht auf Lenin, sondern auf Kant, genauer: auf seine spezifische Form von 13

Für eine detaillierte Widerlegung von Philippe Mengues provozierender These (Mengue 2003), Deleuze sei ein fundamental anti-demokratischer Denker vgl. Patton (2005, 2006). 219

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Unterstützung der Revolution im Namen eines Rechtsstaates, der die gleichen Rechte der Menschen und Bürger bewahrt. Die Anmerkung Kants im Streit der Fakultäten zum »Enthusiasm« gegenüber den Idealen der Französischen Revolution dient als Beleg für die Differenz zwischen dem reinen Ereignis und seinem Ausdtuck in den blutigen Vorgängen in Paris 1789ff. Das reine Ereignis oder der Begriff Revolution findet seinen Ausdruck weit eher im »Enthusiasm«, mit dem es auf einer Immanenzebene gedacht wird. In dieser Form ist es ein Ausdruck des Unendlichen im Hier und Jetzt, ein Ausbruch des reinen Ereignisses des revolutionären, gesellschaftlichen und politischen Wandels, an dem selbst nichts Vernünftiges oder Rationales ist (Deleuze/Guattari 2000: 116). Zugleich stellt Was ist Philosophie? die aktuelle Universalität des Marktes der virtuellen eines globalen demokratischen Staates gegenüber und beschreibt die eigene politische Philosophie als eine, die sich auf einer neuen Erde und in einem neuen kommenden Volk reterritorialisiert, das wenig Ähnlichkeiten mit den Völkern in den gegenwärtig bestehenden Demokratien aufweist. In diesem Sinn können wir sagen, dass in Was ist Philosophie? Deleuzes und Guattaris neo-marxistische Unterstützung des Revolutionär-Werdens als ein Weg hin zu einerneuen Erde und einem künftigen Volk modelliert wird durch den Ruf nach Widerstand gegen die bestehenden Formen der Demokratie im Namen eines »Demokratisch-Werden, das nicht mit den faktischen Rechtsstaaten zusammenfällt« (Deleuze/Guattari 2000: 131 ). Allgemeiner: Die Nonnativität der späten politischen Philosophie von Deleuze und Guattari wird durch die Verbindung von Revolutionär-Werden und DemokratischWerden bestimmt.

Demokratisch -Werden Es wäre eine Übertreibung, wenn man »Demokratisch-Werden« in die Liste der von Deleuze und Guattari geschaffenen Begriffe aufnehmen würde, erscheint er doch nur einmal in Was ist Philosophie? Verlmüpft man ihn jedoch mit der dort skizzierten, offenkundig politischen Konzeption von Philosophie, dann - so möchte ich behaupten - halten einige Elemente ihrer früheren politischen Philosophie die nötigen Mittel bereit, um einen solchen Begriff zu entwickeln. Erinnern wir uns an die Definition von Philosophie als die Schaffung von Begriffen, die »auf eine neue Erde und auf ein Volk, das es noch nicht gibt«, ve1weisen (Deleuze/Guattari 2000: 126). Dieser Annahme entsprechend ist Philosophie eine spezifische Art des Denkens, die ge-

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mäß ihrer Affinität zur absoluten- im Gegensatz zur relativen- Deterritorialisierung definiert wird. Wie gezeigt, betrifft die relative Deterritorialisierung die historische Beziehung von Dingen zu den Territorien, in denen sie organisiert sind, einschließlich der Weise, in der diese Territorien zusammenbrechen und in neue Formen transformiert oder wiederhergestellt werden. Absolute Deterritorialisierung zielt hingegen auf die a-historische Verbindung von Dingen und Zuständen mit dem virtuellen Bereich des Werdens oder des reinen Ereignisses, welches nur unvollkommen oder teilweise in dem, was passiert, ausgedrückt wird. Da Philosophie Begriffe schafft, die solche reinen Ereignisse ausdrücken »werden«, »vereinnahmen«, »deterritorialisieren«, aber auch »demokratisch regieren«, »revoltieren« etc. - ist sie inhärent kritisch gegenüber der Gegenwart, in der sie stattfindet. Bestehende Körper und Zustände in den Worten solcher philosophischen Begriffe zu beschreiben, heißt, sie im Denken als einen Ausdruck der »reinen Ereignisse« oder des »Werdens« zu repräsentieren. Das ist, was Deleuze als »Gegenverwirklichung« eines Phänomens bezeichnet. Solche philosophischen Neubeschreibungen erlauben es uns, Dinge anders zu sehen, sie eher hinsichtlich dessen zu betrachten, was sie werden könnten als was sie gegenwärtig sind. Auf diese Weise kann die Erfindung neuer Begriffe die Deterritorialisierung existierender und die Entstehung neuer Strukturen unterstützen, ohne an irgendein positives politisches Programm gebunden zu sem. Deleuze und Guattari behaupten, dass Philosophie utopisch ist. Utopie bezeichnet hier »die absolute Deterritorialisierung, stets aber an jenem kritischen Punkt, an dem diese sich mit dem vorhandenen relativen Milieu ... verbindet« (Deleuze/Guattari 2000: 115). Mit anderen Worten: Wenn es zu einer Verbindung der in den Begriffen ausgedrückten absoluten Deterritorialisierung und den bereits im gesellschaftlichen Feld vorhandenen relativen Deterritorialisierungen kommt, wird Philosophie utopisch und erreicht ihre politische Bestimmung, indem sie »die Kritik ihrer Zeit auf den höchsten Punkt« treibt (ebd.). Deleuzes und Guattaris Konzeption der Philosophie ist nicht in dem Sinn utopisch, als sie eine ideale Gesellschaft postuliert oder Prinzipien der Gerechtigkeit aufstellt, in deren Licht wir die Unzulänglichkeiten der bestehenden Gesellschaften identifizieren können, sondern sie ist utopisch in dem Sinn, als sie Begriffe schafft, die sich mit den in einem gegebenen historischen Milieu vorhandenen Prozessen der Deterritorialisierung verbinden können und so in die Perzeptionen und folglich auch in die Handlungen der Beteiligten Eingang findet. Diese kurze Darstellung von Deleuzes utopischer und kritischer Konzeption der politischen Funktion von Philosophie hilft uns zu sehen, 221

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wie der Begriff des »Demokratisch-Werdens« diese Funktion erfüllen könnte. Die verschiedenen Formen der demokratischen politischen Gesellschaft verkörpern bestimmte Aktualisierungen des Begriffs oder des »reinen Ereignisses« der Demokratie. Angenommen, die bestehenden Prozesse der Deterritorialisierung oder die »Fluchtlinien« in modernen Gesellschaften umfassen die Ideale oder Überzeugungen, die spezifische Widerstandsformen begründen, so folgt daraus, dass diese sich auf Elemente der bestehenden politischen Nonnativität beziehen, um mögliche Wege zur Beseitigung des ungerechten oder unterdrückenden Charakters gegenwärtiger institutioneller Formen des gesellschaftlichen Lebens aufzuzeigen. Ein »Demokratisch-Werden« verweist daher auf Möglichkeiten der Kritik an den Funktionsweisen gegenwärtig bestehender Demokratien im Namen jener egalitären Prinzipien, die vermeintlich ihren Institutionen und politischen Praktiken zugrunde liegen. Philosophie initiiert oder unterstützt Prozesse des Demokratisch-Werdens, wenn sie die bestehenden Auffassungen über das, was akzeptabel, richtig oder gerecht ist, mit dem Ziel herausfordert, die Verwirklichung der Demokratie innerhalb zeitgenössischer Gesellschaften zu erweitern. In seinem Interview mit Antonio Negri erklärt Deleuze, dass Philosophie einen möglichen Weg darstellt, auf das Unerträgliche in der Gegenwart zu antworten (Deleuze 1993c: 245). Wenn wir akzeptieren, dass die Umrisse des Unerträglichen zum Teil historisch durch die Mechanismen, mit denen wir regiert werden, und durch die Ideale und Überzeugungen, die durch die herrschende politische Kultur ausgedrückt werden, bestimmt sind, so folgt daraus, dass sich eine Antwort auf das Unerträgliche in den demokratischen Gesellschaften unausweichlich auf Elemente ihrer herrschenden politischen Narrnativität stützt. Folglich gibt es keinen Grund anzunehmen, wir könnten dem Unerträglichen je endgültig entkommen. Wie Deleuze in seiner Diskussion der Kontrollgesellschaften bemerkt, gibt es innerhalb von Machtsystemen immer einen Konflikt zwischen den Tendenzen, die uns befreien und denen, die uns unterwerfen (Deleuze 1993d: 255). Der komplexe Begriff der Demokratie verlmüpft im Zentrum des modernen politischen Denkens eine Anzahl politischer Normen. Im Prinzip gibt es so viele Möglichkeiten des Demokratisch-Werdens wie Elemente des Begriffs der Demokratie. In der Praxis kann Philosophie das Demokratisch-Werden einer bestimmten politischen Gesellschaft nur dann wirksam vorantreiben, wenn sie sich auf die deterritorialisierenden Bewegungen einlässt, die sich auf aktualisierte und aktualisierbare Elemente der demokratischen politischen Narrnativität gründen. So war beispielsweise die Koexistenz von formell gleichen Rechten und enormen Unterschieden bezüglich der materiellen Bedingungen seit der 222

DELEUZE/G UATTARI: DEMOKRATISCH-WERDEN

Einführung der modernen demokratischen Regierung eine der beständigen Konfliktquellen. Die Geschichte der modernen Demokratien war in Teilen eine Geschichte des Kampfes um die Reduzierung der materiellen Ungleichheit und um die Garantie, dass die grundlegenden Bürgerrechte zumindest nähenmgsweise für alle den gleichen Wert besitzen. Deleuze verweist in seinem Interview mit Antonio Negri auf dieses nach wie vor bestehende Problem, wenn er der Universalität des Marktes die Verteilung von Armut und exorbitantem Reichtum gegenüberstellt. Er kritisiert deutlich die Art und Weise, wie moderne demokratische Staaten darin versagen, dem Versprechen des gleichen Zugangs zu materiellen Gütern, die durch die gesellschaftliche Kooperation hervorgebracht werden, gerecht zu werden: »Es gibt keinen demokratischen Staat, der nicht zutiefst verwickelt wäre in diese Fabrikation menschlichen Elends« (Deleuze 1993c: 248). Auf ähnliche Weise verweist er im Abschnitt G comme Gauche des Abecedaire auf die »absolute Ungerechtigkeit« der gegenwärtigen ungleichen globalen Verteilung des Wohlstands. Da- im direkten Verstoß gegen das Prinzip, dass alle gleich geboren werden- die Vorteile der Marktwirtschaften nicht allgemein geteilt und die Ungleichheiten der Bedingungen von Generation zu Generation weitergegeben werden, können wir sagen, dass das Erreichen einer gerechteren Verteilung materieller gesellschaftlicher Güter einen Vektor des »Demokratisch-Werdens« darstellt. Eine weitere beständige Konfliktquelle in den demokratischen Nationalstaaten bildet seit ihrer Gründung der Kampf um die Erweiterung der Gruppe jener, die als Bürger gelten und somit den vollen Zugang zum gesamten Bereich der Grund- und der politischen Rechte genießen. Demokratie beruhte immer auf einem Mehrheitsprinzip, aber die vorausgehende Frage nach »wessen Mehrheit?« wurde immer im Voraus entschieden - gewöhnlich nicht mit demokratischen Mitteln. Das offenbart eine Bruchlinie in einer der Schlüsselkomponenten im Begriff der Demokratie: Mehrheit bezeichnet entweder die quantitative Mehrheit derer, die dazu gezählt werden, oder aber die qualitative Mehrheit jener in der Gesamtbevölkerung, die als passend befunden werden, um Berücksichtigung zu finden. Deleuze und Guattari stützen sich in Tausend Plateaus auf letzteren, den qualitativen Sinn von Mehrheit, wenn sie auf die Existenz eines majoritären »Faktums« in den gegenwärtigen europäischstämmigen Gesellschaften verweisen, da hier »der männliche-weiße-erwachsene-Mann ... ,der Städte bewohnt und irgendeine europäische, heterosexuelle Standardsprache spricht« (Deleuze/Guattari 1997: 147) ein Vorrecht genießt. Der erwachsene, weiße etc. Mann ist majoritär, nicht weil er numerisch in der Mehrheit ist, sondern weil er einen Standard bildet, an dem die Rechte und Pflichten aller Bürger gemessen werden.

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PAUL PATTON

Minoritär-Werden wird als eine Vielfalt von Möglichkeiten definiert, in der Individuen und Gruppen es verfehlen, diesem Standard zu entsprechen. Die gesellschaftlichen Bewegungen, die diesen Arten des Werdens entsprechen, verursachen eine Reihe von Schritten, welche die Bandbreite dieses Standards und somit auch das Subjekt der Demokratie ausweiten: Erstens durch eine Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen und andere Minderheiten; zweitens durch die Veränderung der Beschaffenheit politischer Institutionen und Verfahren, um diese neuerdings wahlberechtigten Mitglieder zu befähigen, unter gleichen Bedingungen zu partizipieren. In demokratischen Gesellschaften gibt es beständig Anstrengungen, den Charakter öffentlicher Institutionen dergestalt zu verändern, dass sie viele Arten von Differenz anerkennen und ihnen zugleich einen Platz einräumen, etwa im Hinblick auf sexuelle Differenz, sexuelle Präferenz, andersartige physische und mentale Fähigkeiten sowie kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten. Deleuze und Guattari bekräftigen die Bedeutung solcher Bemühungen, den Charakter der Majorität zu erweitern, auch wenn sie darauf bestehen, dass die Macht von Minderheiten sich nicht nach ihrer Fähigkeit bemisst, »in ein majoritäres System einzudringen und sich ihm aufzuzwingen, und auch nicht daran, ob sie das zwangsläufig tautologische Kriterium der Mehrheit umkehrt« (Deleuze/Guattari 1997: 652). Ihrem Wesen entsprechend entfliehen oder überschreiten die Prozesse des Minoritär-Werdens immer die Grenzen jeder gegebenen Mehrheit. Sie bergen das Potenzial, die Affekte, den Glauben und die politischen Sensibilitäten einer Population auf so vielfältige Weise zu transformieren, dass es schließlich auf die Ankunft eines neuen Volkes hinausläuft. Wiederum beeinflussen die Transformationen, denen ein bestehendes Volk oder bestehende Völker ausgesetzt sind - insofern sie als politische Gemeinschaft konstituiert sind -, die Vorstellungen der Bürger von dem, was fair und gerecht ist und daher die Grundlagen der Rechte und Pflichten darstellt, die der neuen Mehrheit zugeschrieben werden. Minoritär-Werden bildet daher einen weiteren Vektor des »Demokratisch-Werdens«. Eine dritte Form des Kampfes in modernen Demokratien betrifft die Prinzipien der Legitimität, die Entscheidungsfindungsprozesse regeln nicht nur in der Regierung, sondern in allen grundlegenden Institutionen der Gesellschaft. In seinem Interview Kontrolle und Werden mit Antonio Negri thematisiert Deleuze - wie bereits erwähnt - die Bedeutung der Rechtssprechung als einer Quelle des Gesetzes und neuer Rechte in Bezug auf die Biotechnologie. Er ergänzt, dass wir die Entscheidungen über solche Angelegenheiten nicht den Richtern oder Experten überlassen dürfen. Um die Rechte festzulegen, werden nicht mehr Komitees 224

DELEUZEIGuATTARI: DEMOKRATISCH-WERDEN

vermeintlich hoch qualifizierter Weiser, sondern vielmehr »Gruppen von Anwendern« (Deleuze 1993c: 244) benötigt. Das implizite Prinzip in dieser Empfehlung ist die demokratische Idee, dass Entscheidungen in Absprache mit denen getroffen werden sollten, die am meisten von ihnen betroffen sind. Dies ist eines der Grundprinzipien modemer demokratischer Regierung, und viele Theoretiker empfehlen seine Ausweitung und Anwendung aufneue Kontexte wie etwa den Arbeitsplatz (Peffer 1990: 419f.). lan Shapiro argumentiert, dass die Frage, ob jemandem ein Mitspracherecht in einer bestimmten Entscheidung zukommt oder nicht, entscheidend davon abhängt, in welchem Maß die Interessen einer Person von Entscheidungen tangiert werden. Je grundlegender das Interesse, desto größer ist die Berechtigung flir ein Mitspracherecht im Entscheidungsprozess (Shapiro 2003: 52). Die von Deleuze vorgeschlagene Anwendung dieses Prinzips im Bereich der Biotechnologie gibt Anlass zur Vermutung, dass die Öffnung von Entscheidungsprozeduren überall in der gesamten Gesellschaft einen weiteren Vektor des »DemokratischWerdens« konstituiert.

Fazit Die Identifikation dieser Vektoren des »Demokratisch-Werdens« ermöglicht uns zu erkennen, wozu dieser Begriff der spezifisch politischen Funktion der Philosophie, wie sie Deleuze und Guattari bestimmen, dient. Da es ein komplexer Begriff mit einer langen Geschichte der Interpretation und der praktischen Anwendung ist, umfasst Demokratie viele der zentralen politischen Normen des modemen politischen Denkens. Verschiedene Formen der demokratischen politischen Gesellschaft führen zu bestimmten Aktualisierungsformen, die im Begriff der Demokratie ausgedrückt sind. ln dem Maß, in dem sich Individuen und Gruppen in solchen Gesellschaften auf Elemente dieses Konzepts berufen, um Möglichkeiten zu artikulieren, wie die Ungerechtigkeit bestehender institutioneller Formen des gesellschaftlichen Lebens beseitigt werden kann, wird der Begriff des »Demokratisch-Werdens« zu einem Mittel der Gegenverwirklichung dieser Widerstandsformen gegenüber dem, was in gegenwärtigen demokratischen Gesellschaften gilt. Deleuzes und Guattaris Aufruf zum Widerstand gegenüber der Gegenwart im Namen des »Demokratisch-Werdens« steht nicht bezugslos neben ihrer Vorstellung von einer Philosophie, die in einem endlosen Kampf gegen die Meinung verwickelt ist (Deleuze/Guattari 2000: 241). Sie stimmen mit Rawls darin überein, dass sich politische Philosophie mit den allgemein verbreiteten oder philosophischen Ansichten eines bestehenden Volkes

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(und damit einer bestehenden Ordnung) auseinandersetzen sollte, auch wenn sie höchst unterschiedliche Positionen zu diesen einnehmen. Rawls' politischer Liberalismus zielt auf eine Rekonstruktion der allgemein geteilten Überzeugungen einer historisch spezifischen Gesellschaftsform, um einen systematischen Begriff einer fairen und gerechten Gesellschaft hervorzubringen - allerdings mit der Einschränkung, dass sich dieser Begriff mit dem Wandel der allgemein geteilten Auffassungen ändern könnte. Im Gegensatz dazu umfasst Deleuzes und Guattaris Konzeption der spezifisch politischen Funktion der Philosophie eine kritischere Auseinandersetzung mit den allgemein geteilten Überzeugungen, die eher auf deren Veränderung als auf ihre systematische Rekonstruktion zielt. Gemäß Deleuzes Vorbemerkungen zu den Unterhandlungen führt Philosophie einen Guerillakampf gegen die öffentliche Meinung und andere Mächte wie Religion, Wissenschaft und Recht. Seine Kritik an den Ungleichheiten, die vom Kapitalismus hervorgebracht werden, sollte in diesem Licht verstanden werden. Sie fordert die bestehenden Auffassungen über das, was akzeptabel ist, mit dem Ziel heraus, die Gleichheit der Bedingungen innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft auszuweiten und zu entwickeln. Allgemeiner: Philosophie initiiert oder unterstützt Prozesse des »Demokratisch-Werdens«, wenn sie die bestehenden Anschauungen über das, was richtig und gerecht ist, mit dem Ziel herausfordert, die Verwirklichung der Demokratie innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaften auszuweiten.

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DELEUZE/G UATTARI: DEMOKRATISCH-WERDEN

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ULRICH ßRIELER

Hardt und Negri stellen diesem neoautoritären Ton die demokratische Grundtatsache entgegen und dies in einer sehr entschiedenen Perspektive: Fragt nicht, was die Multitude heute ist, sondern was sie morgen werden kann. ln diesem Zusammenhang taucht die Formulierung von den »Armen« auf. Die »Armen« meint einerseits die materiell Verelendeten. Diese Populationen nehmen zu und keine Reform, kein Mikrokredit, keine Welthungerhilfe kann das Anwachsen dieser Massen stoppen. lhr Anschwellen liegt in der Logik des Weltmarktes und der Rationalität der globalen Aristokratien begründet. Der 1990 beschlossene und von IWF und Weltbank durchgesetzte »Washingtoner Consensus« war kein unglückliches Versehen. Der Bezug auf die »Armen« fUhrt andererseits einen kaum verdeckten messianischen Ton ein, begründet eine »materialistische Teleologie« (E: 77). Denn Armut sagt auch: Wer nichts hat, hat alle Möglichkeiten vor sich. In dieser Denkfigur verbinden sich der junge Marx und die christlichen Theoretiker der Armut des hohen Mittelalters. Der Bezug auf Franz von Assisi am Ende von Empire (E: 420), der höhnische Bemerkungen zur Folge hatte, betont diese Dimension einer politischen Spiritualität, die den Einsatz des politischen Kampfes mit dem Wunsch nach einer anderen Welt verknüpft. Das ist die Wette von Empire: Wird sich das historische Wunder noch einmal ereignen, dass die »Armen« Geist und Kraft entwickeln? Geschieht dies, werden die Karten neu gemischt. Es wäre historisch ein Ereignis wie das Auftauchen der Arbeit auf der politischen Agenda des 19. Jahrhunderts, politisch wie das Entstehen der (inter)nationalen Arbeiterbewegungen. Geschieht dies nicht, werden die globalen Aristokratien über die Geschicke des Globus entscheiden. Am Ende der Behaglichkeit, in der sich die Lohnarbeit in den Zentren des fordistischen Wohlstands eingerichtet hatte, konstatieren Hardt und Negri: Sozialpartnerschaft und Sozialstaat waren gestern. Die neuen Gesetze schreibt das Empire. Arbeiter sind wir heute (fast) alle.

Politik- Subjektivität- Kämpfe Politik ist stets ein Feld von Menschwerdung, von Subjektivierung. Die Originalität von Empire liegt darin, die Globalisierung unter einem doppelten subjektgeschichtlichen Signum zu lesen: der Veränderung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit und der Integration der kollektiven Massenwünsche nach Selbstbestimmung und Autonomie, die den sozialen Kämpfen nach 1968 ihr politisches Profil gaben. 242

DAs PoLITISCHE BEl MicHAEL HARDT UND ANTONIO NEGRI

Die Entwicklung zum Weltmarkt ist dem Epochenumbruch nach 1989 geschuldet. Sie schreibt aber zugleich Tendenzen fort, die der kapitalistischen Akkumulation immanent sind. Marx ist bekanntlich einer der ersten Theoretiker des Weltmarktes. Empire verbindet diese politischen und systematischen Momente mit einer gmndlegenden These zum neuen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit. Die verwissenschaftlichte und technologisch perfektionierte Produktion ergibt heute eine neue technische Zusammensetzung der Arbeitskraft. Eine paradoxe Konstellation: Das Weniger an lebendiger Arbeit im unmittelbaren Produktionsprozess bedeutet ein Mehr an formeller Integration des Sozialen, und dieses Mehr ist nichts anderes als die gesamte Gesellschaft. Marx hatte die Vorstellung entwickelt, dass ein historischer Moment denkbar ist, in dem sich das akkumulierte Produktionswissen, all das, was und wie sich das humane Arbeitsvermögen durch die Geschichte produziert hat, in einem industriellen Regime niederschlägt, das den Menschen erlaubt, nur mehr als »Wächter und Regulator zum Produktionsprozeß« (Marx 1983: 592) zu fungieren. Diese Tendenz zum »general intellect« vollendet sich vor unseren Augen. Die Einsetzung von Wissenschaft und Kommunikation in Produktplanung, Arbeitsorganisation, Distribution und Vermarktung setzt nicht nur eine globale Produktionsweise frei, sie verändert die Subjektivität des Gesamtarbeiters. Wenn Wissen und Kommunikation zur zentralen Grundlage der Produktionsweise werden, so entsteht ein Gefüge kollektiver Arbeit, das eine »abstrakte Kooperation« (E: 307) der Produzenten ermöglicht. Man braucht sich nicht zu begegnen, um miteinander zu produzieren. Das Netzwerk, das nichts als die Kommunikation der Akteure ist, bildet die Brücke. Daher konstatiert Empire fur das lebendige Arbeitsvermögen ein Wachsen an Kraft, das den Namen »Selbstverwertung« (E: 305) erhält. Denn die immaterielle Arbeit forciert in allen Bereichen das Moment der Interaktion und Kooperation - ohne das Kommando einer äußeren Gewalt: »Die Hirne und Körper brauchen auch weiterhin die anderen, um Wert zu produzieren, doch die anderen, die sie brauchen, stellen nicht mehr notwendigerweise das Kapital und seine Fähigkeit, die Produktion zu orchestrieren« (E: 305). Die Produzenten wissen, was sie tun, daher brauchen sie keinen, der sagt, was zu tun ist. Die materielle Grundlage einer befreiten Arbeit liegt also in deren widersprüchlichen Möglichkeitsbedingungen. Hardt und Negri arbeiten daher systematisch mit der Dialektik von »Bio-Macht« und »Biopolitik«. Bio-Macht signalisiert eine aktualitätshistorische Diagnose. Sie ist die »Bezeichnung ftir die reelle Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital und beide sind Synonyme der globalen Produktionsordnung« (E: 372). Biopolitik erscheint als eine dialektische Gegenkraft. Sie konzen243

ULRICH ßRIELER

triert das Arbeitsvermögen des globalen Produktionskörpers, der in seiner kooperativen Vemetzung auf neue Weise das Versprechen auf Emanzipation durch die Arbeit aktualisiert. Hardt und Negri sind die zeitgenössischen Erben einer subjekttheoretischen Denkungsart, die in Marx und Foucault (vgl. Brieler 2007) ihre wichtigsten Kronzeugen besitzt. In dem Maße, in dem die industrielle Dynamik global voranschreitet, wird die Nutzbarmachung der humanen Lebenspotentiale immer dringlicher, wird die Subjektivität aber auch zum Ort gesellschaftlicher Kämpfe. Denn die aktuellen Möglichkeiten erleben wir nur in verkehrter Form. Potentiell freie Zeit führt zu Arbeitslosigkeit, autonome Verwertung zu Prekarisierung, neue Subjektivität bringt keine wirkliche Assoziation hervor. Was möglich wäre, wird nicht wirklich. Wo es möglich wäre, erheblich weniger Lohnarbeit zu leisten und wirklich freie Zeit zu gewinnen, herrscht Hetze, Hektik, Hysterie, damit der Reichtum auch morgen noch Armut schafft. Die reale Utopie der 20-Stunden-Woche ist heute so wenig wahrscheinlich wie der Acht-Stunden-Tag im 19. Jahrhundert. Die immaterielle Arbeit stärkt die Arbeitsvermögen. Die kollektive Dimension der Subjektivität wird damit in enormer Weise aufgewertet. Hardt und Negri sprechen vom »>Gemeinsam- Werdenparasitäre Schicht>Umfassende Bewegung, die all das betrifft, was die Menschen in der Gesellschaft tun und was sie erleiden, vor allem ihr reales Alltagsleben« (ebd.: 36). Diese Spezifizierung des Politikbegriffs wird auch die Bruchstelle innerhalb der Gruppe Socialsme ou Barbarie bilden, denn Castoriadis entwickelt ein Verständnis der sozialistischen Revolution, das sowohl den Klassendifferenzen als auch den ökonomischen Fragen im Allgemeinen nur eine geringere Bedeutung zumisst: »Die verallgemeinette Bürokratie, die Herabsetzung des ökonomischen Problems in den fortgeschrittenen Ländern, die Krise der etablietten Kultur, die potentielle Protestbewegung, die alle Bereiche des sozialen Lebens erfaßt und von allen Schichten der Bevölkerung getragen wird [... ], zeigten, daß man, so wenig wie man den Sozialismus einzig von der Umwandlung der Produktionsbeziehungen her definieren konnte, ebenso wenig auch von jetzt an vom Proletariat als bevorrechtigtem Treuhänder des revolutionären Projektes reden konnte« (ebd.: 36).

Geschichte, Theorie und Praxis Den vollständigen Bruch mit Marx vollzieht Castoriadis in Absetzung von dessen Geschichtsphilosophie. Deren Problem, so seine Kritik, besteht vor allem in ihrer eschatologischen Tendenz oder - wie Castoriadis es formuliert- darin, dass Marx Geschichte als Produkt eines allmächtigen technologischen Prozesses versteht, der auf unerklärliche und wundersame Weise die kommunistische Zukunft der Menschheit sichern soll. Marx wird damit zum letzten großen Vertreter vom Mythos der Rationalität des Westens, jener historisch einzigartigen Kombination aus Permanenz und Revolution. Dieser Mythos speist sich aus einer Fortschrittsideologie, aus dem absoluten Vertrauen in eine historische Vernunft, die im Geheimen bereits alles für unser zukünftiges Glück eingerichtet hat. An diesem Punkt werde deutlich, dass Marx seinem Diktum, wonach es nicht darauf ankomme, die Welt unterschiedlich zu interpretieren, sondern darauf, sie zu verändern, selbst nicht gefolgt sei und die Praxis lediglich als eine Anwendung der Theorie erscheine.

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RosERT SEYFERT

Überschaut man noch einmal die intellektuelle Entwicklung von Castoriadis bis zu diesem Zeitpunkt, die trotz aller Differenzen grundlegend vom Marxschen Werk geprägt war, dann ermisst man das Ausmaß der vollständigen Abkopplung von diesem Denken. Denn nun heißt es für Castoriadis, eine neue Theoriegrundlage zu finden bzw. zu erfinden. Er ist sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst. Für die von ihm immer noch angestrebte Theorie des Sozialismus, nun allerdings ohne Marxismus, sind Umbauten notwendig, die im Rahmen der Gruppe Socialisme our Barbarie nicht mehr zu leisten waren (ebd.: 46). Die Auflösung der Zeitschrift begründet Castoriadis in der letzten Ausgabe auch mit der passiven Konsumentenhaltung der interessierten Beobachter. Zur Grundfrage der Marxschen Philosophie, der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, zurückgekehrt, gilt es für Castoriadis, nicht nur dieses Verhältnis, sondern auch die Bedeutung der Geschichte erneut zu durchdenken. Man könnte vielleicht sagen, dass Theorie im Vergleich zu Marx an Bedeutung gewinnt bzw. dass die klare Trennung zwischen Theorie und Praxis verschwimmt, denn Castoriadis erkennt, dass der immer unsichere Versuch die Welt zu erklären, selbst schon gesellschaftliche Praxis ist: ein Projekt, das die Menschen als Akteure auf dem Weg zu ihrer eigenen Autonomie ansieht. Hinsichtlich einer Philosophie der Geschichte formuliert Castoriadis zunächst noch in Abgrenzung zu Marx: »An die Stelle der lebendigen Deutung einer immer wieder Neues schaffenden Geschichte war [bei Marx, R.S.] eine vorgebliche Geschichtstheorie getreten, die die vergangeneu Stadien eingeordnet und ihr die nächste Etappe zugewiesen hatte; die Geschichte als die Geschichte des sich selbst produzierenden Menschen wurde zum Produkt einer allmächtigen technischen Entwicklung« (ebd.: 39). In seinem 1975 erschienenen Buch Gesellschaft als imaginäre Institution ist die Auseinandersetzung mit Marx vollständig abgeschlossen, und Castoriadis entwickelt dort eine neue Theorie der Institutionen, zu der auch eine eigenständige Theorie der Geschichte gehört: Er verbindet die Idee reinen Werdens mit einer Theorie des historischen Prozesses, des permanenten, ungerichteten Entstehen neuen Lebens. Jede soziale und historische Forschung muss diese sich vollziehende Geschichte zurückverfolgen, statt sich nur mit der strukturellen Anordnung von Fakten zu beschäftigen. Geschichte darf nicht als situative Konstellation gelesen werden, sondern selbst als ein Leben. Dabei hängt alles davon ab, welches Modell zum Tragen kommt. Ist Geschichte als ein sich entwickelndes Leben zu denken, als Altem und Degenerieren, als eine Kombinati-

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CASTORIADIS: INSTITUTION, MACHT, POLITIK

on von beidem in einem Kreislauf oder als Abfolge von Kreisläufen? Damit geht zugleich die jeweilige Spezifizität und Einzigartigkeit sozialen Seins einher, das »Gesellschaftlich-Geschichtliche«, wie Castoriadis es nennt, das niemals nur eine unendliche Aufsummierung von Individuen, intersubjektiven Netzwerken oder deren einfaches Produkt ist. Vielmehr besteht Geschichte auf der einen Seite aus gegebenen Strukturen, den >materialisierten< Institutionen und deren Werken, und auf der anderen Seite aus dem, was institutiert und materialisiert: Das »Gesellschaftlich-Geschichtliche«2 ist das Miteinander der instituierten und der instituierenden Dimensionen der Gesellschaft, die gemachte Geschichte und die Geschichte im Entstehen. Im Gegensatz also zu Marx, der eine kommunistische Zukunft und damit das glückliche Ende der Menschheit als geschichtlichen Selbstverwirklichungsprozess konzipiert, denkt Castoriadis die gesellschaftlich-geschichtliche Welt immer als Schöpfungsprozess einer Gesellschaft. Das Geschichtliche und das Gesellschaftliche sind nicht voneinander zu trennen, da jede Gesellschaft sich als eine spezifische Zeitlichkeit erfindet und versteht und Geschichte nur als Selbstveränderung der Gesellschaft existiert.

Das Instituierende des Imaginären Mit dem Konzept des Instituierenden, also dem Prozess einer Institution im Entstehen, behandelt Castoriadis ein Thema, dem die Sozial- und Kulturwissenschaften bis heute nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet haben. 3 Es handelt sich um die Frage nach der tatsächlichen, beständig werdenden Welt, die mit strukturellen oder statischen Begriffen wie Institution und Gesellschaft nicht zu verstehen ist. Auch das in der Soziologie übliche Konzept des »sozialen Wandels« wendet sich eher den (in erster Linie historischen) Differenzen verschiedener Systemzustände bzw. Strukturierungen zu. Selten aber kommt das Werden der Gegenwart selbst in den Blick, in dem sich Institutionen beständig aktualisieren und mehr oder weniger unbemerkt wandeln: das Institutierende. Das Novum von Castoriadis' Theorie besteht darin, das Auftauchen des Neuen innerhalb einer Gesellschaft völlig von politökonomischen Herleitungen befreit und es zugleich als kollektive und kreative Aktivität be2

3

Ygl. dazu Castoriadis (1990), Kapitel4, 285-372. Verweisen könnte man auf Hans Joas und sein Konzept der Kreativität des Handelns. Jedoch sind die Schwierigkeiten, Kreativität ausschließlich an menschliches Handeln anzuschließen, nicht unbedeutend. ln eine andere Richtung geht die Bemühung der Systemtheorie und ihr Verständnis von »Emergenz«. Vgl. dazu und zu Theorien des Werdens im Allgemeinen Seyfert (2006). 261

RosERT SEYFERT

schrieben zu haben. Castoriadis hat die Quelle für gesellschaftliche Schöpfungen »instituierende Macht« bzw. »kollektives anonymes Imaginäres« genannt. Grundlegend geht der Idee des Imaginären die Beobachtung voraus, dass jede Gesellschaft ihre Bedeutungen, ihre sozialen Sinnzusanunenhänge selbst schafft. Castoriadis' These besteht nun darin, dass weder die materiellen Umstände, noch die gesellschaftliche Rationalität oder ihr Symbolismus als Überbau gelten können. Weder reicht es, die materiellen Umstände umzubauen, noch (wie eine Tradition ausgehend von Gramsei glaubt) den kulturellen Diskurs zu besetzen. Worauf es dagegen ankommt, ist zu verstehen, dass all diese Materialitäten, Realitäten und Symbolismen einer Gesellschaft grundlegend auf den Bedeutungen und Sinnzusammenhängen beruhen, welche die Gesellschaft selbst schafft. Der Sinn einer Gesellschaft und die gesellschaftlichen Bedeutungen sind ihre eigenen imaginären Kreationen. Die imaginären Bedeutungen bringen Institutionen hervor und treiben sie an: Sie schaffen die Welt. Dies geht in jeder Gesellschaft unterschiedlich vonstatten und hängt davon ab, welche Unterscheidungen zwischen >natürlicher< und >übernatürlicher< oder allgemeiner >außersozialer< und >sozialen Welt getroffen werden. Historisch sind diese Unterscheidungen vielfältig und können von der Unterordnung der Gesellschaft unter eine kosmische Ordnung (einen Gott oder verschiedene Götter), über die Orientierung an stiftenden Helden, Vorfahren, der Natur, der Vernunft oder der Geschichte bis zu hin Vorstellungen der Kontrolle und Beherrschung der Natur reichen. Für Castoriadis ist diese grundlegende Unterscheidung zwischen dem Sozialen und dem Außersozialen in keiner Weise real, rational oder gar symbolisch, sondern begründet umgekehrt erst, was als real, rational oder symbolisch gilt. Hier zeigt sich die konstitutive Funktion des Imaginären für Sinnzusammenhänge, Bedeutungen und Symbole einer Gesellschaft: »Gott ist eine weder zum Realen noch zum Rationalen gehörige Bedeutung, er ist auch kein Symbol für etwas anderes. [... ] Gott ist weder der Name Gottes noch die Summe der Bilder, die sich ein Volk von ihm machen kann, oder dergleichen. Er ist das, worauf alle Symbole verweisen, die ihn tragen; er ist das, was in einer jeden Religion diese Symbole zu religiösen Symbolen macht eine zentrale Bedeutung, eine systematische Organisation von Signifikanten und Signifikaten- das, was diesen Verknüpfungen Einheit verleiht, zugleich aber auch die Möglichkeit gewährleistet, dieses System von Verknüpfungen zu erweitern, zu vervielfachen und zu verändern. Und da jene Bedeutung weder auf Wahrnehmbares (Reales) noch auf ein Gedächtnis (Rationales) bezogen ist, handelt es sich um eine imaginäre Bedeutung« (Castoriadis 1990: 241).

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CASTORIADIS: INSTITUTION, MACHT, POLITIK

Das Konzept des imaginären besagt, dass Gesellschaft in erster Linie als die kunstvolle und erfindungsreiche Einrichtung einer sozialen Welt zu verstehen ist. Das Imaginäre ist darüber hinaus eine Kategorie, die als Bedingung der Möglichkeit von Realität und Rationalität, von Wahrnehmung und Symbolgebrauch operiert. Dem geht die Beobachtung voraus, dass das alltägliche Leben und die alltägliche Vergesellschaftung in all ihren Erscheinungsformen einen unendlichen Überfluss von Elementen aufweist, die nichts mit dem Realen, Rationalen oder Symbolischen zu tun haben. Umgekehrt sind diese Elemente vom imaginären abhängig bzw. von ihm geschaffen. Was als >rational< und >real< gilt, hängt von einer imaginären Setzung von Bedeutungen ab. Dieses Setzen ist die wirkliche lnstituierung der Gesellschaft: die Artikulationen, die es auf sich und auf die Welt anwendet. Die sozialen Bedeutungen sind abhängig vom radikalen Imaginären, wie es sich im Prozess der instituierenden Gesellschaft manifestiert (insofern die letztere von der instituierten Gesellschaft unterschieden wird). Das Imaginäre verkörpert sich in sozialen Bedeutungen, die ftir die Individuen unentbehrlich sind. Instituiert sind diese Bedeutungen insofern, als sie in und durch alle sozialen Objekte etabliert, sanktioniert und materialisiert sind. Wenn sie vom instituierenden Prozess zu einem instituierten Moment übergegangen sind, führen sie ein unabhängiges Leben. Diese Unabhängigkeit beschreibt Castoriadis mit dem Marxschen Begriff der >Entfremdung< als die Differenzierung zwischen dem instituierenden Prozess (des Imaginären) und instituierten sozialen Bedeutungen. Dabei formuliert er den Begriff der Entfremdung jedoch so um, dass diese als ein Prozess zu verstehen ist, in dem die imaginären Bedeutungen in und durch den Prozess der Instituierung in dem Sinne autonom werden, dass niemand ohne diese sozialen Bedeutungen (Sprache etc.) operieren kann.

Das Imaginäre und das Politische Das imaginäre ist aber nicht nur eine Fähigkeit oder eine virtuelle Leistung des Kollektivs, sondern deren >radikale GrundmachtMonopollegitimer GewaltanwendungGruppen Bewaffneter< erhalten. [... ]Die mächtigste Armee der Welt kann Sie nicht beschützen, wenn sie Ihnen nicht treu ergeben ist - und der Grund für diese Loyalität liegt letztlich im imaginären Glauben an Ihre imaginäre Legitimität« (Castoriadis 2006: 146). Wenn Castoriadis davor warnt, den Begriff des Politischen mit der Institution der Gesellschaft gleichzusetzen bzw. zu ersetzen, so warnt er umgekehrt davor, ihn auf den Begriff des Staates zu reduzieren. Der Staat ist ft.ir ihn eine Institution zweiter Ordnung und beschränkt sich darüber hinaus auf solche Fälle, in der die Institution eines politischen Apparates existiert, der eine getrennte zivile, militärische oder priesterliche Bürokratie voraussetzt, d.h. eine hierarchische Organisation mit Abgrenzung von Kompetenzgebieten.

Politik Wichtiger als das Politische ist für Castoriadis der Begriff der Politik, den er im Zusammenhang mit seiner Kritik an der These einführt, das Politische sei eine Erfindung der Griechen (Castoriadis 1980). Diese haben, so Castoriadis, weder das Politische noch die Institution der Gesellschaft erfunden, sondern die Politik als das Prinzip der Autonomie. Die Griechen rekurrierten nicht auf heilige Bücher oder Propheten, sondern auf Dichter, Philosophen, Gesetzgeber und die politai- die Bürger. Dem Prinzip der Autorität (dem Politischen) stellten sie das Prinzip der Auto-

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CASTORIADIS: INSTITUTION, MACHT, POLITIK

nomie (Politik) entgegen. Politik, so wie sie die Griechen geschaffen haben, besteht, so Castoriadis, im expliziten Infragestellen der wichtigsten Dimension der Institution der Gesellschaft: der Repräsentationen und Normen eines Stammes und derbloßen Vorstellung der >WahrheitRichtigkeitnatürlichen< nomos gibt (der Ausdruck wäre im Griechischen ein Widerspruch in sich)« (ebd.: 15lf.). Die Entdeckung der Willkürlichkeit des >Nomos< eröffnet die unabschließbare Diskussion über >richtig< oder >falschrichtige PoliteiaNation< oder >Volk< wieder: »Die Nation erflillt diese Aufgabe der Identifikation, indem sie auf eine >gemeinsame Geschichte< verweist - eine Bezugnahme, die gleich in dreifachem Sinne imaginär ist, denn erstens gehört die Geschichte der Vergangenheit an, zweitens reichen die Gemeinsamkeiten nicht sonderlich weit, und schließlich ist das, was von dieser Vergangenheit gewußt wird und als Träger gemeinschaftsbildender Identifikationen im Bewußtsein der Leute dient, größtenteils mythisch« (Castoriadis 1990: 254f.). Dasselbe gilt ftir die Idee der Souveränität des Volkes, die sich genau wie die Vorstellung von der Nation aus einer gewandelten religiösen Vorstellung ableitet. Jede Übernahme einer irgendwie substantiellen Vorstellung von der Einheit der Nation oder des Volkes kann die Bedingungen für eine autonome Gesellschaft nicht erfüllen, die gerade darin bestehen, die gegebenen Gesetze zu hinterfragen, das Verhältnis von imaginären Sinnsetzungen und historischen Lebensverhältnissen zu erneuern. Dann ist nicht nur die Vorstellung von einer Nation oder einem Volk problematisch, sondern auch jede Konstruktion einer Verfassung, deren Idee gerade nicht in der beständigen Infragestellung gegebener Institutionen, sondern umgekehrt in der Fixierung bestimmter Dimensionen einer spezifisch geschichtlichen Institution besteht. Autonomie betritt dann die politische Bühne, so Castoriadis, wenn uneingeschränktes Hinterfragen die Szenerie beherrscht, ein Hinterfragen, das sich jedoch nicht auf Tatsachen und deren Richtigkeit bezieht, sondern auf die sozialen imaginären Bedeutungen und ihre konkreten Fundierungen. Dieses Moment beschreibt Castoriadis als jenes der Schöpfung, der einen neuen Gesellschafts- und Menschentyp ankündigt. Gesellschaftstheoretisch versteht er darunter die Geburt der Demokratie und der Politik, die weder durch die Herrschaft von Recht und Gesetz noch durch Menschenrechte oder die Gleichheit der Bürger erklärt sind, sondern durch das Auftauchen des permanenten Infragesteliens der Gesetze im tatsächli-

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CASTORIADIS: INSTITUTION, MACHT, P OLITIK

chen Handeln der Gemeinschaft. Autonomie bedeutet, sich seine eigenen Gesetze zu geben. Politik der Gesellschaft heißt folglich Auto-Institution. Politik in diesem Sinne ist weder der Machtkampf innerhalb einer Institution, noch ist es der Kampf um die Veränderung einer politischen Institution oder gar aller Institutionen. Politik ist der Kampf um die Transformation des Verhältnisses einer Gesellschaft zu ihren Institutionen, der Kampf ftir die Herstellung einer gesellschaftlichen Situation, in welcher die Mitglieder als soziale Wesen in der Lage und willens sind, Institutionen, die ihr Leben regieren, als eine kollektive Schöpfung anzusehen und diese immer dann zu verändern, wenn sie das Bedürfnis und das Verlangen danach haben. Für die gegenwärtige Gesellschaft formuliert Castoriadis das Ziel der Politik als einen Zustand, in dem die Frage nach der Gültigkeit der Gesetze dauerhaft offen bleiben muss. Die Gesamtheit muss immer in der Lage sein, ihre Regeln zu transformieren - mit dem Bewusstsein, dass diese Regeln weder vom Willen Gottes noch vom Wesen der Dinge oder von der Vernunft der Geschichte herrühren, sondern stets von ihr selbst.

Was zu tun bleibt Castoriadis kommt das Verdienst zu, mit dem Begriff des kollektiven Imaginären ein kulturtheoretisches Konzept geliefert zu haben, welches über individual-psychologische Kategorien hinaus geht. Dieses Imaginäre ist ganz explizit keine Leistung einzelner Individuen, sondern eine kulturelle. Castoriadis hat damit zugleich eine Kritik an Symboltheorien geliefert, die jedes kulturelle Geschehen auf Symbolgebrauch und Kommunikation reduzieren, da solche Symbole zuerst geschaffen und mit Bedeutung versehen werden müssen. Man könnte Castoriadis vorwerfen, dass er das Imaginäre mit Aufgaben belastet, die diesem nicht zukommen können. Dies zeigt sich vor allem darin, dass er ihm eine dominierende konstitutive Funktion zuspricht. Castoriadis hat ohne Zweifel recht, wenn er hinsichtlich des Symbolischen auf die diesem zugrunde liegenden imaginären Leistungen hinweist, die es erst hervorbringen und mit Bedeutung und Sinn ausstatten. Er lässt jedoch zwei weitere Sphären unberücksichtigt, die beide - sowohl das Symbolische als auch das Imaginäre - begleiten: Intention und Affektivität. Es nicht so, dass sich Castoriadis dieses Zusammenhangs nicht bewusst wäre. Er hat im Gegenteil gerade mehrfach darauf hingewiesen, dass das Imaginäre nur eine Dimension im dreifachen

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RosERT SEYFERT

Strom von Imagination, Intention und Affektivität darstellt. Und er hat darüber hinaus vor jeder Tendenz gewarnt, die Gesellschaft durch eine dieser Dimensionen allein erklären zu wollen: »Die Gese llschaft instituiert sich in den und durch die untrennbaren Dimensionen der Vorstellung, des Affekts und der Intention. Der vorstellungsrelevante [ ... ] Anteil des Magmas gesellschaftlicher imaginärer Bedeutungen ist am leichtesten zugänglich. Doch bliebe dieser Zugang gänzlich unzureichend (wie häufig bei geschichtsphilosophischen Theorie oder geschichtlichen Abhandlungen), wenn er nur auf eine Geschichte und Hermeneutik von >Vorstellungen< und >Ideen< hinausliefe, aber für jede Gesellschaft charakteri stische Magma von Affekten- ihre Stimmung, ihre >AI1, sich selbst, wie die Welt und das Leben zu erleben< - ebenso außer Acht ließe, wie die intentionalen Vektoren, die die Institution mit dem Leben der Gesellschaft verknüpfen, was man als den ihr eigenen und charakteristischen Drang bezeichnen ka1m (der sich idealiter auf ihre bloße Selbsterhaltung beschränken könnte, was aber in Wirklichkeit niemals der Fall ist). Aufgrund dieses Dranges ist in der Vergangenheit und Gegenwart die Gesellschaft eine Zukunft [a-venir] enthalten, etwas, das stets zu tun bleibt« (Castori adis 2006: 145).

Castoriadis hat den dreifachen Strom von Vorstellung, Affekt und Intention an verschiedenen Stellen (vor allem in seinen späten Schriften) immer wieder betont (vgl. Castoriadis 2006). Die Beschränkung auf nur eine dieser Dimensionen (das Imaginäre) wird dann verständlich, wenn man einen Blick auf die ca. 600 Seiten von Gesellschaft als imaginäre Institution wirft. Castoriadis hat sogar die Erklärung mitgeliefert, warum es zu dieser Einseitigkeit gekommen ist: weil die Sphäre des Imaginären »am leichtesten zugänglich« ist. Jedoch hat er in Gesellschaft als imaginäre Institution dem Imaginären eine solch prominente Bedeutung für die Gesellschaft zukommen lassen, dass die beiden anderen Kategorien nicht nur nicht auftauchen, sondern deren Funktionen auch gelegentlich vom Imaginären übernommen werden. So kann man es hinsichtlich der instituierenden Bewegung der Gesellschaft kaum bei der Feststellung belassen, dass die Gesellschaft ihren Bedeutungs- und Sinnzusammenhang imaginär erzeugt. Ganz offensichtlich ist dieses Imaginäre nie eindeutig, sondern besteht immer aus pluralen Sinnzusammenhängen und Bedeutungen, die sich ständig verschieben. Die Frage warum bestimmte kollekti ve Imaginationen zu bestimmten Zeiten aufgegriffen werden, kann nur darin begründet liegen, dass manche mehr zu überzeugen wissen als andere. Mit Castoriadis wissen wir, dass die Überzeugung keineswegs ein rationaler Vorgang sein muss, da das, was als rational gilt, gerade erst durch das Imaginäre erschaffen wird. Vielmehr kommt hier die Dimension der Affektivität ins Spiel. Ein kollektives Imaginäres 270

CASTORIADIS: INSTITUTION, MACHT, POLITIK

zeichnet sich immer auch dadurch aus, dass es auf besondere Weise zu affizieren weiß. Mit Ludwik Fleck (1980: 60) könnte man sagen, dass das Imaginäre nicht nur erzeugt wird und ein gesellschaftliches Produkt darstellt, sondern, dass es im ganz besonderen Maße einen »Denkstil« bildet, der einer »besonderen Stimmung« entstammt. Die fehlende Berücksichtigung der Intentionen (»Drang«) führt auch zu einer Überbeanspruchung des Konzeptes der Autonomie. Autonome Prozesse kommen genau dann in den Blick, wenn die Gesellschaft sich als eine Auto-Imagination erkennt - sie erkennt sich als Einheit und glaubt in diesem Zustand tatsächlich, dass sie und nur sie die Welt konstruiert. Momente der Genese des Neuen scheinen dadurch aber kaum beschreibbar, weil diese ja genau umgekehrte »intentionale Vektoren« aufweisen - aus sich heraus und über sich hinaus. Dafür bedarf es einer Bewegung, die über das eigene Institutionalisierte hinaus geht und die Welt tatsächlich schafft. In dieser intentionalen Bewegung schaltet Gesellschaft von Autonomie auf Souveränität um. Man kann es im Sinne Nietzsches auch so sagen: Wir sind keine Gesellschaft, wir sind Dynamit. Auch in einem anderen Zusammenhang überlastet Castoriadis das Vermögen des Imaginären. So erklärt er den Vorrang des Imaginären gegenüber dem Symbolischen anhand des folgenden Beispiels: »Eine Fahne ist ein Symbol mit rationaler Funktion, Erkennungszeichen und Sammelpunkt, wird aber bald zu einem Gegenstand, um dessentwillen man imstande ist, in den Tod zu gehen, und der den Patrioten einen Schauer über den Rücken jagt, wenn sie eine Militärkolonne vorbeimarschieren sehen« (Castoriadis 1990: 224). Castoriadis weist hier auf die imaginäre Bedeutung hin, mit der eine Fahne aufgeladen ist, und die durch das Symbol allein gerade nicht erklärt wird. Was dieses Beispiel doch aber in ausgezeichneter Weise zeigt, ist der dreifache Strom von Imagination (Fahne), Affekt (Schauer) und Intention (Bereitschaft in den Tod zu gehen). Denn es sind nicht die mit der Fahne verbundenen Vorstellungen, die einen Patrioten erschauern lassen, sondern vielmehr eine besondere Stimmung, die mit dem Geftige Fahne-Militärkolonne zu tun hat. Und es ist auch nicht das Imaginäre, das die Bereitschaft in den Tod zu gehen erzeugt, sondern ein kollektiver intentionaler Vektor. Castoriadis' Hauptwerk ist sicher Gesellschaft als imaginäre Institution. Um nun den dreifachen Strom von Vorstellungen, Intentionen und Affekten in einer Kulturtheorie wieder zu vereinen, müssten noch zwei weitere Bücher geschrieben werden: Gesellschaft als intentionale Institution und Gesellschaft als affektive Institution. 4 4

Zumindest in Ansätzen wird dieser Versuch gemacht in Seyfert (2009). 271

RosERT SEYFERT

Literatur Castoriadis, Comelius (1980): Sozialismus und Barbarei. Analysen und Aufrufe zur kulturrevolutionären Veränderung, Berlin. Castoriadis, Cornelius (1981 ): Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt a. M. Castoriadis, Comelius (1990:) Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M. Castoriadis, Cornelius (1991): »Der Zustand des Subjekts heute«. In: Pechriggl/Reitter 1991, S. 11-53. Castoriadis, Cornelius (2006): Autonomie oder Barbarei. Ausgewählte Schriften, Band I, Lieh/Hessen. Castoriadis, Comelius (2007): Vom Sozialismus zur autonomen Gesellschaft. Über den Inhalt des Sozialismus. Ausgewählte Schriften, Band 2.1, Lieh/Hessen. Fleck, Ludwik ( 1980): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt a.M. Gregorio, Francesco (2002): »Comelius Castoriadis und der griechischpolitische Keim«. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2, S. 329-344. Joas, Hans (1989): »Institutionalisierung als kreativer Prozeß. Zur politischen Philosophie von Cornelius Castoriadis«. In: Politische Vierteljahresschrift 30 (4), S. 585-602. Junius [Rosa Luxemburg] ( 1916): Die Krise der Sozialdemokratie, Zürich. Laclau, Ernesto!Mouffe, Chantal (2006): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien. Pechriggl, Alice/Reitter, Kar! (Hg.) (1991): Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornelius Castoriadis, Wien/Berlin. Schmitt, Carl (1987 [1928]): Der Begriff des Politischen, Berlin. Seyfert, Robert (2006): »Wissen des Lebens. Lebenssoziologische Beiträge zur Wissenssoziologie«. In: Sociologia internationalis 2/2006, S. 193-215. Seyfert, Robert (2009): Aspekte einer Allgemeinen Theorie der lnstitutionalisierung, Universität Konstanz (unveröff. Dissertation). Tassis, Theofanis (2007): Cornelius Castoriadis: Eine Disposition der Philosophie, Dissertationsschrift an der FU Berlin, http://www.diss.fu-berlin.de/2007/389/ (letzter Zugriff 0 1.12.2008). Trotzki, Leo (2006): Verteidigung des Marxismus, Essen. Weber, Max (1934 [1920]): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen.

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»Waffen sind an der Garderobe abzugeben«. Bruno Latours Entwurf einer politischen Ökologie THOMAS LEMKE

Bruno Latour zählt zu den profihertesten und produktivsten Vertreter der Wissenschafts- und Technikforschung und prägt diese Disziplin seit mehr als dreißig Jahren. 1 Der zusammen mit Steve Woolgar veröffentlichten Arbeit Labaratory Life. The Social Construction of Scientific Facts (1979), der Feldstudien im kaliforniseben Salk Institute zugrundelagen, folgen Science in Action ( 1987) und The Pasteurization ofFrance (1988). Im Mittelpunkt dieser Arbeiten stehen die Bildung naturwissenschaftlichen Wissens und die Herstellung technischer Artefakte. Einen größeren Publikum bekannt wurde Latour in den 1990er Jahren mit seinem brillanten Essay Wir sind nie modern gewesen (1995). Darin vertritt er die These, dass die wissenschaftliche und technologische Dynamik der Modeme wesentlich auf der prinzipiellen Trennung von Natur und Gesellschaft beruht. Die Folge dieses konzeptionellen Dualismus sei die ungeregelte Produktion von Mischwesen zwischen Natur und Gesellschaft, sogenannter Hybride. Deren ungehinderte und unreflektierte Ausbreitung führt Latour zufolge sowohl zu einer ökologischen Selbstgefahrdung der Modeme als auch zu demokratischen Defiziten. Die Genese und Kontrolle von Wissenschaft und Technologie verbleibe in der Hand weniger Experten, während flir die nicht-menschlichen Akteure - Pflanzen, Tiere, die unbelebte Natur, aber auch technische Artefakte- in der »modernen Verfassung« keine Stimme vorgesehen sei. Für Anregungen und die kritische Lektüre einer ersten Fassung danke ich Malaika Rödel.

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In den letzten Jahren hat sich Latour detaillierter mit diesen beiden Problemdiagnosen - der ökologischen und der demokratischen Frage beschäftigt. Er bewegte sich schrittweise von spezifischen Laborstudien zu einer allgemeinen Gesellschaftsdiagnostik und setzte sich expliziter als in den vorangegangenen Arbeiten mit politischen Theorien auseinander. Hatte er auch schon in früheren Texten die politischen Implikationen seiner Interpretation der Moderne diskutiert, nahmen seine Arbeiten in den vergangeneu Jahren ein immer stärkeres programmatisches Profil an. Das >Hauptwerk< in dieser Hinsicht ist Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie (200 I), dessen Titel im französischen Original »Politique de la nature« lautet und zuerst 1999 erschien? In meinem Beitrag werde ich zunächst sehr lmapp Gnmdannahmen und zentrale Begriffe Latours vorstellen, um dann im zweiten Teil seine Interpretation der Krise der Moderne zu erläutern. Die Suche nach Lösungsvorschlägen führt uns dann im dritten Teil zu den Argumentationslinien und den Grundthesen von Das Parlament der Dinge, in dem sich die politische Theorie Latours in ihrer prägnantesten Fassung findet. Die Probleme und Defizite dieses Entwurfs stehen im Mittelpunkt des vierten Teils, bevor ich am Ende ein Fazit ziehe.

1. Akteur-Netzwerk- Theorie: Theoretische Verschiebungen und die Überwindung konzeptioneller Dualismen Innerhalb der vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum fest verankerten science and technology studies (STS) hat Bruno Latour zusammen mit Autoren wie Michel Callon, John Law und vielen anderen ein spezifisches Forschungsprogramm ausgearbeitet: die Akteur-NetzwerkTheorie (ANTV Sie gewinnt ihr spezifisches Profil durch eine Reihe von Distanzierungsbewegungen, die es erlauben sollen, etablierte konzeptionelle Rahmen und theoretische Vorannahmen zu hinterfragen, um eine möglichst genaue empirische Beschreibung von Akteurskonstella2

3

Der Akzentverlagerung in seiner Arbeit korrespondiert ein institutioneller Wechsel. Latour, der lange Zeit an der eher technisch-ingenieurwissenschaftlich ausgerichteten Ecole nationale superfeure des mines in Paris lehrte, ist mittlerweile Professor am renommierten politikwissenschaftlichen Institut d 'etudes politiques. Theoriegeschichtlich knüpft die ANT zum einen an die sozialkonstruktivistische Wissenschaftsforschung, zum anderen an Einsichten der Semiologie an (vgl. Simms 2004: 380 f. ; Belliger/Krieger 2006). Für eine Bilanzierung und die Dokumentation wichtiger Akzentverschiebungen innerhalb dieser Forschungsrichtung vgl. Law/Hassard 1999.

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tionen und Interaktionsformen zu erhalten. Dabei werden klassische konzeptionelle Dualismen aufgelöst oder >aufgehobenGesellschaft< durch den Begriff Kollektiv- worunter wir den Austausch menschlicher und nicht-menschlicher Eigenschaften innerhalb einer >Körperschaft< verstehen« (Latour 2000a: 236). (2) Von der Mensch/Nicht-Mensch-D!fferenz zu Hybriden. Ebenso wie die Natur-Gesellschaft-Differenz sei auch die ontologische Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren aufzugeben. 4 Die anthropozentrische Fixierung könne die multiplen Interaktionszusammenhänge und Akteurskonstellationen nicht erfassen, die zunehmend zur Produktion von Hybriden führten. Hybride bestehen etwa im Fall von BSE aus Rindern, Prionen, Tiern1ehl, Wissenschaftlern, Politikern, Tierschützern, Bauern und Verbrauchern; im Fall des Ozonlochs aus Politikern, Fluorchlorkohlenwasserstoffen, Industriellen, Kühlschränken, Umweltschützern, Meteorologen und Chemikern (Latour 1995: 7). 5 (3) Von der Subjekt-Objekt-Differenz zu Assoziationen. Die ANT zielt auch darauf, die gängigen Unterscheidungen von Subjekt und Objekt, Aktivität auf der einen und Passivität auf der anderen Seite infrage4

5

Unter nicht-menschlichen Akteuren begreift die ANT so heterogene Entitäten wie Tiere, Pflanzen, technische Artefakte oder diskursive Strukturen. Als Beispiele nennt Latour etwa »ein schwarzes Loch, ein Elefant, eine mathematische Gleichung oder ein Flugzeugmotor« (Latour 2001: 117). Zum Begriff des Hybrids bei Latour vgl. Roßler 2008.

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zustellen. Die Handlungsformen und Rollenmodelle seien nicht auf diese Unterscheidungen zu reduzieren, sondern als Verflechtungen und Verbindungen zu untersuchen, für die Latour den Begriff der Assoziation vorschlägt: »Das Ziel des Spiels besteht nicht darin, Subjektivität auf Dinge zu übertragen oder Menschen als Objekte zu behandeln oder Menschen als soziale Akteure zu betrachten, sondern die Subjekt-Objekt-Dichotomie ganz zu wngehen und statt dessen von der Verflechtung von Menschen und nicht-menschlichen Wesen auszugehen« (Latour 2000a: 236, H.i.O.). (4) Von der Mikro-Makro-Unterscheidung zu Netzwerken. Die ANT akzeptiert Größenunterschiede oder Ebenendifferenzierungen nicht als unhinterfragten Ausgangspunkt der Analyse, sondern begreift diese als Resultat von Kräfteverhältnissen, Akteurskoalitionen und Netzwerkbildungen. Dabei findet das Prinzip der Isomorphie Anwendung, demzufolge Mikro- und Makro-Akteure mit denselben Werkzeugen und Argumenten zu untersuchen sind. Empirische Unterschiede werden nicht geleugnet oder ignoriert, sie gelten vielmehr als ein erklärungsbedürftiger Gegenstand der Analyse statt als deren Grundlage. Auf diese Weise soll ein argumentativer Zirkel umgangen werden, der Macht auf Macht und Größe auf Größe zurückführt (vgl. Callon/Latour 2006: 77).

2. Die Krise der Moderne und ihre Überwindung Die ANT will aber nicht nur ein alternatives Theorieangebot, eine überzeugendere Wirklichkeitsdeutung oder ein besserer Forschungsansatz sein. Insbesondere Latour verknüpft die Konkretisierung und Weiterentwicklung dieser theoretischen Perspektive mit einer bestimmten Gegenwartsdiagnose: Er konzipiert die ANT nicht zuletzt als Antwort auf die Krise der Moderne bzw. als Ausweg aus dieser: als ein »politische(s) Projekt« (Latour 2007a: 443). Dabei präsentiert Latour eine wirkmächtige Interpretation der Moderne, die er am eindrücklichsten in seinem Buch Wir sind nie modern gewesen (1995) entwickelt. Die »moderne Verfassung« zeichnet sich, so Latour, durch eine strikte Unterscheidung zwischen den ontologischen Sphären von Natur und Gesellschaft und ihren Repräsentationsregimen »Wissenschaft« und »Politik« aus. Die Paradoxie der Moderne bestehe darin, dass sie auf der einen Seite alle Anstrengungen unternehme, um die Welt in natürliche und soziale Phänomene zu sortieren; diese Reinigungsbemühungen führten aber andererseits zur Entstehung und Verbreitung von Mischwesen, deren Existenz sich heute nicht mehr verleugnen lasse. Diese doppelbödige Praxis von prinzipiellem Reinigungsanspruch und faktischer Ver-

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mischung habe im historischen Verlauf nicht nur die Entfaltung wissenschaftlichen Wissens und technologischer Innovationen begünstigt, sondern auch eine Reihe von Problemen hervorgerufen, welche die moderne Verfassung an den Rand des Scheiteros gebracht hätten. Der erste Problemkomplex besteht in der ungeregelten und unreflektierten Zunahme der Mischwesen vom Ozonloch über den BSE-Erreger bis hin zu genetisch veränderten Lebensmitteln und geklonten Schafen. Die Nichtanerkennung und Nichteinbeziehung der Hybride führe letztlich zur Selbstgefahrdung der Modeme und zur ökologischen Katastrophe. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Latour behauptet nicht, dass die Produktion von Mischwesen eine Besonderheit der Modeme sei. Diese habe es auch in vormodernen Gesellschaften gegeben. Spezifisch modern sei nicht die Existenz der Hybride, sondern ihre ungeregelte Ausbreitung und systematische Leugnung. Indem die ANT die Existenz der Mischwesen anerkennt und die Ko-Evolution von Natur und Gesellschaft in den Blick nimmt, ermöglicht sie zugleich die kritische Reflexion des modernen Projekts der Aufklärung. Die Modernen hören auf modern zu sein, indem sie erkennen, dass sie es nie gewesen sind, da sie unterhalb der offiziellen Trennung von Natur und Gesellschaft immer schon Mischwesen produziert haben. Ziel dieses Vorhaben ist es, »daß die Vermehrung der Monstren verlangsamt, umgelenkt, und reguliert werden muss, indem ihre Existenz offiziell anerkannt wird« (Latour 1995: 21). Der systematische Ausschluss nicht-menschlicher Akteure aus der modernen Verfassung verweist aber auch auf einen zweiten Problemkomplex. Die Kontrolle über die Entwicklung von Wissenschaft und Technik und die Gestaltung der modernen Gesellschaft liege vor allem bei autorisierten Experten in Wissenschaft und Politik. Indem die Wissenschaft als ein neutraler und von der Politik prinzipiell unabhängiger Bereich konzipiert werde, bleibe ihre politische Bedeutung unreflektiert. Auch in diesem Fall fordert Latour die faktische Vermischung ernst zu nehmen und tritt fiir eine demokratische Steuerung des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts ein: »Die Produktion von Hybriden wird explizit und kollektiv und damit zum Gegenstand einer erweiterten Demokratie, die das Tempo dieser Produktion reguliert oder verlangsamt« (Latour 1995: 188). Insgesamt soll der Weg von der modernen Verfassung zu nicht-modernen Verflechtungen fuhren, die sowohl die Probleme der ungehinderten Ausbreitung der Hybriden als auch die aus der modernen Verfassung resultierenden Asymmetrien und Ausschlusseffekte überwinden sollen. In der Lesart von Latour schließen sich Modeme und Demokratie aus. Erst der Bruch mit der modernen Verfassung erlaube die Entstehung ei277

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ner wirklichen Demokratie, welche die Vielfalt von Stimmen hörbar macht. Die Modeme verurteile diese Stimmen zum Schweigen, indem sie entweder deren Existenz systematisch leugne (wie bei nicht-menschlichen Wesen) oder sie als Ausdruck eines vorwissenschaftliehen Alltagsverstands begreife, der Illusionen verhaftet bleibe und irrelevant für den politischen Prozess oder die wissenschaftliche Forschung sei. Wie aber soll eine nicht-moderne Verfassung aussehen, die menschliche und nicht-menschliche Akteure gleichermaßen einbezieht und die Stimmen all derer hörbar macht, die bislang vom politischen Prozess ausgeschlossen oder auf den Status von passiven Dingen reduziert blieben und als Ressource oder Depot missbraucht wmden? Konkrete Vorschläge dazu macht Latour in dem Buch Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. 6

3. Von der klassischen Politik zur Kosmopolitik: Das Parlament der Dinge Das Parlament der Dinge (2001) präsentiert den Entwurf einerneuen »politischen Ökologie«, welche die modernen Trennungspraktiken hinter sich lässt und die komplexen Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren anerkennt. Die Begriffswahl provoziert allerdings Missverständnisse. Politische Ökologie hat bei Latour nichts mit dem Schutz oder der Bewahrung der Natur zu tun; diese Zielvorstellung ist für ihn eher Teil des Problems als dessen Lösung. Sie hinterfragt nicht die Aufgabenteilung zwischen Natur und Gesellschaft, diese ist im Gegenteil die Geschäftsgrundlage ftir ihre politische Forderung nach der Berücksichtigung >der< Natur in der Gesellschaft. Mit dieser umweltpolitischen Konzeption, die auf die Rettung und Repräsentation der Natur zielt, will Latour nachhaltig brechen. Sein Entwmf einer politischen Ökologie hat paradoxerweise nichts mit Natur zu tun (Latour 2001: 13); mehr noch: er zielt auf die »Zerstörung der Idee der Natur« (ebd. 41, H.i.O.), denn der klassische Naturbegriff wurde- so Latour- nm deshalb ins Spiel gebracht, »um das politische Leben auf eine Rumpfpolitik zu reduzieren« (ebd.: 303; vgl. auch 175). Latours Vorschlag grenzt sich aber nicht nur negativ von bestehenden Konzepten ab, die der modernistischen Illusion verhaftet bleiben; er entfaltet auch eine positive Vision. Politische Ökologie steht hier fLir eine Veränderung des politischen Spieles und seiner Grundregeln. Die6

Die Idee eines »Parlaments der Dinge« taucht bereits in Wir sind nie modern gewesen auf (Latour 1995: 189), wird dort aber nicht weiter konkretisiert.

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sesProjektbegründet eine »experimentelle Metaphysik« (ebd.: 165), die die Assoziationen von menschlichen und nicht-menschlichen Wesen nicht nur anerkennt, sondern auf die Gestaltung eines immer besser artikulierten Kollektivs zielt. Damit meint Latour, dass »es mehr >spricht>Unautorisierten« und »illegitimen« Kompetenzen und Akteure (etwa soziale Bewegungen wie feministische Gruppen oder Umweltschutz- und Tierschutzbewegungen), die in der Vergangenheit oft entscheidend zur Destabilisierung der modernen Verfassung beigetragen haben (Harding 2008: 44). Ein zentraler Widerspruch in Latours Konstruktion besteht also darin, dass er zwar alljenen zu einer Stimme verhelfen will, die bislang ungehört blieben, bei diesem umfassenden Demokratisierungsprozess aber wiederum jenen Experten vertraut, deren Herrschaft die moderne Verfassung anerkannt und festgeschrieben hat. Auf der einen Seite kritisiert Latour, dass das »Glau-

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benssystem der einfachen Leute« (Latour 1995: 72) von den Wissenschaften nicht ernst genommen werde, auf der anderen Seite bleibt auch seine Wirklichkeitsdefinition von traditionellen Deutungs- und Entscheidungsinstanzen abhängig und beruht auf der Differenz von Laien und Experten. 11 Ein demokratisches Verfahren müsste j edoch auch die etablierten Kompetenzen und die darin eingeschriebenen Machtverhältnisse in Frage stellen. Latours Fokussierung auf die genannten professionellen know hows droht andere Fertigkeiten und Fähigkeiten zu marginalisieren. Diese werden von Konsultations- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen bzw. sie können nur durch die offiziellen Kanäle bzw. »Berufsstände« artikuliert werden (Featherstone 2007: 288). Ein Mangel an Symmetrie ist auch im Hinblick auf das Verhältnis von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren zu beklagen. Zwar scheint Latour davon auszugehen, dass eine »Verständigung mit den Dingen« möglich sei (Latour 2000b: 68). Es bleibt jedoch völlig offen, wie Menschen mit den nicht-menschlichen Wesen (und dazu gehören nicht nur Tiere und Pflanzen, sondern auch Computer, Ozonlöcher und mathematische Formeln) kommunizieren können, wenn deren »Interessen« oder »Stimmen« allein über apparative Vorrichtungen, materielle Experimentaltechniken und diskursive Repräsentationssysteme (für Menschen) sichtbar bzw. hörbar gemacht werden können. Die Dinge, von denen Latour spricht, sind ja nicht unbedingt sinnlich erfahrbare Dinge, sondern oft nur als »epistemische Dinge« (Rheinberger 2001) zugänglich, die differente Spuren hinterlassen oder »Widerstand« signalisieren. Obwohl Latour mit dem Postulat einer theoretischen Gleichberechtigung zwischen beiden Akteursgruppen arbeitet, bilden letztlich die Praktiken menschlicher Akteure den alleinigen Bezugspunkt der Analyse. Die Beschreibungen der nicht-menschlichen Akteure bleiben hingegen blass und wenig greifbar (Lindemann 2002: 63; Voss/Peuker 2006: 19f.; Greif 2006: 56 Fn. 8; Kneer 2008: 280f.).

11 Emily Martin hat darauf hingewiesen, dass sich diese asymmetrische Analyseperspektive bereits in Latours Buch zu Pasteur und vielen Laborstudien findet: »Scientists [... ] are always the active agents in these scenarios: they translate, read, write, mobilize, impose, convince. They may succeed or fail at imposing their knowledge on the world outside science or even on their own colleagues, but they are always pictured as active agents attempting to change an essentially passive world. Pasteur has to mobilize the fanners, but the farmers are not seen as exerting influence on the scientists« (Martin 1994: 6f.).

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4.3 Die Nivellierung von Handlungstypen und die Gefahr der analytischen Eindimensionalität Zu beklagen ist jedoch nicht nm ein Mangel an Symmetrie in Latours Programm; in anderer Hinsicht bleibt zu fragen, wie sinnvoll das eingeforderte umfassende Symmetriegebot ist. Zunächst lohnt es sich darüber nachzudenken, ob es nicht signifikante Unterschiede zwischen Menschen und Nicht-Menschen gibt- oder zumindest zwischen Tieren und Menschen einerseits und unbelebten nicht-menschlichen Dingen andererseits -, die eine Ungleichbehandlung plausibel erscheinen lassen. Denn selbst wenn man einräumte, dass bestimmte Fähigkeiten und Merkmale wie Sprache, Kultur oder Intentionalität nicht allein Menschen zukommen, mag man dennoch der Auffassung sein, dass sie unter Menschen eine spezifische Form annehmen (Blok 2007: 83f.). Der Preis der Enthierarchisierung ist, dass verschiedene Handlungstypen und Begründungsformen nivelliert werden und die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Menschen und Nicht-Menschen für das Handeln und Urteilen menschlicher Akteure nicht mehr erfasst werden kann (Caille 2001: 110; Lau/Keller 2001: 90; Keller/Lau 2008: 324-328). 12 Es gibt noch ein anderes Problem mit dem umfassenden Symmetrieprinzip, auf das unter anderem Cannen Gransee hingewiesen hat: Latours Theorie-Architektur ist so sehr einem Denken der Symmetrie verpflichtet, dass sie darüber die Kritik der Asymmetrie vergisst (Gransee 2003: 92f.; vgl. auch Peuker 2006; Keller/Lau 2008: 328f.). Statt das 12 Gunther Teubner formuliert aus systemtheoretischer Perspektive einen anderen Einwand gegen Latours Vorstellung eines umfassenden und einheitlichen Kollektivs. Er weist darauf hin, dass es gegenwärtig wenig empirische Anhaltspunkte fiir einen neuen übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs einer politischen Ökologie im Latourschen Sinn gibt. Entscheidend seien weniger bestimmte Berufsstände oder Professionen, sondern die spezifischen Selektionsmechanismen und Artikulationsf01men, die in den gesellschaftlichen Teilsystemen wie Politik, Recht, Ökonomie, Wissenschaft etc. ausgearbeitet werden. Diese Teilsysteme bestimmten, wann und in welcher Weise sie sich von ihrer Umwelt irritieren lassen bzw. wann und in welcher Form sie fiir diese Akteure Resonanz bereitstellen. Dies sei - anders als Latour annehme - keine Form des demokratischen Zentralismus, sondern werde auf der Grundlage einer Pluralität von Codes, Rationalitätsformen und Sprachspielen entschieden. Jedes Subsystem weise Akteuren in unterschiedlicher Weise Handlungsfahigkeit, Verantwottung, Rechte, Pflichten etc. zu und statte sie mit Kapital, Interessen, Intentionen und Präferenzen aus. Es gebe daher eine Pluralität von Akteurskonzepten, die nicht miteinander zur Deckung oder Übereinstimmung zu bringen seien: der homo politicus sei nicht identisch mit dem homo juridicus oder dem homo oeconomicus. Was Latour voraussetze: dass die Professionen eine gemeinsame Sprache sprechen, sei gerade nicht gegeben (Teubner 2006: 517-521).

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Spannungsfeld von Natur und Gesellschaft einzuebnen oder zu verlassen, sind vielmehr dessen Konsistenz und Materialität und die darin eingeschriebenen Interessensstrukturen zu untersuchen. Latour begreift die von ihm zurecht problematisierten Dualismen hingegen eher als eine Art Denkfehler oder lllusion. Die Modeme sei »gescheitert«, da die Hybridproduktion ökologische und politische Negativfolgen mit sich bringe. Nicht in die Analyse einbezogen wird jedoch die Frage, wer in welcher Weise von diesem andauernden »Scheitern« profitiert. Latour scheint anzunehmen, dass sich alle sozialen, ökonomischen und politischen Probleme mit der Lösung der politischen Ökologie und der Einrichtung des »gemeinsamen Hauses« erledigen, aber er schenkt der Frage wenig Beachtung, wie die Naturverhältnisse mit Kapitalismus, Rassismus und Sexismus zusammenhängen, wie sich Formen von Ausbeutung und Herrschaft auf der Grundlage einer symmetrisch verfahrenden Theorie analysieren und kritisieren lassen. Wenn er postuliert, dass alle Prozesse und Praktiken in Übersetzungen, Konsultationen und Ordnungen aufgehen, wie lassen sich dann dauerhafte Strukturmuster und Entwicklungspfade erklären? Wie kommt es, dass einige Akteure aus der Netzwerkbildung ausgeschlossen, ihre Stimmen ungehört bleiben, während sich andere deutlich zu artikulieren vermögen? Die Gefahr des umfassenden Symmetriegebots besteht darin, dass die postulierte »Mehrdimensionalität« (vgl. Latour 1996a, 370) der Netze wieder in eine theoretische und analytische »Eindimensionalität« (Blok 2007: 83) mündet. Schließlich stellt sich auch die Frage nach dem Adressaten in Latours Feststellung, dass »wir« nie modern gewesen seien. Sandra Harding hat wie andere Feministinnen und postkoloniale Theoretikerlinnen auf die konstitutiven Blindstellen in Latours Analyse der Modeme hingewiesen, welche die Selektivität ihrer Perspektive hinter einer universellen Diagnose verbirgt, die scheinbar flir alle gleichermaßen gültig ist: »The big news Latour's account brings is not that >we< have never been modern, but that bourgeois, Western men who get to contruct philosophies of science and political philosophies have never achieved the status to which they aspired. The rest of us always suspected not only that women and the West's Others already were not modern; worse, we never would be, at least not in the ways the Enlightenment's ideal Rational Man could be. As it tums out, the assignment of the rest of us to premodernity has always been the prerequisite for Western bourgeois men's illusions of modernity« (Harding 2008: 45). 13 13 Wie Rarding zurecht betont, besteht die Paradoxie Latours darin, dass er mit dem Gestus eines autoritativen und neutralen Sprechers, der die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen seines Sprechens nicht ausweist, eben jene moderne Haltung fortsetzt und erneuert, deren Kritik er sich auf die Fahnen geschrieben hat (Harding 2008: 45).

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4.4 Eine verkürzte Fassung des Politischen Latours Symmetrieprinzip führt dazu, dass Auseinandersetzungen, Konflikte und Kämpfe nur in theoretisch gezähmter und kanalisierter Form innerhalb des theoretischen Entwurfs auftauchen. Der Dynamik der Netzwerkverbindungen und Akteurskonstellationen steht eine eigentümlich statische Konzeption gegenüber, die der immer wieder postulierten Relationalität der Netzwerkelemente und Akteursidentitäten nicht gerecht wird. Dieses Problem hat mehrere Dimensionen. Die erste betrifft wiederum die Definition der Kompetenzen. Latour geht davon aus, es sei ein für alle Mal festgelegt, welche Kompetenzen für die Bestimmung des Kollektivs herangezogen werden und wie diese genau beschaffen sind. Es ist jedoch umstritten, was jeweils als politische Kompetenz, wissenschaftliche Qualifikation, ökonomisches Wissen etc. gilt. Die Handlungsfelder sind intern umkämpft, ihre Grenzen keineswegs ein für alle Mal festgelegt. >Die< Politik oder >die< Ökonomie sind keine abgeschlossenen und eindeutig definierten Felder, sondern durchzogen von Antagonismen und Konflikten. Latours Begriff von politischer Aushandlung und Entscheidung ist seltsam konservativ; seine Aufmerksamkeit gilt allein der Frage, wer Einlass in das Kollektiv erhält, ohne die nur scheinbar formalen Verfahren der Einlasskontrolle als politische Prozesse zu begreifen. Ein weiteres Problem, das über die interne Definition der einzelnen Kompetenzen und ihre Abgrenzung von den anderen Berufsständen hinausgeht, sind mögliche Konflikte zwischen den verschiedenen Kompetenzen. Bei Latour liest sich der Artikulations- und Entscheidungsprozess innerhalb des »gemeinsamen Hauses« relativ konfliktfrei (die Bedrohung kommt von außen, wie wir gleich sehen werden): Die einzelnen Berufsstände leisten »Beiträge« zur Lösung der politischen Frage. Was aber, wenn die »Einbürgerungsvorschläge« oder »Propositionen« von den einzelnen Kompetenzen unterschiedlich eingeschätzt werden? Ein aktuelles Beispiel ist die Frage nach den Ursachen und der Bedeutung des Klimawandels. Steuern wir auf eine Klimakatastrophe zu? Gehen die klimatischen Veränderungen auf menschliches Handeln zurück? Diese Fragen sind zum einen innerhalb der Wissenschaft umstritten; zum anderen ist aber auch strittig, was aus der jeweiligen Diagnose politisch, moralisch und ökonomisch folgt, selbst wenn sich eine einheitliche Auffassung innerhalb der Wissenschaft durchsetzte. Wie sollen sich Kreationisten und Vertreter der Evolutionstheorie, Naturschützer und Gentech-Unternehmen, Tierschützerund Pharmaindustrie, feministische Gruppen und Abtreibungsgegner einigen können? (Hagner 2003: 521;

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Oreskes 2004). Auf welche Mechanismen der Aushandlung und Kornpromissbildung das Kollektiv zur Bildung einer »gemeinsamen Welt« rekurrieren kann, bleibt in Latours Entwurf einer politischen Ökologie völlig offen. Der Grund hierfür liegt in einer verkürzten Fassung des Politischen. Dieses besteht fiir Latour offenbar in einer Bereichslogik oder einer spezifischen Kompetenz unter anderen. Einer der wichtigsten Beiträge der Politiker zum Kollektiv sieht Latour - in einer überraschenden Erweiterung und Umdeutung der bekannten Schmittschen Definition - in der Bestimmung von »Feinden«. Unter »Feind« versteht er nicht das schlechthin Andere und Fremde, sondern das »Außen des Kollektivs«: das, »was das Innere des Kollektivs in tödliche Gefahr bringen und schließlich in der folgenden Etappe wiederkehren kann, um seinen Platz als Partner und Verbündeter zu verlangen« (Latour 2001: 288). Damit bleiben die »Feinde« per definitionem außerhalb des Kollektivs, da sie in dem Augenblick, in dem sie zum Kollektiv zugelassen werden, zu Partnern werden und ihre Fremdheit verlieren. Der Konflikt verschwindet im Inneren des Kollektivs, da der Antagonismus vor den Mauem des »gemeinsamen Hauses« endet. Diese dualistische Konzeption eines äußeren Antagonismus und innerer Harmonie kann nicht überzeugen. Latours Konzentration auf Fragen von Einschluss und Ausschluss erfasst nicht, wie die Definition des Anderen und Fremden die Zusammensetzung des »gemeinsamen Hauses« bestimmt und dessen Ausbau und Erweiterung begleitet. Die permanente (Re-)Definition und die Relationalität von »Innen« und »Außen« wird durch diese substantialistische Konzeption verdeckt, bei der Konflikte an der Haustüre enden (Featherstone 2007: 294-298). Oder- um es in Latours Worte zu fassen: »Solange die Waffen nicht an der Garderobe abgegeben werden, ist keine zivile Versammlung möglich« (Latour 200 I: 11 0). 14 Die Dethematisierung politischer Konflikte und die mangelnde Sensibilität für Machtfragen geht auf die - mehr oder weniger verborgenen - theoretischen Grundlagen des Programms eines »Parlaments der Dinge« zurück. Joel Wainwright (2005) weist darauf hin, dass Latours »experimentelle Metaphysik« seine theoretischen Referenzen zwar nicht explizit ausweist, sein politisches Projekt aber mit guten Gründen als ein Amalgam aus Habermas' Theorie kommunikativen Handeins und Deweys Pragmatismus zu betrachten sei. Die Idee einer »Kosmopolitik« er14 Latour scheint der ldee eines weitgehend konsensuellen und konfliktfreien Kollektivs anzuhängen, wenn er schreibt, dass das Ziel der nachmodernen Verfassung darin bestehe, »eine gemeinsame Welt zusammenzusetzen und so dem Problem der Verschiedenartigkeit der Interessen und der Vielzahl der Glaubensvorstellungen zu entgehen« (Latour 2001: 129f.). Für eine überzeugende Kritik dieser Vision vgl. Harding 2008: 40f.

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weitert die Diskursethik, in dem sie - anders als Habermas - auch die Stimmen der nicht-menschlichen Akteure einbeziehen und hörbar machen will. Für Latour bleibt Habermas einer anthropozentrischen Position verpflichtet, da sein Projekt der Befreiung der Menschen jene nichtmenschlichen Wesen ignoriere, die sie erst zu Menschen machten (Latour 200 I: 326 Fn. 20). 15 Von Dewey übernimmt er die Idee der kollektiven Aushandlung und Auseinandersetzung als Basis demokratischer Institutionen und das Konzept der Öffentlichkeit, das die Trennung von Wissenschaft und Politik, Expertenturn und Publikumsrolle kritisch hinterfragt.16 Das Resultat dieser Kreuzung aus Habermas und Dewey lässt jedoch die politische Dimension dieser »Naturpolitik« unterentwickelt. Latour interessiert sich nicht für die historischen und politischen Bedingungen, unter denen Akteure entstehen und die dafür verantwortlich sind, dass einige von ihnen Gehör finden, während andere Stimmen aus der öffentlichen Arena ausgeschlossen bleiben. Aufgrund dieser einseitigen und verkürzten Perspektive ist einem Kommentator zuzustimmen, der Latours Konzept als eine »Politik der Natur ohne Politik« (Caille 2001) bezeichnet hat.

5. Fazit Latours spekulatives Manifest einer neuen politischen Ökologie versteht es, in einfacher Sprache und äußerst stilsicher, komplexe Sachverhalte anschaulich zu machen. Dabei ist der erste- analytische- Teil deutlich stärker als der normative, der die Voraussetzungen und Verfahrensre15 Es gibt eine einzige Stelle im Text, die sich explizit auf Habermas bezieht -aber interessanterweise in der deutschen Fassung nicht auftaucht: »Niemand darf dazu gebracht werden, die Ergebnisse einer Entscheidung umzusetzen, an deren Diskussion er nicht beteiligt war« (Latour 2001: 218). 1n der englischsprachigen Fassung heißt es dort: »[N]o one, as Habermas says so eloquently, can be brought to apply the results of a decision if he has not participated in the discussion that led to the decision« (Latour 2004: 171 ). Die anderen Bezugnahmen finden sich in den Fußnoten. So erklärt Latour etwa, »aus der gewaltigen Arbeit von Habermas zu den transzendentalen Bedingungen der Kommunikation Nutzen ziehen [zu] können« (Latour 2001: 325; vgl. auch 2000: 68). 16 Die Referenzen an Dewey tauchen ausschließlich in den Fußnoten auf (z.B. Latour 2001: 328 Fn. 27, 342 Fn. 28). Latour bezieht sich explizit auf Dewey in einem jüngeren Text: »[L]et's turn to the pragmatists and especially to John Dewey [... ]. The radical departure pragmatism is proposing is that >political< is not an adjective that defines a profession, a sphere, an activity, a calling, a site, or a procedure, but it is what qualifies a type ofsituation« (Latour 2007b: 814; H.i.O.; vgl. auch die zahlreichen Bezugnahmen auf Dewey in Latour 2007a).

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geln einer nicht-modernen politischen Verfassung skizziert. Dieser zweite Teil weist eine Reihe von problematischen Verkürzungen und Vereinseitigungen auf. Latour kritisiert die Moderne und die ihr zugrundeliegende Verfassung mit der Trennung von Wissenschaft und Politik, Natur und Gesellschaft, Werten und Tatsachen, schließt aber in seine Kritik Kapitalismus, Sexismus und Rassismus nicht mit ein. Er scheint in jedem Beitrag zur Zerstörung der alten Idee der Natur als einer von der Gesellschaft strikt zu trennenden und Objektivität garantierenden Sphäre einen politischen und normativen Fortschritt in Richtung Demokratisierung und Gerechtigkeit zu sehen. Diese logische Verknüpfung bleibt ebenso diffus wie die materielle Basis der von ihm entworfenen Verfassung. Den politischen Regeln, prozeduralen Arrangements, kollektiven Aushandlungsforn1en und Techniken der Gewaltenteilung fehlt es an Konsistenz und Kohärenz, da völlig offen ist, wie die Akteure und beteiligten Parteien den an sie herangetragenen Anforderungen konkret gerecht werden können. Die Gewalten werden eingeführt, ohne dass klar wäre, was ihre Grundlagen sind und wo ihre Grenzen verlaufen. Latours theoretisches Interesse gilt weniger Machtfragen als Verfahrensregeln. Der Entwurf eines »Parlaments der Dinge« verliert gegenüber Latours früheren Arbeiten an analytischer Schärfe und politischer Sensibilität. Hatte er einmal die Grenzen juridischer Konzepte aufgezeigt (Callon/Latour 2006; Latour 2006), geht es ihm mittlerweile um die Konstitution einerneuen Verfassung und die Suche nach »ordentlichen Verfahren« (Latour 2001: 274; vgl. Kneer 2008: 299f.). Entlarvte Latour in früheren Arbeiten Wissenschaftler als selbstinteressierte, nutzenmaximierende Individuen und »wilde Kapitalisten«, deren Hauptmotiv darin zu bestehen schien, Macht und Einfluss zu mehren (vgl. etwa Latour/Woolgar 1979; Latour 1988; 1996b), sind in seinerneuen politischen Welt die »Berufsstände« offenbar von dem aufrichtigen und ernsthaften Anliegen getragen, ihre jeweiligen Fähigkeiten selbstlos in die Konstruktion einer gemeinsamen Welt einzubringen (Moore 2005: 169). Insgesamt bleibt der Eindruck, dass Latours theoretisches Haus den Kontakt zur Erde verloren hat. Es ist ein philosophischer Systembau mit einer eigenen Sprache und Logik, die schwierig, wenn nicht unmöglich, in Alltagserfahrungen und konkrete politische Fragen zu übersetzen ist. Das große Versprechen des Buches - dass die Öffnung der Wissenschaften zu einer Demokratisierung der Politik führt - bleibt bestenfalls ein programmatischer Anspruch, im schlechten Fall eine leere Geste (Wainwright 2005: 119; vgl. auch Restivo 2005). In gewisser Weise macht Latour genau das, was er beschreibt: Er produziert Mischwesen aus empirischen Einsichten und programmatischen Visionen, aber für die Art und Weise, wie er das tut, darfman durchaus >gemischte Geftihle< haben.

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Jean Baudrillard: Die künstlichen Paradiese des Politischen RoBERT FEUSTELI HAGEN ScHöLZEL

»Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!« Friedrich Nietzsche

Es ist lange nichts passiert, jedenfalls nichts Wesentliches. Diese durchaus emst gemeinte Behauptung Jean Baudrillards, die er in Die Jllusion des Endes (Baudrillard 1994) vertrat, mag man mit dem Hinweis abtun, der 2007 verstorbene Pariser Philosoph habe keinen Blick fürs Detail, kein Gespür für Feinheiten, und ihm entgingen folgerichtig jene gesellschaftlichen Veränderungen, die ohne großen Knall auskommen. Ohne Zweifel hat sich Baudrillard wenig für Nuancen politischer Praxis interessiert und das Philosophieren ohne Zurückhaltung, die großen Töne bevorzugt. Baudrillard war kein Historiker, er betrieb keine »Philosophie im Archiv« (Gehring 2004), was ihm in der scient!fic community einigen Misskredit eingebracht hat. Dies bedeutet jedoch nicht, Baudrillard habe uns nichts mehr zu sagen. Insbesondere wenn das Politische und die Politik insofem zur Debatte stehen, als die Möglichkeitsbedingungen für Veränderungen ausgelotet werden, wenn sich also die Frage stellt, ob überhaupt noch etwas passieren kann, eröffnet Baudrillards Denken und insbesondere sein Begriff Simulation aufschlussreiche Perspektiven auf das Politische. Unter Simulation versteht Baudrillard jene symbolische Verdopplung der Realität und deren gleichzeitiges Verschmelzen zu einer Hyperrealität, die das Politische an sein vermeintliches Ende getrieben hat.

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Obwohl die Hyperrealität (die Referenzlosigkeit der Zeichen), auf welche die Ausführungen Baudrillards hinauslaufen, einem philosophischen Denken ohne Stabilität, Ursprung oder Gründung verhaftet ist und sein Stil sich unaufhörlich und zirkulär windet, ist die Theorie totaler Simulation ein dezidiert politisches Projekt. Anders formuliert: Baudrillard antwortet nicht in erster Linie auf die Frage: Was können wir wissen (vgl. Baudrillard 1978e). Es geht ihm vielmehr um eine Beschreibung der Gegenwart als einer spezifischen symbolischen Ordnung (Hyperrealität) und um die Bedeutung der Zeichen für deren politische Konstitution. Das Spiel der Zeichen bringt das Politische (le politique) hervor und eliminiert die Politik (Ia politique) als Widerstreit. Baudrillard, dessen philosophische Karriere 1968 mit der Veröffentlichung von Das System der Dinge begann, ist ein Kind des französischen Strukturalismus und des linguistic turn. Saussures Einsicht, dass sich die Bedeutung des Zeichens, das Signifikat, nicht vom Gegenstand her denken lässt, sondern sich in einem endlos differenziellen und arbiträren Abgrenzungsprozess des Signifikanten zu allen anderen erschließt, ist für jede Lektüre des Philosophen grundlegend. Baudrillard hat diese Struktur der Sprache, deren Sinn und Bedeutung in der Konsequenz immer instabil bleibt, beharrlich vor Augen. 1 Doch gerade in der popkulturellen Lesart seiner Simulationstheorie werden Sprachphilosophie und Baudrillards Konzept der Hyperrealität vorschnell kurzgeschlossen. Obwohl Sprache konstitutiv und nicht abbildend ist, also erst die differenziellen Zeichen Bedeutung formen und Realität konstituieren, heißt dies noch nicht, jedes Sprechen sei schon Simulation. Kommunikation ist ein produktives Missverständnis, und es kommt auf das Referenzsystem an. Baudrillard räumt jeder symbolischen Ordnung eine Vorrangstellung gegenüber den materiellen Dingen ein, da die Welt der Zeichen immer schon der Materialität vorgelagert ist. Ohne sprachliche Referenz, ohne spezifische symbolische Ordnung erlangen die Dinge ebenso wenig Bedeutung wie soziale, gesellschaftliche oder politische Interaktionen. Doch diese für jede Vorstellung von Gesellschaft unerlässliche symbolische Ordnung ist tiefgreifenden Veränderungen unterworfen und mündet schließlich in die Referenzlosigkeit der Zeichen, in die Simulation.

Er verschärft sie noch in die Richtung eines radikalen Konstruktivismus: »Die Dinge existieren buchstäblich erst von dem Augenblick an, in dem es einen Begriff gibt, mit dem sie bezeichnet werden. Das Soziale existiert nicht in einer Gesellschaft, die keine Worte hat, um es auszudrücken (Japan). Eine Farbe gibt es nicht, wenn nicht eine Sprache sie bezeichnet« (Baudrillard 1989: 33).

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ßAUDRILLARD: DIE KÜNSTLICHEN PARADIESE

Der Tod der Referenzen Baudrillard verortet die Anfänge der Simulation in der Renaissance, als zum ersten Mal die bis dahin knappen und an einen sozialen Ort gebundenen Zeichen »zu tanzen begannen« - er nennt dies das Simulakrum erster Ordnung. 2 Während bis dahin die Zeichen irritations-, imitationslos und prinzipiell knapp waren und eine klare Referenz, also eine determinierte Bedeutung besaßen, geraten die Dinge in der Renaissance in Bewegung. In der >>archaischen« Zeit, wie Baudrillard die Jahrhunderte vor der Renaissance polemisch überspitzt nennt, hatte das Zeichen zudem einen zwingenden sozialen Ort - es ist »ex-klusiv«. Die Krone des Königs verweist nicht nur auf das Zentrum der Macht, ihre Bedeutung ist an die Materialität des Gegenstandes und die Position ihres Trägers gebunden. Eine andere Bedeutung ist nicht möglich. Mode ist in dieser vormodernen Welt undenkbar. Kleidung und deren symbolische Bedeutung verweisen zwingend auf einen sozialen und zugleich determinierten Ort. Diese Ordnung durcheinander zu bringen, stellt einen Normbruch dar und wird entsprechend geahndet. Das wohl prominenteste (und zugleich einfachste) Beispiel für diesen Zusammenhang ist das Geld, dessen Analogie zur Sprache schon Saussure herausgestrichen hatte (vgl. Hörisch 1994). In der »archaischen« Welt liegt die symbolische Bedeutung des Geldes in seiner Materialität als Gold selbst. Das Zeichen ist von seinem Gegenstand nicht zu lösen. Während vor Einführung des Papiergeldes die Materialität des GoldGeldes von Bedeutung war, so trat diese mit dem Papiergeld in den Hintergrund. Dennoch erhielt sich ein Referenzsystem, solange der Wert des Geldes am Gold (als potentiell materiellem Gebrauchswert) gemessen wurde. Zwar tritt die Bedeutung des Geldes als Wert-Zeichen in den Vordergrund (die Produktionskosten einer Einhundertdollar-Note liegen deutlich unter deren Verkehrswert), doch die Referenz zum Gold (in den Kellem der Notenbanken) stabilisierte das Geld als Zirkulationsmittel des Warentauschs- ein Simulakrum erster Ordnung. Genauso wie das Geld in Form des Papiergeldes als Imitation, als symbolisches Duplikat funktioniert, gerät die gesamte symbolische Ordnung in Bewegung. Die Renaissance ist jene Epoche, argumentiert Baudrillard, in der es der neuen bürgerlichen Klasse, jenseits von »Abstammung, Rang oder Kaste [... ] gelungen ist, die Exklusivität der Zeichen aufzubrechen« (Baudrillard 2005: 81 ). »Die Imitation (und gleichzeitig auch die Mode) entsteht mit der Renaissance, mit der Auflösung der feudalen Ordnung durch die bürgerliche Ordnung und dem Beginn des of2

»Simulakrum (frz. Simulacre): das Trugbild, das Blendwerk, die Fassade, der Schein« (Baudrillard 1978: 6).

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fenen Wettbewerbs auf dem Gebiet der Distinktionszeichen« (ebd.). Greifbar werden diese einschneidenden Veränderungen auch in der Architektur und im Theater: »Das Theater ist eine Form, die sich seit der Renaissance des gesamten gesellschaftlichen Lebens und der Architektur bemächtigt. Dort, im barocken Heroismus des Stucks und der Kunst läßt sich die Metaphysik der Imitation dechiffrieren, und neue Ambitionen des Menschen erleben ihre Renaissance [... ]« (ebd.).

Entscheidend für die Imitation ist jedoch, dass die Zeichen zwar ironisieren und damit die Verhältnisse in Frage stellen, zugleich aber auf einen bindenden sozialen Ort oder einen Gegenstand verweisen. Im Begriff der Imitation ist das Original als Referenz bereits eingeschrieben in der Imitation wird das Zeichen zur Analogie. Doch die Zeit der Imitation, die Zeit des irritierenden Spiels der Zeichen mit ihrer Referenz, wird im 18. Jahrhundert von einer rapiden Technisiemng der Welt überrollt: »Mit der industriellen Revolution zieht eine neue Generation von Zeichen und Gegenständen herauf. Zeichen ohne die Tradition einer Kaste, Zeichen, die niemals die Beschränkungen durch einen Status gekannt haben - die also nicht mehr imitiert werden müssen, weil sie von vornherein in gigantischem Ausmaß produziert werden. Bei ihnen stellt sich das Problem der Einzigartigkeit und des Ursprungs nicht mehr: die Technik ist ihr Ursprung und sie haben nur in der Dimension des industriellen Simulakrums einen Sinn« (ebd.: 87).

Die Technik und ihre Wirkung versteht Baudrillard- hier schließt er explizit an Benjamin und McLuhan an - weniger als neue Produktivkraft, welche die Struktur der Produktion und des Sozialen verändert und Probleme mit sich bringt. Baudrillard interessieren die technischen Entwicklungen, die im 18. und 19. Jahrhundert die massenhafte Produktion identischer Gegenstände (oder Zeichen) ermöglichen, als (neue) symbolische Ordnung, die fortan jeder Sinnproduktion zu Grunde liegt. Die Bedeutung serieller Produktion zeigt sich eher in einer Formanalyse der technischen Bedingungen und wirkt über diese auf die Vorstellungen von Subjekt und Gesellschaft. Die Möglichkeit der unendlichen Produktion des gleichen Gegenstandes (oder Zeichens) sagt mehr über die Bedeutung der Technik aus als das soziale Problem der Fließbandarbeit Während die Imitation noch ein Original kannte, ist dieses von der »seriellen Produktion« absorbiert worden:

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»Das Simulakrum der ersten Ordnung hebt niemals den Unterschied auf: es setzt den immer spürbaren Widerstreit des Simulakrums und des Realen voraus [... ]. Das Simulakrum der zweiten Ordnung aber vereinfacht das Problem, indem es die Erscheinung absorbiert oder das Reale auflöst« (ebd.: 85). Im Prinzip der Äquivalenz liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser neuen symbolischen Ordnung. Während die Imitation im Wechselspiel von Sein und Schein gefangen ist, hebelt die serielle Produktion äquivalenter Objekte deren Differenz aus. »Zwischen ihnen besteht kein Verhältnis wie zwischen Original und Imitation, auch kein Verhältnis der Analogie oder Spiegelung, es herrscht die Äquivalenz, die Indifferenz« (ebd.: 87). Diese zweite Ordnung der Sirnutakren ist, folgt man Baudrillard, nur »von kurzer Dauer«, sie ist nur die »Primärform« der Simulation (ebd.: 88). Die zentrale Position des Seriellen, der massenhaften Produktion der Äquivalenz in den Fabriken (und damit auch auf dem Feld des Sozialen) wird im 20. Jahrhundert vom Modell übernommen. Obwohl die Äquivalenz das Spiel von Schein und Sein durchbricht, lässt sie im Sinne des »Marktgesetz[es] des Wertes« noch eine Referenz zu: die Materialität der Gebrauchswerte, die in der dritten Ordnung der Simulakren, der Simulation, jedoch verloren geht. Noch einmal zum Beispiel des Geldes: Während das Papiergeld als Wert-Zeichen, als Imitation bis ins 20. Jahrhundert an seine Referenz (das Gold) gekoppelt war, bricht diese Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Zunächst blieb die Welt-Leit-Währung Dollar (als Papier- und Buchgeld) als einzige an den Gold-Standard gebunden. Mit Ende der Dollar-Gold-Parität 1973 ging dem Geld endgültig jede materielle Referenz verloren und es verselbständigte sich als reines Zeichen. Der Wert einer Währung bestimmt sich seither einerseits aus ihrem Wechselkurs zu anderen Währungen, andererseits aus der volkswirtschaftlichen Leistung eines Landes, die jedoch selbst nur in Geld-Werten ermittelt und ausgedtückt werden kann. Die Bedeutung (oder der Wert) des Geldes konstituiert sich somit nicht mehr entlang einer externen, materiellen Referenz, sondern nur mehr innerhalb des selbstreferenziellen Spiels der Geld-Zeichen selbst. Das Beispiel des Geldes illustriert die (vorerst) letzte »Spiralwindung« der symbolischen Ordnung - der Sirnutakren - , in der durch den Verlust der Referenzen jede Möglichkeit der Repräsentation verloren geht. Im Kontext des Ökonomischen ist das Serielle vom Modell abgelöst worden. Es geht nicht mehr um die massenhafte Produktion gleicher Objekte, sondern vielmehr um die beliebige Re-Produktion des gleichen Modells. Die Modemarke Nike führt dies beispielhaft vor. Der symboli-

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sehe (Gebrauchs-)Wert ist nicht mehr von der Produktion, ihrem Ort und der Qualität abhängig, sondern von der Identität des Produkts mit dem Modell, die von einem authentischen Markenlogo zertifiziert wird. Das Denken in Modellen entstammt der kybernetischen Utopie einer neuen Wissenschaft, die, so behauptet nicht nur Baudrillard/ das Bild von Mensch und Gesellschaft nachhaltig beeinflusst. Weit jenseits alter ideologischer Register von Wesen und Erscheinung entspinnt sich die Vorstellung, in der Information das universelle Muster, das Bewegungsprinzip der gesamten Welt entdeckt zu haben und in diesem Zusammenhang die Antipoden Kultur und Wissenschaft miteinander verschmelzen zu können. »Man trifft hier wieder auf die irrwitzige lllusion, die Welt unter einem Prinzip vereinen zu können- unter dem einer homogenen Substanz bei den Jesuiten der Gegenreformation, dem des genetischen Codes bei den Technokraten der Biologie[... ]« (ebd.: 93). Baudrillard liest den kybernetischen Diskurs, das Beispiel par excellence flir ein Simulakrum der dritten Ordnung, vor allem von der Biologie her, weil die Genforschung unmittelbar auf die Vorstellung von Subjekt und Identität zurückwirkt. Der genetische Code als kybernetisches Informationssystem ist Teil eines Diskurses, der keine Referenz (der Sichtbarkeit) mehr kennt, sondern sich in einem selbstbezüglichen Raum von Modellen und Informationskreisläufen verankert. Obwohl niemand beispielsweise eine DNS gesehen hat, ist ihr Effekt im Diskurs unüberhörbar. Weil sich schließlich das Prinzip des referenzenlosen Zeichens, des Wissens ohne Gegenstand im Diskurs der Kybernetik und der Informationstechnologie verselbständigt, verallgemeinert und das Politische affiziert hat, ist es »vorbei mit dem Theater der Repräsentation, dem Raum der Zeichen, ihrer Konflikte, ihres Schweigens: es bleibt nur die >black box< des Codes, das Molekül, von dem die Signale ausgehen[ ... ]« (ebd.: 90f.). »Auf dem Höhepunkt einer immer weiter vorangetriebenen Vernichtung der Referenzen [... ], eines Verlusts von Ähnlichkeiten und Bezeichnungen entdeckt man das digitale und programmatische Zeichen, dessen >Wert< rein taktisch durch die Überschneidung mit anderen Signalen [... ] bestimmt wird, und dessen Struktur ein mikromolekularer Code von Kommando und Kontrolle ist« (ebd.: 90). 3

Gegenwärtig entdeckt die wissenschaftshistorische Forschung das Thema neu (vgl. Hagner 2008). Das französische Autorenkollektiv Tiqqun diskutiert die »kybernetische Hypothese« (vgl. Tiqqun 2007).

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Es geht im kybernetischen Diskurs (und besonders im Gendiskurs) nicht mehr um ein offenes und deshalb verhandelbares Verhältnis vom Subjekt zum Objekt, vom Individuum zur Gesellschaft oder um einen Kampf um Bedeutung im Spiel zwischen Zeichen und Gegenstand (Sichtbarkeit). 4 Die Zeichen sind nicht mehr unangemessen den Dingen gegenüber (der Signifikant bildet das Signifikat nie vollständig ab usw.) und stehen deshalb auch nicht mehr zur Disposition. Sie befinden sich in einem »Stadium totaler Rivalität« (Baudrillard 1978a: 39) zu anderen Zeichen und richten sich an Modellen (die wiederum nur Zeichen sind) aus. Im Fall der Gene interpretiert ein Zeichen das andere; wirklich real ist daran, jedenfalls für Baudrillard, nichts mehr. 5 Der Gendiskurs ist in diesem Zusammenhang (nur) die Speerspitze einer neuen symbolischen Ordnung, welche die gesamte (Nachkriegs-)Gesellschaft erfasst hat: »Von einer kapitalistisch- produktivistischen Gesellschaft zu einer neokapitalistischen, kybernetischen Ordnung, die eine absolute Kontrolle anstrebt, das ist die Mutation, der die biologische Theoretisierung des Codes die Waffen liefert« (Baudrillard 2005: 94). Es ist jedoch nicht ganz zutreffend, vom Verschwinden der Referenzen zu sprechen, die schon erwähnte Selbstreferenzialität deutet es an: Die Zeichen haben keine außerhalb ihrer selbst liegenden Referenzen mehr, und der endlose Verweis aufeinander formt das, was Baudrillard Hyperrealität genannt hat. Diese Hyperrealität ist keine Nicht-Realität, sondern entspringt dem Verschmelzen der Realität mit ihrer zeichenhaften Verdopplung. Gegenstände werden selbst zu Zeichen, und reine Zeichen werden real- Realität und Nicht-Realität sind ununterscheidbar und lösen sich gleichsam auf in der »Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d.h. eines Hyperrealen« (Baudrillard 1978d: 7).

Das Politische als Simulation der Politik Das Verschwinden der Referenzen beschränkt sich nicht auf einzelne Bereiche, es entspricht vielmehr einer neuen symbolischen Ordnung, die alle Bereiche (des Sozialen) erfasst hat. Auch das Politische (und die Politik) entkommt der Referenzlosigkeit nicht. Die Simulationstheorie ist 4 5

V gl. zum Thema genetische Diskriminiemng: Lemke (2006). »Welche [radikale] Mutation aber hat bei den unlesbaren und uninterpretierbaren Zeichen des Codes stattgefunden, die wie eine programmatische Matrix Lichtjahre entfernt im Grunde des biologischen Körpers begraben sind- >black boxesKonflikts< innerhalb ein- und derselben Geste annehmen. Da es die menschliche Hand sozusagen zweimal gibt - und jede zudem noch in »fünf kleinere, mehr oder weniger parallele längliche Glieder« (Seitter 2002: 59) ausläuft-, ist sie wie kaum ein anderes Organ geeignet, gegen sich selbst zu zeugen, denn, wie das Sprichwort sagt, oft weiß die Linke nicht, was die Rechte tut. Tonnerre erweist sich als Meister der »Kunst der in der Schwebe gehaltenen Geste« (Klossowski 1987: 18). Seine Lukretia tritt, so ließe sich formulieren, in einen »Wettstreit mit ihrem eigenen Double« ein. Wir werden, »wenn wir das Bild der Lukretia betrachten«, so Octave, »zu Zeugen des Zwiespalts, in dem die römische Heroine sich befindet« (Klossowski 1987: 27). Im Bild - und zwar in dem von Klossowski gezeichneten wie in dem von Octave beschriebenen - trifft die Keuschheit ihrer imago auf ein kaum merkliches Spiel der Finger, das das Gegenteil von dem spürbar macht, was die Geschichte zu erzählen vorgibt. Unter dem Blick Tonnerres gewinnen die Hände - in Absetzung vom übrigen Körper - ein bezeichnendes Eigenleben, das dadurch verstärkt wird, dass sie einer gleichsam filmischen Operation unterzogen werden, nämlich derjenigen der Großaufnahme, die ihre Funktion als eines Mediums der Signifikation, das der Rede in nichts nachsteht, noch unterstreicht: »lch muss jedoch noch einmal auf das erschreckte Antlitz Lukretias zurückkommen und auf die Hand, die, unter dem Vorwand, den gierigen Mund des Tarquinius abzuwehren, ihm ganz deutlich das Handinnere darbietet, sowie auf jene andere, etwas tiefer liegende Hand, die den Zugang zu dem Schatz keineswegs versperrt, sondern - wie ich jetzt sagen würde - sogar die Finger aufrichtet und ausstreckt... Was Tonnerre damit zum Ausdruck bringen wollte, ist die Gleichzeitigkeit, mit der sich moralische Abwehr und der Einbruch der Lust in ein und derselben Seele und in ein und demselben Körper vollziehen, und das hat er wiedergegeben durch diese Haltung der Hände, deren eine lügt und deren andere das Verbrechen gesteht, das ihr bis in die Fingerspitzen dringt« (Kiossowski 1987: 28). Octave insistiert vehement darauf, dass die Komposition Tonnerres, und damit Klossowskis eigene, für denjenigen »völlig unverständlich« bleibt, der die Geschichte der Lukretia nicht kennt. Vor dem Hintergrund dieser Einschätzung ist es auffällig, dass er der Legende selbst im

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Grunde wenig Aufmerksamkeit schenkt. Er vollzieht zwar die Fokussierung des Malers auf den zwiespältigen Augenblick der >Verführung< der Lukretia, den Moment der Gleichzeitigkeit von Abwehr und Lusteinbruch minutiös nach, unternimmt aber ansonsten keinen Versuch, die Legende selbst im Hinblick auf das in ihr niedergelegte Wissen über die Enteignung der Körper und die Konstitution einer Körperschaft und damit als Gründungsfiktion zu lesen. Obwohl Klossowski in seinem Essay über die Kultischen und mythischen Ursprünge gewisser Sitten der Römischen Damen von 1968 die Rolle der Lukretia-Legende für die Etablierung des römischen Konzepts der Keuschheit (castita5) berücksichtigt (K.lossowski 1979: 50-53), gerrauer müsste man sagen: für die spätrömische Erinnerungspolitik des Livius, die am Beispiel der Legende den tugendhaften Neuanfang der römischen Größe nach der Vertreibung der Könige beschwört, vermeidet er es jedoch auch hier, die Legende selbst einer gerraueren Analyse zu unterziehen. Dies überrascht um so mehr, als sich auch die >große Lagegroße Lage< zu verkehren. ln der Legende, wie sie Livius aufschreibt, darf es nicht die Ambivalenz ihrer eigenen Affekte sein, die sie mit sich selbst in Widerspruch setzt, sondern die Machenschaft eines Aggressors, der ihre Keuschheit einer äußersten Probe unterzieht, die sich keineswegs in dem einfachen Straftatbestand der Vergewaltigung erschöpft. Das ist bislang wenig kommentiert worden, da im Zentrum der meisten kulturwissenschaftlichen Analysen der Lukretia-Episode der Zusammenhang von republikanischem Gründungsgeschehen und Frauenopfer steht (vgl. Matthes 2000). Wenig Aufmerksamkeit ist bislang der Beobachtungstechnik gewidmet worden, die Livius anwendet und die seinen Text weit über eine bloße Demonstration von Thesen hinausführt, die besagen, dass die republikanische Souveränität eine untergründige »sexuelle Verfassung« habe (Friedland 2004: 40). Was immer nämlich Lukretia tut, sie kann nicht gewinnen, denn selbst wenn sie der Gewalt des Aggressors nicht nachgibt und den Tod nicht fürchtet, kann sie ihre Keuschheit, genauer: das Bild davon nicht bewahren. Es wird scheinen, dass sie ihre Keuschheit verraten hat, man wird es ihr »nachsagen«, weil die Indizien, also das, was sich durch eine bestimmte Anordnung der Dinge, die unmittel319

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bar lesbar flir jedermann sein wird, zeigt, gegen sie sprechen werden. There will be evidence, könnte man mit einer englischen Formulierung sagen, in der evidence zwischen dem, was sich von sich her zeigt und unzweifelhaft vorhanden zu sein scheint, und dem, was (vor Gericht) als Beweisstück oder Indiz gilt, changiert.

2. Aber kommen wir endlich zur Legende selbst: Die Legende über die keuscheste aller Frauen beginnt mit einer Wette, die gelangweilte junge Adlige in einer Kriegspause abschließen, welcher von ihnen die Frau besitzt, die alle übrigen an Keuschheit übertrifft. Bereits am Anfang also haben wir es mit einer merkwürdigen Überlagerung von Ernst und Spiel zu tun. Die Keuschheit der Frau ist der Gegenstand einer Wette, wobei, zweite Merkwürdigkeit, kein Wetteinsatz vereinbart wird. Der Ehemann Lukretias weiß sich im Besitz einer Frau, die alle übrigen übertrifft. Er macht den Vorschlag, »die Gesinnung unserer Frauen an Ort und Stelle« zu prüfen. Das Ergebnis dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt der Keuschheit eindeutig: Während die Schwiegertöchter des Königs »bei üppigem Mahl sich mit ihren Standesgenossinnen« die Zeit vertreiben, treffen die Männer Lukretia »noch zu später Nachtzeit mit Wolle beschäftigt« an, und zwar »unter ihren noch bei Licht arbeitenden Mägden, inmitten des Hauses« (Livius 1981: 173). Nachdem im Wettstreit der adligen Krieger um die keuscheste Frau also Lukretia der Preis zufiel, wie Livius notiert, erfasst einen von ihnen, den Königssohn Sextus Tarquinius die »böse Lust« (mala Iibido) (Livius 1981: 173), die Prüfung unter anderen Bedingungen zu wiederholen. Einige Tage nach dem ersten gemeinsamen Besuch kehrt Sextus ein zweites Mal ohne Wissen ihres Ehemanns nach Collatia, einer kleinen Provinzstadt, zurück. Er überrascht Lukretia im Schlaf und, als sie sich hartnäckig seinem Begehren verweigert, »fügt er zur Angst«, wie Livius schreibt, »noch die Schande hinzu; er werde, wenn sie tot sei, einem Sklaven die Kehle durchschneiden und ihn nackt neben sie legen, damit man sagen würde, sie sei bei schimpflichen Ehebruch getötet worden.« (Livius 1981: 173ff.) Sextus, der das Schwert zückt, um Lukretia seinen Willen aufzuzwingen, wird dieses Schwert gebraucht haben, um sie selbst und den Sklaven, der mit ihr Ehebruch begangen zu haben scheint, zu töten: Sextus, der Schänder weiblicher Ehre, wird sich als ihr Hüter darzustellen wissen, indem er die potentialisierende Kraft des Bildes ausnutzt. Das Bild entsteht hier als Resultat eines bestimmten visuellen Dispositivs, in dem reale Körper auf eine Weise angeordnet werden,

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dass bei ihren Betrachtern über den Sinn des >Beieinanderliegens< dieser Körper keinerlei Zweifel aufkommt. The Iady is a portrait. Livius' Legende gehört zu den »Erzählungen von Porträts, die tote Körper ersetzen und die als Repräsentationen von Repräsentationen in zweifacher Weise von ihrem Bezugsobjekt entfernt sind« (Bronfen 1994: 162). Das »Reich der Simulacra«, stellt Foucault fest, gehorche bei Klossowski »genauen Regeln«. Und er fugt hinzu: »Die Umkehrung der Situation geschieht augenblicklich und vom Für zum Wider in einer quasi polizeilichen Weise (die Guten werden Böse, die Toten beginnen wieder zu leben, die Rivalen erweisen sich als Komplizen, die Henker sind listige Retter, zufällige Begegnungen sind von langer Hand vorbereitet, und die banalsten Sätze lassen sich auf zweierlei Weise verstehen)« (Foucault 2003: 159). Etwas von dieser überraschenden »Umkehrung der Situation« und von der »polizeilichen Weise« dieser Umkehrung findet sich auch bei Livius. Das Kalkül des Tarquinius besteht genau darin, dass eine bestimmte Anordnung der Körper nicht nur eine Umkehrung des Geschehenen bewirkt, sondern zugleich auch eine, die polizeilich insofern zu nennen ist, als sie von einem zu anderem Moment die Schuld neu verteilt und das Opfer von einem auf frischer Tat ertappten Täter ununterscheidbar macht. Selbst nach ihrem Tod würde Lukretias Körper, der sich in ein Präsentierungsobjekt verwandelt, eine Handlungsmacht ausüben, die sich gegen sie wendet, weil sie ihr im Bewusstsein der Gemeinschaft die posthume Identität einer >schimpflichen Ehebrecherin< verleiht, die sich mit einem Sklaven eingelassen hat. Die Lukretia-Episode ist nicht nur hier, sondern als ganze, wie sich zeigt, ein schlagender Beweis dafür, dass Handeln »stets verlagert, verschoben, dislokal« ist, dass es »entlehnt, verteilt, suggeriert, beeinflußt, dominiert, verraten, übersetzt« (Latour 2007: 82) wird. Livius' Erzählung erweist sich, wie wir noch sehen werden, als präziser Bericht überall die Entitäten oder >Hilfsmittelder Dumme< gefallen ließ, damit unter dem Schutz dieses Übernamens der Geist, der das römische Volk befreien würde, in der Verborgenheit seine Zeit abwarten konnte« (Livius 1981: 169).

Brutus ist ein Meister der >SimulationDummkopf< heißt. In Brutus fallen gewissermaßen Name und Beiname bis zur Ununterscheidbarkeit zusammen, der Name ist hier der Ort, an dem der Prozess einer unmerklichen Abweichung vom Realen stattfindet, denn einerseits fungiert er als Eigenname und bezeichnet ein konkretes Individuum (indexikalische Dimension), andererseits fUhrt er eine Bedeutung mit sich, die sich sein Träger geschickt zunutze machen kann. Brutus tut nichts anderes, als sich seinem Namen- und damit einem ihm äußerlichen Zeichen- anzugleichen (ikonische Dimension). Der Name verwandelt sich in einen Mittler, insofern er nicht bloß seinen Träger >korrekt< identifiziert, sondern auf seine Veranlassung hin auch agiert. Er fungiert also als Medium einer inneren Spaltung eines Akteurs, die es Brutus erlaubt, hinter der Fassade einer Handlungsohnmacht seine zukünftige Handlungsmacht aufzubauen. Wenn ich hier von Medium spreche, mag das den einen oder anderen wundem, aber die Verwunderung hängt vermutlich mit der keineswegs selbstverständlichen Auffassung zusammen, die den Medienbegriff auf Medien-Institutionen vom Typ Film, Fernsehen, Werbung etc. einschränkt, während ich hier einer Begriffsverwendung das Wort reden möchte, die ausdrücklich relativ >niedrige< Medienstufen (Umgehungen, Materialien, Apparate, darunter auch die »Person« als eine Technik der Unterscheidung eines >Davor< und eines >Dahinter< am Menschen) und elementare Mediensorten (wie Praktiken des Zeigensund der zeichenbasierten Kundgabe) mit einbezieht. Das Trugbild oder die »Maske« (persona), das er von sich selbst zu erzeugen bemüht ist, scheint zugleich sein Wesen auszudrücken. Als der Dummkopf, als den ihn sein >eigener< Name bezeichnet, ist er für die Öffentlichkeit nicht einmal ganz Herr seiner selbst, denn die Dummen und »Blödsinnigen« haben nur wenig Verstand, so dass von ihnen keine Gefahr flir die politische Ordnung ausgeht. Brutus weiß, dass er nur »in der Verachtung« des Tyrannen »sicher« sein kann - und diese Verachtung erwirbt er sich dadurch am leichtesten, dass er seine Unzurechnungsfahigkeit demonstriert. Weder verfügt Brutus über sich selbst noch über die Dinge, die ihm gehören. Er überlässt sie dem König vielmehr bereitwillig als »Beute«, ein Ausdruck, der signalisiert, dass der Tyrann die eigenen Untertanen nach dem Kriegsrecht regiert und daher keine legitime Herrschaft über sie ausübt. Die Dummheit, so weiß Livius, der alles dies im Modus der historischen Erinnerung erzählt und daher bereits den Anfang der Geschichte vom Ende her präsentiert, die Dummheit des Brutus bietet den perfekten »Schutz« für den verborgenen »Geist« (animus latens), der nicht der Geist des Brutus ist, sondern ein Geist, den er lediglich beherbergt und

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der keine geringere Aufgabe vollbringen wird, als das römische Volk zu befreien (liberator populi Romani). Bereits die Einleitung der Legende also operiert, wie man unschwer sieht, in einem exzessiven Maße mit der Macht des Trugbildes als einer spezifischen Technik der Präsentierung (seiner selbst). Brutus eignet sich diese Macht an, um den König über sich selbst und sein >Vorhaben< zu täuschen; er eignet sich die Macht des Trugbildes aber auch an, indem er als der liberator populi Romani erscheint oder dargestellt wird und gleichzeitig dem Prinzip der obersten Gewalt, die der König und später, in der Erzählzeit des Livius, der princeps ausübt, 1 die Treue hält, so dass er als >Revolutionär< und Neugründer des römischen Staates auftreten kann, der gleichzeitig das souveräne Erbe der Könige, die er vertreibt, antritt. Der Fortgang der Legende unterstreicht die Macht des Trugbildes. Die Angehörigen Lukretias »wälzen die Schuld von der Genötigten auf den Urheber des Verbrechens ab«: »Der Geist sündige, nicht der Leib [mentem peccare, non corpus ], und wo die Absicht gefehlt habe, sei auch keine Schuld« (Livius 1981: 175). Diese philosophische Verteilung der Schuld ändert nichts an Lukretias Wissen darüber, dass ihre Unschuld nicht verhindem kann, dass das Trugbild ihrer Schamlosigkeit aufsteigt und künftig »Schamlose unter Berufung auf Lucretia leben dürfen« (Livius 1981: 177), wie sie selbst formuliert. Obwohl Lukretia und ihre Angehörigen also keinerlei Zweifel an ihrer Schuldlosigkeit haben, muss sie wie eine Schuldige erscheinen, die sich selbst das Urteil spricht und dieses Urteil auch selbst vollzieht. Um das Trugbild der Schamlosigkeit an seiner Entstehung zu hindem, muss Lukretia das, was sie ist: ihr Leben opfem. Und gleichzeitig nährt sie mit diesem Opfer zukünftige Spekulationen, wie diejenigen, die Augustinus im Gottesstaat anstellen wird, über eine >geheime< Mitschuld an dem, wofür sie sich zu bestrafen scheint. Mit ihrem Tod scheint die Zeit der politischen Verstellung zu enden und sich die Frage der Macht auf eine Weise zu stellen, die auf die direkte Konfrontation von Machthaber und Prätendenten hinausläuft. Brutus wirft die Maske ab- allerdings, wie sich zeigt, nicht ohne weiterhin auf die Macht des Bildes und das Arrangement der Körper zu Zwecken der politischen Demonstration zu vertrauen. Brutus erweist sich als ein anderer Sextus Tarquinius. Genau dies ist es, was Livius in seiner >Legende< vorfuhrt, weshalb Brutus seinerseits weder den Körper noch den letzten Willen der Lukretia unangetastet lassen kann. Ausgerechnet Der sich nicht als wiedergekehrter König legitimiert, sondern seine Autorität von den republikanischen Institutionen bezieht, die er zugleich entmachtet. Zum Paradox dieser Legitimierungsstrategie am Beispiel des Augustus vgl. Agamben (2004). 324

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die Politik der republikanischen Neugründung des Gemeinwesens scheint auf eine intrinsische Weise mit der Sphäre des Bildes verbunden zu sein und ihre Wirkung einer bestimmten Manipulation am Bild zu verdanken. Was aber ist das Bild? Welche kommunikative Operation bezeichnet es? Worin besteht seine Handlungsmacht? Sie erweist sich als das Ergebnis eines bestimmten Vorgangs, der an ganz beliebigem Material vorgenommen werden kann. Etwas an einem bestimmten Geschehen wird isoliert, zieht Aufmerksamkeit auf sich, gewinnt Affektqualität und schließlich Macht über diejenigen, die sich in seiner Gegenwart befinden. Livius führt die Entstehung dessen vor, was Philosophen des bewegten Bildes wie Gilles Deleuze das Affektbild genannt haben. »Der Affekt existiert nicht unabhängig von etwas, was ihn ausdrückt, auch wenn er sich völlig von ihm unterscheidet. Was ihn ausdrückt, ist ein Gesicht, das Äquivalent eines Gesichts (ein in ein Gesicht verwandeltes Objekt) oder sogar ein Satz« (Deleuze 1989: 136). Das Affektbild ist, struktural betrachtet, nicht ein Bild der gesteigerten Gefühle, sondern eine »Potentialqualität«, die Kraft, »das Bild aus den raumzeitlichen Koordinaten zu lösen, um den reinen Affekt in seinem Ausdruck zu zeigen« (Deleuze 1989: 135). Der im Hintergrund noch gegenwärtige Raum »verliert seine Koordinaten und wird >beliebiger RaumZerteilendeSchneidende< oder eher >Durchdringende< des Messers von Jack the Ripper ist nicht weniger ein Affekt als das Entsetzen, das sich seiner Züge bemächtigt [... ]Die Stoiker haben gezeigt, dass die Dinge selbst Träger eines ideellen Geschehens sind, das nicht mit den Eigenschaften, Einwirkungen und Reaktionen der Dinge zusammenfallt: das Schneidende eines Messers« (Deleuze 1989: 136). Das Messer, mit dem Lukretia sich tötet, nachdem sie es zuvor unter ihrem Gewand verborgen hat, wird zum Träger eines solchen ideellen Geschehens. Das Messer gewinnt Akteursqualität, weil es seine raumzeitliche Festlegung sprengt und Qualität, Vermögen oder Potential wird, das sich als solches ausdrückt. Es kann zum Medium der politisehen Kommunikation und Aktion werden, weil es sich gerade nicht in einer bestimmten Aktion aktualisiert, sondern das Mögliche darstellt. Um zum Medium politischer Ansprüche und einer neuen politischen

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Versammlung zu werden, muss das Messer daher zunächst aus dem Körper Lukretias herausgezogen und als solches >hingehalten< oder präsentiert werden. Während es für Lukretia ein bloßes Instrument war, das sie benötigte, um sich selbst zu töten, gewinnt das Messer im Folgenden die Qualität einer souveränen Potentialität. Diese Potentialität manifestiert sich in der Trennung von dem bestimmten Körper, in dem es steckte, als reines totbringendes Vermögen, das Beliebigen droht und damit eine ganz neue Tauglichkeit erhält. Ein beliebiges Messer - ein beliebiges Subjekt, das es ergreift und zeigt - eine beliebige Menge, die das Messer zirkulieren lässt und sich in eine politische »Meute« verwandelt (vgl. Canetti 1990: lOlff.), also durch den Akt der Ausstellung und den anschließenden Kontakt mit dem Tötungsinstrument im Wortsinn mobilisiert wird - mehr bedarf es nicht, um die souveräne Drohung ins Werk zu setzen. »Er übergibt das Messer dem Collatiner«, beschreibt Livius den charismatischen Höhepunkt der Szene, »dann dem Lucretius und dem Valerius, die über das Wunder (miraculum) staunten, woher dieser neue Geist in des Brutus Brust komme. Wie er ihnen vorgesprochen, schwören sie; und von der Trauer ganz und gar zu Rachezorn übergehend, folgen sie dem Brutus, der sie aufruft, jetzt gleich das Königtum niederzukämpfen, als ihrem Führer« (Livius 1981: 177). Der Tatbestand der Selbsttötung der Lukretia verwandelt sich in ein Zeugnis gegen den »König zu Rom« (Livius 1981: 177), obwohl dieser doch weder etwas mit der Selbsttötung der Lukretia zu tun hat noch auch für das Verbrechen eines seiner Söhne strafrechtlich haftbar zu machen wäre. Livius beschreibt die Transformation eines beliebigen Individuums, das an der Schwelle zu leben vorgibt, die den Menschen vom Tier trennt: Brutus, in einen Charisma träger, der, mit Max Weber gesprochen, Wunder tun muss, um seine Mission öffentlich zu beglaubigen (Weber 1980: 656). Genauer müsste man sagen: Nicht was er tut, kann als ein Wunder im eigentlichen Sinn bezeichnet werden, sondern die an ihm zu beobachtende Veränderung wird als ein miraculum wahrgenommen, das die >gläubige Hingabe< an seine Sendung bewirkt. Eine Situation, die durch die Elemente des toten Körpers der Lukretia, des Messers in ihrem Körper und der ihrer Trauer hingegebenen Angehörigen definiert ist, verwandelt sich in eine Situation, in der sich das >freigesetzte< Messer, der seine Maske abwerfende Brutus und die Angehörigen der Lukretia zu einem neuenGefüge bzw. einer Institution im Werden verbinden, das dem König den Krieg erklärt. Institutionen im medientheoretischen Sinne sind nicht nur rechtlich geregelte Zusammenhänge, sondern zugleich auch Einrichtungen der Wahrheit, weshalb an dieser Stelle spezifische diskursive Praktiken ins Spiel kommen, deren Einsatz eben die Wahrheit ist. Diese Geschichte wird nicht innerhalb

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der Familie bleiben, sie hat das Zeug einer res publica und darf daher auch nicht auf dem Wege beigelegt werden, den Lukretia selbst sich gewünscht hatte, als sie ihren Mann und ihren Vater sowie die Begleiter schwören lässt, Sextus Tarquinius »nicht straflos« ausgehen zu lassen. Bmtus' Intervention wird darin bestehen, genau diese >strafrechtliche< Lösung des Dramas auszuschließen, die unterhalb der Schwelle der Politisierung bzw. Universalisierung des Ereignisses verbleibt. Brutus' politischer >Instinkt< zeigt sich darin, dass er in der spontanen Tendenz zur Trauer, die auch die Bevölkerung auf dem Marktplatz bezeugt, eine Gefahr für die Effektivität der politischen Aktion sieht. Die politische Aktion verlangt, dass man bereit ist, keine Zeit mit der Trauer zu verbringen: Bmtus »wehrt« den »Tränen und unnützen Klagen« und fordert die Menge auf, »nach Männer- und Römerweise die Waffen gegen die zu ergreifen, die die Feindseligkeiten gewagt hätten« (Livius 1981: 177). Die Verwandlung des Selbstmordes der Lukretia aber ist abhängig von der Verwandlung ihrer sterblichen Überreste in ein optisches Medium, also vom Vollzug einer »rhetorischen Operation« (vgl. Koschorke/Lüdemann/Frank!Matala de Mazza 2007: 41)- allerdings nicht an sprachlichem, sondern an physischem Material vorgenommen: »Der Körper ist zu Gesten fähig, die das Gegenteil von dem zu verstehen geben, was sie anzeigen« (Deleuze 1993: 346). Dazu muss ihr Körper einer Reihe von Transformationen oder Translokationen, von >Beugungen< bzw. Flexionen unterwmfen werden, er muss von dort, wo er sich befindet, im domus, entfernt und als ein Element rekonfiguriert werden, das seine Rolle im Rahmen eines öffentlichen Schauplatzes - auf dem forum - spielt. Dem Körper der Lukretia geschieht in der Folge nur, was bereits mit dem Messer passierte, das Bmtus aus ihrem Körper zog: Er wird verschoben und wir erleben in der Folge, um noch einmal die Formulierung Klossowskis zu zitieren, »endlose Enteignungen des Körpers, die sich unter dem Blick des anderen vollziehen«. Was auf der Ebene der Körper oder Dinge mit der Leiche Lukretias und dem Tötungswerkzeug geschieht- ihre Verschiebung von der medialen Stufe des Materials auf diejenige des Apparats, verstanden als eine »gegliederte Stmktur, der eine bestimmte Leistung zuzuschreiben ist« (Seitter 2002: 414) -, passiert auf der Ebene des Diskurses dem Schwur, der seinerseits einer Verschiebung, einer diskursiven Reartikulation unterliegt: Das der Lukretia zuvor gegebene Versprechen ihrer Angehörigen wird umstandslos durch den von Brutus vorgesprochenen Text ersetzt, in dem die um ihren Körper Versammelten schwören, nicht mehr zuzulassen, »dass jene [die Mitglieder der Familie des Tarquinius Superbus] oder irgendein anderer als König zu Rom herrscht« (Livius 1981: 177).

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Livius' Bericht ist auch ein Text über das Umverteilendes Lokalen: Brutus' Name, der die Beschränktheit selbst >signalisiert