Michel Serres. Das vielfältige Denken. Oder: Das Vielfältige denken 9783770565146, 9783846765142


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German/English Pages 246 Year 2020

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Michel Serres. Das vielfältige Denken. Oder: Das Vielfältige denken
 9783770565146, 9783846765142

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Michel Serres

Contemporary Perspectives in European Philosophy Zeitgenössische Perspektiven europäischer Philosophie Edited by/Herausgegeben von Emmanuel Alloa Advisory Board/Wissenschaftlicher Beirat Andrew Benjamin Catherine Malabou Juliane Rebentisch Marcia Sá Cavalcante Schuback Ludger Schwarte Dieter Thomä

VOL. 1

Reinhold Clausjürgens, Kurt Röttgers (Hg.)

Michel Serres Das vielfältige Denken. Oder: Das Vielfältige denken

BRILL | Wilhelm Fink

Umschlagabbildung: NASA image by Jeff Schmaltz, LANCE/EOSDIS Rapid Response, using VIIRS data from the Suomi National Polarorbiting Partnership satellite. Suomi NPP is the result of a partnership between NASA, the National Oceanic and Atmospheric Administration, and the Department of Defense. Caption by Kathryn Hansen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2020 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6514-6 (hardback) ISBN 978-3-8467-6514-2 (e-book)

Inhalt Zur Einleitung: Vielfältigkeiten (multiplicités)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

1

1.

Der Brückenbauer. Michel Serres als öffentlicher Intellektueller  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Hondl

27

2.

Knoten: lösen, knüpfen, mit der Haut denken. Michel Serres’ tangible Philosophie der Gemenge und Gemische  . . . . . . . . . . . . . . . . Jessica Güsken

37

3.

Das atomistische Zögern: Zu Michel Serres’ Philosophie eines objektiv Transzendentalen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Bühlmann

59

4.

Unsichtbare Boten und kommunikationstechnologische Netzwerke. Michel Serres’ Die Legende der Engel in ganz persönlicher Sicht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sybille Krämer

81

5.

Liebeserklärung ans Universale: Serres’ Musikphilosophie  . . . . . . Petra Gehring

6.

Michel Serres on Virtue  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 David Webb

7.

Inzest, Parasiten und Anderes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Reinhold Clausjürgens

8.

Phänomenologische Bemerkungen zum Körperbegriff Michel Serres’  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Thomas Bedorf

9.

Die Menschwerdung des Menschen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kurt Röttgers

89

vi

Inhalt

10.

Michel Serres, Henri Bergson and ‘Retardation’  . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Bill Ross

11.

Zwischen Formalismus und Geschichte: Serres und Foucault in Clermont-Ferrand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Lucie Kim-Chi Mercier

12.

Anthropozän, „Rechte der Natur“ und Naturvertrag: Zur Aktualität Michel Serres’  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Doris Schweitzer Bibliographie zu Michel Serres  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Reinhold Clausjürgens Autorinnen und Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Zur Einleitung: Vielfältigkeiten (multiplicités) Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens Michel Serres, der im Sommer 2019 verstorbene französische Philosoph, gehört in Deutschland nach wie vor zu den weniger bekannten Vertretern der neueren französischen Philosophie – verglichen etwa mit Sartre, Foucault, Derrida u.a. – und das, obwohl sein Buch „Le parasite“, in deutscher Übersetzung 1981 erschienen, für kurze Zeit auf der Bestsellerliste des Spiegel stand und obwohl er 2012 den renommierten Meister-Eckhart-Preis (damalige Laudatio durch unsere Autorin Petra Gehring) erhalten hat und eine Reihe seiner Bücher mittlerweile in deutscher Übersetzung vorliegen (siehe die Bibliographie am Endes dieses Bandes). Über die Gründe für diese im Vergleich zu Frankreich geringere Aufmerksamkeit, die sein umfangreiches Gesamtwerk gefunden hat, kann man nur Mutmaßungen anstellen. Aber vielleicht kommen manche Reserven in der Überzeugung zusammen, Serres sei ein Strukturalist und der Strukturalismus habe in Deutschland insgesamt wenig Akzeptanz gefunden. Dann erhebt sich dagegen eine sonst gar nicht so einmütige Phalanx aus den letzten Zuckungen der Transzendentalphilosophie, aus importierter Analytischer Philosophie, aus hartgesottenen Phänomenologen und Levinasianern und letztlich auch Dialektikern und Hermeneutikern. Und in gewissem Sinne haben sie alle recht, sich durch Serres’ Denken infrage gestellt zu sehen. Biographisches Ausgebildet wurde Serres in Mathematik und Philosophie an der École normale supérieure, deren rigides Klima mit hoher Selbstmordrate er immer wieder beklagte,1 wo nach seiner Meinung kein unabhängiges Denken gefördert wurde. Im Gegenteil: Insbesondere bei den Philosophen waren die Marxisten unter der Führung von Louis Althusser dominierend. Unterrichtet wurden im Wesentlichen Phänomenologie2 sowie Psychoanalyse, Marxismus und Linguistik. Da sich Serres wenig für die zeitgenössische Philosophie, insbesondere nicht für Husserl, Heidegger, Sartre und Camus interessierte, belegte

1  cf. hierzu und zum folgenden Serres et al. 2016, 37sqq. 2  cf. ibid., 39.

2

Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

er mehr Kurse in Mathematik3 und fand dort nicht nur Zugang zur strengen Neuformulierung der Mathematik durch die Bourbaki-Gruppe, sondern auch Anknüpfungspunkte an die früh (1947) von ihm rezipierte und bewunderte Simone Weil, die für ihn ein „Kompass“ (boussole) gewesen sei.4 Nach seinen Abschlüssen in Mathematik und Philosophie unterrichtete Serres in ClermontFerrand, wo er Michel Foucault wiedertraf, der vorher an der École normale sein Lehrer gewesen war. Beide freundeten sich an und arbeiteten gemeinsam am Aufbau der Philosophischen Fakultät in Paris-Vincennes. Foucault arbeitete in dieser Zeit an Les mots et les choses5 und Serres begann, seine Doktorats-These zu Leibniz zu schreiben, die die „topologie combinatoire“6 behandeln sollte und die auf der Idee des Netzes beruhte.7 (Siehe dazu auch den Beitrag von Lucie Kim-Chi Mercier.) Serres reichte seine Arbeit 1968 ein.8 Gutacher waren Georges Canguilhem, Jean Hyppolite, Suzanne Bachelard und Yvon Belaval. Insbesondere Canguilhem, der ihn bis dahin als eine Art „Lieblingsschüler“ betrachtet hatte, konnte mit der These wenig anfangen.9 Und als Serres dann noch eine Konferenz im Zusammenhang mit der These zum Thema „Autobahnkreuze und Kommunikation“ veranstaltete, war der Bruch mit Canguilhem vollzogen und Althusser beschimpfte Serres als Faschisten, weil er den politischen Bezug nicht finden konnte.10 Hatte sich Serres schon zu Beginn seiner Zeit an der École normale aufgrund seiner sozialen und geographischen Herkunft als Außenseiter gefühlt, so verschärfte sich diese Situation nach 1968 immer mehr. Er behandelte in seinen Büchern nicht die Themen, die à la mode waren, war kein Kommunist11 und engagierte sich nicht politisch.12 Ende 1969 erhielt er eine Professur für „Geschichte der Wissenschaften“ und nicht wie erhofft für Philosophie. Er fühlte sich außerhalb, ausgeschlossen aus der universitären Philosophie, an den Rand gedrängt, „exclu du système“.13 Dank seines Freundes René Girard wird er später „Zuflucht“ in den USA finden, und zwar bei den Historikern und nicht bei den Philosophen: „La communauté des historiens qui m’accueillit, 3  4  5  6  7  8  9  10  11  12  13 

cf. ibid. cf. ibid. Foucault 1966; dt.: Foucault 1971. Serres et al. 2016, 45. cf. Serres 1968, 70sqq; cf. auch Serres et al. 2016, 125: „Toute ma thèse sur Leibniz était fondée sur l’idée de réseau.“ [Meine These über Leibniz basierte auf der Idee vom Netz.]. Serres 1968. cf. Serres et al. 2016, 49. cf. ibid., 119. cf. ibid., 121. cf. ibid., 42. cf. ibid., 39/51/348.

Zur Einleitung

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voici treize ans, quand le groupe de pression alors au pouvoir m’expulsa de mon vieux paradis: la philosophie.“ [Die Gemeinschaft der Historiker, die mich jetzt schon seit dreizehn Jahren aufgenommen hat, während die derzeit an der Macht befindliche Zwangsgruppe mich aus meinem alten Paradies vertrieben hat: aus der Philosophie.]14 Die alten Machteliten des Universitätsbetriebs in Frankreich perpetuieren sowohl die alten Inhalte als auch die alten Strukturen.15 Schon kurz nach dem Ende seines Militärdienstes (1958) hatte Serres eine seltsame Begegnung mit der Einstellung der Philosophen zur Macht: In einer Anekdote16 berichtet er von einem Essen in einem Pariser Restaurant mit Martial Gueroult, Georges Canguilhem, Louis Althusser, Michel Foucault und zwei weiteren Personen. Foucault schlägt beim Nachtisch ein Wahrheitsspiel vor: ‚Was würdet ihr machen wollen, wenn ihr keine Philosophen wäret?‘ Alle außer Serres, der trotzdem Philosoph sein möchte, wollen „Minister“ werden. Alle wollen nur die Macht – und zwar wollen alle einvernehmlich „Innenminister“ werden. Serres berichtet, er habe an diesem Tag realisiert, dass er niemals irgendeiner Macht hinterherjagen wolle [„courrait après aucun pouvoir“].17 Serres hatte nach eigenen Angaben das Misstrauen gegenüber der Macht von seinem Vater und von seinem Schwiegervater übernommen: „J’ai hérité de mon père la conviction que le pouvoir corrompt la pensée.“ [Ich habe von meinem Vater die Überzeugung übernommen, dass die Macht das Denken korrumpiert.]18 Nachdem Serres im November 1968 Jacques Monod (Nobelpreis für Medizin 1965) und das noch unveröffentlichte Manuskript von „Le hasard et la nécessité. Essai sur la philosophie naturelle de la biologie moderne“19 kennen gelernt hatte, versuchte er, eine Bekanntschaft mit Canguilhem zu vermitteln, der damals als der Philosoph für die Wissenschaft vom Leben galt. Aber Canguilhem war noch aus den 1940er Jahren und wusste nichts von Biochemie, genetischem Code, von DNA: Canguilhem war noch in der Vergangenheit, Monod schon in der Zukunft.20 Über Monod lernt Serres unter anderem René Thom, François Jacob und Marco Schürzenberger kennen. In seinem Aufsatz Paris 180021 stellt Serres die Rolle der Gelehrten in der Zeit von kurz vor der Französischen Revolution bis zur Restauration dar. Dabei ist 14  15  16  17  18  19  20  21 

Serres 1983, 7. cf. Serres 1995a, 217sq. cf. Serres et al. 2016, 51sqq. ibid., 53. ibid., 36; cf. ibid., 21. Monod 1970; dt.: Monod 1971. cf. Serres et al. 2016, 50. Serres 2002.

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Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

es ihm besonders wichtig zu zeigen, dass sowohl die Strukturen als auch (zum Teil) die Personen vor und nach der Revolution die gleichen geblieben sind.22 Die Gelehrten und die Lehrenden organisieren sich als Orden, als Sekten und schließen Häretiker aus.23 Genau so empfindet es Serres nach 1968: „Die Kaste ist nicht nur mächtig, sie bleibt auch unversehrt: man weiß die eigene Haut zu retten, und eben darin zeigen sich die wahre Macht und die Kungelei oder Solidarität trotz allem.“24 Genau wie um das Jahr 1800 gab es auch nach 1968, so Serres, nur „Wissenschaft“ und „Geschichte der Wissenschaft“ und Serres fühlte sich auf die Seite der Geschichte verbannt: „Die Philosophie Auguste Comtes zieht die Lehren der Französischen Revolution hinsichtlich der beiden Komponenten Wissenschaft und Geschichte. Bald wird es nur noch diese beiden Wissensarten und diese beiden Philosophien geben: man kann sich nur noch der Wissenschaft oder der Geschichte widmen. Die Universität, Inhaberin des Definitionsmonopols des Verstandes und seiner Inhalte, wird bald keine andere rationale Praxis mehr kennen.“25 Der logische Positivismus wurde in der Folge die dominierende Philosophie,26 die alle anderen Ansätze ausschloss, die Wissenschaft wurde zu einem Catholicism without Christianism.27 Dieser logische Positivismus entwickelte seine Modelle im Anschluß an Bergson als geschlossene vollständige Systeme, während Serres sich an Kurt Gödels und Régis Debrays offenen und unvollständigen Systemen orientierte: „Ebenso wie die Chronisten des Wissens oder der Unvernunft [i.e. Foucault] ihre Modelle Bergson verdanken, so schulden wir unsere Lösungen dem Gödel-Debrayschen Prinzip.“28 Serres kam damit zu einem Systembegriff, der die Stabilität, die Invarianz gerade durch die Variation sicherstellte: „Der Begriff des Systems – harmonisch zusammenspielendes Räderwerk im individuellen oder kollektiven Gleichgewicht, weil alle Räder sich um sich selbst oder sich umeinander drehen – paßt also ausgezeichnet zu einer Welt, die sich durch Variationen invariant hält.“29 22  23  24 

25  26  27  28  29 

cf. ibid., 629. cf. ibid., 629sq. ibid., 610; cf. ibid., 631: „[S]o wird deutlich, daß die intellektuelle und wissenschaftliche Landschaft sich durch die Machtveränderung letztlich nicht verändert hat, sondern dank subtiler Variationen invariant geblieben ist. Andere Individuen oder dieselben, von neuen oder alten Motiven getrieben, nehmen tausendfach neu arrangierte Plätze ein, von denen aus sie über Wahrheit, Zeit und Geschichte sprechen, über genau die gleichen Dinge wie zuvor, doch in einer neuen Sprache, die aus der alten schöpft.“ Serres 2002, 632. cf. ibid., 639. cf. ibid., 633. ibid., 638; cf. Gödel 1931 und Debray 1981. Serres 2002, 615.

Zur Einleitung

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In den folgenden Jahrzehnten pendelte Serres zwischen Lehrverpflichtungen an der Sorbonne in Paris und an verschiedenen Universitäten in Nordamerika und veröffentlichte eine große Anzahl an Monographien zu unterschiedlichsten Themen und wandte sich – seiner eigenen Fragestellung folgend30 – zunehmend den Fragen des Verhältnisses des Menschen zu der ihn umgebenen Natur (siehe hierzu den Beitrag von Doris Schweitzer) und Fragen der modernen Technologien wie dem Internet zu.31 Er hatte regelmäßige Auftritte im Radio und im Fernsehen und wurde im Jahre 1990 in die Académie française gewählt. Philosophisches Sein Denken war von den Vielfäligkeiten geprägt, es läßt sich nicht in den Kategorien von Konsistenz und Vollständigkeit beschreiben, es war vielmehr ein offenes und unvollständiges System, das nicht den kürzesten und direktesten Weg vom Problem zur Lösung sucht und findet, sondern Denken hieß für Serres, dass man einen Bezug zur Vielfältigkeit hat.32 Das Denken ist wie ein Browsen, Surfen durch die Weiten des Internets/des Wissens, die Linie zwischen zwei Punkten wird zu einem tessère,33 zu einem Feld, zu einem Netz. Serres nutzt dafür auch den Begriff sérendipité als das „Beschreiten eines Weges ohne Plan“ im Gegensatz zu „mit Methode“34 – und Serres nutzt dafür auch den Begriff der randonnée (siehe weiter unten). Bereits frühzeitig kritisiert Serres die klassischen Methoden der Philosophie, insofern sie alle auf der Suche nach dem einen Einheitspunkt der Wahrheits- oder der Sinnursprünge seien. Eine heute fällige Analyse müsse sich jedoch der vielfältigen Sinnverschiebungen annehmen. Fällt aber die Vergewisserung durch den sei es arché-ischen, sei es telelogischen Einheitspunkt fort, dann sind diese auch nicht mehr als Sinn-Erhellungen oder SinnEntstellungen zu bewerten. Sie wären wertungsfrei als Realisierungen von 30  31  32  33  34 

ibid., 643: „Nach alledem erleben wir heute eine Krise des Wahren. Wie steht es, nach dem Tode Gottes, gegenwärtig mit dem Überleben der Welt? Für beide, diese wie jenen, hat derselbe Todeskampf begonnen.“ 1995, das Internet war gerade erst erfunden, schrieb Serres: „Dernier voyage immobile: nous surfons sur les réseaux et dans les hypertextes.“ [Letzte unbewegliche Reise: wir surfen durch die Netze und in den Hypertexten.]: Serres 1995a, 276. Serres 2015, 352: „Qu’est-ce que penser? C’est avoir rapport à la multiplicité.“ [Was ist Denken? Es ist: Einen Bezug zur Vielfältigkeit haben.]. cf. ibid., 143. cf. ibid., 96.

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Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

Strukturen und Strukturveränderungen zu beschreiben. Den dabei zur Anwendung gelangenden Strukturbegriff entlehnt Serres nicht der Linguistik wie die sonst so genannten Strukturalisten, sondern der Mathematik, besonders der Infinitesimalrechnung (Leibniz) und der Mathematik Bourbakis; das feit Serres vor den Unsauberkeiten, die sich Strukturalisten wie Claude Lévi-Strauss oder Roland Barthes nachsagen lassen müssen. Serres wehrt sich ausdrücklich gegen modische Verwendungen des Strukturbegriffs, die zu „zahlreichen Wahnvorstellungen“35 geführt hätten. Serres: „Eine Struktur ist eine operationale Menge mit undefinierter Bedeutung […], die beliebig viele, inhaltlich nicht spezifizierte Elemente und eine endliche Zahl von Relationen zusammenfaßt, deren Natur nicht weiter spezifiziert ist, für die jedoch die Funktion und gewisse Auswirkungen auf die Elemente definiert sind. Wenn man nun die Elemente inhaltlich bestimmt und die Art der Relationen festlegt, erhält man ein Modell (ein Paradigma) dieser Struktur. Diese Struktur ist dann das formale Analogon sämtlicher konkreten Modelle, die sie organisiert. Modelle symbolisieren keinen Inhalt, sie ‚realisieren‘ eine Struktur.“36 Wenn der Akzent von Anfang an auf den Sinnverschiebungen liegt, dann ergibt sich, dass das Denken von Serres ein Prozessdenken ist (siehe dazu den Beitrag von Bill Ross), ein Denken von und in Übergängen; es geht um Prozesse in Netzen, d.h. von Anordnungen, Relationen und Bahnungen, von Funktionen und Relationen in netzförmiger Form. Das dialektische Prozessdenken kannte zwischen zwei Punkten genau einen logisch notwenigen Weg, der bei Hegel über die Negation und die Negation der Negation führte. Im Netz dagegen gibt es immer viele Wege und keiner dieser Wege ist logisch notwendig. Der Vorteil des netzförmigen Denkens ist offenkundig. Ein Argumentationsgang, der mehrere Eingänge und Zugänge zulässt, der vielfältige Verknüpfungen kennt und der so etwas wie einen Wechsel und eine Vervielfältigung der Darstellungsdimensionen im Prozess vorsieht, ist offensichtlich flexibler, anpassungsfähiger, ja man möchte sagen philosophischer. Noch armseliger als das dialektische, auf Negation festgelegte Denken ist das logisch-positivistische, das meint, durch geordnete Schritte auf einfachen Bahnen Wahrheit produzieren zu können. Aber nicht nur die Zahl der Verknüpfungen, sondern auch die Modalitäten lassen sich im netzförmigen Denken steigern, z.B. Kausalität, Deduktion, Analogie, Reversibilität, Reziprozität u.v.a.m. Das Netz löst das lineare Denken in ein tabulatorisches auf.37

35  36  37 

Serres 1991, 25. ibid., 39sq. cf. ibid., 12.

Zur Einleitung

7

Als Denker der Relationen und der Prozesse ist Serres auch ein Denker der Kommunikation als Realisierung von Relationen in Prozessen. Seine „Mathematik der Kommunikation“ ist nicht nur jeglicher Einheitsphilosophie abhold, sondern eben dadurch auch aller Bewusstseinsphilosophie. Serres sagte,38 er habe nie über Bewusstsein gesprochen, er wisse gar nicht, was das ist; immer habe er nur über Kommunikation und ihre Modi gesprochen, d.h. über dasjenige, was sich im Zwischen ereignet: „Am Anfang steht die Mathematik, steht eine Hypothese über die intersubjektive Genese des griechischen Wunders, wie es sich uns im Spiel des Platonischen Dialogs darbietet. Und auf die Mathematik kommen wir zurück, wir schließen einen ersten Kreis, indem wir in ihr und durch sie die Strenge der Leibnizschen Hauptordnung aufweisen: die der Kommunikation zwischen den Substanzen. Die allergrößte Abstraktion ergibt sich hier aus der radikalen Forderung nach der bestmöglichen Kommunikation.“39 Im netzförmigen Denken wird auch der Raum ein anderer sein, nicht mehr der absolute Raum der Newton’schen Physik, d.h. eines Raumes, in dem wir einen festen Ort einnehmen und von dort aus lineare zeitliche Ortsveränderungen vollziehen können. Im Netz vielfältiger Relationen gewinnen wir die Vorstellung eines Raumes, der an der Bewegung selbst haftet, eines Raums nomadischer Struktur. Der Ort der Nomaden ist nicht durch ein Koordinatensystems vorgegeben, in dem jedes Ding seine zugewiesene Stelle hätte. Man muss mit Serres die Fraktale und die Turbulenzen ernst nehmen – und die Erkenntnisse der Relativitätstheorie bzw. im Allgemeinen der modernen Physik, den modernen Naturwissenschaften. Serres verbleibt nicht in der Mathematik der Kommunikation, d.h. des Abstrakten, sondern sucht die Verbindung mit dem Konkreten auf: „Von der Mathematik zu den Mythen“.40 Und einer der Mythen wird von ihm in der Gestalt des Parasiten behandelt. Im wörtlichen Sinne sind Parasiten diejenigen, die bei einem Mahl dabei sitzen und mit trinken und essen. Im alten Griechenland waren die parasitoi die Inhaber derjenigen Ehrenämter, die dafür zu sorgen hatten, dass die beim Götteropfer den Göttern dargebotenen Speisen und Getränke tatsächlich verzehrt wurden und nicht als verdorbene Speisen von einer misslungenen Kommunikation mit den Göttern kündeten. Allgemein waren also Parasiten diejenigen, die von anderen leben. Aber weder die biologische noch die soziale Welt ist eindeutig in Parasiten und Wirte eingeteilt. Der Parasit ist vielmehr Wirt eines weiteren Parasiten. Die Kette des 38  39  40 

Serres 2001, 321. Serres 1991, 7. ibid., 25.

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Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

Parasitentums geht im Prinzip ins Unendliche, Serres sagt: „Der Mensch ist des Menschen Laus. Und so ist auch der Mensch des Menschen Wirt.“41 Daher ist die soziale Grundsituation nicht die (nach Hobbes), dass der Mensch des Menschen Wolf sei und ihn töten will; im Gegenteil: er will ihn leben lassen und ausnutzen. Aber das Parasitäre zuzulassen, heisst, die Asymmetrie des Sozialen anzuerkennen, dass nicht alles in der Ordnung eines paradiesischen Zustands ist, oder Serres fängt es in das Bild von Pfingsten ein: alle kommunizieren und alle verstehen alle. Aber es gibt kein System, dass in dieser Weise perfekt wäre: „Es läuft immer nur, weil es schlecht läuft.“42 Die Störung und die Asymmetrie gehören zum System: überall Risse in der Ordnung, überall Ungleichgewichte und Abweichungen. Ein System ohne Störung, wäre gar kein System: „[…] das Buch der Abweichungen, des Rauschens und der Unordnung wäre nur für den das Buch des Bösen, der einen Gott verteidigte, welcher durch den Kalkül der Urheber einer unabänderlich zuverlässigen Ordnung wäre. Doch dem ist nicht so. Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor. […] Am Anfang war das Rauschen.“43 Aber das System des Sozialen wäre noch gar kein System, wenn es nur aus parasitären Verkettungen (aus asymmetrischen Intersubjektivitätsverkettungen) bestünde. Das Wesentliche ist vielmehr die Struktur des Kommunikationsparasiten. Dieser nutzt die (mehr oder weniger) gelingende Kommunikation zwischen zweien aus und zweigt sich seinen Teil aus dieser Beziehung ab. Er ist der für alles Soziale konstitutive Dritte. Insofern ist ein Vorläufer der Theorie des Parasiten bei Serres die Theorie des „dritten Mannes“ oder des aus- oder eingeschlossenen Dritten: einen Dialog zu führen heisst dann, einen Dritten zu setzen und auszuschließen zu suchen; eine gelungene Kommunikation wäre der ausgeschlossene Dritte. Aber das Parasitäre ist auch das alle Kommunikation begleitende Rauschen, es lässt sich nicht tatsächlich ausschließen, wie auch die Informationstheorie weiß. Das hatte Serres bereits in seinem Aufsatz von 1966 festgehalten: „Le troisième homme ou le tiers exclu“. In seinem Buch zum Parasiten bemüht Serres nicht nur einen reichen Schatz von Bildern, Fabeln und Geschichten, sondern behandelt mit dieser Figur auch alle wichtigen Themen der klassischen Politischen- und Sozialphilosophie. Wenn man nun das soziale System als System denkt, das aus parasitären Kaskaden aufgebaut ist, dann erscheinen alle sozialen Beziehungen als einseitige Beziehungen, die den einen begünstigen und den anderen ausnutzen und die gelingende Kommunikation der Störung durch den Dritten aussetzen. Und in der Tat ist 41  42  43 

Serres 1981, 14. ibid., 108. ibid., 28.

Zur Einleitung

9

Serres der Ansicht, dass der gerechte Tausch als grundlegend egalitäre Beziehung eine kulturhistorisch späte, logisch unwahrscheinliche und überaus störanfällige Relation sei. Das Parasitäre ist der Normalfall. Zwar versucht Kommunikation den Dritten auszuschließen und eine Situation gelingender Zweisamkeit zu schaffen; aber da das aus systemlogischen Gründen gar nicht möglich ist, ist es besser für die Stabilität eines Systems, den Dritten zuzulassen, ihn einzuschließen. Der Dritte stabilisiert das System. Aus der Biologie (Immunologie und der Endosymbiontentheorie) weiß man: die großzügigen Wirte, die den Fremd-Körper zulassen, sind im Endeffekt stärker als diejenigen Körper, die den Dritten ausgeschlossen hatten. Aber Serres ist nicht nur der Denker der Mathematik der Kommunikation, der Strukturen, Netze und Modelle, schließlich der Begründer einer Sozialphilosophie des Dritten. Er ist auch ein Philosoph der Sinnlichkeit. Als Person war er Seefahrer und Bergsteiger und als Seefahrer weiß er, dass inmitten von Wogen, Strömungen und Stürmen der gerade, der methodische Weg des Rationalismus – Schritt für Schritt – unbrauchbar ist: „Ich suche die Passage, die von der exakten Wissenschaft zur Wissenschaft vom Menschen [gemeint sind die Humanwissenschaften, nicht etwa die Anthropologie] führt. Oder […] von uns zur Welt.“44 Und dafür wählt er das Bild der Nordwest-Passage, deren Luftbild auch als Cover dieses Buches diente. Die Struktur dieser Passage: „[…] in einer unendlich komplizierten Zickzacklinie aus Buchten und Kanälen, Becken und Meerengen, durch den gewaltigen, fraktalen arktischen Archipel. Zufallsverteilung und strenge Regelmäßigkeit, Unordnung und Gesetz.“45 Diejenigen, die uns, vor allem im Positivismus des 19. Jahrhunderts glauben machen wollten, es gäbe eine Einheit des Wissens, die die Einheit der Welt reproduzieren oder wenigstens repräsentieren könnte, sie haben – so Serres – gemogelt. Tatsächlich ist der Weg vom Wissen zur Welt ein labyrinthischer: zeitweilig kann man glauben, den eindeutigen Weg zum Zentrum des Labyrinths gefunden zu haben und wird doch in die Irre geführt: man muss sich den Windungen und Umwegen anvertrauen. Serres sagt, dass weder die Naturwissenschaften noch die Geisteswissenschaften den Weg vom Wissen zur Welt – hindurch durch diese labyrinthischen Fraktale der Nordwest-Passage – gefunden hätten. Nur einer Figur gelingt dieser Übergang: dem Parasiten, (zum Parasiten siehe den Beitrag von Reinhold Clausjürgens) in dem Natur und Kultur zu einer subversiven Praxis verbunden sind: „Ihm gelang der Durchgang, aber daraus läßt sich kein allgemeines Gesetz ableiten.“46 44  45  46 

Serres 1994a, 15. ibid. ibid., 19.

10

Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

Es kommt für Serres nämlich darauf an, das Vielfältige zu denken im Zuge eines vielfältigen Denkens: „Der gerade Weg, der mutig durch den cartesischen Wald führt, erscheint da ein wenige naiv. […, Anspielung auf den Rat von Descartes, man solle, wenn man sich im Walde verirrt hat, immer geradeaus gehen] Ich spreche mit mehreren Stimmen […]“47 „Was wir Vernunft und Rationalität nennen, ist möglicherweise nur ein seltener Fall. Das Rationale wäre dann eine Insel im Meer des Realen.“48 „Das Rationale hat den Charakter einer Fehlstelle, ist […] eine Randerscheinung. Eine Ultrastruktur, die zeitweilig aus der Wolkenbank auftaucht. Bildlich gesprochen, ist die Welt die Ausnahme und das Meteorologische die Regel. Das Rationale ist im strengen Sinne unwahrscheinlich. Gesetz, Regel, Ordnung, alles, was wir so bezeichnen, sind so unwahrscheinlich, daß sie an die Grenze dessen kommen, was eigentlich gar nicht sein kann.“49 Mit mehreren Stimmen zu sprechen, also das vielfältige Denken, ist eine Strategie des Friedens. Der Krieg dagegen zwingt zur Polarisierung und zur Vereinfachung von Vielfalten: „Der Schlachtenlärm hält den Raum besetzt, von Ost bis West, ohne daß eine Lösung in Sicht wäre; nichts Neues unter der Sonne der Streitereien, drinnen wie draußen. Venedig und Mexiko wurden von Flüchtlingen gegründet, die man aus bewohnbaren Räumen in tödliche Sümpfe, Höhen und Tiefen vertrieben hatte. Das Übel erwächst aus der Simplifizierung durch die Waffen. […] Ja, der Kampf ist unsere erste Gewohnheit, er verhindert, daß unser Geist erwacht. Ja, das Denken kennt nur ein Hindernis: den Haß.“50 Band IV von „Hermes“ beginnt mit den Worten „Im Anfang war das Tohuwabohu. Wir sagen heute: das Rauschen, das Hintergrundrauschen. […] Unsere Ahnen sagten: das Chaos.“51 Diese Worte bezeichnen Phänomene, die undifferenziert erscheinen und über die wir nichts mit Genauigkeit wissen, Mengen unbekannter Objekte, nicht lokalisiert, nicht differenziert, im Zwischenbereich zwischen den Ordnungen unseres Wissens und dem Kosmos des geordneten Universums: die Welt der Wolken, der Meteore, Sternschnuppen u.ä. Hier entfaltet sich eine prächtige, reichhaltige Unordnung, mit der die Große Theorie nichts anzufangen weiß, es ist der Ort der science mineure: „Das Seiende – und das ist eine Tautologie – ist das Wahrscheinlichste. Und am wahrscheinlichsten ist die Unordnung. Die Unordnung ist fast immer da. Das heißt Wolke oder Meer, Sturm oder Rauschen, Gemisch und 47  48  49  50  51 

ibid., 23; zu Descartes im Wald cf. auch Serres 1995a, 93 und ibid., 97: „Adieu, Descartes, donc, adieu, la méthode.“ [Adieu, Descartes, also, adieu, Methode]. Serres 1994a, 21. Serres 1993, 8. Serres 1994a, 25sq. Serres 1993, 7.

Zur Einleitung

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Masse, Chaos, Tumult. Das Reale ist nicht rational. Oder allenfalls im äußersten Grenzfall. Wissenschaft ist daher immer Wissenschaft der Ausnahmeerscheinung, des Seltenen und des Wunders. Wissen ist immer das Wissen über Inseln, über Sporadisches und über Ultrastrukturen.“52 Aber man kann es auch umwerten: dann ist die Unordnung nicht der residuale Bereich des Noch-nicht-Geordneten, sondern dann erscheinen all die geordneten Systeme unseres Wissens nur noch als verstreute und verlorene und von Pedanten bewohnte Inseln in einem endlosen Meer des Unwissens und der Unordnung, in dem wir uns gemäß der science mineure gleichwohl zurechtfinden (siehe dazu den Beitrag von Jessica Güsken). So ist praktische Orientierung, d.h. Orientierung ohne eine Große Theorie, möglich. Serres beschreibt sie anhand der Orientierung eines Kabeljaufischer: „So fährt man nach Saint-Pierre: fahre so lange Richtung untergehender Sonne, wie du im Wasser eine bestimmte kleine Alge treiben siehst; wenn dann das Meer sehr, sehr blau wird, halte dich etwas links, da kannst du gar nicht irregehen; das ist die Gegend, wo die kleinen Tümmler sich mit Vorliebe aufhalten, wo es eine starke Nordströmung gibt, wo der vorherrschende Wind nur schwach, in leichten Böen bläst und die Dünung stets kurz ist, dann kommt das große graue Rechteck und dann die Gegend, in der man den Kurs der großen Eisberge kreuzt; wenn man sie sieht, liegt da die erste Bank, unter dem Wind.“53 Noch bevor die Kartographen und die Seefahrer, die den Karten folgten, Amerika entdeckten, waren die Fischer aufgrund solch einer praktischen Orientierung längst dort gewesen. Für Serres ist das der Unterschied zwischen einem methodischen Vorgehen und einer Randonnée, einem schweifenden, ausprobierenden Vorgehen der Umwege, das den Phänomenen möglichst nahe bleiben möchte. Im zweiten Teil von „Éloge de la philosophie en langue française“ schreibt Serres unter dem Titel Randonnées seine eigene kleine Geschichte der Philosophie mit Hilfe der randonnée als Methode.54 Diese Methode ist explizit als Gegenentwurf zur Methode Descartes angelegt – „Discours d’une autre méthode“55 – und orientiert sich an den Spaziergängen (promenades) und Träumereien (rêveries) Rousseaus: „[L]a randonnée à la manière de Jean-Jacques passe par toutes les places“ [Die randonnée nach der Art von Jean-Jacques durchläuft alle Orte].56 Und zwei Kapitel der Nordwest-Passage tragen ebenfalls die 52  53  54  55  56 

ibid., 9. Serres 1998, 337. Serres 1982, 184: „[L]a méthode est une randonnée fractale“ [Die Methode ist eine fraktale Randonnée]. Serres 1995a, 144. ibid.; cf. insgesamt ibid., 144sqq.; cf. auch ibid., 160; vor diesem Hintergrund kann „Tausend Plateaus“ von Deleuze/Guattari auch als randonnée gelesen werden; cf. Deleuze/Guattari 1997.

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Überschrift Randonnée und behandeln einerseits die Durchfahrt durch die Nordwest-Passage und andererseits die Problematisierung der Bilder einer Ausstellung durch den Rundgang durch sie.57 Einem seiner Bücher gab Serres den provozierenden Titel: „La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences“.58 Das Gedicht des antiken Autors u.d.T. „De rerum natura“ soll der Ursprung der Physik sein? Ja, es ist eine Physik, die den Phänomenen nahebleiben möchte, die keine Physik der Lehrbücher und Labors ist. Und es ist eine Physik, die statt von Kräften zwischen festen Körpern auszugehen, vom Fließen, von Wellen und den im Fließen auftretenden Turbulenzen und Strudeln ausgeht und mit dem Begriff des Clinamens, also der minimalen Abweichung, eine Erklärung für die Verbindung von Ordnungen und Unordnungen sucht. Hierbei spielt die Iteration eine wesentliche Rolle: Wenn man das Verfahren als „beschreibende Annäherung“ betrachtet,59 könnte diese als Verfahren für das gesamte Werk von Serres dienen. Durch wiederholende Beschreibung/Analyse/Interpretation gleicher/ähnlicher Phänomene die Welt in ihrer Gesamtheit/Wirklichkeit versuchen abzubilden – früher nannte man das „Strukturalismus”. (Vergleiche auch den Beitrag von Lucie Mercier in diesem Band.) Im Lukrez-Band spielt Iteration insofern eine wichtige Rolle, als die Iteration eben nicht die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ ist, sondern die kleine „Abweichung“, die Differenz. Diese Differenz, dieser „kleine Winkel“ ermöglicht es, das homogene Fließen aufzubrechen und die Zeit entstehen zu lassen. Der statische euklidische Raum erfährt die Dynamisierung durch die Zeit als vierter Dimension. Das geschlossene System bricht sich selbst auf. Serres, der Philosoph des Übergangs und der Verbindungen zwischen Wissen und Welt, ist deswegen ein Philosoph der Sinnlichkeit, weil es die Sinne sind, die diese Brücke (siehe den Beitrag von Kathrin Hondl) bereitstellen. Neben der Bewährung in der Seefahrt gibt es bei Serres ein zweites starkes Beispiel dafür: das Bergsteigertum, das er in seinem Buch „Variations sur le corps“60 schildert und preist. Das Entscheidende für den philosophischen Bergsteiger ist nicht der Überblick, den man vom Gipfel des Berges haben könnte – oder wegen Wolken vielleicht nicht haben wird –, ist nicht der Überflug (survol), 57  58  59 

60 

cf. Serres 1994a, 9–34 bzw. 121–148. Serres 1977. Serres 1968, 72sq.: „L’itération de descriptions semblables le [i.e. le système] désigne comme théorie des correspondances de région à région, de contenu sémantique à contenu sémantique, de multiplicité à multiplicité.“ [Die Iteration der ähnlichen Beschreibungen bezeichnet es [i.e. das System] als Theorie der Entsprechungen von Region zu Region, von semantischem Inhalt zu semantischem Inhalt, von Vielfalt zu Vielfalt.] Serres 1999.

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der Traum der Theorie, einen Punkt zu erreichen, von dem man überblickshaft alles sehen kann: aber das bleibt das Privileg der olympischen Götter. Das Entscheidende für die Philosophie ist die Begegnung mit dem Berg, der alle Sinne nicht nur das Sehen oder den Überblick herausfordert. Der Aufstieg entdeckt den Raum körperlich: Flugzeuge steigen auf, wie es der Flugplan vorschreibt, der Bergsteiger beginnt den Aufstieg in der Morgendämmerung, weil der Berg die Bewegungen des Körpers vorschreibt, bzw. der Körper sich in die Welt einschreibt, und zwar so, dass der Fels zu einer der Möglichkeiten des Körpers wird. In der Einlassung des Körpers in den Berg wandelt sich der Körper, er entdeckt seine potentielle Vierfüßigkeit, oder – man könnte auch sagen – seine Vierhändigkeit, man entdeckt und erinnert die eigene Ursprünglichkeit, die eine mit der Welt ist. Im Schutz dieser symbiotischen Beziehung gelingt der Aufstieg: „le corps progresse“. Aber man ist nicht allein. In den Seilschaften gilt absolutes Vertrauen der Begleiter zueinander. Im Hochgebirge: Täuschung und Lüge bedeuten den Tod. Dem Risiko des Absturzes kann man nur gemeinsam begegnen. Die Sprache gestattet die Beliebigkeit, den Risiken der Börse z.B. kann man am besten egoistisch-neoliberalistisch durch Täuschung trotzen, den Risiken des Berges kann man nur in Gemeinsamkeit der Offenheit und Wahrheit begegnen. Insofern ist die Sinnlichkeit des Bergsteigens eine der Formen der Kommunikation mit dem Sein. Nach dem Gipfel beginnt der Abstieg, der einen anderen Körper erfordert, nicht angestrengtes Wollen ist nun gefragt, sondern das Zulassen, die behutsame Auslieferung an die Schwerkraft, das Risiko des Absturzes bleibt, im labilen Gleichgewicht ist die Körper-BergBeziehung jedoch eine andere geworden. Eine weitere Instanz des Übergangs von der Mathematik und der Welt des Wissens und der Wissenschaft zur realen Welt der Erscheinungen sind für Serres Erfahrungen der Körperlichkeit, einerseits veranschaulicht in der Auseinandersetzung des Körpers mit extremen Herausforderungen, in denen der Körper in direkte Kommunikation mit der Welt eintaucht. Man könnte (und hat) dieses Eintauchen in eine gemeinsame Textur, durch die das Wissen selbst als ein Teil der Welt erscheint, auch mit dem Begriff des Leibes zu bezeichnen versuchen (siehe den Beitrag von Thomas Bedorf), mit dem Nachteil, dass die Leibphilosophie in ihrer Struktur nicht immer – aber doch noch zu oft – die Struktur der Bewusstseinsphilosophie lediglich abwandelnd variiert. Bei Serres wird die Sinnlichkeit der Verwebung und Vermischung des Körpers mit der Welt besonders deutlich in seinem Buch „Die fünf Sinne“61 (siehe zum Thema der Verwebung und der Knotenbildung und -auflösung insbesondere den Beitrag von Jessica Güsken). Hier führt er z.B. aus, dass die Wörter für Wissen und 61 

Serres 1998.

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für Geschmack im Französischen einen Gleichklang haben: savoir und saveur. Was für einen guten Wein gilt, gilt auch allgemeiner: […] wer nicht gekostet und geschmeckt hat, der kann kein Wissen erwerben. Reden ist noch keine Weisheit, die erste Zunge bedarf der zweiten. Es wird ein wenig zu schnell vergessen, daß homo sapiens zunächst den bezeichnet, der sapor, Geschmack, hat, der ihn schätzt und sucht, dem der Geschmackssinn wichtig ist, das schmeckende Tier, und erst dann den, der durch Urteilskraft, Verstand oder Weisheit zum Menschen geworden ist, den sprechenden Menschen. […] Die Weisheit kommt nach dem Geschmack, sie kann nicht ohne ihn kommen, aber sie vergißt ihn.62

Das Tier verschlingt seinen Fraß, der Mensch aber genießt, was er schmeckt … und weiß bescheid. Wer aber das Geschmeckte jenseits des Bescheid-Wissens im Genießen beschreiben möchte, der kann nicht anders, als von der Aisthesis zur Anästhesie des Redens überzugehen. Indem im Beschreiben die Sinnlichkeit nicht bleibt, was sie war, tut sich hier erneut das Problem des Übergangs auf. Der hervorragende Wein weckt die Sinne des Mundraums und läßt ihn verstummen. Aber ohne dass der Mund dann von diesem Verstummen hochdifferenziert zu reden beginnt, wissen wir gar nichts davon. Und gerade der Wein macht ja redselig. Die Aisthesis des Geschmacks eines überwältigend guten Weines liegt zwischen der Anästhesie der Redseligkeit, die gar nicht erst zum Schmecken kommt, und der Anästhesie einer trunkenen Redseligkeit. „Von wo aus soll man […] beschreiben? Von nahem, von ferne, aus mittlerem Abstand?“, fragt Serres.63 Die ganz besondere Schwierigkeit, das Naheliegende des Geschmacks zu beschreiben, rührt daher, dass Geschmack und Geruch differenzierende Sinne sind, die Vielheiten wahrnehmen, aber nicht integrieren, während Gesichtssinn und Gehör synthetisierende Sinne sind, die Einheiten schaffen. Der Geschmack bringt es immer nur zu einem Gemisch, während das Auge nach Einheit verlangt. Aber gerade das macht die Beschreibung dieses der Sinnlichkeit Naheliegenden mit allgemeinen Begriffen so ganz besonders schwierig. Der Gesichtssinn distanziert, das macht die Beschreibung des Naheliegenden schwierig, weil der Gesichtssinn nichts in der Nähe belässt oder bei dem allzu Naheliegenden versagt. Der Geschmack dagegen erfasst das ganz Naheliegende in seiner differenzierten und vermischten Vielfalt, aber er versagt an der Beschreibung angesichts der Notwendigkeit der Verwendung einer Sprache, die mit Hilfe von Allgemeinbegriffen identifiziert. Die Schwierigkeit, ja man möchte sagen: Unmöglichkeit, den Wein 62  63 

ibid., 207. ibid., 210.

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mit allgemeinen Begriffen zu beschreiben, hindert übrigens gar nicht die Fähigkeit des Weinkenners, Weine wiederzuerkennen oder Ähnlichkeiten zu schmecken, d.h. Erkenntnisfunktionen auszuüben angesichts systematisch unentwirrbarer Gemische. Ein solches Gemisch ist in einer Unmittelbarkeit, Komplexität und Reichhaltigkeit gegeben, die dennoch in einer Weise sehr abstrakt ist, dass sie sich nicht in einfacher Weise, in einer Sprache der Sinnesdaten etwa, ausdrücken ließe. Das Naheliegende ist ein Gemisch der Sinnlichkeit, das immer schon über die einfache Beschreibung hinaus ist. Wenn der Empirismus sagt, dass nichts im Geiste ist, was nicht vorher in den Sinnen war, ist es dann so sicher, dass er Geruch und Geschmack ebenso sehr meinte wie Gesichtssinn und Gehör? Ist nicht das, was uns geschmacklich auf der Zunge liegt, zu nahe, als dass der Geist es fassen könnte? Serres, dieser Philosoph der Sinne, wandelt denn auch die betreffende Formel ab. Er sagt: „Es ist nichts in den Sinnen, was nicht danach in Richtung der Kultur ginge. – Nicht in Richtung der Erkenntnis, sondern der Kultur.“64 Also haben wir es hier mit einem in dem Sinne kultivierten Umgang mit Nichtwissen zu tun, als dieses Nichtwissen kein Scheitern der Wissensbemühungen darstellt. Wie lassen sich eine Mathematik der Kommunikation und der Netze mit einer Philosophie der Sinnlichkeit vereinbaren? Der Schlüssel ist selbstverständlich der Begriff der Vielfalt, der Vielfältigkeit der Welt und das vielfältige Denken. Das dieser Vielfalt entsprechende Denken wird nicht mehr eines der klassischen Methode sein, Schritt für Schritt vorzugehen, die geraden Wege wie sie nur in der Wüste möglich sind. In einer gegliederten Landschaft dagegen gibt es Berge, Täler, Flüsse, Sümpfe, Wälder, man muss Umwege, Abwege machen und Hindernisse überwinden: „Der Weg, der durch die Landschaft führt, heißt randonnée, Wanderung“, sagt Serres.65 Und auch für die Bewegung des Denkens hat Serres den Begriff der Randonnée geprägt, der keine Entsprechung im Deutschen hat, und am ehesten mit schweifendem, ausprobierendem, umwegigen Denken, Streifzügen im Denken wiedergegeben werden könnte. „Man muss bereit sein, sich zu verirren, wenn man eine Karte erstellen will. Allein das umherirrende, das in Bewegung befindliche und nichtfixierte Subjekt hat eine gewisse Chance, das Netz als solches wahrzunehmen.“66 Randonnée ist auch die Form der Infinitesimalrechnung. Das läßt sich zeigen an den Paradoxien des Zenon:

64  65  66 

ibid., 247. ibid., 349. Serres 1992a, 175.

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Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens Zenon machte sich auf den Weg von Athen nach Elea. Das war vor langer, langer Zeit; das war eben erst. Der weise Grieche ging zuversichtlich los und schritt stetig aus. Als er (sagen wir einmal) ein Drittel des Weges hinter sich gebracht hatte, hemmte ein Berg, den die Götter dorthin geworfen hatten, seinen Schritt. Er mußte um ihn herumgehen, um zu den restlichen beiden Dritteln seines eigentlichen Weges zurückzufinden. Dieser Umweg führte wie ein Winkel um das Gebirge herum. Und er machte sich sogleich daran, den ersten Schenkel dieses Winkels hinter sich zu bringen. Als er nun ein Drittel dieses neuen Weges zurückgelegt hatte, hemmte ein Hügel, den ein Gott dorthin geworfen hatte, seinen Schritt. Er mußte um ihn herumgehen, um zu den beiden restlichen Dritteln seines eigentlichen Weges zurückzufinden. Der Umweg führte wie ein Winkel um den Hügel herum. Und er machte sich daran, den ersten Schenkel dieses Winkels hinter sich zu bringen. Nach einem Drittel stieß er auf ein Hügelchen, […]67 Eben noch war Zenons Weg nur in seiner Länge gebrochen. Hier bricht er sich in Länge und Richtung. Auf seinem Weg dichotomisiert sich Zenon gleichfalls. Er besucht das Land Punkt für Punkt, um in eine neue Welt zu gelangen. Und eine getreue Karte zu erstellen. Jeder Punkt ist ein Loch, jeder Punkt ist ein Brunnen, in dem Zenon sich auf seinem Abstieg in die Unterwelt verliert. Ich möchte die Karte der Reisen des neuen Zenon zeichnen, die Karte der neuen Entdeckungsfahrten. Sehen wir uns die Karte Griechenlands an, die Karte des Peloponnes, die Karte Süditaliens, nicht weit von Elea. Zenon beginnt seine Reise an den Küsten des ionischen Meeres. Oder des ägäischen. Wie lange wird seine Reise dauern, wie lang ist z.B. der Peloponnes? Er mißt genau die Zahl der Schritte, die Zenon macht, multipliziert mit der Durchschnittslänge seines Schritts. Aber dazu müßte die Küste gerade sein. Zenons Schritt verhält sich zur Küste wie die Schnur zu einem Bogen. Die Messung ist nicht genau. Schlimmer noch, sie ist falsch. Zenon müßte seine Schritte unterteilen, um sie der zerklüfteten Küstenlinien anzupassen. Aber jeder sieht sogleich, daß mit der Verkürzung der Schritte die Zerklüftung der Küstenlinie an Kompliziertheit zunimmt, daß der Schritt sich immer noch zu dieser Linie wie die Schnur zu einem kompliziert geformten Bogen verhält. Daß die Länge der Schritte kontinuierlich abnimmt, aber ihre Zahl sehr schnell wächst. Daß also die Länge der Küste des Peloponnes gegen Unendlich geht.68

Das gleiche Gedankenspiel führt Serres nun auch für die Oberfläche durch; denn sein Zenon ist nicht nur ein Wegbeschreiber, er ist auch ein Geometer der Flächen. Serres, das ist der neue Zenon, der sich in den Aporien der Ordnung freiwillig verstrickt, aber genau dieses, die Verstrickung auch zu goutieren weiß. Der große und wesentliche Impuls der Philosophie der Neuzeit war ja gewesen, eine Ordnung zu konstruieren oder gar aus der Natur zu rekonstruieren. Theorie hatte die Wirklichkeit zu kartographieren, in einer möglichst exakten 67  68 

Serres 1994a, 121. ibid., 122.

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Karte zu repräsentieren. Aber genau da beginnen die Aporien der Ordnung. Ihr Ideal einer Methode ist die kürzeste und aufwandärmste Durchquerung eines Raums, der nichts anderes ist als die Verzögerung der Zielerreichung. Der neue Zenon aber will wissen, wie es unterwegs aussieht, ihn interessiert die Reise selbst, Randonée. Wenn es sich, wie im ökonomischen Methodenideal, um eine gerade Linie zur kürzesten Absolvierung eines Übergangs handelte, wäre der Weg als solcher vollständig uninteressant, sein Informationswert gleich Null: die Methode wäre unterwegs steril. Nein, dieser neue Zenon besucht den Raum, er stattet dem Raum einen ausführlichen Besuch ab, bei dem er sämtliche Punkte des Raumes passiert. Nein, er reist nicht im gewöhnlichen Sinne, er erstellt eine Karte der Gegend. Dafür hat er einen Weg gefunden, der das Problem in so viele Teile wie möglich zerlegt […].69 Zenon reist nicht von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt, er durchquert nicht den Raum. Wenn er sich im üblichen Sinne in eine Richtung bewegte, könnten wir seine Spur auf der Karte verfolgen oder auf einem Radarschirm. In unserem Falle aber müßten wir ständig die Karte wechseln, wir müßten, um ihm zu folgen, ständig den Maßstab der Karte oder des Schirms wechseln, oder, wie man sagt, das Abbildungsverhältnis. Angenommen, wir besäßen mehrere Karten unterschiedlichen Maßstabs für einen bestimmten Bereich des Raumes und legten sie übereinander, so daß ein Volumen aus Blättern entsteht. Dann bewegt sich Zenon nicht mehr in einer bestimmten Richtung innerhalb einer dieser Karten, sondern senkrecht zu den übereinander gelegten Blättern, er steigt hinab, er gräbt einen Brunnen in die Schichten der Abwägungen. Seinen wiederholten Richtungswechseln entspricht nun faktisch die Abfolge der Blätter. […] Ein unendlicher Abstieg ins Lokale.70

Als Philosoph der Kommunikation, der Netze, der Umwege und Abwege, steht Serres immer wieder vor der theoretischen Herausforderung, die Übergänge als Übergänge beschreiben zu müssen. Ein weiterer Topos für Übergänge ist die Ablösung, z.B. das In-See-Stechen eines Schiffes. „Wenn Schiffe ablegen, strecken sie ihre ‚Fühler‘ einer Welt entgegen, die gegenüber dem Alltag zu Lande fremdartig anmutet: Auf hoher See ähnelt nichts mehr dem, was man hinter sich gelassen hat.“71 Man lässt alte Verwurzelungen und Bindungen hinter sich und liefert sich einem radikalen Übergang aus. Viele Gesetze der festen Körper zu Lande gelten so nicht auf dem Meer, also z.B. die einfachen Gesetze der Schwerkraft: obwohl Schiffe schwerer sind als Wasser und eigentlich sinken müssten, was ja auch zuweilen geschieht, sinken sie meist nicht,

69  70  71 

ibid., 124. ibid., 125sq. Serres 1994b, 166.

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weil sie negentropisch die Schwerkraft im Wasser durch einen Bauch voller Luft überlisten. Aber das ist (wie beim Bergsteigen) ein riskantes Vorgehen: „Nach dem Ablegen im Hafen: Schiffbruch beim geringfügigsten Irrtum.“72 Die Ablösung ist ein Übergang in eine Sphäre anderer Gesetze, bzw. aus der Perspektive des Geordneten des Festlandes, der Übergang ins Chaos der Winde und Wellen, des Gewimmels, der Turbulenzen und der Wolken, der Unschärfen und Nebel. Diesen radikalen Übergang der Ablösung von der festen Ordnung nennt Serres auch den Moment der Heiligkeit.73 „Von den Ufern sich lösen, das bedeutet eintreten in den kraftvollen Frieden der Winde.“74 Ablösung von den Inseln der Ordnung heißt auch, Sich-Einlassen auf Gemische und Gemenge, auf das Konkrete in seiner Komplexität und Reichhaltigkeit. Und auch: „Wenn man sich ablöst – so löst man sich nur vom Vergleich.“75 Daher lautet auch das letzte, sich ablösende Wort seines Buches über den Parasiten: „Etwas hatte begonnen. Ruhig, heiter, ohne Angst. Die hohe See.“76 Für Serres ist das Fließende und Strömende, sind die Turbulenzen, die Vermischungen, das Unscharfe und Verschwimmende das Normale; das Feste, Bestimmte und Begrenzte ist die Ausnahme: „[…] und alles, ohne Ausnahme, ist Wolke. Alles fließt. Es fließt. Und falls es Dinge gibt, materielle Dinge und Botschaften, wenn es Sinn, geordnete Strukturen oder gar Systeme gibt, falls es sie denn gibt und wenn es sie gibt – und es gibt sie, daran läßt sich kaum zweifeln –, dann nur in Gestalt von Archipelen. In Gestalt von Sporen, die über den weiten, formlosen Ozean verstreut sind.“77 Während Nietzsche die Erlösung vom Fließen lehrte, hält Serres fest: „Wir steigen stets in denselben Fluß,“ und er fügt hinzu, „aber wir setzen uns niemals an dasselbe Ufer.“78 Denn Organismen sind weder statisch, noch homöostatisch, sondern homöorhetisch. Das heißt, das Leben muss wie ein Fluss verstanden werden: „Ein fließender Strom, aber stabil in der beständigen Abtragung seiner Ufer und der irreversiblen Erosion der Gebirge.“79 Dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zufolge sind lebende Organismen und das Fließen des Wassers irreversibel. Wir leben stets von der Geburt zum Tod, nie umgekehrt, und das Wasser fließt immer von der Quelle zur Mündung. Aber zwischendurch erzeugt jedes Fließen Wirbel und Turbulenzen, d.h. gegenläufige Tendenzen. Die Entropie führt hier die 72  73  74  75  76  77  78  79 

ibid., 184. cf. Serres 1988, 47. ibid., 48. ibid., 89. Serres 1981, 390. Serres 1993, 8. ibid., 275. ibid.

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Negentropie mit sich, ist mit ihr verwoben. Zwar führt das Leben stets von der Geburt zum Tod, aber nicht auf dem kürzesten, ökonomisch gebotenen, weil ressourcensparenden Wege, sondern wie Wasser mäandert es, Umwege, d.h. Kultur, bildend, in Turbulenzen und Irritationen. Das Leben ist also in seiner Gesamtheit eine randonnée, ein Weg mit Irrtümern, falschen Abzweigungen, Umwegen und Abkürzungen. Wie gesagt, Serres hat seine Theorie der Turbulenzen nach der „Physik“ von Lukrez entwickelt. In seiner unvollendet gebliebenen Schrift „De rerum natura“ folgt Lukrez der Atomistik Demokrits. Danach existiert die Welt als eine Vielheit von Atomen, kleinsten, nicht mehr teilbaren Körperchen, die sich in ständiger Bewegung zwischen Trennung und Isolation befinden. Die Anzahl dieser Körperchen ist unendlich, die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen unglaublich groß. Diese Körperchen verbinden sich miteinander in zufälliger Weise, d.h. ohne kausale Determination, zu größeren Körpern. Doch diese Zufälligkeit hat eine erkennbare Struktur, nämlich die Abweichung (clinamen) von ihren regulären Bewegungsbahnen. Lukrez ist einer der ersten, der sich mit Turbulenzen befasst hat und sie als Effekte von „clinamen“, kleinsten Abweichungen in den Bahnen der Atome gedeutet hat. Das clinamen führt zunächst zu Wirbeln, zu Turbulenzen in der Ordnung der Welt. So hat eine kleine Abweichung u.U. gravierende Folgen. Diesen Vorgang kann man an der Wolkenbildung beobachten. Wolken wachsen aus kleinsten, vielleicht unsichtbaren Partikeln zusammen, aber ihre Zusammensetzung ändert sich unaufhörlich. Auch wenn viele solcher Körperchen zusammenkommen, sind sie in der Wolke doch nur schwach, instabil und flexibel miteinander verbunden; gleichwohl hält die Verbindung, ja kleine Wolken verbinden sich u.U. zu großen. Die allerersten solcher Verbindungen der Körperchen sind so schwach und flüchtig, dass sie dem menschlichen Auge unsichtbar bleiben. Wenn aber das Zusammenkommen (coitus) sich stärker ausprägt, treten sie in die Sichtbarkeit ein. Im Phänomen der Wolke wird der Pluralismus am Ursprung der Welt am ersichtlichsten. Ihr Ort ist allemal das Zwischen (wörtlich das Meteorische). Serres hat dieser Theorie eine eingehende und die Modernität von Lukrez beleuchtende Interpretation gegeben: „La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences“. Serres bekennt: „La physique atomiste est la nôtre.“ [Die atomistische Physik des Lukrez ist unsere.]80 Dabei sind die Wolken nur eines der Phänomene im Zwischen, sie gehören zu den „météores“, wie Regen, Hagel, Wind, aber natürlich auch die Meteoriten. Wellen sind geordnete Bewegungen der Dynamik von Flüssigkeiten, Turbulenzen verdanken sich nun kleinsten Winkel-Abweichungen in diesen Wellenbahnen. Nur der 80 

Serres 1977, 152.

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Unwahrscheinlichkeit dieser geringen Abweichungen (clinamen) vom Gleichgewicht der geordneten Bewegungsformen verdanken wir letzten Endes auch so etwas wie das Leben und alle seine Erscheinungsformen. Einerseits macht Serres verschiedentlich Anleihen und Bezüge zu antiken und klassischen Theorien, und Lukrez ist nur ein, wenngleich wichtiges Beispiel, aber andererseits vertritt er gerade in der Perspektive der Kommunikation eine Theorie der Entwicklungsstufen, die er an den mythischen Gestalten von Herakles, Prometheus und Hermes festmacht. Im Zeitalter des Herakles ging es um Sammeln, Einbringen und Verteidigen der Früchte des Feldes; im Zeitalter der Prometheus ging es um Nutzung von Energien (Feuer) zur Umwandlung von Materien und um Äquivalententausch der erzeugten Produkte (homo faber und homo oeconomicus: Werkstatt und Markt); im Zeitalter des Hermes geht es um Botschaften, um Information, um Erkenntnis und Wissen (universale Kommunikation in einer Weltöffentlichkeit der Netze).81 Die von der Politik oftmals anempfohlene oder abverlangte Praxisbehilflichkeit des Wissens entstammt, sozusagen als letztes Aufbäumen, der Wissensorganisation der Lehrwerkstätten und der polytechnischen Kombinate. Mit der Fokussierung auf Kommunikation ist die geschichtsphilosophische These verbunden, dass die Gesellschaften seit ca. 1960 im Übergang von der Gesellschaftsform der Produktion, deren Leitfigur Prometheus war, zur Gesellschaftsform des Wissens und der Information sind, deren Leitfigur der Götterbote Hermes ist,82 der Übersetzer und Überbringer von Botschaften, Schutzgott der Kaufleute und Diebe: „Hermès, dieu des intermédiaires et des traducteurs, les Anges porteurs de messages et leur nombre incalculable prennent la place de Prométhée, vieux héros solitaire du feu.“ [Hermes, der Gott der Vermittlungen und Übersetzungen, die Engel als Überbringer von Botschaften und ihre nicht bezifferbare Vielheit, nehmen den Platz von Prometheus ein, dem alten und einsamen Heros des Feuers]83 Damit wird auch das sogenannte Erkenntnissubjekt dezentriert: es ist nicht mehr Urheber, Urstifter oder Produzent von Ideen und Theorien, sondern lediglich ihr austauschbarer Durchgangspunkt. Das Denken der Kommunikation arbeitet nicht mehr mit dem Modell der Referenz, sondern mit dem der Interferenz; sein Subjekt ist nicht mehr der wissensmächtige Bezugspunkt für Einkreisungen und Abgrenzungen, sondern es wird mobiles Subjekt in einem Raum von Übertragungen. Die alten Philosophen spielen darum keine Rolle mehr, genau wie einige ihrer Themen: „Adieu, 81  82  83 

Serres 1995b, 39sqq. Genau hier verläuft natürlich eine der wesentlichen Konfliktlinien mit Althusser, der als Marxist dem Primat der Produktion verhaftet bleibt; cf. hierzu Serres et al. 2016, 120. Serres 2001, 32sq.

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Kant, Laplace et Nietzsche, adieu, Condorcet, Comte, Hegel et Marx, adieu, les lois de l’histoire, adieu, la prévision et l’universel!“ [Adieu, Kant, Laplace und Nietzsche, adieu, Condorcet, Comte, Hegel und Marx, adieu, die Gesetze der Geschichte, adieu, die Vorsehung und das Universelle!]84 Die Große Erzählung von der Geschichte der Welt folgt eben gerade nicht einer Teleologie, sondern einer sérendipité,85 einer randonnée. Der Sammlung seiner frühen Aufsätze in fünf Bänden hat Serres daher den Namen seines Schutzgottes „Hermes“ gegeben; sie behandeln die Kommunikation, die Interferenz, die Distribution, die Übersetzung und den Übergang.86 Das war Hermes: als Götterbote war er ständig unterwegs und nirgendwo so recht zuhause, und er überbrachte eifrig Botschaften oder Geld, jedenfalls verstand er sich auf die Kunst der Übersetzung der Werte einer Welt in die einer anderen. Im Geld-Transfer bewerkstelligte er das durch Abstraktion, die sogenannte Tauschabstraktion; wie der Transfer aber im Verstehen gelang, ist bis heute ein Rätsel. Noch mehr ein Rätsel ist die theologische Lehre vom Mittler. Dass die Engel Mittler sind, ist unzweifelhaft. Das Buch Hiob nennt sie Gottes-Söhne. Und einer unter ihnen („aus tausend“) tritt ausdrücklich als „Mittler“ auf (siehe dazu den Beitrag von Sybille Krämer). In dieser Mittler-Rolle hat er eine Doppelfunktion: Er verkündet dem Menschen, wie dieser recht tun solle, und er bittet vor Gott um Gnade für ihn (Hiob 33, 23). Engel sind Boten; sie überbringen Botschaften, die sie selbst nicht sind. Kein Engel dürfte, ja könnte sagen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Sie verkündigen den Sterblichen diese Dinge bloß. Dennoch müssen wir auch diese Boten noch von den Priestern unterscheiden, die auch Worte der Verkündigung im Munde führen. Priester sagen und verkünden, was sie wissen und glauben – wenn sie nicht lügen. In seinem Buch „Die Legende der Engel“ weitet Serres die Perspektive, die Hermes als die Figur des Zeitalters der Kommunikation gedeutet hatte, zur Figur der Engel aus. Die Annahme von Engeln dient danach dazu, Medialität zu deuten. Gerade eine angemessene Deutung von Medialität im Zeitalter des Hermes dient dazu, Engel neu und entschiedener in ihrer Mittlerfunktion zu verstehen. Zum ersten heißt das, den Engel nicht von der Botschaft zu trennen, sondern in Einheit zu denken – wie signifié und signifiant. Zweitens aber gibt es auch eine Iteration dieser Unterscheidung durch sozusagen parasitäre Kaskadenbildung. So kann der Bote einer originären Botschaft zur Botschaft werden. In gewissem Sinne kann man sogar Hermes und die anderen Engel als Experten für Übergänge bezeichnen, für Übergänge in dem Sinne, wie radikale Übergänge stets 84  85  86 

Serres 1995a, 189sq. cf. Serres 2015, 97. cf. Serres 1991; Serres 1992a; Serres 1992b; Serres 1993; Serres 1994a.

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Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

mehr und anderes sind als das bloße Überschreiten einer räumlichen Grenze. Als Erscheinungen der Transzendenz hat man die Engel ja schon immer verstanden. Wenn sie aber diese Übergänge gewährleisten sollen, müssen sie in sich selbst übergängig, janusköpfig sein. Engel sind Mestizen wie Malinche, die indianische Begleiterin des spanischen Eroberers Cortés. Vielleicht hat Serres mit der Gestalt des Engels die endgültige Figur seiner Kommunikationstheorie gefunden, die zugleich eine zutiefst humane Theorie im Zeitalter einer fälligen Neubestimmung des Menschlichen ist (siehe dazu den Beitrag von Kurt Röttgers). Serres hat in seinem Leben selbst viele Veränderungen in den Wissenschaften gesehen: die sich durchsetzende Quantenphysik, das Aufkommen der modernen Mathematik mit Bourbaki und der Chaostheorie, die Biochemie mit ihrer Entschlüsselung der DNA, die Theorie der Information und der neuartigen Verarbeitung von Information in der Informationstechnologie.87 Für Serres liegt der Code der Welt offen vor, aber die De-codierung des Codes stellt ein Problem dar. Nehmen wir z.B. die offen hörbaren Folgen der Morse-Zeichen der deutschen U-Boote im Nordatlantik während des Zweiten Weltkriegs, die auf den Tischen der Code-brecher im englischen Bletchley Park lagen. Allerdings waren sie mit der ENIGMA codiert, die in der Lage war, Millionen von Permutationen des Codes zu liefern. Nur mit Hilfe von aufwendigen Bemühungen aus Raten, Wissen, Wahrscheinlichkeiten und stundenlangem Ausprobieren konnten die Botschaften „geknackt“ werden, also mit dem, was wir heute brute-force attack nennen. Genauso liegt für Serres der Code der Welt in den Schwingungen der Materie vor – das ist natürlich nichts anderes als Thermodynamik. Die Materie „schwingt“, lärmt vor sich hin. Sie überträgt permanent ihren Code, wir „hören“ ihn, können ihn aber nicht übersetzen, de-codieren, verstehen. Die Welt ist für Serres ein riesiges Kryptogramm: „[L]e monde […] est un immense cryptogramme.“88 Und Musik ist dann für ihn ein subset der Codierung der Welt, und zwar ein besonderes subset: eines, das die Schwingungen der Materie auf die Seele der Menschen übertragen kann, und zwar direkt und unmittelbar (siehe hierzu auch die Beiträge von Petra Gehring und Reinhold Clausjürgens). Die Verarbeitung von Information wird nach Serres das neue Zeitalter bestimmen. 87 

88 

Serres et al. 2016, 50: „J’ai donc eu la chance de vivre, en temps réel, trois ou quatre grandes révolutions scientifiques: les maths modernes, la biochemie, la théorie de l’information et, plus tard, dans la Silicon Valley, l’arrivée du numérique.“ [Ich hatte also die Gelegenheit, in meinem Leben drei oder vier große wissenschaftliche Revolutionen mitzuerleben: die moderne Mathematik, die Biochemie, die Informationstheorie und später dann, im Silicon Valley, den Beginn der Digitalisierung.] Serres 1992a, 103sq.

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Das allgegenwärtige Internet und das Netz der Dinge (Internet of Things, IoT) werden die Daten permanent zur Verfügung stellen und wir werden sie de-codieren müssen. Wir werden wie „Däumelinchen“89 die gegenwärtigen Informationen hinwegwischen und im selben Moment neue erhalten. Wir werden die Informationen immer wieder neu verarbeiten müssen, das Denken wird daher wenigstens vier Operationen enthalten müssen: „recevoir, émettre, stocker, traiter de l’information“ [empfangen, aussenden, speichern und austauschen von Information].90 Wir sind in das Zeitalter der Information eingetreten: „L’information circule dans et entre la totalité des existants, universellement.“ [Die Information zirkuliert in und zwischen der Totalität der Existierenden, universal.]91 Darum ist es nicht verwunderlich, dass einer der derzeit wertvollsten Konzerne der Welt, Alphabet Inc., mit seiner Suchmaschine Google über die wohl größte Sammlung von Informationen verfügt und den größten Teil seines Gewinns aus der Vermarktung dieser Sammlung zieht.92 Wir haben die Daten als fünfte Gewalt entdeckt.93 Was bleibt also am Ende? Folgen wir dem Rat von Michel Serres aus seinem letzten Buch und lesen wir nochmals das, was uns verbindet: „Relire le relié“.94 Folgen wir nochmals der Achse Jerusalem-Athen-Rom, versuchen wir zu verstehen, was im foedus, im Vertrag steht, im Vertrag Gottes mit den Menschen, dem ursprünglichen „Bund“, und im Vertrag der Menschen untereinander, im „Gesellschaftsvertrag“. (Siehe dazu den Beitrag von Vera Bühlmann.) Beginnen wir von vorn. Starten wir eine neue Iteration. Seien wir bereit, die Vielfältigkeit bestehen zu lassen. Sehen wir das Verbindende und nicht das Trennende. Vermeiden wir die Einschränkungen und Beschränkungen, gehen wir auf eine neue randonnée, den Berg hinauf und hinunter, über Bäche, Steine und Holzwege, überqueren wir die Ozeane auf den Brücken der Schiffe – auf der Suche nach neuen Inseln des Wissens, nach neuen Paradiesen der Philosophie.

89  90  91  92  93  94 

cf. Serres 2013. Serres 2015, 11. ibid. Spiegel 2020. cf. Serres 2013, 67. Serres 2019, Klappentext: „Comment ne point finir par le religieux, dont on dit qu’il relie, selon un axe vertical, le ciel à la terre, et, horizontalement, les hommes entre eux?“ [Warum nicht durch das Religiöse abschließen, von dem man sagt, dass es entlang einer vertikalen Achse den Himmel mit der Erde und horizontal die Menschen untereinander verbindet.]

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Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens

Bibliographie Debray, Régis, 1981: Critique de la raison politique ou l’Inconscient religieux. Paris. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, 1997: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin. Foucault, Michel, 1966: Les mots et les choses. Une archéologie des Sciences Humaines. Paris. Foucault, Michel, 1971: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/M. Gödel, Kurt, 1931: Über Formal Unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und Verwandter Systeme. In: Monatshefte für Mathematik, vol. 38, pp. 173–198. Monod, Jacques, 1970: Le hasard et la nécessité. Essai sur la philosophie naturelle de la biologie moderne. Paris. Monod, Jacques, 1971: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie. München. Serres, Michel, 1968: Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques. 4th edition, Paris 2001. Serres, Michel, 1977: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Fleuves et turbulences. Paris. Serres, Michel, 1981: Der Parasit. Frankfurt/M. Serres, Michel, 1982: Genèse. Paris. Serres, Michel, 1983: Rome. Le livre des fondations. Paris. Serres, Michel, 1988: Ablösung. Eine Lehrfabel mit einer Bibliographie von Reinhold Clausjürgens. München. Serres, Michel, 1991: Hermes, Bd. 1, Kommunikation. Berlin. Serres, Michel, 1992a: Hermes, Bd. 2, Interferenz. Berlin. Serres, Michel, 1992b: Hermes, Bd. 3, Übersetzung. Berlin. Serres, Michel, 1993: Hermes, Bd. 4, Verteilung. Berlin. Serres, Michel, 1994a: Hermes, Bd. 5, Die Nordwest-Passage. Berlin. Serres, Michel, 1994b: Der Naturvertrag. Frankfurt/M. Serres, Michel, 1995a: Éloge de la philosophie en langue française. Paris. Serres, Michel, 1995b: Die Legende der Engel. Frankfurt/M., Leipzig. Serres, Michel, 1998: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/M. Serres, Michel, 1999: Variations sur le corps. Paris. Serres, Michel, 2001: Hominescence. Paris. Serres, Michel, 2002: Paris 1800. In: Serres, Michel/Authier, Michel (ed.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften. 2nd edition, Frankfurt/M. 2002, pp. 597–643. Serres, Michel, 2013: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin.

Zur Einleitung

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Serres, Michel, 2015: Le gaucher boiteux. Puissance de la pensée. Paris. Serres, Michel, 2019: Relire le relié. Paris. Serres, Michel/Legros, Martin/Ortoli, Sven, 2016: Pantopie ou le monde de Michel Serres: De Hermès à Petite Poucette. Entretiens avec Martin Legros et Sven Ortoli. Paris. Spiegel, Der, 2020: 17.01.2020: Google-Mutter Alphabet erstmals mehr als eine Billion Dollar wert. URL: http://bit.ly/Spiegel_Alphabet, zugegriffen am 17.01.2020.

Der Brückenbauer. Michel Serres als öffentlicher Intellektueller Kathrin Hondl Ich mache, ich bin, ich lebe, ich sehe nur Brücken. (Je ne fais, je ne suis, je ne vis, je ne vois que des ponts.)1

Seine Vergangenheit als Seefahrer und Marineoffizier in den 1950ern war Michel Serres auch Jahrzehnte später noch anzusehen: Wildes weißes Haar und ebensolche Augenbrauen umrahmten ein von Wetter-, Denk- und Lachfalten durchfurchtes Gesicht. „Ich bin wie die Brücke meines Schiffs, ich liebe es, übers Meer zu fahren, über den enzyklopädischen Ozean“,2 sagte er 2007 im Radiointerview über sein vielleicht schönstes Buch, den Bildband L’art des ponts. Das „Buch aller meiner Bücher“ nannte Michel Serres dieses Brücken-Buch, in dem er Brückenbilder aller Art versammelt: Zeichnungen, Fotografien und Gemälde, Röntgenbilder, Werbeplakate oder historische Kupferstiche. L’art des ponts vereint unter anderem die Brücken in Immanuel Kants Geburtsstadt Königsberg und das Wirrwarr der Kabel eines Computers, den Pont de Normandie über die Seinemündung zwischen Le Havre und Honfleur – für Serres „das Meisterwerk des 20. Jahrhunderts“ – , und, ein paar Seiten weiter, ein Meisterwerk der Kunst des 19. Jahrhunderts, Gustave Courbets L’origine du monde – „Der Ursprung der Welt“, das berühmte naturalistische Gemälde einer Vulva, der direkte Blick zwischen die Schenkel einer nackten Frau. „Der Ursprung der Welt“ gehöre zur „Kunst der Brücken“, erläuterte Michel Serres damals im Interview, „denn ich beschreibe den Koitus als eine Brücke zwischen Mann und Frau. Die Brücke ist zunächst eine Beziehung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, aber die Brücke ist auch ein Transformator, eine Transformation, die die Beziehung verändert und ein anderes Wesen fabrizieren kann, ein neues Kind.“ Brücken ‚fabrizieren‘ auch ein anderes Denken. „Ich habe immer nur von Brücken geträumt, immer nur auf oder unter ihnen gedacht. Seit jeher habe ich immer nur Brücken geliebt“, schreibt Serres.3 Die Bildervielfalt in L’art des 1  Serres 2006a, 78. 2  Hondl 2007. 3  Serres 2006a., 207.

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ponts illustriert den „enzyklopädischen Ozean“ des philosophischen Brückendenkers – den Ozean eines in Zeit und Raum, geographisch und mental, Weitgereisten, der scheinbar mühelos von einer anatomischen Zeichnung Leonardo da Vincis über Mikroskop-Fotografien menschlicher Krebszellen bis zum Pont de Clichy auf einem Gemälde von Vincent van Gogh schippert. Immer geht es Michel Serres ums große Ganze in seiner komplexen Vielstimmigkeit, um Austausch und Verbindungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen Technik, Alltag und Kunst, und um die Verbindung von philosophischer Theorie mit Literatur und Poesie. Die Übergänge sind fließend, lösen sich immer wieder sogar auf, ähnlich wie die Formen des Körpers, der in L’art des ponts unter der Überschrift „Passerelle“ auf David Hockneys Swimmingpool-Bild A large diver ins Wasser taucht: „Jeder in Flüssigkeit getauchte menschliche Körper nimmt sich selbst weniger solide als fließend wahr“, so die Bildunterschrift von Michel Serres. („Tout corps humain plongé dans un liquide se perçoit lui-même moins solide que fluide.“)4 Michel Serres’ Brückenbau- und Vermittlungsphilosophie manifestiert sich in einer im Wortsinn fließenden poetischen Sprachkunst.5 In L’art des ponts unterzieht er – unter der Überschrift „Vu du pont“, „von der Brücke aus betrachtet“ – Guillaume Apollinaires Gedicht Le Pont Mirabeau („Unterm Pont Mirabeau“) einem radikalen Perspektivwechsel. „Ich bleibe, fort geht Tag um Tag“, klagt bei Apollinaire das lyrische Ich oben auf der Brücke, unter der die Seine fließt und mit ihr die Liebe: „Wie der Strom fließt die Liebe, so geht die Liebe fort.“ „Seit hundert Jahren“, schreibt nun Michel Serres, „warte ich darauf, dass der Poet Apollinaire sich großmütig hinunterstürzt von seinem Hochsitz, um seine stürmischen Lieben intensiv zu leben. Währenddessen deklamiert er auf der Lyra, den Blick nach oben gerichtet, erhaben, sie fließen dahin: Hilfe!“ („Depuis cent ans j’attends qu’Apollinaire, poète, se jette, généreusement, du haut de son perchoir, pour vivre intensément ses amours tumultueuses. Pendant que, les yeux levés, il déclame sur la lyre, sublime, elles coulent: au secours!“)6 Ein Schiffer dagegen, so führt der philosophische Seefahrer Serres seine Gedanken fort, müsse auch die „Turbulenzen beim Unterqueren der Brücken meistern“. Wie aber sollte das einem Dichter hoch oben auf der Brücke gelingen, einem, der nie zur See gefahren ist? 4  ibid., 18. 5  cf. Pines 2017, 32: „Was genau erklärt Serres’ Ruf, genialischer Vermittler zwischen den Wissenschaften und Künsten zu sein? Vielleicht seine Gabe, alles durch Literatur und poetische Formen aufscheinen lassen zu können.“ 6  Serres 2006a, 14.

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„A-t-il ja-ja-jamais navigué?“ fragt Serres in Anspielung auf das französische Kinderlied Il était un petit navire. Die charmante Kinderlied-Sprachspielerei ist charakteristisch für den Stil des philosophischen Brückenbauers, dessen Texte nicht leicht zu übersetzen sind, was möglicherweise auch dazu beigetragen hat, dass Michel Serres in Deutschland bis heute weniger bekannt ist als Zeitgenossen wie Michel Foucault oder Roland Barthes. Das Bild des abgehobenen Dichters auf der Brücke taucht bereits in den 1992 unter dem Titel Éclaircissements veröffentlichten Gesprächen mit Bruno Latour auf, als Serres seine „andere Theorie der Zeit“ erläutert: „Apollinaire, der nie, nie, nie zur See gefahren ist, zumindest nicht auf Flüssen, hatte sich die Seine nicht genau genug angeschaut; er hat weder die Gegenströmungen noch die Turbulenzen wahrgenommen. Ja, die Zeit fließt wie die Seine, doch nur sofern man sie genau beobachtet. Das gesamte Wasser, das am Pont Mirabeau vorbeifließt, wird nicht zwangsläufig in den Ärmelkanal münden; viele winzige Rinnsale werden nach Charenton oder noch weiter flussaufwärts zurückkehren […] die Zeit fließt auf turbulente und chaotische Weise, sie versickert, sie perkoliert. Alle unsere Schwierigkeiten mit der Theorie der Geschichte hängen damit zusammen, dass wir die Zeit auf diese unzureichende und naive Weise denken.“7 Die Passagen zu Apollinaire sind typisch für Serres’ Texte, über die Bruno Latour sagte: „Es ist genau diese biographische und philosophische Seltsamkeit, die Sie von den Modernen unterscheidet und erklärt, warum es so schwierig ist, Sie zu lesen.“8 Als philosophischer Seefahrer ist Michel Serres akademisch kaum zu kategorisieren, zumal er selbst nicht viel von Kategorien gehalten hat. „Nichts eignet sich besser zum Einschläfern des Entdeckerdrangs und auch des Verstandes als eine Kategorie“, heißt es in seinem Atlas von 1994.9 Vielleicht aber ist das Bild des Poeten, der sich vom Pont Mirabeau in die turbulenten Fluten stürzt, auch ein Bild, das den Philosophen Michel Serres sehr gut beschreibt – als einen Entdecker und Denker, der nicht nur in und zwischen den Wissenschaften und Künsten hin und her navigiert, sondern der immer auch die Kommunikation mit einem größeren, nicht-akademischen Publikum suchte und, vor allem in Frankreich, auch erfolgreich praktizierte. Michel Serres war ein Philosoph, der sich oft von der abgehobenen Position des wissenschaftlichen Elfenbein-Brückenturms hinunterstürzte in, um im Bild zu bleiben, die Fluten der journalistischen Medienwelt. Er war ein gefragter Interviewpartner und außergewöhnlich talentiert darin, die Kernaussagen 7  Serres 1992; dt. Übersetzung als Serres 2008, 90sq. 8  ibid. S. 95. 9  Serres 1994; dt. Übersetzung als Serres 2005, 54.

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seiner manchmal hermetischen Texte in nur wenigen glasklaren Sätzen zusammenzufassen. Nach seinem „Buch der Bücher“, L’art des ponts, gefragt, antwortete Serres im Radiointerview: „Meine ersten Bücher handelten vom Götterboten Hermes, dem griechischen Gott der Kommunikation. Fragen der Kommunikation haben mich immer schon beschäftigt. Folglich habe ich auch über Engel geschrieben. Auch Engel sind Boten der Kommunikation. Hermes war der Bote der Antike, die Engel sind die Boten modernerer Religionen. Ich habe auch über den Parasiten geschrieben. Er behindert die Kommunikation. Und die Brücke ist nun eben wieder ein Kommunikationsmittel. Von einem Ufer zum anderen. Auf Französisch heißt Ufer rive, daher kommt auch das Wort Rivale.“10 Dem Brückenbauer Michel Serres geht es, natürlich, um die Überwindung von Rivalitäten, von Krieg. „Der Krieg, immer der Krieg …“, sagte er im Gespräch mit Bruno Latour, „meine ersten Leichen habe ich mit sechs Jahren gesehen, die letzten mit sechsundzwanzig.“11 Wie sehr die Kriegserfahrung ihn und seine Philosophie geprägt hatten, erzählte Michel Serres oft, auch im Radiointerview über die „Kunst der Brücken“: „Eine Brücke ist ein Zwischendrin und ein Transformator. Denn sobald du eine Brücke zwischen zwei Ländern baust, sind das nicht mehr dieselben Länder. Ich werde dir etwas sagen, und ich bin nicht sicher, ob ich nicht weinen werde, wenn ich das sage. Wenn ich heute nach Deutschland komme und sehe, dass es da keine Grenze mehr gibt … Siehst du, ich muss jedes Mal weinen. Ich finde das unglaublich, wunderbar. Jedes Mal muss ich weinen. Es ist sehr bewegend, die Grenze zu passieren und nichts zu sehen, nur die Brücke! Mein Vater ist an Verletzungen aus dem Ersten Weltkrieg gestorben. Deshalb ist die Rheinbrücke für mich das Paradies.“ Michel Serres weinte tatsächlich, als er das ins Radiomikrofon sagte. Von diesen Tränen eines Mannes, der den Krieg noch gekannt hat, sprach er auch, als er fünf Jahre später, 2012 in Köln, mit dem Meister-Eckhart-Preis ausgezeichnet wurde. Seine Dankesrede war ein Plädoyer für die Verschmelzung von Frankreich und Deutschland. Unter dem Titel „Vive la Frallemagne!“ war seine „philosophische Vision“ zuvor im Philosophie Magazin veröffentlicht worden, die Vision eines „neuen Typus von Gemeinschaft“, denn, so Serres, er sei „fest überzeugt, dass die neue Gemeinschaft nicht die Form einer Nation annehmen kann und darf“. Seine Idee eines Zusammenschlusses, gab er zu, sei „bisher ein unbeschriebenes Blatt, dem noch der institutionelle Überbau fehlt“,

10  11 

Hondl 2007. Serres 2008, 8sq.

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aber vielleicht werde die nächste Generation diese Revolution vollbringen.12 Die Möglichkeit dazu sah der damals 81-jährige Internet-Enthusiast Serres voller Optimismus in den neuen digitalen Kommunikationstechnologien und bei den „kleinen Däumlingen“, den via Smartphones totalvernetzten jungen Menschen, denen er gerade in dem Essay Petite Poucette seine Liebe erklärt hatte.13 Über die träumerische und mutmaßlich digitale Zukunftsvision von ‚Frallemagne‘ hinaus ließ sich der friedliebende Brückenbauer-Philosoph allerdings kaum auf politische Debatten ein. In Interviews erklärte er immer wieder, dass er die Verschmelzung von Individuen, die der Menschen beider Länder meine. Die Nationen, die Regierungen, die Institutionen seien ihm egal. Und auf Fragen nach den französischen Präsidentschaftswahlen antwortete Serres freundlich, aber bestimmt: „Sehen Sie, ich kommentiere das politische Geschehen grundsätzlich nicht. Ich sehe meine Arbeit darin, den aktuellen Zustand der Gesellschaft zu analysieren und zu zeigen, dass in unserer Gesellschaft Neuerungen stattgefunden haben und stattfinden, die im politischen und medialen Spektakel gar nicht richtig vorkommen.“14 Michel Serres war kein Philosoph, der dem gewohnten Profil des engagierten Intellektuellen entsprach, kein philosophe engagé in der Tradition von Émile Zola oder Jean-Paul Sartre. Im Gegenteil: Sein außergewöhnlicher intellektueller und wissenschaftlicher Werdegang – Sohn eines Binnenschiffers in der Gascogne, Mathematikstudium, Marineschule, Literaturstudium, École normale supérieure, Agrégation de philosophie, Professur für Wissenschaftsgeschichte in Paris, Professur an der Stanford University in Kalifornien, Mitglied der Académie française – war auch geprägt von einer radikalen Ablehnung des intellektuellen Milieus der Nachkriegszeit. Serres sah sich, so sagte er es im Gespräch mit Bruno Latour, als „ein gebranntes Kind der historischen Ereignisse, und später dann der intellektuellen Atmosphäre“. Die Zeit zwischen 1947 und 1960 und insbesondere das Klima an der Pariser École normale supérieure beschreibt er als eine Art marxistische Terrorherrschaft. Er habe dort zwischen den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften gelebt: „Ich litt […] unter Einsamkeit, erfreute mich aber gleichzeitig einer gewissen Ungestörtheit: ich habe Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie zunächst betrieben, um meine Ruhe zu haben; diese Disziplinen dienten mir als Schutz gegen den politischen Terror.“15 Dass die Rolle des traditionellen philosophe 12  13  14  15 

Serres 2012c. Serres 2012b; dt. Übersetzung als Serres 2013. Serres 2012a, 27. Serres 2008, 13.

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engagé für Michel Serres nie in Frage kam, ist also sowohl biographisch als auch philosophisch begründet. Besonders klar benannte er diese Gründe in Interviews mit deutschen Journalistinnen und Journalisten, bei denen eine gewisse Sehnsucht nach großen französischen Intellektuellenfiguren, die sich in aktuellen politischen Debatten positionieren, besonders ausgeprägt ist – eine nostalgische Sehnsucht, die in Deutschland auch Philosophen formulierten wie Jürgen Habermas, der 2006 die Figur des kritischen Intellektuellen bedroht sah und ihr Verschwinden bedauerte: „Vermissen wir nicht die großen Auftritte und Manifeste der Gruppe 47, die Interventionen von Alexander Mitscherlich oder Helmut Gollwitzer, die politischen Stellungnahmen von Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu, die eingreifenden Texte von Erich Fried oder Günter Grass?“16 Nein, die vermisse ich nicht, hätte vermutlich Michel Serres geantwortet, der zumindest für sich selbst derartige Auftritte und Manifeste ablehnte. 2010 sagte er in einem Zeitungsinterview: „Das Engagement im Sinne von Sartre war ein großer Fehler, ein Unheil für die Philosophie sogar. Können Sie eine einzige Seite aus Sartres Werk zitieren, auf der er tatsächlich etwas Neues schildert? Er und seine Epigonen haben den politischen Streit stets kommentiert, ganz gemäß Hegels Satz, wonach die Zeitungslektüre das Morgengebet des Philosophen sei. Aber die Politik, die Institutionen, sind Dinosaurier geworden. Und die Philosophen sind selbst zu Dinosauriern mutiert. Das war sehr bedauerlich, es hat uns lediglich geholfen, nicht allzu faschistisch zu werden. Wobei Sartres Stalinismus nicht gerade rühmlich war. Und von Naturwissenschaften hatte er keine Ahnung.“17 Ein engagierter Philosoph war der Brückenbauer und FrankreichDeutschland-Verschmelzer Michel Serres natürlich nichtsdestotrotz. „Wir sollten unsere Kinder lehren, eher über Realisten als über Utopien zu lachen“, schreibt er im Atlas.18 Die Philosophie, so sein Credo, müsse nicht nur das Neue identifizieren und antizipieren, sondern auch das Neue (nouveau) von den News (nouvelles) unterscheiden. „Was ist Neuheit?“ war das Thema der ersten Philosophievorlesung, die Michel Serres mit 24 Jahren gehalten hatte, eine Frage, die ihn sein Leben lang, „berauscht und trunken vom großen Ganzen“, beschäftigte: „Nicht leicht zu umreißen, die Neuheit“, sagte er 2016 in einem Interview. „Wenn man sie definieren kann, dann deshalb, weil sie nicht mehr neu ist, doch wenn man nicht die Werkzeuge hat, um sie zu begreifen, sieht man sie nicht.“19 16  17  18  19 

Habermas 2006, 553. Serres 2010, 22. Serres 2005, 121. Serres 2016.

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An diese Grundüberzeugung erinnerte Serres auch, als er im September 2004 damit begann, jeden Sonntagabend im französischen Radiosender France Info über die Welt aus seiner weiten und weitreichenden Seefahrer-Perspektive zu sprechen.20 Le sens de l’info – frei übersetzt „Der Sinn der Nachrichten“ – hieß das Format. 14 Jahre lang teilte Michel Serres in kurzen Interviews mit dem Journalisten Michel Polacco seinen „enzyklopädischen Ozean“, seine Ideen und Vorschläge. Einmal mehr baute er Brücken, ein großer Geschichtenerzähler war da im Radio zu hören, ein Philosoph, der neue oder zumindest andere Sichtweisen auf die Themen und Dinge des Lebens und der Gesellschaft präsentierte. Im singend klingenden Akzent der Gascogne, seiner südwestfranzösischen Heimat, und, wie in den Büchern, frei von Fachjargon: „Der geduldige und durchdachte Gebrauch der Umgangssprache in der Philosophie scheint mir Offenheit und Frieden zu garantieren“, so die Überzeugung von Michel Serres.21 Ausgangspunkt seiner Erzählungen in diesen Sonntagsgesprächen war oft die Etymologie des jeweils zur Frage stehenden Begriffs. Als es zum Beispiel am 10. Juni 2018, um den Mut, courage, geht, erinnert Serres zunächst einmal daran, dass im Französischen courage vom Herzen kommt, dem coeur, einem Körperorgan; also, so Serres, sei Mut eine körperliche, eine vitale, die wichtigste und „vielleicht einzige“ Tugend, um „zu geben, zu arbeiten, zu kämpfen – nicht um Gegner zu bekämpfen, sondern Not und Elend, schicksalhaftes Unglück oder Mangel an Liebe“. Nur mit Mut sei es möglich, „zu lieben, zu hoffen, erfinderisch zu sein und ‚das Neue‘ zu sagen.“22 Diese Eloge auf die Courage mag manchen wie ein harmloser Kalenderspruch anmuten und es möglicherweise nachvollziehbar machen, warum der Brückenbauer Michel Serres in der deutschen Tageszeitung Die Welt einmal als „so etwas wie der Charles Aznavour der Philosophie“ bezeichnet wurde.23 Aber wer Michel Serres als einen naiven Optimisten belächelt, verkennt, unter anderem, den radikalen Mut seines gigantischen philosophischen Projekts, mit enzyklopädischem Wissen der Komplexität der Welt gerecht zu werden. „Michel Serres verlangt von der Philosophie, dass sie sich bewegen lässt vom Problem der Verantwortung für die Zukunft. Mit seinem Werk tritt er für eine Art zweite Menschwerdung (hominiscence)24 ein, für die Gewinnung einer neuen Reflexionshaltung, die die Verstrickung in selbstgeschaffene

20  21  22  23  24 

Serres 2006b, 7. Serres 2008, 41. Serres 2018b. Pines 2017, 32. Siehe den Beitrag von Kurt Röttgers in diesem Band.

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Notwendigkeiten durchbricht“, sagte die Philosophin Petra Gehring 2012 in ihrer Laudatio bei der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises.25 Am weitesten ging Serres dabei, als er bereits 1990 in Le contrat naturel angesichts der ökologischen Katastrophe eine neue interkontinentale, eine globale Verfassung vorschlug, in der auch die Elemente der Natur vertreten sein sollten. WAFEL – „Water – Air – Fire – Earth – Living“ nannte er dieses rechtsphilosophische Projekt, für das er als ‚engagierter Philosoph‘ und öffentlicher Intellektueller bis an sein Lebensende warb und erst in den letzten Jahren ernst genommen wurde. In Interviews sprach er von einem „Weltkrieg zwischen der Menschheit und der Natur“ und erklärte – wie immer in „geduldigem und durchdachtem Gebrauch der Umgangssprache“ (s.o.) – seine Idee, dass die Elemente Rechtssubjekte werden sollten wie die Menschen – die Erweiterung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte um die Rechte der Elemente. Zweifeln an der Machbarkeit eines solchen Naturvertrags – wie sollten Wasser, Erde, Feuer, Luft als juristische Personen diesen Vertrag überhaupt unterschreiben können? – begegnete Serres, indem er daran erinnerte, dass auch Frauen und Sklaven lange Zeit nur als stumme rechtlose Objekte behandelt wurden. Befreiung bedeute, dass ein Objekt zum Subjekt wird.26 Dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse in der Politik nicht genügend beachtet werden, ist heute mit Blick auf die Klimakrise offensichtlich, die Notwendigkeit, es zu tun, eine Evidenz. Michel Serres hatte diesen gravierenden Mangel vor langer Zeit diagnostiziert und als Antwort auf die von ihm als kriegerisch empfundene Kleinteiligkeit und Beschränktheit der akademischen Disziplinen seine vermittelnde Brückenbau-Philosophie entwickelt. In Relire le relié, seinem letzten, posthum erschienenen Werk verkündet er das „Ende des analytischen Zeitalters der Aufspaltungen, Aufgliederungen, Zerstörungen“ und den „Beginn einer Zeit, in der Synthesen, Verbindungen, Netze aller Art unser Handeln und unsere Gedanken leiten werden“. Serres’ letztes Buch handelt vom Religiösen. Denn, so schreibt er, in seiner „blind konstruierten philosophischen Gesamtheit“ fehlten bisher Religion und Politik.27 Die Leerstelle des Politischen konnte er vor seinem Tod nicht mehr füllen. Aber er hat Brücken gebaut – Brücken, auf und unter denen weitergedacht werden kann und weitergedacht werden muss. Nur wenige Tage bevor er starb, war Michel Serres Gast in der RadioTalkshow „Questions politiques“28 beim Sender France Inter. Es war der 26. 25  26  27  28 

Gehring 2012. Siehe auch den Beitrag von Petra Gehring in diesem Band. Serres 2018a. Siehe auch den Beitrag von Doris Schweitzer in diesem Band. Serres 2019, 212. Baddou 2019.

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Mai 2019, Tag der Europawahl. „Wir haben im Moment nicht die Mittel, auf das einzuwirken, was für den aktuellen Zustand der Welt verantwortlich ist“, sagte er, und im Rückblick klingt es fast wie der letzte Appell eines philosophe engagé im ganz traditionellen Sinn, wie das „J’accuse“ von Michel Serres: „Die Situation ist dramatisch. Es ist Zeit, sich an die Arbeit zu machen.“ Bibliographie Baddou, Ali, 2019: Michel Serres: „Les institutions sont désadaptées par rapport à l’état actuel du monde“. Gesendet am 26. Mai 2019, URL: https://www.franceinter.fr/ emissions/questions-politiques/questions-politiques-26-mai-2019, zugegriffen am 29.01.2020. Gehring, Petra, 2012: Laudatio anlässlich der Verleihung des Meißter-Eckhart-Preises an Michel Serres. URL: https://www.identity-foundation.de/meister-eckhart-preis# gehring, zugegriffen am 02.12.2019. Habermas, Jürgen, 2006: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 51, 5, pp. 551–557. Hondl, Kathrin, 2007: Der Philosoph als Brückenbauer. Das Glaubensbekenntnis des Michel Serres. Radiobeitrag SWR2, gesendet am 19. August 2007. Pines, Sarah: Frühling in Vincennes. In: Die Welt, 6. Mai 2017, p. 32. Serres, Michel, 1992: Éclaircissements (entretiens avec Bruno Latour). Paris. Serres, Michel, 1994: Atlas. Paris. Serres, Michel, 2005: Atlas. Berlin. Serres, Michel, 2006a: L’art des ponts. Homo Pontifex. Paris. Serres, Michel, 2006b: Petites chroniques du dimanche soir. Entretiens avec Michel Polacco. Paris. Serres, Michel, 2008: Aufklärungen. Fünf Gespräche mit Bruno Latour. Berlin. Serres, Michel, 2010: Unser Krieg gegen die Welt. Gespräch mit Claire-Lise Buis. In: Rheinischer Merkur, Nr. 22, 19. August 2010, p. 22. Serres, Michel 2012a: Ich werde niemals Präsident. Interview Julia Encke. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 06. Mai 2012, p. 27. Serres, Michel, 2012b: Petite Poucette. Paris. Serres, Michel, 2012c: Vive la Frallemagne! In: Philosophie Magazin, Nr. 3, URL: https:// philomag.de/vive-la-frallemagne/, zugegriffen am 29.01.2020. Serres, Michel, 2013: Erfindet Euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin. Serres, Michel, 2016: Ich denke mit den Füßen. In: Philosophie Magazin, Nr. 5, URL: https://philomag.de/ich-denke-mit-den-fuessen/, zugegriffen am 02.12.2019.

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Kathrin Hondl

Serres, Michel, 2018a: Le sens de l’info. L’eau. Le philosophe Michel Serres et Michel Polacco parlent de l’eau. Gesendet am 13. Mai 2018, URL: https://www.francetvinfo. fr/replay-radio/le-sens-de-l-info/le-sens-de-l-info-l-eau_2724737.html, zugegriffen am 02.12.2019. Serres, Michel, 2018b: Le sens de l’info. Le courage. Le philosophe et académicien Michel Serres nous parle aujourd’hui du courage. Il nous explique que le courage est la première des vertus. Gesendet am 10. Juni 2018, URL: https://www.francetvinfo. fr/replay-radio/le-sens-de-l-info/le-sens-de-l-info-le-courage_2771649.html, zugegriffen am 02.12.2019. Serres, Michel, 2019: Relire le relié. Paris.

Knoten: lösen, knüpfen, mit der Haut denken. Michel Serres’ tangible Philosophie der Gemenge und Gemische Jessica Güsken In Die fünf Sinne hat Michel Serres eine Ästhetik entworfen, weniger eine Theorie der Kunst oder der Schönheit als vielmehr eine Aisthetik im Wortsinn: eine „sinnliche Ästhetik“, die nichts weniger als eine neue Erkenntnistheorie profiliert.1 Dabei spricht er in diesem Buch allerdings nicht einfach über die Sinne, die sinnliche Wahrnehmung, Erfahrung und Empfindung. Seine Argumentation hält sich nicht auf theoretischer Distanz und im Allgemeinen oder rein Begrifflichen und Distinkten, sondern ist darauf angelegt, ein anderes Denken des Sinnlichen zu vermitteln: nämlich eine philosophie des corps mêlés, also eine der miteinander vermengten Körper oder eine Philosophie der Gemenge und Gemische, wie es im deutschsprachigen Untertitel heißt. Ein zentrales Anliegen dieses Buchs ist, seine Leser*innen ein gewisses Feingefühl, ein „respektvolles Fingerspitzengefühl“ (105) im Erkennen zu lehren. Dabei ist die Rede vom „Fingerspitzengefühl“ nicht einfach metonymisch oder im übertragenen Sinne zu verstehen. Tatsächlich sucht Serres in seinem Text stets Kontaktstellen oder Übergänge von reiner Theorie zur Praxis und umgekehrt, geht von konkreten, sinnlich und dinghaft gebundenen Erfahrungen sowie praktischen, zumal spezifisch handgreiflichen Vollzügen aus: „Niemand hat jemals geknetet, hat jemals gekämpft, der sich geweigert hätte, Kontakt aufzunehmen; niemand hat jemals geliebt noch erkannt“ (37). Als Philosoph und Professor für Wissenschaftsgeschichte reflektiert er freilich sein argumentatives Vorgehen. Dabei verleiht er den Beispielen in seinem Text ausdrücklich einen ebenso vorgeordneten wie irreduziblen Stellenwert und damit entscheidendes Gewicht: „Die Erkenntnistheorie ist von ihren Wahlentscheidungen abhängig, das heißt von ihren Beispielen“ (104). Beispiele haben hier also nicht nur eine illustrative oder veranschaulichende, sondern epistemologische Funktion. Während aber klassischerweise „Theorie oder Anschauung dem Gesichtssinn verhaftet“ sind und unter der Regie eines solchen Okularzentrismus auf Abstand und „im Bereich des Festen verbleiben“ – d.h. im Bereich der messbaren, 1  Serres 1998, 209. Im Folgenden wird diese Ausgabe im fortlaufenden Text in Klammern zitiert.

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analytisch zerlegbaren, diskreten Einheiten, der klaren Grenzen und binären Oppositionen, der Eindeutigkeit, der Linearität, des Identitätsprinzips –, geht es Serres, dem ausgebildeten Seemann und ehemaligen Marineoffizier, dagegen um ein Denken des „Flüssigen“, der „Turbulenzen“ und „Gemische“ (104). Seine Erkenntnistheorie wendet sich damit gegen eine Theoría als eine das Auge und den Blick privilegierende Veranstaltung einer rein geistigen Schau, und will vielmehr ein tangibles Denken entwerfen. Dieses zeigt sich auf spezifisch handgreifliche Beispiele angewiesen, die Serres in seinem Text in exzessiv zu nennender, diesen überschreitender und ihn gleichsam auf sein anderes hin öffnender Weise gebraucht: Beispiele, in denen Berühren, berührbare Dinge sowie taktile Praktiken und (Kultur-)Techniken die Hauptrolle spielen.2 Solche Beispiele haben Aufforderungscharakter und versprechen eine Evidenz, die der Text allein offenkundig nicht liefern kann. Es handelt sich um Beispiele, die, wie man so schön sagt, schlagend sind, insofern sie nicht nur etwas veranschaulichen, sondern die Theorie gerade dadurch erhärten sollen, indem sie die Leser*innen zum eigenhändigen Nachvollzug aufrufen oder dies implizieren, zum Anfassen, zum Nachfühlen am eigenen Leib oder anderen Sachen, zum Ausprobieren, zum Selbstexperiment und sich vortastenden Erkundung. Sie sollen ganz handgreiflich die Philosophie der Gemische und vermengten Körper vermitteln, nämlich als ein Denken, das Kontakt aufnimmt und den „Zustand der Dinge“ als „Gemisch“, als ebenso kompliziertes wie komplexes „Wirrwarr“ (105) begreifen lehren will – und zwar in aller Klarheit, Präzision und Strenge: „Es gilt, die Fusion ohne Konfusion zu denken“ (104), ohne in Verwirrung zu verfallen. Aus der überbordenden Masse an Beispielen, die Serres quasi auf jeder Seite dieses Buchs gibt und die mitunter schon in den Kapitelüberschriften auftauchen, erlangen zwei Beispielgegenstände oder Phänomenbereiche paradigmatischen Stellenwert, die wiederum aufs Engste miteinander zusammenhängen und um die es im Folgenden gehen soll: Zum einen textile Gewebe wie Stoffe, Tücher und Teppiche, sowie zum anderen bzw. zugleich die praktischhändischen Techniken und prozesshaften Verfahren ihrer Herstellung, also Weben, Nähen, Stricken und vor allem Knüpfen. Mit anderen Worten: Es geht um Knoten und knoten, um „Praxis und Begriff des Knotens“ (100). Dabei fungieren Knoten und Gewebe – die ja als solche aus Knoten gemacht sind, aus einer potenziell unendlichen oder stets erweiterbaren Vielzahl von Verknüpfungen und Verschlingungen der ihrerseits selbst schon verdrillten, 2  Einigen dieser Beispiele und ihrer Serialisierung in Serres’ Text bin ich bereits an anderer Stelle ausführlicher nachgegangen: Güsken 2019.

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gesponnenen und also verworrenen Fäden – in Serres’ Text nicht einfach als Beispiele, sondern liefern dieser Philosophie der Gemengelagen und vermischten Körper vielmehr das Paradigma: Sie dienen als exemplarisches Modell der Gemische sowie ihrer Erkenntnis, und fungieren dabei als eine Art Denkfigur der Komplexion oder Kon-Fusion als Zustand und sinnliche Gegebenheitsweise aller Dinge. Die uralten händischen Kulturtechniken und taktilen Praktiken Weben und Knoten, Knoten lösen sowie knüpfen, sollen ganz konkret ein „neues Wissen, eine neue Erkenntnistheorie, […] eine neue Erziehung“ (60) anleiten und dabei letztlich nichts weniger als ein neues Verständnis von Abstraktion vermitteln, – auf dem Weg auch zu einem anderen Denken von Identität und des Miteinanders in einer globalisierten und vernetzten Welt. Das Gewebe der Haut, oder: „Die Welt ist ein Haufen Wäsche“ „Ich suche geduldig nach dem Modell, das sich in der Erkenntnistheorie aufdrängt“, so schreibt Serres mit einer mehr didaktisch-propädeutischen als kokettierenden Bescheidenheitsgeste fast am Ende des ersten großen und programmatisch mit Segel, Hülle, Schleier überschriebenen Kapitels seines Buchs, denn da hat er jenes Modell längst gefunden: „das Gewebe“ (104). Dabei handelt es sich um eine geometrisch gar nicht recht zu fassende, sich nämlich „dem Maß und der Metrik entzieh[ende]“ und stattdessen vielmehr topologisch zu begreifende, hybride oder ‚bastardische‘ Struktur, die „weniger fest als das Feste [ist], nahezu ebenso flüssig wie das Flüssige, hart und weich“ (104) – eine Mischung also. Daher geben für Serres „Tuch, Stoff und textile Gewebe ausgezeichnete Modelle für Erkenntnis ab, ausgezeichnete, quasi abstrakte Objekte, sind erste Mannigfaltigkeiten: Die Welt ist ein Haufen Wäsche“ (106). Tatsächlich könne man sich den „Zustand der Dinge“ am besten vorstellen „als eine Vielzahl einander kreuzender Verhüllungen“, ähnlich „einem zerknitterten, gekräuselten, in Falten gelegten Stück Stoff mit Fältelungen und Volants, Fransen, Maschen und Schnurbesatz“ (105). Derart komplex miteinander verstrickte, über-, unter- und durcheinanderliegende, in sich gefaltete sowie auch buchstäblich überbordende und potenziell stets neue, weitere Maschen oder Anknüpfungen zulassende textile Stoffe mannigfaltigster Art liefern Serres denn auch das Modell für die seiner Philosophie den Namen gebenden Gemische und Gemenge – eine Philosophie, die sich prinzipiell als „Variation über die Idee der Mannigfaltigkeit“ (74) versteht. Das textile Gewebe im Allgemeinen oder als solches ist also das Musterbeispiel

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oder Vorbild für „das Gemisch“: Dieses biete „sich unserem Denken, unserer Anschauung oder unserer Empfindung dar […] als eine Anhäufung von Geweben, von Schleiern in tausenderlei möglichen Anordnungen“ (105). Serres versteht nun diesen „Zustand der Dinge“ im selben Zug als „das Milieu der Sinne oder besser: deren Mischung“ (106). Konstitutiv für das Gemisch und die Vermischtheit der Sinne ist dabei wiederum ein anderes, nämlich organisches Gewebe, das Serres allerdings, wie gleich noch deutlicher werden wird, ebenfalls nach dem Vorbild eines textilen Gewebes denkt: „Die Haut, auch sie ein Schleier, vermischt sie“ (106). Das Hautgewebe ist mithin Agent dieser Mischung wie auch der Gegebenheitsweise der Welt als Gemenge, des „Zustands der Dinge“ als Gemisch: „Die Haut tritt zwischen mehrere Dinge der Welt und sorgt dafür, daß sie sich vermischen“ (103). Mit der Haut sowie dem Tastsinn beschäftigt sich deshalb das erste und auch für alles Weitere grundlegende der insgesamt fünf großen Kapitel seines Buchs über die fünf Sinne, die sich aber eben gar nicht klar voneinander trennen oder absondern lassen. In diesem Sinne bestimmt Serres die Haut als den „gemeine[n] Sinn“ (104), als „sensorium commune“: als „de[n] Sinn, der allen Sinnen gemein“ und in je spezifischer Weise konstitutiv für sie alle ist, „das Kontinuierliche und Durchgehaltene an den Sinnen, ihr gemeinsamer Nenner; jeder einzelne von ihnen ist aus ihr hervorgegangen, bringt sie auf seine je eigene Weise und in seiner Qualität kraftvoll zum Ausdruck“ (88). Das meint zunächst die einigermaßen triviale physiologische Tatsache, dass Häute an allen Wahrnehmungen und Empfindungen beteiligt sind, nicht allein an haptischen und taktilen: ohne Netzhaut kein Sehen, ohne Trommelfell kein Hören, ohne Zunge kein Schmecken und ohne Schleimhäute kein Riechen. Wie Serres es formuliert, stelle die Haut „die Verbindung, die Brücke, den Übergang zwischen ihnen [d.h. allen Sinnen, J. G.] dar, eine banale, gemeinschaftliche, von allen geteilte Ebene“ (88): Die als solche „multisensorische Haut“ (104) bildet „eine Mannigfaltigkeit, die aus allen unseren Sinnen zusammengesetzt, zusammengemischt ist“ (61). Sechs Wandteppiche und „das Geheimnis der Subtilität“: Everybody is a Unicorn Serres entwickelt diese Bestimmung der Haut und ihrer Leistungen anhand der Betrachtung eines ganz bestimmten Kunstwerks, nämlich sechs großen Wandteppichen, Bildwirkereien, die um 1500 vermutlich in den Südniederlanden aus Wolle und Seide gefertigt wurden und heute im Museé de Cluny in Paris unter dem gemeinsamen Titel Dame mit Einhorn zu sehen sind: „Sie

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zeigen oder illustrieren die fünf Sinne“ (62). So gesehen, d.h. ausgehend von dem, was auf diesen Bildern zu sehen ist, scheint es zunächst überraschend, dass Serres ausgerechnet diesem Beispiel exemplarischen Stellenwert für das Verständnis der Haut als Agent und Medium der Mischung der Sinne wie der fundamentalen Gemengelage der Welt verleiht. Denn auf jeder der Tapisserien ist eine Szene auf einer klar umgrenzten Insel, einem blauen Oval dargestellt, die jeweils einen der Sinne allegorisch repräsentiert. Dabei ist auf den einzelnen Inseln immer eine Dame zu sehen, manchmal mit ihrer Dienerin, und stets zwei Tiere, ein Löwe und ein Einhorn, sowie viele weitere kleinere Tiere, Blumen und Stiele, wobei die verschiedenen blauen Inseln wie auch die leuchtend roten, orangenen oder rosafarbenen Hintergrund-Flächen ebenfalls vielfältig mit Blüten, Blättern und Tieren übersät sind. Jede Insel steht für einen Sinn, der wiederum durch einen bestimmten Gegenstand symbolisiert wird: „ein Spiegel für den Gesichtssinn, eine Orgel für das Gehör, eine Konfektschale für den Geschmack, eine Schale oder ein Korb mit Blumen für den Geruchssinn“, – nur „der Tastsinn hat keinen speziellen Gegenstand“ (62). Stattdessen berührt die Dame ein Tier, nämlich das Einhorn: Sie „streichelt taktvoll den Schaft des aufragenden Horns“ (63), wie Serres es formuliert. Indem er hier die sexuelle Konnotation dieser Berührungsgeste betont, schreibt er dem bereits eine programmatische Ambivalenz ein, steht das Einhorn, selbst schon ein chimärisches Fabeltier, doch in der mittelalterlichen Symbolik eigentlich für Keuschheit und Enthaltsamkeit. So wird die Geste der Berührung in Serres’ Beschreibung der Tapisserien gleichsam zur indexikalischen Geste, zum Zeigefinger: Sie verweist auf das Einhorn, das den Wandteppichen ihren gemeinsamen Namen gibt und hier für den Tastsinn und die Haut steht, als eine Mischung oder Kreuzung aus verschiedenen Tieren, ein hybrides Wesen, „das den Bart einer Ziege, den Körper eines Pferdes, seltsam gespaltene Hufe und das Horn des Narwals miteinander vereint“ (73). Angezeigt ist damit auch, worauf Serres’ Bildbeschreibung am Ende hinauslaufen wird. Es geht ihm darum, „das Geheimnis des Einhorns“ (71) zu lüften – und das heißt: den Teppich zu wenden, die Knoten und Verschlingungen auf seiner Rückseite zu befühlen und anhand dieser für gewöhnlich verborgenen „Geheimnisse der Teppichwebkunst“ (71) die Konstitution oder Gemengelage „der fünf oder sechs Sinne, der subtilen Sinne“ buchstäblich begreifbar zu machen „als das Geheimnis der Subtilität: der verschwiegenen Herrschaft des Tastsinns“ und der Haut (72). Obwohl sich Serres zunächst an der Oberfläche, also an das hält, was die Tapisserien zu sehen geben, ist sein Blick auf die Bilder und ihre Beschreibung dabei von der hintergründig handgreiflichen, sub(tex)tilen Materialität der Bildwirkereien, des Teppichgewebes informiert und angeleitet. Obschon

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jeder einzelne Wandteppich einen anderen Sinn auf einer abgeschlossenen Insel zeigt, haben alle diese Bilder etwas gemeinsam: Insofern tatsächlich auf jedem Hände oder Finger zu sehen sind und Berührungen (von Utensilien, Instrumenten oder Lebewesen) eine Rolle spielen, geht es für Serres letztlich auf ihnen allen um den Tastsinn, die Hand oder die Haut als sein Organ und ihren für alle Sinne konstitutiven Stellenwert: „Fünfmal fungiert die Hand als gemeinsamer Nenner“ (64), fünfmal „[trägt] der Tastsinn den Sieg davon“ (65). Allerdings sind es nicht nur fünf, sondern sechs Teppiche, was zu der Frage führt: „Haben wir fünf Sinne oder sechs?“ (63). Wie Serres erklärt, teilte „das scholastische Denken des Mittelalters unser sensorium in ein inneres und ein äußeres“, und während die ersten fünf Teppiche mit „Gehör, Gesichtssinn, Tastsinn, Geruch und Geschmack die äußeren Sinne“ darstellen, repräsentiere der sechste den „inneren Sinn“: „Es bedarf eines sechsten Sinnes, durch den das Subjekt sich auf sich selbst, der Körper sich auf den Körper zurückwendet; es bedarf eines gemeinen oder inneren Sinnes, es bedurfte einer sechsten Insel“ (63). Diese wie die Dame darauf stehen zugleich „für die Summe der Sinne“, für den „gemeinen Sinn, der die Summe der übrigen fünf Sinne darstellt“ (65). Auch auf diesem sechsten Teppich sind Hände zu sehen, die etwas anfassen: die Dame legt Schmuck in ein Kästchen oder nimmt ihn heraus. Entscheidender aber ist für Serres, dass sie im Eingang eines Zelts steht, von Löwe und Einhorn flankiert, wobei man nicht recht weiß, ob diese das Zelt schließen oder öffnen. In jedem Fall erscheint Serres das Zelt bezeichnend für den sechsten, summarischen oder „inneren Sinn“ als grundlegendes Organ der Selbstwahrnehmung und der Konstruktion des Körpers. Das Zelt ist hier „Symbol des eigenen Körpers“, „seine Wohnstatt, sein Tabernakel“ (65): „Der innere Sinn drapiert sich in seinem Zelt“, also einem weiteren Gewebe, „eine neue Hülle, ein neues Tuch, aber derselbe Teppich und dieselbe Haut; der innere Sinn verhüllt sich mit Haut“ (64). In diesem Sinne „konstruiert der sechste Wandteppich den Körper“: „Unser Körper bedeckt sich mit Haut, schließt sich darunter ein. Die Haut öffnet sich über den Sinnen. Sie schließt sich über dem inneren Sinn, bleibt jedoch ein wenig geöffnet“ (66). Die Haut ist demnach radikal ambivalent verfasst, zugleich offen und geschlossen, ein hybrides Dazwischen, wenn man so will. Sie umhüllt den Körper oder „das Fleisch“ (70) wie ein Zelt, beschützt das Innere, schirmt es ab, bildet aber zugleich auch „den Vorposten des Subjekts“ (37). Tatsächlich gehört die Haut einem Selbst auf intime Weise an und gehört diesem Selbst auch nicht an, bildet sein Außen, und sie schließt von der Außenwelt ebenso ab wie sie Kontakt ermöglicht. Mit seinem Zelt verweist der „innere Sinn“ nun abermals auf den Haut- oder „Tastsinn“, denn dieser „gesellt sich zum inneren Sinn, dieser Summe der fünf anderen, und webt dessen Zelt“ (64), er „ermöglicht Offenheit

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bei gleichzeitiger Geschlossenheit“ (65), „er weiß um die Nähe von Schwarz und Weiß, von Öffnung und Abschluss“ (66). Für Serres hat daher auch auf dem sechsten Teppich wieder „der Tastsinn den Sieg davongetragen“ – nun im Perfekt, also endgültig sowie zugleich auch in einem weiterreichenden Sinne, nämlich „aufgrund der Äquivalenz, die zwischen der Hülle des Zeltes, der Leinwand des Bildes und der Haut besteht“ (65). Diese nicht einfach nur metonymisch, sondern materialiter zu verstehende Äquivalenz ist maßgeblich für Serres’ Interpretation der Wandteppiche und die exemplarisch-modellgebende Funktion, die er ihnen verleiht. Dabei globalisiert Serres die Bedeutung des Tastsinns und seines Organs in Hinsicht auf alle sechs Teppiche als Gewebe, das sich in diesem Sinne wiederum selbst als Haut verstehen lässt. Tatsächlich wird hier so nun auch umgekehrt die Haut nach dem Vorbild eines textilen Gewebes gedacht: „[D]ie Haut breitet ihr Tuch als Hintergrund aus; […]. Die Insel ist aus Leinwand gewebt, hat dieselbe Textur wie ihr Hintergrund, das Organ ist eine Einfältelung der Haut. Wie man in den Szenen bemerkt, bedarf allein der Tastsinn keines besonderen Werkzeugs, seine Haut wird nach Belieben zum Subjekt oder zum Objekt“ (63) – d.h. zum Subjekt oder Objekt der Darstellung, ist also zugleich Dargestelltes wie auch Darstellungsmedium. Die Wandteppiche eignen sich für Serres also nicht allein deshalb so gut, um daran die Bestimmung der Haut als Agent der Mischung zu exemplifizieren, weil sie die Sinne allegorisch zeigen, sondern mehr noch aufgrund ihrer Materialität und Machart als Bildwirkerei, als Gewebe, ganz handgreiflich: Auf dem Webstuhl gleiten die Schußfäden zwischen den Kettfäden hindurch, wenn das Weberschiffchen hin- und herfährt. […] Das Leuchten, das schließlich von den Figuren und Farben auf dem fertigen Gewebe ausgeht, stammt von tausend Schlingen und Knoten auf der Rückseite, von einem Gewebe, das unter dem textilen Gewebe abläuft; das Gewebe verdunkelt die Wurzeln des Adjektivs ‚subtil‘, indem es sie verbirgt. Die Geheimnisse der Teppichwebkunst schlingen sich darunter. (71)

Die Wandteppiche bergen also ein ästhetisches Wissen über die Sinne, indem sie dieses nicht nur vor Augen stellen, sondern auch in ihrer handgreiflichen Materialität verkörpern. Dabei profiliert Serres hier die „Teppichwebkunst“ als eine Kunst des Verbindens und Verknüpfens, und das heißt auch: der Mannigfaltigkeit und des Vermischens als ein Hin und Her, als Darüber-, Darunterund Hindurchschlingen. Während die Sinne auf der Oberfläche in Szenen auf einzelnen und klar umgrenzten Inseln, mithin getrennt voneinander dargestellt werden, enthüllt sich das „Geheimnis […] der fünf oder sechs Sinne“ (71) dabei als ihre sub(tex)tile Verwoben- und Verschlungenheit:

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Jessica Güsken Die Haut hängt wie ein Balg an der Wand; wenn man sie wendet, kann man die Nervenstränge und -Knoten berühren, einen Dschungel aus heraushängenden und herausgerissenen Drähten wie hinter der Frontplatte eines Automaten. Die fünf oder sechs Sinne verschlingen und verbinden sich auf und unter dem Gewebe, das sie durch Verweben oder Spleißen bilden, Litzen, Kugeln, Verbindungen, Schleifen und Tauwerk, laufendes oder stehendes. Die Haut versteht, erklärt, exponiert und impliziert die Sinne, Insel für Insel, auf ihrem Untergrund; sie bewohnen den Teppich, gehen in das Gewebe ein, bilden das Gewebe geradeso, wie das Gewebe sie bildet. Sie füllen die Haut ganz und gar aus, gleiten darunter und lassen sich darauf blicken […]; sie dringen durch die Epidermis hindurch und in deren subtilste Geheimnisse ein. (72)

Obwohl die Teppichweberei zunächst ausdrücklich als „Kunst“ adressiert wird, die ja als solche – auch im Sinne einer techné – bestimmten Regeln unterliegt, welche man beim Weben und Knüpfen beachten muss, um die gewünschten Bilder und Muster zu erzeugen, geht es Serres dabei allerdings weniger um solche geregelten Gewebe. Nicht von Ungefähr bezeichnet er die dichte Verwobenheit der Fäden und Knoten auf der Teppichrückseite hier nun als „Dschungel“, denn tatsächlich ist es ihm mit dem paradigmatischen Beispiel der Wandteppiche vielmehr um die Mannigfaltigkeit der Verbindungen zu tun, die sie ins Werk setzen, um die vielfältige Verschlungenheit und das mehrdimensionale Hin und Her von Verschiedenem, dem man hier gewärtig wird: „Da viele Schnüre und Schleifen sich dort untereinanderschlingen, entsteht ein unentwirrbares Geflecht“, und das heißt auch: „die Zahl der Wege von hier nach dort [wächst] ins Unermeßliche“ (99). Unter der Hand oder subtextil wird dabei aus dem Ensemble der sechs nebeneinanderhängenden Teppiche nun auch ein einziger, als seien alle zu einem verknüpft. Diese Verallgemeinerung ist auch ein Vorgang des Exemplifizierens, des Aufstiegs oder Abschleifens vom Beispiel zum modellgebenden Paradigma. Außerdem wendet Serres die mittelalterlichen Wandteppiche hier zugleich in ein moderneres Bild des Körpers und des physiologischen Zusammenhangs der Sinne: Indem er sowohl auf modellhafte Abbildungen des Nervensystems aus modernen Anatomielehrbüchern anspielt als dabei auch die alte Vorstellung des Körpers als Automaten ebenso aufruft wie unterläuft, erscheinen die Teppiche nun subtextilis gleichsam als Darstellung des Nervensystems avant la lettre und sogar der genexpressiven und -translativen Prozesse, das sog. Spleißen (analog zu engl. to splice, miteinander verbinden, zusammenkleben), die im Zellkern bei der Weiterverarbeitung von RNA zu Proteinen ablaufen (und die Anfang der 1980er Jahre, also kurz vor der Publikation von Les cinq sens, gerade erst entdeckt worden waren). Auch das organische Zellgewebe, ja die Herstellung des Körpers selbst wird so als Teppichgewebe gedacht. Spleißen nennt man freilich auch und schon viel länger die Verbindung von Tauwerk durch Verflechtung

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der einzelnen Faserstränge bzw. Kardeele, und so knüpft Serres nun eine weitere Verbindung des Teppich- als Körper-, Haut- und Sinnengewebes zur „laufenden oder stehenden“, beweglichen oder festinstallierten Takelage eines Segelschiffs. Damit bringt er nicht nur einen weiteren Phänomenbereich der Praxis des Knotens ins Spiel, auf den später noch zurückzukommen sein wird, sondern entwirft so auch ein Bild der Haut und der Verwobenheit der Sinne, in dem sich Organisches und Technisch-Künstliches, Körper und Ding, Subjekt und Objekt unentwirrbar, d.h. unentscheidbar ineinander stülpen und gleichsam verknoten. Gleichwohl bleibt es das Teppichgewebe, das hier als exemplarisches Modell der Haut präsentiert wird und die so begriffen werden kann als ein komplexes Gewebe aus allen Sinnen, die ihrerseits aus Haut gebildet sind. Die anhand dessen entwickelte Bestimmung der Haut als „gemeiner Sinn“, als „sensorium commune“ (88) erinnert in dieser Formulierung zunächst an Aristoteles, der die Haut nämlich längst als koinē aísthēsis, als Gemeinsinn definiert hatte, „als einen Sinn, der einer und viele ist und der – subtextilis – in allen Sinnen ist“.3 Für Aristoteles garantieren Haut- und Tastsinn dabei die Einheit der Seele und damit des Subjekts, und machen den Menschen auch zum intelligentesten aller Lebewesen, wobei es gerade die außerordentliche „Feinheit“ seines Tastsinns sein soll, die „die einzigartige Stärke des menschlichen Geistes bezeugt“.4 Insofern scheint sich Serres mit seiner Profilierung der Haut und des Tastsinns sowie der dazugehörigen Geste, unter den Teppich zu schauen und diesen zu befühlen, also zunächst kaum außerhalb jener „Hapto-Tropik“ zu bewegen, die Jaques Derrida als Stütze der optozentrischen Erkenntnistradition der abendländischen Philosophie entlarvt hat: Seit Platons Philosophie der Trugbilder ist die Privilegierung des Auges und „das Denken der Wahrheit als Licht, als Offenbarung für das Sehen“ ja wie durch ein Möbiusband mit einer „Metaphysik des Berührens“ – der Annahme der (physischen, aber auch geistigen oder göttlichen) Berührung als Wahrheits-, Wirklichkeits- und auch Ganzheitsgarant – verbunden.5 Anders als für Aristoteles, sind für Serres die Menschen in ihrem begreifenden Erkennen allerdings weniger außergewöhnlich, als sie es gern hätten: Tatsächlich sind „wir nicht die einzigen, die alles tangieren oder anfassen müssen“ (104). Außerdem stiften Haut- und Tastsinn für Serres weder eine Ein- noch Ganzheit des Körpers, der Seele oder des Subjekts, im Gegenteil. Die Haut bildet vielmehr „eine Mannigfaltigkeit, die aus allen unseren Sinnen zusammengesetzt, 3  Harrasser 2017b, 194; cf. Aristoteles 1995, Buch II (422b17sqq.) und Buch III (425a13sqq.). 4  Heller-Roazen 2012, 380; cf. Aristoteles 1995, Buch II (421a22sqq.). 5  Derrida 2007, 156sq.

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zusammengemischt ist“ (61), und dieser „chaotische Wirbel der Sinne gelangt niemals zur Einheit, Bewahrung und Identität“ (67). Es ist gerade diese Einsicht, die, am paradigmatischen Beispiel der Teppiche gewonnen, buchstäblich begriffen werden soll. Wie Serres konstatiert, passe „die ganze Beschreibung gleichermaßen auf die Wandteppiche und auf den Körper“ (64): Was sich hier an der Haut enthüllt, hat allgemeinere Bedeutung. Sie präsentiert und erlebt sich als eine diskrete Mannigfaltigkeit aus diskreten Inseln, aber auch als eine stetige Mannigfaltigkeit mit vermischten Regionen oder Zuständen. Sie summiert oder addiert diese beiden Arten von Mannigfaltigkeiten; sie vermischt das Nebeneinanderliegende mit dem Vermischten, und sie stellt das Nebeneinanderliegende neben das Vermischte (75).

Die Wandteppiche eignen sich für Serres gerade deshalb so besonders gut als Modell für das Gemisch, weil anhand ihres Gewebes die metrische „Unterscheidung zwischen kontinuierlichen und diskreten Mannigfaltigkeiten nicht mehr so scharf [erscheint]“ (99). Zugleich lässt sich an diesem handgreiflichen Beispiel eine neue Praxis des Erkennens einüben, ein tangibles Denken. Es bedarf für Serres einer neuen Subtilität der Erkenntnis, denn der in Erkenntnistheorie und Ästhetik tradierte „Mangel an Subtilität hindert uns, den Wald von Knoten unter dem Tuch oder hinter dem Teppich zu sehen; die Intelligenz der Darstellung blendet uns“ (99). Auf den ersten Blick „zeigt der Teppich eine Art Mosaik aus diskreten Teilen“ (99), mithin eine „Mannigfaltigkeit, die wir zunächst diskret und distinkt nennen“ werden: „Die Wiese überzieht sich mit Blumen; die Büschel auf dem Boden und die Fäden im Gewebe legen sich nebeneinander“ (73), sowie auch die einzelnen Sinnes-Inseln voneinander unterschieden und getrennt sind, „die Linienführung ist exakt“ (62). Genauer betrachtet aber erweist sich das Dargestellte wie auch das dafür konstitutive Gewebe darunter als komplexer: „Die Mannigfaltigkeit auf dem Wandteppich ist zugleich diskret und kontinuierlich“, sie „hat durchaus nichts gegen Mischungen“ (73). Tatsächlich sind diese Teppiche geknüpft aus verschiedenen Stoffen oder Fäden, ein Mischgewebe aus Wolle und Seide, und sie zeigen „Farben mit undefinierbaren Tönen“ (67). Vor allem aber gibt es auf jeder Insel ein Einhorn zu sehen, eine Kreuzung oder Mischung aus verschiedenen Tieren. Dieses fabelhafte Hybrid-Wesen gibt den Wandteppichen ihren gemeinsamen Titel und wird von Serres nun auch in Hinsicht auf die Haut und die Gemengelage der Sinne als bezeichnend vorgestellt: „Man weiß nicht recht, ob das Fabeltier nun die Mischung der Sinne symbolisiert oder das Gemisch, das die Sinne uns wahrnehmen lassen“ (73). In jedem Fall aber „sagt die Fabel die Wahrheit“ (74). Tatsächlich sei die Haut als der gemeine Sinn „in Wirklichkeit zusammengesetzt wie das Einhorn“, ein „zusammengeschneiderte[s] Ganze[s]“, „ein Flickenteppich“ (74):

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Die Mannigfaltigkeit des Blickes, an die Mannigfaltigkeit des Gehörs geheftet, mit groben Stichen provisorisch aneinander und je einzeln oder gemeinsam an die des Geschmacks, des Geruchs und des Tastsinns genäht, Flicken an Flicken, ohne besondere Ordnung vor dem letzten Stich, der niemals kommt […]. Auf eben diese Weise entstehen wir: schlampige Arbeit […], hastige, schlecht ausgeführte Heftstiche (74).

In diesem Sinne „ähnelt unsere Haut der Chimäre“ (74), sie „stellt keine Synthese dar, sondern eine Collage, eine Flickarbeit“ (304). Auch „die Konstruktion des Körpers gleicht der Erfindung des Einhorns“: „Herkunft oder Umwelt, die durch Zufall zusammengesetzte Kette unserer Gene, sie machen bizarre Mischwesen aus uns, Varianten eines global stabilen Schnittmusters“ (75). Entsprechend darf sich „jedes Individuum, jeder Organismus als Einhorn bezeichnen“: „Wer könnte wirklich von sich behaupten, kein Mischling zu sein?“ (75). Von daher verleiht Serres diesen Teppichen, und zwar ihren beiden Seiten in ihrer fundamentalen Verwobenheit, exemplarischen Stellenwert für das Verständnis der Haut als mannigfaltiges Gewebe, als Mischung der Sinne und das Gemisch, das sie uns wahrnehmen lässt: „Der Teppich, o Wunder, zeigt ausschließlich Kreuzungen, wie hätte er auch anders gewebt werden können?“ (76). Nicht zuletzt liefert das „Wunder“ der Teppichgewebe damit nun auch das Modell für ein weiteres Gewebe, nämlich den Text – den eigenen wie den Text als solchen –, wobei es Serres wiederum um subtile Sinn(bildungs)zusammenhänge geht: Denn auf eben jene Weise, wie „auf dem Webstuhl die Schußfäden zwischen den Kettfäden hindurch[gleiten], wenn das Weberschiffchen hinund herfährt“, wird sich auch „der Sinn in das Gewebe hineinschlingen“ (71). Als Hin und Her, darüber-, darunter- und dazwischen Hindurchgehen von Fäden lasse das Teppichgewebe nämlich auch „die Sprache treiben“ (71), bringt die Zeichen und Bedeutungen in eine nicht stillzustellende Bewegung ohne Anfang und Ende, und erfindet neue Verknüpfungen. Was der Teppich zeigt, verlasse daher nie „das Märchenhafte: Geschichten, Gedichte, Mythologien“ (71): Darauf das Einhorn, darunter Kreuzungen und Verknotungen von Fäden und damit die Erfindung von Wegen und Zusammenhängen. Wie Serres konstatiert, lasse sich „das Gemisch nur durch Mythos und Legende ausdrücken, wie das Sinnliche“ (77). Damit stellt er nun auch die literarische Sprache und die Fiktion der wissenschaftlichen oder philosophischen, der „strengen Sprache“ aus Begriffen, „Techniken und Formeln“ (92) gegenüber. Unterlegt ist dem wiederum die prinzipielle Auffassung von Sprache als Betäubungsmittel, als „eine Droge“ (71), die die Sinne und den Körper anästhesiert: „Das Wort erfüllt das Fleisch und betäubt es. […] Nichts macht so unempfindlich wie das Wort“ (70). Und „[w]enn wir den Wandel um eines stabilen, invarianten, mit sich identischen, konstanten Zeichens willen stillstellen, dann sind wir damit ‚blasiert‘“, also unempfindlich „gegenüber dem, was uns umgibt“ (91sq.). Diesen Gedanken

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entfaltet Serres dabei abermals ausgehend vom Zelt auf dem sechsten Wandteppich, der als einziger eine Inschrift trägt. Wie das Zelt schirme uns auch die Sprache von den äußeren Dingen ab: vom „Harten“ der materiellen Wirklichkeit, vom „factum brutum“ der Materie und ihren „großen Energien“, hart „wie eine Ohrfeige“ (148). Dagegen gehört alles sprachlich Gegebene in den Bereich des „Sanften“, des Zeichens, der Codes und der Information: „Der Körper ist in eine materielle Umwelt eingetaucht, während das durch die Sprache und in ihr Gegebene aus Logischem gewebt ist“ (148). Dabei beute „[d]as Leben schlechthin diesen Unterschied aus“, „es bewegt sich von der Härte zur Sanftheit“, seine „vitale Kraft richtet sich vom Materiellen hin zum Logischen, von der Energie hin zur Information“ (149). Wie das Zelt, das ebenso abschirmt wie beschützt und das zugleich offen und geschlossen ist, bildet auch die Haut die Kontaktzone zwischen beiden Bereichen, zwischen Innerem und Äußerem, Logos und Körper, Sprachlichem und Materiellem – und ist damit in einem fundamentalen Sinne medial verfasst. Tatsächlich leisten Haut und Tastsinn für Serres den Kontakt, die Berührung und damit auch die Vermischung von beidem, wobei der Hand nun auch als Organ des Schreibens, der Handschrift eine besondere Verknüpfungsleistung attestiert wird: Wußten Sie, daß das Schreiben das höchste Maß an nervlichen Fähigkeiten und Muskelbeherrschung verlangt? Keine andere Tätigkeit beansprucht so viele und feinverzweigte Nervenenden. […] Selbst die Stickerin, die Näherin, die Spinnerin und sogar die Chirurgin, die unter dem Mikroskop operiert, knüpfen noch sehr grobschlächtige Verbindungen im Vergleich mit den unendlich feinen Knoten und Schlingen der Schrift; sie haben die Hände in harten Dingen, während die Hand, die schreibt, bereits an das sanfte Zeichen rührt. […] Der reine Tastsinn öffnet den Weg zur Information, dem sanften Korrelat dessen, was man früher einmal den Verstand nannte. (107sq.)

Dem betäubenden Effekt der begrifflich-bezeichnenden Sprache entgeht das Gewebe, Teppiche wie Texte, die „die Sprache treiben lassen“, ihre Eindeutigkeit in Bewegung versetzten, also die Monodirektionalität in ein dynamisches Hin und Her verwandeln. Auch in diesem Sinne wird das Kunstwerk hier zum Erkenntnismedium, das neue Empfindungen und Zugänge zur Welt ermöglicht. Das Beispiel leitet so auch eine ästhetische Erziehung an: Wer erkennen will, muss sich in Subtilität üben, seine Finger beweglich und seine Haut geschmeidig und durchlässig halten. In der Folge bestimmt Serres ausgehend von der zugleich „hart[en] und weich[en]“ (104) Verfasstheit des (Teppich-)Gewebes und seiner sowohl diskreten als auch kontinuierlichen Mannigfaltigkeit die Haut dann als „kontingente Mannigfaltigkeit“ (103). Dabei geht es nun näherhin um die

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Haut als Zone und Medium des Kontakts, der gemeinsamen Berührung, die er als eine fortwährend in wechselseitig-dynamischer Veränderung begriffene, variierende, fluktuierende und als solche hybride Mischung von „Körper“ und „Welt“, von Innen und Außen, Subjekt und Objekt vorstellt, wobei die Grenze beider sowie auch die Richtung der Affizierung niemals eindeutig ist, sondern ein nicht stillzustellendes Hin und Her: Die Haut ist eine kontingente Mannigfaltigkeit; in ihr, durch sie und mit ihr berühren die Welt und mein Körper einander, das Empfindende und das Empfundene; sie definiert deren gemeinsame Grenze. Kontingenz meint nichts anderes als gemeinsame Berührung: Welt und Körper schneiden, streicheln einander darin. […] [D]ie Dinge vermischen sich miteinander; ich vermische mich mit der Welt, wie sie sich mit mir vermischt. Die Haut tritt zwischen mehrere Dinge der Welt und sorgt dafür, dass sie sich vermischen. (103)

Die Haut ist mithin auch in diesem Sinne fundamental medial verfasst, sie ist nicht nur die größte Kontaktzone und Mittler zur Außenwelt, sondern zugleich Bedingung jeglichen Kontakts, der stets prekär bleibt, gelingen oder scheitern, zärtlich sein oder in Gewalt umschlagen kann. Serres profiliert die Haut dabei als Agent der radikalen Kontingenz unserer Welt bzw. ihrer Gegebenheit, der relativen (Un-)Ordnung der Dinge und ihrer Zusammenhänge als Gemisch im Sinne eines Gewebes. Sie stiftet komplizierte und polyvalente Beziehungen, setzt Fremd- und Selbstbezüge ins Verhältnis, verbindet das traditionell Getrennt erscheinende, reorganisiert Innen und Außen sowie Subjekte und Objekte in mannigfaltiger Weise.6 In diesem Sinne ist Berührung also „in ihrer Oberflächlichkeit reziprok: keine Empathie, keine Einfühlung des Einen in den Anderen, sondern eine Verfangung“.7 Auch dafür liefert das textile Gewebe mit seiner vielfältig verschlungenen Verknüpfung und Kreuzung von Fäden, die hin und her, darunter, darüber oder dazwischen hindurchgehen, das Modell. Und von daher entwirft Serres denn auch folgende Devise, die gleichsam das Motto seiner Philosophie der Gemische und vermengten Körper abgibt: Wer die Dinge erkennen will, muss sich erst einmal zwischen sie stellen. Nicht nur vor sie, um sie zu sehen, sondern mitten in ihr Gemisch, auf die Wege, die sie verbinden; […] der Tastsinn stellt sich dazwischen, die Haut sorgt für den Austausch, der Körper zeichnet den verknoteten, verknüpften, gefalteten, komplexen Weg zwischen den zu erkennenden Dingen. (102)

6  cf. Harrasser 2017a, 8. 7  ibid.

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Wer erkennen will, muss sich also „in die Kontingenz stürzen“, anders gesagt, seine Haut riskieren: „Alles begegnet sich in der Kontingenz, als trüge alles eine Haut“ (104). Knotenlösen und Knüpfen: Alexander vs. Penelope Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch der „Zustand der Dinge“ als Gemisch im Sinne des textilen Gewebes oder einer mannigfaltigen Verwicklung begreifen, als „Wirrwarr, verknäult wie eine Schnur, ein langes Kabel, ein Wollfaden“ (105). Wie oben bereits zitiert, bietet dieses Gemenge „sich unserem Denken, unserer Anschauung oder unserer Empfindung dar […] als eine Anhäufung von Geweben, von Schleiern in tausenderlei möglichen Anordnungen“ (105). Dabei ist die Rede von „Schleiern“ allerdings nicht entlang der gewohnten oder tradierten Metaphorik zu verstehen, denn Serres weist hier gerade jene „alte Vorstellung“ zurück, der gemäß „die Wahrheit etwas [ist], das enthüllt werden muss, ein Ensemble von Dingen, die hinter einem Schleier verborgen sind und entschleiert werden müssen“ (105). In Wirklichkeit liege „die Sache nicht unter Schleiern verborgen“, tatsächlich zeigt ja selbst „die Nacktheit noch Falten“ (105). Man hat es also stets und überall mit nichts als einer Mannigfaltigkeit von Oberflächen zu tun. Von daher „[bedeutet] entschleiern vielmehr, geduldig und mit respektvollem Fingerspitzengefühl der komplizierten Anordnung der Hüllen und Zonen, der tiefen Staffelung der benachbarten Räume, dem Talweg der Nähte zu folgen und sie, sofern möglich, auseinanderzubreiten wie einen Spitzenrock“ (105). Während der klassische Analytiker mit seinem „zerlegende[n] Blick“ gleichsam mit dem Messer hantiert, auf Distinktionen aus ist und dabei „blind für die feinen, leichten Knoten, welche die Situationen miteinander verbinden“ (101), verweist Serres die philosophische Analyse dagegen auf „Praxis und Begriff des Knotens“ (100): „Analysieren verlangt, dass man einen Knoten löst“ (101). Beim Knotenlösen hat man sich allerdings nicht etwa am berühmten Vorbild Alexanders des Großen zu orientieren, dem jugendlichen Eroberer, der der Sage nach „den Gordischen Knoten mit dem Schwert durchschlug, um sich die Herrschaft über Asien zu sichern“ (99). Derart gewalttätig geht ja auch der alte Analytiker mit seinem tranchierenden Blick vor: „[E]r tut es dem jungen Alexander nach und hat keine Ahnung von den Zusammenhängen“ (101). Vielmehr „[vergißt] jede Trennung den Knoten oder das Geflecht, die zwischen den getrennten Dingen liegen. Seit Alexander haben wir Eurasien vergessen“ (99). Für Serres bedarf das Denken der Gemische daher anderer Vorbilder – und zwar weiblichen, einer neuen Analytikerin: „Was Erkenntnis angeht, haben

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die Frauen den Männern seit langem schon den Weg gewiesen“ (106). Gemeint ist damit nicht allein „das Mädchen mit dem Einhorn“ (106). Vielmehr macht Serres hier nun gegen Alexander und seine geopolitische HerrschaftsStrategie eine weitere Figur und noch einmal jene traditionell dem Weiblichen zugeordnete, gleichwohl nicht allein von Frauen ausgeübte Kunst oder Kulturtechnik stark – und damit zugleich auch eine andere mathematische Leitdisziplin: „Der Weber und die Weberin, Penelope oder andere“, deren „Kunst oder Handwerk den Raum durch Knoten, Nachbarschaften und Kontinuitäten erforscht oder ausbeutet“, seien weniger der Geometrie, dem Maß und den diskreten Einheiten verpflichtet, sondern agierten längst im oder mit dem Kontinuierlichen, „ihre taktilen Manipulationen nehmen die Topologie vorweg“ (106): „Die Topologie ist taktil“ (104). Tatsächlich geht es Serres mit dem topologisch-taktilen Paradigma des Knotens, der bzw. das „den Raum erforscht oder ausbeutet“, weniger ums Lösen als vielmehr ums Knüpfen, ums Finden, ja Erfinden von Verbindungen zwischen Elementen, um Durchgänge und neue Wege. Zwischen zwei Fäden lässt sich immer ein dritter einfügen oder hindurchziehen, eine weitere Masche, und zwar auf verschiedenen Ebenen oder in allen Dimensionen. Diese als „zwischen“ umschriebene Lage entfaltet daher eine große Vielzahl oder Mannigfaltigkeit von Wegen, die diese Linie oder diesen Raum kreuzen. […] Alle Frauen wissen das, Näherinnen und Spinnerinnen, Stickerinnen und Weberinnen: mal darüber, mal darunter usw. Keiner der so erhaltenen Wege verläuft gerade, keiner bleibt in derselben Dimension, alle verwinden sich. […] Wer sähe nicht sogleich, daß da ein Knoten im geläufigen Sinne zustande kommt: sobald sich ein Zwischenraum zeigt. (99)

Das Interessante und Modellgebende am Knoten ist also das Dazwischen, der Zwischenraum, wenn man so will: das Loch als Offenheit oder Möglichkeitsraum neuer Verbindungen von Getrenntem oder Verschiedenartigem. Das oder der Knoten „erfindet Zwischenräume“, „eröffnet neue Wege“ (408), ist mithin zugleich Medium, Ermöglichungsstruktur und Prozess des Schaffens von Räumen und Zwischenräumen und d.h. auch: von Geweben und Gemischen. Dabei profiliert Serres das Wissen um das Dazwischen, die Gemengelage, Übergänge und Verknüpfungen nun nochmal eigens als ein ebenso topologisches wie fundamental taktiles und von den händischen Kulturtechniken des Spinnens, Nähens, Strickens und Webens angeleitetes Wissen: „Die Hand gleitet über die Spindel, über den Webrahmen, um die Nadel herum, sie formt den Faden, verdrillt ihn, führt ihn hindurch, legt ihn um, schlingt ihn zum Knoten, […] findet mit schlafwandlerischer Sicherheit den Durchgang, den das Auge nicht sieht“ (106).

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Daher gibt nicht Alexanders schnittiger und herrschaftsbewusster Umgang mit dem Knoten, sondern Penelope die Vorbildfigur für Serres’ Konzept der philosophischen Analyse ab. Auf die Rückkehr ihres verschollenen Mannes, den listenreichen Odysseus wartend, bedient sich die in der Odyssee stets als klug und umsichtig bezeichnete, und dabei mit allen klassischen Eigenschaften einer ordnungsgemäßen Ehefrau ausgestattete, ebenso treue und willensstarke wie schier übermenschlich geduldige und unaufhörliche Penelope bekanntlich selbst einer List, und zwar einer Web-List, um sich Zeit und einen Ausweg aus ihrer Bedrängnis zu verschaffen, sich nämlich die Freier, die um ihre Hand anhalten, vom Leib zu halten: Sie werde einer Heirat erst zustimmen, wenn sie ein Leichen- oder Grabtuch fertiggestellt hat, – ein großes Gewebe, das sie am Tage in ihrer Kammer webt, aber jede Nacht insgeheim wieder auflöst. Das Weben ist hier also ebenso ein Verfahren des Aufschubs wie auch des Erfindens eines Auswegs oder Durchgangs, das die Position der Schwäche trickoder kunstreich zu nutzen und in Stärke zu verwandeln weiß. Man kann das Handeln der Königin Penelope, in Abwesenheit ihres Mannes stellvertretende Regentin von Ithaka, zunächst als politisches Tun auffassen: So hat Platon im Politikos die Webkunst zum „Paradigma des Paradigmas“ für den Staatsmann erhoben, für seine befriedenden und konfliktlosen Bemühungen.8 Allerdings agiert die Weberin Penelope, um das mit Michel de Certeau zu formulieren, dabei gerade nicht strategisch oder staatsmännisch, sondern taktisch im Sinne des (Er-)Findens und Ergreifens „günstiger Gelegenheiten“, also im Sinne einer „Findigkeit des Schwachen, Nutzen aus dem Starken“, d.h. der herrschenden Ordnung zu ziehen.9 Sie kann öffentlich nicht frei und für ihre Sache sprechen (und wird zudem von ihrem Sohn gegängelt), sondern muss im Verborgenen und buchstäblich Heimlichen hantieren, um sich Möglichkeiten, Spiel- oder Freiräume zu eröffnen. Dabei rückt das wiederholte Weben und Auflösen des Gewebten nun den Vorgang des Webens selbst in den Blick: Zum einen als potenziell unabschließbarer Prozess, als prozessuales Tun, das hier gerade nicht auf das Gewebte als fertiges oder vollendetes Produkt, Werk oder Ergebnis zielt. Man muss nur an die dieser Geschichte offenkundig eingeschriebene Äquivalenz von textiler Webarbeit und dem Textgewebe der Odyssee (und das daran hängende Dispositiv der Schrift sowie die Konstituierung literarischen Erzählens) denken, um zu begreifen, dass Penelopes Tun, nämlich das reine Weben als Weben zweitens ein kreatives und poietisches Tun ist, und zwar im Sinne einer noch nicht abstrakt ablaufenden, sondern sinnlich, ganz handgreiflich und dinghaft gebundenen Erkundung, Herstellung und Ausbeutung 8  cf. Kiening/Beil 2012, 40; cf. auch Platon 2008, 277dsqq. und 305esqq. 9  De Certeau 1988, 21 und 23.

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des Raums wie der Zeit. Das dabei entstehende, aber immer wieder aufgelöste Gewebe ist schon in dieser Anlage fundamental ambivalent, charakterisiert sich aber auch in weiteren Hinsichten als eine Mischung: Auf metonymischer oder der Ebene der Bedeutung changiert Penelopes Gewebe zwischen Leichen- und Hochzeitstuch, Leben und Tod, unermüdlicher Verzweiflungsarbeit und Utopie oder stetiger Hoffnung auf Odysseus’ Rückkehr und die Widervereinigung der getrennten Liebenden. Aber auch an der einzigen Stelle im Text der Odysee, wo vom Aussehen des Tuchs zu lesen ist, wird es als „der Sonne und dem Monde gleichend“ beschrieben, mithin als ein Zugleich von Heterogenem, als hybride Kreuzung von Tag und Nacht.10 Penelope ist eine Vorbild- oder Denkfigur der von Serres’ profilierten Analyse aber auch, weil sie als Weberin beides beherrscht: das händische Lösen und das Knüpfen von Knoten. Wie bereits angesprochen, geht es Serres mit dem Paradigma des Knotens nämlich ganz besonders um Letzteres, um das Knotenknüpfen als Herstellen von Verbindungen und Gemischen: Wer einen Knoten zu lösen und die losen Enden zu entwirren versteht, hat in der Regel nichts gegen den, der die freien Enden oder die laufende Schnur zu einem Knoten schlingt, denn er beherrscht beides. Die Erkenntnistheorie dagegen, die Knoten löst und keine Knoten knüpfen mag, duldet nur die inversen oder analytischen Operationen: Zerlegen, Auflösen, Subtrahieren, Teilen, Differenzieren. Zerstören. Analysieren heißt zerstören. […] Diese Erkenntnistheorie duldet kein Zusammensetzen und Mischen. (225)

Serres ist es mit seinem Konzept der Analyse also um die Fusion, das Zusammenbringen zu tun. Während „Konfusion und Lösung in ihrer wörtlichen Bedeutung sehr ähnlich sind“, mag es zwar „[noch angehen], daß die unmittelbare, wilde Sprache die Konfusion aus dem Denken verbannt“ habe; „aber daß die Philosophie der Erkenntnis […] diesen Erkenntnismangel heiliggesprochen hat, das muß doch jeden erstaunen, der keine Angst vor dem Zusammenfluß von Flüssigem hat“ (217). Obwohl es hier mit dem Flüssigen um einen ganz anderen Phänomenbereich der Mischung geht (Leitmotiv dessen ist die Lösung von Zucker in Wasser, cf. 101), bleibt das modellgebende Paradigma der Philosophie der Gemische und Gemenge das Gewebe, das seinerseits aus Knoten besteht. Anhand dessen entwirft Serres nun das Konzept einer Analyse, die „verknüpft, ohne zu lösen, oder sie macht sich bereit zu lösen, indem sie verknüpft“ (410). Dabei wird Analysieren als Verknüpfen, als fundamental prozesshaftes Verfahren des Konstruierens und (Er)Findens von Zusammenhängen begriffen: „Der Knoten schafft einen Ort, indem er diese Milieus auf 10 

Homer 2009, 394 (XXIV, 148).

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klare und eindeutige Weise vermehrt. Hier zerstört die Analyse nicht, sie konstruiert vielmehr, Dichotomie und Bruch werden beständig repariert. Das Zwischen ist überreichlich vorhanden, statt Absonderung geht es um Annäherung“ (410). Mit Seemannsknoten zum anderen Ende der Welt Tatsächlich brauche „[d]ie Analyse keinen Aufbinder; man kann zusammenschnüren und dennoch analytisch bleiben“ (408). Um diesen für das Konzept der Analyse wesentlichen Aspekt des Verknüpfens als Verbinden von Verschiedenem weiter zu konturieren, bringt Serres schließlich mit „Schotenstek, Palstek, Hahnepot oder Rosenknoten, Schauermannsknoten oder Diamantknoten“ (408) eine Reihe von Seemannsknoten und damit einen weiteren Phänomenbereich der Kulturtechnik des Knotens ins Spiel. Charakteristische Eigenschaft von Seemannsknoten ist bekanntlich, dass diese sich nicht nur leicht lösen lassen müssen, sondern auch zuverlässig halten: „Ein gut gemachter Knoten löst sich nicht, sosehr man auch daran zieht“ (408). Und so geht es nicht allein mit dem Beispiel vom Palstek, wohl dem bekanntesten aus der obigen Reihe von Knoten, sondern auch mit den anderen um solche, die zum Festmachen, Vertäuen oder Aneinanderbinden dienen. Aufschlussreich ist diese Beispielreihe aber auch, weil sich in ihr die Phänomenbereiche der Seefahrt und der bislang thematischen textilen Gewebe überlagern: „Rosenknoten, Schauermannsknoten oder Diamantknoten“ werden nämlich nicht nur auf Schiffen oder in der Seefahrt, sondern ob ihrer hübschen Form genauso als Zierknoten für Textilien verwendet. Außerdem handelt es sich um besonders komplizierte Knoten, in denen sowohl im materiellen, ihre Form betreffenden, als auch in einem weiteren Sinne viel zusammenkommt: In diesen wie beim Knoten im Allgemeinen „machen Hand und Auge sich daran, das Ferne mit dem Nahen zu verknüpfen, aus der einfachen Linie heraus ebene oder dreidimensionale, feste oder lockere, dichte oder spärlich besetzte Mannigfaltigkeiten zu erzeugen“ (410). Das Knoten wird hier nun als Modell der Erzeugung von Mannigfaltigkeiten im Sinne einer Verknüpfung des Fernen mit dem Nahen präsentiert, und das heißt sowohl des Fremden mit dem Eigenen und Bekannten als auch des Globalen mit dem Lokalen. Damit bekommt auch die paradigmatische Rede von der ‚Welt als Wäschehaufen‘ eine umfassendere, eben nicht zuletzt den Erdplaneten sowie seine Verkehrs-, Handels- und Informationsnetze meinende Bedeutung:

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Der Ort beginnt zu wuchern, dank ebendieses Elements, das ihn negiert, wenn es auf ökonomische Weise das Globale durchläuft. Er verbindet sich mit anderen Orten, von einem zum nächsten, wie die Halse zur Bouline geht und von dort zu der gesamten Besegelung des Schiffs, das auf dem Weg ans andere Ende der Welt ist. Durch ihre topologische Gestalt, ihre Reibung und Kraft schweißen die Knoten das Lokale und das Globale zusammen, klar und deutlich. (410)

Als Halse bezeichnet man nicht nur ein Wendemanöver, sondern auch bestimmte Taue, die, verknüpft mit der Bouline, einem langen und wiederum mit vielen kurzen gekoppelten Seil, zur Befestigung der Segel dienen und also das Schiff in Fahrt bringen – das Serres in einem späteren Text dann übrigens gleich als einen „riesige[n] Knoten“ vorstellt.11 Damit wird hier nun dem Knoten auch das alte Motiv des Aufbruchs zu neuen Ufern oder ins Ungewisse, anders gesagt, der Abenteuerreise zum „anderen Ende der Welt“ unterlegt. 1985, also kurz vor der Durchsetzung des World Wide Web und der medialen Digitalisierung, stellt Serres mit diesem Bild den und das Knoten nochmal als eine uralte digitale, sich nämlich von Fingern (lat. digitus) und handgreiflicher Praktik her zu verstehende Technik weltumspannender Verbindungen vor. Abstraktion als Komplexion: „konfuse Erkenntnis“ Insofern Gewebe sowie Knoten das Modell des Gemischs und der Mannigfaltigkeit liefern, und dabei anhand der Kulturtechniken des Webens, Knüpfens und Knotens profiliert werden, könnte man nun meinen, dass hier das Knoten und damit auch die Analyse als methodisches Verfahren zu verstehen sind, das als solches geregelt abläuft. Denn weder ein Teppich noch Seemannsknoten werden irgendwie oder chaotisch zustande gebracht, sondern unterliegen bestimmten Regeln, die man beachten muss, wenn man keine Masche auslassen, ein Loch im Gewebe oder einen schlecht gemachten Knoten haben will. Wie bereits deutlich wurde, geht es Serres allerdings weniger um jene geregelten Knoten und dazugehörige Kulturtechniken des Webens und Knüpfens von und nach bestimmten Mustern, die daher in seinen Beispielen gar nicht bedacht werden, sondern vielmehr um ungeregelte Verknotungen und Verstrickungen, eben um „Knäul“ und „Wirrwarr“, um die radikale Kontingenz der Gemische und Gewebe als „Zustand der Dinge“ in ihrer sinnlichen Gegebenheitsweise. Dabei ist es ihm mit dem am Paradigma des Knotens als handgreiflich-taktiles,

11 

cf. Serres 2015, 172: Was ist „ein Segelschiff anderes, als ein riesiger, fein geknüpfter Knoten?“.

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also spezifisch sinnenbasiertes Tun entworfenen Konzept von Analyse letztlich darum zu tun, zu einem neuen Begriff von Abstraktion zu gelangen: [D]as Gemisch und das Konzept der Mannigfaltigkeit [sind] der reichen, komplexen, lebendigen Sinneserfahrung ganz unmittelbar gegeben; unmittelbar gegeben und dennoch – das ist kein Paradox – abstrakter als die inversen, einfachen Operationen der Analysis, oder besser: später als das, was wir Abstraktion nennen. Die Sinneswahrnehmung verweist hier auf eine diffizilere, komplexere Abstraktion als die herkömmliche. Man könnte sagen: entweder verlangen die Sinne zu ihrem Verständnis eine neue Abstraktionsbemühung, die das zusammenfügt, was die Analyse trennt, oder der Fortschritt hin zu einem stärker zusammengesetzten Abstrakten führt zu Ergebnissen, die ihrerseits im Bereich der Empfindung oder der Sinne liegen. (226)

Die sinnliche Erfahrung wird – wie sich bereits mit der Haut als Verwobenheit der Sinne, ihrer spezifischen Qualitäten und Leistungen ankündigte – hier mithin selbst als Verknüpfungsleistung gedacht. Auch „die Sinnesorgane bilden Knoten“ (61), bringen Verschiedenes zusammen, wie denn auch der Körper ein hybrider „Flickenteppich“ ist: „Der Organismus bildet einen gigantischen Knoten“ (102), Konstruiert und Erfindet eine Kreuzung wie das Einhorn, und ebenso ist jeder Kontakt, jede Berührung eine unentscheidbare Vermischung oder Verschlingung, ein Hin und Her oder Durcheinander von Subjekt und Objekt, Innen und Außen, Empfindendem und Empfundenem, Welt und „ich“. Nur in der „Mischung […] gelingt das Sinnliche“ (77). Als Aisthetik entwirft die Philosophie der Gemenge und Gemische ein Denken mannigfaltiger Verknüpfungen, der Abstraktion als Komplexion oder Kon-Fusion, als eine „konfuse Erkenntnis“ (227). Wer sich darin üben will, muss sich den Beispielen stellen, zum eigenhändigen Knotenlösen und -knüpfen übergehen, mit der Haut, dem Tastsinn und Fingerspitzengefühl denken. Bibliographie Aristoteles, 1995: De Anima/Über die Seele. Hamburg. De Certeau, Michel, 1988: Kunst des Handelns. Berlin. Derrida, Jaques, 2007: Berühren, Jean-Luc Nancy. Berlin. Güsken, Jessica, 2019: Handgreifliche Beispiele in Michel Serres’ Philosophie der Gemenge und Gemische. In: z.B. Zeitschrift zum Beispiel, 2, pp. 13–34. Online frei zugänglich unter: https://doi.org/10.18445/20190201-124930-0. Harrasser, Karin, 2017a: Einleitung. In: dies. (ed.): Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns. Frankfurt/M., pp. 189–208.

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Harrasser, Karin, 2017b: Die Fabel der Arachne. Im Untergewebe taktiler Medialität. In: dies. (ed.): Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns. Frankfurt/M., pp. 189–208. Heller-Roazen, Daniel, 2012: Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls. Frankfur/M. Homer, 2009: Odyssee. Stuttgart. Kiening, Christian/Beil, Ulrich Johannes, 2012: Weben und Entweben. Homer, Odyssee. In: dies.: Urszenen des Medialen. Von Moses zu Caligari. Göttingen, pp. 37–54. Platon 2008: Politikos. Göttingen. Serres, Michel, 1985: Les cinq sens. Philosophie des corps mêlés. Paris. Serres, Michel, 1998: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/M. Serres, Michel, 2015: Der Naturvertrag. 2nd. edition, Frankfurt/M.

Das atomistische Zögern: Zu Michel Serres’ Philosophie eines objektiv Transzendentalen Vera Bühlmann Die Natur ist nur einmal da. (Ernst Mach) Die Natur ist doppelt verborgen. (Michel Serres) Der Gegensatz zwischen der Natur – Prinzip des unersättlichen Appetits – und der Gnade – Prinzip der unerschöpflichen Entsagung – erschließt sich aus dem Unendlichsein des Menschen und der Welt. ( Jean-Luc Nancy)

0.

Örtlichkeit einer Physik Aphrodites

„Die Natur ist nur einmal da“1 – dieses Votum von Ernst Mach vermag auf einen Ort zu verweisen, an dem wir dem Denken von Michel Serres auf neuartige Weise begegnen können. Wie ich im Folgenden ausführen möchte, geht es dabei um einen transzendentalen Ort, eine Art Örtlichkeit, die von Zeit ist (nicht nur in der Zeit). Serres versucht in vielen seiner Bücher, Natur in ihrer Bestimmtheit durch eine Physik der Kommunikation zu erschließen. Im Zentrum steht dabei immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Mathematik und Physik: Wir müssen in aller Konsequenz von Kommunikation als Physik sprechen, und von Physik als Kommunikation, so Serres, und das heißt auch, wir sollten der Mathematik (wieder) eine eigene Existenz zusprechen, die uns unabhängig von ihrer jeweils empirisch bestimmbaren Anwendbarkeit in der Physik als wertvoll gelten sollte. Serres spricht von virtuellen Welten (nicht Himmeln, oder Horizonten, oder Fundamenten), in denen Gleichungen, Algorithmen, Dreiecke und Polyeder, Sprache und die Musik, die Bilder, „leben“.2 Solche virtuellen Welten existieren in vielfacher Weise, so Serres, sie sind real, im Sinne von wirkungsvoll wie heiße Quellen („sources chaudes“): strahlend und 1  Mach 1897, 474. 2  cf. Serres 2019, 12–13.

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klar, aber auch brennend, konsumierend, energetisch. Mit seinem Begriff des objektiv Transzendentalen geht es um eine Architektonik dieser virtuellen Welten, und es geht darum, diesen Welten auch eine materielle Natur zuzusprechen, die, so will ich vorschlagen, als die Natur einer Allgemeinheit von Information gedacht werden kann: Information ist sowohl mathematisch (quantitativ-formal) wie auch physikalisch (von Magnitude, energetischmateriell) wie auch semiotisch (ausgestattet mit Arbitrarität, Codierung).3 Aber wie lässt sich dies denken? Realität und Rationalität lassen sich nicht aufeinander abbilden, und dennoch überbrücken solche Abbildungen in dem kontraktuellen Zusammenspiel, welches Serres den Naturvertrag nennt,4 das Verhältnis von Physik und Mathematik.5 Mathematik und Physik manifestieren sich in einer „Verhältnismäßigkeit“ die vertraglich bestimmt ist, aber der Begriff des Vertrags hier ist weder im Sinn eines sozialen Konstruktivismus zu begreifen, noch in direkter Folge einer Vorstellung von wissenschaftlichen Naturgesetzen. Denn das Maß wird dabei bezogen auf ein „objektives gemäßigt sein“ (die Definit-heit eines Objektes wird als objektive Moderatheit gefasst). Der Begriff der „Verhältnismäßigkeit“, um den es hier geht, ist immer schon durchkreuzt dadurch, wie die Zeit das in ihr wirkende „Maß“ affiziert: denn dieses geht, in seiner mathematischen Formulierung, sozusagen „mit“ der Zeit (nicht nur „durch“ die Zeit). Diese Vorstellung impliziert, dass mathematische Objekte einerseits als zeitlos (universell, abstrakt) gelten sollen, und andererseits in ihrem Status als Objekte aber immer nur zeitgebunden modelliert werden können. Ein Vorgriff auf Françoise Balibars Diskussion von Machs „Einmaligkeit“ als indefiniter Bestimmtheit, die im nächsten Abschnitt folgt, mag verdeutlichen worum es geht: Mathematics exists as such independently of physics and should not to be reduced to its application to physics. For those who take seriously the Galilean idea that the Book of Nature is written in mathematical characters, this implies that the range of mathematical objects which are said to be adequate to the description of Nature could (and ought to) be enlarged, extending outside the domain of univocal functions. This, in turn, ruins the idea that Nature is eindeutig bestimmt. From the end of the nineteenth century onwards, physics did evolve in that direction, enlarging its mathematical ‘toolbox’ to vectors, quaternions, tensors, matrices, numbers of all kinds, geometrical objects, n-dimensional spaces and so on, for which unique determination is not the rule, as is made obvious by consideration of vectors, a very elementary mathematical object.“6 3  cf. Serres 2018b. 4  cf. Serres 1990; dt.: Serres 1994. 5  Zu dem ich an anderer Stelle ausgeführt habe: cf. Bühlmann 2018a. 6  Balibar 2018, 23.

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Obwohl Serres’ Philosophie eines objektiv Transzendentalen, wie er es in seiner Physik der Kommunikation denkt, einem Realismus verpflichtet ist, gibt es darin noch einen metaphysischen Grund, eine Ratio. Doch der metaphysische Grund, um den es hier geht, ist einer, der nur begründen kann, wenn er verinnerlicht wird. Ich habe an anderer Stelle gezeigt,7 wie Serres das Begriffspaar Form und Materie neu fasst mit seiner Vorstellung eines „logiciél intra-materiél“, eine Art intra-materielle Software. ‚Hardness‘ gilt Serres dabei als Energie in großen Skalen (Thermodynamik, Entropie) und ‚softness‘ als Energie in kleinen Skalen (Informationstheorie, Negentropie). Sein Realismus akzeptiert die nicht vollständig demonstrierbare Setzung, dass große wie kleine Skalen von derselben physikalischen Natur, und dennoch kategorisch voneinander geschieden sind: geschieden durch Code, auf der Basis von Mathematik – wie im Topos von Galileis Buch der Natur, das in der Sprache von Mathematik verfasst ist. Was Galilei jedoch als Buch gilt (Mathematik als Sprache, wobei die Rolle von Code (respektive Software) hier transparent gesetzt ist, gilt Serres jedoch als Vertrag: artikuliert in explizitem Code, auf der Basis von Mathematik als Sprache und in empirischem Abgleich mit Natur (informationstheoretisch verstanden als „kommunikativ“). So ist es auch zu verstehen, dass die Objekte, gemäß Serres’ Transzendentalphilosophie, wieder Schatten werfen.8 Als harter Grund ist es ein unaufdringlicher und unwahrscheinlicher „Grund“, rar (seltener und seltsamer), und als weicher Grund (doux, soft) gibt er den Dingen Haltung. Als in seiner Seltsamkeit gegenüber einem entropischen Strömen erhalten, wobei dieses entropische Strömen als ebenso natürlich zu gelten hat wie das negentropische Erhalten. Serres gilt dieser rare, unwahrscheinliche Grund, der sich in der Natur als negentropische Haltung im entropischen Strömen manifestiert, als die Örtlichkeit einer Physik Aphrodites (der Schaumgeborenen), einer Physik der driftenden (schwimmenden) und sich aus der Verteilung sammelnden und organisierenden, natürlichen Körper.9 Serres schlägt damit nichts weniger als ein ethisches Selbstverständnis von Wissenschaft und Philosophie vor, in dem die Metaphysik als Disziplin ihre Rolle findet (im künstlerisch-sportlichen Sinn von man kann sich üben darin), ohne mit der experimentellen, empirischen, modernen Physik zu konkurrieren. Es geht darum, im Drang zum projektiven und spekulativen Übermut natürliche Quellen von objektiven Vermögen zu sehen, die es zu domestizieren und zu kultivieren gilt. Mathematik kann in diesem Selbstverständnis von

7  cf. Bühlmann 2020, insbesondere das Kapitel „Quantum Literacy“, 17–54. 8  cf. Serres 1992, 163–180. 9  cf. Serres 2018a, 41–44.

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Wissenschaft und Philosophie Mittel für Moderatheit und Sorgsamkeit, nicht für Sorglosigkeit, Dominanz, und Selbstgerechtigkeit sein. Das Interesse dieses Textes gilt also der Vorstellung eines Transzendentalen, in welchem die Bedingungen der Möglichkeiten nicht eine methodische Reduktion legitimieren müssen, sondern als Grundlage einer methodischen Reduktion dienen sollen, die darum bestrebt ist, ein Überquellen an Realität in Hinsicht auf deren Rationalisierung, ebenso wie ein Überquellen an spekulativer Rationalität in Hinsicht auf eine wahrnehmbare Realität, moderat aber sorgsam – angemessen, in einem offenen, herausfordernden Zusammenspiel begriffen – behandeln zu können. Es geht um eine Vorstellung des Transzendentalen, die sich für einen reichen intellektuellen Realismus und gegen die Armseligkeit von intellektuellem Stumpfsinn wendet. Ich möchte versuchen zu zeigen, dass Serres’ philosophisches Denken über eine Physik von Kommunikation bestrebt ist, eben solche objektive Transzendentalität begrifflich zu erschließen. Anders formuliert: sein Interesse an einem philosophischen Begriff der Kommunikation als Physik sucht danach, eine kritische Position ausgerechnet auf der „Grundlage“ von haltlosem Überfluss lokalisierbar zu machen. Ich werde im Folgenden versuchen zu zeigen, wie Serres, über die informationstheoretisch begründete Annahme eines Allgemeinen von Information, die mathematischen Bedingungen der Möglichkeit eines fortschreibenden Lesens dessen erörtert, was Galileo mit dem Topos der Natur als Buch eröffnet hatte. Die Allgemeinheit von Information, um die es hier geht, ist mathematisch-physikalisch fassbar als indefinite Bestimmtheit (Invarianz) von Entropie und Negentropie, Verhältnismäßigkeiten, deren Gesetzmäßigkeit in kontraktuellen Traktaten Erhaltungssätze über zig heterogene und polyvoke Skalen hinweg artikulieren soll. In der Vorstellung einer solchen üppigen Transzendentalität geht es um eine neue Verträglichkeit zwischen Geschichtlichkeiten, Moralitäten, und Naturen. 1.

Eindeutigkeit als indefinite Bestimmtheit

Beginnen wir noch einmal. Ernst Machs Votum, dass die Natur nur einmal da sei, soll also über einen scheinbar paradoxen Begriff von Eindeutigkeit als indefinite Bestimmtheit auf die spezifische Szenographie (eine Zusammenstellung von heterogenen Perspektiven) verweisen, in der wir dem Denken von Michel Serres begegnen. Wieso gerade Ernst Mach, und wieso gerade dieses Votum? In aller Kürze vorweggenommen: weil Machs Aussage, wenn man sie auf die gegenwärtige Physik (Quantenphysik) bezieht, einem Realismus das Wort redet, der sich dagegen verwehrt, Interpretation und Auslegung

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einem rein subjektiven Denken vorzubehalten. Die etwas beklemmende Tatsache, dass die Natur nur einmal da sei, drückt – zumindest in einer seiner Facetten – eine prinzipielle Unvergleichbarkeit oder Singularität aus. Die Quantenphysikerin Françoise Balibar hat in ihrem Vortrag an der Philosophy After Nature Konferenz in Utrecht (September 2014) diesen Begriff der Einmaligkeit in Machs Votum in seinen epistemologischen Implikationen erörtert.10 Machs Votum sei ihr in den Sinn gekommen, als sie darüber nachgedacht habe, ob das „after“ im Titel der Konferenz wohl räumlich oder zeitlich zu verstehen sei. Es ist ihr dabei zuerst ein Lied eingefallen mit dem Vers ‚Je cherche après Titine‘, ich suche nach Titine. Es ist in diesem Sinn, dass sie das Motto der Konferenz interpretiert hat: Philosophie, die nach der Natur sucht. Balibars Überlegungen dazu hat sie an Machs Satz, dass die Natur nur einmal da sei, ausgerichtet. Wie lässt sich dieser Sinn im Verhältnis zur Natur begreifen, so fragte sie in ihrem Vortrag, ohne die Natur zu einem Objekt des Begehrens, zum Objekt einer Jagd und einer Eroberung zu machen. Balibars Erörterung von Machs Votum plädiert in ihrer Schlussfolgerung dafür, nicht Eindeutigkeit als Eigenschaft der Natur nachweisen zu wollen, sondern umgekehrt, wenn wir von Natur reden, von ihrer Unbestimmtheit auszugehen. Was wir aus der Physik des zwanzigsten Jahrhunderts – deren elementarste Ebene nicht mehr die klassische (Newton’sche) Dynamik und auch nicht die Wärmelehre mit ihren Balancen ist, sondern die Quantenphysik – zur Kenntnis nehmen müssen, so Balibar, sei, dass „determinations appear to be more and more often not univocal; which does not mean that they can be anything, or that ‚everything goes‘, only that ambiguity and plurivocity, Unbestimmtheit, are in Nature itself“.11 Gerade dann, wenn wir am Geist des Mach’schen Realismus festhalten wollen, der die Unvergleichbarkeit von Natur vor der Vereinnahmung einer idealisierten (und akademisch sterilen) Trennung in subjektives (Ver-)Kennen versus objektiver (Er-)Kenntnis zu schützen sucht, gilt es zu lernen, mit der Fülle der Implikationen dieser Tatsache zurechtzukommen. Gerade um dies weiterhin leisten zu können, müsste der Mach’sche Begriff der Eindeutigkeit überwunden und gleichzeitig in seiner Mächtigkeit bewahrt werden – er müsste gewissermaßen in gestülpter Weise, invers, erschlossen werden: die Eindeutigkeit von allem was sich normal, gewöhnlich, regelmäßig und unauffällig ereignet, müsste einer solch inversen Erschließung zufolge vor dem Hintergrund einer genuinen Unwahrscheinlichkeit entziffert werden.

10  11 

Balibar 2018. ibid., 26.

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Vera Bühlmann ‘Unbestimmtheitrelationen’ is the name given by Heisenberg in 1927 to inequalities characterizing this new state of affairs. It was translated into French as ‘relations d’indétermination’, without taking into account (or ignoring?) that ‘détermination’ (along with indétermination, its antonym) translates as both Bestimmtheit (a state of affairs) and Bestimmung (an action dedicated to improving the state of affairs). Since physicists, who ‘naturally’ tend to adopt an operational point of view on their own discipline, identify it with measurement, ‘indétermination’ was understood in French laboratories as horresco referens, the impossibility of measurement (the univocity of which was considered as a synonym of precision) – in other words, the end of physics. It took some years until it was eventually realized that multiple results in measuring do not put an end to the investigation of Nature. To the contrary.12

Objekt des Staunens und Antrieb für die wissenschaftliche und philosophische Neugier wäre dann nicht das Besondere, das Flüchtige und Singuläre, das, was gut begründete Erwartungen durchkreuzt, sondern vielmehr das Regelmäßige; weil es offensichtlich ein bestimmtes Bündnis, eine in bestimmter Weise artikulierte Verträglichkeit jener Unbestimmtheit verkörpert, die der Natur eigen ist. Eine solche Vorstellung von Eindeutigkeit als indefinite Bestimmtheit lässt sich gewinnen, wenn man die Balibar’sche Unbestimmtheit der Natur nicht als Fehlen von Ordnung, Regel und Beständigkeit denkt, sondern als föderative Verfasstheit dieser Unbestimmtheit in Mathematik als eine Art Sprachlichkeit des Objektiven. Es ist in dieser Hinsicht, dass wir in Machs Votum die Szene einer überraschenden Begegnung mit Serres’ Denken erkennen können. Ich gehe hier davon aus, dass sich Michel Serres speziell in Le contrat naturel (1990) oder La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce (1977) mit eben dieser epistemologischen Situation auseinandersetzt. Serres sucht danach, wie sich die Einmaligkeit von Natur auf der Grundlage ihrer Unbestimmtheit als Realitäts- und Orientierungsprinzip für ein Wissen anbietet, das föderativ gedacht und über Bündnisse als Verträglichkeit konstituiert ist. 2.

Kapitale Objekte und die bedingte Allgemeinheit von Information

Michel Serres behauptet mit seinem Interesse an einer natürlichen Allgemeinheit von Information, zumindest implizit, auch eine spezifische Geschlechtlichkeit von Information. Wie lässt sich das denken? Die Allgemeinheit von Information gilt ihm als Örtlichkeit einer objektiven Transzendentalität. Alles hängt also davon ab, wie diese Objektivität gedacht werden soll – nämlich nicht als „Eigentlichkeit“, sondern als „Hautpsächlichkeit“. Serres behauptet 12 

ibid.

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mit seinem Begriff des objektiv Transzendentalen, im wörtlichen Sinne von „behaupten“, eine Hauptsache: „Le capital, réel, ultime, est le soleil.“13 Dieses kapitale Objekt allerdings – diese Haupt-Sache – gilt ihm weder als unendlich noch als absolut: es gibt davon, am Nachthimmel, „billions of glorious, colorful, and modest suns“,14 die alle von der Geschlechtlichkeit einer Natur sind (denen also eine Allgemeinheit zukommt) und zwar in dem Sinne, als dass sie „geboren“ sind und „sterben“ können. Serres denkt seinen Naturbegriff damit nicht nur auf der Höhe gegenwärtiger Astrophysik (welche das Alter der Sonnensysteme, der Galaxien, des Universums bestimmt), sondern auch als eine geschlechtliche Natur die gleichzeitig universell und bedingt ist. Die Einmaligkeit dieser Natur ergibt sich für ihn aus der überquellenden und unerschöpflichen Unbestimmtheit ihrer eigenen Geschlechtlichkeit. Doch mit den vielen Sonnen als objektive Quellen dieser Unbestimmtheit gewinnt Serres eine Vorstellung von universeller Natur, die dennoch nicht als unbedingt erachtet werden muss – denn anstatt einer (idealisierten, ikonischen) objektiven Quelle von Natur erkennt Serres in den Sonnen des Universums zahlreiche objektive Quellen. Diese Bedingtheit des Allgemeinen aber kann nun nicht die Regelmäßigkeit (Formalität) der realen Dinge erschließen, sondern deren Seltsamkeit. Serres macht keinen Unterschied zwischen natürlich und künstlich, zwischen Ding und Artefakt, es gibt für ihn keine reinen, keine verbesserten oder korrupten Dinge; vielmehr interessiert ihn jedes Ding in der genuinen Unwahrscheinlichkeit seiner Existenz.15 Diese unwahrscheinlichen Körper der realen Dinge sind offen, porös und perkolativ, sie speichern und organisieren bei Serres eine Ökonomie im Überfluss von solarer Energie; anders als Bataille, der ebenfalls von der Sonne als faktisch unerschöpfliche Energiequelle für das Leben auf der Erde ausgeht, will Serres keine „generelle Ökonomie“ entwickeln;16 das 13  14 

15  16 

Serres 1980, 309; dt.: Serres 1981, 263: „Das wirkliche, letzte Kapital ist die Sonne.“ Serres 2018b, 18. Die gesamte Passage lautet: „The gap between day and night spells the difference between cruel ideology and just knowledge that is right, evident, multiple, precise and ever evolving. Shimmering with the brightness of billions of glorious, colorful, and modest suns, the night with its countless truths resembles the high cave and its shining gems.“ Serres übernimmt diesen Begriff aus der Einleitung von Monod 1971; cf. dazu auch Serres’ Besprechung von Jacques Monods „Seltsamen Objekten“ in seinem Aufsatz „Leben, Information. Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik“ (Serres 1992, 53–96). Bataille spricht selbst von einer „économie générale“ (Bataille 2015). Die deutsche Übersetzung (Bataille 1985) gibt dies aber als „allgemeine Ökonomie“ wieder. Darin zeigt sich die interessante Situation, dass ein Äquivalent für das deutsche Wort „allgemein“ im Französischen nicht geläufig ist: hier kontrastieren sich „générale“ (im Sinn von formalanalytisch) und „universell“ (im Sinn von metaphysisch), während im Deutschen dieser

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quellende Umströmen der Erde von solarer Strahlung gilt Serres nicht als Exzess, als ein Zuviel, das ein terranes, internes Gleichgewicht quasi von außen beständig durcheinander und aus der Balance bringt. Serres versucht, Statik als Unterart von Kinetik zu begreifen, nicht umgekehrt Gesetzmäßigkeiten der Kinetik aus einem Begreifen von Statik herzuleiten (wie es Bataille tut, dem der primäre solare Energie(über)fluss relativ zum Naturhaushalt der Erde als sekundärer Exzess gilt). Die perkolativen Körper der wirklichen Dinge unterhalten eine Ökonomie die bündnisstiftend, föderativ, ist, und die in ihrer Verträglichkeit als explizit artikuliert gefasst werden kann. Serres’ Denken spricht Gleichgewicht und Ausgewogenheit keine Idealität zu. Er fragt nicht danach, wie es wiedergefunden werden könnte; er fragt danach, wie sich Gleichgewicht und Ausgewogenheit überhaupt aus einer unentschiedenen Üppigkeit herausbilden kann. In La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce (1977) erklärt Serres, die moderne experimentelle Wissenschaft hätte in einem entscheidenden Punkt falsch gelegen: als sie nämlich der klassischen Antike (Platon, Aristoteles) gefolgt sei in der Annahme, dass in der wissenschaftlichen Physik und deren Verständnis von Natur (als definit bestimmte) die Geometrie je geboren werden könne. Das Experiment, das in der modernen Physik die Geburt der Geometrie „vollzieht“, sieht in der verstandenen Natur die aus der Idealität wirklich gewordenen – geborenen – geometrischen Körper. Erst in der so gemeisterten Natur können die Körper als regelmäßige, und in ihrer wissenschaftlichen Reinheit als Fall der klassischen (Newton’schen) Mechanik begriffen werden. Auf der Basis so verstandener Objektivität hat die Physik des 18./19. Jahrhunderts angefangen, alle Dinge in Hinsicht auf ihre sogenannte Homeostasis zu untersuchen, jenen Gleichgewichtszustand, welchen ein Ding in seiner entropisch unentschiedenen Regelmäßigkeit verkörpert. Dinge in Hinsicht auf ihre Homeostasis zu kennen, hieß, sie als in einen Stand gesetzt zu erfahren, in dem sie sich selbst zu erhalten in der Lage sind. Mit der Aufrechterhaltung ihres homeostatischen Gleichgewichts, so war die Vorstellung, vermögen die Dinge – zumindest in gewissem Rahmen – ihrer Vergänglichkeit zu trotzen. Im Ideal markierte das allgemeine Objekt dann keinen mechanischen Fall mehr, „dritte“ Ausdruck (allgemein) das Verhältnis zwischen Form und Universalität anders aufspreitzt, und zwar auch in der Umgangssprache. In meinem Verständnis argumentiert Bataille aber deutlich formalistisch/mengentheoretisch, und nicht kategorientheoretisch (er spricht von einem „Exzess“ der Sonnenenergie anstatt schlicht von einer „Fülle“, was die Frage nach der Maßgabe/Moderatheit, durch die etwas als ein Überfluss erscheint, unproblematisiert lässt). Ich distanziere mich deswegen von der deutschen Übersetzung, die seine „économie générale“ als „allgemeine Ökonomie“ widergibt, ohne dies an dieser Stelle detaillierter argumentieren oder ausführen zu können.

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es wäre in seiner reinen Regelmäßigkeit ein nackter ausgewogener, wenn auch unentschiedener dynamischer Körper (unentschieden weil sich die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts nur stochastisch annähern lässt und die Stochastik mit der reversiblen Zeit Newtons rechnet). Das allgemeine Objekt wäre eines, das aus Wissen erzogen und gebildet, statt durch Erkenntnis erzeugt wird. Ein solches Objekt könnte sich selbst Halt geben, also zu einem Fall werden, der sich selbst erhält. Der erste Hauptsatz der Thermodynamik, der Erhaltungssatz der Energie im Universum, scheint just eine solche Vorstellungswelt nahezulegen. Gleichzeitig widerspricht einer solchen Vorstellungswelt jedoch der zweite Hauptsatz. Dieser formuliert die Beobachtung einer Gerichtetheit von Zeit, welche nach einer homogenen Gleichverteilung von Wärme strebt und deren Zeitlichkeit nicht reversibel ist. Der zweite Hauptsatz hat eine zunehmende Auflösung von Ordnung zur Folge: „The world is mortal. This is thermodynamic time: of heat, weight and of flows […]. This is the drift towards […] dissolution. We call this the second law of thermodynamics.“17 Der zweite Hauptsatz öffnet jeden als bereinigt verstandenen allgemeinen Zustand (Homeostasis) wieder auf ein Fallen hin, auf einen Hintergrundstrom (Homeorhesis), der lokale Gleichgewichte absorbiert und mit sich fort reißt – er verweist auf die prinzipielle Entropie, der gemäß alles unentschieden ist in dem Sinne, als dass jeglicher nächster Entwicklungsschritt als gleichwahrscheinlich zu gelten hat. Die thermodynamische Entropie ist eine Unordnung, die nicht Abwesenheit von Ordnung bedeutet, sondern die unentschiedene Gleichzeitigkeit von jeglicher Ordnung mit jeglicher Ordnung.18 Mit dem zweiten Hauptsatz geht ein Fallgesetz wieder jedem Erhaltungssatz voraus. Serres trägt dem Rechnung: „Homeostasis is a local exception to global homeorrhesis“.19 Doch es ist nicht mehr das mechanische Fallgesetz; das Fallen ist zwar immer noch eine Notwendigkeit, aber die Notwendigkeit ist fortan keiner Vorbestimmtheit mehr unterworfen, sondern einer Vor-un-bestimmtheit: dem prinzipiellen, entropischen Zufall. Wenn Serres insistiert, dass die Geometrie, anstatt in einem unkörperlichen Logos (Metaphysik) oder in einer experimentellen 17  18 

19 

Serres 2018a, 153. Dies ist ein Kerngedanke dieses Vorhabens, Aktualität als eine Örtlichkeit zu denken, die sich, inchoativ, aus Begehren nährt: es gilt, diese Örtlichkeit über die operationale Entropie einer Homeostasis (Entropie als Maß) zu denken, nicht Entropie im prinzipiellen Sinn der thermodynamischen Hauptsätze (Invarianz der Gesamtenergie im Universum als Annahme der Theorie). Mit dem Prinzip der Entropie als Maß steht dem Pol des Begehrens, dem Überflussprinzip in Serres’ Physik Aphrodites, der Gegenpol einer Moderatheit, also wörtlich ein Beschränkungsprinzip, gegenüber. ibid., 5.

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Praxis (Physik) geboren zu werden, überhaupt nie geboren werden kann, so sichert er damit für die Lehre, die er befördern will (die Geburt der Physik, statt die Geburt der Geometrie), dass es eine Geometrie des objektiven Zufalls geben kann, und dass sich somit eine mathematische Vorstellung von Originalität und Herkunft gewinnen lässt, die weder aufhört anzufangen noch zu enden (inchoativ). Es kann, so Serres, eine Geometrie des Zufalls geben, genau weil seine Ur-sprünglichkeit nicht eine mythische Personifizierung sein muss, sondern weil es eine Mathematik dafür gibt. Geometrie, in der Mathematik des Zufalls (Wahrscheinlichkeitsrechnung), ist das, was Rechnung tragen kann. Zufall ist für Serres objektiv. Er kann uns als eine Unordnung gelten, die durch ein Zuviel statt durch einen Mangel an „Ordnung“ entsteht: durch die Gleichwahrscheinlichkeit von jeglicher Ordnung. Die Geometrie kann für Serres prinzipiell nicht geboren werden, weil sie reine Verhältnismäßigkeit ist, Metrizität in jeglicher Anwendbarkeit. Der Geometrie ist es aber zu verdanken, dass die Physik als Geschick und Geschick als Geschichte in der zufälligen Regsamkeit von Natur geboren wird, wirklich wird. Das ist Serres’ transzendentale Bedingtheit des behaupteten (kapitalen) Objektiven. Die Natur gilt ihm nicht als die regelmäßigen Körper der geborenen Geometrie, sondern als die Vor-un-bestimmmtheit der entropischen Regsamkeit des Zufalls. Ein Fallen, das sich in den erhaltenden Sätzen der Mathematik formuliert, schließt Regelmäßigkeit nicht aus, sondern umfasst – diskret, aufzählbar, als probabilistisches Alphabet (darauf werden wir ausführend zurückkommen) – ein lärmig quellendes Zuviel davon. Deswegen gilt Serres die Natur der realen Dinge als seltsam im Sinne von genuin unwahrscheinlich, gerade aufgrund (und nicht entgegen) ihrer Allgemeinheit und Regelmäßigkeit als prinzipieller Katarakt. Die Kritizität von Serres’ Transzendentalphilosophie muss erklären, wie sich aus der turbulenten Spannung zwischen dem allgemeinen Gesetz des zufälligen (vor-un-bestimmten) Fallens – dem Katarakt, wie Serres sagt – und den gegenläufigen Erhaltungssätzen dieser „aphrodisischen“ Physik, die den Fall in lokale „Intimitätsverhältnisse“ aufheben, spezifische Ordnungen als harmonische Gleichgewichte herauszubilden vermögen, die sich für eine gewisse Zeit erhalten können. Serres fasst im Zusammenspiel beider Hauptsätze der Thermodynamik die Mach’sche Einmaligkeit von Natur als Realitätsprinzip. Es gilt, ihrer Unvergleichbarkeit Rechnung zu tragen im Sinne einer universellen und kommunikativ-materiellen anstatt einer generellen und formalen Ökonomie. Rechnung tragen heißt hier, dass sich Rationalität und Realität erfinderisch miteinander vertragen müssen. Es heißt, dass Wissenschaft und Philosophie um eine Verträglichkeit bemüht sein müssen, um die sie sich immer werden bemühen müssen. Auf den dafür konstitutiven Begriff eines „atomistischen

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Zögerns“ komme ich im letzten Paragraphen in einer näheren Besprechung zurück. Eine universelle Ökonomie muss Rechnung tragen dafür, dass alles von Natur aus im Fall ist, aber nichts geradlinig fällt, sondern gemäß einer Vielzahl von spiralförmigen und diskreten Folgen der Generationen: was fällt, ist geboren, erhält sich temporär, und was geboren ist, kehrt wieder zurück in den universellen Fall. Serres Begriff der foedera naturae formuliert die Vorun-bestimmtheit des thermodynamischen Zufalls, ebenso wie der klassische foedus fati die Vor-bestimmtheit eines metaphysischen, geschickten Falls zu fassen bestrebt war. Ohne Beugung und Abweichung von Geradlinigkeit gibt es nur die Gesetze des Schicksals, für Serres gleichbedeutend mit rationalen Ordnungsketten welche Irrationalität (mathematische Unendlichkeit) auszuschließen suchen – „The new is born of the old, the new is just the repetition of the old,“20 und weiter: This is the foedus fati: it is indeed the law in the sense of physics, it is how things are; it is also the law in the sense of dominant legislation: they want things to be that way. […] Nothing new under the reign of the same and under the same reign, conserved. Nothing new and nothing to be born, no nature. This is death, eternally. Nature put to death, its birth unwanted. The science of this is nothing. It is calculably nothing. Stable, immutable, redundant. It recopies the same writings, with the same atom-letters. The law is the plague. Reason is the fall. The reiterated cause is death. Repetition is redundancy. And identity is death. Everything falls to zero: the null point of information, the emptiness of knowledge, non-existence. The Same is Non-Being.21

Ganz anders die Verträglichkeit mit einer Natur, um die man sich beständig bemühen muss: „The angle heals the plague, breaks the chain of violence, interrupts the reign of the same, invents the new reason and the new law, foedera naturae, engenders nature, as it really is.“22 Ein foedus ist der Traktat eines Bündnisses, „a treat of alliance“.23 Theorie, wenn sie das Seltsame der realen Dinge studiert, hat nur ein Objekt, das von objektiver Transzendentalität ist: diesen Traktat, den sie beständig, listig und immer wieder neu zu formulieren und zu artikulieren sucht. Der theoretische Traktat fasst das Ensemble von Relationen, ohne die nichts geboren werden oder existieren könnte, als Reservoir oder Speicher; diese Relationen – „The simplex, as one says in combinatory topology; the bond, as one says in chemistry, the interaction,

20  21  22  23 

ibid. ibid., 134. ibid. ibid., 138.

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as one says in contemporary physics“24 – sind konstituiert aus „conjuncta“, für die Serres eine informationstheoretische Definition anfügt: „Conjunction is negentropy“25 und: „What is conjoined to a body is of such a nature that the other body will be destroyed if it is disjoined.“26 Serres unterscheidet coniuncta von eventa, wobei er mit eventa flüchtige Erscheinungen meint, die sich sogleich wieder in den entropischen Strom verlieren, ohne Stand zu halten. Coniuncta sind demgegenüber Erscheinungen, die anfänglich zwar ebenso flüchtig sind, die sich aber zu erhalten vermögen – sie bilden Taschen oder Inseln der Negentropie im entropischen Strom: The Lucretian world is entropic globally, and negentropic within pockets of vortical movement. Conjunction is negentropy, and the resulting complexity registers the quantity of information given over to the drift. The event that hardly takes place before it is immediately undone gives minimal resistance to the irreversible flow and bears little information.27

Negentropie ist ein Begriff, der von Erwin Schrödinger eingeführt worden ist,28 und der – ähnlich wie die negativen Zahlen hinsichtlich der positiven – das Negative zu einem positiven Maß an Entropie bezeichnet; ein positives Maß an Entropie lässt sich nur hinsichtlich von Teilbereichen des Universums angeben (die prinzipielle Menge der Energie im Universum insgesamt ist unbekannt, man operiert mit ihr lediglich unter der Annahme, dass sie invariant sei). Folglich ist auch die negative Entropie immer relativ zu diesen Teilbereichen gedacht, in denen die Entropie keine prinzipielle, sondern eine operationale, modellierende Rolle spielt. Schrödinger hatte den Begriff eingeführt, um das thermodynamische Denken für die Biologie zu erschließen, die ja keine geschlossenen Systeme kennt (wie sie die Physik vor dem Quantenparadigma für sich vorausgesetzt hatte). Die Biologie braucht einen offenen Systembegriff, Organismen können sich als Metabolismus für eine beschränkte Zeit erhalten, indem sie mit ihrer Umwelt im Austausch stehen. Negentropie war für Schrödinger diejenige Energie in der Umwelt eines Organismus, welche dieser aus ihr aufnehmen kann: ein Organismus ist ein Organismus, solange er aus seiner Umwelt freie Energie kapseln und für sich verwerten kann. Eine Lebensform ist also negentropisch, während die für sie spezifische Entropie die homeostatische Ordnung seiner Organizität bezeichnet. Das Streben eines 24  25  26  27  28 

ibid., 137. ibid., 150. ibid., 146. ibid., 150. Schrödinger 1944.

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Organismus zum Tod gibt ihn schließlich dem entropischen Strom der universellen Natur zurück, in der sich seine biologische Spezifik wie seine natürliche Einzigartigkeit (Individualität) in formlose Partikularität auflöst. Solange er lebt, importiert ein Organismus freie Energie, und erhält dadurch die von ihm verinnerlichte (organisierte) negative Entropie als metabolisierender Körper. Es ist diese Unterscheidung in freie und gebundene Energie, negative und positive Entropie, welche Claude Shannon, Warren Weaver und Norbert Wiener für ihre Begründungen der Informationstheorie übernommen haben, um das Verhältnis einer Botschaft (in Analogie zu einer Lebensform) in einem Verhältnis zu einer „Umwelt“ zu modellieren (die Umwelt figuriert als Kanal).29 Dabei sind Shannon und Wiener verschiedenen Paradigmen gefolgt: Shannon ist dem physikalischen Modell gefolgt und hat eine Botschaft als geschlossenes System gefasst, welches durch eine „Umwelt“ (Kanal) lediglich transportiert werden sollte, während Wiener dem biologischen Modell gefolgt ist und die Botschaft als offenes, metabolisierendes System dachte, welches durch Kommunikationstechnik künstlich kontrolliert werden könnte – es ist dieser biologische Ansatz, welcher ihn anspornte, die mathematische Informationstheorie in Richtung einer neuen universellen Wissenschaft alias Kybernetik zu entwickeln.30 Zahlreiche Missverständnisse über das, was unter dem Begriff der „Information“ zu begreifen sei, resultieren aus dieser Entscheidung. Wichtig für unseren Kontext ist zweierlei: (1)

Der physikalische Zugang von Shannon verkürzt die in der Thermodynamik als indefinite Invarianz gefasste universelle Entropie (das Möglichkeitsspektrum der Natur, in welchem jede mögliche Entwicklung gleichwahrscheinlich, und insofern unentschieden ist; was wir oben die Vor-un-bestimmtheit, den entropischen Zufall, genannt haben) und fasst sie nun in abgeschlossener und definiter Weise, indem er sie als neutralen Kommunikationskanal modelliert – als ob ein Kanal eine Miniatur der (Newton’schen) Vorstellung des Universums als leeren Behälterraum wäre. Damit fällt dieser Zugang hinter das eben im Entstehen begriffene Paradigma von Quantenphysik und Probabilistik in einen klassischen Laplace’schen Determinismus zurück, für welchen (probabilistische) Mehrwertigkeit (cf. Balibars Besprechung von Machs Votum, dass die Natur nur einmal da sei31) lediglich die subjektive Unzulänglichkeit von

29  30  31 

cf. für eine detaillierte Argumentation Bühlmann 2018b. cf. Wiener 1961. Balibar 2018.

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menschlichem Erkenntnisvermögen bezeichnet, während in Wirklichkeit die Natur stochastisch, in ihren kombinatorischen Möglichkeiten, als vollends bestimmt angenommen wird. (2) Wieners biologischer Approach macht zwar einen Unterschied zwischen Probabilistik (die immer je charakteristische Elemente annehmen muss und dessen Kombinatorik lokale Zusammenspiele von Synthesis und Analysis gliedert) und Stochastik (welche immer partikuläre Elemente annimmt, und somit in einer globalen und uniformen Kombinatorik aufgeht). Er setzt aber Information mit der Energie negativer Entropie gleich und kann keinen Zugang zu einer evolutionstheoretischen Biologie erschließen; erst die molekulare Mikrobiologie, und später die Genetik, schafft dies – und zwar indem sie Information gerade nicht auf Energie reduziert, und den Kanal auf eine Umwelt, sondern indem sie eine Ebene des Codes als Vermittlung zwischen Information und Energie ins Zentrum stellt. Serres’ Begriff einer Allgemeinheit von Information als indefinite Bestimmtheit (Invarianz) von Entropie und Negentropie Verhältnismäßigkeiten trägt diesen beiden Unzulänglichkeiten der Väter der Informationstheorie Rechnung. Er folgt dabei insbesondere dem Quantenphysiker Léon Brillouin, der die Prinzipien des Codierens in der Informationstheorie herauszustellen begann, die bei Wiener und Shannon noch implizit waren.32 Die technisch etablierund kontrollierbare Kapazität von Kanälen wird bei Brillouin (und Serres) nun auf crypto-analytische Prinzipien des Codierens hin verallgemeinert, und führt in der Konsequenz dazu, dass jede Information, die empirisch gewonnen wird (will hier heißen: jede Messung), ihren (Code-spezifischen) Preis hat: „We cannot get anything for nothing, not even an observation“, so zitiert Brillouin das damals skandalös wirkende Fazit von D. Gabor, und fügt hinzu: „[I]t is very surprising that such a general law escaped attention until very recently“.33 Das Gewinnen von Information hat nicht nur seinen Preis, es ersteigert auch seinen Gegenwert: eine Steigerung (oder ein Verringern) der Geschicklichkeit, die sich, mit Serres gesprochen, im theoretischen Traktat als Ensemble von Relationen formulieren lässt, aus denen sich Bündnisse – foedera naturae – formulieren lassen. Diese Relationen, so haben wir gesehen, fasst Serres als coniuncta. Wir können jetzt verstehen, was er meint, wenn er für sie eine informationstheoretische Definition anfügt: „Conjunction is

32  33 

cf. Brillouin 2013. Hier zitiert nach Brillouin 2013, 168.

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negentropy“34 und: „What is conjoined to a body is that which is destroyed if it is disjoined.“35 Wenn jedes wirkliche Ding zwar energetisch betrachtet aus Partikeln bestehen mag – ein Haus ist ultimativ gemacht aus einem Haufen Staubkörner – so bildet die Negentropie der Information, welche die Theorie in ihren Traktaten formuliert, die Reservoirs an coniuncta, Reservoirs von dem, was unser seltsames Objekt (das Haus) als seltsames Objekt ausmacht, und von dem nichts mehr da wäre, wenn man von ihm alles Charakteristische, bis auf die Nacktheit seiner energetischen Partikularität, abziehen würde. Jede Spezifik dieses Hauses (seine Normalität wie seine Seltsamkeit) würde sich in die entropische Un-vorher-bestimmtheit seiner (regelmäßigkeits-übervollen) Zufälligkeit auflösen. Der Preis von Information ist, dass man für sein seltsames Objekt, das man studiert, etwas von dessen unwahrscheinlicher Seltsamkeit bezahlen muss (entropische Un-vorher-bestimmtheit), und für diesen Preis einen Gegenwert an Vorbestimmtheit, Normalität, Vergleichbarkeit, Verträglichkeit, Bestehen, und Spezifik ersteigert. Ein theoretischer Traktat als ein Verträglichkeit stiftendes Bündnisdokument, welches die Relationen eines Dings speichert, die das Ding zum Objekt machen, Relationen die föderativ, aus conjuncta (aus Information, Negentropie) konstituiert sind, ein Bündnisdokument also das ständig und unbeschränkt neue coniuncta aufzunehmen in der Lage sein muss, weil neue Verbindungen sich entwickeln, denen in der Theorie erfinderisch Rechnung getragen werden muss – damit umreißt Serres einen Begriff von Wissen, der in der Tat eine kritische Position ausgerechnet auf der „Grundlage“ von haltlosem Überfluss lokalisierbar macht. Er nennt diese „Grundlage“ auch das transzendentale Objektive, oder in seinem Buch über Leibniz, le géometral, und fasst dieses architektonisch als Ichnographie.36 Als a priori begreift er die Anzahl von Fällen, die in entropischer Hinsicht gleichwahrscheinlich sind (seine Homeostasis), und aus deren Reservoir jedes Objekt nur eine bescheidene Auswahl verkörpern wird. Die Anzahl dieser Fälle wird vom Code festgelegt, wobei jedes finite System an geordneten Elementen (wie beispielsweise der Morsecode, das römische Alphabet, die Elemententafel in der Chemie, das Dezimalsystem zur Notation von Zahlen oder die DNA in der Molekularbiologie) als Code gilt, der eine Ichnographie für das transzendentale Objektive konstituiert. Jeder Code ist diesem Verständnis nach ein abstraktes diskretes System, das mathematisch modelliert werden kann (und muss), und in dem es immer eine 34  35  36 

Serres 2018a, 150. ibid., 146. cf. zu Serres’ Theorie eines Transzendentalen Objektiven auch die Studie von Anne Crahay (Crahay 1993).

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Vielzahl an möglichen deduktiven Pfaden gibt,37 die sich nur experimentell, nicht rein formal und analytisch, gewichten und ermessen lassen. Der Systembegriff ist hier kein logischer (formaler), sondern ein mathematisch modellierter: er muss beständig, immer wieder situativ, jedes Mal in dem er zur Anwendung kommt, validiert werden. Es ist somit ein Systembegriff, so erörtert Serres in seinem methodologischen Hauptwerk Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, welcher das Infinite als eine Magnitude, als „Infinitude“38 begreift, Ordnung immer nur als mathematisches Modell fasst, eine Ordnung die „comme une échelle“ [wie eine Leiter] aus einer Vielzahl an Ordnungen besteht, Ordnungen, die hergeleitet werden müssen „par infinité d’infinités infiniment répliquée“ [durch eine Unendlichkeit an unendlich replizierten Unendlichkeiten].39 In einem solchen Bündel an Ordnungen, so Serres, sind Aussagen (énonciations) allgemein und konservieren eine Analogie, gefasst als das entropische Vermögen eines Codes, indem dieser als diskrete Multiplizität des Systems erachtet wird. Hier liegt der Grund, warum ein mathematisches System (das immer ein mathematisches Modell ist) eine irreversible Zeit impliziert, die fortschreitet, die aber in indefiniter Weise fortschreitet als Leiter, die aus einer Vielzahl an Ordnungen besteht – „par infinité d’infinités infiniment répliquée“ [durch eine Unendlichkeit an unendlich replizierten Unendlichkeiten].40 Die Stufen dieser Leiter werden reguliert von „lois de liaison un-multiple, fini-infini, qui valent de manière multivalente pour la perception, la liberté, la connaissance, la création, le souvenir, etc., et qui sont à l’oeuvre aussi dans le modèle mathématique.“ [Verbindungsgesetzen der Art eines-multiples, finites-infinites, Verbindungsgesetze, die in mehrwertiger Weise gelten für die Perzeption, die Freiheit, die Erkenntnis, das Schöpferische, die Erinnerung etc., und die auch am Werk sind im mathematischen Modell.]41 In Serres’ Transzendentalphilosophie kommt der Mathematik eine doppelte Rolle zu, die nur über die informationstheoretische Theorie des Codierens, vor ihrem Hintergrund der thermodynamischen Naturgesetze und deren Überführung in die Quantenphysik als verallgemeinerte Erhaltungssätze (Emmy Noether42), verständlich wird: sie ist bestimmend in einer Weise, die mit einer Un-vorher-bestimmtheit rechnet und in ihren Bestimmungen des Objekts ein Maximum an dessen entropischer Un-vorher-bestimmtheit zu konservieren bestrebt ist. Die Mathematik ist damit vollständig freigestellt aus dem Diskurs 37  38  39  40  41  42 

cf. Serres 1968, 10sqq. Serres 1968, 37: „[L]e sens d’ordre d’infinitude“. ibid., 37sq. ibid. ibid., 38. cf. Kosmann-Schwarzbach 2011.

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um Ursache und Wirkung, statt dessen verfahren ihre Bestimmungen über das, was Serres einen Parallelismus zwischen Strukturen nennt, den das mathematische Modell verkörpert, als Modell der kausalen Relation zwischen Grund und Effekt43: Jede Bestimmung muss ins Profil gesetzt werden mit jeglicher anderen möglichen Bestimmung, so kann die Unvergleichbarkeit von Einmaligkeit (der Realismus, dem Serres verpflichtet ist) bewahrt werden. So kann Serres’ Begriff des Systems, welcher die Erhaltung seines invarianten Vermögens auf verträgliche Weise bündelt (gemäß dem ersten Hauptsatz), während er gleichzeitig selbst immer nur als ein Fall erachtet werden kann, also selbst der Auflösung in die Homogenität zu driftet (und somit dem zweiten Hauptsatz gehorcht), mathematisch modelliert werden, aber ohne dass diese Modelle je das System repräsentieren würden; vielmehr codieren sie es und formulieren darin jenen Traktat, den bündnisstiftenden Vertrag, in welchem die Bedingungen einer gegenseitigen Abhängigkeit gefasst werden – die „orthographische“ Höflichkeit, welche der foedera naturae zugrunde liegt und die Serres folgendermaßen fasst: „Le modèle du système, c’est le système des modèles.“ [Das Model des Systems, das ist das System der Modelle.]44 Für Serres ist die Natur kein „Buch im Allgemeinen“, das entziffern würde, was die Natur codiert. Die realen Körper der Objekte, in ihren indefiniten und nie vollständig auszulotenden Vermögen, verhalten sich wie die mathematischen Modelle zum System: Das Modell des Systems, das ist das System der Modelle. Sie codieren es, aber repräsentieren es nicht. Und wie die mathematischen Modelle sind diese wirklichen Körper der Objekte immer chiffriert; das Transzendentale ist gewissermaßen der Nachthimmel, an dem Millionen von Sonnen leuchten, in dem man nach der richtigen Chiffre suchen kann; doch dieses Suchen ist eine Frage der Erfindung, weil sie Geschicklichkeit erfordert. Im siebzehnten Jahrhundert beginne sich eine Idee zu verbreiten, so Serres, „the idea that nature is written, that it is written in a mathematical language.“ Doch: „Language here is too strong or too weak a word. In fact mathematics is not a language: rather, nature is coded. The inventions of the time do not boast of having wrested nature’s linguistic secret from it, but of having found the key to the cypher.“45 Er fährt fort:

43 

44  45 

cf. Serres 1968, 44: „Il n’y a pas là relation de cause à effet, il y a parallélisme de structures, c’est pourquoi nous parlons de modèle mathématique, et seulement de modèle.“ [Es gibt dort nicht eine Relation von Ursache und Wirkung, es gibt einen Parallelismus von Strukturen, darum sprechen wir von mathematischen Modellen – und nur von Modellen]. ibid., 37. Serres 2018a, 168.

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Vera Bühlmann Nature is hidden behind a cipher. Mathematics is a code, and since it is not arbitrary, it is rather a cipher. Now, since this idea in fact constitutes the invention or the discovery, nature is hidden twice. First, by the cipher. Then with an ingenuity, a modesty, a subtlety, that prevents our reading the cipher even from an open book. Nature hides beneath a hidden cipher. Experimentation and intervention consist in bringing it to light. They are, quite literally, simulations of dissimulation.46

Diese Idee des mathematischen Modells bietet eine Theorie des Experiments,47 über seine informationstheoretisch begründete Annahme eines Allgemeinen als üppige Örtlichkeit einer Invarianz von Entropie und Negentropie, Verhältnismäßigkeiten, deren Naturgesetze nicht Dominanz legitimieren, sondern Erhaltungssätze formulieren. Sie erschließt in objektiver Weise die mathematischen Bedingungen der Möglichkeit eines „fortschreibenden Lesens“ von Natur als Buch – eines Lesens, das in seiner passiven, empfangenden Rezeptivität selbst als aktiv gelten muss. Diese mathematischen Bedingungen der Möglichkeit sehen vor, dass Information und Erkenntnis immer, gerade auch wenn sie die Natur betreffen, nie umsonst, sondern nur auf Entgelt eines Preises ersteigert werden können. 3.

Coda, das atomistische Zögern und die Möglichkeit einer Semiotik von Elementarität

Vor diesem Hintergrund wird auch ersichtlich, warum Serres mit seinen Vorstellungen in La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce die heutige Quantenphysik als Fortsetzung des Epikur’schen Atomismus affirmieren kann. Mit einer kurzen Ausführung dazu möchte ich diesen Text abschließen. Lukrez habe in De Rerum Natura eine Abhandlung über die Natur gemäß der Naturphilosophie Epikurs vorgelegt, so Serres, als Änderung des foedus fati, dem Epikurs Stoizismus noch verpflichtet gewesen sei. In dieser Abhandlung von Lukrez gründet Epikurs Stoizismus auf einem mathematischen Modell: der Mathematik von Archimedes.48 Mit Archimedes’ Mathematik lässt sich der stoische foedus fati in foedera naturae ummünzen, weil Archimedes seine Mathematik auf eine Theorie des Codierens gründet: dessen Schrift Die Sandrechnung etabliere eine Theorie zur Benennung von großen Zahlen,

46  47  48 

ibid. cf. dazu neben Serres 2018a insbesondere auch Serres 1992. cf. das zweite Kapitel „Mathematics“ in Serres 2018a, 27–46.

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die für sich keine Identifizierung, sondern eine Codierung von Unendlichkeit beanspruche: Archimedes defines numbers up to 108, or a myriad-myriads, as those of the first order. Then, using 108 as the new starting unit, he defines numbers belonging to the second order: 108, 2 × 108 (that is, 200 million), 3 × 108 (300 million), and so on, up to 108 × 108, or 1016. Archimedes calls this last number a ‚myriad-myriads of the unit of the first order.‘ Numbers of the third order use 1016 as the starting unit: 1016, 2 × 1016, 3 × 1016, and so on up to 108 × 1016, or 1024. This last is called a ‚myriad-myriads of the unit of the first order.‘49

Archimedes geht weiter mit diesem Verfahren einer codierenden Namensgebung, um die Extension des Zahlenraums zu denken, bis zu einer „myriadmyriads of the unit of the myriad-myriadth order“.50 Serres erläutert die Wichtigkeit von Archimedes’ Ansatz zu einer Namensgebung für große Zahlen, dessen Identität was auch immer bezeichnet, was aus der atomistischen Materialität mit diesem Namen, der in seinem Verständnis wesentlich Signatur ist, vertraglich besiegelt und gefasst wird: Atom-letters do not work like numbers (chiffres). Whatever the base of numeration, in fact, or the alphabet of the cyphering (chiffrement), the various combinations of these signs among themselves produces acceptable numbers. Thus, the interconnection of atoms in things, conjunction, is cyphered, nature is coded. Atomic physics discovered the key to the code. Now the cypher is hidden in its turn, since atoms, subliminal, are imperceptible and very great in number. That atoms are letters is a thesis that heralds the great classical philosophies, the idea of cyphering and the secret code, the global working of physical science. Now read Archimedes’ The Sand-Reckoner and you’ll find a pre-combinative arithmetic that formalises this idea. Physics is indeed an activity of deciphering or decoding.51

Es sind dies die „Örtlichkeiten“ seines objektiven Transzendentalen, und sie gliedern die Haltungen eines Zögerns, das nicht Skepsis und Zweifel ist, sondern die transzendentale Offenheit im Sinne von Unentschiedenheit zwischen Buchstabe und Zahl verinnerlicht. Serres bespricht diese hinsichtlich von Diodorus’ klassischem Argument über das Verhältnis von Notwendigkeit und Kontingenz52: 49  50  51  52 

Hirshfeld 2009, 60. ibid. Serres 2018a, 171, kursiv im Original. cf. dazu die hervorragenden Bücher von Jules Vuillemin (Vuillemin 1984, Vuillemin 1986 und Vuillemin 1962).

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Vera Bühlmann Let us return for a moment to this hesitation between numbers (chiffres) and letters. On one hand, all possible interconnections are acceptable, on the other, all are not. Either everything possible can be realised, or nothing possible can be. Everything has a meaning, or everything does not. Meaning is a filtered rarity. The rational is real and the real is rational. Or: none of the rational is real. Two well-known sequences of hypotheses, which can be set face to face, as in an antinomy of pure reason, and which form, on the contrary, an antinomy of applied knowledge. In the first column, the affirmative universal is stable. In the second it is possible to write: all the possible is not realisable, or all the rational is not real, this is the contrary proposition. We may also write: some of the rational is real, or some of the possible is realisable, this is the secondary proposition. Finally, we may write: some of the rational is not real, or some of the possible is not realisable, this is the contradictory proposition. The last two may be grouped together as contraries. This antinomian table, the general antinomy of applied science, represents, all at once, the ensemble of relations belonging to classical logic. It brings traditional reasoning into play, through affirmation, contradiction, clash, subordination, and so on.53

Zur Behandlung dieses Grundproblems im Fundament der angewandten Wissenschaften, der experimentellen Wissenschaft, kann mit Serres’ objektiven Transzendentalen eine kritische Theorie formuliert werden: Now it is reducible, as in a reduced model, to the atomic hesitation between letters and numbers (chiffres). So the whole of applied science, its decisions and developments, its history perhaps, is relative to the type of coding. To the difference between letter and number (chiffre), to the difference between a sequence and a word, to the difference between the average and meaning, or the difference between two meanings. In this way, we will arrive at an elementary semiotics of science.54

Die Formulierung einer solchen Theorie folgt einem analogen Gestus, der – wie von Lukrez zu Epikur via Archimedes –, eine Vertragsänderung einfordert. Das Verhältnis der heutigen Mathematik zur (Quanten-)Physik ist wieder ein doppeltes, kein einheitliches; darüber gilt es heute von der Antike zu lernen – ohne damit einen Fortschritt der Wissenschaft negieren zu müssen. Unschwer können wir darin Françoise Balibars Fazit aus ihrer Besprechung von Machs Votum erkennen: [T]he Greeks did not conceive of mathematical physics in the same way as we have done since the Renaissance. We mix experiments with equations. And we accompany the protocol, step by step, with formalism and metrics. Without this 53  54 

Serres 2018a, 171. ibid., 172; hier meine eigene Übersetzung von Serres’ ‚hesitation atomique‘ als ‚atomic hesitation‘, was die Übersetzer mit ‚atomist prevarication‘ wiedergegeben haben.

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continual proximity, there is no experimentation and no law. The Greeks would, I believe, have loathed this mixture. They did not have, as we do, a unitary mathematical physics. Theirs was double. They produced rigorous formal systems and dissertations upon nature, like two separate linguistic families, or two disjunct wholes.55

4.

Bibliographie

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55 

ibid., 31.

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Unsichtbare Boten und kommunikationstechnologische Netzwerke. Michel Serres’ Die Legende der Engel in ganz persönlicher Sicht Sybille Krämer Haben wir nun herausgefunden, wieso wir letztlich von Menschen und Dingen reden, wenn wir über Engel sprechen? Auf manche Muster stoßen wir immer.1

Es gibt Bücher, die sind wie Aha-Erlebnisse, oder sollte ich sagen: ‚Erweckungserlebnisse‘? So ein Buch lesend, stellt sich plötzlich eine Verknüpfung her von Gedanken und Ideen, die im eigenen Denken als unverbundene Partikel kreisen. Doch mit einem Mal sind Knoten gefunden, durch die alle Gedankenfragmente sich zu Verbindungslinien eines ideellen Netzes fügen. Michel Serres’ La légende des Anges (Paris 1993)2 war so ein Buch für mich – und ist es noch immer. Obwohl überaus gelehrt im Weitblick der artikulierten Probleme von Kommunikation und globalen Informationsströmen und obwohl – in seiner illustrierten Version – ein noch nie gesehener, an Aby Warburgs genialischen Bildzusammenstellungen gemahnender Bildatlas über Struktur und Funktion des Übermittelns, ist dieses Buch doch keine wissenschaftliche Studie. Vielmehr nimmt ein poetischer Dialog seinen Lauf: Eine am Pariser Flughafen Charles de Gaulle stationär arbeitende Flughafenärztin und ihre Liebe, ein beständig um die Welt reisender Flugzeuginspekteur treffen sich an diesem Verkehrsknoten. Sie tauschen sich aus über das, was Verbinden, Übertragen, miteinander Verkehren – ja, bis in die intimste körperliche Vereinigung hinein – bedeuten für das, was eine hochtechnisierte Zivilisation ausmacht, was sie sein kann, wodurch sie gestört wird, woran sie scheitert. Und die Schlüsselfigur, die diesen Dialog evoziert, ist der Engel. Wie Thomas von Aquin schon feststellte: „Engel bedeutet Bote“: sein Name ist hier Funktion und so gerinnen Heerscharen von Engelgestalten zu Metaphern und Bildern

1  Serres 1995, 185. 2  Serres 1993.

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der Bedeutung, die dem Senden und Empfangen in Gesellschaften zukommt, deren Lebensadern der Austausch von Daten bildet. Halten wir an dieser Stelle ein: auch dieser Essay ist eine Art Dialog mit denen, die das jetzt lesen. Es geht mir nicht um eine Rezension, die kritische Kommentierung eines Buches; es geht um etwas Persönlicheres: Mich beschäftigt die Frage, warum ausgerechnet diese Schrift und ihre Bilder mich elektrisierten. Ich bin nicht religiös, auch wenn ich es anthropologisch aufschlussreich finde, dass der Versuch, Unsichtbares sichtbar und zugänglich zu machen, Religion und Wissenschaft durchaus verbindet. Michel Serres, der seine immer auch wissenschaftsgeschichtlich orientierten Schriften im Namen einer anderen Art von Boten, des Hermes, zuvor akzentuiert hatte, stand der Religion – wahrscheinlich – ebenfalls fern. Was also war die ganz und gar profane Frage, die mich umtrieb und auf die ich – überraschender Weise – in einem poetischen Text von Serres eine Antwort fand? Gehen wir von einem Bild aus, das Serres präsentiert: Tommaso Laurettis (1530–1603) Triumpf des Christentums3, ein Deckengemälde im letzten Raffaelraum des Vatikans. Inmitten des zentralperspektivisch ausgefeilten Bildes sieht man auf einem Altar Christus ans Kreuz genagelt, der Kopf nach unten gefallen, erdenschwer an seinem Folterinstrument hängend. Vor ihm eine zerschmetterte Statue, ihre Teile liegen am Boden: ein mit Flügelhelm bewehrter, abgetrennter Kopf, Füße geflügelt, alles in Scherben; es ist zweifellos der Götterbote Hermes, der da stückweise am Boden liegt, während über ihm auf dem Podest Christus am Kreuz nach kreatürlich durchgestandener Not als ein ganz und gar Toter hängt. Ein Sieg des christlichen über den heidnischen Boten und damit: ein Triumpf des Christentums? Doch nirgendwo eine triumphale Geste: tot sind beide. Und genau darauf kommt es Serres an: dass „vom Anbeginn der Zeiten bis an ihr Ende […] der Mittler im Sterben [liegt]. Der alte und der neue Gott hauchen gemeinsam ihr Leben aus. Wenn Botschaft und Übermittlung nicht sterben, tragen sie keine schöpferische Frucht.“4 Kein Schöpfertum jenseits sterbender Boten? Der Bote sich aufopfernd für die Botschaft? Ist das nun ‚großes Drama‘ oder nicht eher starker Tobak? Doch in diesem Augenblick, beim Anschauen des Bildes, springt ein Funke über; Verbindungen bilden sich zwischen dem, was in meiner Gedankenwelt unverbunden blieb. Als Marathonläuferin kenne ich die Geschichte des ‚sterbenden Boten‘, der 490 v.Chr. den Sieg der Griechen über die Perser verkündete und dann tot zusammenbricht. Doch ich weiß zugleich: das ist nur ein 3  Serres 1995, 81. 4  ibid., 90.

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Märchen, eine Legende; denn im griechischen Heer gibt es eigens ausgebildete Tagläufer, die – selbstverständlich ohne Rüstung – 200 km problemlos zurücklegen können. Zugleich ist mir als Medienwissenschaftlerin etymologisch klar, dass ‚Medium‘ im Griechischen den syllogistischen Mittelbegriff bezeichnet, der die erste und zweite Prämisse als verbales Bindeglied vermittelt – denn der Mittelbegriff kommt in beiden Sätzen vor – doch dann im deduzierten Satz der Schlussfolgerung verschwunden ist. Birgt also die Figur und Idee des sterbenden Boten eine ‚Medientheorie avant la lettre‘? Kann die Paradoxie von Medialität darin bestehen, dass etwas zu seiner genuinen Funktion nur darin findet, sich dabei zugleich unsichtbar zu machen, zurück zu treten, zu entziehen? Bildet die Urform dieser Erfahrung der Sprachlaut: kaum ausgesprochen, ist er weg? An Medien im alltäglichen Gebrauch und soweit sie reibungslos ihren ‚Übertragungsdienst‘ verrichten, ist in der Tat augenfällig, dass sie beim Vergegenwärtigen ihrer Botschaft unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens bleiben: Wir hören keine Schallwellen, sondern gesprochene Worte; sehen kein Lichtwellenspektrum sondern Farben … Serres umkreist diesen Selbstentzug des Mediums immer wieder: „Der Vermittler tritt hinter die Botschaft zurück. Er darf sich nicht in den Vordergrund drängen oder gar blenden und gefallen wollen, er darf nicht in Erscheinung treten. Deshalb sehen wir die Engel nicht.“5 Das Verschwinden des Boten wird bei Serres zur Achillesferse der Medialität, denn er weiß nur allzu gut: Die Selbstzurücknahme des Mediums gegenüber seiner Botschaft ist äußerst störanfällig: das verpixelte Fernsehbild, das erodierende Fresko, der Absturz des Computerprogramms, wer kennt nicht solche Situationen ‚medialer Impertinenz‘? Mit der Figur des Engels tritt somit der gefallene Engel auf den Plan als Inkarnation einer Kommunikation, in der das Mittel sich zum Zweck setzt. Nicht selten und mit globaler Informatisierung einer Kultur immer häufiger, verschwinden die Übermittler nicht, sondern treten hervor, spielen sich auf und wollen gefallen. „Die guten Engel gehen still vorüber, und wir vergessen sie; die anderen erscheinen und werden unsere Götter […] in der Welt der Kommunikation gehört die Macht denen, die die Kommunikation behindern.“6 Das Symbolische mit seiner Kraft zum Verbinden und das Diabolische mit seiner Gewalt zu Entzweien bilden die Vor- und die Rückseite der Engelfigur. Luzifer ist der gefallene Engel, der sein Mittleramt verweigert und stattdessen selbst sein will wie Gott. Doch nun liegt es an mir, an dieser Stelle skeptisch nachzufragen: Was ist das überhaupt für eine Figur: ‚ein Bote‘? Die Philosophie bei Platon entfaltet 5  ibid., 102. 6  ibid., 104; cf. hierzu auch den Beitrag von Reinhold Clausjürgens in diesem Band.

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sich just in der Zurückweisung der Botenrede, verkörpert im Rhapsoden, der die kulturelle Memoria im charismatischen Gesang stets im Auftrag der Götter re-zitiert und Herkunft und Zukunft seinem Publikum kommuniziert durch eine Art von ‚Ansteckung‘, bei welcher der melodische Hymnus die Zuhörenden vergemeinschaftet in Distanzlosigkeit zu dem, was sie vernehmen. Das Sprechen des Boten ist ‚uneigentliche Rede‘, die nur wiedergibt, was von ‚höherer Warte‘ als Mitteilungsdienst auferlegt ist. Welche Kluft tut sich auf zwischen solcher diskursiv ohnmächtigen, aber charismatisch machtvollen Botenrede und der Idee eines immer auch kritischen, selbstverantworteten Sprachgebrauches! Das philosophische Modell aufgeklärten Sprechens gipfelt philosophisch in der Sprechakttheorie, in der die Sprechenden als selbstmächtige Subjekte ihrer Redehandlungen agieren und sich wechselseitig anerkennen im Nehmen und Geben von Gründen. Welche Provokation geht aus von der Nobilitierung des Boten, scheint dieser doch philosophisch gesehen – jedenfalls in vielen seiner Gestalten – ein Zerrbild und Verfallsbild mündiger Kommunikation. Diese Frage findet sich nicht bei Serres, doch sie stellt sich mir. Die Figur des Boten zu rehabilitieren, heißt nolens volens in kritische Distanz zu gehen zu einem Kernstück modernen Philosophierens; dieses besteht darin die Menschen als Subjekte zu entwerfen just in ihrer Eigenschaft autonome, selbstbewusste Urheber ihrer Handlungen und also auch ihrer Sprechhandlungen zu sein. Der Mensch wird Subjekt in seiner Eigenschaft homo generator, homo faber, Akteur und Agent zu sein. Wir sind selbst verantwortlich für das, was wir als Individuum sind und was aus uns wird. Daher – es geht hier immer noch um einen Kern abendländischer Subjekttheorien – sind wir da ganz Mensch, wo wir nicht nur unsere Welt, sondern auch uns selbst als Individuum täglich neu erfinden. Natürlich bleibt dieses hier holzschnittartig angedeutete Menschenbild nicht unwidersprochen. Bleiben wir in der Domäne der Medientheorie. Innerhalb der Medienwissenschaft war es Friedrich Kittler, der nachhaltig dem menschlichen Subjekt seine Akteurseigenschaft entzogen hat, um sie dann allerdings auf die Maschinen zu übertragen. In Fortsetzung der schon bei Nietzsche bis zu Foucault eingeleiteten Erosion des neuzeitlichen Subjektkonzeptes setzt Kittler die Technik in die Erbfolge der konstruierenden und konstituierenden humanen Wirkmächtigkeit. Doch unangetastet bleibt dabei, dass Gestaltungskraft zu haben immer noch und weiterhin ungebrochen heißt, hervorbringen, kreieren und determinieren zu können. Wir sind da selbstmächtig und souverän, wo wir etwas aus eigener Kraft erschaffen, ob als Gott, Mensch oder Maschine.

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Es ist die Überwindung dieses an der demiurgischen Emphase von Invention und Kreation orientierten Weltbildes, welches Michel Serres’ Reflexionen grundiert. Denn dieses Denken von Subjektivität entlang den Leitlinien unermüdlicher Produktivität und Selbsterschaffung kann infrage gestellt und außer Kraft gesetzt werden nur durch eine grundständige Blickwendung, einen radikalen Perspektiven- und Stellungswechsel – vergleichbar einer Husserlschen Epoché. Es liegt eine Provokation darin – so wie vorher den Parasiten – nun eine religiöse Figur zum Fluchtpunkt zu machen, die göttlich ist darin, Informationsströme zu organisieren, welche Orte und Zeiten überspringen und menschlich ist darin, immer auch zu entgleisen in das Zwiespältige, Hinterhältige und nicht zuletzt Böse, welches – ob das gefällt oder nicht – den unhintergehbaren Mutterboden von Kultur bildet. Solcher Aufwand an Irritation ist nötig, um eine schlichte Wahrheit entbergen zu können: Kreativ zu sein, auf menschliche Weise sein Leben zu führen, soll und kann nicht länger heißen, beständig erschaffen und erfinden zu müssen, Wachstum und Neuigkeit, Innovationskraft und Expansion als „falsche Götter“7 verehren zu müssen. Und das hat es auch niemals geheißen. Denn nicht nur das Herstellen und Erschaffen, sondern auch das Übertragen und Weitergeben, das Vermitteln und Austauschen bilden zivilisationsstiftende Kräfte ersten Ranges. Gegenüber der einseitigen Hypostasierung von Produktion und Innovation, sind Dimensionen der Zirkulation und Distribution zu rehabilitieren und in ihr Recht zu setzen. Es ist gerade unsere Sprachlichkeit, also jenes Urhumanum, welches für die Philosophie doch zu Dreh- und Angelpunkt des Weltverhältnisses avanciert, die immer auch ein ganz anders geartetes Modell menschlichen Tuns nahelegt: Lernend wird unsere Muttersprache von uns übernommen und keineswegs hervorgebracht; doch indem wir sie täglich gebrauchen, verändert sich die Sprache im jedesmaligen Gebrauch unaufhaltsam – und dies unmerklich, nahezu unbewusst. Um dafür ein Bild zu geben: Wir lassen uns 50 Jahre lang monatlich fotografieren; reihen diese Fotos nebeneinander: Von einem Bild zum nächsten: kein Unterschied. Vom ersten Bild zum letzten: was für ein Unterschied! Und genau darin liegt das, was Serres für mich selbst so anschlussfähig macht: Sein obsessiver Blick auf alles, was mit Verbinden, Vermitteln, Austauschen zu tun hat, öffnet keineswegs nur die Augen für die Rolle digitalen Verbundenseins in einer datengetriebenen Zivilisation. Indem er den Archetypus des Engels – so wie zuvor schon Hermes – als Leitfigur einsetzt und damit alle möglichen Formen von Botschaftsübermittlung und -verhinderung 7  ibid., 187sqq.

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ins Spiel bringt, tritt hervor, dass die kulturstiftende und gesellschaftsprägende Rolle des Verbindens und Vermittelns die Geschicke menschlicher Zivilisation immer schon bedingt – von allem Anfang an. Der Mensch ist Subjekt eben nicht nur als Urheber, Erfinder und Konstrukteur, sondern auch als Mittler, Überträger und Übersetzer. So evoziert die Lektüre der Legende der Engel, dass und warum es auch einer medienphilosophischen Perspektive bedarf, um zu erkennen was – mit Goethes Faust gesprochen – „die Welt im Innersten zusammenhält“: Es sind unsere personalen, symbolischen und technischen Apparate und Andockstellen (Interfaces) des Verbindens. Die medienphilosophische Reflexion – sobald sie an der Aufdeckung des Potenzials von Tätigkeiten wie Übertragen und Vermitteln interessiert ist – steht schnell vor der Frage, wie genau solche Verknüpfung des Auseinanderliegenden – und zwar nicht als eine intellektuell-begriffliche, sondern praktisch verkoppelnde Aktion – erklärbar ist. Die Figur des Engels birgt dafür eine aufschlussreiche Antwort. Wenn zwei Seiten, Felder, Systeme so weit voneinander entfernt sind, wie beispielsweise die Region des unendlichen, ort- und zeitlosen monotheistischen Gottes und die Domäne des endlichen, ort- und zeitgebundenen Menschen, dann ‚verkörpert‘ der Engel ein exemplarisches Verbindungs- und Übertragungsprinzip. Es ist die Figur eines Dritten, eines Mittleren, welche Eigenschaften beider Seiten in seiner Gestalt koexistierend bewahrt. Körperhaftigkeit und Sprechenkönnen ist der menschlichen, Unsterblichkeit sowie Ort- und Zeitlosigkeit der göttlichen Sphäre entnommen. Entstanden ist eine hybride Entität, die in ihrer Doppelnatur koexistierender Polarität den Kontakt zu völlig getrennten Regionen halten kann. Hybridisierung, nicht verstanden als eine Aufhebung des Gegensätzlichen in Hegelscher Synthesis, sondern als das Nebeneinanderbestehen des Divergierenden in einer Gestalt. Dieser Essay beginnt mit einem Zitat: „Haben wir nun herausgefunden, wieso wir letztlich von Menschen und Dingen reden, wenn wir über Engel sprechen? Auf manche Muster stoßen wir immer.“8 Ist nun also eine Vorstellung gewonnen, um welche „Muster“ – offensichtlich ontologisch neutral die Sphären des Humanen, Technischen, Politischen und Religiösen übergreifend und doch in sie eingreifend – es Michel Serres zu tun ist? Eine erste Antwort drängt sich auf: Der Bote als Metapher und Figur des Mittlers und Vermittlers ist durch und durch ambivalent: Wo informative Signale sind, gibt es die Störung und das Rauschen, wo gute Boten zurücktreten hinter die Botschaft, da setzen die schlechten sich selbst an die Stelle der Botschaft und aus dem Engel wird Luzifer. Niemals also kann, was mit Datenübertragung und Datenverarbeitung 8  ibid., 185.

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zu tun hat, als Prozess schlichten Voranschreitens modelliert werden. Wie allen menschlichen Phänomenen ist das Potenzial, die Zukunft zu erobern und dabei zu entgleisen, der Textur unserer Kommunikation eingewoben. Doch bleibt diese erste Antwort – dass wir das Digitale in seiner Zwiespältigkeit, als Januskopf unserer Wissensgesellschaft aufzufassen haben – nicht eine allzu niedrigschwellige, überdies nicht umstürzend neue Einsicht? Doch will Serres mehr und das ist dann die zweite Antwort: Er bezieht Position, indem er – das Umschlagsrisiko globaler Vernetzung in eine Datenfalle vorausgesetzt und sich dessen bewusst – den allzu trendy gewordenen Dystopien der Gegenwart entschieden entgegentritt. Serres lässt keinen Zweifel daran, dass wir die digitale Vernetzung als ein neuartiges Kraftfeld aufzufassen haben, dessen bestmögliche Verwirklichung und Nutzung uns – und nicht den Maschinen – aufgegeben ist. An dieser Stelle kommt wieder eine in unzähligen Bildern auch künstlerisch bearbeitete Legende bei Serres ins Spiel. Der erste Bischoff von Paris, Dionysius (um das Jahr 250) wird als Märtyrer von römischen Soldaten geköpft; doch Dionysius hebt – kopflos geworden – seinen Kopf wieder auf.9 Auch wenn das ein wenig bemüht erscheint: Für Serres verkörpert diese Figur des exkarnierten Kopfes das Bild der Generation der Digital Natives, die vor ihrem aufgeklappten Notebook sitzen, in welchem nicht nur das Innere ihrer Köpfe, sondern auch das Äußere der Welt – sofern als Daten- und Wissensstruktur externalisierbar – enthalten ist. Doch das findet sich nicht in der Legende der Engel sondern in seinem kleinen Spätwerk, dem Essay Petite Poucette,10 wörtlich übersetzt: ‚Däumelinchen‘,11 als Anspielung auf das Wischen mit den Fingern auf den Oberflächen moderner Kommunikationsapparate. Erinnern wir uns an Serres’ Bezug auf Tommaso Laurettis Bild Triumpf des Christentums mit der zerschmetterten Hermesstatue im Vordergrund und dem Altar mit dem gekreuzigten Christus im Mittelpunkt. Nun nimmt der Bote die Gestalt von Informationsnetzwerken an, ist nicht mehr Person – sei es Götterbote, Christus oder Bischof – sondern ist exkorporiert und inkarniert in den vielzähligen Knotenpunkten eines Netzes, in dem die junge Generation sich mit Smartphones, Tablets und Notebooks bewegt. 83jährig sieht Serres in dieser Generation seiner digital versierten Enkel eine Entwicklungsmöglichkeit aufbrechen, die gezeichnet ist nicht nur durch den möglichen Verlust des Kopfes, sondern durch den Gewinn einer neuartigen Souveränität im Denken und der Nutzung vernetzten Wissens. 9  10  11 

Und wandert damit noch eine ganze Strecke. Paris 2012; 2013 ins Deutsche übersetzt unter dem Titel: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation (Serres 2013). Nach dem Märchen von Hans Christian Andersen.

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Sybille Krämer

Petite Poucette wirkt heute gelesen zweifellos zu euphorisch. Doch geschrieben 2012 hat Serres noch nicht die Schattenseiten des Datenkapitalismus erkennen können oder wollen. Doch dass beides zusammengeht: Einerseits die Ambivalenz technologischer Kommunikationsverhältnisse hellsichtig zu sehen, wie in der Legende der Engel und andererseits unbeirrt auf die junge, unter Digitalisierungsbedingungen aufgewachsenen Generation als Versprechen auf eine Zukunft zu setzen, in welcher sich das Programm der Aufklärung zur digitalen Mündigkeit und Datensouveränität fortbilden kann oder zumindest könnte: das ist sein Vermächtnis an uns – gegen die Stimmen derjenigen, welche die digitale Gegenwart und ihre ‚Kinder‘ nur in den Termini von Deprivation, Dystopie und Apokalypse zu buchstabieren bereit sind. Postskriptum Mein Buch Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (2008)12 zeigt auf dem Cover Hermes, eine Bronzestaue des Götterboten nach Giambologna. Die japanische Übersetzung dieses Buches (2014) wiederum zeigt – ohne Absprache mit mir – einen Engel, den Engel der Verkündigung des Genter Altars von 1432. Bibliographie Krämer, Sybille, 2008: Medium, Bote, Übertragung: Kleine Metaphysik der Medialität. Frankfurt/M. Serres, Michel, 1993: La légende des Anges. Paris. Serres, Michel, 1995: Die Legende der Engel. Frankfurt/M., Leipzig. Serres, Michel, 2012: Petite Poucette. Paris. Serres, Michel, 2013: Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin.

12 

Krämer 2008.

Liebeserklärung ans Universale: Serres’ Musikphilosophie Petra Gehring Die Musik, die von allen Musen herkommt, kann nicht als eine unter den Künsten gelten; sie ist die Summe aller Künste.1 Die Mannigfaltigkeit Musik präsentiert uns zwei Gesichter oder Seiten: Das sanfte Gesicht glättet die Stacheln, die harte Seite ebnet den Sinn ein. Zweifach universell auf zwei vereinten Seiten.2

In Serres’ Texten bekennt das literarische Ich seine Liebe zur Musik vielfach. „Die Musik ist mein halbes Leben. Ein Leben ohne Musik könnte ich mir nicht vorstellen“3, ist schon in Der Parasit zu lesen, und das unter dem Titel Musik im Jahr 2011 erschienene Bändchen lässt das zweite seiner drei Kapitel mit den folgenden Worten beginnen: „Als Kind habe ich mir selbst Lieder ausgedacht. So versuchte ich, die Raserei und den Lärm des Krieges zu überdecken. Worte und Ideen kamen mir in Melodien. Leider lebte ich nicht in einem der Musik zugetanenem Umfeld. Faul und ungeschickt habe ich schnell wieder mit dem Klavierspielen aufgehört und das Schreiben schien mir nur ein dürftiger Ersatz für das Komponieren zu sein. Gekritzel und Schreibstil klingen wie eine missratene Partitur.“4 Der Abschnitt, aus dem dies zitiert ist, heißt „Meine Kindheit“. Autobiographische Sentimentalität also? Oder das Klischee, die verlorene Musikalität des Ausdrucks führe zur Zuflucht zu den Worten und damit zum Topos „bloßer“ Schriftstellerei? Tatsächlich mag der Verdacht sich nahelegen, es bleibe bei einem mehr oder weniger metaphorischen Bezug auf Musikalisches, wenn Serres Aussagen trifft wie: „Wer spricht, der singt unter der Sprache …“5 oder: „Lauschen Sie der unter den Worten liegenden Musik …“6? Auch als Gegenstand eigenen Rechts gewinnt die Musik aber in Serres’ Denken Konturen. Musik sei die „erste strenge Physik“ gewesen, „die erste von 1  Serres 1985, 157. 2  ibid., 169. 3  Serres 1980, 144. 4  Serres 2011, 50. 5  Serres 1985, 159. 6  Serres 2011, 50.

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Petra Gehring

der Physis beherrschte Linguistik“7, heißt es in einer durch die neue Musik des Komponisten Yannis Xenakis angeregten Meditation, die in den zweiten Band der Sammlung Hermes Eingang gefunden hat.8 Dem damit gefassten und bei Serres immer wieder erprobten Gedanken, der verborgene Schlüssel zur Frage nach der Musik liege im Problem (und in der Praxis) der mathematischen oder auch technischen Formalisierung, gehe ich im Folgenden nach, und ich spreche in diesem Zusammenhang von einer veritablen – wenn auch in dessen typischer, von variierender Wiederholung und figurativen Szenen geprägter Theorieprosa weich gezeichneten – Musikphilosophie des Michel Serres. Dass es diese gibt, ist allerdings eine These, und dass sie womöglich eine Provokation sein mag, räume ich gern ein. Jedenfalls aber gibt dieser Philosoph nicht nur zeitdiagnostischen Unmut darüber zu Protokoll, dass Musik heute zu einer Spielart des Lärms verfallen sei – gemeint sind: Berieselung, Raumnahme, „High Fidelity, volle Lautstärke und Ohrenklappen …“9, Musik als Muzak also, als Dekor einer Umwelt, in welcher der Motorenlärm dominiert.10 Sondern bereits in Der Parasit finden sich Definitionsversuche, die auf Musik als Abstraktum abzielen. Es gebe so etwas wie ein Prinzip der Musik, schreibt Serres, und während es in Der Parasit ansonsten um die Produktivität der Störung geht, scheint die Musik außerhalb oder diesseits der Störbarkeit zu liegen: „Sie ist frei von Parasiten, die Universalsprache eines verborgenen Vertrages.“11 1.

(Sehr) unterschiedliche Hinwege

Mit diesem Überblick sind traditionelle Leitmotive der Musikphilosophie bereits angespielt: Musik versus Sprache (oder doch auch Sprache?), Musik als Sinnliches, Musik als Universalie und Quelle von Harmonie. Serres greift solche Bestimmungen auf, sucht aber nach einem eigenständigen Ansatz. In Der Parasit bleibt es diesbezüglich bei Andeutungen. So richtet Serres hier erneut einen Blick auf den der Schrift und zugleich der Musiksehnsucht verfallenen Philosophen – verkörpert diesmal durch Jean-Jacques Rousseau: einen Ich-Autor, der im eigenen Text sich geradezu aufdringlich zum „Menschen“ 7  8  9  10  11 

Serres 1972, 244. Der Komponist Yannis Xenakis (1922–2001) bezeichnete seinen experimentierenden Kompositionsstil als „stochastisch“ und befasste sich auch darüber hinaus vielfach mit der Übertragung mathematischer Gegenstandswelten ins Musikalische hinein. Serres 2011, 145. cf. ibid. Serres 1980, 203.

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stilisiert, und der so fanatisch nach originärer Wahrheit strebt, dass ihm das eigene Werk beinahe misslingt, während er zugleich Partituren kopiert, also nicht schreibt, sondern faktisch zu Zeiten sogar im Hauptberuf wie besessen abschreibt: „Keine Theorie, bitte. Folgen Sie den Noten. Die Musik rettet uns, und die Noten retten uns.“12 Als Kopist macht Rousseau sich – und in Serres’ Vorstellung tut er dies authentisch und unermüdlich – zum „Wächter“ über die Musik, weil er ahnt, dass er nur hier sich reinigen kann, nur hier sich selbst los wird, nur durch den Kontakt zu ihr sich „endlich von diesem Lärm befreit“.13 Andererseits skizziert Serres in Der Parasit mit wenigen Federstrichen eine Sozialphilosophie der Musik, für welche der Chorgesang ein Beispiel sein mag und jedenfalls das Wunder des Mühelosen im Zusammenstimmen zählt: „Der klingende musikalische Akkord ist der archaische Gleichklang der Vereinigungen. Gemeinsamkeit. Schwingung in mehreren Stimmen. Freude. Das Kollektiv ist zumindest eine Klangutopie.“14 Ebenso werden in Der Parasit Musik und Astronomie oder genereller noch: Musik und Mathematik parallelisiert – und zwar vor dem Hintergrund einer Definition, derzufolge Musik als das Gegenteil des Lärms auftritt und diesen sogar bändigen kann, nämlich „weich“ macht und zähmt. Musik erscheint damit, ähnlich der mathematischen Ratio, als Verfeinerungsanstrengung und als Ordnungsmacht, als heilsame Kultivierung: „Der Arzt schafft Einklang zwischen den Elementen, und eben dies tun auch Musik und Astronomie.“15 Wie der Arzt (und vielleicht sogar, obzwar dies zwei überlieferte Grenzfälle des Musikalischen sind, wie die Engel oder die Sirenen) tut der Musiker, der Komponist dies nicht, indem er einfach nur Störendes subtrahiert. Im Gegenteil: Musik ist – positiv – Schöpfung. Musik vertreibt den Lärm zwar in seinem eigenen Element, aber durch eine anders geartete Intervention. Erfinderisch, transformativ, durch eine vielleicht vertikal zu nennende Verfeinerung. Denn Stille oder eine bloße Annäherung an diese sind keine Musik. 2.

Diesseits von Stille, Rauschen und Lärm

Drei Jahrzehnte nach Der Parasit nimmt das Bändchen Musik (2011) das Thema dann systematischer in Angriff. Diesem Ansatz liegt der Abschnitt „Passagen, Durchgänge, Übergänge“ aus Die Fünf Sinne (1985) zugrunde, und damit 12  13  14  15 

ibid. ibid., 204. ibid., 203. ibid., 374.

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weniger die informationstheoretischen Negativgrößen „Stille“, „Rauschen“ und „Lärm“ als Positivbestimmungen, die um die Gestaltung von etwas kreisen, wofür Serres nun unter anderem die Metapher des „Stroms“ verwendet. Im Ausgang von Phänomenen des Stimmgebrauchs und der Rhythmisierung finden sich so zentrale Gedanken von Musik bereits formuliert und auch Teile eines später dann noch komplexeren Figurenrepertoires werden genutzt – etwa der Einsatzpunkt beim Mythos von Orpheus und Eurydike. Dass es in der Natur Stimmen gibt, Vogelstimmen natürlich, aber etwa auch das wispernde, vielblättrige Rauschen einer Pappel, stützt die Überlegung, dass Lärm sich zunächst durch Rhythmisierung, „ein rhythmisches Strömen“, in eine Musik verwandelt, „universell vor der Bedeutung“, auch wenn sie ihrerseits durch „die verfeinerte, differenzierte Sprache“ überwunden wird.16 Sprache wählt Bedeutung, die sie senden will, explizit aus. Musik hingegen ist nicht in dieser Weise selektiv. Gleichwohl ist sie schon aber Verfeinerung – eines Rhythmus etwa, der lediglich hämmert, oder eben aller Formen einer amorph gestalteten Lautheit. Stereotype Wiederholung, ungestaltete Geräusche: Beidem setzt Orpheus seine Musikalität entgegen. Herz und Ohr gegen Intellekt und Auge: Odysseus, der sich die Ohren verschließt, verkörpert den Mann des bloßen – und damit geradezu kunstlos nackten – Denkens auf einem Schiff, das wie derjenige, der sich da an den Mast fesselt, zur Monade wird: „Es umgeht das Hindernis des Lärms, ohne etwas auszusenden oder zu empfangen; es annulliert die Sirenen.“ Orpheus hingegen „hält die Leier oder Zither vor sich und mißt sich mit dem Getöse, seine Ohren sind offen“, und dem Lärmproblem tritt er „mutig“ entgegen. Orpheus „verwandelt den Lärm in Musik.“17 Als er den Versuchungen des Auges ausnahmsweise einmal nachgibt, sich nämlich umdreht, um beim Aufstieg aus der Unterwelt nach der beinahe schon geretteten Eurydike zu sehen, ist das das Ende der Geliebten, die er doch hinter sich wusste. Konnte er Eurydike nicht hören? Reichte ihm, was er hörte nicht aus? Hätte er sich wie der listenreiche Odysseus die Augen zubinden sollen? Jedenfalls ist schließlich auch der Sänger dem Untergang geweiht. 3.

Dreimal stromabwärts

In drei in ihrem Aufbau parallel angelegten Kapiteln konstruiert Musik eine Art aus drei Erzählungen oder besser: drei Durchläufen bestehendes 16  17 

cf. Serres 1985, 159. ibid., 161.

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Gesamtstück – parcours, einer von Serres’ methodologischen Programmbegriffen18, erhält hier in Gestalt der strengen Linearität der drei analog aufgebauten Kapitel womöglich einen musikspieltechnischen Sinn. Mythos, Wissenschaft und Bibel – sowie die Lebensläufe (und die Genese der „Stimmen“) von Orpheus, von Michel Serres selbst sowie der Figuren der Christuslegende dienen als Darstellungsmaterial, auf welchem drei Mal ein Bogen geformt wird, der auf seine eigene Weise den „Strom“ bzw. das „Strömen“ der Musik überspannt – oder überspannen soll. Begonnen wird jeweils mit einer Ursprungsszene (einer „Kindheit“). In der Orpheusgeschichte ist dies ein archaisch-chaotischer Höllenlärm, dem nur Pythia standhält; sie ist die Mutter des Erdgedächtnisses und der neun Musen, die kollaborativ diesen Lärm umformen – und zwar zu Musik. Den „Körpermusen“ (Pantomime und Tanz, also Rhythmus und Bewegungsfiguren) folgen die „Musikmusen“ (Flöte und Chor: Musikinstrument, Leben und Stimme) und die mit der besonderen Rolle einer – noch vorsprachlichen – Ordnungsleistung betraute „Weltmuse“ Urania (Komposition, Harmonie, aber auch Generalisierung und eine mathematisch zu nennende Rationalität), bevor vier „Sprachmusen“ schließlich die spezifischen Sprachkünste (Tragödie, Komödie, Dichtung, Narration) der Musik hinzufügen. Eine ähnliche Genealogie ergibt sich, wenn man vom einfachen kindlichen Sprechakt bis zur entfalteten Schreibkunst des Wissenschaftlers die Nähe der Sprache zu den Dingen und auch die Rhythmik, den Klan, den Stil der Sprachen ernst nimmt: Unverwechselbar besagen das Französische, das Deutsche, das Italienische etc. „ihre“ konkrete Welt – und Sprache erreicht diese Welt, weil wir im Sprachvollzug erleben, was unterhalb des Sprachlichen liegt: „Schreiben und Sprechen haben nur einen Wert, wenn sie mit einem Schlag wie eine festgezogene Segelleine jene Sprachschicht erfassen, deren Tiefe sich bemisst vom unwahrscheinlichen Sinn, der auf akustischem Fleisch, Konsonanten, Rhythmen, Zahlen, und Bewegung abgelegt ist, bis hin zum Tiefstliegenden, wo dieses Schreien den Musikstamm berührt, aus dem sich die Äste aller Sprachen verzweigen, die brummenden Lebewesen und die Dinge selbst.“19 Und schließlich nutzt Serres die biblische Verkündigungsszene als Beispiel dafür, dass Musik zwischen Wort und Materie für Kurzschlüsse – für ein Bewegtwerden, ein Zugleich von Erkenntnis und Emotion und damit für die Transzendenz des Neuen – zu sorgen vermag. Im Leib seiner Mutter Elisabeth reagiert Johannes der Täufer mit Bewegungen auf den Gruß der ebenfalls 18  19 

cf. Serres 1980b sowie Serres 1980, 56 und 110. Serres 2011, 74sq.

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schwangeren Maria, woraufhin Elisabeth Maria segnet: Hier wird gleichsam vermittlungslos kommuniziert. „Aus den bedeutungslosen Tönen der Musik werden die Sprachen geboren, aus diesen Kodierungen werden die Wissenschaften geboren. Die Information wächst mit jeder dieser Schleusen, deren Stufen rhythmisch ihren Lauf markieren […] ich träume von einer universellen Akustik; die letzte mystische Erzählung, um die es hier gehen soll, beginnt mit der Genesis, führt zur Gloria, die in der Nacht von Christi Geburt erschallt, und läuft auf eine Verschränkung zwischen Inkarnation, Physik und Informatik hinaus, den Wissenschaften und Techniken der Negentropie.“20 Es führt nicht nur ein Strom von den Geräuschen der Welt zu Gesang und Komposition sowie ein Strom von Geschrei und Krach zu verfeinerter Sprache, sondern es berührt auch der Geist das Fleisch (und umgekehrt) und Musik vermag es, den Modus dieser Direktvermittlung nachzuahmen: „Bebend geht sie im Haus unserer Emotionen um.“21 Damit sind – dreimal variiert – zwei große Thesen entfaltet: Musik ist erstens etwas Vorsprachliches, auch wenn Sprache stets auf sie aufbaut, und Musik ist zweitens ein generelles Ordnungsphänomen, in welchem (noch) verwoben ist, was Sprachen dann weiter ausdifferenzieren und verfeinern; sie kennt und in ihr entfalten sich, ja sie „proklamiert“22 menschliche und kulturelle Universalien: „[D]ie Musik geht sowohl dem Sinn als auch den Sprachen voraus. Aber die vielfältigen Algorithmen, derer sie sich bedient, nehmen auch alle Mathematiken vorweg, deren ausdifferenzierte Verzweigungen und deren Kraft meine mir eigene Sprache bilden.“23 Sprache schiebt dabei die Musik beiseite, sie hindert daran, „die Schreie der Lebewesen und die Geräusche der vorgängigen Welt zu hören“24. Sprach-Sinn filtert, Musik hingegen bleibt generisch, es führt also kein Weg quasi bergauf. Serres erläutert das so: „Die Morphologie verbindet auf korrekte Weise die Buchstaben der Wörter; die Syntax verbindet die Nebensätze mit den Hauptsätzen; dann erlaubt die Logik, Widersinniges zu vermeiden und schließlich löscht der Schliff den falschen Sinn. Zu sagen, die Musik habe keinen diskursiven Sinn, bedeutet einfach nur, zu behaupten, dass sie drei dieser Filter vermeidet. Die Komposition kennt keinen Unsinn; Noten fügen sich wie Ziffern oder Codes und nicht wie die Buchstaben des Alphabets aneinander, und passen immer zusammen; daher auch die direkte Verwandtschaft zwischen den musikalischen Noten, den 20  21  22  23  24 

ibid., 103. ibid., 148. cf. ibid., 46. ibid., 34. ibid., 19.

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Ziffern der Arithmetik und den Bits und Pixeln der Informatik. Außerdem gibt es in ihr keine Wahrheitslogik, die Widersinniges eliminieren würde. Gleichwohl hört das sensible Ohr das Falsche […] Von den vier Filtersystemen bleibt eines übrig. So ist die Musik mithin dem Sinn benachbart, aber in einer so feinen und zierlichen Weise, dass sie in seinem Vorzimmer bleibt […]“.25 Sprechen wir von Orpheus, Eurydike und den Musen, so zählt, dass die Körper es sind, die das Musikalische der Musik machen, verstehen und hören. Der Körper „synthetisiert“ eine ursprüngliche Musik der Kulturwelt, „[s]ein tiefes Leben komponiert eine Partitur“.26 Als Sprachverwender wiederum bestaunen wir das dem Apeiron des Anaximander gleichende „Undefinierte“ der Musik27 und ahnen, wie nah sie jenem Undefinierten ist, das wir Information nennen. Und dass Musik etwas anwesend machen kann, das es im strengen Sinne (noch) nicht gibt, möchten wir zumindest glauben; wobei Serres vor allem darauf besteht, dass man es – das Moment der Kindsregung wird ihm hier zur Metapher28 – aus dem eigenen Inneren heraus spüren kann. Meint der Begriff „Musik“ hier jeweils Vergleichbares? Nach Serres beginnt das Musikalische mit dem „Konjugieren der Geräusche“.29 Musik ist so gesehen derart universell, dass wir viel von ihr mit den Tieren, den Vögeln etwa, teilen. Sofern sie „Brückenkunst zwischen den strengen Wissenschaften und dem entfesselten Höllenlärm“30 bleibt, uns beispielsweise Zählen macht oder überhaupt die Gestalterkennung anleitet, wird man sie eher epistemisch bestimmen, und in der Tat fordert Serres im Vorbeigehen – neben dem Pfad, der vom Auge zur Theorie führt – einen Weg „vom Gehör zur allgemeinen Abstraktion“31 zu schaffen, eine „gesungene Epistemologie“32 sowie die (oben schon zitierte) „universelle Akustik“.33 Dass es jeweils nicht um Abgehobenes, sondern um die konkreten Hörerfahrungen geht, macht das Buch ebenfalls deutlich: „Akkretion“ ist sein Ziel, der Vorstoß in die Zone, in welcher es ganz um Mischungen geht, zusammenkommendes Konkretes. Auch das sei Musik, so der Text: „Diese Akkretion. Die unendliche und von Flammen züngelnde Atmosphäre, in der das Konkrete fusioniert.“34 Insofern wird man sagen 25  26  27  28  29  30  31  32  33  34 

ibid., 131. ibid., 22. cf. ibid., 88. cf. ibid., 123: „Emotion: in meinem männlichen Körper regt sich ein Kind“. ibid., 43. ibid., 44. ibid., 90. ibid., 91. cf. ibid., 88 und 103. ibid., 164.

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müssen, dass Musik einen fließenden Übergang zwischen Großbegriff, unterschiedlich zu rahmenden Problemstellungen und einer Phänomenologie, die vom Trommeln und Tanzen über die Formate Magnifikat und Gloria bis zu Woodstock und Hiphop reicht, nicht nur vorführt, sondern auch intendiert. Wie man sich die Gesamtanlage der dem Thema unter diesem methodologischen Vorzeichen gewidmeten großen Dreifacherzählung vorstellen soll, erklärt der Text zum Einstieg hingegen didaktisch – und derart deutlich, dass eine kleine Karte oder Tabelle der abstrakten Titelworte leicht zu zeichnen ist: Titel des Buchkapitels Lärm: Legende

Stimmen: Wissenschaften Wort: Geburt und Lobpreisung

4.

Zum Bauplan von Musik ‚Paradigma‘ Lebensläufe Musikalischer „Fluss“: Von von … Lärm, Geräusch und Rauschen zu Klang, Stimme, Sinn und Information Orpheus und Von der Körperantwort zu Mythos (legenden- den Musen Klang und Sprachlichkeit, vom Gesang zum gesprochenen haft) Wort M.S. Von den Dingen zu den AutobioZeichen, zum Code graphie (persönlich) Bibel Genesis, Ver- Von der physikalischen Energie zum „Mehr an“ (heilig) kündigung Information, vom Harten und Leben zum Weichen Christi

Kosmologie

Griechisch

Wissenschaftlich

Mystisch

Der Computer und die Musik

Für eine querlaufende und vielleicht die überraschendste These in Musik sorgt Serres’ Interesse an neuer Technologie. Wiederholt werden im Buch Musik und Digitaltechnik, Musik und digitale, diesseits der Sprache gelegene Informationsverarbeitung zusammengerückt. Dies geschieht nicht allein, weil Musik „alles Mögliche des Sinns“ in sich trägt35 – was ja vor allem besagt, dass Musik tatsächlich im vollen Wortsinn ein Medium ist. Sondern auch, weil sie auf so unfestgelegte Weise das „Harte“ jener unbegrenzt vielen Dinge, die sie 35 

cf. ibid., 132.

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zum Erklingen bringen kann, in so krasser Form für das „Weiche“ (die Feinheit, die voraussetzungsvollste Herstellung, die filigrane Modulierbarkeit) des Klangs aufschließt. Serres sieht – und zwar bildlich gesprochen wohl: kurz vor dem Delta der verschiedenen Ströme, aus denen der musikalische Strom sich speist, in unserer ausdifferenzierten Kultursituation also – eine enge Verwandtschaft von Musikinstrument und Computer. Das erläutert er im Text wie folgt: „Ein Musikinstrument […] ähnelt eher einem Computer als irgend einem anderen Apparat. Orgel, Klavier, Geige, Klarinette … tausend zukünftige oder vergangene Partituren konnten, können und werden auf diesen Instrumenten gespielt werden, die in dieser Hinsicht ebenso universell sind wie unsere Computer, die ebenfalls für Millionen Anwendungen und unerwartete Einfälle offen sind. […] So also zeigen sich die Musikinstrumente selbst als authentische Vorfahren der Computer. Diese beiden Arten von Werkzeugen haben dieses Vermögen, im Sinne von Potenzial, gemeinsam: Sie machen unendlich viele Handlungen möglich, von denen einige einfallsreich, bisher unbekannt und unwahrscheinlich sind. Sie sind Universalien ohne Finalität noch Konzept, wie man dies auch von der Information sagen kann.“36 Immer schon würden wir versuchen, Musik zu transkribieren, vermerkt Serres im Anschluss an dieses Universalitätspostulat, und er fährt fort: „Egal welche Form diese [gemeint ist: die entstehende, pgg] Partitur nun annimmt, sie muss einen Code erfinden, der aus Funktionen der Chiffrierung und Dechiffrierung, mit anderen Worten aus Algorithmen besteht. Das algorithmische Denken im Mittleren Orient ist weitaus älter als das sogenannte griechische Wunder der Geometrie […]. Es scheint mir daher eine der naheliegenden Quellen wissenschaftlicher Praxis zu sein. Da die Musik dieses Denken notwendig macht und es hervorruft, mehr als dass es sie nur begleitet, geht ihre Praxis ihm voraus.“37 Noch schärfer heißt es im zweiten Kapitel, die Computer stammten „in gerader Linie von den Musikinstrumenten ab: Sie sind alle potenzielle Rechentafeln, aus denen im Akt Millionen von möglichen Partituren hervorschießen.“38 Die Kulturwissenschaftlerin Karin Harrasser gehört zu den wenigen, die diesen provokanten, wenn auch nicht ohne weiteres verständlichen Gedanken – ist er mehr als eine Intuition? – kurz, aber zustimmend aufgegriffen hat. Harrasser zufolge liegt nicht in der generellen Medialität, sondern in ihrer Fähigkeit zu sinnvollen Interferenzen – einem Resultat ihrer geringen 36  37  38 

ibid., 150. ibid., 151. ibid., 85.

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Festlegung auf exklusive Symbolisierungen – das ihre Verwandtschaft mit der Digitalität Begründende der Musik: „Der wichtigste Punkt ist vielleicht: Das Neue entsteht in der Musik nicht gegen einen Code, sondern aufgrund von überlagernden Codes, die im besten Fall Unwahrscheinliches hervortreiben.“39 Damit schlösse sich in einer Art großem evolutionären Bogen die Archaik des Musikalischen mit der Modernität avancierter Softwarearchitekturen (bzw. zumindest mit deren tieferen, nicht ihrerseits erneut sprachartig funktionierenden Schichten) neu zusammen. Harrasser deutet die historische, die medienarchäologische Seite des Serres’schen Befundes nicht. Sie richtet den Blick nach vorn – vorsichtig optimistisch: „Computer und Programme mögen, wie Geigen und Partituren, eine Geschichte haben, Scripte und Codierungen inkorporieren, aber diese präjudizieren nicht, auf welche Art und Weise sich dieses Potential realisiert.“40 In der Tat war auch Serres ein Freund der Digitaltechnik, was seine Parallelisierung von Musik und Code, von Computern und Musikinstrumenten unterstreicht. Die Generalität eines Sinns-vor-dem-Sinn, der zugleich Vielsprachigkeit, Übersetzung, formbare Möglichkeiten und ein eingekörpertes Vor-Verständnis vor dem Verstehen garantiert: Wenn es das ist, was das Informationszeitalter prägt, dann klingt dies ein wenig nach Sphärenklang und Weltenharmonie. Es entschärft sich, von der Musik her betrachtet, das Neue der neuen Technologien. 5.

Eine „universelle Akustik“?

Bietet Musik nun also endlich Serres’ Musikphilosophie? Nachdem Bemerkungen zum Musikalischen das Werk wie Kettfäden durchlaufen, ist die Schrift jedenfalls überfällig gewesen. Fast könnte sie ein Schlusspunkt sein, und jedenfalls unterstreicht sie den dezent, in Gestalt von Wiederaufnahmen und vertiefender Fortschreibung liegengebliebener Themen, aber doch konsequenten Systemcharakter des Gesamtwerks. Ob Serres’ Thesen zur Musik zur musikphilosophischen Diskussion im engeren Sinne etwas beitragen, lässt sich hingegen nicht ganz so leicht sagen. Mit seiner klaren These, das Musikalische sei – vorsprachlich, kulturell und vielleicht sogar anthropologisch – eine Universalie, bewegt sich Serres weit weg von Fragen, die musikwissenschaftlich anschlussfähig sind. Ähnliches gilt für seine relativ werkferne Rede von Musik, welche differente Praxisfelder 39  40 

Harrasser 2017, Abs. ‹13›. ibid.

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wie das Komponieren, Aufführen, Rezipieren von Musik und auch die innere Traditionsbildung – musikalische Werke referieren auf andere Werke – außer Acht zu lassen scheint. Auch geht die Differenz von Kunst und Nicht-Kunst bei Serres derart radikal in deutlich grundlegenderen Betrachtungen auf, dass ein musikphilosophischer Diskurs im engeren Sinne sich hier nur unter Schwierigkeiten wiederfinden kann. Hinzu kommen zwei Punkte, die Serres’ Musikverständnis wohl eher unterschwellig prägen, sich aber nicht von selbst verstehen oder musikphilosophisch sogar umstritten sind. Zum einen denkt Serres in – und in Musik wohl mehr als in den früheren Schriften – das Musikalische (jedenfalls wo es jenseits der sehr weiten, eher metaphorischen Rede von der Vogelstimme, vom Schrei, vom Seufzen als musikalischen Urformen um Musik im engeren Sinne geht) ausgehend von den Notation und der Partitur, also von einer schriftlichen Anordnung der Notenzeichen her. Dies betrifft gerade auch die These der Verwandtschaft von Musikinstrument und Computer: Nur wenn man die Notation – also das Aufschreiben, und zwar womöglich sogar mittels Noten in der europäischen Tradition – zu einer Elementarpraxis der Musik erklärt, kann man diese mit Bits und Pixeln, überhaupt mit einer (wie auch immer generischen) systematischen Kombinatorik aus kleinsten Informationseinheiten gleichsetzen. Auch die Analogien der DNA, der Molekularbewegung etc. zur Musik hebt weniger auf Klangerlebnis oder Melodik oder Harmonie als auf einen dem noch zugrundeliegenden Atomismus von – hier dann: inkarnierten oder physikalischen Quasi-Codezeichen ab. Wer das Musikalische freilich gerad dort am Werk sieht, wo, wie etwa im Jazz, alles einmalig geschieht und auch nicht auf der Folie von Notationssystemen zusammenstimmt, der wird Serres eine enge, weil allzu notationsgebundene Musikidee attestieren. Dabei wird nicht nur Volksmusik oral sowie entlang von Tanzformen oder durch Wissen um Instrumentenbauund gebrauch tradiert. Sondern auch die musikalische Hochkultur kennt das Ideal der ungebundenen Improvisation. Auch hier kann Musik (abseits von Noten oder auch festen Tonsystemen) dem Paradigma der freihändigen Geste oder der melodischen Mimik folgen, sich der Nachahmung von Geräuschen widmen, die Grenzzustände eines Instruments oder eines Aufführungsraumes auskosten und vieles mehr. Was außerdem auffällt ist, dass Serres augenscheinlich nicht zwischen der musikalischen Anmutung generell und Formen des geschulten, kennerischanalytischen Hörens unterscheiden will: Musik ist für ihn auch in dem Sinne eine Universalie, dass sie hier und jetzt jedermann und jeden auch ganz erreicht. Mindestens für musikwissenschaftlich geprägte Theorien kompositorischer Werke und namentlich moderner oder sogenannter „neuer“ Musik stellt ein

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solches Musikverständnis aber eine grobe Verkürzung dar. Solchen Theorien zufolge kann man allenfalls populärer Musik mehr oder weniger kenntnislos gerecht werden, elaborierte Musik erfordert jedoch sowohl Vorwissen – die Kenntnis von kanonischen Traditionen, auf die ein musikalisches Werk mit seinen Mitteln reagiert – als auch ein „Ohr“ für die Bauprinzipien dieses Werks, nämlich einen geschulten Einblick in die Details der Komposition. Ungeschulte Hörer hätten demnach nur laienhafte, oberflächliche Erfahrungen mit einem musikalischen Arrangement, das im Grunde nur einen dem Komponisten kongenialen Hörer wirklich erreicht. Serres’ Texte hingegen bekennen sich recht unschuldig zur Rolle des mehr oder weniger ungeschulten Hörers sowie zum Hörerlebnis als derjenigen Form der Teilhabe an Musik, die philosophisch zählt. Die Rede von der „universellen“ Akustik gleicht hier einem Stoßseufzer, Musik bezeichnet sie nicht durch Zufall als einen Traum des Autors.41 Der Gebrauch der Singstimme, das Spielen eines Instruments, das Üben oder gar das Komponieren bleiben demgegenüber im Hintergrund. Man kann diese Formen der Musikerfahrung mitdenken (und auch darüber spekulieren, ob sie sich den generellen Bestimmungen von Serres wohl fügen würden oder nicht), aber sie werden im Grunde schlichtweg nicht erwähnt. So kann man die Musikphilosophie des Michel Serres als fundamental, als generell und auch als nicht-elitär bezeichnen. Es geht ihm um die Musik, nicht um Kunst oder Werke, und damit um einen Gegenstand, den die Musikwissenschaft, die sich musikalischen Werken widmet, im Grunde kaum kennt.42 Vielleicht fasziniert Serres’ Herangehensweise von daher in dem Maße, in welchem man hochgetriebene Kennerschaft wie auch Komponistenpathos vermeidet – in welchem man stattdessen unter „Philosophie“ und also auch unter Musikphilosophie die Kunst der Annäherung gerade an das versteht, was als Gegenstand einfach zu groß und zu komplex ist, um überhaupt ein Gegenstand, der theoretische Erfassbarkeit verspricht, zu sein. „Meta-physisch“ – so nannte man seinerzeit Domänen oder Gegenstände dieses Typs. Mit Serres sollten wir sie „hypo-logisch“ und vielleicht näherhin dann tatsächlich „musisch“ nennen.

41  42 

cf. Serres 2011, 88 und 103 (oben in Anmerkung 33 schon genannt). Eine Musikwissenschaft und Philosophie der musikalischen Werke (oder der Musik als Kunst) verhält sich ähnlich wie die sozialwissenschaftliche Stadtforschung: Sie erforscht Phänomene in Städten, aber besitzt keine Stadt-Definition und auch im Grunde (cf. Gehring 2008) keinen Gegenstand „Stadt“.

Liebeserklärung ans Universale

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Bibliographie Gehring, Petra, 2008: Was heißt Eigenlogik? Zu einem Paradigmenwechsel für die Stadtforschung. In: Berking, Helmuth/Löw, Martina (ed.), Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt/M., New York 2008, pp. 153–168. Harrasser, Karin, 2017: Digitalität in der Kulturwissenschaft. Blogbeitrag. In: Digitalität. Theorien und Praktiken in den Geisteswissenschaften. URL: https://digigeist. hypotheses.org/123, abgerufen am 18.11.2019. Serres, Michel, 1972: Musik und Grundrauschen. In: Hermes II: Interferenz. Berlin 1992, pp. 241–262. Serres, Michel, 1980: Der Parasit. 2nd edition, Frankfurt/M. 1984. Serres, Michel, 1980b: Mythischer Diskurs und erfahrener Weg. In: Benoist, Jean-Marie (ed.): Identität. Ein interdisziplinäres Seminar. Stuttgart 1980, pp. 22–47. Serres, Michel, 1985: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt/M. 1994. Serres, Michel, 2011: Musik. Berlin 2015.

Michel Serres on Virtue David Webb In the opening lines of Morales espiègles, a short work published only a few months before the end of his life, Michel Serres writes that he intends to venture ‘on tip toe’ into the ‘exotic land’ of morals (Serres 2019b, 7). His reticence may bring a wry smile to some of his readers since questions regarding life, human life, and how it can be lived run openly through much of his work. Violence and peace are recurrent themes, as are those of multiplicity, relations, communication and restraint whose bearing on ethics is less direct, though no less significant. The fact that Serres’ writing on ethics is scattered here and there through his work is in no way a sign that he did not take it seriously. Rather, it reflects his view that the boundaries between disciplines such as the sciences, epistemology and the humanities are not easily drawn and therefore it is no surprise that questions bearing on ethics surface repeatedly in many of his books, like threads in a tattered fabric, to use an analogy that itself turns up often in Serres’ work. Morales espiègles stands as a small exception to this distribution, but there is another. In 1993, twenty-six years before the publication of Morales espiègles, Serres addressed the question of ethics directly in a talk to the Académie Française entitled “Discours sur la vertu.” Several ideas and passages from the presentation appear again six years later in Variations on the Body, but it is the earlier work that I will take as a point of departure. In its classic form, virtue ethics aims to determine the conditions for leading a good life, which is to say for living well. The criteria for living well are drawn from a conception of human being and therefore depend at least in part on understanding what it is to be human. For Aristotle, this meant using one’s rational faculties to choose how to act and speak in relation to others, which is to say ethically and politically, and developing one’s character to make choosing well almost second nature. Virtues, then, are settled dispositions that enable individuals to live in a way that exemplifies the highest conception of human life. The difficulty for modern forms of virtue ethics is that there are good reasons to avoid attaching the idea of virtue to any specific definition of human life, since doing so is bound to lead to unwanted exclusions of different kinds. Serres’ approach is quite traditional in the sense that virtue is the condition of human life lived in what can tentatively be called its most accomplished form, but it also departs significantly from orthodox versions of virtue ethics. First and foremost, in Serres’ view not only does human life lack an essence or fixed

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nature (and of course he is by no means alone in arguing for this), if anything it is defined by its capacity to diverge from biological and social norms and is given over to an open-ended invention of itself. We are a disobedient animal that refuses to be bound by its past or by present conditions and that with the help of culture, science, and technology accelerates its transformation (Serres 2019a, 141). There is therefore no human nature, essence, or condition to serve as the basis for a determination of what it means to live well. If we wish to understand human life, we must attend to its specificity (for example, biologically, socially, and culturally), but in doing so emphasise its variation on animal life and the non-living material world. For Serres, it is the variations, not the temporary or local forms, that tell us most. When it comes to the question of virtue Serres treats the ethical and political dimension of human life (bios) as a variation not only on life in a biological sense (zoe), but as a variation on the relational existence characteristic of the material world. This is perhaps most evident in his call for the social contract to be re-written as a natural contract, and for there to be an open border between political governance and scientific expertise (Serres 1995, 43). The indeterminacy of human life and its existence as a variation on non-human life and material order are linked by the idea of communication understood in an extended sense that places human communication alongside the exchange of energy and information characteristic of the material world generally. For Serres, communication is a basic characteristic of all things, from particles to elements, to organisms, human life, society, and on again to stars, planets and the structural features of the universe on the largest scale. Everything exchanges energy and information and is defined by the relations it has and of which it is capable. This presents a singular challenge to any account of virtue. For not only must it allow for the open-ended character of human life, it must also be at once specific to human life but not so specific as to be disconnected from non-human life and non-living forms of order; to repeat, the ethical and political dimension of human life (bios) is a variation on life in a biological sense (zoe) and the relational existence characteristic of the material world generally. Although there is in Serres’ work no single set of principles from which everything else follows and no single, global, sense of virtue that is everywhere the same (such a move would be inconsistent with his thinking) in “Discours sur la vertu” he reserves a special place for courage in the outline of an ethics inspired by a conception of life, and of human life in particular, as communication. It is an ethics of communication understood in an extended sense and addresses how sense is made in the confused border regions between one form of order and another, between order and disorder.

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Virtue, Vice, and Health Serres begins his presentation to the Académie Française by asking why we no longer speak of virtue. His initial response is that a mixture of psychology and moral puritanism has displaced the discourse on virtue and that our concern with moral failings has passed “from the confessional to the couch, from the prison to the hospital” (Serres 1993, 3). Vices become symptoms of psychological disorder that can be treated. Yet the fact that for the most part we still regard corruption and violence as meriting punishment indicates that a concern with morality, character, motive and intention has not disappeared altogether. Serres then speculates that if vice is today defined as a kind of physical or psychological disorder, might health be the modern analogue of virtue? The association of health with a sense of well-being easily spills over into the moral sphere, as we see both in public exhortations to eat well and to exercise, and in the culpability too often imputed to those unfortunate enough to fall ill, but it’s not a point on which Serres chooses to focus. Just as the association of vices with physical and psychological disorders may be reductive, so tying virtue to health may be unnecessarily restrictive. Remarking on the tendency to blur the boundaries between the prison and the hospital, care and condemnation, illness and crime, Serres adds that the pain of evil has given way to a sense that our destiny weighs heavily upon us and that we are passive victims of what might once have been called our moral condition (cf. Serres 1993). If virtue is to serve as the condition for us to engage with our well-being, we must first of all avoid its reduction to physical and medical categories and keep its association with health from becoming too settled. Famously, René Leriche wrote that health lies in the silence of the organs and this idea appears to have intrigued Serres because one might expect the physical processes, chemical reactions, exchanges of energy, and communications of many kinds occurring continually in the body to generate a colossal noise: how is it, Serres wonders, that we do not sense any of this? He draws on information theory to suggest that with each communication between levels or systems noise is filtered out to retain only what is significant at the ‘higher’ level, and that we simply do not need to be conscious, for example, of the passage of oxygen across a membrane or the functioning of our kidneys (Serres 1982, 78). No doubt in his own way Leriche understood this perfectly well. Serres’ point is that to speak of health as the silence of the organs and then to associate virtue with health may be both to misunderstand the body and to

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treat virtue as a determinate condition that we should aim always to preserve.1 Against this view, Serres states that our body is experienced less as an assembly of processes than as a collection of capacities they enable. To the idea that the body remains silent in health and speaks only of its woes and malfunctions he replies that perhaps virtue, distinct from health, “sings and dances in the daily struggle for survival” (Serres 1993, 4). Virtue, then, may be capable of subverting the destiny that weighs us down after all. This is an idea that he returns to in various texts, including Morales espiègles where he discusses the importance of disobedience as a feature of human life and as a deliberate and welcome challenge to social hierarchy (Serres 2019b, 9sq.). If the association of vice with medical disorders and virtue with health is to be avoided, there must be an alternative way to speak of virtue that avoids these pairings, and to explore this possibility Serres again begins with vices. In a discussion strongly reminiscent of Epicurus and Lucretius, he describes how greed ‘amasses,’ anger and pride ‘swell,’ and jealousy digs a trough of resentment (Serres 1993, 5; Lucretius 1999, III, 1076–1094). The common thread in these descriptions is that of growth or escalation of a kind that leads to unsustainable obsession, exhaustion and eventual collapse. Vices accelerate our descent towards dissolution and death. Moreover, Serres notes that insofar as the prevailing economic orthodoxy today celebrates endless growth and economic thinking extends its reach into every area of life, vices are both reinforced and at the same time masked as rational or normal. He goes on to say that in spite of the dominance such a view enjoys, it would be a mistake to oppose the tendency of vices to escalate beyond our control by presenting virtue as a form of moderation, and there are several reasons for this. Because growth is so deeply entwined with the prevailing conception of life, defining virtue in opposition to growth may give rise to “a moral stance without passion” in which prudence steers us away from vices without offering anything in their place (Serres 1993, 7). Such a life would, Serres implies, be a joyless affair. In part, this is because vices require a calculation of how best to satisfy their appetites and a simple inversion leads to a sense of virtue articulated through calculative reason that loses its connection with the body and with life. In addition, vices understood in this way promote a view of the world as significant only insofar as it feeds or denies the appetite in question; as Serres writes, “the one who is bad tempered looks for reasons to be angry in every circumstance” (Serres 1993, 5; see also Serres 2011, 47). Vices thereby impose a flat redundancy on the world, which 1  See Canguilhem 1991 for a critique of health as a fixed ideal; see also his essay “Health: Popular Concept and Philosophical Question” (Canguilhem 2012, 43sq.) for a discussion of Leriche’s observation.

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like the vices themselves, becomes rational and predictable (Serres 1993, 6). In this way, the escalation characteristic of vice crowds out multiplicity and restricts the range within which the world ‘makes sense’; it becomes less nuanced and less complex and the scope for invention is reduced. Therefore, if, as Serres writes, our humanity depends on our capacity to disobey and to diverge from the norm, we are diminished not just by our vices but by any sense of virtue framed directly in response to the threat posed by escalation. Courage, Finitude, and Time Serres needs an approach to the question of virtue that is not oriented in advance towards moderation and he initiates this by observing that virtue is not uniquely a moral quality. It is, he writes, also the principle or cause of things and in order to speak of virtue we must therefore reveal the very roots of life, down to the chemical reactions of energy and the first rhythms of time (Serres 1993, 10; see also Serres 2011, 49). Not only is virtue inherent in life, but it is here that the specific virtue of courage is born, springing from “the warmth of metabolism, the élan vital, the elemental beating of the heart” (Serres 1993, 10). Courage, then, before being a moral quality, is a feature of life itself, which is to say that we can ascribe courage to life itself, as long as the sense of ‘courage’ is extended take in any engagement with change and with what is new, just as Serres extends the sense of communication to include the relations between all things. If life opens onto the future, courage in its familiar sense is the condition of our conscious lives that most nearly repeats this movement: life is courageous, and courage is an affirmation of life. This is not, as it may seem, to speak analogically but rather to acknowledge the translation of a vital quality between the biological and the ethical, which is to say that the virtue of human life, while not reducible to biological life, is not entirely separate from it either. What is translated is the structure of a relation, or to be specific it is the way that order opens onto what lies beyond it. For Serres, human finitude is not to be conceived in view of an ending or a phenomenological horizon. Although human beings are determined by a relation to their finitude, their mortality, this relation is best seen not as constituting its existence as a whole but as giving impetus to human invention and culture to exceed its limits. Without the knowledge that death will come we would not “have lit fires, sung, danced, painted the walls of caves, looked at the stars, demonstrated geometric theorems, loved our friends, educated our children or lived in societies” (Serres 2019a, 1). Insofar as it is in and through such activities that we live, death is therefore the condition of life as we live it. However, to this relatively familiar

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conception of death (already separated into three variations) Serres adds another, characterised by the breakdown of life and function at the cellular level (Serres 2019a, 4). Apoptosis is the process by which cells are programmed to break down in order to be replaced as part of the growth and ongoing life of an organism. And when cells disregard the instruction to break down the resulting proliferation of life causes the organism as a whole to suffer and ultimately to die. The significance of this here is that death is the dissolution of one instance of order as the condition for another, or the breakdown of one form of order by virtue of the incursion of another. In each case, death is less an absolute limit than the mark of a border region where order and disorder are present together. Serres attributes the idea that boundaries between one thing or region and another are clear and well-defined to classical science and philosophy taking solids as paradigmatic of what it is to be an object (Serres 1980, 51). Gaston Bachelard before him suggested that the scientific conception of objectivity arose from astronomical observation (Bachelard 1934, 104) and pointed out that one might instead take the example of fluids, paste, mud, powder or dust, which present less well-defined borders (Bachelard 2018, 16). Serres embraces this idea, and in Le passage du Nord-Ouest he goes a step further, offering the example of fire whose borders fluctuate unpredictably: the flame is in continual disequilibrium, throwing out fingers that “seek their fortune in the world” (Serres 1980, 52). To consider fire in this way is less to choose one basic model over another than to recognise that they are variations of each other, for there are similarities as well as differences between fire and fluids when it comes to their integrity and their behaviour around borders. Moreover, the similarities can be extended even to the solid objects of classical science and philosophy as long as one recognises that we view them on different temporal scales. Objects are “frozen flames” and “My body is a flame, a little slower than this crimson flame that consumes these logs” (Serres 1980, 53). Borders, then, are not simple limits, but complex and partially regulated regions where order and disorder are present together and things, perhaps especially living beings, mingle with what is other to them. This is a form of communication through which beings may incorporate new energy and information in order to sustain a quasi-stable order or equilibrium. Precisely how the communication occurs is unpredictable and varies not only from place to place and from time to time, but also across the scales of order and life considered. There is a further sense in which this mingling of order and disorder can be described in terms of time. In the classical period, astronomy and the apparently perfect cycle of the planets gave rise to the image of time as reversible, an idea that was later enshrined in Newtonian science and which survives today

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wherever science predicts the future state of a system based on universal laws. Serres points out that this understanding of time extends beyond science to the rhythm of our heartbeat and the greater part of our social and working lives. Quite apart from the quasi-equilibrium in which our bodies for the most part get along, repeating the same processes and movements, so much of our lives are ordered by habit and routine that “We are reversible in three quarters of our actions” (Serres 1980, 76). If an awareness of death draws us into a time that is irreversible, the reversible time of organic processes, habit, routine and tradition draw us in the opposite direction. As Serres writes, “our societies of work and the distribution of our hours and days try to steal death from us, to make us forget or lose our other times” (Serres 1980, 77). The point here is not that we should regret being robbed of death for its own sake, but that in losing it we also lose something else of value, which is to say our engagement with other times and what they can bring. To be aware of our mortality is to be aware that the repetitions and cycles of reversible time cannot hold: “I know that I will die, that the letters formed, here and there, with the spasm of the heart and countless shudders of the cortex will disperse in the wide fortune of the melanges, and this blind certainty will free me from the time that I took to be universal” (Serres 1980, 77). With this, I enter a second time that is irreversible. In the form it takes here, this comes from thermodynamics and the recognition that order inevitably gives way to disorder. In the context of physical processes, it tells us that uneven distributions of energy inevitably flatten over time as pockets of high energy empty into those places where energy is low, and order and structure approach a minimum. Thermodynamics states that entropy, the measure of disorder, will always increase over time. In a human sense, irreversible time reminds me that I am mortal, and that not only my body and mind but also my works and anything I try to leave behind me will all eventually come to nothing, or nearly nothing. Each of us, then, lives in and through two contradictory times; a reversible time of order, organic repetition, habit, and routine, and an irreversible time in which all this breaks down, quickly or slowly, and tends towards disorder (Serres 1980, 78). But there is also a third time. In their own way, both reversible time and irreversible time make it impossible for anything new to emerge, since in the first order returns to what was already there and in the second order is inevitably degraded (Serres 1980, 79). Yet living beings not only reproduce but evolve, generating new forms, new ways of living, and transforming the world around them (Serres 1980, 79). This third time moves from disorder to order and is ‘negentropic.’ Although Serres describes this third time primarily in terms of sexual reproduction and the theory of evolution (Serres 1980, 79), there are further senses in which living beings, and human beings in particular, manifest

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this third form of time. In a basic translation of order from one form to another, the living being sustains itself by incorporating matter, energy from its surroundings. For the most part, this happens in a relatively stable fashion, but there will always be variations as, for example, cellular life responds to changes in the temperature or chemical composition of the water in which it lives and more complex forms of life adapt to the seasons and the availability of food. But human beings go further, ‘making sense’ of the world by translating its code into meaning in ways not tied to their immediate survival, for example in the form of acts and artefacts that construct order with wider cultural meaning; that is, anything from writing to architecture, from wine-making to social care. The living being, in fact life itself insofar as one can define it at all, is, Serres writes, a confluence of these three times. To sustain this confluence the living being must both expose itself to disorder, or the noise, around it, and defuse the risk that comes with this, for if disorder gains the upper hand, the slope towards dissolution and death steepens and the life of the living being is threatened. Because fixed rules governing matter and its relations only obtain in the region of reversible time (although we have laws of thermodynamics the behaviour of the system is predictable only at a statistical level), the border region between order and disorder is highly changeable: “it is not clear that one will ever know the rules” (Serres 1980, 53), for the rules themselves change as events unfold in the relation between order and disorder. In order to defuse the risk to which it is exposed simply by virtue of being alive, the living must therefore invent and improvise. Courage and Communication This brings us back to the virtue of courage that Serres described earlier, which is evidently different to the funereal wisdom he identified as a counterpoint to the conception of vice characterised by escalation. Simply moderating our appetites corresponds in Serres’ view to remaining in the sheltered precinct of order as it already exists. This principle, too, applies across different scales from material combinations to the elements of organic life, living beings, and the forms of life that we develop and sustain socially, ethically, culturally, and politically, and in The Natural Contract Serres writes disdainfully of the ordered urban or suburban world where you are free “to sleep, dream, talk on and on …” and where there are “a thousand causes with non-existent effects” (Serres 1995, 111). Nothing happens. Time stands still or is reversible and communication exchanges only minimal information. For Serres, there is little to recommend such a life, condemned by its avoidance of risk to a steady decline (individual

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and collective). By contrast, “Beyond the port, shipwreck for the smallest error” (Serres 1995, 111). Time, here, is irreversible and minor causes lead to great effects. To venture out from the haven where “everything is sleeping or purring” (Serres 1995, 111) leads to new communications with people and with things, fresh scope for invention, but also greater exposure to risk, including the risk of death. It is in this way, Serres writes, that “death alone founds our humanity, and thus all our morals, vices and virtue” (Serres 1993, 11) Yet it does so not as a limit that cannot be surpassed. To communicate is to exchange with what is other to oneself, which means to negotiate the border between order and disorder (and between different configurations of order) and through invention to combine the three forms of time. Whereas animals exist within their limits, the human being, an animal “without instinct” (Serres 1993, 8), is capable of endless invention and insofar as it is defined at all it is defined by this openness. As such the human being chooses to disregard death, or rather experiences this disregard as a vital force springing from the body itself, which is capable of going further than our head may judge is advisable or even possible (cf. Serres 1993, 8); the body “knows how to go beyond and elsewhere” (Serres 2011, 144). Contrary to the ideal of health, which encourages an instinctual preservation of life for its own sake, the virtue of courage “crosses over the fatal obstacle towards something or someone else” and “opens our aspirations towards the unlimited” (Serres 1993, 8). With courage, we act in spite of the fact that death will bring everything to nought, and may do so sooner than we wish or anticipate, and in doing so reach beyond it towards things, towards others, and above all towards futures that do not yet belong to us as possibilities. Courage enables the composition of order that does not simply repeat the past and Serres sees in this a form of growth that he contrasts with the escalation on a pre-determined scale characteristic of vices; it’s almost less the direct harm that vices cause that bothers Serres than the way they induce in us a sterile repetition of the same pursuits. In both “Discours sur la vertu” and Variations on the Body Serres gives examples individuals who set off, or find themselves, on extraordinary adventures of endurance, from rowing across the Pacific Ocean and passing nights in a storm suspended on the face of a mountain, to surviving years of illness to compose music and enduring poverty, unemployment, insecurity, and despair to care for one’s family. On the face of it, the list is unusual in the context of a discussion of virtue in that, even as examples of courage, there is little sense here of life lived in the round, or of the promotion of specific forms of social engagement. While the feats he lists all involve calling on reserves of strength to survive situations in which one’s life is at risk, whether as a result of deliberate choices or of misfortune, some

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directly involve other people, but most do not. This breaks with the expectation that virtues are maximal forms of conduct involving others, but it makes sense when considered alongside his views on the emergence of order and communication. For Serres the communication with which virtue is associated includes not only information we exchange with others, but also our communication with the material world and ultimately the material world’s communication with itself. Human virtue appears here as a variation in a set of variations, related, but not reducible, to qualities characteristic of communication in other forms and at other scales and in this way it connects humanity to the world, and not just to others in an ethical and political sense. Classically reserved for our dispositions to others, virtue is re-purposed to name a disposition towards things as well as people, denoting a form of engagement at the border between one thing and another, between a body and the material world to which it is exposed. As such, it concerns the capacity of that body, that living being, to compose order from the disorder provoked by this exposure, and as Serres asks, echoing Spinoza, “Who knows what the body can do?” (Serres 2011, 38). The composition of order should not be understood as, to borrow a familiar metaphor, the expansion of an existing regime into new territory. The border between one instance of order and another, or between order and disorder, is itself a disordered region where rules (forms of repetition) are in flux and changeable and, to use an expression that Serres uses often, beings mingle and settle into new forms of co-existence, new contracts. To compose order is to enter into a process in which one is oneself changed, and Serres sees in this “a warm and total forgetfulness of the self towards the world, others, the neighbour and objects” (Serres 1993, 10). This is not to promote virtue as self-denial but, rather, once again, to see courage as the condition of a variation on communication in an extended sense. The composition of order in communication between one being and another is not free invention and, as Serres reiterates many times, it requires careful attention and training on the part of the individual. The virtuosity of the climber, the musician, the artist, and the mathematician is achieved through dedicated training. To take the example to which Serres often returns, the climber must study the rock face or the route and, over the course of years, train her body to hold itself and move according to the conditions, which is to say according to the rules that determine the rock face and the possibilities it offers. Invention, here, lies in the communication between fingers and rock, combining in ways that may have been mapped in advance, but which depend on body’s own memory and its feel for the conditions. The climber’s moves, however carefully planned and however well practiced, will be new

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each time they are performed. Similarly, the concert violinist risks everything in each performance, “always playing and betting his whole existence” (Serres 1995, 112). Like the climber inventing the future with each hold, the musician combines with a pre-existing order, the score, to bring something new into the world with each phrase, even when it has been rehearsed a thousand times. A variation on this relation between act and risk can be seen in art and in mathematics, and in every pursuit that is at all creative, however humble. Yet it can also be seen in the feats of endurance to which Serres refers in “Discours sur la vertu” and Variations on the Body, such as those of a parent surviving poverty to provide for a child. Hardship, even pain, places the body in that region where its limits are in the balance and survival calls for invention. One has to submit to the experience yet improvise a future that is one’s own. Serres writes that he is what pain has made of his body long before being what he thinks (Serres 1995, 41), but while the body conforms to the demands of the challenge it faces it also improvises its future, from one moment to the next when necessary, and in fact its capacity to do this depends on its familiarity with the demands it faces and therefore on its training or prior experience. The Virtue of Being Plural This is not to say that survival matters above all else and at any cost. Courage, Serres writes, does not regard life as good in and of itself and would call any civilisation for which it were the highest value vain (cf. Serres 1993, 11). To take virtue as courage is to see the value of a life determined by that with which it communicates and the order it composes together with that other thing or other life. A virtuous life gives value to that which absorbs its time, energy, and dedication; for example, the work of a composer gains something from the care of those who perform it, and a political cause is made significant by its activists and supporters. There can be no immediate guarantee that such a work, such a cause, or any other example, will be ‘good’ by the criteria that inform aesthetic and moral judgement at any given time, but the focus on courage as a virtue is consistent with the current of anti-violence that runs through Serres’ work. Courage as envisaged by Serres belongs not to the hero who kills but to the one who confronts mountains, high seas, solitude, exclusion, and even freedom – challenges that “test the limits of a body common to the humans that we are” (Serres 2019a, 243). It consists in “interceding to make the killing stop and also in taking it upon yourself never to take vengeance” (Serres 2019a, 243). Insofar as there is an imperative here, it must arise from the form of life from which virtue is drawn. If the mark of organic life is metabolism, that of

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human life is metamorphosis, as the human body takes on various forms (or formats, as Serres calls them) depending on the demands of the life to which it is given over (Serres 2011, 51). Virtue is connected not to an essence but to this inventiveness. Therefore human life flourishes in conditions that favour communication, exchange, and the formation of new relations and for this reason plurality is valued over uniformity: “A single law corresponds to a sudden death. The more plural an individual becomes, the better he lives: the same is true for societies, or for being in general” (Serres 1995, 41). But how does one become plural? For Serres the answer is by entering into many relations, by communicating widely, by giving oneself over to things and to others. One has to be prepared to learn new disciplines, but also to spend time where the rules defining what there is and how we conduct ourselves remain uncertain and mutable. For Serres, our well-being depends on our relations to the material world perhaps even before our relations to others. First obligation: reserve. First maxim: before doing good, avoid the bad. To abstain from all evil simply hold back. Because in expanding, good itself, just like the sun, very quickly becomes evil. This first obligation conditions life, creates a readiness for a sense of emergence from which novelty will come. (Serres 2000, 119)

The inventiveness of human life depends on the multiplicity of life more generally, which can be destroyed by the escalation that in “Discours sur la vertu” Serres associated with vice. Reserve is vital. In spite of what may seem at times a broad and sweeping analysis, there are principles that follow from tracing virtue, courage, back to human life treated as one variation of life among others: “He is human who does not always bring his arm down on the weak, as a matter of course, or on the strong out of resentment, or even on those proven to be bad” (Serres 2000, 122). The ethics Serres proposes retains a sense of human specificity (or more precisely its indeterminacy) while presenting this as a variation on other variations of order that make up the world around us at every level and in every respect, including inanimate things, organic life, and every manner of human endeavour. Courage is a feature of all life inasmuch as each living being participates in communication in an extended sense, but it takes on a specific meaning in relation to human life understood as diverse and inventive and not bound by essential characteristics. We are most human in our attention to things, to others, and to the elaboration of new forms of co-existence. Like other versions of virtue ethics, Serres’ account may not always provide clear guidance on how to act in every situation, though this has not been tested here,

Michel Serres on Virtue

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but it is compatible with the indeterminacy of human life. Moreover, unlike other forms of virtue ethics it proposes that our concern with how we conduct ourselves towards others (and ourselves) is inseparable from a temperate relation with nature. At the present time this may offer an especially valuable perspective on the future. Bibliography Bachelard, Gaston, 1934: Le nouvel ésprit scientifique. Paris. Bachelard, Gaston, 2018: Atomistic Intuitions., Albany. Canguilhem, Georges, 1991: The Normal and the Pathological. Cambridge, MA. Canguilhem, Georges, 2012: Health: Popular Concept and Philosophical Question. In: Canguilhem, Georges, Writings on Medicine. New York City 2012, pp. 43–52. Lucretius, 1999: On the Nature of the Universe. Oxford. Serres, Michel, 1980: Hermes V: Le passage du Nord-Ouest. Paris. Serres, Michel, 1982: The Origin of Language: Biology, Information Theory, & Thermodynamics. In: Serres, Michel, Hermes: Literature, Science, Philosophy, Baltimore 1982, pp. 71–83. Serres, Michel, 1993: Discours sur la vertu. URL: www.academie-francaise.fr/discourssur-la-vertu-seance-publique-annuelle-5, zugegriffen am 25.11.2019. Serres, Michel, 1995: The Natural Contract. Ann Arbor. Serres, Michel, 2000: The Troubadour of Knowledge. Ann Arbor. Serres, Michel, 2011: Variations on the Body. Minneapolis. Serres, Michel, 2019a: Hominescence. London. Serres, Michel, 2019b: Morales espiègles. Paris.

Inzest, Parasiten und Anderes Reinhold Clausjürgens Jadis, si je me souviens bien, ma vie était un festin où s‘ouvraient tous les cœurs, où tous les vins coulaient. | Einst, wenn ich mich recht erinnere, war mein Leben ein Fest, wo alle Herzen sich öffneten, wo alle Weine flossen.1

Eine der großen Suchen nach dem Übergang von der Natur zur Kultur findet sich schon bei Jean-Jacques Rousseau. Für ihn war diese Suche die Suche nach dem Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand. Für Rousseau gab es im Naturzustand keine Gemeinschaften, keine Allianzen sondern nur Feinde, nur natürliche Gewalten. Die Menschen wissen es nicht besser, sie greifen an, um sich zu verteidigen. Die Menschen sind verlassen auf der Erde und sind bereit anderen das anzutun, was sie selbst von ihnen erwarten. Die Angst regiert.2 Aber es gibt auch positive Seiten des Naturzustandes: Im Naturzustand haben die Menschen weder Tugenden noch Laster, sind weder gut noch schlecht3 – dieses wird der Mensch für Rousseau erst im Prozess der Vergesellschaftung.4 Die ersten Prozesse der Vergesellschaftung beginnen innerhalb der Gruppe, des Clans, der Familie; jede Familie ist dabei eine Gesellschaft im kleinen.5 Die Gesetze sind identisch mit den Naturgesetzen und die Sprache besteht aus Gesten und unartikulierten Lauten.6 Der Umgang der Menschen miteinander ist wild und ungeordnet. Sie kommunizieren nicht. Erst mit der Vergesellschaftung entwickelt sich die Sprache und umgekehrt. Die Sprache spielt die entscheidende Rolle im Prozess der Vergesellschaftung.7 Wenn man so will, erschafft erst die Sprache den Menschen.8 Sprache, Musik und Politik 1  Rimbaud 1978, 264sq. 2  cf. Rousseau 1989, 121. 3  cf. Rousseau 1978, 165. 4  cf. ibid., 111–117pass. 5  ibid., 201. 6  cf. Rousseau 1989, 120sq.: „In frühesten Zeiten kannten die über die Erde verstreuten Menschen keine andere Gemeinschaft als die der Familie, keine anderen Gesetze als die der Natur und keine andere Sprache als die der Gesten und einiger unartikulierter Laute.“ 7  cf. Rousseau 1978, 141–161; Rousseau 1989. 8  Serres 1972, 155: „La communication crée l’homme“; dt.: Serres 1992a, 204: „Die Kommunikation macht den Menschen.“ Eine bessere Übersetzung wäre: „Die Kommunikation erschafft den Menschen.“

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haben den gleichen Ursprung.9 Herrscht im Naturzustand der große Lärm der unartikulierten Laute, so ist der Übergang von der Natur zur Kultur der Übergang vom Lärm zur Kommunikation, vom Chaos zur Ordnung; es ist der unmögliche Übergang, die Nordwest-Passage der Welt.10 Ein schwieriger Weg in unsicheren Gewässern. Dieser Übergang ist ein Fest, die Überschreitung des Grenzwerts, Bruch und Kontinuität, er ist ‚der Sündenfall‘, der Übergang von der Unschuld zur Schuld und damit gleichzeitig die Vertreibung aus dem Paradies. Der Diskurs über den Ursprung der Welt ist daher isomorph zum Diskurs über den Ursprung der Sprache.11 Im Naturzustand herrscht der große Lärm, der Un-Sinn, im Gesellschaftszustand die Ordnung, der Sinn. Die Suche nach dem Ursprung der Kultur ist als Suche nach dem Ursprung der Sprache und/oder der Gesellschaft (der Verwandtschaft) gleichzeitig die Suche nach den Bedingungen und Möglichkeiten des Übergangs von der Natur zur Kultur als Bruch und/oder als Kontinuität. 1.

Inzest

Bei den Wilden findet der Inzest nach Rousseau nicht statt, weil kein Bewusstsein für den Inzest vorhanden ist. Dem Wilden ist jede Frau gut genug.12 Für ihn sind dauerhafte Beziehungen zwischen den Geschlechtern eher eine Folge der Bequemlichkeit.13 Die Verbindungen zwischen den Geschlechtern sind frei von Schuld, darum ist für Rousseau diese Zeit die glückliche Zeit (der Menschheit).14 An der Quelle, am Wasser bilden sich die Familien und damit die ersten Gesellschaften.15 Erst mit fortschreitender Vergesellschaftung, als der Wilde zum Barbaren wird, wird die Geschlechterbeziehung zum Problem und die Vermeidung des Inzest zur Aufgabe. Es gibt zwar schon Familien, aber keine Liebe.16 An der Quelle treffen sich die Familien, treiben Handel, feiern 9  10  11 

12  13  14  15  16 

cf. Kremer-Marietti 1974, 37; cf. auch Serres 1993a, 272–286. cf. Serres 1994a. Serres 1992b, 190: „So kommt es, daß der Diskurs über den Ursprung der Welt dem Diskurs über den Ursprung der Sprachen isomorph ist.“ cf. auch die allgemeinen Anmerkungen von Serres zu Lévi-Strauss: Serres et al. 2016, 126sq. und zum Ursprung der Sprache: Serres 1993a, 272sqq. Rousseau 1978, 181. cf. ibid., 203sq. Rousseau 1989, 133: „In dieser glücklichen Zeit, da die Stunden nicht eingeteilt wurden, gab es keinen Zwang, sie zu zählen. Die Zeit hatte kein anderes Maß als das der Belustigung und der Langeweile.“ cf. ibid.; cf. hierzu auch Derrida 1974, 449sq. cf. Rousseau 1989, 133sq.

Inzest, Parasiten und Anderes

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die ersten Feste – und geraten in Streit.17 Es gibt keinen Inzest, weil es keine Differenzierung zwischen Ehefrau und Schwester gibt.18 Woher kommt nun die Inzestvermeidung bzw. das Inzestverbot? Hatte Sigmund Freud in Totem und Tabu noch eine Inzestscheu19 unterstellt, so geht Claude Lévi-Strauss in seiner Analyse der elementaren Strukturen der Verwandtschaft einen deutlichen Schritt weiter. Für ihn besteht die wesentliche Rolle der Kultur darin, „die Existenz der Gruppe als Gruppe zu sichern und folglich – in diesem Bereich wie in allen anderen – den Zufall durch Organisation zu ersetzen.“20 Für ihn ist das Inzestverbot daher weniger ein Verbot als eine Vermeidungsstrategie, die durch eine verallgemeinerte Tauschbeziehung zwischen den Familien, den Clans und letztendlich der gesamten Menschheit, das Fortbestehen der kleinen Gruppen – und auch der gesamten Menschheit – sichert. Durch Exogamie, also der Heirat außerhalb der eigenen Familie, des eigenen Clans, entstehen Allianzen, die die Sicherheit aller Beteiligten fördern und garantieren und den Inzest vermeiden.21 Lévi-Strauss identifiziert in diesem Zusammenhang eine elementare Familienkonstellation, das Avunkulat,22 die das Grundelement jeder Familienbeziehung darstellen soll: „[D]iese Struktur ist die einfachste Verwandtschaftsstruktur, die denkbar ist und die es überhaupt geben kann. Sie ist im eigentlichen Sinne das Verwandtschaftselement.“23 Das Avunkulat als Atom der Verwandtschaftsbeziehungen besteht aus der Frau, ihrem Mann, dem gemeinsamen Kind und dem Bruder der Frau (Papa-Mama-Onkel-Kind). Der Mann gibt seine Schwester an den anderen (fremden) Mann und erhält dafür im Austausch eine Frau aus der Familie des anderen Mannes. Durch die Gabe der Schwester an den anderen Mann entsteht eine Verpflichtung und damit eine Allianz zwischen den Familien. Die Männer tauschen die Frauen. Die Gabe24 der Schwester an den Anderen lässt die Verwandtschaftsbeziehungen 17  18 

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21  22  23  24 

cf. ibid., 129sqq. ibid., 134: „[D]ie Unterschiedlichkeit der Geschlechter entwickelte sich mit zunehmendem Alter, und der natürliche Trieb reichte aus zur Vereinigung, der Instinkt ersetzte die Leidenschaft, Gewohnheit die Wahl. Man wurde Mann und Frau, ohne aufgehört zu haben, Bruder und Schwester zu sein.“ cf. Freud 1925, 5–25. Lévi-Strauss 1981, 81; cf. auch ibid., 98: „Als Verbot betrachtet, beschränkt sich das Inzestverbot darauf, auf einem für das Überleben der Gruppe wesentlichen Gebiet den Vorrang des Gesellschaftlichen vor dem Natürlichen, des Kollektiven vor dem Individuellen, der Organisation vor der Willkür zu behaupten.“ cf. Lévi-Strauss 1981, 80sq. cf. Lévi-Strauss 1967, 52–65. ibid., 61. cf. zum Begriff ‚Gabe‘ insbesondere auch Mauss 1978.

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entstehen und definiert durch die Verbindlichkeit der Beziehungen das, was ein Inzest ist. Die Gabe führt zur Vermeidung des Inzests und über den verallgemeinerten Tausch zwischen entfernten Familien und Clans sowie über Regionen hinweg wird der Inzest auch über große (Zeit-)Räume vermieden. Der Ausgleich findet über die Generationen25 und Räume hinweg statt: „[M]an empfängt nicht von dem, dem man gibt; man gibt nicht dem, von dem man empfängt. Innerhalb eines Zyklus von Gegenseitigkeit, der in nur einer Richtung funktioniert, gibt jeder einem Partner und empfängt von einem anderen.“26

Abbildung 7.1 Das Avunkulat nach Lévi-Strauss

Für Lévi-Strauss sind die „Verwandtschaftserscheinungen […] in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit Phänomene vom gleichen Typus wie die sprachlichen.“27 Wenn die Verwandtschaftsbeziehungen wie eine Sprache strukturiert sind, so sind sie als eine Art der Kommunikation zu interpretieren. Sie unterliegen den Regeln des Gebens und Nehmens, des Tausches und von Schuld und Sühne. Durch die Exogamie, durch das Inzestverbot, entsteht ein Verhältnis der Gegenseitigkeit, der Allianz.28 Das Inzestverbot garantiert einen Austausch,29 eine globale Struktur der Gegenseitigkeit.30 Allerdings werden keine Wörter sondern Frauen getauscht,31 die Frauen sind wie Nachrichten.32 Dabei ist es für Lévi-Strauss völlig selbstverständlich, dass „in der menschlichen Gesellschaft […] die Männer die Frauen aus[tauschen] und nicht umgekehrt.“33 25  26  27  28  29  30  31  32  33 

cf. Lévi-Strauss 1967, 62. ibid., 73. ibid., 46; cf. auch ibid., 63/74. cf. Lévi-Strauss 1981, 120. cf. ibid., 106. ibid., 216sq: „Diese Unterschiede rühren beide von der Tatsache her, daß für uns der Tausch lediglich der Aspekt einer globalen Struktur der Gegenseitigkeit ist“. cf. Lévi-Strauss 1967, 74. cf. ibid. ibid., 62.

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Der Tausch findet zwischen den Männern statt, die Frauen sind die Objekte, die getauscht werden: „Die globale Tauschbeziehung, welche die Heirat bildet, stellt sich nicht zwischen einem Mann und einer Frau her, die beide etwas schulden und etwas erhalten, sondern zwischen zwei Gruppen von Männern, und die Frau spielt dabei die Rolle eines der Tauschobjekte und nicht die eines der Partner, zwischen denen der Tausch stattfindet.“34 Lévi-Strauss betrachtet dagegen den Fall, dass die Frauen die Männer tauschen, also die Umkehrung der Tauschsituation als einen „sehr hypothetischen Fall“,35 der praktisch nicht vorkommt, und sollte er vorkommen, die Gesamtstruktur des Tauschsystems nicht verändern würde. Wir werden weiter unten zeigen, dass es gleichgültig ist, ob die Männer die Frauen tauschen oder umgekehrt. Die Einführung des Parasiten wird die Positionen und Plätze auflösen und zu einem offenen/geschlossenen Rotationsprinzip der Plätze führen. Welche Funktion erfüllt das Inzestverbot? Exogamie, die Heirat außerhalb der eigenen Familie, des eigenen Clans, also die Inzestvermeidung, das Inzestverbot, hat dieselbe fundamentale Funktion wie die Sprache: Kommunikation mit den Anderen und Integration in die Gruppe.36 Dabei ist das Inzestverbot „weniger eine Regel, die es untersagt, die Mutter, Schwester oder Tochter zu heiraten, als vielmehr eine Regel, die dazu zwingt, die Mutter, Schwester oder Tochter anderen zu geben.“37 Die Gabe – und damit verbunden womöglich der Verzicht – ist fundamental. Es handelt sich daher eher um einen Inzestverzicht: Der Tausch der Frauen bedeutet Triebverzicht, Aufschub der Befriedigung. Die Veränderung der Frauen vom Reiz zum Zeichen definiert daher den grundlegenden Schritt des Übergangs von der Natur zur Kultur und des Inzestverbots zur Institution.38 Der Inzestverzicht ist die Grundlage eines Systems der gegenseitigen Allianz, das Ende von Furcht und Feindschaft hin zu einer gegenseitigen Freundschaft: „[D]er Austausch der Bräute ist nur der Abschluß eines ununterbrochenen Prozesses gegenseitiger Gaben, durch den sich der Übergang von der Feindschaft zur Allianz, von der Furcht zum Vertrauen, von der Angst zur Freundschaft vollzieht.“39 Das Soziale, das Kulturelle erringt 34  35  36  37  38  39 

Lévi-Strauss 1981, 189. cf. ibid., 211. cf. ibid., 658sq. ibid., 643. cf. ibid., 121. ibid., 127; cf. ibid., 78pass.: „Der Bereich der Natur ist dadurch gekennzeichnet, daß man hier nur gibt, was man erhält. […] Im Bereich der Kultur dagegen erhält das Individuum stets mehr, als es gibt, und gleichzeitig gibt es mehr, als es erhält. […] Vom allgemeinen Standpunkt aus ist das Inzestverbot der Ausdruck für den Übergang von der natürlichen Tatsache der Konsanguinität zur kulturellen Tatsache der Allianz. Die Natur wirkt schon durch sich selbst gemäß dem doppelten Rhythmus des Nehmens und Gebens, der sich

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die Vorherrschaft über das Biologische, der Instinkt wird zurückgedrängt: „[D]as Band der Allianz mit einer anderen Familie sichert die Vorherrschaft des Sozialen über das Biologische und des Kulturellen über das Natürliche.“40 Es entsteht ein System von Regeln, von Regeln des Tauschens, des Gebens und Nehmens, von Schuld, Sühne und Ausgleich.41 Alles wird getauscht, alles fließt – panta rhei. Der Feind wird zum Bruder.42 Der fremde Andere zum Nächsten. Dabei ist das Inzestverbot „kein Verbot wie die anderen; es ist das Verbot in seiner allgemeinsten Form, vielleicht dasjenige, auf das sich alle anderen […] als ebenso viele Sonderfälle zurückführen lassen.“43 Es ist das Mittel, das Bündnis auszudrücken und zu zementieren.44 Mit dem Inzestverbot überwindet die Natur sich selbst,45 das Inzestverbot ist „gleichzeitig an der Schwelle der Kultur, in der Kultur und, in gewissem Sinne […], die Kultur selbst.“46 Der Unterschied zwischen der Natur und der Kultur, der Natur und dem Gesellschaftszustand ist das Vorhandensein von Regeln, der Gesellschaftszustand ist das Zeitalter der Regeln und das Inzestverbot ist die universale Regel.47 Die Verwandtschaftsbeziehungen folgen nach Lévi-Strauss einer Struktur und sind nicht das Resultat von Handlungen. „Das Inzestverbot hat weder einen rein kulturellen noch einen rein natürlichen Ursprung; es ist auch keine bunte Mischung von Elementen, die teils der Natur, teils der Kultur entlehnt sind. Es ist der grundlegende Schritt, dank dem, durch den und vor allem in dem sich der Übergang von der Natur zur Kultur vollzieht.“48 Gilles Deleuze und Félix Guattari halten das Inzestverbot allerdings für einen Mythos,49 für sie ist ein „Verwandtschaftssystem […] keine Struktur, sondern eine Praktik,

40  41 

42  43  44  45  46  47  48  49 

im Gegensatz von Heirat und Deszendenz ausdrückt.“ cf. auch Serres 1981, 241: „Sollte der Austausch eine Verschiebung des Mordes sein?“ Lévi-Strauss 1981, 640. Mauss 1978, 29: „Alle diese Institutionen bringen nur eine Tatsache, ein soziales System und eine bestimmte Mentalität zum Ausdruck: daß nämlich alles – Nahrungsmittel, Frauen, Kinder, Güter, Talismane, Grund und Boden, Arbeit, Dienstleistungen, Priesterämter und Ränge – Gegenstand der Übergabe und der Rückgabe ist. Alles kommt und geht, als gäbe es einen immerwährenden Austausch einer Sachen und Menschen umfassenden geistigen Materie zwischen den Clans und den Individuen, den Rängen, Geschlechtern und Generationen.“ cf. zur Problematik der Bruderschaft Clausjürgens 2018, 41–46 und Röttgers 2011. Lévi-Strauss 1981, 659. cf. ibid., 188. cf. ibid., 74. ibid., 57. cf. ibid., 51sqq./654. ibid., 73. cf. Deleuze/Guattari 1977, 204sq.

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Praxis, ein Verfahren, sogar eine Strategie.“50 Die Verwandtschaftsbeziehungen und das sie begründende Inzestverbot bilden dann eher ein ‚kollektives Gedächtnis‘ im Sinne von Nietzsches Diktum, dem Menschen ein Gedächtnis machen zu wollen, oder auch im Sinne von Derridas Gramma.51 2.

Parasiten

Für Michel Serres ist ‚Parasit‘ kein feststehender Begriff sondern ein semantisches Feld, zuweilen auch ein Wortspiel,52 das vielfältige Bedeutungen umfasst: Der Parasit ist Gast und Tier, aber auch die ‚Störung einer Nachricht‘ im Kommunikationsprozess, er ist allgemein das Geräusch, das Rauschen, das Neben- und Störgeräusch, noise, der Lärm im Kommunikationskanal; parasiter, das in-between, das Dazwischensitzende, pollution, Verschmutzung, the intermediate, das Vermittelnde.53 Er ist ein Unterbrecher54 und ein Übermittler, er ist der Botschafter, der zur Botschaft wird: „Le messager devient le message“.55

50  51  52  53 

54  55 

ibid., 187. cf. Nietzsche 1969, 248 und Derrida 1974, 21/123 wo die gramma, die Spur, in das Gedächtnis ‚eingeschrieben‘ wird. cf. Serres 1981, 20. cf. ibid., 20–25pass.; Serres hat sich zum Parasiten an vielen Stellen seines Werkes geäußert, cf. e.g. Serres 1991a, 49: „Im Anschluß an die naturwissenschaftliche Tradition wollen wir unter Rauschen die Gesamtheit jener Störungserscheinungen verstehen, die die Kommunikation behindern.“ cf. auch Serres 1993b, 166sq.; Serres 1994b, 65sqq.; Serres et al. 2016, 73/152. cf. Serres 1981, 169. Serres 2015, 151; cf. auch ibid., 140: „On appelle parasite l’un des animaux les mieux adaptés à cet espace-temps intermédiaire; il y habite, y circule, y prospère. Hermès interprète, le Parasite intercepte. Il existe plus d’espèces parasites que d’autres – preuve que la vie pullule et prolifère dans ce millieu-là –, où elles interceptent de la nourriture, de la chaleur, les conditions générales de leur survie, certes, mais aussi des messages. Or, les langues latines utilisent le même mot pour ces bactéries, insectes, arthropodes ou hommes que pour le bruit qui peut interrompre la transmission des signaux échangés.“ [Man nennt Parasit eines dieser Tiere, welches am besten an diesen räumlich-zeitlichen Zwischenbereich angepasst ist; der Parasit wohnt, zirkuliert und gedeiht dort. Hermes interpretiert, der Parasit fängt ab. Es existieren dort mehr Parasiten als andere Arten – ein Beweis, dass das Leben sich in diesem Milieu stark vermehrt und wuchert –, wo sie bestimmt Nahrung und Wärme abfangen – die allgemeinen Bedingungen für ihr Überleben –, aber auch Botschaften. Nun, die romanischen Sprachen verwenden das gleiche Wort für diese Bakterien, Insekten, Arthropoden oder Menschen sowie für den Lärm, der die Übertragung von ausgetauschten Signalen unterbrechen kann.]

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Es gibt eine Kaskade der Parasiten; die Parasiten bilden eine Kette:56 Der Nassauer nassauert den Nassauer. Der Parasit wird durch einen anderen Parasiten, e.g. den Lärm gestört. Diese Kette der Parasiten lässt sich unendlich fortsetzen; es gibt keinen letzten, ultimativen Parasiten und darum gibt auch keinen ersten Parasiten. Der Parasit tauscht lediglich seinen Platz. Genau durch diesen Wechsel der Plätze gibt es keinen ersten oder letzten Parasiten. Es werden die Rollen getauscht. Die Positionen sind austauschbar und damit sind die drei Plätze der Kette (Wirt-Parasit-Störer) äquivalent.57 Die Kaskade, die Kette der Parasiten besteht nicht aus nur zwei Elementen (Wirt-Parasit), sondern aus drei (Wirt-Parasit-Störer) und mehr Elementen. Der Dritte wird zum Zweiten, zum Ersten; der Erste wird zum Zweiten, zum Dritten – Wechselspiel der Plätze, Reise nach Jerusalem: „Der Dritte ist der Zweite, der Zweite wird zum Dritten, das System oszilliert, sein Aufbau verändert sich.“58

Abbildung 7.2 Kaskade der Parasiten

Der/die/das Dritte als Parasit ist immer schon vorhanden: „Das Dritte ist seiner Natur wie seiner Funktion nach die Population, die sich im Kanal aufhält.“59 Der Parasit ist immer schon da, er gehört dazu, er ist sogar konstitutiv für das System. Und weil der Dritte immer schon da ist, geht er dem Austausch voraus. Die parasitäre Beziehung ist vor dem Austausch bereits vorhanden:60 „Der Dritte ist immer da, Gott oder Dämon, Vernunft oder Rauschen.“61 Der Dritte wird nicht ausgeschlossen. Der Parasit ist der eingeschlossene Dritte,62 er ist der zugleich ein- und ausgeschlossene Dritte. Und „Wer ist der Dritte? Man.“63 Jedefrau/Jedermann. Der Dritte als Parasit kann nicht mehr eindeutig identifiziert 56  57  58  59  60  61  62  63 

Serres 1981, 279: „Die Kette des Parasitentums ist eine einfache Ordnungsrelation, sie ist irreversibel wie der Fluß eines Stromes.“ cf. auch ibid., 288. cf. Serres 1981, 28/33/36sq. ibid., 84. ibid., 227. cf. ibid., 26/122. ibid., 97. cf. ibid., 317/328. Serres 1981, 87; Serres 1991, 83: „Voici donc la troisième personne devenue la totalité du collectif social qui environne ceux qui en parlent; en ce cas, elle se nomme: on ou chacun ou tous ou les autres.“ [Hier nun wird die dritte Person zur Totalität des sozialen Kollektivs, die diejenigen umschließt, die darin sprechen; in diesem Fall nennen sie sich: Man oder Jeder oder Alle oder die Anderen.]

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werden. Durch den ein-/ausgeschlossenen Dritten entsteht ein System, eine Logik der Unschärfe.64 Wir kommen zu der absurden Situation, dass das, was ausgeschlossen werden soll, der Dritte, konstitutiv für das System ist. Weil der Dritte aus dem System ausgeschlossen werden muss, gehört er zum System dazu, der ausgeschlossene Dritte beherrscht das System.65 Wer den Parasiten verdrängen will, kann dieses nur zu einem sehr hohen Preis erreichen: Einerseits kann man den Parasiten durch einen größeren, stärkeren Parasiten töten, d.h. aber, dass man lediglich den einen Parasiten durch einen anderen austauscht,66 andererseits bricht das System zusammen, wenn man den Parasiten ausschließt. Die Botschaft ist nicht mehr zu identifizieren: „Die Kraft des Ausschließens kehrt sich sogleich um und bringt sie zurück. Was man verdrängt ist stets da.“67 Man braucht Lärm für die Botschaft. Man braucht Lärm für die Information.68 Schließt man den Lärm aus, so schließt man auch die Botschaft aus.69 Umgekehrt tötet aber auch der Lärm die Botschaft, wenn der Lärm zu mächtig wird. Der Parasit ist dann ein Filter, er fängt die Botschaft ab.70 Was ist der Parasit? Er ist das Stabile im Instabilen, die Ruhe in der Bewegung, die Nicht-Veränderung im Austausch; im System die Handlung, in der Handlung das System, die Struktur der Handlung und das Handeln des Systems; das Ende im Ursprung und der Ursprung im Ende – Zirkularität. Die Inklusion der Gegensätze, unscharfe Relationen, dreiwertige Logiken; Varianz in der Invarianz – Ununterscheidbarkeit!71 Ein neues Prinzip entsteht. Der Parasit ist (a) und sein Gegenteil (-a):72 „Der Parasit ist Sein und NichtSein zugleich.“73 Der Parasit ist die Aufhebung der Dichotomie, Aufhebung 64  65 

66  67  68  69 

70  71  72  73 

cf. Serres 1981, 88. ibid., 341: „Theorem: Dies Gesetz schließt die Sosiasse aus, es treibt die Dritten aus dem Haus. Metatheorem: Dies Gesetz schließt alle anderen Gesetze aus. Diese Logik vertreibt die anderen Logiken. Die Logik des ausgeschlossenen Dritten ist dazu geschaffen, die Szene zu beherrschen, sie schließt die Logik des eingeschlossenen Dritten aus. Wer nichts mehr zu sagen hat, tut gut daran, nichts zu sagen. Das ist das Ende der Komödie.“ cf. auch ibid., 335. cf. Serres 1982, 125. Serres 1981, 119. Serres 1982, 22: „Le bruit est le fond de l’information, la matière de cette forme.“ [Der Lärm ist die Grundlage der Information, die Materie dieser Form.] Bei Platon muss der Dritte ausgeschlossen werden, er stört den Dialog; cf. Serres 1991a, 128: „[Weiter oben habe ich das zu zeigen versucht, indem ich] die Rolle eines Dritten oder dritten Menschen [definierte], der den Dialog stört und auf dessen Ausschluß Platons ganzes Unternehmen zielt.“ cf. Serres 1992a, 327. cf. Serres 1981, 237sq. cf. ibid., 17/43/245/318. ibid., 120.

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der zwei-wertigen Logik.74 Es gibt nicht mehr nur m/w sondern m/w/d oder *g – diversity. Unschärfe.75. Der Parasit ist der allgemeinste Gleichmacher, er ist das allgemeine Äquivalent.76 Mit der Einführung des Parasiten beginnt die irreversible Zeit des Lebens:77 „Der Parasit ist ein Gleichrichter, er schafft eine irreversible Zirkulation, er schafft eine Richtung, einen Sinn; er produziert Sinn“78 – den Sinn des Lebens. Der Parasit erfindet Neues.79 Er „versucht, Stimme gegen Substanz zu tauschen. Luftiges gegen Solides“.80 Der Parasit zahlt mit Information statt mit harter Münze. Er tauscht Hartes gegen Weiches, Logisches gegen Materielles, Nahrung gegen Worte, Worte gegen Frauen. Der Schmarotzer lässt sich an der reichhaltig gedeckten Tafel nieder. Das Buffet ist eröffnet! Das Gastmahl möge beginnen! Der Parasit ist der Übergang, die Passage, die Nordwest-Passage vom Harten zum Weichen – und zurück; von den exakten Wissenschaften zu den weichen Wissenschaften – und zurück.81 Er ist die Transsubstantiation in der Eucharistie. Er ist das Rauschen des Lebens.82 Er ist das Hintergrundrauschen, das permanente Grundrauschen83 des Seins, der Welt, des Universums, die Basis von Raum und Zeit und die Bedingung jeglicher Beziehung, jeglicher Relation.84 Der Parasit ist der Joker, das passe-par-tout, das allgemeine 74  75  76  77  78  79  80  81  82  83 

84 

cf. Günther 1991. cf. Gödel 1931; cf. zur Unschärferelation bei Gödel insbesondere auch Hofstadter 1979. cf. Serres 1981, 227. cf. ibid., 288sq. ibid., 284. cf. ibid., 59. ibid., 58. cf. hierzu Serres 1994a. Serres et al. 2016, 248: „C’est le bruit de la vie.“ [Das ist der Lärm des Lebens.] Serres 1977, 178: „Le chaos, c’est le bruit de fond, le désordre. Le chaos, dites-vous, c’est le non-sens. Il est, plus encore, sans doute, absence de signe, absence de signal.“ [Das Chaos, das ist das Grundrauschen, die Unordnung. Das Chaos, sagen sie, das ist der NichtSinn, Es ist, mehr noch, ohne Zweifel, die Abwesenheit des Zeichens, Abwesenheit des Signals.]; cf. Serres 1982, 108: „Le bruit de fond est permanent, il est le fond du monde, le fond noir de l’univèrs, il est le fond de l’être, peut-être. […] Le bruit de fond, je crois, ne dépend pas de moi, il ne dépend de personne, il est permanent, il est là pour tous, il est le fond de l’espace et du temps, ce en quoi reposent les choses.“ [Das Grundrauschen ist permanent, es ist die Grundlage der Welt, der schwarze Grund des Universums, es ist die Grundlage des Seins – vielleicht. (…) Das Grundrauschen, glaube ich, hängt nicht von mir ab, es hängt von niemandem ab, es ist permanent, es ist da für alle, es ist die Grundlage von Raum und Zeit, jenes, worauf die Dinge ruhen.]; cf. zu ‚bruit de fond‘ auch Serres 1993a, 271sqq. cf. Serres 1981, 83.

Inzest, Parasiten und Anderes

127

Äquivalent.85 Die Einführung des Parasiten kennzeichnet den Übergang von einer Ökonomie des Dankes, die kein Tausch ist, zu einer Ökonomie von Soll und Haben, einer Ökonomie der Schuld, der Verpflichtung. Der Dank ist ursprünglich, er kennzeichnete die Ökonomie der Götter. Bei den Göttern wurde viel gespeist, gefeiert und gelacht, das Fest und die Freude waren allgegenwärtig.86 Der Joker begründet die Ökonomie von Schuld und Sühne. Der Joker führt eine neue Ordnung ein. Der Joker wird auch als Harlekin im bunten Kostüm dargestellt und er wird oft für einen Irren gehalten.87 Seine Feste sind die Saturnalien.88 Der Parasit sitzt im Schnittpunkt der Relationen, der Beziehungen89 er „ist das Atom unserer Beziehungen.“90 So, wie das Avunkulat das Atom der Verwandtschaftsbeziehungen ist. 3.

Anderes I: Dreiecke, Kreise und Linien

Die Verwandtschaft ist wie eine Sprache strukturiert und das Avunkulat umfasst die synchrone und die diachrone Ebene.91 Es hat auf der synchronen Ebene die Elemente Mann-Frau-Mann und auf der diachronen Ebene die Elemente Paar-Kind, oder aufgelöst: das Dreieck aus Papa-Mama-Ich. Mit der Einführung des Parasiten verflacht sich das zweidimensionale System des Avunkulats zu einem eindimensionalen System der reinen Synchronizität. Das Dreieck des Avunkulats aus Papa-Mama-Ich wird zu einer Linie aus Papa-Mama-Onkel, das System kehrt in sich zurück, hat weder Anfang noch Ende. Die Frau sitzt dazwischen, ist der Parasit. Sie ermöglicht die Verbindung und stört sie zugleich. In der Beziehung von Papa und Mama ist der Onkel der immer schon anwesende Dritte (aber auch das Kind ist der Parasit auf der Beziehung seiner Eltern). Der Onkel ist der konkrete/individualisierte Dritte; der Parasit ist der allgemeine/universelle Dritte. Der Onkel gehört konstitutiv zum Avunkulat dazu, ohne den Onkel gibt es keine Verwandtschaft: „Man braucht also nicht zu erklären, wie der Onkel mütterlicherseits in die Verwandtschafts85  86  87  88  89  90  91 

ibid., 249: „Wenn es nur Joker gibt, haben wir es mit dem Kapital, dem Bankkonto, dem allgemeinen Äquivalent zu tun.“ cf. ibid., 51sq.; cf. Serres 1982, 85: „Le rire est ce bruit petit, émis dans l’extase blanche.“ [Das Lachen ist dieser kleine Lärm, ausgesandt in der unschuldigen Ekstase.] cf. auch Serres 1991b, 11–17. cf. Serres 1981, 243sq. cf. ibid., 71. ibid., 19; cf. ibid., 279: „Denn das Parasitentum ist eine elementare Beziehung, ja das Beziehungselement.“ cf. Lévi-Strauss 1967, 62.

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struktur hineingerät: er erscheint dort nicht, er ist unmittelbar gegeben, er ist deren Bedingung.“92 Der Clan legt sich um das Avunkulat, die Anderen sind in der Person des Onkels immer schon anwesend. Der ein-/aus-geschlossene Dritte ist die Bedingung der Verwandtschaft. Dieses kann man auch anders ausdrücken: Es geht nicht um die Symmetrie der Verwandtschaftsbeziehungen, die Verteilung von Männern und Frauen, sondern um die Struktur, die verallgemeinerte Struktur von Dreiecken (Männern), Kreisen (Frauen) und Linien (Verwandtschaftsbeziehungen), deren Rotation und die Beliebigkeit der Position: Es geht um die Verwandtschaftsbeziehungen als System. Wenn alle Elemente der synchronen Ebene den Platz des Parasiten einnehmen können, so lässt sich dieses als parasitäre Kaskade oder auch als Windmühle mit drei Flügeln darstellen.93

Abbildung 7.3 Windmühle der Parasiten

Die Flügel kreisen um einen gemeinsamen Mittelpunkt. Der Parasit kreist um das Zentrum. Dieses nennt Serres ein System: „Man spricht von einem System, wenn eine komplexe und in Bewegung befindliche Gesamtheit sich um eine Invariante herum ordnet.“94 Lévi-Strauss hebt den Aspekt der Zirkularität ebenfalls hervor: „Das Modell eines verallgemeinerten Systems setzt notwendig eine gewisse Zirkularität voraus“,95 nämlich die totale und kontinuierliche Zirkulation der höchsten Güter der Gruppe, die Zirkulation ihrer Frauen und Töchter.96

92  93  94  95  96 

ibid., 61. cf. Serres 1981, 85. Serres 1998, 389. Lévi-Strauss 1981, 286. cf. ibid., 640.

Inzest, Parasiten und Anderes

129

Der Parasit ist als Dritter an den elementaren Beziehungen der Verwandtschaft beteiligt.97 Es entsteht die seltsame Arithmetik der Liebe: „Wenn zwei eins sind, dann sind drei gleich Null.“98 Der Eifersüchtige „erfindet den ausgeschlossenen Dritten.“99 Einer ist die Monade, ohne Beziehung, ohne Relation.100 Wenn die Relation ins Spiel kommt, ist die Störung der Relation, der Parasit immer schon da: Einer ist keine Relation und zwei müssen immer mit dem Dritten leben. Die Einführung der binären Logik, das digitale Denken führt paradoxer Weise ebenfalls die dreiwertige Logik ein – und die Theorie der Fraktale mit ihren nicht ganzzahligen Dimensionen:101 „Jede Familie wurde eine Gesellschaft im kleinen.“102 Die Familien bilden die Fraktale der Gesamtgesellschaft. Das Teil enthält das Ganze als Teil. Das, was ausgeschlossen werden soll und wird, gehört konstitutiv zum System dazu. Das Rauschen soll ausgeschlossen werden, um sich zu verstehen, um die Kommunikation zu ermöglichen, um den Sinn entstehen zu lassen.103 Aber erst durch das Rauschen, durch den Lärm entstehen der Sinn104 und das Soziale, der Lärm ist konstitutiv für das Soziale: „Der Lärm definiert das Soziale.“105 Eine besondere Rolle spielt die Musik: Sie ist strukturierter Lärm, strukturiertes Rauschen und Brausen, sie ist ‚Pfingsten für die Seele‘. Die Zuhörer haben unmittelbaren Zugang und ‚verstehen‘ die Botschaft.106 Die Musik ist eine Auswahl aus dem Lärm der Welt, ein subset, sie ist eine Simulation der Sprache der Dinge.107 Darum muss die Philosophie „noch vor dem Sinn und der erfolgreichen Kommunikation, als Voraussetzung von Logik und Sprache, eine Musik unterstellen, die über das Rauschen siegt, sie muß diese Musik erfinden, sie zu komponieren wagen und damit einen unwahrscheinlichen Takt entdecken.”108 – Die Musik wird das Gastmahl bereichern.109 97  98  99  100  101  102  103  104  105  106  107  108  109 

cf. Serres 1981, 317. ibid., 382. ibid., 334. ibid., 283: „Die Theorie des Seins, die Ontologie, führt zu den Atomen. Die Theorie der Relationen führt zum Parasiten.“ cf. Serres 1994a, 126. Rousseau 1978, 201. cf. Serres 1998, 449. Serres 1977, 170: „Le sens se forme par le bruit, miracle rare et improbable“ [Der Sinn formt sich durch den Lärm, ein seltenes und unwahrscheinliches Wunder]. Serres 1998, 140. Darum ist schon für Rousseau die Musik so wichtig bei der Entstehung der Sprache; cf. hierzu Rousseau 1989, 138sqq.; cf. auch Gülke 1989, 447sqq. Serres 1992a, 256: „Die Musik war eine Selektion des Weltrauschens […;] die Musik [ist] eine Physik, [sie simuliert] die Sprache der Dinge.“ cf. auch ibid., 244sqq. und Serres 2014. Serres 1998, 167. cf. zu Serres’ Musikphilosophie auch den Beitrag von Petra Gehring in diesem Band.

130 4.

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Anderes II: Feste

Alle sind anwesend. Es wird viel geredet, viel philosophiert.110 Beim Gastmahl lassen sich die Parasiten am Tisch des Wirtes nieder.111 Weißes Rauschen, Hintergrundrauschen. Dom Juan, Prince Charming, l’homme à femmes, erscheint und tauscht Weiches gegen Hartes, Worte gegen Liebe, Liebe gegen Geld, ein Kompliment für eine Frau, un mot pour une femme.112 Es wird viel gescherzt und gelacht. Die Musik beginnt. Sie strukturiert den Lärm, verdrängt das Rauschen. Sie verleitet zum Tanz. Das Mahl wird zum Fest. Die Parasiten zirkulieren immer schneller. Die Positionen werden aufgelöst. Das Fest wird zur symbolischen Rückkehr in den Naturzustand, die Umkehrung und Aufhebung der Rollen, Aufhebung der Grenzen – Transgression. Die Feiernden werden eins mit der sie umgebenden Natur. Vollständige Symbiose, Vereinigung, Aufhebung des Unterschieds. Rückkehr in die Monade. Das Fest ist eine Revolution – und die Revolution ein Fest.113 Das Fest lässt den Parasiten zirkulieren. Es lässt die Frauen zirkulieren.114 Es hebt die Rollen und die Unterschiede auf. Es etabliert eine Gegenordnung.115 Es kommt zu einem generalisierten Austausch; ein Kreissystem entsteht.116 Nach Freud kommt es zu wilden Orgien beim Vollzug des Inzest.117 Es kommt zur Überschreitung der Grenze. Der Inzest wird zum Grenzwert, zum Limes. Seine Über-schreitung ist das Fest schlechthin. Das Fest ist reine Ekstase. Dieser Sündenfall ist frei von Schuld und Sühne. Ende der ewigen Iteration – Aufbruch in eine neue Dimension. Es gibt nur vor dem Grenzwert und nach dem Grenzwert aber niemals das Verharren auf dem Grenzwert.118 Der Grenzwert ist die Auflösung der Regeln, die Division durch Null, das Unmöglich-mögliche, das Weder-noch 110  111  112  113  114  115 

Serres 1998, 294: „Der Ort der Philosophie ist und bleibt das Gastmahl“. cf. ibid., 296. cf. Serres 1991a, 327sqq. cf. Starobinski 2012, 140sqq.; cf. auch Clausjürgens 2018, 41–46. cf. Lévi-Strauss 1967, 73. Lévi-Strauss 1981, 656: Die Wünsche nach dem Inzest „sind etwas anderes und mehr als das: der ständige Ausdruck eines Wunsches nach Unordnung oder vielmehr nach Gegenordnung. Die Feste stellen das gesellschaftliche Leben völlig auf den Kopf, nicht etwa weil es einst so gewesen ist, sondern weil es nie anders war und nie anders wird sein können.“ 116  cf. Lévi-Strauss 1967, 91. 117  cf. Freud 1925, 17. 118  Derrida 1974, 457: „Man ist immer diesseits oder jenseits der Grenze, des Festes, des Ursprungs der Gesellschaft, einer Gegenwart, in der das Verbot gleichzeitig mit der Übertretung gegeben ist (wäre): was immer vorübergeht (begangen wird) und (dennoch) niemals eigentlich stattfindet. Es ist immer so als ob ich einen Inzest begangen hätte.“; cf. die Diskussion von Rousseau und Lévi-Strauss in ibid., 171–541.

Inzest, Parasiten und Anderes

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und das Alles-zugleich. Bruch der Kontinuität und die Kontinuität im Bruch. Plötzlich wird die Funktion differenzierbar. Das Delta ist Null. Die Grenze ist verschoben, aufgehoben. Der Übergang ist der Augenblick in dem die Iteration die Grenze überschreitet, als die Welt sich öffnet: „La fête s’appelait: Mundus patet; Monde s’ouvre; Terre bâille ou bée.“119 Das Inzestverbot, die Ökonomie von Schuld und Sühne spielt in diesem Augenblick keine Rolle: „Insbesondere das ländliche Fest bietet den schönen Seelen ein Schauspiel, das die Rückkehr zur ersten Unschuld simuliert.“120 – Das Fest schlägt um in die Stille und Einsamkeit, der Lärm verstummt und mit ihm die Kommunikation … Entropie.121 Als ‚Pfingstwunder‘122 wird in der Apostelgeschichte123 die Xenoglossie beschrieben, also die Situation, in der die zum Fest versammelten Menschen die Apostel jeweils in ihrer eigenen Sprache reden hören und unmittelbar verstehen, ohne Mittler oder Übersetzer: Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.124

Verbindung des Vielen mit dem Vielen ohne Vermittler.125 Kommunikation ohne Übersetzer, die Zwischenglieder werden ausgeschaltet, Ausschluss des Parasiten.126 Das Brausen wird die Botschaft, der Botschafter die Botschaft. Unmögliche Situation, Wunder des Glaubens, das sofort die Skeptiker auf den Plan ruft: „Andere aber spotteten: Sie sind vom süßen Wein betrunken.“127 Für die Skeptiker müssen die Betrunkenen, die Narren, Harlekine, Wahnsinnigen ausgeschlossen werden. Aber gerade im großen Brausen, im Rausch des Festes, wenn der junge, gerade angegorene Most, der ‚Rauscher‘, gereicht wird und das 119  Serres 2010, 44; cf. auch Serres et al. 2016, 248. 120  Starobinski 2012, 140; cf. auch Baudrillard 1982, 249, n. 35: „Das primitive Fest ist wie das Opfer keine Überschreitung, sondern Reversibilität und zyklische Revolution“; cf. hierzu auch Clausjürgens 2018, 36. 121  Serres 1992b, 322: „Stille und Einsamkeit, Unterdrückung des Hintergrundes, Unterdrückung des Lärms, Unterdrückung der Botschaft. Eine kompakte, leichte Welt, in der die Kommunikation ein Ende hat.“ cf. auch Serres et al. 2016, 139sqq. 122  cf. Serres 1981, 66sqq. 123  Apostelgeschichte 2, 4–13. 124  ibid., 1–4. 125  Serres 1981, 72. 126  cf. ibid., 82. 127  Apostelgeschichte 2, 13.

132

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Rauschgift sich in der Blutbahn ausbreitet, entsteht eine neue Ordnung. Die Welt dreht sich im Kreis – Zirkularität. Das Fest ist der Stillstand. Diskontinuität in der Kontinuität, aber gleichzeitig auch Kontinuität in der Diskontinuität.128 Die Zeit ist angehalten. Ein Punkt im Raum-Zeit-Kontinuum – für Rousseau ist es die glückliche Zeit. Der Inzest bildet die Grenze, die im Fest überschritten wird. Übergang, Übergang vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand und Rückkehr in den Naturzustand: „Die Entstehung der Gesellschaft ist somit kein Übergang, sie ist vielmehr ein Punkt, eine reine, fiktive und unbeständige, unfaßbare Grenze.“129 Vor dem Fest gibt es keine Kontinuität – nach dem Fest nur noch Diskontinuität.130 Das Fest ist das Modell der Kontinuität im Stillstand – Grenz(wert)erfahrung. Das Fest ist die Simulation der Kontinuität in der Diskontinuität – dieses ist auch die Definition des Grenzwerts einer mathematischen Funktion. Das Fest ist die asymptotische Annäherung an den Inzest: „Um mit den Worten der Mathematiker zu sprechen: der Inzest ist die ‚Grenze‘ der Gegenseitigkeit, d.h. der Punkt, an dem sie sich aufhebt“131. Der Inzest steht am Scheitelpunkt, am Ruhepunkt des Systems. Er ist die Schwelle, der Punkt, an dem das System sich anhält.132 Vorher Dynamik, hinterher Dynamik und dazwischen das ‚Unmögliche‘ des Stillstands. Der Inzest ist der Durchgang des Systems durch den Nullpunkt. Die nicht definierte Situation. Das Fest, der Inzest ist der Bruch, das in-between, und die simulierte Kontinuität. Das System steht still, Statik, Entropie, Ende der Zeit, glückliche Zeit – als der Wein in Strömen floss … Das ultimative Gastmahl ist das Abendmahl. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist: die Trinitas garantiert die Zirkulation des Brotes und des Weins und das Versprechen der Kontinuität über den Tod hinaus. Die Zirkulation erzeugt eine Stabilität, eine Invarianz133: Nach dem Fest ist vor dem Fest.

128  cf. hierzu und zum folgenden Derrida 1974, 437–458. 129  ibid., 457; cf. ibid., 451/457: „Vor dem Fest gab es keinen Inzest, weil es kein Inzestverbot und keine Gesellschaft gab. Nach dem Fest gibt es keinen Inzest mehr, weil er verboten ist. […] Das Fest selbst wäre der Inzest selbst, wofern etwas Derartiges – selbst – stattfinden könnte“. 130  Derrida 1974, 450sq. 131  Lévi-Strauss 1981, 610. 132  cf. Jauss 1987, 564sqq. 133  cf. Serres 1977, 49.

Inzest, Parasiten und Anderes

5.

133

Anderes III: Relationen

Der Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand ist keine einfache Alternative zwischen Handlung und Struktur,134 sondern der Gegensatz von Struktur/System und Handlung/Genese/Prozess wird durch den Parasiten aufgehoben,135 er ist Sender und Empfänger, Mittler und Störer, er ist das in-between, das Oszillieren des Systems, die Ruhe vor dem Sturm, der ganz Andere, der Nächste und der Fernste, Stillstand und Bewegung, Monade und Umwelt – Biogée.136 Die Welt (Monde) mischt sich als Drittes ein.137 ‚La Biogée’, das ist Serres’ Kunstwort (zusammengesetzt aus Bio, la Vie, das Lebendige und Gé, la Terre, die Erde, der Boden) für die uns umgebende Biosphäre, die geboren ist aus Wasser und Erde.138 Biogée, das ist unser mi-lieu, unser Universum, unsere Welt.139 Diese Welt, diese reale Welt drängt sich uns auf, sie kann nicht weggeschoben, ausgeschlossen werden, diese Welt ist die dritte Person,140 sie spricht zu uns.141 Die Welt, das ist der verallgemeinerte Dritte, der verallgemeinerte Andere. Die Welt ist das Ensemble der Relationen.142 In der Biogée gibt es weder Frauen noch Männer143 – in ihr gibt es nur Knoten im Netz der Relationen. Der Parasit ist immer da, im System und im Prozess, er ist der Joker, der universelle Platzhalter – er ist: Aphrodite, er ist: Venus. Erst als Rousseau die Menschen am Wasser die Liebe entdecken lässt, entstehen die Gesellschaften und damit die Relationen: Die Liebe ist die Relation,

134  cf. Derrida 1974, 443. 135  cf. auch Barthes 1981, 22: „[W]ir wollen lediglich daran erinnern, daß sich der Gegensatz zwischen Prozeß und System (Parole und Langue) konkret im Übergang von der Kommunikation der Frauen zu den Strukturen der Verwandtschaft wiederfindet“. 136  cf. Serres 2010; cf. Serres 2012, 56–63. 137  Serres 2012, 56. 138  Serres et al. 2016, 248: „«Bio», c’est la vie, et «Gé», en grec, c’est la Terre. La Biogée, c’est notre habitat, ce dans quoi nous vivons, notre monde.“ [«Bio», das ist das Leben, und «Gé», das ist im Griechischen die Erde/der Boden. Die Biogée, das ist unser Habitat, das, worin wir leben, unsere Welt.] 139  cf. Serres 1991b, 76–83pass.; Serres spricht im Zusammenhang mit ‚mi-lieu‘ auch von ‚espace commun‘, dem gemeinsamen Raum; cf. hierzu Serres et al. 2016, 190. 140  Serres 1991b, 90: „[L]e monde réel est la troisième personne“ [Die reale Welt ist die dritte Person]. 141  Serres 2010, 136: „Qui parle au total? La Biogée soi-même.“ [Wer spricht insgesamt? Die Biogée selbst.]; cf. schon Serres 1992a, 255: „Wer spricht […]? [D]ie Sache selbst, die Welt. Es spricht“. 142  Serres 2012, 57. 143  cf. ibid., 72.

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die Relation ist die Liebe, die Liebe ist die Relation der Relationen.144 Es entstehen Allianzen und Feindschaften, Neid und Hass, Eifersucht: „Es gibt nichts Wirkliches außer der Liebe, und kein Gesetz, das nicht durch sie entsteht.“145 Die Liebe lässt die Dinge entstehen,146 die Liebe setzt die Maschine in Bewegung.147 Die Frau wird zu Venus; sie ist Garant der Reproduktion und damit der Wiederholung.148 Die Frau bildet die Kette der Reproduktion, sie bildet die Vertikale der Deszendenz.149 Der Tausch der Frauen ist Iteration, ewige Wiederholung der ursprünglichen Gabe, rituelle Wiederholung des Bundes. Die Wiederholung ist konstitutiv für die Allianz, für den Bund, für den Vertrag. Venus verwandelt das Fest in ein Fest der Liebe. Sie ist die Relation par excellence.150 Sie ist die Liebe. Ihr kongenialer Partner ist Eros. Und wer ist Eros? „Er ist der Dritte. Er ist der dritte Mann. Sohn des Mangels und des Auswegs. Durchgang und Mangel. […] Der Eros ist der Dritte schlechthin, er ist der Dritte zwischen Zweien. Er ist genau der ausgeschlossene Dritte. Immer in der Mitte“151. Da die Plätze in der Kette der Parasiten äquivalent sind, steht nicht nur Eros in der Mitte, sondern auch Venus: Der andere Mann steht zwischen Papa und Mama, genau so, wie die Frau (als ewige Andere152) zwischen der homo-erotischen Beziehung der Männer steht: Sie ist der Parasit in voller Schönheit! Sie ist die universelle Wirtin.153 Sie ist auf der Seite der wilden Tiere154 – Sie ist: The nigger of the world! In der homo-erotischen Beziehung 144  145  146  147  148  149  150 

151  152  153  154 

cf. Serres 1994b, 84–87; cf. Serres 1981, 129. Serres 1994b, 87; cf. auch Serres 2002. cf. Serres 2010, 83. Serres et al. 2016, 358: „[M]ais l’amour est l’essence qui fait marcher la machine“ [Aber die Liebe ist die Essenz/der Treibstoff, die/der die Maschine in Bewegung versetzt]. Serres 1977, 154. Serres 1992b, 312sq.: „Die Frauen bilden eine Kette […] hin zu der strengen Vertikalen.“ So gesehen ist die Reproduktion der Säugetiere ein endoparasitärer Prozess; cf. Serres 1981, 354. Serres 1977, 153: „Vénus énonce le foedus, le contrat, comme un ego coniungo vos. Vénus assemble les atomes, comme les composés. Mais elle n’est pas transcendante, comme les autres dieux, elle est immanente à ce monde, elle est l’être de la relation. Elle est la relation“ [Venus verkündet den foedus, den Vertrag, als ein ego coniungo vos, als ein ‚Ich verbinde euch‘. Venus versammelt die Atome wie die Verbindungen. Aber sie ist nicht transzendent wie die anderen Götter, sie ist dieser Welt immanent, sie ist das Sein der Relation. Sie ist die Relation]. Serres 1981, 372. Lévi-Strauss 1981, 187: „Der einzige Grund liegt darin, daß sie [i.e. die Frau] eine selbe ist, während sie eine andere werden muß (und folglich auch kann).“ Serres 1981, 332. Serres 1977, 220: „[L]a femme est du côté de l’animal sauvage“ [Die Frau ist auf der Seite der wilden Tiere].

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ist die Frau das Surrogat für den geliebten (anderen) Mann.155 Hier fungiert das Inzestverbot also als ein Akt der Herstellung des Unmöglichen (Zeugung von Nachkommen156) durch einen perpetuierten Akt des Gebens-Nehmens, durch Verzicht, durch Aufschub, durch Austausch. Die Linie Mann-Frau-Mann beziehungswiese Frau-Mann-Frau, das ist die Figur des Dritten als Parasit der gleichgeschlechtlichen Beziehung. Ende der Zweisamkeit, Beginn der Dreiecksbeziehung: „Fin des jeux à deux: début d’un jeu à trois“.157 Die Zirkulation der Frauen ist gleichzeitig Kommunikation, Übergang, Interferenz, Verteilung, Übersetzung – kurz: Kodierung der Welt und der Beziehungen der Menschen zur Welt und untereinander, Zirkulation der Information.158 Die Frauen werden zu ‚Quasi-Objekten‘, die zwischen den Mitgliedern der Gruppe zirkulieren und den Austausch der Botschaften gewährleisten.159 Die Frauen gehen über, sie sind der Übergang, die Brücke zur Zukunft und der Bruch mit der Vergangenheit. Durch den Tausch der Plätze werden Papa-Mama-Ich zum Parasiten, zum Dritten, zum Anderen. Undifferenzierbar – Ich ist ein Anderer.160 Wer ist Ich also? Ich ist ein Knoten im Netzwerk, der in der Lage ist, die Botschaft, den Sinn vom Lärm zu unterscheiden.161 Es geht nicht darum, eine Botschaft zu überbringen, sondern darum, den Schlüssel zu besitzen, um die übercodierte und verschlüsselte Botschaft, die bereits im Lärm, in der Thermodynamik, vorliegt, zu decodieren.162 Die Art der Kommunikation wird zum Inhalt der Botschaft.163 Ich ist ein Empfänger und ein Sender, ein Verstärker und ein Störer, 155  Lévi-Strauss sieht den potentiellen Schwager, d.h. den Kreuzvetter, als den potentiellen Partner für homosexuelle/homoerotische Spiele, cf. hierzu Lévi-Strauss 1981, 646/662, n. 156  Deleuze/Guattari 1977, 201 weisen darauf hin, dass im Verwandtschaftsatom „die Mutter als solche eigentümlich ausgeschlossen bleibt“. 157  Serres 2012, 56; cf. Lévi-Strauss 1981, 95: „Die Ehe erscheint nicht nur in Boulevard-Stücken als eine Institution zu dritt: das ist sie immer und überall, und zwar der Definition nach.“ 158  Serres 1993a, 58: „Die Informationstheorie folgt unmittelbar aus der Thermodynamik. Sie untersucht die Übertragung von Botschaften, ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit, ihre Wahrscheinlichkeit, ihre Redundanz.“ cf. Serres 1992a, 168. 159  Serres et al. 2016, 75: „Voilà ce que j’appelle un «quasi-objet», un objet qui est fait pour circuler entre les membres d’un groupe“ [Hier also das, was ich ein «Quasi-Objekt» nenne, ein Objekt, das dafür gemacht ist, zwischen den Mitgliedern einer Gruppe zu zirkulieren]. 160  Rimbaud [1958], 306: Brief an Georges Izambard vom 13. Mai 1871: „JE est un autre“ [ICH ist ein Anderer]. 161  Serres 1992a, 204: „Wer bin ich also? Ein Sende- und Empfangsknoten, ein offenes Verkehrskreuz […,] eine Austauschstruktur, die ohne den Austausch undenkbar wäre und mit der reinen Möglichkeit ausgestattet ist, Bedeutung und Rauschen zu trennen. […] Wer bin ich also? Eine diskontinuierliche Virtualität der Auswahl und Selektion innerhalb des intersubjektiven Denkens“. 162  cf. Serres 1992, 322. 163  ibid.: „Die Art und Weise des Kommunizierens wird zum Stoff der Botschaft.“

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ein Codierer und ein De-Codierer, eine Relaisstation, ein Durchgang, ein Übergang, eine Passage, eine Brücke – Homo Pontifex.164 Soll die Kommunikation, der Dialog, gelingen, so muss ein Dritter ausgeschlossen werden.165 Der Dritte gehört zum Dialog dazu. Der Di-alog ist also ein Tri-alog, eine ménage-à-trois, die aber selbst nur der Teil eines n-alog ist. Die Welt ist eine polymorphe Form, ein n-dimensionaler Vektorraum, ein gigantisches n-dimensionales Netzwerk,166 in das der Di-alog als Grenzform, als Grenzwert eingeschrieben ist. Die Kommunikation, das Verstehen ist selten, das Missverständnis, das Unverständnis die Regel. Wenn das Rauschen im Blätterwald zum Shitstorm wird und die Sozialen Medien völlig unsoziale alternative Fakten absondern, dann versucht die digitale Welt, den Parasiten durch die Filterblase auszuschließen: Das Internet als eine Monadologie ohne Gott.167 Die Welt in Form der Straße mischt sich ein, die Straße spricht mit: #forFuture als das sich bemerkbarmachende ausgeschlossene Dritte auf dem Weg zu alternativlosen Fakten. Der Parasit garantiert die Veränderung von geschlossenen, stabilen Systemen, „er bringt die infinitesimalen Abweichungen zum Flukturieren.“168 Er ist Garant der Veränderung. Selbst kleinste Abweichungen führen zu einer Veränderung des Systems: Der Parasit ist ein Agent infinitesimaler Veränderung. Er zeigt den Systemzustand an: seinen Gleichgewichtszustand (Homöostase), den gegenwärtigen Zustand seiner Austauschvorgänge und Zirkulationen, das Gleichgewicht seiner Evolution (Homöorrhese), seinen thermischen Zustand, seinen Informationszustand. Die hergestellte Abweichung ist sehr gering, und sie läßt in der Regel nicht voraussehen, ob eine Transformation oder welche Transformation erfolgen wird. Die Erregung fluktuiert, desgleichen die Determinierung.169

Das Windrad dreht sich immer schneller, Arbeit als Kraft mal Weg entsteht. Die Zentrifugalkraft wirkt. Ich werde hinaus geschleudert aus dem synchronen System von Papa-Mama-Onkel. Ich bin das Versprechen auf die Zukunft – Ich ist die Zukunft. Die Zeit ist wiedergefunden, die Welt ist wiedergefunden: Le temps retrouvé, le monde retrouvé. Das in sich gefangene Kreissystem des

164  Serres et al. 2016, 67: „[L]e Pontife, qui construit des ponts, c’est-à-dire des relations“ [Der Pontifex, derjenige, der die Brücken konstruiert, d.h. die Relationen]; cf. Serres 2006 und den Beitrag von Kathrin Hondl in diesem Band. 165  Serres 1981, 89. 166  cf. hierzu Riemann 1854 und auch Deleuze/Guattari 1997, 683, n. 27. 167  cf. Serres et al. 2016, 125. 168  Serres 1981, 294. 169  ibid., 302.

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Windrades, der Monade, löst sich auf. Die Monade rotiert und gebiert aus sich heraus einen tanzenden Stern. – Die Erde öffnet sich: Le Monde bée. Alle Abbildungen © by Reinhold Clausjürgens 2020. Bibliographie Apostelgeschichte 2, 1–13 (Einheitsübersetzung 2016). URL: http://bit.ly/Apostelgeschichte, zugegriffen am 15.11.2019. Barthes, Roland, 1981: Elemente der Semiologie. 2nd edition, Frankfurt/M. Baudrillard, Jean, 1982: Der Symbolische Tausch und der Tod. München. Clausjürgens, Reinhold, 2018: Von der volonté générale zum terreur. – Oder: Wie der Gemeinwille zum Willen einiger weniger wurde. In: Röttgers, Kurt (ed.): Plurale Sozio-Ontologie und Staat: Jean-Luc Nancy. Baden-Baden 2018, pp. 25–52. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, 1977: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/M. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, 1997: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin. Derrida, Jacques, 1974: Grammatologie. Frankfurt/M. Freud, Sigmund, 1925: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. 4th edition, Leipzig/Wien/Zürich. Gödel, Kurt, 1931: Über Formal Unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und Verwandter Systeme. In: Monatshefte für Mathematik, vol. 38, pp. 173–198. Gülke, Peter, 1989: Rousseau und die Musik oder Von der Zuständigkeit des Dilettanten. In: Rousseau, Jean-Jacques: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften. Leipzig 1989, pp. 331–522. Günther, Gotthard, 1991: Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Mit einem Anhang „Das Phänomen der Orthogonalität“ und mit einem Fragment aus dem Nachlass „Die Metamorphose der Zahl“. 3rd edition, Hamburg. Hofstadter, Douglas R., 1979: Gödel, Escher, Bach: An Eternal Golden Braid. A Metaphorical Fugue on Minds and Machines in the Spirit of Lewis Carroll. New York. Jauss, Hans Robert, 1987: «il faut commencer par le commencement!». In: Herzog, Reinhart/Koselleck, Reinhart (ed.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. vol. XII, München 1987, pp. 563–570. Kremer-Marietti, Angèle, 1974: Jean-Jacques Rousseau ou la double origine et son rapport au système Langue-Musique-Politique. In: Rousseau, Jean-Jacques: Essai sur l’Origine des Langues, où il est parlé de la Mélodie, et de l’Imitation musicale. Paris 1974, pp. 11–83.

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Phänomenologische Bemerkungen zum Körperbegriff Michel Serres’ Thomas Bedorf Strukturalismus und Phänomenologie ‚ne font pas bon ménage‘. Das wird beim Thema „Körper“ in besonderer Weise ersichtlich. Ist doch die Leib-KörperDifferenz nicht irgendein Thema der Phänomenologie, sondern eine grundbegriffliche Operation, die seit Merleau-Ponty wie die Intentionalität oder die Erste-Person-Perspektive zum Kern der Phänomenologie selbst gehört. Nun wird man das Werk Michel Serres’ nicht ohne Weiteres, zumindest nicht in Gänze, „strukturalistisch“ nennen können. Zu vielgestaltig ist das Denken, zu frei der Geist, zu offen und assoziativ in seinen Anknüpfungen. Am ehesten noch wird man die Verwandtschaft mit der Tradition der französischen Epistemologie um Bachelard oder Canguilhem (in Frankreich indes unter dem schlichten Label „Épistémologie“ bekannt) betonen. Dennoch ist die Abgrenzung zur Phänomenologie – jener Richtung mit der „häßlichen Bezeichnung“ (Serres 2001, 64) – unmissverständlich. Im Gespräch mit Bruno Latour erinnert sich Serres, wie lächerlich er Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung mitsamt ihren strengen Beispielen gefunden hatte, die über eine Lehnstuhlphilosophie intellektueller Stadtbewohner nicht hinauskomme (Connor 2005). Unter den philosophischen Autoren, denen Serres sich mit meist wenigen Worten widmet, kommen Phänomenolog*innen nahezu nie vor. Serres’ Cinq sens wollen erklärtermaßen der Sinnlichkeit und den Sinnen mehr Raum einräumen, als es die begriffliche Engführung der Phänomenologie vermocht habe. Seine Überlegungen zum Körper sind darüber hinaus in seinem Werk mehrfach ausführlich behandelt worden: Neben Les cinq sens (1985) in den Variations sur le corps (1999) sowie Hominescence (2001). Darüber hinaus berühren mehrere weitere Werke das Thema notwendigerweise aufgrund ihrer je eigenen Fragestellung: Le parasite (1980), Statues (1987), Le Contrat naturel (1990) und Le Tiers-Instruit (1991). Wenn hier eine Beschränkung auf Variations sur le corps und Hominescence vorgenommen wird, so ist dies eine Verkürzung, die dem Reichtum von Serres’ Bearbeitungen des Themas nicht ansatzweise gerecht werden kann. Sie begründet sich durch die Konzentration auf die Suche nach Bezügen zur phänomenologischen Behandlung des Themas.

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Im Folgenden wird zunächst Serres’ anthropologische Großthese von Anbruch einer neuen Zeit der Hominiden dargestellt, bevor die damit verbundene Rolle des „Körpers der Möglichkeiten“ näher betrachtet wird. So vorbereitet macht sich der Text drittens auf die Suche nach womöglich unerwarteten Verbindungen zur phänomenologischen Bearbeitung der Körperthematik. Ich ende mit einem Blick auf einen gemeinsamen Gegner: Die Behauptung, hochkomplexe Computer könnten Körper bzw. Leibkörper ersetzen. 1.

Der Eintritt des Körpers in eine Evolution der Möglichkeiten

Jede Anthropologie bezieht sich auf die Endlichkeit des Menschen, sei es, dass die Aufgabe des Menschen darin besteht, sterben zu lernen, sei es, dass alle Bedeutung der Welt, in der wir leben, nur verliehen werden kann, wenn wir unser Dasein als Sein-zum-Tode verstehen. Wie schon bei Georg Simmel (Lebensanschauung, 1918) oder Sigmund Freud (Jenseits des Lustprinzips, 1920) zu lesen ist, gehört das Ende der organischen Einzelexistenz zum Leben mit hinzu. Leben lässt sich ohne Tod nicht denken. Anorganische Dinge schon; aber diese leben eben nicht. Michel Serres’ unterscheidet vier unterschiedliche Tode: Der Tod der Einzelexistenz sowie der ganzer Kulturen sind immer schon reflektiert worden. Neu sind aber zwei Tode, die erst im 20. Jahrhundert möglich bzw. bekannt wurden. Sie liegen in zwei ganz entgegengesetzten Dimensionen. Denn mit dem Einsatz nuklearer Reaktionen in Hiroshima und Nagasaki ist die Menschheit mit der Möglichkeit ihrer Selbstvernichtung konfrontiert. Serres nennt das den „globalen Tod“. Auch das ist ein bekannter Topos (Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 1956). Die vierte Variante des Todes ist nun ebenfalls nicht neu, ihre Bedeutung ist aber von der Biologie erst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entdeckt worden: Die Apoptose, d.h. der programmierte Zelltod, nennt Serres den „lokalen Tod“, die als Teil des Stoffwechsels die Zerstörung der Zelle selbst durchführt. Im menschlichen Organismus kann die Apoptose sowohl zur Weiterentwicklung und Wachstum des Organismus beitragen (wenn bspw. in den Anfangsmonaten des menschlichen Lebens überzählige Gehirnzellen absterben, um die notwendige Strukturierung des Gehirns zu ermöglichen) oder zur Gefährdung des Organismus führen (wenn Krebszellen von außen Abwehrzellen mit apoptischen Proteinen belegen). Die Antwort nun auf die altbekannten Tode war, Serres zufolge, die Domestikation der Tiere. Indem Tiere gezähmt, nutzbar gemacht und gezüchtet wurden, konnte der Mensch sein Überleben von den Zufällen der Natur unabhängig machen und so ‚unsterblich‘ werden. Die Antwort auf die beiden neuartigen Bedrohungen des

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Lebens findet er nun in der Entzifferung der DNA, für die er ausnehmend Bewunderung zeigt. Denn damit ist der Mensch in die Lage versetzt worden, seine eigene ‚Unsterblichkeit‘ zu sichern. Sei es, dass Anpassungen der DNA an neue Umweltbedingungen vorgenommen würden oder der eigene Klon erstellt wird, der weiterlebt, wenn der eigene Körper an Altersprozessen zugrunde gegangen ist. Serres’ Punkt ist nun weniger eine Diskussion der Möglichkeiten, Wünschbarkeiten oder Streitbarkeiten, die mit diesen lebenstechnologischen Perspektiven zwangsläufig einhergehen. Ihm geht es nicht um eine ethisch-politische Bewertung solcher prinzipiell möglicher, aber eben derzeit noch nicht breitenwirksam verfügbarer Möglichkeiten. Vielmehr situiert er sich als – ganz offenbar euphorisierter – Beobachter, der die Bedeutung dieser Entdeckungen für die Geschichte der Menschheit herausarbeitet. Die Diagnose lautet, dass wir uns am Beginn einer neuen Etappe der Evolution befinden. Da es sich um die Heraufkunft eines anderen Menschen handelt, bei dem noch nicht absehbar ist, was er sein wird, nennt Serres diesen Prozess einer Umwertung und eines möglichen Anfangs eine „Homineszenz“: wie die „Adoleszenz“ den Übergang zum Erwachsenenalter und die „Efferveszenz“ den Prozess des Übergangs von aus Flüssigkeiten austretendem Gas in Schaum bezeichnen. Diese Wortschöpfung will Serres nun als Prozess verstanden wissen, der von menschlichem Handeln ausgelöst wird, „mais ne sait pas encore quel homme il va produire, magnifier ou assassiner“ [aber noch nicht weiß, welchen Menschen er erzeugen, verherrlichen oder umbringen wird] (Serres 2001, 14). Die mit „Unsicherheit vermischte Hoffnung“ (ibid., 15), die mit dem prozesshaften Übergang ins Neue verbunden ist, unterscheidet denn auch die Hominiszenz von der „Hominisation“, der Menschwerdung, wie sie aus der Urund Frühgeschichte oder der Evolutionsbiologie bekannt ist. Dieser anfangshafte Wandel bringt einen anderen, wenn auch nicht ganz neuen, Menschen hervor. Der Werkzeug gebrauchende homo faber, der seine Techniken als „Organprojektion“ (Ernst Kapp) oder „Organersatz“ (Arnold Gehlen) nutzt und hierdurch nur begrenzte Handlungsreichweiten erzielt, wird durch ein ausgreifendes Wirkungsnetz abgelöst, das der Mensch zu werfen in die Lage versetzt wird. Als homo universalis wird sein Handlungsbereich allumfassend, indem er bspw. durch die Ausrottung der Pocken die ganze Menschheit befreit und so in die Evolution selbst eingreift. Als homo terminator ist dieses Handeln zugleich eines, das für andere Gattungen und nicht mehr nur einzelne Exemplare oder Kulturen tödlich sein kann. Den Stiftungscharakter solcher Entwicklungen wie der Ausrottung der Pocken unterstreicht Serres, indem er sie „nouveaux mythes“ (Serres 2001, 34) nennt, die Ursprungsereignisse einer anderen Zukunft.

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Insofern nun diese Selbstgestaltung der menschlichen Evolution, der „autohominisation“ (Serres 2001, 48), durch eine wesentliche inchoative Offenheit charakterisiert ist, wird sie maßgeblich durch eine „anthropologie d’un changement corporel“ [Anthropologie körperlichen Wandels] (Serres 2001, 31) begründet. Auch dies leitet Serres evolutionsgeschichtlich her. Der Körper, der also nunmehr im besonderen Fokus steht, war nicht immer ein offenes Feld von Möglichkeiten. Die Geschichte des Körpers beginnt vielmehr in den Modi von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Den Kräften der Natur ausgeliefert und ohne die Hilfe von Wissenschaft und Technik allein dem Überleben dienend bleibt er den Willen, Traditionen und Gewalten unterworfen. Es ist, als ob die Geschichte ihm aus Mitleid mit dem geschundenen Körper eine Seele verliehen hätte, deren Existenz ihn über diese dienenden Funktion hinaushebt: „Le corps a tant souffert qu’il méritait bien une âme.“ [Der Körper hat derart gelitten, dass er wohl eine Seele verdient.] (Serres 2001, 37) So wird der Körper freigesetzt, indem er aus dem Modus der blinden Notwendigkeit heraus- und in den Modus der Möglichkeit hineingerückt wird. Der Körper ist nicht mehr (was er ist), sondern wird zu einem Möglichen. Das heißt jedoch nicht, dass klar wäre, was mit den neuen Möglichkeiten angestellt werden soll. Im Gegenteil beklagt Serres wiederholt, dass die Menschen heute nicht wüssten, was sie mit dem zweckfreien Körper anfangen sollten: So viele Möglichkeiten, soviel Ratlosigkeit! „Le décalage entre ce que nous pourrions faire et ce que nous en faisons caractérise notre temps d’omnipotente impuissance” [Die Differenz zwischen dem, was wir tun könnten und dem, was wir daraus machen, kennzeichnet unser Zeitalter allmächtiger Ohnmacht.] (Serres 2001, 57) 2.

Modalitäten des Körpers

Diese paradoxe ‚allmächtige Ohnmacht‘ könnte den Philosophen nun verstummen oder für diese Ratlosigkeit kompensatorisch viele, aber leere Worte machen lassen. Der große Optimist Serres gerät nicht in dieses Fahrwasser. Denn parallel zu dieser anthropologisch-evolutionären Makro- widmet er sich nicht weniger eloquent einer körperpraktischen Mikroperspektive. In Variations sur le corps bietet Serres eine Feier der Fähigkeiten des Körpers und der leiblichen Existenz insgesamt, wenngleich trotz Verwunderung über die nicht eben selbstverständliche Form desselben. Das beginnt schon bei der Darstellungsform des Buches selbst. Serres beginnt nicht mit den großen kultur- und menschheitsgeschichtlichen Linien, sondern mit dem Körper in Bewegung. Das Bergsteigen ist das Leitbeispiel, das Buch ist seinen Turnlehrern und Bergführern gewidmet. Was es heißt, dass

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diese ihn „das Denken gelehrt“ haben, wird im Folgenden entfaltet. Es handelt sich jedenfalls nicht um ein Überblicksdenken, sondern um eines von den Vollzügen her. Insofern lässt sich ganz zu Recht sagen, dass Bergsteigen ein „Denken in Gelegenheiten“ (Röttgers 2005, 48) sei. Der Bergsteiger bewegt sich zunächst ähnlich einem Tier: Man klettert nämlich als an den Berg geduckte Halbkugel, nicht als aufrechter Mensch. Der aufrechte Gang wäre je nach Schwierigkeitsgrad gefährlich bis tödlich, während die primatenähnliche geduckte Haltung den Bergsteiger zwar menschheitsgeschichtlich zurückwirft, aber dennoch den Berg sicher hinaufbringt. Während das rückwärtige Knochengerüst den Körper beim Anstieg schützt, exponiert der Abstieg die weiche Seite. Was als Schwäche erscheinen mag, ermöglicht ihrerseits Relationen, die ohne diese Körperhaltung nicht denkbar wären. Denn der aufrechte Gang (abwärts!) richtet die Körper erst mit dem Gesicht zum anderen aus (ohne den Kopf verrenken zu müssen) und entwirft dadurch eine Brücke zwischen den Menschen. Daher ist auch die These vom Mängelwesen eine ‚dumme‘ These. Entgegen dem, was diese „Eselei“ (Serres 1999, 33) behauptet, ist der menschliche Körper nicht unfähig, sondern zu allem fähig. „Que peuvent nos corps? Presque tout.“ [Was können unsere Körper ? Fast alles.] (ibid.) Er verfügt über „incroyables capacités“ [unglaubliche Fähigkeiten] (ibid., 34). Es gibt kaum ein Wesen, dass angesichts dessen, was es erleidet und in seiner Geschichte erlitten hat, sich als derart überlebensfähig erwiesen hat. Der exponierte Körper lebt von seiner Exponiertheit. Was der Körper kann, kann er Dank seiner Schwäche: „exposer fortifie, protéger affaiblit“ [sich aussetzen stärkt, sich schützen schwächt] (ibid., 36). Diesem Gedanken folgend geht Serres bisweilen etwas weit, indem das Aushalten als geradezu heroische Haltung gefeiert wird: „Ce qui ne tue pas renforce“ [Was nicht tötet, härtet ab] (ibid.) Verstanden wissen will Serres diese Auffassung allerdings als einen Optimismus, eine „philosophie du combat des faibles“ [Philosophie des Kampfs der Schwachen] (ibid., 37). Denn den Schwachen bleibt nichts anderes als zu kämpfen, als die Chancen zu nutzen, die der zerbrechliche Körper bietet. Der Mut ist konsequenterweise die einzige Tugend, die sich zu besprechen lohnt, da sie selbst aus den körperlichen Bedingungen erwächst (cf. ibid., 44). Serres’ Ethik des Körpers soll allerdings dort ihre Grenze finden, wo sie in einen Sozialdarwinismus zu münden droht. Eine Begründung dafür findet sich bei Serres hingegen bedauerlicherweise nicht. Dem Training kommt die Rolle zu, die Körper zu etwas zu befähigen, was sie (noch) nicht können. Erst die Wiederholung, die Übung bringt etwas hervor, das die Natur nicht schon selbst in die Körper hineingelegt hätte. Zugleich verdanken sich auch die Überschussmomente jenen vorangehenden

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Wiederholungen: Freude, Ekstase, Kreativität, geistige Produktion. Nietzsches Einsicht, dass der Gedanke kommt, wann er will und nicht, wann ich will, verifiziert sich nicht durch bloßes Nichtstun, sondern nur vor dem Hintergrund einer steten Übung (cf. ibid., 14, 18, 31; cf. Serres 2001, 41); Produktion als Überschuss über die Reproduktion. Während Tiere dem Metabolismus unterworfen sind, sind Menschen zur Metamorphose ihrer selbst in der Lage (Serres 1999, 46), weil ihre Freiheit soweit geht, ihre eigenen Körperfähigkeiten durch Training gestalten zu können. Zu lernen wäre daher auch von jenen Körpern, deren Stimme die Philosophie zum Schweigen gebracht hat: Tänzerinnen, Stumme, Schüchterne, Jäger und Fischer (cf. ibid., 48). Die Vielfalt der Bewegungen und der Möglichkeiten der Gestaltung verstummt und versteinert jedoch in der individuellen Entwicklung mit dem Alter. Es ist vielleicht kein Wunder, dass wir diesen immobil gewordenen (und damit nicht dem Menschenwesen entsprechenden) Habitus Tiernamen geben: graue Maus, dumme Gans, altes Schwein, feiger Geier, kriecherische Schlange … (cf. ibid.). Der Form des Grundgedankens nach assoziiert man mehrfach Beschreibungen leib-körperlichen Zur-Welt-seins, wie es phänomenologische Arbeiten entwickelt haben. Zwar versteigt sich Serres bisweilen zu Suggestionen reiner unmittelbarer Körperempfindungen (insbes. in den Beispielen des Schmerzes, cf. ibid., 40), als ob sie ohne symbolische Vermittlung durch die Sprache sich selbst transparent seien. Auch die Rede davon, der Körper-in-Form sei „das Unbewusste“ (ibid.), ist angesichts der eingeführten psychoanalytischen Terminologie höchst unplausibel. Sehr wohl sagen und verstehen lässt sich angesichts der Betonung der reproduktiven Übungen, dass Körpern wesentlich eine unbewusste Dimension innewohnt, ja, dass Übungen gerade davon leben und sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht absichtlich jedes Mal vollzogen werden, sondern sich ein Automatismus des Tuns einrichtet, der die Bewegung als Repertoire in den entsprechenden Situation abrufbar macht. Man muss im Fels nicht überlegen, bei welcher Schwierigkeit und welchem Untergrund welcher Griff angebracht ist, sondern man muss schlicht den nächsten richtigen Griff tun, so lange es die stets prekäre Balance erlaubt. Das ähnelt dann in der Tat Körperkonzeptionen, die nicht von einem Einsatz des Körpers und seiner Glieder zu einem bestimmten willentlich gesetzten Zweck ausgehen, sondern vielmehr von einem „fungierenden Leib“ (Merleau-Ponty) oder einem „habituellen Körper“ (Bourdieu). Einigen strukturellen Ähnlichkeiten geht der folgende Abschnitt nach.

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3.

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Nachbarschaften ohne Familienanschluss

Wie bereits notiert, mag Serres die Phänomenologie nicht. Sie wird schweigend übergangen (teilt aber damit das Schicksal vieler anderer Philosophien des 20. Jhs.) und – wo nicht – wird sie geschmäht. Das mag auch daran liegen, dass womöglich Serres’ Verständnis davon, was Phänomenologie ist, etwas einseitig ist (da wiederum ist Serres nicht der einzige). An der – so weit ich sehe – einzigen Stelle, an der Serres die Phänomenologie nennt, tritt sie als „Zwilling“ der Ontologie auf (Serres 2001, 64). Es wird nichts weiter dazu gesagt, worin diese Nahezu-Identität besteht, aber aus der folgenden Kritik an der Ontologie lässt sich die Stoßrichtung erahnen. Für die menschliche Existenz habe das Sein keinen Belang. „Nous n’existons ni comme étant ni comme être, mais comme des modes. “ [Wir existieren weder als Seindes noch als Sein, sondern als Modi.] (ibid.) Es braucht keine Wesensbestimmungen – so könnte man den Einwand verstehen –, die die Möglichkeiten der Existenz (und insbes. des Körpers) substaniell festlegen, weil dies nur den modalen Charakter der Existenz verkennen würde. Der Mensch ist vielmehr immer in Bewegung, fluide, vorläufig und kontingent. Deswegen hat er „horreur de l’être“ [Seinsfurcht] (ibid., 65). Mangels weiterer Ausführungen kann der Leser nicht wissen, an welche Sorte Phänomenologie Serres hier denkt. Er kann aber wissen, dass kaum eine phänomenologische Perspektive seit Merleau-Ponty sich in diesem Bild eines ontologischen Substantialismus wieder erkennen kann. Reizvoller als diese Abwehr zu ergründen, ist es dagegen vielmehr, einigen gemeinsamen Denkfiguren nachzugehen. So gilt etwa die Stoßrichtung gegen Sensualisten und Rationalisten für die Phänomenologie der Leiblichkeit Merleau-Pontys wie für Serres’ optimistische Körperethik. Seine Phänomenologie der Wahrnehmung stellte Maurice Merleau-Ponty in eine doppelte Opposition: gegen Rationalismus und Empirismus. Während die Rationalisten Wahrnehmung als schematisierend-begriffliche Ordnung von Reizen auffassen, gehen Empiristen umgekehrt von der Realität von sinnlichen Daten aus, die die Eindrücke kausal hervorrufen. Wie für existierende Wesen, die immer schon „zur Welt sind“, wie er formuliert, dann aber die Wahrnehmungen ad hoc bedeutungsvoll sein können, bliebe unerklärlich. Dem stellt Merleau-Ponty ein verkörpertes Bewusstsein entgegen, das nicht gemäß einer tradierten Spaltung in Subjekt und Objekt sich die Dinge in der Welt erst zurechtlegen muss, sondern immer schon intentional mit ihnen verbunden ist. „Intentionale Fäden“ (Merleau-Ponty 1945, 131) stellen Verbindungen her, die immer schon sinnhaft sind und nicht erst einer Welt bloßer, nackter, bedeutungsloser Dinge hinzugefügt werden müssen. Serres greift diese Redeweise

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vom „être-au-monde“ (Serres 2001, 47) beiläufig auf, wenn er darauf hinweist, dass die Innovationen am und für den Körper, die mit dem evolutionär freigesetzten Körper einsetzen können, immer auch den Zusammenhang mit der Welt ändern. Der Sensualismus ist ein gemeinsamer Gegner (cf. Serres 1999, 61sq.). Das hängt damit zusammen, dass auch die einzelnen Sinne nicht gesonderte Sensoren eines von der Welt der Objekte radikal unterschiedenen Subjekts sind, sondern zusammenwirken. Der bewegte Körper führt die Sinne – nach Serres – zusammen und bildet so den Kern des Selbstseins (cf. Serres 1999, 12). Die Sinne fallen nicht auseinander und liefern einzelne Daten, gesondert nach Typen, sondern – noch einmal gemäß des Bergsteiger-Beispiels – gelingen Körperbewegungen nur, wenn sich die Sinne aufeinander verlassen und ein gemeinsames Gleichgewicht erzeugen. Ganz ähnlich wird in Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung viel Wert darauf gelegt, dass die Sinne miteinander kommunizieren. Zwar kann ich mich abstrahierend auf den Sehakt als solchen konzentrieren, wofür ich andere Sinne ausblenden muss. Doch in der „fungierenden Intentionalität“ (Merleau-Ponty 1945, 15) ist die Synästhesie kein Sonderfall, sondern „vielmehr die Regel“ (ibid., 268). Ebenso tritt der leibkörperliche Zusammenhang in den Blick, wenn Serres davon spricht, dass ein lokaler Schmerz die Körperganzheit besetzt und rekrutiert (Serres 1999, 41). So ist es fast kein Wunder, dass er auch auf das Phantomglied zu sprechen kommt (ibid., 39), das bei Merleau-Ponty vermittelt über die Gestaltpsychologen geradezu paradigmatischen Charakter hat. Serres’ Metaphorik, unseren Körper zu „bewohnen“, suggeriert zwar eine Trennung zwischen innen und außen, die weiteren Ausführungen ähneln jedoch ganz der phänomenologischen Analyse, die darauf besteht, dass sich die Schmerzen im fehlenden Körperteil nur über eine gestörte Verbundenheit mit dem ZurWelt-sein verstehen lassen. Es ist sogar erforderlich für das gute Funktionieren des Körpers, dass man ihn „vergisst“ (ibid., 39). Das Vergessen meint bei Serres nicht ein aktives Vergessen oder NichtWissen, sondern ist vor allem eine notwendige Dimension aller Motilität. Der Körper bewegt sich gemäß einem eingeübten Habitus, einem durch Training und Übung erworbenen Rhythmus der Bewegungen, die nicht absichtliche Handlungen sind. Fragt man bspw. Sportler, wie sie eine bestimmte für die Sportart typische Bewegung vollziehen, wissen sie in der Regel nicht zu antworten, weil es sich um Erlerntes handelt, was nicht in Form eines kognitiven Wissens angeeignet wurde. „Tout ne se passe pas dans le cerveau, loin de là. Les sciences cognitives s’incarnent.“ [Es spielt sich keineswegs alles im Gehirn ab. Die Kognitionswissenschaften verkörpern sich.] (Serres 2001, 39) Man ist unweigerlich an jene zeitgenössisch prominenten Diskurse einer

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„incorporated“, „embodied“ oder „embedded cognition“ erinnert, die Einsichten der Phänomenologie in die Kognitionswissenschaften überführen. Wenn alle Kognition leibabhängige Erkenntnis ist, so nimmt es nicht Wunder, dass zentrale leibphänomenologische Begriffe wie „Habitus“ und „Körperschema“ (Serres 1999, 62; cf. Merleau-Ponty 1945, 122sqq. passim) fallen. Serres folgt ihnen aber nicht weiter, sondern geht seinen eigenen gedanklichen Weg. Er geht zurück auf den Begriff der Mimesis, um den Erwerb der körperlich-habituellen Gewohnheiten zu erklären. Das Face-to-face zwischen Körpern, die sich – wir erinnern uns an den Abstieg nach der Gipfelbesteigung – einander mit ihrer verletzlichen Seite zeigen müssen, erzeugt eine Einstimmung und ein Einpendeln der Körper aufeinander. So beginnt alles Lernen im Lernen vom Anderen. Da aber nicht vorab entschieden ist, ob es sich schließlich um eine Vermischung mit oder Verdrängung des Anderen handelt, kann Mimesis Liebe und/oder Hass erzeugen (ibid., 65). Gegen den Sensualismus hatte sich Serres bereits explizit positioniert. Nun wird auch die zu Merleau-Ponty parallel stehende Konfrontation mit dem Rationalismus der Aufklärung und der französischen, cartesischen Tradition deutlicher. Denn das meiste, das wir lernen, verstehen wir im Augenblick des Lernens nicht. Wir lernen nur das Unverstandene. Lernten wir nur das Klare, wir kämen über die Grundrechenarten und die Adresse unserer Wohnung kaum hinaus (cf. Serres 1999, 66). Daher hängt das Verständnis auch weniger von den Erklärungen ab, sondern ändert seine Gestalt: Es verliert sich, kommt wieder, verendet oder erweitert sich, wie es für ein Körpergedächtnis eben charakteristisch ist (cf. ibid. 67sq.). Trotz all dieser Verwandtschaften lässt sich Serres natürlich nicht auf ein phänomenologisches Denken zurechtbiegen. Zumal selbst an den Stellen, die die Verwandtschaft nahelegen, das Vokabular manchmal irreführend ist. Wenn „Bewegungen“ sich in „Muskeln“ ablagern oder ein „Wissen“ „vergessen“ wird oder schließlich Körper als „Kopierer“ und „Datenbank“ bezeichnet werden (ibid., 68), zeigt sich in diesen metaphorischen Bildungen, dass der Glaube an die Wahrheit naturwissenschaftlichen Wissens bei Serres den steten basso continuo darstellt. So kopiert dann auch der Körper die Dinge und kopieren die Dinge einander: Die Materie selbst hat körperliche Eigenschaften, über die DNA (ibid., 70). 4.

Kein Ersatz für den (Leib-)Körper

Trotz dieses szientifischen Optimismus bietet sich noch eine letzte, flagrante und aktuelle, aber doch auch überraschende Analogie. Serres nimmt nämlich

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den Körper als Widerstandspunkt gegen die vollständige maschinelle Herrschaft. „Que l’intelligence artificiellement se construise, certes, […] mais la chair, mais le sensible, mais le corps? […] Nos corps disposent donc d’une avance suffisante“ [Gewiß, die Intelligenz erschafft sich künstlich, (…) was aber (ist) mit dem Fleisch, der Sinnlichkeit, dem Körper? (…) Unsere Körper verfügen also über einen ausreichenden Vorsprung] (ibid., 28). Beim verkörperten Wissen handelt es sich strukturell um eine andere Sorte als bei jenem, das durch Algorithmen berechenbar und damit abbildbar ist. „Une procédure machinale peut remplacer n’importe quelle opération de l’entendement, jamais les actes du corps.“ [Ein Maschinenprozeß kann jeden Verstehensvorgang ersetzen, aber niemals die Körperhandlungen.] (ibid., 32) Die These von der Unvereinbarkeit von geistigen Leistungen des Menschen mit jenen des Computers wurde schon früh auch phänomenologisch formuliert. Hubert L. Dreyfus’ schon klassisch zu nennende Position gehört zu den ersten, die sich philosophisch mit den Herausforderungen der Maschinenintelligenz (deren Möglichkeiten sich von jenen, vor denen wir ein halbes Jahrhundert später stehen, dramatisch unterscheiden) befasst haben. Dreyfus rekonstruiert die Epistemologie des Digitalen, die er durch zwei Bedingungen gekennzeichnet sieht: Diskrete Operationen und endliche Prozesse. Die künstliche Intelligenz (AI), zu der seinerzeit nicht wie heute lernende Systeme, sondern eher klassische Rechnersysteme zählen, funktioniert unter zwei Voraussetzungen: Die erste, epistemologische Bedingung besteht darin, intelligentes Verhalten durch ein Gerät simulierbar zu machen, das sich wie ein objektiver Beobachter verhält. Objektive Tatbestände werden von außen als Zustände von Systemen betrachtet. Die zweite, ontologische Bedingung beruht darauf, dass intelligentes Verhalten durch eine endliche Reihe unabhängiger Elemente verständlich gemacht wird. Dreyfus’ These lautet nun, dass die Aufgaben, die Computer von Menschen übernehmen und sie besser als diese erfüllen sollen, genau deswegen nicht oder nur unzureichend erfüllt werden, weil diese beiden Bedingungen den Maschinen zu enge Grenzen setzen. Es bedarf einer zusätzlichen Dimension, über die Maschinen nicht verfügen können, nämlich eine leibliche Existenz, um sie so zu erfüllen, wie Menschen das können. Die Differenz von Mensch und Maschine hängt daher von der Leiblichkeit ab, die den Maschinen konstitutiv fehlt und die auch nicht simuliert werden kann. In den beiden Voraussetzungen, denen seiner Auffassung nach die Funktionsweise von Maschinenintelligenz unterliegen, sieht Dreyfus den Triumph eines Verständnisses von Vernunft als (be)rechnendem Vermögen. Die Begrenztheit dieser Auffassung wird jedoch sichtbar, wenn man die Aufgaben betrachtet, die die Rechenmaschinen erfüllen sollen. Als eines von Dreyfus’ Beispielen sei hier die automatische Mustererkennung herausgegriffen, wie

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sie etwa für die optische Gegenstandserkennung (wie sie heute in den automobilen Assistenzsystemen bei der Erkennung von Verkehrszeichen oder Hindernissen eingesetzt wird) oder die Spracherkennung (etwa bei Smartphones oder bei Assistenzsystemen wie Alexa oder Siri) verwendet werden. Dreyfus stellt hier zwei Verfahrensweisen gegenüber: Die Maschinen gleichen die wahrgenommenen optischen oder akustischen Signale mit einer im Speicher abgelegten Liste von identischen oder vergleichbaren Objekten ab, um Befehle ausgeben zu können. Sie vergleichen dazu die Objekte mit den abgelegten, isolierten, für sich genommen neutralen Merkmalen. Die Bedeutung der Objekte liegt daher nicht in diesen selbst, sondern nur in der Korrelation mit den Bedeutungen, für die die Merkmale stehen. So funktioniert aber die menschliche Wahrnehmung durchaus nicht. Die menschliche Wahrnehmung ist nicht durch tabellarische Entsprechungen in einer Datenbank gekennzeichnet, sondern durch die Offenheit der Erfahrung innerhalb eines bedeutungsvollen Horizonts. This use of paradigms and context rather than class definitions allows our recognition of patterns to be opentextured in a way which is impossible for any recognition based on a specific list of traits. (Dreyfus 1967, 19)

Über diese phänomenologisch-hermeneutische Einsicht hinaus macht Dreyfus geltend, dass der mit Handlungen verknüpfte Sinn nicht unabhängig von unseren körperlichen Verhaltensweisen und Bewegungen in der Welt denkbar ist. Nach Merleau-Ponty ist es vielmehr der Leib selbst, der in der Lage ist, auf seine Umwelt zu antworten, indem er sinnhaft auf die Welt bezogen ist. Maßgeblich ist hier die Unterscheidung zwischen Leib und Körper. Denn vom Körper, der den physischen oder biologischen Gegenstand meint, der in einer Welt von außen lokalisiert wird, wird in der Phänomenologie seit Husserl der Leib unterschieden, der „gelebte Körper“, der meiner Existenz den Ort markiert, von dem aus sich ihre Welt bedeutungsvoll erschließt. Leib und Körper gibt es immer nur zusammen, aber der Leib ist auf den Körper nicht reduzibel (cf. Bedorf 2017). In der Konsequenz bedeutet diese Unterscheidung, dass Sprachverstehen nicht über einen Mustervergleich mit einer Vielzahl von einzelnen Aspekten gelingt, sondern nur vom Bedeutungshorizont meiner leiblichen Existenz aus. So stelle sich schließlich auch der Zusammenhang von Kognition und Ausführen einer Handlung im Falle des Menschen bzw. der Maschine je anders dar: Thus, whereas present programs call for a machine to recognize an object in order to manipulate it, a human being can manipulate an object in order to recognize it. (Dreyfus 1967, 21)

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Dreyfus’ These ist prägnant: Die Voraussetzungen von maschineller und menschlich-existenzieller Intelligenz sind gänzlich andere. Während Maschinenintelligenz separierte Informationselemente („Daten“) benötigt, um sie nach vorgegebenen Regeln zu prozessieren und damit zu Ergebnissen zu führen, unterscheidet sich menschliche Intelligenz davon ganz grundlegend. Denn diese ist intentional, auf ein je für die Existenz sinnhaftes Ganzes bezogen und – qua Erfahrungsoffenheit – nicht regelfixiert. Menschliche Existenz kann so gewissermaßen weniger und mehr zugleich, in jedem Falle aber funktioniert sie nicht wie Maschinen. Das ist eine Differenz, die philosophiegeschichtlich bereits des Öfteren durchgespielt worden ist, und an der Computerwelt nur ihre neue Bewährungsprobe hat (zur historischen Problemdimension cf. Meyer-Drawe 2007). Wie gesagt bezieht sich Serres nicht auf phänomenologisches Denken, wenn er das verkörperte Wissen als Widerstandspunkt gegen die Algorithmisierung der Welt stark macht. Im Gegenteil funktioniert seine Argumentation über eine Analogisierung zwischen Körper und Software. Die überraschende These lautet, dass die lernende Mimesis und die Metamorphose der Körper wie Software funktioniert (Serres 1999, 87). Anatomie und Physiologie gelten dann als die Hardware, während die habituellen Körpergesten diese Hardware in ihren materiellen Grenzen manipulieren können. Und so, wie Daten und Programme zur Seite der Software gehören, lassen sich auch erlernte (äußere) Körpergesten nicht mehr von eigenen (inneren) Körpergesten unterscheiden. Die neuen Technologien treffen sich schließlich darin mit dem kontingenten Körper, dass die einen wie die anderen keine Zwecksetzungen kennen und daher zu allem und nichts fähig sind (Serres 2001, 80sq.). Der Streit zwischen Sensualisten und Rationalisten ist also nicht nur unentscheidbar, sondern (wie auch für alle Leibphänomenologie) hinfällig (Serres 1999, 91), ohne dass eine Wiederholung der Leib-Seele-Differenz notwendig wäre (ibid., 125sq.). Körper sind – so lernen wir von Michel Serres wie von leibphänomenologischen Überlegungen – eigensinnige kontingente Mobile, die durch Übung habituell werden, was sie sind, und gerade darin kreativ zu werden vermögen. Sie stehen dabei in einem spannungsreichen Verhältnis zur Sprache, weil diese aufgrund ihres Eigenlebens als Struktur nicht das ausdrückt, was die Körper sind oder denken, wollen und fühlen. Insofern auch die Sprache uns spricht, muss der Autor sich in ihr bewegen. „Der Schriftsteller als Meister der Sprache ist ein Meister der Unsicherheit.“ (Merleau-Ponty 1951, 345) Diese sprachliche Bewegung in fremden Terrain, das nicht das des Autorkörpers ist, hat seine Gefahren. Schreiben ist insofern wie Bergsteigen auch gefährlich (Serres 1999, 13sq.). Man bewegt sich dabei auf eigene Gefahr, die „écriture“ verzeiht keine Fehler. Man lässt sich besser durch einen „guide“ oder einen

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Klettersteig leiten: „citations-assurances, notes-refuges, références-pitons.“ [Zitations-Absicherungen, Fußnoten-Schutzhütten, Referenzen-Kletterhaken] (Serres 1999, 14). Wissenschaftliches Schreiben eben. Bibliographie Bedorf, Thomas, 2017: Selbstdifferenz in Praktiken. Phänomenologie, Anthropologie und die korporale Differenz. In: Phänomenologische Forschungen, Nr. 2, pp. 57–75. Connor, Steven, 2005. Michel Serres’s Les cinq sens. In: Abbas, Niran (ed.), Mapping. Michel Serres. Ann Arbor, pp. 153–169 Dreyfus, Hubert L., 1967: Why Computers Must Have Bodies in Order to Be Intelligent. In: The Review of Metaphysics 21, pp. 13–32. Freud, Sigmund, 1920: Jenseits des Lustprinzips. In: ders.: G.W. XIII. Frankfurt/M. 1999. Merleau-Ponty, Maurice, 1945: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin, New York 1974. Merleau-Ponty, Maurice, 1951: Der Mensch und die Widersetzlichkeit der Dinge. In: ders.: Zeichen. Hamburg 2007, pp. 333–360. Meyer-Drawe, Käte, 2007: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München. Röttgers, Kurt, 2015: Identität als Ereignis. Bielefeld. Röttgers, Kurt, 2005: Leib und Landschaft – Wandern und Wohnen. In: Röttgers, Kurt/ Schmitz-Emans, Monika (ed.): Landschaft gesehen, beschrieben, erlebt. Essen , pp. 44–66. Serres, Michel, 1999: Variations sur le corps. Paris 2013. Serres, Michel, 2001: Hominescence. Paris. Simmel, Georg, 1918: Lebensanschauung. In: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 16. Frankfurt/M. 1999, pp. 209–425.

Die Menschwerdung des Menschen Kurt Röttgers 1.

Die Entwicklung des Menschen

Michel Serres prägte den neuen Begriff der „Hominiszenz“,1 er meinte damit offensichtlich etwas anderes als die von der biologischen und philosophischen Anthropologie entwickelte und aufrechterhaltene Idee der Evolution des Lebewesens, das wir geworden sind. Aber es ist auch etwas andres als das Menschlichwerden im Sinne eines Humanismus, der den Menschen als Kulturwesen von der Bestialität abhebt. Die Abhebung von der inerten Unbeweglichkeit wird im Zuge der Hominiszenz in jeder Form des Trainierens in Sport, in Forschung und in Gymnastik jeglicher Art wiederholt. Und der Prozess der Hominiszenz als einer spezifischen Form der menschlichen Evolution ist eine immer neue Anstrengung, diese Abhebung vom Zustand des Erreichten zu vollziehen. Jedoch folgt diese Entwicklung keiner strikten Entwicklungslogik, sondern die Folge der Etappen ist kontingent und unvorhersehbar. Das Neue bildet seine Keime im Rahmen des Alten und bricht aus ihm hervor. Das Alte erscheint dann jeweils als Natur, das Neue als Kultur. Die Kulturentwicklung des Menschen ist also die immer wiederholte, ruhelose Abhebung der Kultur von der Natur. Diese Abhebung vom Ruhezustand macht die menschliche Existenz aus, die sich definiert als ruheloser und immer wiederholter Neubeginn. Und genau dafür, für diese Existenzbedingung führt Serres den Begriff der Hominiszenz ein. Der Wortbildung nach gleicht dieser Begriff denen der Adoleszenz, jenes schrittweisen Zu-sich-selbst-Kommens im Erwachsenwerden, aber fast noch mehr demjenigen der Emergenz, der unvorhersehbaren Entstehung des Neuen. Anders gesagt, ist Homniniszenz ein Differential der Menschwerdung, vor allem als Differential der „Autohominisation“; beginnen wir doch heute selbst den Tod und die Reproduktion zu „domestizieren“, d.h. nicht mehr als natürliche Vorgänge hinzunehmen, sondern ihre Gestaltung

1  Serres 2003. Die Darstellung versucht, eine überblickshafte Gesamtdarstellung der Ideen dieses Buches sowie der schon in früheren Publikationen vorliegenden Vorbereitungen dieser Ideen. Nachweise werden nur vereinzelt gegeben, und manchmal entwickelt die Darstellung die Ideen einfach weiter über den Text hinaus, um die weiterreichende Fruchtbarkeit des Serresschen Denkens zu demonstrieren.

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„kulturell“ in die eigene Hand zu nehmen: als Körpergestaltungen und Ausrichtung der Evolution.2 So entsteht für uns ein neuer Körper. Er ist nicht mehr auf natürliche Weise vorgegeben, sondern wir konstruieren unseren Körper mittels Produkten (unserer Körper): Im Zuge der Autohominisation konstruieren wir uns auf körperliche Weise selbst. Aber das wirft sowohl praktische als auch epistemische Probleme auf. Als wir noch nicht wussten, welche Etappen der Hominiszenz uns begegnen werden in der Abhebung von der Natur, wie also jeweils der neue Mensch aussehen würde, konnten wir uns in diesem Nichtwissen, als Schicksal, einrichten. Seit wir nun aber wissen und vor allem wollen können, wie der Neue Mensch aussehen soll, wird es unbequem. Sowohl die primäre Evolution als auch die menschengemachte richten sich auf Möglichkeitsräume, die erstere auf natürliche Weise, die zweite willentlich: Kontingenz der Natur einerseits, Kontingenz unserer Entwürfe des zukünftigen Menschen andererseits. Die erste Schlaufe der Hominiszenz fällt auf unsere Körper. Sie ist die Produktion unserer Umwelt, die auf uns als weitere Stufe der Evolution zurückwirkt. Die zweite Schlaufe betrifft die Welt, die wir uns im Ausgang von einer Objektwelt modellieren, Bilder der geschaffenen Objekte produzierend. So haben etwa die Bilder, die die Raumfahrt uns von unserer Heimaterde geliefert haben, diese Erde für uns neu geboren. Was früher daseinsanalytisch als In-der-Welt-Sein oder als Zur-Welt-Sein benannt wurde, ist nun durch diesen neuen Blick, so meint Serres, überholt: nun leben wir nicht mehr auf die gleiche Weise: „nous ne vivons plus de la même façon“ [wir leben nicht mehr auf die gleiche Weise] (210).3 Durch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Naturwissenschaften ist die Erde selbst in die Geschichtlichkeit der Kultur eingetreten.4 Genau das ist die Seite der Hominiszenz. Erstmals wird so ein „dezentrierter Humanismus“ (211) ermöglicht, der authentisch und allgemein wäre. Wenn es um den Neuen Menschen geht, möchten wir eigentlich unsere Zielvorstellungen unbestimmt lassen, ja aus guten Gründen können wir gar nicht anders. Denn wie sollte der neue Körper, an dem wir eifrig basteln, aussehen? Er müsste jedenfalls Ästhetik (Körperkosmetik und Bodystyling), Körpermoral (z.B. Sexualmoral) und Politik (Gewalt und Erkenntnis in ihrer Beziehung), sowie das ontologische In-der-Welt-Sein ganz neu bestimmen 2  l. c., 69. – Im folgenden werden Verweise auf dieses Werk durch Seitenangaben im Haupttext markiert. 3  Hier und im folgenden meine Übersetzungen, K.R. 4  cf. Röttgers 2014, 19–34.

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(59). Gewisse anthropologische Bestimmungen allerdings scheinen invariant zu sein, weil sie zum Überleben jeglichen Organismus gehören: Rezeptivität, Expressivität, sowie die erinnernde Speicherung und Verarbeitung von Information, d.h. Lernfähigkeit. Zwar ist der Körper allgemein eine Versammlung von Organen des Organismus und von (sozialen) Relationen, aber, wie wir wissen, ist das nicht alles, es ist vor allem die Sprache, die uns darüber hinaushebt. Aber in all diesen Konstanten gilt es, die Veränderungen diagnostisch zu beachten, die bei den Übergängen der Hominiszenz auftreten. Vor allem die sozialen Beziehungen verändern sich über die Sprachkonstitution des Menschen gravierend, und die Menschen bleiben nicht das, was sie einmal waren: „Nous ne sommes plus les même hommes. Nous ne vivons plus ensemble de la même façon. Du coup, dans le détail, les fonctions sociales changent.” [Wir sind nicht mehr die gleichen Menschen. Wir leben nicht mehr auf die gleiche Weise zusammen. Plötzlich ändern sich im einzelnen die sozialen Beziehungen.] (299) Die technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts haben gewaltige Veränderungen gebracht,5 aber einschneidender war der Wandel der Kommunikationsformen (218).6 Denn alle technischen Veränderungen intervenieren in Kommunikationsformen (239). Und das betrifft anscheinend auch rein somatische Bedingungen. Serres fragt daher: Haben die Menschen immer auf die gleiche Weise gelitten, oder hat sich ihre Art zu leiden geändert, d.h. auch die Schmerzwahrnehmung (34sq.)? Ablesbar ist das an der Veränderung der sozialen Bewertung von Krankheit. War früher Krankheit das Alleralltäglichste, gehörte sie sozusagen zum Leben dazu, so erscheint Krankheit heute als etwas, das nicht mehr zu (er)dulden ist, weil jede einzelne Krankheit im Prinzip zu vermeiden oder zu beseitigen ist. Das ändert das Verhältnis des Kranken zum Arzt. War früher der Arzt eine Art Magier, wenn er von der Krankheit heilte, galt ihm Bewunderung und Dankbarkeit; heute ist er u.U. strafrechtlich zu belangen, wenn die Heilung misslang (30sq.). Das ändert selbstverständlich auch die Einstellung zum Tod. War der Tod ehemals das Ende und die Vollendung des Lebens und war noch bei Heidegger das Sein-zum-Tode Existential des authentischen Existierens, so ist in der Verdrängung des Todes als Grundbedingung des Daseins der Tod zunächst nicht der eigene, sondern stets der Tod der anderen: Das steigert sich in der Vorstellung, dass das Leben nur das Überleben aller Krankheiten und der Tod selbst ein im Prinzip vermeidbares, mindestens aber lange aufschiebbares Malheur sei. Serres spricht daher von den neuen Toden. Denn Tod ist nicht gleich Tod, wie die Expertendiskussionen um die technisch und apparativ 5  Dazu mit vielen Exempeln: Serres 1992. 6  Serres 1991.

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bestimmbaren Kriterien des Todes zeigen. Nach dem Hirntod, dem jetzigen Kriterium, der allerdings nur apparativ festgestellt werden kann, beginnt die Ausweidung des zum toten erklärten Körpers. Stellen dann allerdings die Apparate unvermutet doch noch Hirnaktivitäten fest, dann müsste die OrganEntnahme unterbrochen werden und der Rest-Körper weiter apparativ am Leben erhalten werden. Sind das nicht ganz neue Tode des Menschen, d.h. des zeitweilig Überlebenden? Wir haben nicht mehr die gleichen Körper, das Wissen über unsere Körperlichkeit wurde transformiert. Das betrifft nicht nur unsere Tode, sondern auch die Modi des Überlebens. Dysfunktional gewordene Körperteile und Organe werden durch industriell vorfabrizierte Körperteile ersetzt: von der Implantation einer Hüfttotalendoprothese bis zum künstlichen Herzen, von unterstützenden Implantaten wie Herzschrittmacher und implantierten Defibrillatoren (AICD) bis hin zur pharmakologischen Optimierung von Körperfunktionen vom Betablocker bis zu Sildenafil, bzw. Tadalafil. Der neue Körper erscheint auch als der Körper im Sport. Sport ist nicht mehr Körpergenuss und Körperfreude, sondern soll nun den durch Training selbstoptimierten Körper hervorbringen und dann zeigen. Der Sieger im sportlichen Wettkampf ist der bestens optimierte Körper. Was liegt näher, als den Sportkörper auch so zu optimieren, wie das auch sonst in den Überlebensformen gang und gäbe geworden ist, d.h. pharmakologisch im Doping. In der Werbung, die vor nicht allzu langer Zeit noch dem Jugendlichkeitswahn des sportlichen Körpers (z.B. als Bodybuilding) huldigte, tritt nun immer mehr der durch AntiAging, durch seniles Fitness-Training „jung gebliebene“ Überlebende in den Vordergrund. Sowohl die von der Natur veranstaltete als auch die menschenorganisierte Evolution des Menschen erschließt neue Möglichkeitsräume, die jedoch nicht planbar sind, weder trivialerweise die Natur selbst, noch die Projekte der Selbstveränderung, und zwar ist weder die Projektentwicklung der Kontingenz enthoben, noch sind die Folgen und Nebenfolgen solcher Eingriffe planbar. Denn mit jeder Optimierung des Menschen wird auch seine Umwelt mit verändert, mit der er in einer symbiotischen Verbindung lebt, so dass jede gewollte Selbstveränderung als natürliche Rückwirkung auf ihn selbst zurückschlägt. Man weiß es: die lebensverlängernden Reinlichkeits- und HygieneMaßnahmen schwächen das Immunsystem und gefährden so paradoxerweise das Überleben. Das Geschichtsmodell, das solchen Einsichten zugrunde liegt, bzw. aus ihnen folgt, kann nicht mehr das eines linearen oder auch nur vektoriellen Fortschritts sein. Auch die Evolution ist in sich widersprüchlich: voller Brüche

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und Verzögerungen, voller Schleifen und Clinamen.7 Das hat zur Folge, dass im menschlichen Körper zwei Zeiten in widersprüchlicher Weise präsent sind: die Hominiszenz von Kopf und Herz (54sq.). 2.

Entwicklungslogik

Folgt die Entwicklung des Neuen Menschen, deren historische Struktur bei Serres, die im ersten Abschnitt nachgezeichnet wurde, einer eigenen Logik? Diese Frage war für den Mathematiker, Logiker und Strukturalisten Michel Serres eine unvermeidliche Folge. Gibt es also eine der geschichtlichen Entwicklung immanente Logik, im strengen Sinne von Logik? Francis Bacon glaubte eine solche Logik entdeckt zu haben: es ist die Dialektik von Gehorchen und Befehlen – man muss der Natur gehorchen, ihr ihre Logik ablauschen, um ihr dann befehlen und sie zwingen zu können. Dialektik aber – selbst die Hegelsche – ist noch eine lineare Logik.8 Stattdessen – so Serres – muss man eine Mandelbrotsche, eine fraktale Logik unterstellen, eine Logik der Bifurkationen, die allein einen der Realität angemessenen Raum der vielen Möglichkeiten der Fortsetzung eröffnen (192sq.). Für ein solches Denken gibt es nicht den einen, den privilegierten Punkt (in der Welt/im Denken), auf den hin alles bezogen ist oder bezogen werden kann oder sollte, sei dieser Punkt nun gedacht als Ursprung oder als Ziel (arché oder telos). Für einzelne Operationen lassen sich zwar immer einzelne Zwecksetzungen verzeichnen, aber es gibt weder einen universalen Endzweck noch eine Hierarchie der Zwecke. Daher sind auch die in den Netzen anzunehmenden Determinationen immer nur spezifische und lokale Determinationen mit bloß relativer Gültigkeit. Der strukturalistische Pluralismus lässt die Vielheit denken: zu jedem Weg im Netz der Bifurkationen gibt es eine Vielheit von Alternativen. Es bestehen – so Serres – Ähnlichkeiten zwischen den Strukturen der neuen Technologien in den Netzen des Neuen Menschen und den Strukturen des Lebens im allgemeinen. Beide nutzen Codes, und so sind beide chiffriert und dechiffrierbar. Beiden ist in dem Sinn der Bifurkationen gemeinsam, dass sie nicht teleologisch ausgerichtet sind. So wie Nietzsche kein Bild des 7  Zum Begriff des Clinamen und seiner Bedeutung für die naturphilosophische Deutung von Prozessen cf. Serres 1977 allgemein, sowie für die Deutung der Menschheitsgeschichte insbesondere p. 222. 8  Serres 1991, 25sqq.

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Übermenschen malen konnte, sondern letztlich nur sagen konnte, dass der Übermensch den Menschen überwunden haben wird. So wie Marx kein Bild des Kommunismus ausmalen konnte, weil sich in diesem zu erwartenden Zustand vielfältige Momente verbinden, so gilt auch, dass das Leben kein Ziel hat. Das Leben konstruiert sich selbst („Autopoiesis“), indem es sich (in mathematischer Schrift) selbst schreibt. Das hat Konsequenzen für die Konzeption von Denken. Der cartesianische Dualismus einer res cogitans, ontologisch geschieden von der res extensa, hat sich aufgelöst. Auch Denken erscheint nun als nichts anderes als eine Fort-Schreibung des Lebens der Lebendigen. Es bleibt immanent. „Tout est nombre: de la nécessité des lois mésurées, pesées, chiffrées à l’éventail combinatoire des possibles et à leur filtrage par contraintes de tous ordres, jusqu’à l’unicité originale et contingente du vivant, individuellement nommable par un code exclusif; tout est nombre.“ [Alles ist Zahl: von der Notwendigkeit gemessener, gewogener Gesetzmäßigkeiten, der berechneten kombinatorischen Bandbreite der Möglichkeiten, ihrem Filtern durch Zwänge aller möglichen Arten bis zur ursprünglichen und kontingenten Einheit des Lebendigen, individuell benennbar durch einen exklusiven Code; alles ist Zahl.] (196sq.) Gleichwohl lassen sich Ebenen gemeinsamer Modalitäten unterscheiden, ohne dass daraus ontologisch geschiedene Welten konstruiert werden müssten: wir sehen und empfinden Dinge und wir sehen uns selbst und wir können beides auch quantenmechanisch, d.h. in mathematischer Form darstellen. Auch wenn wir uns – zu Recht – als einzigartige, ineffable Individualitäten verstehen dürfen, sind wir doch auch, in anderer Hinsicht, nicht anders identifizierbar als in Einzigkeit einer Zahl: die Personenkennziffer oder die DNS. Die Personenkennziffer bezeichnet nur eine einzige Person und ist – verbunden mit den allerwärts gespeicherten Nutzer-Profilen – sogar mit vielen individualisierten Merkmalen ausgestattet, reichhaltiger vielleicht als die Eigenschaften, die im Selbstbild der Person für sie selbst gespeichert ist. Was also ist jenes „Ich“, von dem aus ich spreche? Ist „Ich“ mein wahrer Name? Oder ist „Max Mustermann“ mein Name, den auch jede andere Person haben kann? Ist dann nicht die Personenkennziffer vielleicht deutlich eindeutiger individualisierend? Die Ontologie der klassischen und der modernen Philosophie hat also ihren Platz geräumt zugunsten eines modalen und relationalen Denkens. Was aber heißt das für die Körperlichkeit, gibt es den Körper etwa nicht mehr? Nun, die Körper der Menschen waren nie ein Unmittelbares, ihr Körper war immer den Naturprozessen, den Kulturprozessen und ihrem Zusammenwirken ausgeliefert, er wurde tyrannisiert, diszipliniert und versklavt: das machte ihm eine Seele: „… nous pouvons enfin poser la question: Qu’est le corps? Réponse: il n’est pas; il était, mais il n’est plus; car il vit désormais sur le mode

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du possible …” [… am Ende können wir die Frage stellen: Was ist der Körper? Antwort: er ist nicht; er war, aber er ist nicht mehr; denn er lebt seither im Modus des Möglichen …] (49), preisgegeben den verschiedenen Verfahren der biologisch-medizinischen Optimierung; der sportlichen Ertüchtigung, der kosmetischen Verschönerung, der Entwurzelung in Reisen und Kulinarik (48sq.). Der Körper ist ein Gegenstand des Kults geworden, eines Kults der Tilgung seiner unmittelbaren Gegebenheit. Die Lebenslinie des Körpers folgt den technischen Möglichkeiten. Auch die Beziehungen der Menschen zueinander werden nun durch die Objektwelt begründet. Solch eine Vermittlung hat eben auch ihren besänftigenden und pazifizierenden Effekt. Die Unmittelbarkeit zweier Körper bedeutet Kampf oder Sex. Die vermittelnde Neutralität der Dinge erübrigt beides. Also geht es, um zu verstehen, nicht mehr um die Körper in ihrer Unmittelbarkeit, sondern es geht um Relationen: Intersubjektivität statt Objektivität in der Welt zwischen den Menschen. „La relation précède l’être: voilà bien le mot de ma philosophie, je n’ai jamais parlé que de communication, jamais je ne décrivis la conscience ni ne désiderai pénétrer dans les arcanes dont je n’avais pas le clé et dont ceux qui prétendaient en disposer me paraissaient des bateleurs.“ [Die Relation geht dem Sein voraus; das ist das eigentliche Wort meiner Philosophie; ich habe niemals von etwas anderem gesprochen als von Kommunikation, niemals habe ich das Bewusstsein beschrieben, noch möchte ich die Arcana durchdringen, zu denen ich niemals einen Schlüssel hatte und die darüber zu verfügen behaupten mir als Schmierenkomödianten erschienen.] (321) Der cartesianische Dualismus, der die Folgerung vom Denken auf das Sein erlaubte, ist erledigt. Nun muss es heißen: „… je me relie donc je suis. La relation précède toute existence.“ [… ich beziehe mich, also bin ich. Die Beziehung geht jeder Existenz voraus.] (323) Molière hatte schon ironisch den „Geizigen“ karikiert als einen, der Dinge, bzw. deren Geldäquivalent speicherte; aber es geht inzwischen nicht mehr um die Speicherung oder Hortung von Dingen, sondern unsere Computer speichern ausschließlich Relationen. Der Zugriff auf die Dinge ist ersetzt durch die Übermittlung und den Austausch von Informationen; das nennt Serres das Zeitalter des Hermes. Mussten Gelehrte früher aufwendige Bibliotheksreisen unternehmen, um seltene Bücher einzusehen oder später die Bücher in zeitaufwendiger Fernleihe bestellen, so stehen diese heute schon vielfach und demnächst vielleicht vollständig durch Digitalisierung im Internet zur Nutzung bereit. Durch Suchmaschinen und Metasuchmaschinen stehen auch diejenigen Relationierungen bereit, die den Zugriff auf diese Relationen ermöglichen. Auch die Entwicklung des Finanzkapitalismus mit immer mehr abgeleiteten „Produkten“ (die eigentlich nichts als Relationen sind) bis hin zu

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den Kryptowährungen, die das Geld Banken und der staatlichen Bankenaufsicht entziehen, wären weitere Bewährungsinstanzen dieser Thesen. 3.

Orte und Räume

Die Abkehr von den Substanzen hin zu den Relationen hat Folgen für die Räumlichkeit. Einerseits führt die Globalisierung dazu, dass alle in einer Welt leben; andererseits bedeutet die Modalisierung, dass wir keineswegs mehr in der einen festen Welt leben. Die alte Frage „Où êtes-vous, d’où parlez-vous?“ [Wo seid ihr, von wo sprecht ihr?] ist nicht mehr mit der gewohnten Eindeutigkeit zu beantworten. Wer ist, wenn jeder mit Mobiltelefon überall erreichbar ist, noch in der Nähe. Wer ist noch (wohnend) mein Nachbar? Jeder und niemand. Vor den Zeiten der neuen Technologien der mobilen ubiquitären Erreichbarkeit galt noch: Wer keine Adresse hat, wohnt nicht, ist nicht sesshaft. Die Nicht-Orte9 sind überall. Man kann Länder erfinden, z.B. Molvanîen, man kann von erfundenen Orten Botschaften verschicken, und sogar aus dem Jenseits des Todes. Erreichbarkeit ist eine reine Relation und setzt keinerlei Anwesenheit überhaupt irgendwo voraus. Erreichbarkeit ist definiert als eine IP-Adresse, und das ist weder ein bestimmter noch überhaupt irgendein Ort. Ja, im Dark-Net ist selbst die Möglichkeit der Adressierung durch eine IP-Adresse virtualisiert. Wir kommunizieren inzwischen, ohne zu wissen, an welchem „Ort“ der Adressierte sich aufhält, ja mehr noch: ob es ihn überhaupt gibt. Avatare in den Kommunikationsnetzen, d.h. „leere“ Relata, ersetzen inzwischen menschliche Körper, die als Halterungen der Mobilgeräte noch eine an Substantialität gebundene Funktion hatten. Das Ich dieser Funktionsposition im Kommunikationsnetz ist an keine res extensa mehr gebunden. Je mehr sich diese Entsubstantialisierung durchsetzt, desto mehr eröffnet sich ein Raum ohne Distanzen; d.h. ein Raum ohne Orte. Dieser Raum ist nicht mehr metrisierbar, er ist ein rein qualitativer Raum, ein Raum reiner Modalität. Ohne Orte wird aber auch die Rede von unverwechselbaren Individualitäten ihres Sinns beraubt. Wer bist du? – Ich bin ein anderer. Und wo bist du? Stets anderswo. In gewisser Weise ist das nichts ganz Neues; denn „Ich“ war nie substantiell gefüllt. Ich – das konnte jeder von sich sagen, es war der Ort, von dem aus sich das Sprechen im kommunikativen Text ereignete. Als reine Funktionsposition im kommunikativen Text war es nichts als ein Selbst, reine Ipseität, in seinem Bezug auf einen Anderen (vor dem Hintergrund des Dritten 9  Zu dem Begriff cf. Augé 2010.

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freilich – bei Serres die Funktion des Parasiten10). Aber in den neuen Technologien verschwindet diese Differenz, die eine von Redendem und Hörendem war. Nun reden tendenzielle alle, und keiner hört mehr zu; und gleichzeitig horchen alle auf eine Botschaft mit Sinn, aber keiner sagt ihnen die mehr, weil Sinn als bestimmter Sinn immer Distanz/Differenz erfordert. Als man noch Bücher las, da war jedes Buch durch Buchdeckel und durch Sinn-Differenz von allen anderen abgegrenzt, der Leser blätterte von Seite zu Seite durch das Buch. Im Hypertext dagegen verweisen die Links stets auf ein Universum weiterer Verweisungen. Sie drängen sich an die Stelle, wo in Büchern noch diskreter Sinn sein konnte. Nun wird die ganze Welt des Wissens eine einzige Seite mit unendlich vielen Verweisungen. Für Serres ähnelt diese kognitive Welt den US-amerikanischen Straßen mit ihren WerbeInstallationen, in denen sich gigantische Wörter in scheußlichen Farben aufdrängen. Zeugnisse dieser kapitalistischen Unkultur produzieren fortwährend sichtbaren und akustischen Müll (284). Die kapitalistische Ökonomie der Metropolen paralysiert die fünf Sinne des menschlichen Körpers11 und macht Platz für den Kuhglocken-Menschen: wir finden ihn wie der Senner die Kuh durch den Lärm, den er fortwährend erzeugt: homo clarinans – der Trompetenmensch. Der Ruhm eines solchen reduzierten Menschen bemisst sich danach, wieviel Lärm er macht, d.h. heute, wie viele „likes“ er hervorzurufen versteht.12 Dabei ist der Mensch eben nicht nur ein Organismus, sondern in seiner Sozialität ist er durch Kommunikation konstituiert, ja konstruiert: der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch vom Wort (logos). Eine Person entsteht – wie seinerzeit bereits Rousseau mit seinen zwei Grundworten „aimez-moi“ und „aidez-moi“ feststellte – auch durch die Worte der Liebe. Aber das besondere Problem des Neuen Menschen im Zeitalter des mobilen Internets ist, dass wir zwar weiter kommunizieren, ja das unendliche Geplapper sich aufhäuft, aber dass wir den Anderen dann oftmals nicht mehr sehen und folglich nicht mehr lieben können; wir wissen nicht einmal mehr, wo in der unendlichen Zahl von Möglichkeiten der Abwesenheit er sich aufhält, ja ob überhaupt. Das ist eine ganz neue Art oraler Kultur: wir sprechen mit Abwesenden, deren Ferne uns unbekannt bleibt, aber wir sprechen mit ihnen als wären sie da. Viele Zeitgenossen lesen nicht mehr und schreiben nicht mehr: die neue Oralität kann diese Kulturpraktiken ersetzen, sie erzieht zu einem neuen Analphabetentum. Wenn sie aber dann doch noch einmal schreiben, dann ist ihnen die Kultur der Schrift, z.B. die Orthographie, gleichgültig geworden. Die 10  11  12 

Serres 1981; cf. auch den Beitrag von Reinhold Clausjürgens in diesem Band. Die Eloge der fünf Sinne hat Serres in seinem Buch entfaltet: Serres 1994. Eine eindrucksvolle Kritik der Aufmerksamkeits-Ökonomie liegt vor in Odell 2019.

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Autokorrektur-Funktion und die WINDOWS-Nachfrage „meinten Sie wirklich …?“ unterstützen eine neue Schnoddrigkeit. Zudem: weil der Mensch multiple konstruiert ist, verlieren wir das Gedächtnis, bzw. lagern es aus in Datenbanken oder Wolken („clouds“). Die neue Medialität kreiert eine Welt, die paradoxerweise von den Usern für wirklicher gehalten wird als die bisher so genannte wirkliche Welt. „Fake News“ und „alternative Fakten“ finden mehr Akzeptanz als ihre sorgfältig recherchierten oder wissenschaftlich begründeten Widerlegungen. Zudem wird das bereitstehende Wissen in immer weniger begründeten Praktiken eingesetzt, z.B. statt die Möglichkeiten der Heilung der Krankheiten der Ärmsten der Welt zu fördern, werden ihnen immer perfektere Waffensysteme zur Verfügung gestellt, damit diese Ärmsten sich gegenseitig umbringen können. Wie „wissenschaftliche“ Begründungen für fragwürdige Fälschungen der verschwörungstheoretisch Glaubwilligen eingesetzt werden können, hat die Mockumentary von William Karel „Kubrick, Nixon und der Mann im Mond“ gezeigt.13 Diese Entwicklung zu einer Welt, die nur aus Lügen zusammengesetzt ist, fördert die soziale Ungleichheit. An sich haben alle Menschen das Recht, die Welt, ihre Welt zu verstehen. Denn alle Lebewesen sind darauf angewiesen, in verlässlicher, überlebensnotweniger Weise Energien und Informationen in und mit ihrer Umwelt auszutauschen und zu speichern. Aber die Medien verführen zu kontingenten Meinungen, Politik und Recht performieren wirksame Fiktionen und die Wissenshaften kreieren mit exklusivem Wissen in zunehmendem Maße neue Ungleichheiten im Verstehen der Welt. Und hinter all dem steht das Ökonomieprinzip, mit minimalem Aufwand maximale Effekte hervorzurufen, ausgedrückt in der Verpreisung von Information und LebensEnergie. Serres spricht im Zusammenhang dieser neuen Art von „Information“ von dem Übergang zu einer omnipotenten Ohnmacht, abgestützt durch das Wörtlichnehmen von Metaphoriken (71–73). Der Humanismus wollte einen neuen Menschen; seit Frankenstein lautet die Frage und die Antwort: „Ihr wollt einen neuen, einen besseren Menschen? – Kein Problem: Wir machen euch einen.“ Japanische Wissenschaftler arbeiten daran, Mensch-Tier-Hybride zu züchten, die als Organspender für Menschen dienen können; Frage: darf nach Entnahme des Organs der nichtmenschliche Teil des Tiers geschlachtet und gegessen werden? Aber tatsächlich vermuten wir, dass in allgemeiner Disponibilität aller Dinge die Objekte sich selbst optimal regulieren; das nennt man dann „Sachzwang“. 13 

Opération lune. Frankreich 2002, dt. u.d.T. wie erwähnt, verfügbar als DVD von Pidax Doku Highlights, gesendet z.B. in ard-alpha 16.7.2019.

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Politik stellt sich heute vielfach selbst nur noch als Exekution des Sachzwangs dar, was aber nichts anderes bedeutet als die Abdankung einer Politik für Menschen. Das ist gleichbedeutend mit der epistemologisch absurden Annahme, dass es die Objekte ohne Subjekte geben könnte. Doch diese Perversion betrifft auch unser Selbstverständnis: wir werden zu Objekten derjenigen Objekte, die wir sind, ausgeliefert den „objektiven“, aber auch kontingenten Prozessen der Hominiszenz. Das wäre keine Emanzipation eines Ausgangs von der Animalität zu selbstverschuldeter Animalität, sondern die Abhebung aus der Animalität ereilt uns lediglich. In den Prozessen der wissenschaftlichen Forschung ereignet sich das als das Obsoletwerden der Fähigkeiten der einzelnen Forscherpersönlichkeit zugunsten „objektiver“ apparativer Prozesse. „Tout glisse du subjectif à l’objectif.“ [Alles gleitet vom Subjektiven zum Objektiven.] (266) Was bleibt für das Subjekt? Residual bleibt ihm die souveräne Macht, sich aus dem Spiel der autonomen Objekte zurückzuziehen. Das Ich ist sich nur noch die Potentialität des Rückzugs aus diesem Spiel. Die Objekte, sagt Serres, verlassen ihren vormaligen Status der Werkzeuge oder Maschinen, um Quasi-Objekte zu werden, Quasi-Objekte, weil es Objekte ohne Subjekte sind, wie z.B. die Medien, ursprünglich vermittelnde Mitte, sich als Quasi-Objekte verwandeln in soziale Maschinen, in deren Teile sich die Menschen wandeln. Solches ändert auch die Alimentationsregeln: Die Nahrungs-Mittel werden keimfrei verpackt und immer billiger, die Risiken des Verderbens werden minimalisiert, die Herkunft wird gleichgültig und der Geschmack normalisiert. Dagegen steht immer noch (!) das strenge französische Weinreglement mit der Herkunftsbezeichnung A.O.C, die zugleich ein Hinweis auf den Geschmack (durch Rebsorten und Böden) und die Qualität erlaubt. Aber der Bedeutsamkeitshinweis wird immer seltener, und selbst Wörter verlieren ihre Wurzeln in der Sprachgeschichte, wogegen ja allein Heidegger noch anschrieb. 4.

Der Globalismus

Wenn die Herkunft des Weines (A.O.C.) und die Herkunft der Wörter irrelevant werden, dann hat die Politik des status quo und der Maßnahmen und Machenschaften im Rahmen des Weiter-so gesiegt. Dieser Sieg nimmt freilich den Dingen ihre Bedeutsamkeit, d.h. die Möglichkeit, die Dinge wirklich zu erfahren, schwindet. Qua ubiquitär zugänglichem Internet wissen nun alle alles, auch über alle. Die sogenannten sozialen Netzwerke und die angeschlossenen privaten, ökonomischen und staatlichen Datensammler Google, Facebook, Amazon, YouTube, Instagram und NSA sind in ihrer Allwissenheit göttlich geworden; denn Allwissenheit und Allmacht galten in der alten Theologie als

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wesentliche Eigenschaften Gottes. Die Internetüberwachung der in Profile zergliederten Menschen entwirft, wie Serres sagt, ein Gesetz, das strenger ist als das mosaische Gesetz oder der Code des Hammurabi (261). Das Raffiniertere daran ist allerdings, dass kein Überwachter davon weiß, was man über ihn weiß, ja, was er selbst über sich weiß. Wenn aber Serres fordert, auf die gelungene Beherrschung der (physikalischen) Welt habe nun eine Beherrschung der Beherrschung zu folgen, so scheint das eher ein frommer Wunsch zu sein denn eine tatsächlich offenstehende Handlungsmöglichkeit (207). Der Bankensektor in der digitalen Welt hat es vorgemacht: auf jede noch so ausgeklügelte Regulierungsanstrengung seitens der offiziellen Politik der Regierungen antwortete eine noch raffiniertere Regulierungs-Subversion, teilweise – aber nicht notwendigerweise – bereits in die Regulierungs-Dekrete als Regulierungs-Lücken den Regierungen durch die Lobby der Beratungsgesellschaften hineinsouffliert. Vielleicht hat die blockchainbasierte InternetWährung eine Chance, dieses Komplott von Bankensektor und Großer Politik zu unterlaufen. Allerdings wird der Vorstoß bereits jetzt von der FacebookWährung Libra konterkariert. Zwar wird so der vermeintliche staatliche Einfluss in der Bankenregulierung ausgeschaltet, jedoch in der Absicht, die Kontrolle über die Nutzer, nun allein in Bahnen der Ökonomie, zurückzugewinnen. Der entscheidende Unterschied von Libra zu Bitcoin wird sein: Es ist kein echtes Blockchain-Verfahren vorgesehen, d.h. die Transaktionen sind nicht anonym, lediglich die offizielle Politik ist ausgeschaltet, aber die Libra Association weiß alles über die Nutzer. So ist es nicht verwunderlich, dass Bezahlinstrumente wie PayPal, Master Card u.a. an den Verfahren der Libra Association beteiligt sind. Die von Serres geforderte Beherrschung der Beherrschung ist das nicht, im Gegenteil: die Beherrschung wird noch subtiler und undurchschaubarer. Wenn Serres zu Recht sagt, er habe immer von Kommunikation, d.h. von Relationen gesprochen, nie von Bewusstsein (322), so sind die geschilderten Entwicklungen doch alles andere als begrüßenswert, sie verarmen nämlich die Kommunikations-Codes, d.h. die Sprache, und sie verarmen damit die Möglichkeiten der Relationierung von z.B. Ich-Du-Beziehungen. Nicht mehr die Vielfalt sprachlicher Relationierungen beherrschen dann die Kommunikationsprozesse, sondern am Ende nur noch Zahlungen, d.h. Geldflüsse (254).14 Diese sind ähnlich gefährlich für die Menschheit wie diejenigen Viren, die das menschliche Immunsystem zu kennen scheinen und sich darauf eingerichtet haben. Sie sind Parasiten,15 die – mit einem Hilfeversprechen à la Mafia oder der (Staats-)Sicherheitspolizei – uns terrorisieren: terroristische Terrorabwehr 14  15 

cf. auch Luhmann 1994. Dazu umfassend Serres 1981.

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(46). Gesellschaften der Kommunikation dagegen sind auf Ansehen, Ruhm und Vertrauen gegründet – das Gegenteil von terroristischer Überwachung zum Schutz vor Terror (247).16 Schon die Staatsvertragstheorien der Neuzeit waren auf Ausschließung und Abgrenzung gegründet. Sie definierten exklusiv, wer das Recht hatte, ein Subjekt zu sein und wer nicht: John Locke z.B. wollte die Katholiken ausschließen, die Nazis nur die „Volksgenossen“ zulassen, der ideologisch geeinte „Westen“ die Feinde der (freilich als ökonomische Konsumbereitschaft verstandenen) „Freiheit“ ausschließen, die Neue Rechte in Europa die Zugewanderten. Gegenüber den Fremden gibt es allerdings schon in der biologischen Evolution grundsätzlich zwei mögliche Verfahrensweisen: die originale Symbiose oder Endosymbiose, d.h. der vormalige Feind wird zum produktiven Partner oder Teil des Organismus, siehe die EndosymbiontenTheorie Mereschkowskis17 – oder die Ausrottung. Der Versuch der Ausrottung ruft nur noch neue, raffiniertere Parasiten auf den Plan: z.B. die multiresistenten Keime. Die Zulassung des Fremden dagegen stärkt die Kooperationsrelation und beide Seiten der Kooperation (46–48); was das für die Co-Evolution von Mensch und Haustier bedeutet, dazu unten mehr. Was einmal Humanisierung (Vermenschlichung des Menschen) war, gerinnt unter Hominiszenz-Bedingungen zu der Frage: Ihr wollt einen neuen Körper, wie soll er denn sein (73sq.) Sowohl die konservative und kosmetische Chirurgie, als auch das Training und Bodybildung, sowie Rassereinheitsvorschriften und in Zukunft vielleicht die Genetik arbeiten an dem „idealen“ Körper und lüften so nach und nach das Geheimnis des Lebens und Überlebens; doch auch der durch Anti-Aging konservierte Körper ist nicht unsterblich. Ironischerweise verändert sich der Verändernde im Zuge der Veränderung selbst auch: das rein technische Verständnis der Körper-Arbeit bleibt unzureichend. Aus der Totipotenz (im Gegensatz zu Omnipotenz, der Allmacht, ist Totipotenz die Macht, die sich nicht auf alles, sondern auf das Ganze bezieht) entsteht so ein neuer, ganz anderer Humanismus (183sq.), der nicht anders kann als Diversität aus sich hervorzubringen. Diese Diversität formuliert sich auch aus in der (Er-)Findung neuer Geschlechter(-Rollen), m.a.W. der Körper selbst verändert sich. Die Totipotenz des Neuen Menschen im Rahmen auch des neuen Humanismus wirkt sich aus in einer Allverantwortlichkeit. Der Neue Mensch ist für alle Übel der Welt zuständig; da er ja alles könnte, sollte er alles zum Besseren wenden: Anthropodizee. Es wäre eine einseitige Interpretation dieser 16  17 

cf. dazu auch Brücher 2004. Kegel 2015.

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Anthropodizee zu sagen: alles sei politisch. Denn die so reden, meinen die Große Politik und deren beanspruchte totipotente Allzuständigkeit, nicht die Mikropolitik des Politischen.18 Es sind die Herrschenden, die sich als Experten für das Anstehende gerieren und auf diese Weise ihre Herrschaft über die Beherrschten legitimieren, wo doch die Beherrschten – als die eigentlichen Experten für das dem Politischen vorgeordnete Soziale – die Dinge wissen, auf die es im Zusammenleben ankommt; sie und nicht die (repräsentativ) über sie Herrschenden kennen die Wahrheiten des Sozialen. Bestimmte Philosophen und ihre Technokraten haben die Welt bisher immer wieder verändert: es kommt aber – sagt Serres in Abwandlung der 11. Feuerbach-These von Marx – darauf an, sie zu verstehen: „il est temps de connaître le monde …“ [Es ist Zeit, die Welt zu erkennen.] (209) Er fährt fort: „… de découvrir la nature“ [… die Natur zu entdecken] – nicht im objektivierenden Erkenntnisverständnis der Naturwissenschaften, sondern der Natur in ihrem Werden, was man früher auch die natura naturans nannte: „Puisqu’elle naît sous nos yeux, entre et de nos mains …“ [Weil sie unter unseren Augen geboren wird, zwischen und von unseren Händen.] Daraus folgt eine epikureische Ethik des Gartens, d.h. einer Kultur der Nähe.19 Das ist nicht zu verstehen als Ablehnung der globalisierenden und universalisierenden (stoischen) Ethik, sondern als deren notwendige Fundierung. 5.

Was war das doch gleich: die Kultur?

Ja, Kultur war auch die Abschaffung der Abstammung durch die Identität des „Blutes“, Kultur ist die Verunmöglichung des Rassismus. Einst trat an die Stelle der biologischen Filiation die familiäre Bindung durch Adoption, so schon im Römischen Recht. Aber Serres zeigt auch, wie diese nicht durch das „Blut“ begründete Elternschaft Kernbestandteil des Christentums ist. Die „Gottesmutter“ empfängt und gebiert ihren Schöpfer-Gott. Eine produzierte Frau produziert ihren Produzenten (62). Anders als die Filiations-Reihen des Alten Testaments hat das Christentum definitiv die Filiation durch das Blut abgeschafft. M.a.W.: es hat die Kulturentstehung aus der Natur in Abkehr von der Natur begründet (201). Heute ist von den drei indoeuropäischen Leitgöttern Jupiter (für religiöse Riten), Mars (für den Krieg) und Quirinus (für produktive Arbeit) nur letzterer als Leitfigur übrig geblieben (327). Über Jahrhunderte wurde die 18  19 

Zu dieser Unterscheidung cf. Röttgers 2010, Röttgers 2015, Röttgers 2019. Serres 1977, 230.

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Gewalt zwischen den Menschen durch organisierte, in der Neuzeit durch staatlich organisierte Gewalt, als Krieg dargestellt; dieses Verfahren löst aber immer weniger das Konfliktpotential zwischen Menschen auf. Waren die europäischen Kriege ein Kräftemessen gewesen, und Recht hatte am Ende der Sieger, so sind die heutigen Kriege, siehe die Kriege der USA, Vernichtungskriege eines Stärkeren gehen einen Schwächeren, und dass der Stärkere im Recht ist, steht von vornherein fest: Kriege gegen Irak, Afghanistan. Krieg ist dysfunktional geworden. Die Irrationalität der kriegerischen Ausführung von Konfliktbeseitigung zeigt sich auch im Verlust der Gründe und sogar der Ursachen von Kriegen. Der Krieg, so Serres, ersetzt heute alle Ursachen und Gründe, zuletzt sichtbar im Krieg der USA gegen den Irak: weder der Anschlag auf das World Trade Center war die Ursache des Kriegs, noch die erlogenen Massenvernichtungsmittel im Besitz von Saddam Hussein ein Grund. Erst der Krieg selbst erschuf Ursachen und Gründe. – Auch Erziehung, Kultur und Religion spielen eine immer geringere Rolle. Übrig geblieben ist uns die Arbeit, aber diese immer weniger im Zeichen des Prometheus, des Schmieds, immer mehr im Zeichen des Hermes, des Gotts der Kaufleute, Diebe und Hermeneuten, also die Informationsverarbeitung. Eine der Folgen ist die Abkopplung von der sogenannten Lebenswelt und ihrer Verbindung mit körperlicher, schweißtreibender Anstrengung. Serres spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Verlust von Endlichkeit, der schönen Geste der Philosophen (83). Was bleibt, ist allenfalls eine Solidarität angesichts des universellen Unsinns. Als der Leib und seine Gefährdungen noch eine Rolle spielten, also das zu erkletternde Hochgebirge und die Bewährung im Sturm auf hoher See, da konnten diese noch echte Gefährdungslagen (in der Natur!) zeigen.20 Aber in diesen Lagen galt es nicht, einen Krieg gegen die gefährliche Natur zu führen, sondern mit ihr zusammen zu wirken, indem z.B. den hohen Wellen im Sturm nicht trotzig Widerstand geleistet wird, sondern indem man sich der Kraft der Natur anvertraut und sie für die Bewegungen des eigenen Schiffs nutzt. Also lautet im Umgang mit der Natur die Parole: „L’amour, non la guerre“ (148). Wie ja auch die Menschwerdung sich der Liebe und nicht der kriegerischen Gewalt verdankt. Früher hatte man geglaubt, der moderne Mensch habe den Neandertaler ausgerottet. Gen-Analysen konnten nun zeigen, dass der Neandertaler in unseren Genen fortlebt: es war die Liebe und nicht der Krieg, der das Ende eines separaten Neandertalers besiegelte. Wann aber – so fragt Serres – werden wir diesen Frieden und diese Liebe zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und der Natur erreicht haben? Noch gelten als Helden der Geschichte die größten Gewalttäter: 20 

cf. dazu eindrucksvoll Serres 1999.

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Feldherren und andere Mörder. Daneben aber bereitet sich atavistisch das Menschenopfer in den „zivilisierten“ Gesellschaften immer weiter aus: die Verkehrstoten, die dem Gott „Automobil“ geopfert werden; denn nicht zu Unrecht spricht man ja von Unfall-Opfern. Außerdem werden alle unsere Kinder und Heranwachsenden durch den Gott „Fernsehen“ an das Erleben der Tötung von Menschen gewöhnt: In den 15 Jahren ihres Heranwachsens sind sie durch Bilder von durchschnittlich 20.000 Tötungen in die Selbstverständlichkeit der Tötungsgewalt eingeübt (123). Die Liebe zur Natur äußert sich bei Serres an vielen Stellen als seine Liebe zu Tieren. Zunächst muss er feststellen, dass Philosophen nichts über die Gemeinsamkeit und die Co-Evolution von Tieren und Menschen zu sagen wissen (allerdings hätte er in Michel des Montaignes Essais, besonders in der „Apologie für Raymond Sebond“ Parallelen finden können). Die gemeinsame Kultur von Tieren und Menschen ist in der Regel kein Gegenstand philosophischer Reflexion, eher schon räsoniert man über den Ursprung und die Rechtfertigung des Eigentums an Tieren (131–134). Gerade bei den Haustieren lässt sich das Zusammenleben, das Lernen voneinander und die Anpassung aneinander anschaulich zeigen. Die Menschen und ihre Tiere bewohnen ein gemeinsames „Haus“. Sie erziehen sich gegenseitig (125; 142sq.) Aber Empathie gibt es nicht nur mit den Hautieren, auch Jäger und Beute, sei es als Mensch, sei es als Tier, verstehen einander und bilden eine Einheit. Ihr Verstehen ist körperlicher Natur, Serres schreibt im Anschluss an La Fontaine: Ich wusste, dass die Löwin sah, dass ich sie betrachtete, wie sie mich beobachtete; sie wusste, dass ich wie sie schwamm und wie sie wollte, dass ich schwämme. Die Verwandlung in eins der Tiere hätte daher einen besonderen Reiz. Allerdings endet Serres’ Sympathie bei denjenigen Haustieren, die mit ihrem angstvollen Zähne-Blecken die Angst ihres Herrn imitieren (153). Zwischen Menschen und Tieren handelt es sich um einen Prozess der Vermischungen und Unsauberkeiten mit dem Effekt der gegenseitigen Domestikation: sowohl die Tiere als auch die Menschen wurden zu Haustieren (130sqq.) Beide Seiten geben und nehmen für- und voneinander. Voraussetzung war, dass bestimmte Tiere nicht mehr gejagt, sondern ins Haus genommen wurden. Für die Tiere bedeutete das Schutz vor der Wildnis und dem dortigen Gefressenwerden; für den Menschen teils Schutz vor der Wildnis (durch die Hunde vor den Wölfen), teils die Bereithaltung von tierischem Eiweiß ohne mühselige und gefährliche Jagd. Domestizierung schützt vor dem Kampf ums Dasein. Dieser Prozess ist ein rein körperlicher: tierische und menschliche Körper lernen (körperlich) voneinander und dass sie sich aufeinander verlassen können. Das Modell gegenseitiger Domestizierung lässt sich allerdings

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auch auf Diskurse übertragen. Der philosophische Dialog ist auch eine Form gegenseitiger Domestizierung/Kultivierung. So entsteht in der Kultur aus dem Tier ein „Engel“ (145). 6.

Vermischungen

Die Domestizierung von Mensch und Tier ist ein Ort der Vermischungen. In der technischen Zivilisation der Metropolen und natürlich in den Regressionen des neuen Rassismus gibt es einen Horror vor Vermischungen und eine obsessive Pflege der identitären Reinheit. Dabei – und das hat Serres vor allem bereits in seinem Lukrez-Buch gezeigt – bedeutet Existieren immer beides: Stabilität und Abweichung und die Vermischung von beidem. Nur durch die Abweichung (clinamen bei Lukrez) gibt es so etwas wie Bewegung, das Werden der Existenz.21 Also ist auch Identität nichts als Identität-in-Bewegung,22 d.h. Abweichung von sich selbst. Wer bin ich, fragt Serres; und seine Antwort lautet: ein Strudel.23 Daher sind die Meteorologie und ihre instabilen Gegenstände, wie z.B. die Wolken, aufschlussreicher für das Verstehen menschlicher Existenz als die klassische Mechanik.24 Für diese Art der Vermischungen in den Lebenswelten prägt Serres den Begriff des Biosoms.25 Biosom meint die anthropologisch vielfach behauptete Weltoffenheit des Menschen, d.h. dass er sich mit vielem verbinden und vermischen und sich in vielen verschiedenen Umwelten einrichten kann. Biosom ist die Begegnung mit variablen Umwelten und die Vermischung in ihnen. Die Entstehung der Biosome (und Hylosome) ist sowohl genetisch fundiert als auch kosmisch. Das Biosom ist die Emergenz eines gemeinsamen Körpers in den Verbindungen und Vermischungen. Die biosomatische Perspektive verbindet sowohl biotechnologische als auch mikrobiologische Einsichten, d.h. den Genotyp mit dem Phänotyp. Das Biosom unterliegt dem Wandel; das Entscheidende für die Menschwerdung des Neuen Menschen ist nun, dass dieser Wandel heutzutage im Raum der Möglichkeiten menschlichen Handelns auftaucht. Damit ist nun eine Verbindung genetischer und ökologischer 21  22  23  24  25 

Serres 1977, 31sq. Oder: Identität als Ereignis; cf. Röttgers 2016. Serres 1977, 50. Vogl 2005. Offenbar in völliger Unkenntnis führen K.R. Otemaier, M.B.R. Steffen, R.T. Raittz, A. Brawerman und J.N. Marchaukoski den Begriff 14 Jahre später selbstbewußt-ignorant erneut ein: Otemaier 2015.

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Veränderungen gegeben, diese Möglichkeiten verändern planbar Mensch und seine Umwelt zugleich. Im Genom ist die Evolutionsgeschichte chiffriert, vielleicht sogar aber auch der (natürliche) Todeszeitpunkt (85). Serres ist überzeugt, dass die Begriffe Biosom und Biokosmos elementare und globale Begriffe einer allgemeinen Zeichentheorie der Codes des Lebens bereitstellen können (177). Es ist ja bereits heute schon so, dass die Biochemiker vom „Text“ des Genoms sprechen. Wenn im Genom die Hominiszenz als Zeichenfolge chiffriert vorliegt, dann ist in ihm die Geschichte festgehalten, aber eben vielleicht auch das Vergehen im Tod. Wenn aber die ganze Kulturentwicklung der Versuch gewesen ist, den Tod aufzuschieben, dann erwächst mit dem neuen Körper in der Hominiszenz auch die Hoffnung ganz neuer, jedenfalls neu aufgeschobener Todesarten. Leben reduzierte sich für diesen Neuen Menschen aufs Überleben. Es bricht das thanato-technische Zeitalter an (39).26 Aber: Todesvermeidung ist Lebensvermeidung. Bibliographie Augé, Marc, 2010: Nicht-Orte. München. Brücher, Gertrud, 2004: Postmoderner Terrorismus. Opladen. Karel, William, 2002: Opération lune. Frankreich 2002, dt. u.d.T.: Kubrick, Nixon und der Mann im Mond, verfügbar als DVD von Pidax Doku Highlights, gesendet z.B. in ard-alpha am 16.7.2019. Kegel, Bernhard, 2015: Die Herrscher der Welt: Wie Mikroben unser Leben bestimmen. Köln. Luhmann, Niklas, 1994: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M. Odell, Jenny, 2019: How to do Nothing. Brooklyn, London. Otemaier, K. R. et al., 2015: Biosom: Gene Synonym Analysis by Self-Organizing Map. In: Genetics and Molecular Research 14, pp. 1461–1468. Röttgers, Kurt, 2010: Flexionen des Politischen. In: Bedorf, Thomas/Röttgers, Kurt (ed.): Das Politische und die Politik. Berlin, pp. 38–67. Röttgers, Kurt, 2014: Die Herkunft der Steine. Wie die Steine eine Geschichte bekamen. In: Röttgers, Kurt/Schmitz-Emans, Monika (ed.): Steine, Versteinertes. Essen, pp. 19–34. Röttgers, Kurt, 2015: Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis. In: Alkemeyer, Thomas/Schürmann, Volker/Volbers, Jörg (ed.): Praxis denken. Wiesbaden, pp. 51–79. Röttgers, Kurt, 2016: Identität als Ereignis. Bielefeld. 26 

Serres 1972.

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Röttgers, Kurt, 2019, Das Politische und die Politik – Aktion und Institution. URL: https://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/philosophie/das_politische_ und_die_politik.pdf. Serres, Michel, 1972: La Thanatocratie. In: Critique 298, pp. 199–227; auch in Serres, Michel: Hermes III: Übersetzung. Berlin 1992, pp. 97–142. Serres, Michel, 1977: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce. Paris. Serres, Michel, 1981: Der Parasit. Frankfurt/M. Serres, Michel, 1991: Hermes I: Kommunikation. Berlin. Serres, Michel, 1992: Hermes II: Interferenz. Berlin. Serres, Michel, 1994: Die fünf Sinne. 2nd. edition, Frankfurt/M. 1994. Serres, Michel, 1999: Variations sur le corps. Paris. Serres, Michel, 2003: Hominiscence. Paris. Vogl, Joseph, 2005: Wolkenbotschaft. In: Engell, Lorenz/Siegert, Bernhard/Vogl, Joseph (ed.): Wolken. Weimar, pp. 69–79.

Michel Serres, Henri Bergson and ‘Retardation’ Bill Ross This notion of delay in communication is a capital notion1 Michel Serres

Two alternatives suggest themselves for the genesis of phenomena, of original actualisation on a cosmological scale, two problems which on the face of it should offer quite different solutions: Firstly, we might assume the initial condition to be one of highly elevated activity, an infinitely fast miscegenation of all cause upon all cause, each and all co-extensive with the entirety of Being or Becoming, all in rhapsodic immediate propagation; how does this state of affairs come to disentangle, to stagger and differentiate its own single hyperspeed into the multivarious timesignatures of the phenomena we observe around us? Or, again, if rather there were some primordial stasis at the beginning of everything, how did this transition to relative movement, how did the channels arise which allotted this lane fast and that lane slow? How did some catatonic equilibrium which should by rights have been terminal, shiver into becoming? How does the exchange of a photon acquire its own relative speed, and in what way does the accretion of a galaxy do the same thing? These are two cosmological beginnings, two Chaoses which seem at first to be at odds with each other, with separate attendant questions: for the first, the question is, ‘how do things delimit their speed?’; while for the second, ‘how do things quit stasis?’. I will maintain that these are in fact not necessarily the mutually exclusive propositions they appear to be; this is a line of argument which will be examined through the nuanced tensions between two natural philosophers, Michel Serres and Henri Bergson, taking cues from their respective interpretations of the work of Lucretius. Bergson’s Extraits de Lucrèce avec un commentaire, des notes et une étude sur la poésie, la philosophie, la physique, le texte et la langue de Lucrèce2 and Serres’ The Birth of Physics.3 For both it is a question seen through the lens of thermodynamics, though the difference between their respective positions on the matter will hopefully serve to clarify 1  Serres 1968, 20 fn.: “Cette notion de retard dans la communication est une notion capitale …” (my translation) 2  Bergson 1884. 3  Serres 2018.

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Bill Ross

what is at stake. More particularly, there is a key concept to be found in each thinker’s work which I believe forms the hub around which our questions turn; in French, the word is ‘décalage’, for which we shall adopt ‘retardation’. Embedded within this concept, I will argue, is the ambiguous identity of our two questions on delimitation and stasis. By extension, it serves to throw light on the different but intimately related philosophical instincts of these two thinkers. For Bergson, the problematic is set out in his first published work; a commentary on selections from Lucretius’ De rerum natura, The Nature of Things, presented as an introduction and footnotes to extracts from the Latin. With hindsight, anyone familiar with Bergson’s own work can identify a certain early consolidation of his antipathetic attitude toward deterministic modes of thinking; Lucretian atomism represents for him just such a standpoint. While noting the beauty of Lucretius’ natural imagery and his passion for nature, he attributes to him a fatalistic bent; We [sympathetic readers of Lucretius] perceive things from without, in their picturesque aspect; we believe that they succeed and replace each other at the inclination of their own whim; but reflection, science show us that each one of them could have been mathematically foreseen, since each is the fated consequence of that which preceded. Here is the presiding idea of Lucretius’ poem. Nowhere is it explicitly formulated, but the poem in its entirety serves only to develop it. Nature is engaged, now and forever, in the invariable application of the same laws; she is engaged therein by a kind of contract, foedus, and this contract is eternal. (Bergson 1884, Introduction, vi)4

To this generally fatalistic and deterministic picture, Bergson adds a gloss; It follows from this that each cause produces only a determined effect. (Bergson 1884, Introduction, vi)5

Bergson is identifying a principle, a foedus he says, employing Lucretius’ word. It is eternal, ubiquitous and uninterrupted in the deterministic causal chain. It precludes creativity. In short, it leaves no place for the vital as that idea will 4  “Nous apercevons les phénomènes du dehors, dans ce qu’ils ont de pittoresque; nous croyons qu’ils se succèdent et se remplacent au gré de leur fantaisie; mais la réflexion, la science nous montrent que chacun d’eux pouvait être mathématiquement prévu, parce qu’il est la conséquence fatale de ce qui était avant lui. Voilà l’idée maîtresse du poème de Lucrèce. Nulle part elle n’est explicitement formulée, mais le poème tout entier n’en est que le développement. La nature s’est engagée, une fois pour toutes, à appliquer invariablement les mêmes lois; elle s’y est engagée par une espèce de contrat, fœdus, et ce contrat est éternel” (my translation) 5  “Il résulte de là que chaque cause ne produit qu’un effet déterminé.” (my translation)

Michel Serres, Henri Bergson and ‘ Retardation ’

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come to be developed in Bergson’s own work; it is pure mechanism. His note on line 254 of the second book of De rerum natura reads; Fati foedera, the mechanical and predetermined series of movements. (Bergson 1884, 33)6

And the note on the line immediately thereafter; Ex infinito sequitur. This is the best possible definition one could give of the absolute necessity of fatality. It consists of an indefinite succession of causes and effects, in which the preceding determines the succeeding, ruling out any supposition, at any point in the series, of a spontaneous or creative act. (Bergson 1884, 33)7

If we were looking for a defining source of the mechanistic modes of thinking against which Bergson was later to develop his notions of duration and the vital, it seems we could find little more compelling a locus. Yet it seems that Bergson is missing something (both literally and ironically) vital on the page here; a distinction that Michel Serres was later to expand upon to great effect in his own commentary on Lucretius; it is that there is not one foedus, pact or law in Lucretius, but two; the law of fate and the law of nature. These two are opposed, Serres recognises (as we shall see), in strikingly similar ways to the mechanistic and vital orders which Bergson himself places in tension. The very lines on which Bergson comments above delineate this distinction. Lucretius is writing of a ‘motus principium’, the swerve of the clinamen, which ‘shatters the laws of fate’ (‘quod fati foedera rumpat’).8 The clinamen, or originary swerve, for Lucretius, serves to introduce event into the cosmos. Bergson’s commentary proceeds as though this ‘shattering’ never occurs, as though it makes no essential difference. Fate remains intact in the Lucretian world. For Serres, however, it is the founding transition in the nature which Lucretius describes. There certainly is a transition in the text. Famously, Lucretius’ ‘first chaos’ as Serres calls it, consists of a void through which atoms fall strictly downward, undeviating, restricted from interacting by the parallel untouching paths which each pursues. This (pre-) natural regime is condemned to its 6  “Fati fœdera, l’enchainement mécanique et fatal des mouvements.” (my translation) 7  “Ex infinito … sequatur. C’est la meilleure définition qu’on puisse donner de la nécessité absolue de la fatalité. Elle consiste dans une succession indéfinie de causes et d’effets, dont le précédent détermine le suivant, sans qu’on puisse supposer, à aucun point de la série, un acte spontané ou créateur.” (my translation) 8  The Loeb edition gives the translation, “… a beginning of motion such as to break the decrees of fate …” (Lucretius 1992, 115).

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mechanistic fate; the mass of each atom determines its downward path in isolation; this is a ‘parallel sheaf’ of atoms, a ‘laminar flow’, lacking turbulence or perturbation, Serres points out, for there is no end to the void and no escape from the inertial mass. This regime, then, is the one presided over by the first foedus, that of fate or determinism. It is the ‘motus principium’, the clinamen which breaks this condition. At this point, some pause is due to note the apparent contradiction here; why should Lucretius adopt the term ‘motus principium’; why should we consider this swerve the first movement? Are we not given to understand that the atoms are falling? Is this not in itself to be considered a movement, and prior to the advent of the clinamen? As we shall see, Serres offers some observations which help throw light on this, and in turn on the question with which we began; does the world begin by slowing down or starting up? A second regime, unrecognised by Bergson, intervenes at this point in the text; the clinamen, an infinitesimal deviation from the downward path of a given atom falling through the void, brings about collision with its neighbour, which in turn collides with others and so on to a ramifying turbulence. The two regimes could not be more different. And it is this second regime which requires us to recognise a different kind of law, foedus or pact; this is the law which Lucretius designates foedera naturae, Serres tells us. This law depends no more on isolated masses, but ‘collisions, interlacings and fabrics’. On random permutations and temporary formations of macro-scale bodies. This is a law which is not ‘mathematically predictable’, nor does each cause produce only a ‘determined effect’; none of its contracts are eternal. Thus, Serres asserts, Lucretius’ clinamen represents not only the introduction of complexity and indetermination into the world, but also a transition from one type of order, foedera fati, to another, foedera naturae.9 Lucretius’ cosmos is the tale of chaos, entropy, complexity and turbulence which is the focus of so much of Serres’ work. But we are in a position now also to see with Serres’ help, the functional analogy between Lucretius’ nature and that of Bergson, a dual pairing of twin forms of order in respective antagonistic relation. The foedera fati and the foedera naturae are precursors of the mechanistic and the vital. Perhaps the first correspondence is the easiest to establish. When Lucretius speaks of the foedera fati, Serres maintains, he identifies what we would now term entropy. So much of the imagery of his poem is devoted to dissipation

9  There are nuances to Lucretius’ use of the word foedus, which Serres reflects on (see for example Serres 2018, 136) and which inflect the philosophical meaning of his views on nature. Its natural sense connotes ‘law’, though Lucretius’ sense lends itself more toward ‘alliance’ or ‘pact’. For a discussion of these nuances, see also Asmis 2008, 141–157.

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and dissolution, most prevalently in the description of the plague at Athens in the final pages; … [B]odies half-dead with fainting limbs caked with squalor and covered with rags, perishing in the filth of body, nothing but skin on their bones, and that almost buried in foul ulcers and dirt. (Lucretius 1992, 589)

Serres goes so far as to offer in a labelled diagram the correspondence of the fall of atoms through the void with mechanism; the fall is, he says, a ‘General descent towards equilibrium, towards maximum entropy.’ (Serres 2018, 99).10 Similarly, Bergson’s mechanism is aligned with entropy. In Creative Evolution he speaks of inert matter ‘descending’ into disorder and dissolution. The vital principle resists this descent; The truth is that life is possible wherever energy descends the incline indicated by Carnot’s law and where a cause of inverse direction can retard the descent. (Bergson 1928, 270)

Carnot’s law, entropy, governs inert matter; for Bergson it is inert matter which is governed by the mechanistic order. The second correspondence, that of the foedora naturae with the vital, follows by functional analogy. In both cases they are counter-principles to the deterministic order. Bergson says; In fact [life] is riveted to an organism that subjects it to the general laws of inert matter. But everything happens as if it were doing its utmost to set itself free from these laws. It has not the power to reverse the direction of physical changes, such as the principle of Carnot determines it. It does, however, behave absolutely as a force would behave which, left to itself, would work in the inverse direction. (Bergson 1928, 259)

‘In the inverse direction’ here means back up the incline down which inert matter descends, away from the static equilibrium which can be its only endpoint. The vital, then, is a principle of complexity, negentropy. Nor is it restricted, Bergson, insists, to the biological living organism. There is a certain ‘impetus’, he says, in natural process which is everywhere, from which biological life ultimately derives, but which is nevertheless already ‘vital’. In the broad tableau Bergson offers us a picture of nature composed of these two antagonistic orders, one in which each and every system, every sub-whole, is constantly ‘making and unmaking’ itself. This same broad tableau is the signal lesson which Serres draws from Lucretius; 10 

“Précipitation générale vers l’équilibre, vers le maximum d’entropie.” (Serres 1977, 96)

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Bill Ross As a consequence, things, phenomena, the world in its entirety, are all models for theory, and wrought by these two laws of nature. The law of death, universal, flowing in waves towards equilibrium, infinitely, and the stochastically distributed exception in the cataract, under the differential cones of declination, where the flow inclines, returns in a waterspout, diversifies, develops locally and constructs an aggregation that is temporarily stable because unstable. (Serres 2018, 101)11

The ‘world in its entirety’ which we find in Lucretius is a ‘liquid history’, according to Serres, in which everything is in flux, for which the principles of hydrodynamics are more enlightening than the mechanics of bodies, in which the ‘impetus’ (to borrow Bergson’s word) for creativity is provided everywhere and always by the clinamen; Here, for objects, as for us, turbulence is productive. (Serres 2018, 113)12

It is this last aspect of the clinamen which for Serres renders it a universal principle; just as for Bergson in every event there is an expression of the vital force, so for Serres, the clinamen, some essential deviation in the chain links of causality, is in play whenever any process occurs. The clinamen is not to be thought of as a single event in the pre-history of the cosmos, ushering in turbulence then withdrawing from the plain; this is what he means when he says, ‘there is no time zero’ (Serres 2018, 166). There is a great deal of rapprochement, then, between the natural philosophy laid out by Lucretius and Bergson’s own creative evolution. But the most intriguing connection is with respect to what each author, Bergson and Serres, has to say about the time proper to the mechanistic regime. It is on this topic that Serres perhaps pursues implications on the furthest leash from the Lucretian text which he inhabits so completely, and the direction taken is towards Bergson. For Bergson, mechanistic time lacks duration proper; it can tell us only of succession, nothing of process. Yet, he bemoans, it is only mechanistic time which the science of his day recognises and treats; the very act of rendering time amenable to mathematical measure banishes all aspects of its true character. That critique is pursued at length in Creative Evolution. In 11 

12 

“Les choses, désormais, les phénomènes, le monde en son entier, sont modèles pour la théorie et travaillés par ces deux lois de la nature. La loi de mort, universelle, coulant à flot vers l’équilibre, infiniment, et l’exception stochastiquement répartie dans la cataracte, sous les cônes différentiels de la déclinaison, où le flux s’incline, revient en trombe, se diversifie, se noue localement et construit un agrégat temporairement, stable parce qu’instable.” (Serres 1977, 99) “Ici, pour les objets, comme pour nous, la turbulence est productrice.” (Serres 1977, 113sq)

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essence, for Bergson, all that science fails to address in its approach to nature (and this is a great deal) is a function of its focus on the mechanistic order and the misplaced assumption that this form of order can and does furnish an exhaustive description of material action; a description that is for this reason incapable of transcending determinism. Most tellingly, and in retrospect most influentially, he maintains that a unique focus on the mechanistic order elides the very notion of time.13 Bergson demonstrates that this elision is a consequence of a certain form of scientism, which effectively rules out of court any sense of the open-ended nature of time; What does it mean to say that the state of an artificial system depends on what it was at the moment immediately before? There is no instant immediately before any other instant; there could not be, any more than there could be one mathematical point touching another. The instant “immediately before” is, in reality, that which is connected with the present instant by the interval dt. All that you mean to say, therefore, is that the present state of the system is defined by equations into which differential coefficients enter, such as ds/dt, dv/dt, that is to say, at bottom, present velocities and present accelerations. You are therefore really speaking only of the present – a present, it is true, considered along with its tendency. (Bergson 1928, 22sq)

The scientific account, therefore, for Bergson, ruled out any genuine understanding of duration understood as becoming; When the mathematician calculates the future state of a system at the end of time t, there is nothing to prevent him from supposing that the universe vanishes from this moment till that, and suddenly reappears. It is the t-th moment only that counts – and that will be a mere instant. What will flow on in the interval – that is to say, real time – does not count, and cannot enter into the calculation. (Bergson 1928, 23)

It is evident, then, that science is to be condemned when it subscribes to absolute time in the Newtonian manner; ‘All motions may be accelerated and retarded, but the true, or equable, progress of absolute time is liable to no change.’14 For Bergson, this line of thought is pursued to its ultimate, cosmological implications, in a section entitled ‘Modern Science’. Because it is ‘of the essence’ of science to handle signs, it is therefore ‘tied down to the general condition of the sign, which is to denote a fixed aspect of reality under an

13  14 

Bergson is routinely cited to this effect in a wide range of scientific literature. See for instance, Prigogine 1985, 214; Unger et al. 2015, 301. Newton 1995, 15.

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arrested form.’ (Bergson 1928, 347). In other words, the representations of science amount to a ‘virtual stop’ in the continuous passage of nature. To each virtual stop of the moving body T at the points of division T1, T2, T3 … we make correspond a virtual stop of all the other mobiles at the points where they are passing. And when we say that a movement or any other change has occupied a time t, we mean by it that we have noted a number t of correspondences of this kind. We have therefore counted simultaneities; we have not concerned ourselves with the flux that goes from one to another. The proof of this is that I can, at discretion, vary the rapidity of the flux of the universe in regard to a consciousness that is independent of it and that would perceive the variation by the quite qualitative feeling that it would have of it: whatever the variation had been, since the movement of T would participate in this variation, I should have nothing to change in my equations, nor in the numbers that figure in them. (Bergson 1928, 356)15

Nor does Bergson shy away from pursuing the final ramifications; Let us go further. Suppose that the rapidity of the flux becomes infinite. Imagine, as we said in the first pages of this book, that the trajectory of the mobile T is given at once, and that the whole history, past, present and future, of the material universe is spread out instantaneously in space. The same mathematical correspondences will subsist between the moments of the history of the world unfolded like a fan, so to speak, and the divisions T1, T2, T3, … of the line which will be called, by definition, “the course of time.” (Bergson 1928, 357)

Thus; [Science] takes account neither of succession in what of it is specific nor of time in what is of it that is fluent. (Bergson 1928, 357)

It would be a mistake, however, to conclude that this critique, associated as it is here with ‘signs’ is merely one example of the oft-maintained objection 15 

Bergson, the author of Duration and Simultaneity, is well aware that ‘simultaneity’ here is a word that in post-Einsteinian physics may pertain only to a given local system whose elements are moving at the same speed in the same direction, or whose acceleration is uniform. The apprehension of any two events perceived from a distance as simultaneous is precisely relative. There is every sense, however, in which the Bergsonian critique is levelled quite as much against relativistic frameworks as Newtonian; indeed, Duration and Simultaneity was written to that end, though with mixed success. The specific assertion that scientistic time elides duration is not only applicable within the scope of wider relativistic frameworks, it is positively reinforced by Einstein’s own understanding of spacetime as a ‘block’, wherein the passage of time is effectively an illusion, having ‘already’ run its entire course (cf. Bergson 1999, and for a discussion of the ‘block universe’ view Yourgrau 2007).

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that an unbreachable disparity pertains between logical entities and the physical world, whereby logical entities exist outwith time and cannot therefore be taken to characterise its movement. On the contrary, for Bergson there is a substantive mechanistic order in matter; science does truly treat of this aspect and is able to capture its correspondences, its translations. It is merely that by definition any universe in which this were the only form of order would exhaust its ‘course of time’ instantaneously. If for Bergson, the measurement, indeed the elapse itself, of mechanistic time, is arbitrary and so to speak null, so too does Serres address these paradoxes for the mechanistic first chaos of atoms in the void. We have arrived back at our framing theme; does nature begin by exiting stasis or by delimiting an initial voracious speed? On which side should we place Serres; is he at odds with Bergson? In a section of The Birth of Physics entitled ‘Slope and Extrema’, he describes the fall of atoms; Now things are not motionless. Everything is in perpetual flow, adsidue quoniam fluere omnia constat (5:280). The void and the atoms, immortal, are invariable. There exists nonetheless a third eternity, that of the movement by which particles are carried in space. Here we must understand something very difficult: a perpetual motion that is produced by nothing and which produces nothing, that is to say, a stable movement. It is eternal because it is stable. Yet it is actually quite clear: for example, atoms in free fall move towards an equilibrium which is inaccessible and, as such, their parallel flow is an equilibrium. As if there existed, without paradox, a statics of movement. (Serres 2018, 67)16

This is indeed at one and the same time very difficult and very easy to understand, since apparently self-contradictory. Why is it that Serres is drawn to speak of a ‘statics of movement’? The formulation proceeds from the model. What is it that the atoms are falling through? The void. Are there any reference points in the void which might serve to determine the distance covered by the atoms falling? None. Yet they move. At what speed? Arbitrarily quickly or slowly, absent any relative reference point, any other system in movement. The reasoning is akin to that undertaken by Bergson above. The transition from time T to time T1 is meaningless, arbitrary unless we can calibrate that transition 16 

“Or les choses ne sont pas immobiles. Tout est dans un perpétuel écoulement, adsidue quoniam fluere omnia constat. Le vide et les atomes, immortels, sont invariants. Il existe pourtant une troisième éternité: celle du mouvement qui emporte les corpuscules dans l’espace. Il faut comprendre ici une chose très difficile: un mouvement perpétuel, qui n’est produit par rien et qui ne produit rien, c’est-à-dire, un mouvement stable. Il est éternel parce que stable. La chose est pourtant assez claire: par exemple, les atomes en chute libre se meuvent vers l’équilibre inaccessible et leur flux parallèle est, comme tel, en équilibre. Comme s’il existait, sans paradoxe, une statique du mouvement.” (Serres 1977, 60)

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with reference to something happening, and nothing happens under the deterministic regime; to say this happens because that happens is effectively to state a tautology, to say nothing more than that the laws of mechanism subsume all, render the end from the beginning. To assign a ‘speed’ of elapse can only be arbitrary when the end is already contained in the beginning. Or yet again, we could revisit and revise the reasoning of the ancient cosmologist Anaximander, who claimed that the earth remained stable, did not move or fall though surrounded by void, since any distance to the ‘edge’ of the void would be equal. Since there is no edge to the void, the apeiron, he describes, all distances are effectively infinite. On account of this infinite parity, there is no reason for the earth to be pulled one way or the other, no reason for it to move. By our current line of reasoning he would have had equally full licence to claim that the earth is moving relative to the void, even infinitely quickly. In these thought experiments, these conjectured limit-conditions, the opposition between movement and stasis becomes arbitrary. These are the easy and difficult answers expected from us in a post-Newtonian age, after Leibniz (if we can take that small liberty), Mach, Einstein have all declared the absence of any underlying background-dependent measure of time or space. We know that it is dubious to speak of any movement that is not relative, of any absolute movement so to speak, yet with the Lucretian model, that is what we are invited to do, to address a ‘statics of movement’. It is in this sense, then, that we should understand Serres’ closely subsequent assertion that ‘Time is the interruption of rest. Its quasi-stable interruption.’ (Serres 2018, 48). Equally, this is the key to the apparently self-contradictory description mentioned earlier from De rerum natura of the clinamen as the ‘first movement’. It is a first movement because it is a departure from stasis. We are in a position now it seems to determine an answer to the question regarding the genesis of the world in speed or stasis – or at least the position of each author. For Bergson, consequent on the treatment of the mechanistic order, we have a foregone conclusion. Mechanism may expend all event infinitely quickly; the course of time may elapse in the infinitesimal blink of an eye. Which is to say that nothing takes place at all. In order for anything to happen, this catastrophic headlong rush (his own construal of absolute speed) must be limited, some speed limit must be imposed. And it is here that we find the true character of the vital; to defer, deflect and delay, to introduce ‘hesitation’ – it is with hesitation that a ‘zone of indetermination’ is achieved; it is retardation which ‘shatters the chains of fate’, ushers in complexity and its non-linear partner, turbulence. Bergson explicitly embraces this implication. He speaks of hesitation, interruption and retardation on numerous occasions in precisely this context, but never more assertively than in the essay entitled ‘The Real and the Possible’;

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Some fifty years ago I was very much attached to the philosophy of Spencer. I perceived one fine day that, in it, time served no purpose, did nothing. Nevertheless, I said to myself, time is something. Therefore it acts. What can it be doing? Plain common sense answered: time is what hinders everything from being given at once. It retards, or rather, it is retardation. (Bergson 2002, 224)

These passages on the face of it seem to resolve the question; to Bergson’s ‘retardation’ we could counterpose Serres’ ‘interruption of rest’. For Bergson it is a question of slowing down (the very word ‘retardation’ compels this reading), while for Serres it is a question of quickening from stasis, a departure from statics. But this would be too quickly to settle, because Serres embraces the paradox and pursues both lines; ‘This notion of delay in communication,’ he says, ‘is a capital notion.’ (cf. Serres 1968, 20). And by communication, we are to understand all interaction, all event; this is clarified from the very start of the Hermes series (cf. Serres 1968). For Serres, the productive move is to leave intact the paradox pertaining to this ‘statics of movement’; on an attentive reading, even within The Birth of Physics we encounter the two contradictory positions stated with equal weight: time, actualisation, is both the interruption of rest, a quickening, and elsewhere a slowing down; The dynamics of force, unknown, introduces, by the minimal angle, collisions, interlacings, fabrics. It is reduced to friction. Far from being motive, it slows. (Serres 2018, 69)17

‘The dynamics of force’ he refers to here is the operation of the clinamen, the swerve at a minimal angle, serving to slow the absolute speed of atoms falling in the void. And here again we find an acknowledgement of the contradiction, of the affront to common sense, which is so accustomed to think of ‘force’ as ‘motive’; far from being motive, it slows, just as Bergson’s ‘impetus’ retards. In light of the mappings above, we are entitled, I believe, to look over Bergson’s shoulder as he reads De rerum natura and detect those resources which he will later coin afresh in his own register; perhaps his admiration for and the inspiration he finds in Lucretius, the intelligent ‘melancholy’ beauty of the poetry (‘Lucretius never described but with the sole aim to prove; his most arresting paintings are uniquely destined to make us understand, to have us accept some great philosophical principle’ (Bergson 1884, Avant-Propos, v)18 ) 17  18 

“La dynamique de la force, méconnue, introduit, par l’angle minimal, des chocs, des entrelacs, des tissus. Elle est réduite aux frottements. Elle freine, loin d’être motrice.” (Serres 1977, 62) “Lucrèce n’a jamais décrit que pour prouver; ses peintures les plus saisissantes sont uniquement destinées à nous faire comprendre, à nous faire accepter quelque grand principe philosophique.” (my translation)

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really did extend in some unconscious way through that text toward the vital nature he would later defend. It seems to be something of that kind that Serres has in mind when he says ‘… [H]e [Bergson] must have seen his [Lucretius’] flows and fluxes.’ (Serres 2018, 207).19 There is something of a frustration in those words, which seem only to stop short of the question, ‘how could he not have seen the vital world on the page before him?’ Indeed, at points in The Birth of Physics, we encounter acknowledgements of Bergson’s significant place in the modern refashioning of the natural paradigms for science, a refashioning which Serres demonstrates so exhaustively to be after all this time the resurfacing of the spirit of Lucretius; Time would be nothing without the situation of objects in space, without their respective movements, without their formation, their disintegration. Forgive me, but the clock that Lucretius sets right in the middle of nature cannot tell Newtonian time; because it is the whole of things, between their birth and their collapse, it records a Bergsonian, that is to say a thermodynamic, time. (Serres 2018, 150)20

Nevertheless, for all that Serres may never have Bergson too far from mind while thinking through Lucretius, it is not finally to Bergson that he turns to find a detailed, comparatively recent correspondence for the Lucretian model, but Leibniz. In particular, to Leibniz’ short work De rerum originatione radicali, ‘On the Ultimate Origination of Things’. He says, Lucretius’ De rerum natura, carefully reread in the presence of the Syracusan, and Leibniz’s De rerum originatione radicali, which had no need of two conjoined authors, are in many respects isomorphic texts: with respect to the question of their genesis, birth or origins, with respect to equilibrium in general and the declining deviation, with respect to the law of the extreme slope, with respect to the model of drops of rain and so on, as you please. (Serres 2018, 189sq.)21

19  20 

21 

“…[I]l dut lire ses flots et ses flux …” (Serres 1977, 217) “C’est le temps qui ne serait rien sans la situation des objets dans l’espace, sans leur mouvements respectifs, sans leur formation, leur désagrégation. Qu’on me pardonne, mais l’horloge posée par Lucrèce au beau milieu de la nature ne saurait marquer un temps newtonien: comme elle est l’ensemble des choses, entre leur naissance et leur écroulement, elle marque un temps bergsonien, c’est-à-dire thermodynamique.” (Serres 1977, 155) “Le De rerum natura de Lucrèce soigneusement relu en présence du Syracusain, et le De rerum originatione radicali, de Leibniz, qui n’avait pas besoin de deux auteurs conjoints, sont, à bien des égards, des textes isomorphes. Par la question de la genèse, naissance ou origine, par l’équilibre en général et l’écart déclinant, par la loi de la pente extrémale, par le modèle des gouttes de la pluie, et ainsi tout autant qu’on voudra.” (Serres 1977, 196)

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As an ‘isomorphic text’, Leibniz’ essay repeats the Lucretian model. In what way? The answer entrains deeply-held principles of Leibnizian metaphysics, such as The Principle of Sufficient Reason and The Principle of the Identity of Indiscernibles – these principles are deployed to account for the genesis or actualisation of things in the world in De rerum originatione radicali, repeating in the transition from the realm of potential, of the ‘compossible’ and the ‘incompossible’, that same transition from potential to actual which is recounted in De rerum natura. Serres identifies the central connecting idea; the differential; Let us return to the clinamen. To acknowledge an almost null angle where turbulence forms is accurate but not enough. First, a detour. Leibniz says somewhere that from a young age he debated at length whether he should keep the void and atoms. How the monadology was decided is another question. The fact remains that declination always followed him. His psychology of freedom remains linked to a deviation in balance, to an infinitesimal angle of the beam, to an imperceptible rupture of spatial symmetry. Determination and decision introduce, of themselves, a differential asymmetry, which makes, as the saying goes, all the difference. There is something not at rest here, a disquiet, as in the pendulum of a clock. It deviates from equilibrium. Leibniz’s universe is doubly regulated, by the principle De aequiponderantibus and by that of the small difference. By that of identity, by that of indiscernibles. The principle of sufficient reason breaks the stability with a small deviation. (Serres 2018, 52)22

Serres invites us to understand a purview for the concept of the differential which includes, but extends far beyond the definition(s) we find in calculus. The swerve, manifesting a minimal angle of deviation, is amenable to the resources of calculus; it is tangential, a minimal, infinitesimal deviation. This, Serres tells us, is, ‘accurate but not enough.’ But do we encounter anything different in the account offered by Leibniz of the transition from potential to actual? What is it that prevents any two entities in the potential realm from expression in the actual realm, according to Leibniz? Their identity, their indiscernibility. If they 22 

“Le clinamen est à reprendre. Y reconnaître un angle quasi nul, à la formation d’une turbulence, est exact mais insuffisant. Et d’abord, un détour. Leibniz raconte quelque part que, dès sa jeunesse, il avait longuement débattu pour savoir s’il conserverait le vide et les atomes. Comment la monadologie en a-t-elle décidé, c’est une autre question. Reste que la déclinaison l’a toujours poursuivi. Sa psychologie de la liberté demeure liée à un écart à la balance, à un angle infinitésimal du fléau, a une rupture imperceptible de symétrie spatiale. La détermination, la décision introduisent, de soi, une asymétrie différentielle, qui fait, comme l’on dit, la différence. Quelque chose n’est pas en repos et voici l’inquiétude comme au balancier de l’horloge. Il s’écarte de l’équilibre. L’univers leibnizien est doublement réglé par le principe De aequiponderantibus et par celui de la petite différence. Par celui de l’identité, par celui des indiscernables. Le principe de raison suffisante rompt la stabilité par un petit écart.” (Serres 1977, 43)

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are the same, there is no reason for god to choose between one or the other; the choice will remain unmade. Yet it follows that if those two entities differ one from the other by even the slightest attribute, there is sufficient reason to grant passage into the world of ‘things’ – sufficient reason is the ultimate origination, and in the end it depends on the slightest deviation; in the most beautifully reduced sense, this is what it is to break symmetry. Just as the angle of the swerve breaks symmetry. The angle is a principle of symmetry-breaking, but it is not enough to say this; that angle, that clinamen, is there whenever any process breaks symmetry, whenever its possibles are collapsed to actuals. This is the generalising import behind Serres’ summation, ‘the principle of sufficient reason breaks the stability with a small deviation.’ It is in exactly these kind of translations that we discover invariants; there is something retained, enlarged and embellished when we can tune into the lines of translation. If there is any signal message from Serres’ method (it is a method), this is it. If there are long passages, trains of thought and lines of argument in his work, where it seems hard to discern his ‘position’ on things, it is because there is rarely a position of his own which he is developing. The work is the translation, intended to establish bridges between one corpus of work, one discipline, one cultural terrain to another. The philosophical value lies in recognising that the object of enquiry, which we take to be comprehended, at least in prospect, by the favoured approach we have adopted, will change face unexpectedly from some other angle. Serres works through this method at the feet of Leibniz in his extensive work Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques, he puts it to work in the Hermes series, and it remains the identifiable approach in subsequent work, not least in The Birth of Physics. Serres characterises this approach in conversation with Bruno Latour, who prompts the question of the role of mathematics in informing that approach; [My method] is algebraic or topological, issuing from structural mathematics, born this century. And what we learn from this famous revolution that separates classical and modern mathematics – the most dazzling thing about it – is precisely the ensemble of leaps we were just talking about. We can compare an ordinary algebraic theorem and one from distant geometry or from arithmetic. Suddenly, two or three objects separated by great distances, with no previous link between them, belong to the same family. This way of thinking or of operating makes whoever uses it an authentic structuralist, even if the word has lost its original sense and its importance in methodology. (Serres et al., 1995, 70sq)

To make this claim is to reinforce the movement we have tracked above. If the differential is a mathematical object, and if it is a traceable element in the work of Lucretius and Leibniz both, this is because it is also more than a

Michel Serres, Henri Bergson and ‘ Retardation ’

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mathematical object. It is there on the incline up which Sisyphus pushes the rock, both literally and mythically; even there where no literal angle, no visible tangent can be discerned, as in say the energy gradients underlying a chemical cycle of substrate to product and back again, the differential is what drives the process. The analysis of the angle is accurate but not enough. It requires a certain interrogation through translation. We are in a position now to articulate the ambiguous position of Bergson for Serres’ argument in The Birth of Physics. While he is without doubt one of the ‘eddies downstream’ which we must negotiate in this intellectual history of the Lucretian spirit, yet this is so almost in despite of his own intellectual history as a scholar of Lucretius. Nevertheless, Serres helps us see the place of retardation in the work of both thinkers. We should undoubtedly recognise the philosophical caution which prevents Serres fully aligning the concept of the vital with the foedera naturae (a caution admittedly less scrupulously observed here), since the young Bergson himself ruled out any such alignment, and nowhere do we find the older Bergson coming to any revision on the matter. However much we might suspect such a thing, there is no real evidence that he saw Lucretius’ ‘fluxes and flows’. If all this serves to assign deliberative weight on either side of the scale for Bergson and Leibniz, it is surely the mathematical method which tips in favour of Leibniz. Let us recall that while Serres acknowledges Leibniz’ initial struggle with and subsequent demurral from atomism, what remained from that episode, he says, is ‘declination’, the deviation from equilibrium, a ‘differential asymmetry’. In short, the conceptual apparatus of differential calculus, informing Leibniz’ metaphysics as much as his calculus. Sufficient Reason requires nothing more than the infinitesimal difference to decide. And it is no small mark of the achievement of Serres’ text to demonstrate that the differential calculus inhabits the Lucretian model just as it does the Leibnizian metaphysics. Indeed, he goes to the length of commandeering Archimedes’ work to demonstrate an approximately contemporary protocalculus to partner with the Lucretian physics.23 While some of Bergson’s readers may (on reflection) find it somewhat pointed when he describes Lucretian causality as mathematically predictable, given that the poetry is ostensibly free of any allegiance to number (indeed, as Serres points out, it is the letter rather than the number which best characterises atomic conjunction for Lucretius),24 Serres broadly has the reverse impulse, seeking to confirm Bergson’s suspicions, to bolster the mathematical basis, but without any trace of Bergson’s allergy to mathematics. The tension here is more particular, however, than any 23  24 

cf. Serres 2018, ch. 2. cf. ibid., ch. 6.

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generalised affinity or resistance over the role of mathematics as such. To return to the argumentation from Creative Evolution cited above, it is clear that the mathematical apparatus which Bergson finds so problematic is specifically that of the calculus; The instant “immediately before” is, in reality, that which is connected with the present instant by the interval dt. All that you mean to say, therefore, is that the present state of the system is defined by equations into which differential coefficients enter, such as ds/dt, dv/dt, that is to say, at bottom, present velocities and present accelerations. (Bergson 1928, 23)

The adoption of the conventions of notation, the reference to ‘differential coefficients’ identify for us the target of this critique as the calculus. It would not be overstating to say that for Bergson to admit the calculus is to undermine duration as such. In light of this, we can recognise how much greater is the value of Leibniz’ metaphysics, not merely for the detail of Serres’ argument regarding the calculus in this context, but for the ‘algebraic’ method he adopts. It is crucial to this method that the object of enquiry be amenable to translation, just as we might translate Leibniz’ mathematics into his metaphysics. At one and the same time it tells us something of the resourcefulness of this historical method, and its ability to flow round unexpected obstacles, that Serres is able to recognise and marshal those moments, those ‘eddies’ in the history of theory to recontemporise Lucretius in a way that Bergson could not. Along the way, productive insights emerge; in the end, it is not so much contradictory to say that the world begins in stasis or speed; it is a function of the stage in translation at which we find ourselves. From the point of view of the atoms falling through the void toward the turbulence below, the waves on the rocks at the foot of the nappe, what could we see but a violent deceleration from an uninterrupted speed? From the point of view of the observer on those rocks, surrounded by the waves, for whom turbulence is a state in which everything is immersed, whose pre-history is impenetrable, events will only ever appear to spout forth from an initial movement, a motus principium. The point of contact between the potential and the actual is the point of translation, both ways. Serres is able to maintain these two contradictory ideas about speed because the rest he refers to is not first and foremost an idea about movement as such, nor the lack thereof. It is a thermodynamic departure from rest, equilibrium, to which he refers, and equilibrium can in principle apply to any system moving at any speed, to falling atoms in a void. Indeed, equilibrium if it is ever attainable in fact, must pertain to a moving system, wherever and whenever it occurs, since everything, as Serres reminds us, is in ‘perpetual flow’. To say that something

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is a first movement, then, is not so much to identify movement as such where previously there had been none, but to identify a first event, and this event is thermodynamic in nature, a first energy gradient, a first differential. Moreover, we have reached the point where we can formulate more neatly the tension between the two authors which we have been circling. For Bergson it is the differential calculus which veils the operation of retardation, the vital principle, while for Serres, it is precisely the calculus, understood from the point of view of the algebraic method, which reveals retardation, turbulence, in nature. But then again, we would be missing the point of the algebraic method if we were to take the calculus (including the mathematical objects it defines) as an enclosed self-sufficient corpus able in and of itself to resolve the questions in play here. What we should find valuable here is the capacity for translation innate to any and every mathematical construct. We are perhaps well familiar with the place which The Birth of Physics occupies with respect to the history and intellectual roots of Chaos Theory. The respect for and recognition of processes which Lucretius represents – processes we would now call non-linear and perturbative – is what makes him contemporary for Serres. We are nevertheless missing the deeper value of the algebraic method if we cap off the resource there. The question is (is always), what is the next translation to be tackled? For there is a quite straightforward sense in which this paradox of retardation, maintained as a paradox in the way that Serres does, speaks not only to Chaos Theory, but to Quantum Theory. The Higgs Boson and Field was prompted by the same paradox. It was an answer to a problem to be solved. The problem was that by lights of the paradigm of supersymmetry, the ultimate origination of things could only be a super-fast tract of massless particles moving without exception at the greatest allowable speed; the speed of light.25 This is a supersymmetric first chaos. What is it that could prompt the transition from this order of things (we might say this thermodynamically equilibral foedus) to the cooled-down universe we observe? Some retardation is required, furnished, in the form of the Higgs field, by the introduction of mass. The paradoxical point of translation so beautifully identified in The Birth of Physics, the clinamen which Serres translates on Lucretius’ behalf, speaks more eloquently than Serres might ever perhaps have expected of the value of translation; to the calculus, we must supplement mathematical techniques such as category theory and new realms of number beyond the irrationals that calculus serves to make tractable. In the end, the rallying cry with which Serres ends The Birth of Physics, ‘Invent liquid history and the ages 25 

For a full account of the history and the principles behind the Higgs’ Particle and Field, see for instance Baggot 2012.

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of water’ (Serres 2018, 225),26 serves not merely to call attention to the paradigm shift of Chaos Theory, but equally importantly, to insist on the ongoing movement of the algebraic method. Bibliography Asmis, Elizabeth, 2008: Lucretius’ New World Order: Making a Pact with Nature. In: The Classical Quarterly 58, 1, pp. 141–157. Baggot, Jim, 2012: Higgs: The Invention and Discovery of the ‘God Particle’. Oxford. Bergson, Henri, 1884: Extraits de Lucrèce avec un commentaire, des notes et une étude sur la poésie, la philosophie, la physique, le texte et la langue de Lucrèce. Paris. Bergson, Henri, 1928: Creative Evolution. London. Bergson, Henri, 1999: Duration and Simultaneity: Bergson and the Einsteinian Universe. Manchester. Bergson, Henri, 2002: Key Writings. Oxford, New York, New Delhi, Sydney. Lucretius, Carus Titus, 1992: On the Nature of Things. Cambridge, MA. Newton, Isaac, 1995: The Principia. New York. Prigogine, Ilya/Stengers, Isabelle, 1985: Order Out of Chaos: Man’s New Dialogue with Nature. London. Serres, Michel, 1968: Hermès I. La Communication. Paris. Serres, Michel, 1977: La naissance de la physique dans le texte de Lucrèce: fleuves et turbulences. Paris. Serres, Michel/Latour, Bruno, 1995: Conversations on Science, Culture and Time. Ann Arbor, MI. Serres, Michel, 2018: The Birth of Physics. London. Unger, Roberto Mangabeira/Smolin, Lee, 2015: The Singular Universe and the Reality of Time. A Proposal in Natural Philosophy. Cambridge, UK. Yourgrau, Palle, 2007: A World Without Time: The Forgotten Legacy of Gödel and Einstein. London.

26 

“Inventer l’histoire liquide et les âges d’eaux.” (Serres 1977, 237)

Zwischen Formalismus und Geschichte: Serres und Foucault in Clermont-Ferrand Lucie Kim-Chi Mercier In diesem Beitrag möchte ich zwei Autoren einander annähern, die wir vielleicht nicht gewohnt sind, zusammen zu lesen: Michel Serres und Michel Foucault. Von 1960 bis 1966 lehrten sie am Philosophie-Departement zu Clermont-Ferrand, wohin Jules Vuillemin beide eingeladen hatte, Jahre in denen sie sehr regelmäßig ihre laufenden Arbeiten diskutierten. Diese Periode deckt sich mit dem Schreiben von Les mots et des choses (1966) für den einen, von Le système de Leibniz et ses modèles mathématiques (1968) für den anderen – die noch im gleichen Jahr verteidigte und veröffentlichte DoktoratsThese von Michel Serres –, zwei Bücher, die ein bemerkenswertes Echo in der philosophischen Welt der Zeit hatten, aber denen nur wenige gründliche Studien gewidmet worden sind. Über die Freundschaft dieser zwei Schüler von Canguilhem hinaus ist die Möglichkeit der Annäherung zwischen ihren Werken auf ihre damalige Ambition zurückzuführen, sich als Reflexion des Strukturalismus anzubieten. Tatsächlich wollten die beiden Bücher das Aufkommen des Strukturalismus in einer langen Wissensgeschichte der Humanwissenschaften (Foucault) und der exakten Wissenschaften (Serres) situieren. Ihre Originalität besteht in der Art und Weise, die Probleme/Fragen/Themen des Strukturalismus im Inneren des klassischen Zeitalters wiederzufinden. Und zwar derart, dass die beiden Werke an vielen Punkten übereinstimmen, auch wenn die Archäologie von Foucault die „Autoren“ erledigt und umgekehrt das Buch von Serres die traditionelle Erscheinungsweise einer Monographie aufrecht erhält. Jenseits einer einfachen Analogie ihrer Projekte stützt sich die Hypothese einer engeren Verbindung ihrer Werke auf die Äußerungen von Michel Serres selbst, der die Gespräche und selbst eine ziemlich enge Zusammenarbeit der zwei Philosophen während der Jahre in Clermont-Ferrand erinnert: Nachdem ich sein Schüler gewesen war, wurde ich über mehrere Jahre sein Kollege, in Vincennes, aber zuerst in Clermont-Ferrand. Dort diskutierten wir eben gerade jede Woche über Die Ordnung der Dinge, zu der Zeit, als er es verfasste. Ein großer Teil dieses Buches wurde nach Diskussionen zwischen uns geschrieben. Doch es handelte sich nicht um eine Debatte, weit davon entfernt. Wir lebten zu jener Zeit beide sehr zurückgezogen. Die strukturalistische Seite, die man diesem Werk nachgesagt hat, kommt von dieser engen Zusammenarbeit.

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Lucie Kim-Chi Mercier […] Er spielte die Partitur der Humanwissenschaften und ich die der exakten Wissenschaften, so dass wir ohne Schwierigkeit zusammenarbeiten konnten. Wir hatten keinerlei Probleme zusammenzuarbeiten, was die Methode betraf.1 Es hat wahrlich sehr glückliche Momente zwischen uns gegeben, man hat viel zusammen gearbeitet. Von diesem Buch habe ich den Eindruck, dass es auf zweien aufbaut, daß man die Mauer zu zweit errichtete, er trug die Steine und ich den Zement. (Michel Serres, 5. April 2017)

Wie Serres es verschiedentlich bemerkt hat, diskutierten sie vor allem das Projekt von Foucault. Aber auch wenn Serres die Asymmetrie unterstrichen hat, die zwischen ihnen bestand (Serres ist der Schüler von Foucault gewesen und war vier Jahre jünger) präsentierte er gleichermaßen ihre Bücher als komplementäre Projekte. Im folgenden möchte ich die Hypothese einer Zusammenarbeit von Serres und Foucault auf methodologischer Ebene untersuchen. Dabei lasse ich die schwierige Frage der Beziehung Serres/Foucault in der Frage der Mathematik und des „mathematischen Aprioris“ beiseite, eine Frage, die eine gründlichere Untersuchung verdiente.2 Ich vermeide es ebenso, mich auf L’archéologie du savoir zu beziehen, das Buch, in dem Foucault seinen methodologischen Apparat überall umkehrt und sich bei derselben Gelegenheit nachträglich von dem distanziert, was ihn in Les mots et les choses Serres nahegebracht hatte – insbesondere die Beziehungen zum „Strukturalismus“. Zwei Punkte werden meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen: Zuerst werde ich zeigen, dass Les mots et les choses und Le système de Leibniz eine analoge Beziehung zur Methode entwickeln, weil in beiden Fällen die Methode zu einem Begriff der Ordnung im „Netz“ geführt wird, einem Begriff der „Ordnung“, der sich als wesentlich für die Ausdehnung der Philosophiegeschichte in eine „Archäologie“ des Wissens erweist. Zweitens werde ich argumentieren, dass, auch wenn beide die klassischen Einheiten der Philosophiegeschichte widerrufen, d.h. die „Argumente“, „Thesen“ oder „Lehrmeinungen“ im Namen eines Interesses an Systematik oder einer weiteren diskursiven Kohärenz, so trennen sie sich doch hinsichtlich der Beziehung von Wahrheit und Geschichte: während Foucault eine Archäologie in Äußerlichkeit entwickelt, versucht Serres die Konstruktion einer ‚inneren Archäologie‘ des Leibnizschen Werks, d.h. einer Geschichte, die integrierender Bestandteil der Arbeit der Erfindung und der wissenschaftlichen Entdeckung und ihrer Rationalität bleibt. 1  Serres 2008, 60sq. 2  Diese Frage ist zuletzt erörtert worden von Webb 2013 und Rabouin 2015. Jedoch lassen die zwei Analysen Les mots et les choses (Foucault 1966; dt.: Foucault 1974) außer acht und beziehen sich vor allem auf die Archäologie des Wissens (Foucault 1981).

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1.

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Die Erfahrung des Strukturalismus

Im Hintergrund der Gespräche zwischen Foucault und Serres am Anfang der 1960er Jahre erwähnen wir vor allem ihr ausgesprochenes Interesse an der Geschichte und Epistemologie der Wissenschaften und die Art und Weise, wie sie die „philosophische Wahrheit“ transformieren. Die beiden Männer positionieren sich also klarerweise als Nachkommen der französischen epistemologischen Tradition und jeder unterhielt eine privilegierte Beziehung zu George Canguilhem, der ihr Professor gewesen war. Erinnern wir uns, dass im Zentrum der eigentlichen Fragestellung zur französischen epistemologischen Tradition sich das Grundproblem der Geschichte der Wissenschaften findet, ein Problem das als Theater der Konfrontation wissenschaftlicher Gesichtspunkte oder als ein Konflikt „disziplinärer“ Ordnungen erscheint. Wie Bachelard in Der neue wissenschaftliche Geist schreibt: „Der Wissenschaftshistoriker muss die Ideen als Tatsachen nehmen. Der Epistemologe muss die Tatsachen als Ideen nehmen, indem er sie in ein Denksystem einfügt. Eine Tatsache, die von einer Epoche falsch interpretiert wurde, bleibt für den Historiker eine Tatsache. In der Sicht des Epistemologen ist sie ein Hindernis, ein KonterGedanke.“3 Das Kennzeichen dieser ‚epistemologischen Tradition‘ ist es, zwischen dem Gesichtspunkt des Historikers und dem des Wissenschaftlers eine dritte Perspektive einzufügen, die des Epistemologen, dessen Aufgabe es genau ist, zwischen diesen widersprüchlichen Perspektiven zu vermitteln. Wie Foucault es in einem seiner letzten Aufsätze, der als eine Hommage an Canguilhem gelesen werden kann, zusammengefasst hat: „l’histoire des sciences ne peut se constituer dans ce qu’elle a de spécifique qu’en prenant en compte, entre le pur historien et le savant lui-même, le point de vue de l’épistémologue.“ [Die Wissenschaftsgeschichte kann sich in ihrer Eigenart nur konstituieren, wenn sie zwischen dem reinen Historiker und dem Fachwissenschaftler dem epistemologischen Gesichtspunkt Rechnung trägt.]4 Diese disziplinären Personifizierungen kristallisieren die Art und Weise wie sich verschiedene Diskurse ihrem ‚Objekt‘ zuwenden oder es sogar produzieren, oder wie das gleiche Objekt oder der gleiche Begriff sich im paradoxen Zusammenkommen verschiedener theoretischer Intentionen aufgeteilt findet. Für Canguilhem handelt es sich um eine scheinbar einfache Frage: „Wovon ist die Geschichte der Wissenschaften eigentlich die Geschichte? “5 Wenn das Objekt der Wissenschaftsgeschichte problematisch ist, dann deswegen, weil: „Die 3  Bachelard 1988, 51. 4  Foucault 2001, vol. 4, 952. 5  Canguilhem 1979, 22.

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Wissenschaftsgeschichte bezieht sich auf eine wertende Tätigkeit: die Suche nach der Wahrheit.“6 Zugleich aber ist ihr Objekt kein Objekt der Wissenschaft, weil es sich um einen „sekundären“ Diskurs handelt. „Der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte ist in der Tat die Geschichtlichkeit des wissenschaftlichen Diskurses, sofern sich darin ein Vorhaben ausdrückt, das von innen normiert, das jedoch von Zwischenfällen durchkreuzt, von Hindernissen verzögert oder abgelehnt und von Krisen, d.h. von Entscheidungs- oder Wahrheitsmomenten, unterbrochen wird.“7 Für Canguilhem besteht die ganze Schwierigkeit darin, dazu zu gelangen, dieses Werden der Wissenschaft zu erfassen, das weder linear, noch teleologisch, noch akkumulativ ist, sondern beständig durchkreuzt wird von seinem ‚Jenseits‘: „der Nicht-Wissenschaft, mit der Ideologie und mit der politischen und gesellschaftlichen Praxis“.8 Wie es Luca Paltrinieri schön gezeigt hat, kann sich die Wissenschaftsgeschichte bei Canguilhem „caractériser […] comme une réflexion philosophique sur la science, sur la façon dont les sciences construisent leurs objets grâce à un réseau de concepts dont le dévelopment historique implique des effets de formation, de circulation, d’exclusion“ [charakterisieren als eine philosophische Reflexion über die Wissenschaft, über die Art, wie die Wissenschaften ihre Objekte in einem Begriffsnetz konstruieren, dessen historische Entwicklung Formations-, Zirkulations- und Ausschußeffekte implizieren].9 Merken wir an, dass Canguilhem in seiner Einleitung von 1966 seine beiden jungen Schüler – einen nach dem anderen – erwähnt: Serres wegen seiner Reflexion über die Geschichte der Mathematik, Foucault wegen seiner Kritik des Begriffs des „Vorläufers“.10 Im Ausgang von einem analogen Prisma versuchen also zu Beginn der 1960er Jahre Serres und Foucault die Eigentümlichkeit des ‚Strukturalismus‘ zu erfassen. Auf den ersten Blick können ihre antihumanistische Parteinahmen weit entfernt von der Philosophie von Canguilhem sein, der, wie Pierre Macherey erinnert, die Gelehrten als „authentische Wissenssubjekte“ und als normative Entscheidungsträger betrachtete.11 Andererseits entschieden beide, den Strukturalismus in eine lange epistemologische Geschichte einzuordnen, indem sie wie Canguilhem eine komplexe Verknüpfung zwischen den Positionen des Historikers, des Epistemologen und des Philosophen vorschlugen. 6  7  8  9  10  11 

ibid., 32. ibid., 30. ibid., 31. Paltrinieri 2012, 43. Canguilhem 1979, 37. Macherey 2016.

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Für die zwei Philosophen war der Strukturalismus auf der Jagd nach ‚Systematiken‘ und ‚Kohärenzen‘, die, auch wenn sie die traditionelle Domäne der Logik verließen, sich als Modi der Wissenschaftlichkeit und Formalisierung präsentieren, die die Philosophie sich zurechnet. Die Schwierigkeit eines solchen Projekts resultiert aus der Tatsache, dass der „Strukturalismus“ als Bewegung und als Ereignis als solcher nur aus der Konvergenz verschiedener Disziplinen hervorgeht, von denen jede ihre eigene Geschichte hat. Während Foucault sich in Les mots et les choses entschied, die Geschichte oder vielmehr die Archäologie in drei sich parallel entwickelnden disziplinären Feldern zurückzuverfolgen – die Analyse der Sprache (Linguistik), der Reichtümer (Ökonomie) und des Lebens (Biologie) – nutzte Serres in seiner Monographie über Leibniz die Mathematik als selbst transdisziplinäres Paradigma. Die Frage ist: zu wissen, wie die ‚klassische‘ Rationalität zu denken sei und wie „heute“, im Zeitalter des Strukturalismus, davon eine Erfahrung möglich ist. Einer der gemeinsamen Punkte der zwei Werke bezieht sich auf den Vorschlag, weniger ambitioniert zu beschreiben und selbst die Erfahrung einer Ordnung zu machen und zwar genauer der ‚klassischen‘ Ordnung.12 In beiden Fällen ist der Strukturalismus gleichzeitig Objekt und Methode, wie es Foucault 1967 zusammenfasste: Ich habe versucht, eine strukturalistisch geprägte Analyse in Bereiche einzuführen, in die sie bisher noch keinen Eingang gefunden haben, das heißt in die Geschichte der Ideen, die Geschichte der Erkenntnis, die Geschichte der Theorien. Das hat mich veranlasst, auch die Entstehung des Strukturalismus selbst in Begriffen der Struktur zu untersuchen. Darum ist mein Verhältnis zum Strukturalismus zugleich durch Distanz und durch eine Verdoppelung geprägt. Distanz, weil ich eher über ihn spreche, als ihn unmittelbar anzuwenden; und Verdoppelung, weil ich nicht über ihn sprechen möchte, ohne seine Sprache zu sprechen.13

Vom Strukturalismus in Übernahme einer strukturalen Sprache zu sprechen, das ist das gemeinsame Projekt beider Werke, ungeachtet sonstiger starker Differenzen. Diese Sprache ist es nicht allein – visuell, voll der Schemata, der Tabellen und Diagramme –, sondern sie bezieht sich gleichzeitig auf die Betonung, sowohl in Les mots et les choses als auch in Le système de Leibniz, der Begriffe der Ordnung und des Netzes, d.h. eines methodologischen Apparats von räumlichem Typ. Aber im Unterschied zu Serres, der seit dem Anfang der 1960er Jahre den Netzbegriff zum Zentrum der Reflexion machte, schlug Foucault nur eine retrospektive Erläuterung in L’archéologie du savoir vor. Es ist 12  13 

cf. Foucault 1974, 261. Foucault 2001: vol. 1, 748.

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die horizontale Ausrichtung der Figur des Netzes, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht: das Netz erlaubt es, die Formation eines Sinns auf der Oberfläche zu denken, ein System der anonymen und zwingenden „Positivitäten“; es verspricht gleichermaßen, die Komplexität eines historischen Prozesses zu erfassen.14 Für die beiden Philosophen veranschaulicht es die Organisation von Sinn auf der Oberfläche ohne Rekurs auf verschiedene, in einer Hermeneutik oder einem „symbolischen“ Denken bewegte, Subjekte (Autor, Empfänger, Leser). In beiden Fällen handelt es sich darum, eine Alternative zur Idee der interpretierenden Enthüllung zu erzeugen, eine Alternative, die viel weiter geht als eine einfache methodologische Entscheidung, weil sie verschiedene „Zeitalter“ der Geschichte des Denkens bezeichnet.15 Die gemeinsame Originalität der beiden Werke besteht darin, das „Netz“ der klassischen Repräsentation als eines der Grundelemente einer Archäologie des Strukturalismus zu präsentieren, und damit die Fragen abzuweisen, die den Strukturalismus ins Innere des klassischen Zeitalters verlegen. 2.

Das System als „Raum“ bei Serres

Für Serres ist das Netz der Schlüsselbegriff bei der Lektüre von Leibniz, weil er es erlaubt, das System von Leibniz als eine Struktur zu erfassen. Die Interpretation von Serres ist „struktural“ auf zweierlei Weise. Erstens schlägt er als Philosophiehistoriker eine „architektonische“ Lektüre des Werks von Leibniz vor, den Schlüssel der Verständlichkeit, seine ratio, gemäß der strukturalen Technik von Martial Gueroult, dem Werk selbst zu entnehmen. Zweitens bemüht sich Serres als Wissenschaftshistoriker, speziell als Wissenschaftshistoriker der Mathematik, zu zeigen, dass Leibniz der Vater der sogenannten „strukturalen“ oder modernen Mathematik ist, d.h. der abstrakten mengentheoretischen Mathematik, deren Wahrzeichen dann Bourbaki ist.16 Das ‚Netz‘ befindet sich im Schnittpunkt der zwei Projekte, weil es erlaubt, das System 14  15  16 

Siehe Serres 1991, 9–23: „Das Kommunikationsnetz: Penelope“. Diese Reflexion prägt eine Reihe von Texten zu Beginn der 1960er Jahre, insbesondere Serres 1991, 25–44: „Struktur und Übernahme: Von der Mathematik zu den Mythen“ und Foucault 2001: vol. 1, 727–743: „Nietzsche, Freud, Marx“ von 1967. Das Projekt der Gruppe Bourbaki ist Wahrzeichen für die moderne Mathematik, für die sich Serres Ende der 50er Jahre interessiert; bei ihr schöpft Serres seinen Leitbegriff der ‚Struktur‘. Allgemein gesprochen, charakterisierte sich dieses Projekt durch das Bemühen, die verschiedenen Unterdisziplinen der Mathematik in einer einzigen und selben axiomatischen ‚Architektur‘ zu vereinigen, ein enzyklopädisches Bemühen, dessen Ursprung Serres im Denken von Leibniz bestimmt.

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von Leibniz als einen zugleich abstrakten und positiven Raum aufzufassen, zugleich als ein formales System von „Modellen“ und eine Menge historisch gelagerter Thesen. Um die Art zu begreifen, wie sich der Netzbegriff in seiner Lektüre auswirkt, muss man darauf hinweisen, dass seine Lektüre des Leibnizschen Werks als eines Systems vom Begriff des „Modells“ abhängt, ein Mischbegriff, den Serres zugleich Bourbaki und der Leibnizschen Theorie des Ausdrucks entlehnt. Das System von Leibniz mittels seiner mathematischen Modelle zu rekonstruieren, läuft darauf hinaus zu beweisen, dass eine begrenzte Menge formaler Begriffe sich auf verschiedene Regionen seiner ‚Enzyklopädie‘ verteilt, dass dieselben mathematischen Schlussfolgerungen sich durchgängig in seinen Reflexionen über Metaphysik, Theologie, Recht, Geschichte usw. auswirken. Tatsächlich funktioniert das fragliche ‚Modell‘ oder ‚Paradigma‘ wie eine ‚pars totalis‘ – ein lokales Universales, das, eher als es subsummiert, die Totalität ausdrückt. Getrennt von ihren metaphysischen und theologischen Rechtfertigungen verwandelt sich die Leibnizsche Theorie des Ausdrucks in eine formale Architektur: „de la même façon qu’on peut lire dans la monade l’univers entier et toutes ses merveilles enveloppés sous les replis de son sommeil et de ses virtualités, de même on peut lire sur ce problème, cette notion, cet ordre, un carrefour étoilé qui mène distributivement à tous les autres.“ [auf die gleiche Weise wie man in der Monade das ganze Universum und all seine Wunder, eingehüllt unter den Faltungen seines Schlafes und seiner Virtualitäten, lesen kann, ebenso kann man in diesem Problem, diesem Begriff, dieser Ordnung eine sternförmige Kreuzung lesen, die verteilend auf alle anderen führt].17 Das System von Leibniz ist gleichzeitig multilinear und multivalent: einerseits weist es eine immense Vielheit von Ableitungswegen auf – Wege, die man immer in beiden Richtungen benutzen kann –, andererseits sind seine Ordnungen selbst multipel in dem Sinne, dass sie analog funktionieren beim Durchqueren verschiedener Regionen des Systems. Jeder Schnittpunkt des Netzes kann also als sternförmige Kreuzung begriffen werden, wo jeder Faden in das Ganze zurückkehrt oder ein Teil des Ensembles in das Panorama der anderen Gipfel. Die Methode präsentiert sich also als Zirkulationsraum, dem zu folgen das Buch von Serres anregt. Für Serres ist das Netz „plus qu’une image, c’est un schéma“ [mehr als ein Bild, es ist ein Schema].18 Es handelt sich also um eine Architektur, eine solche die nicht von einer Gründungs-Hierarchie abhängt, sondern die sich vielmehr auf horizontale Weise entfaltet, als ein Netz von Übersetzungen. 17  18 

Serres 1968, 28. ibid., 14.

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Mit anderen Worten: eine solche Struktur entfaltet sich ausgehend von einem „Pluralismus der Ordnungen“, die sich auf allen Ebenen der Leibnizschen Systematik reproduziert. Serres nimmt sich vor, durch einen solchen Pluralismus der Ordnungen hindurch das überdeterminierte Projekt einer „mathesis universalis“ neu zu denken als dasjenige eines mit einer allgemeinen Theorie der Vielheiten verbundenen Formalismus. Es vorzuziehen, die mathesis als unvollendeten Horizont des Leibnizschen Denkens aufrecht zu erhalten, ist das „System“, um das es sich für Serres handelt, nicht dasjenige, das Leibniz selbst schaffen wollte (sein Traum), aber das er nicht realisiert hat – das, was Foucault sein „Archiv“ genannt hätte – d.h. die Menge der Thesen und positiven Modelle, die er entwickelt hat.19 Le système de Leibniz organisiert sich entlang des Begriffs der Serie, im technischen Sinne einer „suite arithmétique ou algébrique réglée par une ‚raison‘“ und „au sens plus général d’une séquence quelconque de faits, d’événements, de raisons ou de causes liés par une loi.“ [arithmetischen oder algebraischen Folge, die durch einen ‚Grund‘ festgelegt wird“ und „im allgemeineren Sinn irgendeine Folge von Tatsachen, Ereignissen, Gründen oder Ursachen, die durch ein Gesetz verbunden sind.“]20 Für Serres ist die Serie ein „Elementarbegriff des Systems“ oder ein „atomares Ordnungselement“, er erlaubt es, das System von Leibniz als eine allgemeine Theorie der Vielheiten zu lesen: La notion de série est une notion élémentaire du système: cela veut dire que sur tel problème particulier Leibniz met toujours en évidence une multiplicité de séries, dont l’intersection détermine un être ou une notion quelconque. De surcroît, nous le montrerons, une série de série est moins une série qu’une Table, c’est-à-dire une manière de réseau. L’ordre sériel est donc un élément ‚atomique‘ d’ordre; il faut penser la combinaison, la composition de ces éléments linéaires de la même manière que les arrangements de la combinatoire simple. Nous ne nous lassons pas de dire que, pour comprendre le système leibnizien, il convient d’étaler sur une manière d’espace de représentation ce qu’on a coutume d’échelonner le long d’une séquence. [Der Begriff der Serie ist ein Elementarbegriff des Systems: das heißt, dass Leibniz zu einem bestimmten Problem immer eine Vielzahl von Serien hervorhebt deren Schnittpunkt ein Wesen oder irgendeinen Begriff bestimmt. Obendrein, wir werden es zeigen, ist eine Serien-Serie weniger eine Serie als eine Tafel, d.h. eine Art von Netz. 19  20 

Für eine vollständigere Entwicklung dieser Themen erlaube ich mir, auf Mercier 2019b zu verweisen. Serres 1968, 30.

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Die serielle Ordnung ist also ein ‚atomares‘ Element der Ordnung; man muss also die Kombination, die Komposition dieser linearen Elemente auf die gleiche Weise denken wie die Anordnungen der einfachen Kombinatorik. Wir werden nicht müde zu sagen, dass, um das Leibnizsche System zu verstehen, es ratsam ist, über eine Art Darstellungsraum dasjenige auszubreiten, was man gewohnt ist, entlang einer Sequenz zu verteilen.]21

Diese Passage fasst sehr gut das allgenmeine argumentative Verfahren von Serres zusammen: weil eine Serie nur die Organisation einer gegebenen Vielheit ist, existiert eine gemeinsame allgemeine Methodologie für die verschiedenen Unterfamilien der Mathematik (Algebra, Arithmetik, Geometrie, Topologie), die in einem Repräsentationsraum gleich ausgestaltbar ist. Der zweite Teil von Le système de Leibniz behandelt übrigens die Leibnizsche Kombinatorik im Ausgang von seinen Schemata, d.h. den kombinatorischen Tafeln der De Arte Combinatoria. Dieses Buch, das Leibniz im Alter von 19 Jahren schrieb, ist eine Abhandlung der Tabulation im allgemeinen, die in der Form von Tafeln die Kombinatorik in einem fast vollständigen Horizont menschlicher Lehren anwendet: auf Zahlen, Syllogismen, Stammbäume, Wörter, Noten. […] la combinatoire est un calcul dont les usages portent aussi bien sur le quantifiable que sur le non-quantifiable, ou, du moins, sur ce qui n’a pas été jugé jusqu’alors propre à une mesure. Le De Arte Combinatoria témoigne d’une telle préoccupation, dont les exemples portent sur les nombres certes, mais aussi sur les cas de jurisprudence, les éléments des corps au sens de Hobbes, les formes du syllogisme, les types de dichotomie, les arbres généalogiques, les dispositions qualitatives des figures de l’espace, voire la poétique latine; ce texte de jeunesse est le premier acte du projet jamais abandonné de mesurer le non-mesurable, d’établir une logique de la qualité. […] die Kombinatorik ist ein Kalkül, dessen Verwendung sich sowohl auf das Quantifizierbare als auch auf das Nicht-Quantifizierbare erstreckt, oder mindestens, was bisher als nicht für ein Maß geeignet beurteilt worden ist. De Arte Combinatoria zeugt von einem solchen Vorurteil, wofür die Beispiele sich auf gewisse Zahlen erstrecken, aber auch auf Fälle der Jurisprudenz, auf Elemente des Körpers im Sinne von Hobbes, die Formen des Syllogismus, die Typen der Dichotomie, die Stammbäume, die qualitativen Anordnungen der Figuren des Raums, sogar der lateinischen Poetik; dieser Jugendtext ist der erste Akt eines nie aufgegebenen Projekts, das Nicht-Messbare zu messen, eine Logik der Qualität zu errichten.]22

21  22 

ibid., 31. ibid., 468.

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Wie Serres unterstreicht, nannte Leibniz jede dieser synoptischen Tafeln „harmonia“ und suggerierte, dass sie strukturale Bilder des Systems selbst konstituierten. In seinem mathematischen Sinn ist Harmonie nur ein Modus der Organisation von Vielheiten, die in jedem Teil, Region oder Punkt die Anwesenheit der Totalität der anderen Teile, Regionen oder Punkte bezeichnet. Die harmonischen Tafeln von De Arte besäßen also in ihrer formalen Struktur ein gewisses Regime der Universalität, das Leibniz in der Folge philosophisch entwickelt hat. Als methodisches Bild von allererster Bedeutung prägen die harmonischen Tafeln quasi alle Regionen des Systems von Leibniz. In dieser Analyse unterstreicht Serres die epistemologische Modernität der kombinatorischen Intuition, indem er sie unter dem Gesichtspunkt einer Theorie des „Referentiellen“ interpretiert. Den ‚Raum‘ des Leibnizschen Systems zu betrachten, das ist ebenfalls die Frage nach der Theorie der Elemente oder Punkte, von denen aus jede Erkenntnis möglich wird. Nach Serres ist die Frage, zu wissen ob, im allgemeinen, „la philosophie peut s’appuyer sur une référence stable et fixe“ [die Philosophie sich auf eine stabile und feste Referenz stützen kann],23 dann ist das das eigentliche Kennzeichen des klassischen Zeitalters, das was Serres als die „vor-kopernikanische“ Fragestellung bezeichnet. Die Frage macht aus dem Kantischen Transzendentalen eine willkürliche Entscheidung (die des Subjekts) aus einer Serie von Referenz-Möglichkeiten. So dehnt Leibniz die kritische Frage zu einem Raum aus: „comme ensemble de points, de sites, comme collection de toutes les conditions des systèmes individuels, comme collection des références possibles. […] Cet espace fondamental joue secrètement, chez Leibniz, le rôle du transcendental chez Kant.“ [als einer Menge von Punkten, von Stellen, als Sammlung aller Bedingungen individueller Systeme, als Sammlung möglicher Referenzen … Dieser Grund-Raum spielt bei Leibniz insgeheim die Rolle des Transzendentalen bei Kant.]24 3.

Foucault und die klassische Ordnung

Man weiß, dass es Foucault vorgezogen hätte, seinem Werk den Titel „L’ordre des choses“ zu geben, ein Titel, der für die englische Übersetzung des Buchs (The Order of Things) gewählt wurde.25 Foucault führte der Begriff der Ordnung bereits auf den ersten Seiten seines Werkes ein: „So gibt es in jeder Kultur 23  24  25 

ibid. ibid., 773. [Übrigens ebenfalls auch für die deutsche Ausgabe: Die Ordnung der Dinge, Anm. d. Übers.]

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zwischen dem Brauch dessen, was man die Ordnungscodes und die Reflexion über die Ordnung nennen könnte, die nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen. In der hier vorliegenden Untersuchung wollen wir diese Erfahrung analysieren“.26 Für Foucault handelt es sich darum, sich diesseits der Philosophiegeschichte als Geschichte der Wissenschaften zu positionieren, um den eigentlichen Raum zu definieren, in dem sie Gestalt/Form annehmen kann, einen Raum, so präzisiert er, der ein Netz bildet: Wenn man eine archäologische Analyse des Wissens selbst unternehmen will, dann dürfen nicht diese berühmten Auseinandersetzungen als Leitfaden dienen und den Ansatz gliedern. Man muss in diesem Fall das allgemeine Denksystem rekonstruieren, dessen Raster in seiner Positivität ein Spiel gleichzeitiger und offensichtlich kontradiktorischer Meinungen möglich macht. Dieser Raster definiert die Bedingungen der Möglichkeit für eine Auseinandersetzung oder für ein Problem, er selbst ist Träger der Historizität des Wissen.27

Ordnung und Netz sind fest miteinander verbunden, weil sie die Menge der strukturalen Beziehungen bezeichnen, die einen bestimmten Wissensstand definieren. In einer späteren Diskussion wird er die Episteme folgendermaßen beschreiben: „Wenn ich von Episteme spreche, verstehe ich darunter die gesamten Bezüge, die in einer bestimmten Epoche zwischen den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft bestanden haben.“28 Das Anliegen von Foucault ist es, die Geschichte des Denkens ohne „-Ismen“ neu zu schreiben, jenseits der doktrinären Plattitüden von „Mechanismus“ und „klassischer Rationalität“. Tatsächlich bleiben diese Termini Teilbeschreibungen eines grundlegenderen Phänomens: das Auftreten einer mathesis universalis „als universale Wissenschaft des Maßes und der Ordnung verstanden“.29 Dieser neue Typ der Ordnung leitet sich für Foucault aus einer Kritik der Ähnlichkeit her: „Wenn Descartes die Ähnlichkeit ablehnt, dann nicht, indem er den Akt des Vergleiches aus dem rationalen Denken ausschließt oder indem er ihn zu begrenzen versucht, sondern indem er ihn universalisiert und ihm dadurch seine reinste Form gibt.“30 Die annähernden Ähnlichkeiten der Renaissance werden ersetzt durch eine neue Strenge der Identitäten und Differenzen, eine solche, durch die die serielle Anordnung der verglichenen Elemente ermöglicht wird. Die „Ordnung“ spielt in Die Ordnung der Dinge eine vergleichbare Rolle wie in Le système de Leibniz, da sie gleichzeitig ein Konzept ist, das die 26  27  28  29  30 

Foucault 1974, 24. ibid., 111. Foucault 2001: vol. 2, 463. Foucault 1974, 90. ibid., 85.

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Eigenart des klassischen Zeitalters markiert (oder bei Serres das Leibnizsche Denken) und ein methodisches Konzept, das es erlaubt, den Zusammenhang zu lesen und zu suggerieren, dass das klassische Denken mit seinen Tableaus von Identitäten und Differenzen es erlaubt, die epistemische Struktur des Wissens besser zu vergegenständlichen als die „moderne“ Episteme.31 In seiner Archäologie der Humanwissenschaften gründet Foucault die Episteme des klassischen Zeitalters auf die Idee einer qualitativen Ordnung, die der von Serres anläßlich der Kunst des kombinatorischen Schemas bei Leibniz entwickelten „Logik der Qualität“ verwandt ist. Tatsächlich beruht die Artikulation zwischen mathesis und taxonomia, zwischen den einfachen und abstrakten Naturen und den von Foucault studierten empirischen Bereichen, d.h. die Grammatik von Port Royal, die Analyse des Reichtums und die Naturgeschichte, auf dem Begriff des „Tableaus“. Nach Foucault ist die Möglichkeit einer neuen und arbiträren Verbindung von Zeichen und Vorstellungen die Quelle dieser neuen Wissensordnung, weil die Zeichen die Abtrennung der Vorstellungen in vergleichbaren ‚distinkten Flächen‘, angenäherten und entfernten, in Termini der Identität und der Differenz erlauben. Die Einschließung der Vorstellung in diese serielle Ausschließlichkeit erlaubt den Übergang von einer Episteme des „Ähnlichen“ zu einer Episteme, in der Form und Inhalt in den Analysen durch Termini der Identitäten und der Differenzen voneinander geschieden sind.32 An den beiden extremen Punkten der klassischen episteme hat man also eine mathesis als Wissenschaft der kalkulierbaren Ordnung und eine Genese als Analyse der Bildung der Ordnungen von empirischen Folgen her. Einerseits benutzt man die Symbole der Operationen, die mit Identitäten und Unterschieden möglich sind, auf der anderen Seite analysiert man die fortschreitend durch die Ähnlichkeit der Dinge und die Rückgriffe der Imagination niedergelegten Markierungen. […] Durch die Berechnung und die Genese abgegrenzt, bildet es den Raum des Tableaus. In diesem Wissen handelt es sich darum, alles, was uns unsere Repräsentation anbieten kann, mit einem Zeichen zu belegen: Wahrnehmungen, Gedanken, Wünsche; diese Zeichen müssen als Merkmale gelten, das heißt, die Gesamtheit der Repräsentation in unterschiedenen, in untereinander durch bestimmbare Züge getrennten Zonen gliedern. Sie gestatten so die Errichtung eines gleichzeitigen Systems, nach dem die Repräsentationen ihre Nähe und ihre Entfernungen, ihre Nachbarschaft und ihre Abseitigkeit erklären, also den Raster, der außerhalb der Chronologie ihre Verwandtschaft ermöglicht und in einem permanenten Raum ihre Ordnungsrelationen wiederherstellt. Auf

31  32 

Balibar 2015, 53. cf. Foucault 1974, 87.

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diese Weise kann das Tableau der Identitäten und der Unterschiede gezeichnet werden.33

Aber die zweidimensionale Tafel ist ebenso das Bild einer erschöpfenden Variation, einer Totalität. Diese totalisierende Schließung der Vorstellung, eigentliches Symbol des klassischen Denkens bei Serres wie auch bei Foucault, hat die entgegengesetzten Bedeutungen in ihren jeweiligen epistemologischen Geschichten. Während Serres diesen Raum als Bedingung und Vorwegnahme des transzendentalen Problems interpretierte, sah Foucault in der Tafel die eigentliche Grenze (Bornierung) der klassischen Episteme, die für ihn auf allen Seiten ein Denken des „Selben“ bleibt.34 Selbst wenn der Ordnungsbegriff auf Gueroult – nach Descartes selon l’ordre des raisons – verweist, der in ihren Kreisen einen solchen Eindruck gemacht hatte, entfernen sich sowohl Foucault als auch Serres von einem Projekt der Geschichtsschreibung der Philosophie des Gueroultschen Typs, indem sie ihn durch die Wissenschaftsgeschichte unterwandern.35 Ihre Verwandtschaft mit der Canguilhemschen „Philosophie des Begriffs“ drückt sich genau durch eine Verachtung des philosophischen „Begriffs“ aus: eine Epistemologie, die den Akzent auf die „Ordnung“ oder das Netz setzt, d.h. mehr auf die Relationen zwischen „Sinn-“Elementen als auf die bereits konstituierten Begriffe legt, setzt den Akzent auf den strukturierenden und verborgenen, unterirdischen und unbewussten Teil, gegen das Studium der Lehrmeinungen und Thesen. Bei Serres ist der Begriff zuerst ein Übersetzungsprinzip zwischen den Regionen und Disziplinen, ein Prinzip der „Interferenz“. Ganz wie der heikle Begriff des „historischen Apriori“, der zwischen dem Formalen und dem Historischen schwankt, ist die Ordnung bei Foucault weder ganz transzendental, noch ganz empirisch. Wie Beatrice Han es gezeigt hat: „ni tout à fait objectif, ni vraiment subjectif, l’ordre se présente donc dans la Préface comme une réalité mixte, qu’il est impossible d’analyser en reprenant les termes de la solution kantienne.“ [weder ganz objektiv noch wirklich subjektiv, präsentiert sich die Ordnung also in dem Vorwort als eine gemischte Realität, die man unmöglich im Rückgriff auf die Termini der Kantischen Lösung analysieren kann]36 Was Serres angeht, so richtet seine 33  34  35 

36 

Foucault 1974, 109. cf. Foucault 1974, 261. Fabiani betrachtet Serres wie auch Foucault als paradigmatische Bespiele einer sogenannten „kreativen“ Philosophie, denn sie beeindruckt, indem sie von der Schulphilosophie abweicht und sich gleichzeitig von den wissenschaftlichen oder historischen Disziplinen entfernt, von denen sie sich inspirieren lassen will; cf. Fabiani 1988, 161–162. Han 1994, 71.

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Lektüre sich ein zwischen dem erträumten und dem realisierten Projekt: als Form nicht-thematisierter Geistestätigkeit handelt es sich um ein „positives Unbewusstes“ des Leibnizschen Wissens. Aber wenn die beiden Autoren ihr Projekt in einen „quasi-transzendentalen“ Kontext einschreiben, dann tun sie es auf verschiedene Weise. Foucault interessiert sich für den Bedingungsraum desjenigen, was in einer gegebenen Kultur gesagt, gedacht, geglaubt wird, d.h. für ein konstituiertes Netz der „Abweichungspunkte“ oder das, was Widerspruchspunkte ermöglicht.37 Das Netz von Übersetzungen, von dem Serres in Le système de Leibniz spricht, seinerseits modelliert nach einer Logik des Ausdrucks und der Variation, ist eine „harmonische“ Logik, in der Widersprüche selbst keinen Platz haben. In beiden Fällen impliziert die Netzbildung der Modelle gleichermaßen die Ausbreitung des ‚Systems‘ im Raum, vollständig losgelöst von der Entstehung des Textes. Die Verräumlichung der Methode durch das Netz hat zum Ergebnis eine Relativierung der Chronologie und der Philologie des Textes, der sich in der Folge als sehr problematisch erweist. In beiden Fällen ist die entscheidende Frage, in welchem Maße die Beschreibung als „historisch“ eingeschätzt werden kann. Bei zu großer Berücksichtigung der Rationalität in der Geschichte läuft man im Endeffekt Gefahr, die Sprache eines Denkens zu erschaffen, ohne die Gewißheit zu haben, dass diese Sprache jemals gesprochen worden ist.38 In diesem Sinne haben die beiden Werke einen analogen Bezug zum Problem der Methode, weil diese Methode gleichzeitig mehr und weniger als eine Methode ist: es handelt sich ganz genau um eine Beschreibung eines „Systems“, die keine andere Anwendung hat (kein anderes Objekt) als die, wofür sie formuliert wurde. Es gibt keine allgemeine Methode zur Entdeckung von Epistemen, ganz so wie, im Unterschied zum Projekt von Martial Gueroult, es keine strukturalistische Methode in der Geschichte der Philosophie bei Serres gibt, sondern nur eine „paradigmatische“ Methode in der Auslegung von Leibniz. 4.

„Innere“ vs. „äußere“ Archäologie

Es ist im Jahre 1966, als Michel Serres eine scharfe Kritik von Les mots et les choses veröffentlicht, die klar und deutlich mit der Bewunderung kontrastiert, die er einige Jahre zuvor zu L’histoire de la folie à l’âge classique (1961) in einer Rezension bezeugt hatte, die als ein Modell einer strukturalen Analyse in 37  38 

Siehe dazu Balibar 2015. Für eine neuere Kritik des Begriffs „System von Leibniz“ cf. Fichant 2004; für eine Kritik der Anwendbarkeit der Archäologie von Foucault cf. Mélès 2015.

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der Philosophie erachtet worden war. Serres wirft in der Rezension von Les mots et les choses Foucault vor allem seine Methode der archäologischen Objektivierung vor, und insbesondere seine Behandlung des klassischen Zeitalters. Einerseits geht er davon aus, dass eine solche Untersuchung der Grundstruktur einer Kultur zum Scheitern verurteilt ist; denn nichts zeigt uns an, dass wir tatsächlich alle Schichten derselben durchlaufen haben, dass sich nicht unter der Oberfläche andere determinierende Schichten verbergen. Weil eine ‚Kultur‘ nicht totalisierbar ist, stellt sich das transzendentale Problem erneut: „Es fehlt uns an einem Zeichen oder Kriterium. Aufgrund dessen wir die Zahl der Schichten maximieren könnten, die notwendig und hinreichend sind, um die Totalität einer Kultur zu erkunden. […] Der das Bild malt, ist selbst in dem Bild, in Gesellschaft derer, die zusehen, wie das Bild gemalt wird, und dabei, ohne es zu wissen, selbst zum Bild gehören. Das heißt, dass wir die endgültige Tafel noch nicht erreicht haben, dass wir immer eine tiefere Ebene, eine Person dahinter, bezeichnen können, die uns überrascht und auf ein neues objektivierbares Ensemble hinweist.“39 Ein solches totalisierendes Vorgehen geht nach Serres das Risiko ein, Allgeneinheiten herzustellen, deren Richtigkeit in dem Maße abnimmt, wie diese Metasprache sich ausdehnt. Andererseits ist Serres der Auffassung, dass Foucault die klassische Philosophie „in Parenthese setzt“ und so „das Universelle […] zu einem Merkmal der Kultur naturalisiert“.40 Er wirft Foucault seine Naturalisierung des klassischen Zeitalters vor, dasjenige in eine Ruine zu verwandeln, was seiner Einschätzung nach im Gegenteil eine lebendige Ressource und ein Raum der Kommunikabilität ist. Foucault behandele, so Serres, „Bücher wie versunkene Bauwerke und die Schrift wie eine Inschrift. Er ist Archäologe einer heute vergessenen Sprache.“41 Mit anderen Worten: er wirft Foucault vor, das klassische Bewusstsein wie ein Unbewusstes zu strukturieren. Hier ist es die Archäologie, die wie eine Umgehung, wie eine regionale Eindämmung, kritisiert wird, als eine Form der „Ethnologie europäischen Wissens“42 Wenn der Einspruch von Serres, indem er die radikale Diskontinuität kritisiert, die die Episteme voneinander trennt, sich mit einer sehr häufigen Lesart von Les mots et les choses43 verbindet, bezieht sich das Missverständnis mit Foucault weniger auf dessen a-historische Konzeption von Geschichte als vielmehr genauer auf die Übersetzbarkeit der historischen Objekte insbesondere des klassischen Zeitalters. 39  40  41  42  43 

Serres 1991, 286. ibid., 275. ibid., 282. ibid., 280. Siehe z.B. die Rezension „Le relativisme culturaliste de Michel Foucault“ von Michel Amiot, die zuerst 1967 in Les Temps Modernes erschienen ist (Amiot 2009).

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Die Kritik von Serres ist wahrscheinlich deswegen umso schärfer, weil er annahm, dass er selbst eine bestimmte Rolle bei der Erstellung von Les mots et les choses hatte. Während Serres in Leibniz ein Modell der wissenschaftlichen Moderne sah, beschränkte Foucault ihn auf eine überholte Episteme, für die er nicht einmal einen Hauptautor abgab, weil es der Descartes der Regulae ist, der sie quasi exklusiv repräsentierte. Seine ein bisschen spitzfindige Kritik von Les mots et les choses wird klarer, wenn man sie parallel zu „Les Anamnèses mathématiques“ liest, veröffentlicht im Frühjahr 1966, einem Text der gelesen werden kann als methodologischer Anhang zu seiner Doktorats-These. In diesem Text, der sowohl von Foucault als auch von Canguilhem zitiert wird, formuliert Serres seine eigene Sicht der Geschichtlichkeit der Wissenschaft und der „Archäologie“, gegründet zugleich auf eine Zurückweisung der positivistischen oder doxographischen Wissenschaftsgeschichte und auf eine Kritik der Husserlschen Lösung in Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem.44 Serres nimmt diese Problematik durch „exemplarische Systeme“ hindurch auf, die nicht zufällig ausgewählt wurden: Euklid, Bourbaki und Leibniz. In welchem Sinne ist die Lektüre von Leibniz historisch? Tatsächlich, „[n]’est-ce pas un anachronisme grossier que de voir une architecture ‚structuraliste‘ là où il ne paraît se trouver qu’un système dogmatique parmi d’autres“ [ist es nicht ein großer Anachronismus, eine strukturalistische Architektur dort zu sehen, wo sich nur ein dogmatisches System unter anderen findet].45 Alles andere als anachronistisch schlägt Serres vor, Le système de Leibniz als eine „Uchronie“ zu lesen, als ein System, das alle Temporalitäten in sich selbst enthält. „Chaque fois que la science (et, plus particuièrement, la mathématique) fait quelque bond manifeste en avant […], il se trouve quelqu’un pour faire à nouveau le pèlerinage de la Mathesis, comme si l’odyssée leibnizienne contenait en puissance, et comme dans une involution préformationiste, le dynamisme et le développement historique postérieur.“ [Jedes Mal, wenn die Wissenschaft (und besonders die Mathematik) einen deutlichen Sprung nach vorne macht, findet sich jemand, der erneut die Wallfahrt zur Mathesis macht, als ob die Leibnizsche Odyssee potentiell und wie in einer vorgeprägten Rückbildung die Dynamik und spätere historische Entwicklung enthielte.]46 Bei Serres dient also die Referenz auf die Archäologie vor allem dazu, das Problem der Reaktivierung oder Rekurrenz der Wahrheit zu denken, d.h. die Art, wie die Wissenschaft, in der Formulierung von Canguilhem, „sécrète elle-même son 44  45  46 

Husserl 1939; cf. dazu Mercier 2019a. Serres 1968, 74. ibid., 75.

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temps“ [ihre eigene Zeit sichert].47 Wie letzterer geht auch Serres davon aus, dass die Wissenschaftsgeschichte ihrem Objekt nicht gerecht wird, insofern sie nicht den wesentlich normativen Charakter ihrer Wahrheit berücksichtigt. Die Wissenschaftsgeschichte als die Geschichte dieser Wahrheit kann sich nur an den Schnittpunkt von im wesentlichen akkumulativer historischer Wahrheit und wesentlich rekurrenter epistemologischer Wahrheit halten. In seinem Text bezieht sich Serres auf den Begriff der Archäologie; aber diese Archäologie hat zwei Bedeutungen: Damit sind zwei verschiedene Archäologien bezeichnet: jene, die der mathematischen Bewegung als solcher eigen ist, die durch beständige Wiederholung ihrer inneren Rekurrenz unablässig die Ursprünge reaktiviert und die Grundlagen vertieft. […] Die zweite Archäologie liest die Vorgeschichte von aufgegebenen Konzepten, die mathematisch waren und es nicht mehr sind; sie liest die tote Vorgeschichte in den Fossilien, die die Geschichte mit sich geschleppt und dann fallengelassen hat.48

Die Geschichte der Mathematik ist nicht akkumulativ; denn „sie filtert ihr Erbe: und nimmt es nicht in seiner Gesamtheit in Anspruch; oder besser, sie nimmt es an, indem sie es filtert. Auf diese Weise verkürzt die Mathematik sich, indem sie sich vergrößert, sie saugt sich auf, indem sie sich akkumuliert.“49 Für Serres ist die Historizität der Wissenschaft wesentlich vielfältig, weil sie von den Kurzschlüssen der Erfindungen abhängig ist. „Mathematik ist Archäologie, aber Archäologie auf dem kürzesten Wege, durch beständige Aufgabe traditionsverhafteter Mäander.“50 Ihre Archäologie-Begriffe reflektieren Wege, die diametral der Geschichte der Wahrheit entgegengesetzt sind. Während Serres diese Wahrheit als Wahrheit dessen denkt, was er die „Sinn-Atome“ des Systems nennt, und das vor allem auf der Ebene ihrer Reaktivierung, d.h. ihrer Übersetzbarkeit von Sprache zu Sprache, versteht Foucault diese Wahrheit als Wahrheit der Sprache selbst; einer relativen Wahrheit hinsichtlich einer Episteme oder gegebenen zeitlichen oder geographischen Konfiguration. *** Wenn Serres und Foucault beide in den 1960er Jahren gewissen Canguilhemschen Intuitionen in Bezug auf die Neubestimmung einer Geschichte der Wahrheit nachgehen, so folgen ihre Geschichten zwei verschiedenen Wegen. 47  48  49  50 

Canguilhem 1979, 33. Serres 1991, 136sq. ibid., 139. ibid., 140.

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Während Foucault die langsame Abfolge der Orte der Wahrheit schildert, indem er sich den Strategien und Formen des Wahrsprechens widmet und also den Bedingungen, das Wahre zu sagen, nimmt Serres als Ausgangs- und Schlusspunkt das, was er das „automatische Wesen des Wahren“ nennt, die Mathematik als reines Werden auszeichnend und die Mathematizität als zugleich notwendigen und unvorhersehbaren Weg. Bei Foucault ist der epistemologische Weg immer retrospektiv: nach den Tatsachen, den Bedingungen der Möglichkeit, die nichts anderes sind als das „Verständlichmachen“ dieser Realitäten. Durch die Auszeichnung der Zirkulation der Wahrheit als potentielle Wiedererfindung und Reintegration der Geschichte in jedem ihrer Momente, setzt Serres die „Arché“ weder unter noch über, sondern nach der Invention. Dieses repräsentiert vielleicht, um die bekannten Termini aufzunehmen, zwei Arten, die epistemologische Arbeit zwischen der des Historikers und der des Wissenschaftlers zu positionieren aber ebenso die Ordnung der historischen Wahrheit und die der philosophischen Wahrheit zu artikulieren. Aus dem Französischen übersetzt von Kurt Röttgers und Reinhold Clausjürgens. Bibliographie Amiot, Michel, 2009: Le relativisme culturaliste de Michel Foucault. In: Artières, Philippe (ed.): Les mots et les choses de Michel Foucault. Caen 2009, pp. 91–130. Bachelard, Gaston, 1988: Der neue wissenschaftliche Geist. Frankfurt/M. Balibar, Étienne, 2015: Foucault’s Point of Heresy: ‚Quasi-Transcendentals‘ and the Transdisciplinary Function of the Episteme. In: Transdisciplinarity Problematics, Theory, Culture and Society 32, 5–6, pp. 45–78. Bourbaki, Nicolas, 1950: The Architecture of Mathematics. The American Mathematical Monthly 57, 4, pp. 221–232. Canguilhem, George, 1979: Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Frankfurt/M. Fabiani, Jean-Louis, 1988: Les philosophes de la république. Paris. Fichant, Michel, 2004: L’invention métaphysique, introduction. In: Leibniz, Gottfried Wilhelm, 2004, Discours de métaphysique suivi de Monadologie et autres textes. Paris, pp. 7–140. Foucault, Michel, 1966: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris. Foucault, Michel, 1970: The Order of Things. An Archeology of the Human Sciences. London. Foucault, Michel, 1974: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfur/M.

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Anthropozän, „Rechte der Natur“ und Naturvertrag: Zur Aktualität Michel Serres’ Doris Schweitzer I. Michel Serres ist in der deutschsprachigen Soziologie nie wirklich angekommen. Das erscheint aus zwei Gründen bemerkenswert. Denn erstens werden viele seiner Konzepte durch die Vermittlung Bruno Latours gegenwärtig intensiv diskutiert. Und zweitens zählt Serres zu einem der wichtigsten Vordenker des Anthropozän-Konzepts, das nach seinem „diskursiven Siegeszug“ (Laux 2018, 15) in den Geistes- und Sozialwissenschaften mittlerweile auch in der hiesigen Soziologie als zentrale theoretische Herausforderung angesehen wird (cf. Henkel 2018). Schon Anfang der 1960er wies Serres darauf hin, dass sich der Mensch bereits lange als physischer Faktor auswirkt, der die Erde verändert und letztlich in Gefahr bringt (cf. Schweitzer 2011, 239sqq.). In der modernen wissenschaftlichen und hochtechnisierten Gesellschaft bewohnen wir die Welt nicht mehr wie früher. Vielmehr herrsche Krieg gegen diejenige Sphäre, die uns traditionell als ‚die Natur‘ gegolten hat – „und zwar“, wie Petra Gehring treffend betont, „nicht metaphorisch, sondern ganz wörtlich“ (Gehring 2006, 171). Die Welt der Naturdinge, einst gefahrvolle Arena der Menschen, geriet selbst in Gefahr: „Die Hinfälligkeit hat ihr Lager gewechselt.“ (Serres 1994, 40) Auf dem Spiel stehe von nun an das globale Überleben. Daher zeichnet Serres das Bild einer essentiellen Entscheidungssituation: „Tod oder Symbiose“ (ibid., 62). Angesichts dessen verpflichtet Serres sein Denken schon früh auf den drohenden kollektiven Tod: „Der letzte Zweck, das Ende. Ich sehe nicht, wie es möglich sein soll, an irgendetwas anderes zu denken, an irgendetwas zu arbeiten, ohne sich darauf zu beziehen. Von nun an die Bedingung jeglicher Theorie und jeglicher Praxis.“ (Serres 1992, 140) Der Krieg, den die Menschheit nicht mehr in der Welt, sondern nun gegen die Welt führe, sei der neue Weltkrieg: Ein lokales Objekt, die jeweilige Natur, werde zum „globalen Ziel, dem ERD-PLANETEN, mit dem sich ein neues totales Subjekt, die Menschheit, abmüht“ (Serres 1994, 18). Bei Serres zeigt sich wie im Anthropozän-Konzept

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aus der globalen Perspektive ein epochaler Bruch, und nun steht die Gattung Mensch der Erde als ihrer bedrohten Lebensgrundlage gegenüber.1 Serres, der Optimist, bleibt aber nicht bei der Problemdiagnose stehen. Im Angesicht des kollektiven Todes entwirft er eine neue Reflexionshaltung, die dem Problem der Verantwortung für die Zukunft gerecht werden soll. Zentral für dieses Vorhaben wird der Versuch, das „Recht der Dinge und Objekte [zu] schreiben“ (Serres 1987, 334). Serres versucht, ein Recht derjenigen zu erfinden, die bis dato keines hatten und daher der Ausbeutung preisgegeben waren (cf. Gehring 2004, 311). Darin erkennt er die so dringend nötige Möglichkeit der Rückkehr zur Natur, wie er im Jahr 1990 im Naturvertrag wortgewaltig darlegt: Also zurück zur Natur! Was bedeutet: den ausschließlichen Gesellschaftsvertrag durch einen Naturvertrag der Symbiose und Wechselseitigkeit ergänzen, bei dessen Abschluss unsere Beziehung zu den Dingen sich ihrer Herrschaft und ihres Besitzstrebens begibt zugunsten von bewunderndem Zuhören, Wechselseitigkeit, Kontemplation und Respekt, worin Erkenntnis nicht mehr Besitz und Handeln nicht mehr Herrschaft voraussetzt und letztere auch nicht ihre sterkoralen Resultate oder Bedingungen. Ein Waffenstillstandsvertrag im objektiven Krieg, ein Symbiosevertrag: der Symbiont räumt das Recht des Wirtes ein, während der Parasit – unser gegenwärtiger Status – denjenigen, den er ausplündert und bewohnt, zum Tode verurteilt, ohne sich bewußt zu werden, daß er sich in absehbarer Zeit selbst zum Untergang verdammt. (Serres 1994, 68sq.)

Der Naturvertrag löste heftigen Widerspruch aus.2 Trotz dieser Kritik scheinen Serres’ philosophische Überlegungen zum Recht des Wirtes, dem Recht der Natur, im Jahr 2008 eine konkrete politische Verwirklichung erfahren zu haben: Ecuador sprach in seiner neuen Verfassung der Natur als Pacha Mama fundamentale subjektive Rechte zu, wenig später erkannte Bolivien in seiner Gesetzgebung das Recht von Mother Earth an, eine Entwicklung, die zum Entwurf einer Allgemeinen Erklärung der Rechte von Mutter Erde aus dem Jahr 2010 führte. Doch auch durch Gerichtsurteile und Regierungsakte werden zunehmend der Natur eigene Rechte zugesprochen: Seit Mitte der 2000er Jahren haben auf diesen Wegen Flüsse, Berge, Gletscher, Nationalparks, Amazonasgebiete, Seen und generell lokale Ökosysteme den rechtlichen Personenstatus erlangt.3 1  Insofern wird Serres’ Naturvertrag auch als Antwort auf die Problemdiagnose des Anthropozäns gelesen, cf. Latour 2014; Heyd/Guillaume 2016; Vermeylen 2017. 2  Insbesondere Luc Ferry kritisierte Serres als vermeintlichen Vertreter der tiefenökologischen Bewegung für die Forderung, Rechte der Natur anzuerkennen, gefährde dies doch sowohl ontologisch als auch politisch die Moderne in ihrem zentralen Charakteristikum des Humanismus (Ferry 1992). 3  Zu den bis dato anerkannten und institutionalisierten Rechten der Natur cf. die Auflistung auf der UN-Plattform Harmony with Nature (United Nations 2019b); zu den Rechten der

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Man kann also Serres ebenso zu der Gruppe der Vordenker der Rechte der Natur zählen (cf. Fitz-Henry 2012). Dem würde er auch nicht widersprechen. Denn genau dies sei Thema seines Buchs Der Naturvertrag gewesen: In it I try to explain that the idea of the subject of law is starting to transform itself today, and that natural objects can become subjects of law. For example, Yellowstone Park could undertake legal action against someone who polluted it. This is starting to pass into law. I have news from several countries in which they are starting to think about this question, saying that certain natural objects can become subjects of law. […] It’s decisive for the environment. A new step in Western law. (Serres in Obrist 2014; s.a. Serres 2008, 6)

Allerdings muss man festhalten: Michel Serres interessiert sich nur bedingt für das Recht. Wenn er sich mit zentralen rechtlichen Konzepten bzw. Institutionen wie Vertrag oder Eigentum auseinandersetzt , macht er dies ganz im Stil der Philosophie: Er bewegt sich auf einer hohen Abstraktionsebene, um grundlegende epistemische Strukturen der Moderne zu benennen. Das Recht in concreto, law in action oder die historisch-spezifischen Techniken und Praktiken des Rechts interessieren ihn nicht.4 Daher stellt sich die Frage: Verwirklichen die Rechte der Natur tatsächlich das Anliegen, das Serres im Naturvertrag formuliert (II.)? Oder zeigen sich nicht vielmehr grundlegende Differenzen (III.), die es erlauben, eine kritische Perspektive auf die Rechte der Natur zu entwickeln (IV.)? Denn dann erweist sich Serres gerade angesichts dieser empirischen Rechtsentwicklungen aktueller denn je: Er ist nicht nur als Vordenker von Interesse, sondern insbesondere als kritischer Kommentator einer Gegenwart, die sich angesichts der Krisendiagnose des Anthropozäns auch im Recht neu sortieren muss (V.). II. Auf den ersten Blick scheinen die Rechte der Natur und Serres’ Konzeption des Naturvertrags vieles gemein zu haben. Das liegt nicht nur in der Wahl des Mittels begründet, wird doch in beiden Fällen auf das Recht rekurriert, um auf das grundlegende Problem der Zerstörung der Erde zu reagieren.5 Auch Natur im Allgemeinen cf. neben dem wegweisenden Essay von Christopher Stone aus dem Jahr 1972 (Stone 1987) insbesondere Nash 1989; Boyd 2018. 4  Worum es Serres im Naturvertrag vielmehr geht, ist ein Pakt des Rechts mit dem Wissen, der einem Wiedereintritt der Naturwissenschaften in die politische Sphäre bewirkt (cf. Gehring 2004, 315sqq.). 5  Dabei antworten die Rechte der Natur durchaus nicht nur auf Umweltprobleme, sondern werden auch als Mittel angesehen, die Ermächtigung und den Schutz lokaler Gemeinschaften

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wird dafür die gleiche Rechtsform aktualisiert: die Anerkennung der Rechtssubjektivität.6 In beiden Fällen geht es also weder um eine gegen das Recht an sich gewendete Rechtskritik, noch um eine Kritik der Rechtsform „subjektives Recht“, sondern um eine interne Transformation des Rechts in seinen grundlegenden Strukturen durch die Neudefinition des Subjekts der subjektiven Rechte. Denn, so Serres: „Das Recht kann die Natur retten.“ (Serres 2008, 7)7 Die Parallelität beider Ansätze zeigt sich insbesondere auch in der ähnlich gelagerten Zielrichtung der politischen bzw. philosophischen (oder theoriepolitischen) Intervention.8 So wird in den Rechten der Natur insbesondere die Möglichkeit gesehen, den Anthropozentrismus des Rechts zu unterwandern, der Rechte nur an Menschen verleiht: „The rights of Nature defy the anthropocentric character of rights discourse.“ (Tabios Hillebrecht 2017, 19) Das betrifft allerdings nicht die rechtstechnische Ebene. Denn sowohl in der Common Law- als auch in der kontinentalen Rechtstradition ist es möglich, aus dogmatischer Sicht Rechte nicht-menschlicher Entitäten zu konstruieren, die nicht systemfremd sind (cf. etwa Stone 1987; O’Donnell/Talbot-Jones 2018; Teubner 2006; Kersten 2017).9 Unterwandert werde vielmehr die Episteme der Moderne, die dem modernen Recht zugrunde liege. Denn entgegen der Hierarchie im Anthropozentrismus werden Mensch und Natur gleichermaßen als Träger von Rechten angesehen. Beide seien auf einer horizontalen Ebene anzusiedeln, was eine Dezentrierung des Menschen bewirke. Man müsse daher nun von einem Öko-, Bio- oder Erdzentrismus sprechen (cf. Burdon 2014; Borràs 2016; United Nations 2019a), in deren Perspektive der Mensch letztlich als Teil der umfassenden Natur erscheint (cf. Art. 3 Asamblea Legislativa Plurinaciona de Bolivia 2010; Solón 2010, 11). Das erweise sich als adäquate Antworten auf die holistische Problemlage im Anthropozän (cf. Chapron et al. 2019). Diese Argumentationsstruktur erinnert an Serres’ Anliegen, die Einseitigkeit des Gesellschaftsvertrags zu überwinden, den die Menschen zumindest zu bewirken – entweder im postkolonialen Kontext als Ermächtigung von indigenen Gruppen durch Anerkennung ihrer kosmologischen Weltsicht (Dennis-McCarthy 2019), oder im ökonomischen Feld als Mittel für den Widerstand gegen große (Fracking-)Konzerne (Fitz‐ Henry 2018). 6  Serres bedient sich dafür – wie auch schon Stone (1987, 25sqq.) – des Narrativs der fortschreitenden Erweiterung des Begriffs des Rechtssubjekts (cf. Serres 1994, 64). 7  Übersetzung D.S. nach: „[L]e droit peut sauver la nature.“ Latour sieht in diesem Rekurs auf das Recht bei Serres allerdings die zentrale Schwäche des Naturvertrags, erscheint ihm doch das Konzept eines befriedenden Vertrages angesichts der Dringlichkeit der Probleme des Anthropozäns veraltet (Latour 2014, 6). 8  Zu Serres’ spezifischer „Politik der Prosa“ im Naturvertrag cf. Gehring 2006. 9  Dogmatischen Anknüpfungspunkt bildet dabei zumeist das Konzept der „juristischen Person“ (cf. etwa Stone 1987, 26sqq.).

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virtuell unter sich geschlossen haben, um das Soziale zu gründen. Aus diesem Sozialen sei die Welt verschwunden. Dem tritt Serres mit seinem Konzept des Naturvertrags entgegen, in dem die Natur zum Vertragspartner der Menschen wird. Auch bei ihm verschiebt sich damit die Perspektive hin zu einem „ERDPLANETEN“ als globale, umfassende Einheit, die zu einer Immanenz verpflichtet. Insofern klingt auch bei ihm ein Holismus an, wenn er schreibt: „Was ist die Natur? Zunächst einmal die Gesamtheit der Bedingungen der menschlichen Natur selbst, ihrer globalen Zwänge von Wiedergeburt oder Aussterben, die Herberge, die ihr Unterkunft, Wärme und Nahrung bietet“ (Serres 1994, 65). Und durch den Naturvertrag erfolge ebenfalls eine Dezentrierung des Menschen: Die Erde existierte bereits ohne unsere unvorstellbaren Vorfahren, sie könnte auch heute ohne uns existieren, sie wird morgen und auch noch später existieren, ohne einen unserer denkbaren Nachkommen, während wir nicht ohne sie existieren können. Deshalb müssen wir die Dinge in den Mittelpunkt rücken und uns an die Peripherie verweisen, oder eher: sie überall und wir als Parasiten in ihrem Inneren. (ibid., 60)

Diese Dezentrierung des Menschen ist entscheidend, um – mit Serres gesprochen – aus dem Krieg gegen die Welt auszubrechen. Genau dies wird auch in den Debatten um die Rechte der Natur geltend gemacht. Denn die durch das Recht vermittelte Dingbeziehung wandelt sich, erfolge doch ein Übergang von einem ‚Recht am Ding‘ zu einem ‚Recht der Dinge‘. Die Natur werde nicht mehr als bloßes Eigentumsobjekt gefasst, das als Ressource oder Rohstoff für technologischen Fortschritt und ökonomisches Wachstum ausgebeutet werden darf, und zwar bis hin zu ihrer Zerstörung (cf. Burdon 2014). In den Rechten der Natur wird vielmehr eine Art Gegenrecht (Christoph Menke) gegen die kapitalistische Ausbeutungsstruktur gesehen (cf. Fischer-Lescano 2017).10 So wird in der Übermittlung des Entwurfs der Allgemeinen Erklärung der Rechte von Mutter Erde an die UN festgestellt: „Capitalists see Mother Earth as nothing more than a source of raw materials and human beings as only a means of production and as consumers, whose worth depends on what they have and not what they are.“ (zitiert nach Solón 2010, 2) Demgegenüber macht der ehemalige bolivianische Botschafter Pablo Solón Romero geltend: „To

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Allerdings hat Christoph Menke selbst große Vorbehalte dagegen, Rechte an nichtmenschliche Entitäten zu verleihen, werde doch durch die Auflösung der Bindung der rechtlichen Personalität an die menschliche Subjektivität das Recht entpolitisiert (cf. Menke 2016).

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speak about Mother Earth’s rights challenges the entire legal system on which this capitalist system is based.“ (zitiert nach Dawson 2011). Auch bei Serres wendet sich der Naturvertrag gegen die Dingbeziehung als ‚Recht am Ding‘, das unser Verhältnis zur Natur als Herrschaft, Besitz und Eigentum definiert. Denn nun gelte: „Die Objekte selbst sind Rechtssubjekte und nicht einfach mehr passive Ansatzpunkte des – und sei es kollektiven – Aneignungsstrebens.“ (Serres 1994, 67) Das Eigentum sei Das eigentliche Übel (Serres 2009). Im Übergang zur Natur als Rechtssubjekt trete demgegenüber ein grundlegender Beziehungswandel ein: Der Parasit nimmt alles und gibt nichts; der Wirt gibt alles und nimmt nichts. Das Herrschafts- und Eigentumsrecht reduziert sich auf den Parasitismus. Das Symbiose-Recht dagegen ist durch Wechselseitigkeit ausgezeichnet: So viel die Natur dem Menschen gibt, so viel muß der Mensch ihr, die jetzt Rechtssubjekt geworden ist, zurückerstatten. (Serres 1994, 69)

Der Naturvertrag, in dem die Natur zum Vertragspartner wird, funktioniere daher wie ein Friedensvertrag (Serres 2009, 88sqq.), ein Waffenstillstandsvertrag gegenüber der Welt. Das bedeute gleichzeitig die Heraufkunft eines anderen Menschen, indem man in einer Geste der Enteignung die kartesische Devise der Beherrschung und Inbesitznahme der Welt hinter sich lässt: „Ich wünsche und praktiziere die Enteignung der Welt.“ (ibid., 77) Die Rechte der Natur und Serres’ Naturvertrag ähneln sich im Übergang vom ‚Recht am Ding‘ zu einem ‚Recht der Dinge‘, wodurch der Mensch aus globaler Perspektive dezentralisiert wird und die durch das Eigentum begründete Herrschaftsstellung gegenüber der Welt verliert. Daher erscheint Serres als Vordenker dieser neuen Form von Naturrechten. Insofern verwundert es auch nicht, dass dieser Bezug – selbst von Serres (s.o.) – in der Debatte um die „Rights of Nature“ immer wieder hergestellt wird (statt vieler Tavares 2011; Latta 2014; Mandic 2017). III. Und doch lassen sich insbesondere zwei sehr grundlegende Unterschiede in den Ansätzen markieren, die eng miteinander zusammenhängen. Erstens muss man festhalten: Serres’ Überlegungen zum Naturvertrag und die reale politische Institutionalisierung von Rechten der Natur liegen auf gänzlich verschiedenen Ebenen. Denn Serres zielt nicht auf die positive Bestimmung, welche Rechte wem in einer konkreten Gesellschaft zuzuerkennen sind. Es geht ihm nicht um partikulare Eigenrechte der Naturdinge (cf. Gehring 2004, 312sq.).

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Seine Überlegungen sind vielmehr auf der Ebene ‚darunter‘ anzusiedeln. Das eigentliche Thema des Naturvertrags sind die Voraussetzungen desjenigen Vertrages, der das Soziale zuallererst konstituiert. So wie in den Gesellschaftsvertragskonzeptionen der Philosophie geht es um die Gründungsszene, den politischen Gründungsakt desjenigen, was wir Gesellschaft nennen: „[D]er Gesellschaftsvertrag [markiert, D.S.] den Beginn der Gesellschaften“ (Serres 1994, 78). Oder anders formuliert: Es geht um das Band, dass bestehen muss, bevor man soziale Verbindungen knüpfen kann, bevor man konkrete Rechte bestimmen und interpersonale Verträge schließen kann. Und der fundierende Vertrag – egal ob als Gesellschafts- oder Naturvertrag – ist das Synonym für dieses Band. Das verweist auf die zweite grundlegende Differenz, die den Akteursstatus der Natur in den Subjektkonstruktionen betrifft: Als Bezugspunkt der konkreten Verleihung subjektiver Rechte an die Natur dient in einer Vielzahl der Fälle die Annahme, dass die Natur bzw. ihre Entitäten lebende Wesen seien, die in ihren Existenzrechten verletzt werden können. In Bezug auf Flüsse wird etwa von „legal person/living entities“ (High Court of Uttarakhand at Nainital 2017, Rn. 19) gesprochen, die als „indivisible and living whole“ (Te Awa Tutua Act, Art. 12) angesehen werden. Die Natur erscheint als Pacha Mama, deren Existenz, Lebenszyklen und evolutionäre Prozesse geschützt werden (Art. 71 República del Ecuador 2008); oder sie wird als Mother Earth angerufen, d.h. als ein dynamisches lebendiges System, das als heilig gilt (Art. 3 Asamblea Legislativa Plurinaciona de Bolivia 2010). Rekurriert wird auf eine Art neues Naturrecht, das aufgrund der Natur der Sache, einem biologischen und/oder spirituellen Vitalismus, nun der Natur selbst unverfügbare Rechte zuschreibt, die geschützt werden müssen. Oder, wie paradigmatisch in einer kommunalen Verordnung aus den USA festgestellt wird: „Natural communities and ecosystems possess inalienable and fundamental rights to exist and flourish within the Town of Nottingham.“ (Nottingham Town 2008, 1) Rekurriert wird also auf einen Eigenwert der Natur, der verletzt werden kann. Selbst wenn dabei die Natur in ihrer Lebendigkeit und insofern als eine aktive Entität angesprochen wird, steht die Abwehr von Rechtsverletzungen im Vordergrund. Deutlich bringt diesen Zusammenhang ein Urteil des indischen Uttarakhand High Court aus dem Jahr 2017 zum Ausdruck: „Rivers and Lakes have intrinsic right not to be polluted. […] The rivers are not just water bodies. These are scientifically and biologically living.“ (UHC, Urteilsbegründung v. 20.03.2017, zitiert nach Kothari/Bajpai 2017, 104) Natur wird hier als ein Subjekt adressiert, das geschützt werden muss. Und der Subjektstatus dient dazu, diesen Schutz zu gewährleisten. Wenn es jedoch nur um die Schutzwürdigkeit geht, wird der Natur (erneut) eine letztlich passive Position zugeschrieben.

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Denn sie gilt gerade nicht als eine aktive Rechtsperson in dem Sinne, dass ihr Handeln in den Blick genommen wird. Sie genießt den gleichen Schutz, aber wird nicht als gleichberechtigter Akteur angesehen. Für Serres sind aber die Rechte, die die Natur über ihren Subjektstatus geltend macht, nicht Abwehrrechte, sondern Teilhaberechte. Die Natur ist bei Serres nicht Subjekt, weil sie lebt und daher einen Eigenwert besitzt.11 Sie ist vielmehr ein Subjekt, weil sie sich in den Horizont der gegenwärtigen Kultur einschreibt. Denn das Verhältnis von Subjekt und Objekt habe sich gewandelt. Angesichts der drohenden Zerstörung unserer Lebensgrundlagen zeige sich, dass die Natur auf die Interventionen des Menschen nun reagiere, bis hin zu dem Punkt, dass sie sich dem Menschen als Heimstatt entzieht: „Sie konditioniert die menschliche Natur, die sie fortan ihrerseits konditioniert. Die Natur verhält sich als Subjekt.“ (Serres 1994, 65) Genau darum gehe es im Anthropozän: „The term anthropocene means nothing else: we used to think of ourselves as the individual or collective subjects of a passive object, the world. Reversal: we become the objects oft he new subject Biogea.“ (Serres 2014, 47) Serres versucht nicht eine wie immer geartete Wesensbestimmung der Natur, die als Basis der Zuschreibung von Rechten dienen kann. Die Natur erhält den Status des Rechtssubjekts vielmehr deshalb, weil es heute einen objektiven Aktionszusammenhang gibt: Denn seit heute morgen erbebt die ERDE erneut: nicht weil sie sich regt und sich in ihrer rastlosen und weisen Umlaufbahn bewegt, nicht weil sie sich verändert, von ihren Tiefenschichten bis zur Lufthülle, sondern weil sie sich durch unser Zutun verwandelt. Die Natur galt für das alte Recht wie für die moderne Wissenschaft als Bezugspunkt, weil es keinerlei Subjekt an ihrer Stelle gab: Das Ziel im Sinne des Rechts und der Wissenschaft ergab sich aus einem Raum ohne Menschen, der nicht von uns abhing, von dem vielmehr wir de facto und de jure abhängig waren; fortan aber hängt er so sehr von uns ab, daß er schwankt und wankt und auch wir uns über diesen Abstand zum vorgesehenen Gleichgewicht beunruhigen. Wie versetzen die ERDE in Unruhe und lassen sie erbeben! So hat sie jetzt erneut ein Subjekt. (Serres 1994, 144)

Angesichts dessen entwirft Serres einen Naturvertrag mit der Natur als gleichberechtigter Partnerin. Es handelt sich – juristisch gesprochen – gerade nicht um einen „Vertrag zugunsten Dritter“ zwischen Menschen, in dem alle auf Schonung und Schutz der Umwelt verpflichtet werden. Serres will vielmehr 11 

Daher kritisiert Serres auch die Menschenrechtserklärung dafür, dass nicht nur nichtmenschliche lebende Entitäten, sondern ebenso „objets inertes“ ausgeschlossen werden (Serres 2006). Der Große Dritte stellt für ihn einen Interferenzraum zwischen Erde und dem Lebendigen dar (cf. Serres 2010).

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einen Vertrag mit dem Dritten schließen, also mit demjenigen, der bis dato aus dem Sozialen ausgeschlossen wurde. Die Natur erhält bei Serres also einen aktiven Status, sie nimmt teil am fundierenden Vertrag. Das ist aus zwei Gründen von entscheidender Bedeutung: Erstens gibt es „kein menschliches Kollektiv ohne Dinge“ (Serres 1994, 79). Das galt auch für den Gesellschaftsvertrag, der die Dinge zu passiven Objekten degradierte, die man beherrschen und besitzen kann. Im Naturvertrag erkennen wir die mittlerweile eingetretene Transformation der Natur zum Subjekt an. Das ist angesichts der Dringlichkeit der Umweltprobleme von existentieller Bedeutung. Denn der Naturvertrag erscheint zweitens als einzige Möglichkeit, aus dem überlieferten zerstörerischen Naturverhältnis auszubrechen. Denn das Recht – als Vertragsrecht – hat bei Serres eine befriedende Funktion: Der Krieg zwischen den beiden Vertragsschließenden wird beendet, indem sie sich als gleichberechtigten Partner anerkennen. Insofern „läßt sich das Recht im allgemeinen zweifellos als minimale und kollektive Begrenzung des parasitären Handelns definieren“ (ibid., 66). Gabe und Gegengabe werden vom Prinzip her gegeneinander abgewogen, um eine Balance, d.h. für Serres Gerechtigkeit, zu ermöglichen (cf. ibid., 151sq.). Auf Ausgleich bedachte Symbiose statt Parasitismus. IV. Betont man nicht die Analogien, sondern die grundlegenden Differenzen zwischen den Konstruktionen der Rechte der Natur und dem Naturvertrag, dann kann man Serres als kritischen Kommentator dieser neuen Rechte lesen – und zwar genau hinsichtlich jener zwei zentralen Argumente, die auch Serres beschäftigen: die Auswirkungen der jeweiligen Subjektkonstruktionen der Natur auf den Anthropozentrismus sowie die Frage nach den Eigentumsbeziehungen. (1) Wenn sowohl von Verfechtern (und Kritikern) der Rechte der Natur als auch von Serres mit seinem Naturvertrag eine Dezentralisierung des Menschen geltend gemacht wird, so erfolgt diese Positionsverschiebung auf sehr unterschiedliche Weise. Mit den konkreten Rechten der Natur wird die Natur bzw. ihre Entitäten in den Kreis der Rechtssubjekte aufgenommen. Als lebende Entitäten treten sie innerhalb dieses Kreises neben den Menschen. Dieser Eintritt begründet – so eine gängige Annahme – in einer Art dekonstruktivistischen Geste die subversive Kraft der Rechte der Natur, wird damit doch dem Ausgeschlossenen, dem konstitutiven Außen, eine Stimme verliehen. Das soll in der Folge jene Verschiebung hin zum Bio-, Öko- oder Erdzentrismus bewirken.

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Serres richtet demgegenüber nicht so sehr den Blick auf dieses Nebeneinander innerhalb der Kategorie Rechtssubjekt, sondern auf das Dazwischen. Er interessiert sich für die Mitte, den Zwischen- oder Interferenzraum zwischen Erde (als Natur) und Mensch. Diese Fokussierung auf das Dazwischen erreicht er, indem er nicht einen neuen Vertrag konzipiert, sondern nach dem „Prinzip der Vertraglichkeit“ fragt (Gehring 2004, 312). Wenn er nämlich die Natur als gleichberechtigten Partner im Naturvertrag konzipiert, dann ist die entscheidende Position im Vertrag, das Gegenüber, nicht besetzt: „Es ist klar, dass die Natur weder eine Hand zum Schreiben hat, noch dass sie ein Bewusstsein besitzt, um derartige Intentionen zu haben.“ (Serres 2006)12 Das hat zur Folge, dass man sich fragen muss, was die andere Seite ‚sagt‘: „Welche Sprache sprechen die Dinge der Welt?“ (Serres 1994, 70). Damit wandelt sich die Problemstellung: Es geht um die erkenntnistheoretische Frage, wie sie den Wissenschaften zugeschrieben wird (und im Naturvertrag letztlich in einem Pakt des Rechts mit dem Wissen konvergiert). Mit den herkömmlichen Mitteln kann man diese Frage nicht beantworten, die Wissenschaften, selbst die Naturwissenschaften, haben nach Serres zur Weltvergessenheit beigetragen. Der Naturvertrag basiert daher nicht auf einer Theorie oder einem Wissen über das stumme Gegenüber. Die Natur entzieht sich vielmehr solchen Festschreibungen – man beruft sich auf eine „abwesende Instanz“ (Serres 1994, 144). Genau darin liegt ihre kritische Funktion. Als Horizont des eigenen Handelns, das sich offen erweist für die Irritationen, die zwangsläufig von einem Gegenüber ausgehen, das man nicht bestimmen (und daher auch nicht kontrollieren) kann. Was Serres damit beschreibt ist eine spezifische Haltung gegenüber der Welt: Man muss sie als gleichberechtigten Partner anerkennen. D.h. wir müssen uns durch die nicht-diskursiven Dinge und Objekte, die stets noch mehr Informationen besitzen, immer wieder herausfordern lassen, um sie zu ihrem Recht kommen zu lassen.13 Ein solches Recht hat dann aber einen stets performativen Charakter: 12 

13 

Übersetzung D.S. nach: „Entendu que la Nature ne dispose d’aucune main pour écrire ni d’aucun entendement pour avoir quelque intention de ce genre.“ Das ist nach Serres unproblematisch: Auch die Gesellschaft hatte keine Hand, mit der sie den Gesellschaftsvertrag unterschrieb: „Es ist offensichtlich, dass der Gesellschaftsvertrag von niemandem unterschrieben wurde. Es handelt sich um eine quasi-transzendentale Bedingung. Im Grunde habe ich Ähnliches mit Blick auf die Natur vor.“ (Serres 2008, 5; Übersetzung D.S. nach: „Il est bien clair que, le contrat social, personne ne l’a jamais signé. C’est une condition quasi transcendantale. J’avais en gros dans la tête le même geste pour le rapport à la nature.“). Die Natur verweist damit im Recht immer zugleich auf das Nicht-Recht (Serres 1994, 137sqq.). Damit werden die Grenzen des Rechts zum Gegenstand der Theorie des Rechts.

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Das Recht gebietet nie und spricht oder schreibt nur selten im Imperativ; bestimmt, schreibt und spricht auch nicht im Indikativ. Sondern im Performativ. Das bedeutet, daß die Wahrheit, die Übereinstimmung des Gesagten oder Vorgeschriebenen mit den Fakten, sich unmittelbar aus dem von ihm Gesagten oder Vorgeschriebenen ergibt. (ibid., 127sq.)

Dezentralisierung des Menschen bedeutet also nicht, dass es neben dem Menschen auch andere Rechtssubjekte gibt. Der Naturvertrag bewirkt vielmehr eine Begrenzung oder „Mäßigung“ (ibid., 152) der menschlichen Handlungen nach dem Prinzip Gabe und Gegengabe mit einem Gegenüber, das man nicht fassen kann.14 Daher geht es um das Band, den Austausch mit der Natur. Insofern ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Natur selbst als aktiver Akteur in diesem Vertragsschluss konzipiert wird. Denn dadurch wird die menschlich-subjektive Perspektive gesprengt, und der Mensch tritt in Austausch mit der Natur (cf. Gehring 2004, 312). Legt man mit Serres nun den Fokus auf die Relation zwischen Mensch und Natur, so zeigt sich, dass durch die Rechte der Natur der Anthropozentrismus nicht zwangsläufig unterwandert wird. Denn die Natur wird, wenn ihr mittels einer Wesensbestimmung positive Rechte zugeschrieben werden, im rechtlichen Sinne bewertbar. Das Nebeneinander von Rechten führt immer zu einem möglichen Gegeneinander, das Recht des einen kann mit dem Recht des anderen in Konflikt geraten. Die Rechte der Natur können also in Konkurrenz mit menschlichen Rechten treten. Das eröffnet die Möglichkeit, diese verschiedenen Rechte im Konfliktfall gegeneinander abzuwägen. Wird hier dann – wie etwa in manchen Fällen in Ecuador (cf. Gordon 2018, 84sqq.) – der Vorrang der menschlichen Interessen bzw. Rechte an der Zerstörung von Teilen des Amazonas zu Zwecken der Ölförderung per Urteil festgestellt, droht sich diese Bewertung des Wertes der Natur zu verfestigen, so dass die Rechte der Natur paradoxerweise zur Abwertung der Natur führen (cf. Jha/Ghosh 2018, 23; Giagnocavo/Goldstein 1990, 370). Am Horizont erscheint dann eine – nun über den Mehr-Wert gegenüber einem anderen Rechtsträger (Natur) begründete – Rezentralisierung des Menschen. Das Problem der Hierarchisierung des Menschen gegenüber der Natur, wie es im Anthropozentrismus eingeschrieben ist, wird dann im Ergebnis nicht umgangen. (2) Nichtsdestotrotz lösen die konkreten Rechte der Natur die jeweiligen Rechtsträger aus den Eigentumsbeziehungen heraus, wandern diese doch von der Seite der res auf die der persona. Insofern kann man sagen, dass sie 14 

Wenn Serres fragt, was man der Natur zurückerstatten muss, „die uns Geburt und Leben schenkt“, dann lautet seine Antwort: „die Totalität unseres Wesens, die Vernunft selbst“ (Serres 1994, 150). Insofern folgt der Naturvertrag auch bei ihm aus dem Vernunftprinzip.

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dem menschlichen Zugriff entzogen werden. Es stellt sich also nach wie vor die Frage, ob diese neuen Ding-Rechte ein Gegenrecht gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse darstellen, indem die Ausbeutungsstruktur an sich angegriffen wird. Wenn man mit Serres aber auf die Struktur und Entwicklung des Eigentums abstellt, kann man an dieser These starke Zweifel anmelden. In seinem Essay Das eigentliche Übel setzt er – in ehrwürdiger philosophischer Tradition – an der Frage der Eigentumsbegründung an. Wie der deutsche Untertitel „Verschmutzen, um sich anzueignen?“ schon zeigt, geht Serres dabei von einem konstitutiven Zusammenhang von Eigentum und Schmutz aus. In Abwandlung der Rousseau’schen Ursprungserzählung gilt: Der Erste, der sein Revier mit Urin markiert, der seinen Acker mit Mist düngt, der die Jungfrau mit Sperma befleckt oder den Boden durch die Leichen seiner Vorfahren kennzeichnet und damit diese Orte für Andere unbewohnbar macht, ist der Begründer des Eigentums. Demzufolge konstatiert Serres: „(D)as Eigene wird erlangt und bewahrt durch das Schmutzige. Besser: das Eigene ist das Schmutzige.“ (Serres 2009, 9, H. i. O.) Aufgrund dieses instrinsischen Zusammenhangs stellt die Umweltverschmutzung keinen Missbrauch des Eigentums dar, sondern ist ihr letztlich immanent: „Die Verschmutzung kommt von der Aneignung und umgekehrt.“ (ibid., 69) Daher setzt Serres am Eigentum an, um der Zerstörung der Erde entgegenzuwirken. Neben dieser Umdefinition der Grundlagen des Eigentums stellt er aber zugleich eine Entwicklung fest, einen Übergang von der harten Verschmutzung durch Exkremente zur weichen Verschmutzung durch Zeichen: „die Bilder oder die Schrift-, logo- und Zeichentsunamis, mit denen die Werbung nunmehr den bäuerlichen und bürgerlichen, öffentlichen, natürlichen und ländlichen Raum überschwemmt“ (ibid., 46sq.). Das bewirkt letztlich einen Strukturwandel des Eigentums. Nicht nur der „Referenzwert des Eigentums“ geht vom „Harten – der Ackerkrume, dem Grab, den Leichnam […] – zum Weichen über: eine einfache Unterschrift auf dem Papier“ (ibid., 29). Auch verliert das Eigentum am Harten seine Relevanz: Die großen Unternehmen entledigen sich „ihres harten Eigentums […], komplexe Maschinen, uneinnehmbare Mauern, schwere und platzeinnehmende Produktionsmittel“, sie verlassen ihre Orte und behalten „nur ihr Logo, ihren Namen, ihre Marke, ihre Fahne, ihre Farben, ihre Zeichen, ihre Werbung“ (ibid.). Lässt man die Dynamik einmal außer Acht, die sich nach Serres zwischen der harten und der weichen Verschmutzung entfaltet und zu einer Ausbreitung ins Globale und bis in die Seele führt (cf. ibid., 64), so kann man den von ihm angedeuteten Strukturwandel des Eigentums auch im Recht erkennen: Die rechtlichen Dingverhältnisse ändern sich nicht nur auf der Ebene des Rechtssubjekts,

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sondern sie wandeln sich ebenso auf der Ebene der res, der Rechtsobjekte. Es entstehen zunehmend neue Eigentumsformen (bzw. eigentumsähnliche Handlungsrechte), womit immer neue „Dinge“ den property rights unterfallen. Man denke etwa an die Institutionalisierung, Ausfächerung und Ausweitung der intellectual property rights, aber auch an die Konstruktion der cultural property rights, die Kultur und Kulturhandlungen zu eigentumsfähigen Dingen machen. Man kann aber auch auf die Debatten um Dateneigentum verweisen (cf. hierzu Amstutz 2018). Es verschiebt sich also die Bestimmung dessen, was im und durch das Recht zu einem „Ding“ gemacht wird und damit als Zugriffsobjekt angesehen werden kann (z.B. genetische Daten, Ideen, Marken, Musik etc.). Das Weiche, die Zeichen werden dem Eigentum unterstellt. Dieser Prozess wird von manchen als eine schon im 19. Jahrhundert einsetzende Dematerialisierung (cf. Vandevelde 1980) bzw. Entgrenzung des Eigentums beschrieben (Siegrist 2007). Diese Entwicklung ist in meinen Augen auch nicht periphär zu nennen: Sieben der zehn größten Unternehmen weltweit sind – so Nick Srnicek – nach Marktkapitalisierung Digitalkonzerne (cf. Srnicek 2018, 153). Schätzungen zufolge wird der Anteil der über Rechte an geistigem Eigentum geschützten Güter am internationalen Handel von früher 10–20 % auf zukünftig bis zu 80 % steigen (Nuss 2009, 313). Die copy-right basierte Industrie etwa zählte in den USA um das Jahr 2010 zu dem am schnellsten anwachsenden ökonomischen Sektor. Ausdrücke wie „informationeller Kapitalismus“ (Manuel Castells) oder Plattformkapitalismus (Nick Srincek) versuchen diesen Strukturwandel zu fassen. In gewisser Weise verliert das klassische Sacheigentum, das Ding als körperlicher, abgrenzbarer Gegenstand, an Wichtigkeit und die intellectual property rights werden zur zentralen Rechtsinstitution. Genau dieser Strukturwandel des Eigentums wird von den Befürwortern der Rechte der Natur außer Acht gelassen, wenn sie darin Gegenrechte gegen die kapitalistische Ausbeutungsstruktur sehen. Denn letztlich setzen die Rechte der Natur an der harten Verschmutzung an. Vor so einer vereinseitigten Herangehensweise, die die weichen Formen der Verschmutzung vergisst, warnt Serres jedoch explizit: „Beziehen wir nur die ersteren in unsere Berechnung ein, besteht die Gefahr, das Problem nicht zu lösen.“ (Serres 1994, 69). Das Problem des Eigentums ist also nicht nur eines, das sich auf harte Gegenstände als Naturverhältnis bezieht. Und selbst wenn nach wie vor die Ausbeutung der Naturressourcen für die kapitalistische Produktionsweise zentral ist, treten daneben zunehmend andere Eigentums- und damit Ausbeutungsverhältnisse. Materialität, Gegenständlichkeit und das „Harte“ spielen heute eine andere Rolle und haben eine andere Relevanz. Dann stellt sich aber die Frage, wie Rechte der Natur genau auf diesen Strukturwandel antworten. Vielleicht muss

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man sie sogar als ein Indiz für einen Wandel in der kapitalistischen Struktur interpretieren, da sie die Möglichkeit bieten, etwa über eine Neuverteilung von Verantwortlichkeiten diese Strukturen an die Probleme von Ressourcenknappheit und Umweltzerstörung anzupassen. In diesem Fall fungierten sie aber gerade nicht als ein Gegenrecht gegen kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, gerade weil sie keine Antwort auf neue Ausbeutungsverhältnisse darstellen. V. Dass sich das Recht angesichts der Konfrontation mit den Problemlagen, die mit dem Anthropozän-Konzept adressiert werden, neu sortiert, davon zeugt das Anwachsen der Rechte der Natur. Gerade weil diese Problemlagen im Zusammenhang mit dem Recht Serres schon seit den 1990ern beschäftigen, erweist sich sein Denken hochaktuell. V.a. kann, und muss, man ihn als kritischen Kommentator dieser aktuellen Entwicklung im Recht lesen – auch wenn es in konkreten Situationen aus strategischen Gründen in meinen Augen durchaus Sinn macht, die Rechte der Natur zu fordern oder zu verteidigen. Dabei lassen sich insbesondere zwei Einwände gegen die Hoffnungen, die mit Rechten der Natur verbunden werden, formulieren: Erstens kann man mit Serres bezweifeln, dass der moderne Anthropozentrismus unterwandert wird. Denn das Vorgehen, die Rechte der Natur über bestimmte Wesenseigenschaften zu bestimmen, birgt die Gefahr, das Gegenüber, die ERDE, letztlich wieder in anthropozentristischer Manier zum Verstummen zu bringen – nur diesmal begründet über die Konkurrenz der Rechte. Zweitens stellt sich die Frage, ob man, wenn man über die Zuschreibung des Personenstatus bestimmte Entitäten dem Zugriff des Eigentums entzieht, tatsächlich ein Gegenrecht gegen die kapitalistische Ausbeutungsstruktur formuliert. Das erweist sich nur vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Eigentumsstrukturen plausibel. Und mit Recht verweis Serres darauf, dass sich diese gewandelt haben, es mittlerweile andere Eigentumsformen gibt, die andere Ausbeutungsverhältnisse begründen. Wenn also die Rechte der Natur weder zwangsläufig den Anthropozentrismus unterwandern, noch die Fundamente des Eigentums erschüttern, dann stellt sich die Frage, wie man sie als Soziologin adäquat adressieren kann. Denn trotz allem bewirken sie ja eine Irritation. Serres zwingt einen also, den Blick zu verlagern. Und unter Umständen muss man dann nach etwas ganz anderem in den konkreten Rechten der Natur suchen: beispielsweise nach einem Wandel der modernen Subjektivierungsweise, eine anderweitige

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Autorinnen und Autoren Bedorf, Thomas ist seit 2011 Professor für Praktische Philosophie an der FernUniversität in Hagen. 2015–2017 Präsident der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung. Seit 2019 Sprecher des Forschungsschwerpunkts digitale_ kultur der FernUniversität in Hagen. 2019/20 Fellow am IMéRA – Institut d’Études Avancées der Universität Aix-Marseille. Letzte Publikationen (ed.): Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Frankfurt/M., New York 2016; Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Konzepts, Tübingen, 2. Aufl. 2019; Philosophien der Praxis. Ein Handbuch, Tübingen 2019; Political Phenomenology. Experience, Ontology, Episteme, London, New York 2020. Bühlmann, Vera ist Professorin für Architekturtheorie an der TU Wien, wo sie die Forschungsgruppe Architekturtheorie und Technikphilosophie leitet. Jüngste Publikationen: Ghosts of Transparency – Shadows Cast and Shadows Cast Out, ed. mit S. Savic u. M.R. Doyle, Basel 2019; Mathematics and Information in the Philosophy of Michel Serres, London 2020; Coding as Literacy, ed. mit L. Hovestadt u. V. Moosavi, Basel 2016; “Anthropography and Cosmoliteracy”, in: R. Dolphijn (ed).: Michel Serres and the Crises of the Contemporary, London 2018, pp. 31–50; “Generic Mediality: On the Role of Ciphers and Vicarious Symbols in an Extended Sense of Code-based ‘Alphabeticity’“, in: R. Braidotti, R, Dolphijn (ed.): Philosophy After Nature, Lanham 2017, pp. 31–54. Clausjürgens, Reinhold M. A., studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie an den Universitäten Bielefeld und Hagen. Nach seinem Wechsel in die Industrie arbeitete er mehr als fünfundzwanzig Jahre in verschiedenen leitenden Positionen im In- und Ausland. Zur Zeit ist er als Unternehmensberater und Publizist tätig. Gehring, Petra Dr. phil., seit 2002 Professorin für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt. Neueste Publikationen: Über die Körperkraft von Sprache. Studien zum Sprechakt, Frankfurt/M., New York 2019; Probleme politisierter Kraftsemantik, in: Zeitschrift für Ideengeschichte III/2019, pp. 5–12; Vordigitale und digitale Buchseite – der Text als Raum (mit A. Rapp), in: Technik – Macht – Raum. Das Topologische Manifest im Kontext interdisziplinärer Studien, ed. v. A. Brenneis et al., Heidelberg, New York 2018, pp. 273–284.

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Autorinnen und Autoren

Güsken, Jessica M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft u. Medienästhetik an der FernUniversität in Hagen, wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Das Beispiel im Wissen der Ästhetik”. Neueste Publikationen: „Beispiele geben. Zur Problematik einer unumgänglichen Praxis im Diskurs der Ästhetik (1750–1850)“, in: Rhetorik und Ästhetik der Evidenz, ed. v. O. Kramer et al. Berlin/Boston 2019, pp. 129–154; z.B. Zeitschrift zum Beispiel: Doppelthemenheft „Handgreifliche Beispiele“, ed. v. J. Güsken und P. Risthaus, Münster 2019; „‚Yes, Sir.‘ Konformieren, Verschwinden und Erzählen in B. Travens ‚Das Totenschiff‘“, in: Konformieren. ed. v. J. Güsken et al. Heidelberg 2019, p. 161–182; „Blooming Flowers, Fish in Water, Amphibians, and Apes. Herder’s Environmental Aesthetics of Nature“, in: Texts, Animals, Environments. Zoopoetics and Ecopoetics, ed. v. F. Middelhoff et al. Freiburg, Berlin, Wien 2019, pp. 175–188. Hondl, Kathrin M. A., arbeitet als Kulturredakteurin für SWR2 und den Deutschlandfunk und berichtet als Kulturkorrespondentin aus Frankreich. Moderatorin u.a. der Sendungen „SWR2 Am Morgen“ und „Dlf Kultur heute“. Krämer, Sybille bis April 2018 Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin; seit März 2019 Gastprofessorin an der Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ästhetik u. Kultur digitaler Medien. Gastprofessuren an Universitäten in Tokyo, Yale, Wien, Graz, Zürich, Luzern. Dr. h.c. Universität Linköping/ Schweden. Neuere Bücher: Media, Messenger, Transmission. An Approach to Media Philosophy, Amsterdam 2015; Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie, Frankfurt 2016. Ed. mit Chr. Ljungberg: Thinking with Diagrams – The Semiotic Basis of Human Cognition, Boston/ Berlin 2016; ed mit S. Schmidt: Zeugen in der Kunst, Paderborn 2016; ed. mit S. Schmidt u. J. Schülein: Philosophie der Zeugenschaft. Eine Anthologie, Münster 2017; ed. mit S. Weigel: Testimony/Bearing Witness. Epistemology, Ethics, History, Culture, London 2017. Mercier, Lucie Kim-Chi PhD, is a Postdoctoral Researcher visiting the Program for Critical Theory (UC Berkeley) and the Department of Philosophy of Université Paris 8 (2020– 2022). She holds a PhD in Philosophy from the Centre for Research in Modern European Philosophy (CRMEP), Kingston University, London, where she was also appointed as a Research Fellow and Lecturer (2016–2019). She is a member

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of the “Radical Philosophy” editorial collective. Her recent publications on Michel Serres’ philosophy include “Michel Serres’s Leibnizian Structuralism” Angelaki 24, 6, 2019, pp. 3–21; “Mathematical Anamneses“, in: R. Dolphijn (ed.): Michel Serres and the Crises of the Contemporary, London, New York 2019, pp. 51–70. Ross, Bill Dr. phil. Commissioning Editor Clinamen Press 1999–2008. PhD Staffordshire University 2018. Publications: (ed.) Gaston Bachelard, The Dialectic of Duration, London 2016; ed. and trans. with David Webb: Michel Serres, The Birth of Physics, London 2018; „Overview of Michel Serres The Birth of Physics“, in: Parrhesia 27, 2017, Melbourne. Röttgers, Kurt Dr. phil., bis 2009 Professor für Philosophie an der FernUniversität in Hagen, Ehrenmitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Neueste Publikationen: Identität als Ereignis (2016); Eine modaltheoretische Interpretation von Allmacht, in: Wortmacht/Machtwort, ed. v. Ph. Stoellger et al. Würzburg 2017, p. 391–416; Macht im Medium, in: Macht: Denken. ed. v. K. Felgenhauer et al. Bielefeld 2018, p. 61–74; Plurale Sozio-Ontologie und Staat: Jean-Luc Nancy, Baden-Baden 2018; Hand-Werk, in: Hände, ed. v. P. Gehring, K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2019, p. 9–26; Anarchische Praxis im Medium, in: Internationales Jb. f. Medienphilosophie 5, 2019, pp. 53–60. Schweitzer, Doris Dr. phil. Ass. jur., zuletzt Vertretung der Professur für Soziologie, insbes. Politische Soziologie an der Universität Erfurt. Neueste Publikationen: Rechtssoziologie versus „Recht in der Soziologie“. Anmerkungen zum Verhältnis von Rechtswissenschaft und Soziologie aus soziologiegeschichtlicher Perspektive, in: juridikum. Zeitschrift für Kritik, Recht, Gesellschaft 2, 2018, pp. 211–222; Die Subjektwerdungen der juristischen Person. Subjektivierungstheoretische Überlegungen zur rechtlichen Personalisierung von Kollektiven, in: Jenseits der Person. Zur Subjektivierung kollektiver Subjekte, ed. v. U. Bröckling et al., Bielefeld 2018, pp. 175–193; Die digitale Person: Subjektkonstruktionen im ‚Recht auf Vergessenwerden‘, in: ÖZS – Österreichische Zs. f. Soziologie 3, 2017, pp. 237–257. Webb, David is Professor of Philosophy at Staffordshire University. His recent publications include: “The Virtue of Sensibility”, in: R. Dolphijn (ed): A World is Born Here:

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Thinking the Contemporary with Michel Serres, London 2018; “Causality and Law in Lucretius and Contemporary Cosmology”, in: Contemporary Encounters with Ancient Metaphysics, J. Greenstine, R. Johnson (eds.), Edinburgh 2017; “Temporal Discontinuity and the Image in Bachelard’s Philosophy of Science”, Kairos 2016; Foucault’s Archaeology: Science and Transformation, Edinburgh: Edinburgh 2012. He is the Co-editor of Material Futures, a book series at Bloomsbury Press dedicated to the work of Michel Serres.