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German Pages 249 [252] Year 2018
Kim Meyer Das konspirologische Denken
Kim Meyer
Das konspirologische
Denken
Zur gesellschaftlichen Dekonstruktion der Wirklichkeit
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Erste Auflage 2018 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2018 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-139-7 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
»Was wir bis auf den letzten Grund deutlich durchschauen, zeigt uns eben damit die Grenze seines Reizes« Georg Simmel
Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen von Integration«.
Inhalt
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kritik und Paranoia . . . . . . . . . . . . .
14 14 23 30 34
1.1 Die Stimmung: Der Schein der Oberfläche . . . 1.2 Die Institution: Der hermeneutische Widerspruch . 1.3 Die Kritik: Dekonstruktion und Konspirologie . . Exkurs: Über das Gerücht . . . . . . . . . . .
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2. Stigmata . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Das Stigma der Verschwörungstheorien . . . . . 2.2 Das Stigma der Kultursoziologie. Methodologische Bemerkungen . . . . . . . .
45 45 55
3. Zum Stand der Forschung . . . . . . . . . .
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3.1 »Hass« und »Dummheit«, »stimmt das«? Fünfzehn Thesen . . . . . . . . . . . . . .
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4. Wahrheit und Wirklichkeit . . . . . . . . . . 4.1 Wahrheit und Alltag: Ungefähres . . . Exkurs: Über die Lüge . . . . . . . . 4.2 Wahrheit und Macht: Transparenz . . 4.3 Wirklichkeit und Imaginäres: Ansichten Exkurs: Die drei Tage des Condor . . . .
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5. Der Dritte, das Geheimnis und der Verdacht . . . 5.1 Einsam – Zweisam . . . . . . 5.2 Der Dritte . . . . . . . . . . 5.3 Koalition – Intrige – Verschwörung 5.4 Geheimnis und Nichtwissen . . . Exkurs: Über die Spionage . . . . .
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82 83 93 97 103 113 120 121 124 129 131 138
6. Was ist der Fall und wer steckt dahinter? Über Dämonen, Verschwörer und Bürokraten . . 6.1 Das dämonlogische Denken . . . . . . . . . . 6.2 Das vergiftete Wasser: Verunreinigungsängte um 1321 6.3 Das konspirologische Denken . . . . . . . . . Exkurs: Über Mind-Control und Mentizid . . . . . . 6.4 Die bürokratische Herrschaft und das konspirologische Denken . . . . . . . . .
7. Das konspirologische Narrativ . . . . . . . . 7.1 Die Verstrickung . . . . . . . . . . 7.2 Die Erzählkultur . . . . . . . . . . 7.3 Die Enthüllungsmärkte . . . . . . . . 7.4 Das Narrativ: Argumentation und trigger .
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8. Das konspirologische Bild
. . . . . . . . . . 8.1 Die Fotografie und das Reale: Eine Scheinbeziehung 8.2 Blow-up-Beweise und konspirologisches Sfumato: Kennedy und der 11. September 2001 . . . . . . Exkurs: Über das Bild in den sozialen Medien . . . .
9. Schlussbetrachtungen
147 148 153 157 169 173 179 179 183 192 197 203 203 208 215
. . . . . . . . . . . . 9.1 Dissonanz: Über die Angst, (nicht) beobachtet zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Konstanz: Postfaktisch und preängstlich . . . . .
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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dank Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich am 28. März 2017 erfolgreich an der Universität Konstanz verteidigt habe. Ich danke meinen Betreuern und Referenten, Prof. Dr. Bernhard Giesen und Prof. Dr. Albrecht Koschorke, sowie dem Prüfungsvorsitzenden Prof. Dr. Christian Meyer für die interessante und kurzweilige Diskussion, mit der diese Arbeit ihren würdigen Abschluss fand. Eine abgeschlossene Dissertation ist keineswegs das Produkt eines einzelnen Autors. Vielmehr verdankt sie sich der Unterstützung einer klein angelegten Verschwörung – auch wenn alle inhaltlichen Lücken und Schwächen allein meiner Verantwortung unterliegen. Mein Doktorvater Bernhard Giesen hat mich bereits früh im Studium gefördert. Über all die Jahre hat er mir stets sein Vertrauen geschenkt. Ohne ihn wäre diese Arbeit niemals entstanden. Ich schätze seine Loyalität, seine kultursoziologische Schule und die Zeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl sehr. Aber nicht nur soziologisch, auch persönlich bin ich ihm sehr verbunden. Seine Meinung hat nach wie vor großes Gewicht. Ihm gilt mein allergrößter Dank. Die intensiven Gespräche und Diskussionen mit Fred Ritzhaupt haben mich ebenfalls sehr geprägt. Vor seinem theologischen Wissen, seinem Charisma und seiner ruhigen Art ziehe ich meinen Hut – und schweige, denn auch das hat er mich gelehrt. Auch Doris Heimann habe ich viel zu verdanken. Sie hat mich zur richtigen Zeit mit den richtigen Fragen und Beobachtungen herausgefordert. Albrecht Koschorke und Alexander Zons bin ich sehr dankbar für die Zeit als Stipendiat am Konstanzer Graduiertenkolleg Das Reale in der Kultur der Moderne. Sowohl die ehemaligen Mitarbeiter und Gäste des Lehrstuhls Giesen als auch des Graduiertenkollegs haben mir mit vielen klugen Anregungen weitergeholfen – allen voran Kay Junge, Valentin Rauer, Christoph Schneider, Gerold Gerber, Robert Seyfert, Nils Meise und Yasemin Soytemel. Dem Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz möchte ich genauso wie dem Exzellenzcluster Kulturelle Grundlagen von Integration dafür danken, meinen Weg zur abgeschlossenen Dissertation finanziell unterstützt zu haben. Für die Möglichkeit, das Buch bei Velbrück Wissenschaft zu veröffentlichen, möchte ich Verlagsleiterin Marietta Thien ein herzliches Dankeschön aussprechen. In tiefster Dankbarkeit verneige ich mich vor meinen Freunden. Es ist das Mindeste, was ich tun kann. Sie haben mich nicht nur stets unterstützt, sondern auch abgelenkt. Dass sich darunter einige äußerst 9
DAS KONSPIROLOGISCHE DENKEN
talentierte Kultursoziologen befinden, ist ein offenes Geheimnis: Werner Binder, Amine Daoud, Jeremias Erhard, Claude Feiereisen, Marco Gerster, Thorsten Görn, Steve Halsdorf, Florian Höschele, Francis Le Maitre, Yolanda Rentsch, Dimos Sakizlis, Yves Sand, Wolfgang Schaffarzyk und Veronika Zink. Bedanken möchte ich mich auch bei meiner gesamten Familie: für ihre Anteilnahme, ihren Zuspruch und ihre Solidarität. Auch Alpha werde ich nie vergessen. Zu guter Letzt danke ich den beiden Frauen in meinem Leben: meiner Partnerin Natascha und meiner Tochter Mila. Nicht einmal ansatzweise könnte mir das mit Worten gelingen. Deswegen widme ich ihnen diese Arbeit. Denn nur dank ihnen und mit ihnen konnte sie vollendet werden. Kim Claude Meyer, Bad Mondorf, im Dezember 2017
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Vorbemerkung Das konspirologische Denken handelt von ›Verschwörungstheorien‹. Es geht um Erzählungen, deren Plot die Diskrepanz zwischen Schein und Realität, zwischen Oberfläche und Wahrheit thematisiert. Wissenschaftlich brauchbare Studien zu diesem Thema sind weitestgehend inexistent. Dagegen gibt es eine Fülle an populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die das Thema ›Verschwörungstheorien‹ weder wertneutral angehen noch in ihrer ganzen kulturellen Komplexität erfassen. In genau diese Lücke versucht die vorliegende Arbeit vorzudringen. Der Aufbau mag auf den ersten Blick überraschen. Weder findet man eine vollständige Aufzählung der ›üblichen Verdächtigen‹ von Erzählungen, die als ›verschwörungstheoretisch‹ gelabelt werden, noch eine Bewertung ihres jeweiligen Wahrheitsgehaltes. Gerade dieses sozialwissenschaftliche Grundgesetz wird vom bisherigen Kanon an Veröffentlichungen größtenteils ignoriert – so auch in den beiden rezenten und durchaus mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden Studien Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft von Karl Hepfer (2015) und Complosphère von Raphaël Josset (2016; Kap. 2 und 3). Kultursoziologisch muss die Frage nach dem Status der Realität konstruktivistisch gehandhabt werden. Nackte Fakten existieren nicht. ›Wahrheit‹ muss erzählt und performativ aufgeführt werden (Kap. 4.3). Unsere Forschungsperspektive folgt somit der Logik des Thomas-Theorems: Als real ist zunächst einmal dasjenige einzustufen, was von den handelnden Akteuren auch als real definiert wird. Verschwörungstheoretische Erzählungen – also Erzählungen, die dem Schein der Oberfläche misstrauen und dahinter ein konspiratives Treiben vermuten – müssen in zwei größere kulturelle Strömungen unterteilt werden. Dies versuchen wir mit der Unterscheidung zwischen dämonologischem und konspirologischem Denken zu fassen. Mit Blick auf die eigene Sozialstruktur argumentieren dämonologische Verschwörungstheorien zentrifugal, das heißt nach außen: Es sind die Dämonen und sozial Schwachen, die Außenseiter und Ausländer, die Obdachlosen und Flüchtlinge, die Andersgläubigen und Andersaussehenden, die im Verdacht stehen. Historisch lassen sich Quellen zu dämonologischen Verschwörungstheorien weit zurückverfolgen (Kap. 6.1 und 6.2). Das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt auf dem konspirologischen Denken. Hier richtet sich der Verdacht zentripetal gegen die eigenen Institutionen. Mit der Diskreditierung politischer Geheimnisse gerät die Performativität liberaler Demokratien in Verruf (Kap. 6.3). Dies lässt zugleich den »hermeneutischen Widerspruch« (Boltanski 2010) zum expliziten Thema öffentlicher Diskussionen werden: Handeln die 11
DAS KONSPIROLOGISCHE DENKEN
institutionellen Repräsentanten tatsächlich zum Wohle aller (Kap. 1.2)? Seit der Digitalisierung der Medienlandschaft, so eine unserer Thesen, kann förmlich von einer konspirologischen Stimmung gesprochen werden. Das konspirologische Denken sollte jedoch weder politisch noch sozialstrukturell voreilig eingegrenzt werden. Kritik am Establishment ist nicht der zwangsläufige Ausdruck extremistischer Weltanschauungen oder das notgedrungene Produkt sozial prekärer Lagen. Auch eine – in der bisherigen Forschungsliteratur gerne proklamierte – Pathologisierung ist kulturwissenschaftlich weder halt- noch fruchtbar. Sicherlich: Populistische Reden argumentieren zumeist mit einer Mischung aus dämonologischen Ängsten und konspirologischen Schuldzuweisungen. So konnte die AfD mithilfe von derartigen Parolen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt im März 2016 als große Gewinnerin hervorgehen. Gleiches gilt für Donald Trump. Eine ausschließliche Fokussierung auf die politischen Ränder würde die Alltäglichkeit des konspirologischen Denkens außer Acht lassen, das heißt, das Thema sozialdemographisch beschnitten erforschen. Als Beispiel hierfür sei eine kurze Anekdote aus dem Frühjahr 2016 erwähnt: Begeben wir uns in die Räumlichkeiten einer kleinen, renommierten Universität im Süden Deutschlands. Wir befinden uns im Seminar eines interdisziplinären – aber rein geisteswissenschaftlichen – Graduiertenkollegs. Thema der Stunde: »Big Data«. Es fehlt das Fachwissen eines Informatikers. Vielleicht herrscht deswegen sehr schnell Konsens zwischen den Seminarteilnehmern in Bezug auf die Beurteilung des Themas. Big Data sei gefährlich. Big Data bedrohe die Position des Intellektuellen. Es gelte, so der allgemeine Tenor, sich zur Wehr zu setzen: gegen den Vormarsch der digitalen Beobachtung und algorithmischen Auswertung, gegen den Siegeszug der Maschinen und Technokraten. Während digitale Konzerne institutionell gefördert oder gar in die politischen Entscheidungsinstanzen eingebunden würden, würde die Meinung des geisteswissenschaftlich geschulten Intellektuellen an die Peripherie des öffentlichen Einflussbereiches verdrängt. Wertneutral betrachtet ist eine derartige Argumentation konspirologisch. Wohlgemerkt: Die Diskussion fand zwischen Professoren und promovierenden Studierenden in einem universitären Raum statt – und eben nicht zwischen Usern eines den politischen Rändern zugehörigen Internetportals. ›Verschwörungstheoretisches‹ verbirgt sich nicht nur hinter klischeebehafteten Plots – wie beispielsweise dem geheimen Wirken der Illuminaten –, sondern auch in vermeintlich ›realistischeren‹, unscheinbareren Erzählungen wie jener über den Tod des Intellektuellen. Die Befreiung aus der von der Wissenschaft und Populärkultur geförderten Engführung an fokussierten Themengebieten, wenn es um 12
VORBEMERKUNG
verschwörungstheoretisches Denken geht, ist Thema der vorliegenden Arbeit.1 Unser Forschungsschwerpunkt liegt dabei auf der nach innen gerichteten konspirologischen Kritik. Dieses Ziel wäre erreicht, wenn weitere Veröffentlichungen zu Verschwörungstheorien sowohl die Unterscheidung zwischen dämonologischem und konspirologischem Denken als auch deren theoretische Grunddefinitionen übernehmen. Dies bedingt jedoch zugleich einen der Hauptkritikpunkte: Die Studie mag für den ein oder anderen Leser zu ›erzählerisch‹, bisweilen gar zu ›essayistisch‹ daherkommen. Längere theoretische Auseinandersetzungen über »das Geheimnis« und »das Imaginäre«, über »den Dritten« und »die Koalition«, über »Transparenz« und »Bürokratien« sollen dafür sorgen, dass die Verwendung dieser Begriffe nicht einfach – wie in den meisten Studien – untertheoretisiert und alltagssprachlich geschieht. Die Methodik dahinter folgt einer langen soziologischen Tradition, die im deutschsprachigen Raum etwas in Vergessenheit geraten ist: Sie folgt dem Geist der impressionistischen Soziologie Georg Simmels.
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Einfachheitshalber werden wir des Öfteren dämonologisches und konspirologisches Denken unter dem Begriff des verschwörungstheoretischen Denkens zusammenfassen, ohne ständig Anführungszeichen zu verwenden. Dabei distanzieren wir uns von der alltäglichen normativen Verwendung des Begriffes (Kap. 2.1).
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1. Kritik und Paranoia »Damit sich dir die Augen öffnen und du siehst, dass ich die Wahrheit sage, tu mir die Liebe, Sancho, steig auf deinen Esel und folge ihnen unauffällig, dann wirst du sehen, sobald sie ein paar Schritte fort sind, verwandeln sie sich abermals in das, was sie zuvor gewesen, sind nicht länger Hammel, sondern die echten Recken, die ich dir beschrieben habe«
(Cervantes 2008: 168)
1.1 Die Stimmung: Der Schein der Oberfläche Ursprünglich sollte dieses Buch eine Arbeit über das Gerücht werden. Der erste, provisorische und etwas zu normativ geratene Titel lautete: Ereignis und epidemische Kommunikation. Eine Soziologie des Gerüchts. Der empirische Fokus sollte sich auf die Gerüchtekommunikation rund um die Ereignisse des 11. Septembers 2001 richten. Der gängigen – aber paradoxen1 – Vorgehensweise geisteswissenschaftlicher Forschung an deutschen Universitäten folgend, wurde im Anfangsstadium folgende These formuliert: Gerüchte sind nicht als eine zu behebende Störung des Kommunikationsprozesses zu betrachten, sondern eine Art notwendiger Parasit – im Sinne Michel Serres (1987) –, der den kommunikativen Prozess gerade vor einem Stillstand bewahrt. Aus einer derartigen konstruktivistischen Perspektive wäre es weniger darum gegangen, Gerüchte normativ als einen Verzerrungseffekt sozialer Wirklichkeit und Wahrheit zu betrachten, sondern vielmehr als die erstmögliche Maßnahme, um die Irritation der alltäglichen Ordnung und das Versagen bekannter und gängiger Signifikanten peu à peu kommunikativ wieder anschlussfähig zu machen. Gerüchte wären demnach dort von besonderer Bedeutung, wo die offiziellen Informationskanäle versagen, die Wirklichkeit fragwürdig wird, wo das Reale für ein spontanes Weltverhalten – the world taken as granted (Alfred Schütz) – nicht mehr auf eine unproblematische Weise gegeben zu sein scheint. So schlüssig und mehr oder weniger originell diese ganz in der Tradition von Tamotsu Shibutani (1966) stehende These auch klingen mag, es kam nie zu ihrer Vollendung. Wieso? Bereits in der Anfangsphase 1
Zum typischen Verfahren einer Promotion gehört dazu – sofern man eine Finanzierung will –, dass eine knackige, irgendwie neuartige und im besten Fall revolutionäre These bereits im Exposé, also vor dem eigentlichen Forschungsprozess, formuliert werden muss.
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DIE STIMMUNG: DER SCHEIN DER OBERFLÄCHE
der Dissertation wurde der Entschluss getroffen, sich in einem größeren Kapitel dem Thema der Verschwörungstheorien zuzuwenden. Diese Entscheidung lag aus mehreren Gründen auf der Hand. Dass Gerüchte über historisch brisante politische Ereignisse nicht von einem konspirationstheoretischen Diskurs zu entkoppeln sind, zeigten bereits die wenigen klassischen wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema, die nicht explizit zwischen Gerücht und Verschwörungstheorie unterscheiden (zum Beispiel Morin 1968, Graus 1987, Ginzburg 2005, Fine/Ellis 2010). Betrachtet man Verschwörungstheorien als Gegen-Narrative zu einer offiziellen Geschichte, dann scheinen sie zudem besonders dafür geeignet, um unsichere, aber brisante Informationen aufzusaugen und in ihren Plot zu integrieren. Vereinfacht gesagt: Verschwörungstheorien konservieren die ansonsten sehr flüchtigen Gerüchte. Bei der ersten Sichtung des empirischen Materials zeigte sich jedoch sehr deutlich, dass die Bedeutung eines ›reinen‹ Gerüchts – definiert als eine offiziell (noch) nicht bestätigte Information – weit weniger von Bedeutung für den Wirklichkeitsbezug eines krisenhaften Ereignisses ist, als das, was an dieser Stelle mit dem Begriff des konspirologischen Denkens zu fassen versucht wird. Aus einem längeren Kapitel über das Wuchern konspirationstheoretischer Diskurse rund um die Ereignisse des 11. Septembers ist eine eigenständige Arbeit über Verschwörungstheorien geworden. Mit der Sichtung des theoretischen und empirischen Materials wurde mit der Zeit immer deutlicher, dass eine Diskrepanz zwischen beiden besteht: Einerseits gab (und gibt) es einen wissenschaftlichen, normativ aufgeladenen Diskurs, der das konspirationstheoretische Denken sowohl den politischen Rändern als auch dem Bereich der Paranoia zuordnet (klassisch hierfür: Hofstadter 1996[1964]), andererseits fand (und findet) sich empirisches Material, das sich dieser subkulturellen und pathologisierenden Engführung verweigert. Wie sollte die These von den Verschwörungstheorien als das Querdenken von paranoischen Nerds und politischen Extremisten aufrecht erhalten werden, wenn zum Jahrestag der Anschläge vom 11. September von den öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland konspirologische Dokumentationen ausgestrahlt werden; wenn einem als Autor einer wissenschaftlichen Studie, die sich aus einem bestimmten Blickwinkel auch mit 9/11 auseinandersetzt, von Bekannten, die zwar keine Wissenschaftler, aber – so wenigstens die Einschätzung des Autors – auch keine klinischen Paranoiker sind, Dokumente mit ›brisanten‹, ›realen‹, aber der Öffentlichkeit ›vorenthaltenen‹ Details und Fakten übermittelt werden;2 wenn in den Medien und der 2
Hierzu eine kurze Anekdote: Als ich einem Bekannten erzählte, dass ich gerade ein Exposé für eine Promotion, die sich mit Gerüchten und dem 11. September 2001 auseinandersetzt, vorbereite, übersandte er mir kurze Zeit
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KRITIK UND PARANOIA
Öffentlichkeit die Finanzkrise mit dem verborgenen und verantwortungslosen Wirken einiger Spekulanten in Verbindung gebracht wird (Stichwort: Goldman Sachs); wenn die Entstehung dieser Arbeit genau in eine Zeit fällt, in der Intransparenz im zivilgesellschaftlichen Diskurs als Schleier angeprangert wird, hinter dem lautstark das Wirken eigennütziger und somit gegen das Allgemeinwohl gerichteter Interessen vermutet werden darf (Stichwort: Piratenpartei); wenn die Enthüllungen Edward Snowdens im Sommer 2013 eine globale Überwachungs- und Spionageaffäre auslösten, welche die gängigen Freund/ Feind-Unterscheidungen unterminiert (Stichwort: Merkels Handy); wenn »Big Data« zum kulturwissenschaftlich heiß diskutierten Problemfall wird; wenn Magazine, Zeitungen und Zeitschriften aus dem Mainstream-Bereich in regelmäßigen Abständen Leitartikel über die ›zwielichtigen‹, ›verborgenen‹ Aktivitäten und ›realen‹ Intentionen von Weltkonzernen wie Apple, Facebook und Google bringen; wenn Ende 2014 in der sogenannten ›Luxembourg Leaks Steueraffäre‹ Dokumente veröffentlicht wurden, die den Einfluss von PricewaterhouseCoopers-Mitarbeitern auf die Entscheidungsstrukturen einer ganzen Regierung offenlegten? Ein Beispiel für Letzteres: Auf www.icij.org, der Online-Plattform, welche die Dokumente leakte (Abb. 1), heißt es über die in der Grauzone der Legalität stattfindende Zusammenarbeit: »PwC sells Luxembourg as a place with ›flexible and welcoming authorities‹ who are ›easily contactable‹ and offer a ›quick decision-making process‹«. Die Affäre wurde von allen bekannten Medien in der gleichen konspirologischen Rhetorik rezipiert. Kurzum: In Bezug auf die aktuellen öffentlichen Debatten erwies sich der Stand der Forschung über Verschwörungstheorien als veraltet. Eine erste Sichtung der Empirie ergab: Verschwörungstheorien sind keine paranoische Randphänomene, sondern kritischer Mainstream. Systemtheoretisch gesprochen geht es im konspirologischen Denken um die Verflüssigung der Grenzen zwischen Politik und Wirtschaft, zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Auch in intellektuellen Kreisen häuften sich die kritischen Stimmen. Wenige Monate nach den Enthüllungen Edward Snowdens veröffentlichte der amerikanische später ein Postpaket mit einem Werk von David Ray Griffin und verschiedenen Dokumenten aus dem Internet mit der Nachricht, dass mich dies als Wissenschaftler doch bestimmt interessieren müsste. Dabei ging es ihm nicht darum, mir Beispiele für Verschwörungstheorien zu liefern. Ganz im Gegenteil, davon hatte ja selbst ich noch nicht einmal geredet. Er machte einfach den Zusammenhang »Wissenschaftler – 9/11 – brisante und der Öffentlichkeit verschwiegene Fakten«. Es ging ihm um den realen Ablauf der Ereignisse. Und er nahm an, dass ich als Wissenschaftler, der bereits aus beruflichen Gründen im Dienste der Wahrheit steht, derartige Neuigkeiten schlichtweg nicht ignorieren könne.
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DIE STIMMUNG: DER SCHEIN DER OBERFLÄCHE
(Abb. 1) Eine der 548 veröffentlichten Steuervereinbarungen der Luxembourg Leaks-Affäre (Quelle: www.icij.org)
Schriftsteller T. C. Boyle folgende Zeilen: »Während wir schliefen, haben die Maschinen die Welt übernommen, genau wie es die alten Science-Fiction-Filme voraussagten. Regierungen bauen und betreiben die Maschinen, und die Maschinen sammeln Daten, die immer missbraucht werden. Man kann nicht in die Öffentlichkeit gehen, ohne gefilmt zu werden, kann keine Website besuchen, ohne verfolgt zu werden, kann nicht zum Abendessen in ein Restaurant gehen, ohne dass der Aufenthalt dort markiert wird. Es gibt kein Rückzugsgebiet mehr« (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 30. März 2014). Nicht nur T. C. Boyle, sondern viele andere Schriftsteller bezogen in einem ähnlichen Ton Stellung zu den veröffentlichten Dokumenten Snowdens. Im konspirologischen Denken haben sich nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch Regierung und Technik zusammen verschworen. Die manipulierenden Hände der Strippenzieher haben sich verdinglicht: in Drohnen, Handys, Kameras, Satelliten, Servern. Doch die Szenarien, die, in diesem Fall von T. C. Boyle, gezeichnet werden, 17
KRITIK UND PARANOIA
sind weit davon entfernt, Fiktion darzustellen. Sie erheben Anspruch auf Realität. Sie kritisieren die digitalen Entwicklungen. Es handelt sich dabei nicht um Verschwörungsfiktionen, sondern um eine konspirologische Perspektive auf die soziale Wirklichkeit. »Jedes Gerät, überall, jederzeit«, titulierte Spiegel online am 17. September 2014 einen Artikel über das NSA Spionagesystem Treasuremap. Betrachten wir ein weiteres, einfaches Beispiel, das in den Medien für einige Schlagzeilen sorgte: Im Januar 2014 kaufte Google das Unternehmen Nest Labs, einen Hersteller von Thermostaten und Rauchmeldern, für 3,2 Milliarden Dollar. Die Bekanntmachung der Übernahme zog sofort konspirologisch angehauchte Verdächtigungen nach sich. Am gleichen Tag veröffentlichte Der Spiegel auf seiner Internetplattform einen Leitartikel mit dem Titel »Google will in Ihr Schlafzimmer«. Dabei geht es um die Frage, wieso Google eine verhältnismäßig hohe Summe für einen eher kleinen Thermostat- und Rauchmelderhersteller ausgibt. Als typisches Beispiel für eine Ausprägung des konspirologischen Denkens gilt dieser Artikel, da er zentripetal ausgerichtete Verdächtigungen formuliert, die davon ausgehen, dass die eigentliche Realität hinter der Oberfläche der gegebenen und geäußerten Erscheinungen und Fakten intentional verheimlicht wird: »Nest Labs, Hersteller besonders schicker, smarter Thermostate, hat attraktives Personal: Der Gründer Tony Fadell kam einst von Apple, er war mitverantwortlich für das Design des iPod und des ersten iPhone. Und in Sachen sexy Geräte liegt Google nach wie vor deutlich hinter Apple zurück. […] Doch das ist nur die halbe Wahrheit. […] Nest hat noch etwas anderes anzubieten, das Google schon seit Jahren anstrebt: Daten aus Millionen Haushalten. Nest-Thermostate erfassen eine Vielzahl von Informationen darüber, was in einem Haushalt gerade geschieht. Sie merken sich, wann der Nutzer die Temperatur hochregelt, wann herunter. Dank eingebauter Sensoren für ›Temperatur, Aktivität, Luftfeuchtigkeit und Helligkeit‹ (Nest-Website) kann der Thermostat sogar erraten, wann jemand zu Hause ist, in welchem Raum sich gerade jemand aufhält« (spiegel online, 14. Januar 2014, Hervorhebung K. M.).
Es ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung, ob spiegel online hier die tatsächliche Wahrheit über die Intentionen von Google aufdeckt oder nicht. Von Bedeutung ist hier ausschließlich die typische konspirologische Argumentationsweise: Es geht um die Spannung zwischen halber Wahrheit und ganzer Wahrheit; zwischen sichtbaren Ereignissen mitsamt bekanntgegebenen Intentionen und unterschlagenen, realen Intentionen dahinter; um die Spannung zwischen trügerischer Oberfläche und verborgenen (Ab)Gründen; zwischen körperlosen Institutionen beziehungsweise Unternehmen und menschlichen Repräsentanten und Funktionären; 18
DIE STIMMUNG: DER SCHEIN DER OBERFLÄCHE
zwischen einem proklamierten Handeln im Gemeinwohl und den eigennützigen Interessen eben jener Funktionäre und Repräsentanten. Es geht, wie in der oben angeführten Argumentation von T. C. Boyle, um die technischen Innovationen und deren eigentlichen, realen Zwecke und Profiteure dahinter. Es geht um Gewinner und Verlierer – wobei gerade jene Gewinner unter Verdacht geraten, die offensichtlich und offenkundig ihre Eigeninteressen in den Hintergrund rücken. Da die Gewinner moralisch verurteilt werden, ähnelt die verschwörungstheoretische Frage in gewisser Hinsicht, wie es der Historiker Dieter Groh einmal formuliert hat, der Frage der Theodizee: »why do bad things happen to good people?« (Groh 1992). Dabei geht es aus einer konspirologischen Perspektive nicht mehr um das Unbegreifliche und Unergründliche der Gerechtigkeit Gottes, sondern um das Undurchsichtige und Unerfindliche des Sozialen: Es geht um verheimlichte Übereinkünfte und Koalitionen, um Komplotte und Vertuschungen, um – mit Erving Goffman gesprochen – »Pläne und Täuschungsmanöver« (Goffman 1980: 98 ff.). Der Artikel auf spiegel online sorgte für aufgeregtes Kommentieren: Binnen kurzer Zeit wurden mehr als 400 größtenteils konspirologische Kommentare hochgeladen.3 Konspirologisch zu denken bedeutet, den herrschenden Institutionen und Global Playern zu misstrauen. Das heißt zugleich, dass hinter eigentlich körperlosen Wesen die Existenz und das Wirken einer Gruppe von Akteuren vermutet wird, deren, in den Begriffen Ralf Klausnitzers, »Intentionen und Verabredungen durch spezifische Sekretierungsformen einer (wie auch immer bestimmten) Öffentlichkeit entzogen sind und deren geheim gehaltene Absichten und koordinierte Aktionen auf die Durchsetzung eigener Intentionen (und partiell auch auf den Gewinn von offener und versteckter Dominanz im politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Feld) zielen« (Klausnitzer 2007: 9 f.). Würden wir nun dem Ton der bisherigen Forschungsliteratur über Verschwörungstheorien folgen, dann müssten wir zugleich behaupten: Konspirologisch zu denken bedeutet, politisch extremistisch zu denken beziehungsweise an einer Psychose zu leiden. Genau diesen Schritt versuchen wir in der vorliegenden Arbeit zu vermeiden. Wir werden uns dem Thema werturteilsfrei nähern. In Abgrenzung zur bisherigen Forschungsliteratur gehen wir an dieser Stelle nicht davon aus, dass alle ›Verschwörungstheoretiker‹ zugleich paranoisch sind (Kap. 2). Zwar markierte die Entdeckung der klinischen Paranoia Ende des 19. Jahrhunderts ein Dispositiv, das, bedingt durch die Ähnlichkeiten einiger Charakteristika der sozialen Wirklichkeitsdeutungen, von zentraler Bedeutung in Bezug auf die Bewertung 3
Als sechs Monate später, im Juni 2014, die Google-Tochter Nest Labs die Firma Dropcam, einen Hersteller von Überwachungskameras, übernahm, führte dies zu einer erneuten konspirologischen Empörungswelle, die in dieser zweiten Übernahme ihre ersten Verdächtigungen bestätigt sah.
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KRITIK UND PARANOIA
konspirationstheoretischer Narrative war (und eben noch immer ist). Aus einer distanzierten kultursoziologischen Perspektive würde eine derartige einfache Rückkopplung (Paranoia ↔ Verschwörungstheorie) jedoch zu normativ verfälschten Ergebnissen führen. Eine Verschwörungstheorie wird als ›Verschwörungstheorie‹ gebrandmarkt, nicht weil ihr Plot paranoisch ist, sondern weil sie als solche von einer bestimmten Gruppe bewertet wird (Becker 1973). Damit ist zugleich gesagt, dass wir alle manchmal an die Wahrhaftigkeit – oder wenigstens Wahrscheinlichkeit – von Erzählungen glauben, die – von außen betrachtet – alle Kriterien eines konspirationstheoretischen Plots erfüllen würden. Konspirologisch zu denken bedeutet nicht, das radikale, kranke oder unmögliche Andere zu denken. Es bedeutet, anders zu denken, als institutionell vorgegeben. Man muss kein Don Quijote sein, um ab und an dem Schein der Oberfläche zu misstrauen. T. C. Boyle muss sich also keine Sorgen machen – wenigstens nicht in Bezug auf uns. Denn wir werden ihn wegen seiner oben angeführten Äußerungen nicht einem Feld ›verrückter‹ Verschwörungstheoretiker zuordnen, von denen, aus welchen Gründen auch immer, behauptet wird, sie hätten den ›realistischen‹ Bezug zur sozialen Wirklichkeit verloren. Wir entscheiden an dieser Stelle nicht, welche Wirklichkeitsbezüge als realistisch und welche als verrückt zu gelten haben. In Abgrenzung zur bisherigen Forschungsliteratur (einzige Ausnahme: Boltanski 2010, 2013) nähern wir uns dem Thema zuerst einmal werturteilsfrei; d. h. wir ordnen Verschwörungstheorien nicht per se einem paranoischen Diskurs zu, sondern vorerst einem sozialkritischen. Egal ob ›verrückt‹ oder ›realistisch‹, ›berechtigt‹ oder ›illegitim‹, die Bewertung des Inhaltes ändert nichts daran, dass es sich beim konspirologischen Denken um eine Kritik an der vorherrschenden institutionellen Ordnung handelt. Wie wir versucht haben zu zeigen, steht das bisherige standardisierte wissenschaftliche Forschungstableau für ein verschwörungstheoretisches Denken in Widerspruch zur empirischen Realität. Ist man etwa direkt verrückt oder politisch extremistisch, wenn man Zweifel am offiziellen Narrativ vom 11. September 2001 äußert oder den neusten technischen Geräten misstraut? Viele psychiatrische Studien legen diesen Schluss nahe (beispielsweise Darwin/Neave/Holmes 2011). Wir halten diese Assoziation für einen Schnellschuss und somit für falsch. Denn das, was wir als konspirologisches Denken zu fassen versuchen, ist, so unsere These, eine, wie Maffesoli einmal formulierte, für unsere Zeit und Kultur typische Stimmung (Maffesoli 1987).4 Obwohl Maffesoli nicht ausdrücklich darauf verweist, lässt sein Begriff der Stimmung Rückschlüsse auf Heideggers Daseinsphilosophie 4
Es läge an dieser Stelle nahe, auf den Begriff des »Denkstils« von Ludwik Fleck zurückzugreifen (Fleck 1980). Da Flecks Konzept des Denkstils eher
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DIE STIMMUNG: DER SCHEIN DER OBERFLÄCHE
zu. Das menschliche Dasein ist bei Heidegger seit jeher schon gestimmt; das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Stimmungen umschlagen oder gar verdorben werden können (Heidegger 1984: 134). Erst mittels Stimmung erschließt sich dem Dasein die Welt in ihrem jeweiligen Sosein. Dies gilt nicht nur auf einer individuellen, sondern auch auf einer kulturellen Ebene: »Die Öffentlichkeit als die Seinsart des Man [...] hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und ›macht‹ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner« (Heidegger 1984: 138, Hervorhebung K. M.). Hier ähneln sich Heidegger und Maffesoli in ihrer Argumentation: Es gibt typische kulturelle Stimmungen, welche die Gefühle und Äußerungen, die Sehnsüchte und Ängste des Einzelnen prägen. Daher sprechen wir vom konspirologischen Denken als einer Stimmung.5 Bereits 1979 sprach Jean-François Lyotard in La condition postmoderne von der »Hegemonie der Informatik«, die sich als bestimmende Logik unserer Kultur durchsetzt. Diese Logik findet sich sowohl auf einer Mikro- als auch einer Makroebene wieder. Sie weist Ähnlichkeiten zu der von uns so titulierten konspirologischen Stimmung auf. Anders formuliert: Die »Hegemonie der Informatik« ist eines der Kernthemengebiete des konspirologischen Denkens. Das alte Prinzip, bemerkt Lyotard, welches den Wissenserwerb mit der Bildung des Geistes in Verbindung brachte, sei mehr und mehr im Begriff zu verfallen (Lyotard 2005: 24). Wissen wird konsumierbar, es wird immer weniger soziales und zeitliches Kapital für den Einzelnen von Nöten sein, um an neues – beziehungsweise alternatives – narratives Wissen zu gelangen. Zudem wird sich neben die klassischen geopolitischen Interessen von Staaten der Erwerb von Informationen gesellen: »Das Wissen ist in der Form einer für die Produktionspotenz unentbehrlichen informationellen Ware zunehmend ein bedeutender, ja vielleicht der wichtigste Einsatz im weltweiten Konkurrenzkampf um die Macht. Es ist denkbar, daß die Nationalstaaten in Zukunft ebenso um die Beherrschung von Informationen kämpfen werden, wie sie um die Beherrschung der Territorien
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an Durkheims kollektiven Vorstellungen angelehnt ist und somit impliziert, dass Wissen vom Zentrum auf die Peripherie ausgestrahlt beziehungsweise weitergegeben wird, sprechen wir an dieser Stelle lieber von »Stimmung« – auch scheint es uns, dass Maffesolis Bezeichnung der Stimmung institutionstheoretisch weitaus weniger vorbelastet ist. Zudem scheint Flecks Konzept des Denkstils – im Gegensatz zu leicht zu kippenden Stimmungen – träger und somit beständiger in Bezug auf das eigene Klassifikationssystem: Der Denkstil legt überhaupt erst fest, was als vernünftige Frage und was darauf als wahre und falsche Antwort zu gelten hat. Kommentare darüber, dass Heidegger selbst einer dämonologisch-verschwörungstheoretischen NS-Stimmung verfallen war, ersparen wir uns an dieser Stelle.
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KRITIK UND PARANOIA
und dann um die Verfügung und Ausbeutung der Rohstoffe und billigen Arbeitskräfte einander bekämpft haben« (Lyotard 2005: 26). Kampf und Kommerzialisierung von Informationen werden zu neuen Rechtsproblemen führen. Zur Veranschaulichung formuliert Lyotard folgendes Beispiel: »Nehmen wir zum Beispiel an, eine Firma wie IBM sei berechtigt, einen Streifen im Orbitalfeld der Erde zu besetzen und darauf Kommunikationssatelliten und/oder Datenbanken zu platzieren. Wem werden sie zugänglich sein? Wer wird die verbotenen Daten oder Kanäle definieren? Wird es der Staat sein, oder wird dieser nicht vielmehr ein Benutzer unter anderen sein? Auf diese Weise werden neue Rechtsprobleme gestellt und durch sie die Frage: wer wird wissen?« (Lyotard 2005: 27 f. ).
Lyotard fiktives Exempel aus dem Jahr 1979 liest sich wie ein realer Bericht aus den Jahren seit der Snowden-Affäre. Es geht um die gleichen Fragestellungen und Szenarien, wie sie auch im weiter oben zitierten Spiegel online-Artikel über die Nest Labs-Übernahme durch Google behandelt werden. Im postmodernen Wissen zeichnet sich bereits der Turn hin zum konspirologischen Denken aus. Lyotards Szenario endet nicht umsonst mit der konspirologischen Frage schlechthin: »wer wird wissen?«. Die These, dass das konspirologische Denken eine für unsere kulturellen Gegebenheiten typische Stimmung ist, stimmt mit Lyotards früher Beschreibung der Postmoderne überein. Auch die These, dass sich die Verdächtigungen zunehmend zentripetal gegen hegemoniale Akteure wenden, wird durch Lyotard bestätigt: »Wer entscheidet, was Wissen ist, und wer weiß, was es zu entscheiden gilt? Die Frage des Wissens ist im Zeitalter der Informatik mehr denn je die Frage der Regierung« (Lyotard 2005: 35). Führen wir den Gedanken weiter aus: Wenn die Frage des Wissens im Zeitalter der Informatik tatsächlich mehr denn je die Frage der Regierung ist, dann ist das konspirologische Denken mehr denn je die Antwort der Peripherie. Wenn Wissen Macht bedeutet, savoir-pouvoir in den Worten Bruno Latours, dann ist das konspirologische Denken Ausdruck jener Ängste, die hinter der Oberfläche der Erscheinungen die eigentliche Wahrheit vermuten. Es thematisiert die verheimlichte Wahrheit, welche die Macht der Mächtigen unbemerkt sichert. Mit Kierkegaard formuliert: Die konspirologische Furcht ist Ausdruck einer typischen postmodernen Angst. Sie thematisiert verschleierte Wirkmächtigkeit. Bevor wir uns im nächsten Abschnitt genauer mit der kritischen Ausrichtung des konspirologischen Denkens befassen, ist an dieser Stelle eine Klärung der Verwendung der Begriffe des verschwörungstheoretischen, dämonologischen und konspirologischen Denkens unabding22
DIE INSTITUTION: DER HERMENEUTISCHE WIDERSPRUCH
bar. Verschwörungstheorie wird in unserem Zusammenhang als Oberbegriff verwendet und bedeutet als Minimaldefinition, dass hinter der harmlosen Oberfläche der Erscheinungen verborgene, mächtige und subversive Wesen am Wirken sind. Diese verschwörungstheoretische Perspektive unterteilen wir wiederum in zwei weitere idealtypische Perspektiven: Während das vormoderne dämonologische Denken diesen Verdacht mit einer außerweltlichen Instanz – zumeist dem Teufel – in Verbindung brachte und Außenseiter der Konspiration beschuldigte, richtet das moderne konspirologische Denken die Aufmerksamkeit rein innerweltlich auf die eigenen Institutionen und kulturell integrierten Gruppierungen (Abb. 2). Den Beginn dieses Bruches situieren wir im 18. Jahrhundert (Kap. 6). Der verschwörungstheoretische Blick wechselte hier seine Perspektive von den sozialen Rändern hin zum politischen Zentrum. Alle Forschungen, die Verschwörungstheorien einen atavistischen Stellenwert zuschreiben, verkennen gerade diese Entwicklung. Mehr noch: Sie verkennen, dass das konspirologische Denken seit dem 11. September 2001 mehr denn je zu einer tonangebenden Stimmung geworden ist. Dabei ist weniger das Ereignis an sich ausschlaggebend, als vielmehr die Entwicklungen jenes sozio-technischen Gestells, das Timon Beyes und Claus Pias unter dem Begriff der »Digitalen Kulturen« zu fassen suchen (Beyes/Pias 2014).
1.2 Die Institution: Der hermeneutische Widerspruch »Das Problem mit den Institutionen besteht darin«, bemerkt Luc Boltanski in Soziologie und Sozialkritik, »daß sie so notwendig wie fragil sind, so wohltuend wie betrügerisch« (Boltanski 2010: 131). Diese jeder Institution inhärente Paradoxie bezeichnet er als den »hermeneutischen Widerspruch«. Boltanski geht dabei von einer von der Philosophischen Anthropologie geprägten Institutionentheorie aus: Im Gegensatz zum Tier leide der Mensch an einem Mangel an Instinkten und daher gelte es für ihn, seine sozial-kulturelle Variabilität einzugrenzen, denn, folgt man Arnold Gehlen in Urmensch und Spätkultur, »die Unendlichkeit des bloß Subjektiven hat keine öffentliche Bedeutung und selbst keinen Status« (Gehlen 2004: 23). Es sind demnach die Institutionen, welche die mannigfachen Meinungen Einzelner im Zaum halten. Gehlen verdeutlicht dies am Gedankenspiel eines institutionellen Zusammenbruchs: »Wenn Institutionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, abbröckeln oder bewußt zerstört werden, fällt die […] Verhaltenssicherheit dahin, man wird mit Entscheidungszumutungen gerade da überlastet, wo alles selbstverständlich sein sollte« (Gehlen 2004: 48). Für sozialanthropologisch geprägte Kulturtheorien ist die menschliche Realität ohne institutionelle Dimension nicht denkbar – Friedrich Tenbruck spricht 23
KRITIK UND PARANOIA
(Abb. 2) Verschwörungstheoretische Argumentationen
vom »inneren Realzusammenhang« zwischen Mensch und Gesellschaft (Tenbruck 1986: 175 ff.).6 Jede soziale Situation, die ihren eigenen Ursprung überdauern will, ist auf habitualisierte Handlungen angewiesen. Sobald diese habitualisierten Handlungen reziprok typisiert werden, beginnt der Prozess der Institutionalisierung (Berger/Luckmann 2004: 56 ff.). Institutionen lenken Erwartungen, Handlungen und Deutungen, ohne Rücksicht auf alle theoretisch möglichen Alternativen. »Institutionen definieren und limitieren«, so der Wirtschaftshistoriker Douglass C. North, »den Wahlbereich des einzelnen« (North 1992: 6). Systemtheoretisch gesprochen reduzieren sie Kontingenz. Soziales Mit- und sogar Nebeneinander würde ohne jegliche institutionellen Entlastungsfunktionen an einem dauerhaften und überhitzenden Interpretations- und Kommunikationsbedarf scheitern. Erst eine institutionell abgesicherte Wirklichkeit ist »eine Wirklichkeit, die dem Menschen als äußeres, zwingendes Faktum gegenübersteht« (Berger/Luckmann 2004: 62). Genau hierin liegen die Aspekte der Notwendigkeit und des Wohltuenden begründet, von denen Boltanski spricht. Institutionen garantieren für Beständigkeit und eine Reihe von Regelmäßigkeiten, ohne welche die Bezugnahme auf so etwas wie ›Wirklichkeit‹ gar nicht möglich wäre. Ohne Institutionen würde es höchstens Gewohnheiten geben, die den Handlungsspielraum 6
Allgemein formuliert: Der Mensch benötigt eine regelmäßige Realitätsversicherung durch andere. »Wir können jedenfalls«, so Tenbruck, »grundsätzlich keine Inhalte als real festhalten, für welche uns aus der sozialen Dimension keine Bestätigung wird« (Tenbruck 1986: 182).
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eingrenzen, aber je nach Interaktionspartner variieren würden: Jede Geschichte könnte, ja müsste sogar immer wieder neu erzählt werden. Das von der Philosophischen Anthropologie übernommene Argument, dass Institutionen die Ungewissheit der sozialen Mit- und Umwelt reduzieren und demnach hilfreich bis notwendig sind, sollte einigermaßen deutlich sein. Wenden wir uns den von Boltanski so bezeichneten Aspekten des Betrugs und der Fragilität zu. Hierfür ist es zunächst einmal sinnvoll, dass wir einen Schritt zurückgehen und uns dem Gedankenspiel der Entstehung einer Institution, wie wir es auch bei Berger und Luckmann wiederfinden, zuwenden (Berger/Luckmann 2004: 59 ff.). Dabei betrachten wir, ganz in einer formalsoziologischen Tradition Simmels, den qualitativen Unterschied im Institutionalisierungsprozess mit dem Hinzustoßen eines Dritten (Kap. 5.2). Sobald zwei Menschen (A und B) regelmäßig miteinander interagieren, produzieren sie Habitualisierungen und Typisierungen. Mittels »taking the role of the other« (Mead) sind beide Akteure nach einer gewissen Zeit dazu befähigt, die Erwartungen und Handlungen des Anderen vorauszusehen. Es entsteht eine Routinegewissheit für Handlungsbereiche, die für beide Akteure relevant sind. Mit dem Hinzukommen eines Dritten wird aus diesem Prozess der Habitualisierung eine komplett ausgeformte institutionelle Welt. Fortan kommt die Qualität der Historizität hinzu: »Die gemeinsamen Habitualisierungen und Typisierungen von A und B, die bislang noch den Charakter von ad hoc-Konzeptionen zweier Individuen hatten, sind von nun an historische Institutionen« (Berger/Luckmann 2004: 62). Schließlich würde man dem hinzugestoßenen Dritten im Falle einer Nachfrage nicht den detaillierten Entstehungsprozess einzelner Bereiche der institutionalisierten Welt erläutern, sondern höchstwahrscheinlich mit einem lapidaren »das macht man hier so« antworten. Diese erreichte Historizität ist natürlich eng gekoppelt an die Möglichkeit zur Objektivation: Institutionen bekommen eine eigene Wirklichkeit, sie stehen dem Menschen als etwas Äußeres und Zwingendes gegenüber. Wenn Institutionen als objektive Wirklichkeit erlebt werden, entzieht sich dem Alltagsakteur zugleich ihre konkrete Entstehungsgeschichte.7 Berger und Luckmann sprechen auch von Externalisierung: Der Mensch 7
Siehe Berger/Luckmann: »Da Institutionen objektive Wirklichkeit sind, kann der Einzelne sie nicht durch einsame Selbstbetrachtung begreifen« (Berger/Luckmann 2004: 64), und Arnold Gehlen: »Ganz allgemein erhalten diejenigen ›Vorstellungen‹, die institutionalisiert werden können, von der Realität, der Einseitigkeit und der Sollgeltung dieser Institutionen her ein Superadditum an Geltung, das sie der Möglichkeit des subjektiven Infragestellens enthebt, sie werden dann selbst als obligatorisch empfunden und streifen den Charakter der Subjektivität vollständig ab« (Gehlen 2004: 244).
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produziert eine Welt, die er im Nachhinein nicht mehr als sein eigenes Produkt wahrnimmt. Wir können so langsam erkennen, in welche Richtung Boltanskis Argument steuert: Wo der Mensch hinter den menschlichen Machenschaften in Vergessenheit gerät, eröffnen sich Spielräume für Betrüger und Scharlatane, für Manipulationen und Irreführungen, für Vertuschung und Hinterlist.8 Wenn wir auf Institutionen angewiesen sind, die uns von einer dauerhaften Realitätsexegese und drohenden Ungewissheiten entlasten, dann geht dies nur auf Kosten eines Vertrauenszuschusses – und aus einer kritischen Perspektive betrachtet bedeutet das immer auch: eines potentiellen Vertrauensüberschusses – zugunsten der Repräsentanten der Institutionen. Denn körperlose Wesen, zu denen eben auch Institutionen gehören, sind auf die Repräsentation durch körperhafte Wesen angewiesen – sonst würde ihr Wirkmächtigkeitspotential gegen Null tendieren. Bevor wir dieses Argument weiter vertiefen werden, lassen wir Boltanski kurz den hermeneutischen Widerspruch in eigenen Worten zusammenfassen: »Das Problem ist aber, daß ein Wesen, das keinen Körper hat, sich nicht äußern kann, jedenfalls nicht, ohne sich in Sprechern zu inkarnieren, also in Wesen aus Fleisch und Blut wie wir alle – in Richtern, Beamten, Priestern, Lehrern usw. Mögen diese Sprecher auch offiziell beauftragt und bevollmächtigt sein, sie sind doch nichts als gewöhnliche körperliche Wesen, also situiert, interessiert, triebhaft usw., und damit wie wir alle dazu verurteilt, von ihrem Gesichtspunkt auszugehen – jedenfalls solange sie sich nicht als Mandatsträger einer Institution zu äußern haben. […] Einerseits also vertraut man den Institutionen, ›glaubt‹ an sie. Was sollte man auch sonst tun, da ohne ihren Eingriff die Ungewißheit über das, was ist, wachsen müßte und mit ihr die Unstimmigkeiten. Aber andererseits realisiert jeder, daß diese Institutionen nichts als Fiktionen sind und real nur die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzen, die in ihrem Namen sprechen und die, da mit Körpern, Wünschen, Trieben usw. ausgestattet, nicht vertrauenswürdiger sind als andere. Und so schwankt man zwischen: ›Das ist eine Anordnung des Gemeindevorstands‹ und: ›Von wegen! Dahinter steckt dieser Schweinehund von Bürgermeister, der die geerbte Bruchbude seiner Tante, dieser geizigen alten Ziege, über ihrem Wert verkaufen will‹« (Boltanski 2010: 132 f., Hervorhebungen im Original).
Wertneutral betrachtet, so unsere These, liegt die Neigung zum konspirologischen Denken nicht innerhalb einer paranoischen Bewusstseinsfehlleistung einzelner Akteure, sondern innerhalb des hermeneutischen Widerspruches der Institutionen begründet. So einfach es 8
Selbst wenn diese real nicht existieren, eröffnen sich wenigstens Spielräume für Verdächtigungen.
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klingen mag: Wächst das Misstrauen gegenüber vorherrschenden institutionellen Strukturen und Repräsentanten, dann wächst zugleich die Neigung zum konspirologischen Denken. Diese These gilt es zu präzisieren, schließlich situieren wir den Übergang des dämonologischen hin zum konspirologischen Denken an das Ende des 18. Jahrhunderts. Angelehnt an die Herrschaftstypologie Max Webers kann diese Entwicklung folgendermaßen gefasst werden: Je legaler der Herrschaftstyp und bürokratischer der ihm zugrunde liegende Verwaltungsstab, je unpersönlicher eine Herrschaftsordnung sich legitimiert und damit austauschbarer die jeweiligen Repräsentanten werden, desto stärker wird das konspirologische Bedenken und Misstrauen unter den Beherrschten. Es reicht also nicht bloß aus, wie Boltanski schreibt, dass Individuen um die Fiktionalität von Institutionen wissen – dies ist auch bei traditionellen und charismatischen Herrschaftstypen der Fall (Koschorke 2002) –, es ist zudem erforderlich, dass das Handeln politischer Repräsentanten im Rahmen einer offenkundig heraufbeschworenen Performance ›zum Gemeinwohl aller‹ stattfindet. Erst dann gerät es unter Generalverdacht. Es ist der hermeneutische Widerspruch liberaler Demokratien, der sich im konspirologischen Denken äußert (6.3). Moderne Verschwörungstheorien werden aus dieser Perspektive zu Narrativen, welche den beziehungsweise die Menschen hinter den Institutionen in den Vordergrund rücken. Sie arbeiten dekonstruktiv an dem, was Pierre Bourdieu einmal als »Mysterium des ministeriums« bezeichnete (Bourdieu 1989: 39, Hervorhebung im Original). Sie thematisieren die Möglichkeit egozentrischer Entscheidungen und Maßnahmen, die verdeckt hinter der Rolle eines institutionellen Repräsentanten vollzogen werden. Sie stellen die Frage, wo sich die Macht wirklich befindet. Sie vertrauen den demokratischen Performanzen nicht und sehen darin eine vordergründig sichtbare Realität, hinter der die eigentliche – und somit reale – Realität vermutet wird (Edelman 1990). Während der hermeneutische Widerspruch in alltäglichen Situationen zumeist latent gehalten wird,9 wird er im konspirologischen Denken explizit formuliert. Wenn Institutionen, wie Douglass C. North formuliert, »die Spielregeln einer Gesellschaft oder, förmlicher ausgedrückt, die von Menschen erdachten Beschränkungen menschlicher Interaktion« (North 1992: 3) sind, dann sind Konspirologen diejenigen Menschen, die diese Beschränkungen nicht mehr innerhalb eines demokratischen Kontextes zum Wohle aller, sondern einer eigennützigen Bereicherung 9
Mit alltäglichen Situationen bezeichnen wir an dieser Stelle das »Und-soweiter« im Sinne von Alfred Schütz: Jenes routinemäßige, unreflexive Ausüben von Handlungen, das von Nöten ist, damit, wie Boltanski betont, die Ungewissheit über das, was ist, nicht ins Unermessliche und Unerträgliche steigen würde.
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KRITIK UND PARANOIA
weniger Profiteure situieren. Dann hat die Logik des Liberalismus jene der Demokratie ausgestochen. Es sind vor allem die Repräsentanten – und bisweilen auch die Funktionäre und Souffleure im Hintergrund –, von denen angenommen wird, dass sie nicht den Willen der Institution ausdrücken, sondern nur diesen Anschein erwecken, um ihre eigentlichen, egoistischen Pläne zu realisieren (Boltanski 2010: 134). Die »Spielregeln« und »Beschränkungen«, von denen North spricht, die der schieren Unendlichkeit der Welt kulturelle Grenzen und Rahmungen setzen, werden aus einer konspirologischen Perspektive zu den gezielt eingesetzten und modellierten Werkzeugen verschworener Akteure. In dieser Hinsicht kann das konspirologische Denken innerhalb eines Diskurses über die soziale Wirklichkeit situiert werden, der das Element der Emergenz weitestgehend reduziert. Verschwörungstheorien sind Narrative über verheimlichte menschliche Intentionen – und nicht, wie so oft innerhalb der Soziologie, über die nicht intendierten Folgen menschlicher Handlungen. Die Suche nach der wahren Realität im konspirologischen Denken muss somit einer permanenten Spannung zwischen dem Offiziellen und dem Nicht-Offiziellen beziehungsweise Inoffiziellen Rechnung tragen (Boltanski 2013: 56). Denn das Offizielle, das heißt institutionell bestätigte Informationen und Erzählungen, ist zugleich immer auch das potentiell Betrügerische, das von den eigentlichen Geschehnissen ablenken soll. Aus diesem Grund finden sich in Verschwörungstheorien immer wieder Gerüchte und Hinweise auf Quellen zur Bestätigung ihres Verdachts, die aus der Perspektive eines Wissenschaftlers mitunter dubios erscheinen. Subkulturelle Quellen und unbestätigte Informationen scheinen für Konspirologen wenigstens vom ›Ballast‹ des Offiziellen befreit zu sein. Es sind die Menschen und deren (angebliche) verheimlichte Machenschaften, die im konspirologischen Denken in Szene gesetzt werden. Die objektivierte institutionelle Ordnung wird nicht mehr als eine außermenschliche Faktizität betrachtet. Ganz im Gegenteil: Der Fokus wird auf den in Vergessenheit geratenen Menschen hinter den Institutionen gerichtet. In der Terminologie von Berger und Luckmann können wir das konspirologische Denken als einen Modus der »Entverdinglichung« bezeichnen (Berger/Luckmann 2004: 98). Denn »Verdinglichung«, schreiben Berger/Luckmann, »ist die Auffassung von menschlichen Produkten, als wären sie etwas anderes als menschliche Produkte: Naturgegebenheiten, Folgen kosmischer Gesetze oder Offenbarungen eines göttlichen Willens« (Berger/Luckmann 2004: 95, Hervorhebung im Original). In Bezug auf politische Repräsentanten hat Pierre Bourdieu diesen Prozess der Verdinglichung als »Orakeleffekt« bezeichnet: Die individuelle Person gerät hinter der transzendenten fiktiven Position in Vergessenheit (Bourdieu 1989: 44). Aus einer neutralen sozialkon28
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struktivistischen Perspektive sei dieser Prozess nicht als »eine Art kognitiven Sündenfalls« zu betrachten (Berger/Luckmann 2004: 96). Doch genau zu dem kommt es im konspirologischen Denken: Verdinglichung und Orakeleffekt sind ein Trugschluss der Leichtgläubigen, und Verschwörungen sind der Sündenfall innerhalb institutioneller Prozesse der demokratischen Moderne. Wir wollen kurz noch eine Problematik ansprechen, die wir bisher unterschlagen haben, nämlich die Unterscheidung zwischen Institutionen und Organisationen. Man kann, wie es beispielsweise Douglass C. North tut, Institutionen als Spielregeln und Organisationen als eine Gruppe von Einzelpersonen, die ein gemeinsamer Zweck beziehungsweise das Erreichen eines gemeinsamen Zieles verbindet, definieren (North 1992: 5). Aus der Perspektive eines Ökonomen, dem es zudem um die Infragestellung der Theorie der rationalen Entscheidung geht, macht diese Unterscheidung durchaus Sinn. In Bezug auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit halten wir sie jedoch für wenig hilfreich. Denn auch die konspirologischen Verdächtigungen von Organisationen im engeren Sinn – beispielsweise ökonomische Big Player wie Google, Facebook, Apple oder Goldman Sachs oder elitäre Verbindungen wie Skull & Bones – folgen der Logik des hermeneutischen Widerspruchs: Sie entlarven die realen menschlichen Intentionen hinter den vordergründigen Absichten der Organisationen; sie verbinden die körperlosen Firmenlogos wieder mit konkreten menschlichen Körpern; sie prangern hinter politischen Entscheidungen eigennützige wirtschaftliche Interessen an; sie prangern hinter wirtschaftlichen Interessen eigennützige politische Entscheidungen an; sie situieren die staatlichen Entscheidungsträger in groß angelegte Komplotte, in die auch die Funktionäre einflussreicher und finanzkräftiger Organisationen verstrickt sind. Es geht um die Realität der Realität beziehungsweise die Realität hinter der Realität. Indem wir das konspirologische Denken im Sinne Maffesolis als »Stimmung« zu fassen versuchen, bietet es sich zudem an, den Begriff nicht allzu eng einzugrenzen und ihm eine gewisse Dehnbarkeit für weitere Forschungsfragen zu lassen: Denn bereits der Verdacht, Klatschsubjekt anderer zu sein, erfüllt die Minimalbedingungen für konspirologisches Denken (zum Klatsch: Bergmann 1987). Am anderen Ende der Skala würden wir den Generalverdacht gegenüber der kompletten sinnlich wahrnehmbaren und von anderen als real empfundenen Realität finden: den Verdacht gegenüber allem Offiziellem oder gar Sichtbarem. Fassen wir nochmals zusammen: Institutionen sind Fiktionen (Castoriadis 1984). Externalisierung und Objektivation lassen den Menschen hinter der von ihm geschaffenen Realität in Vergessenheit geraten. Mit dem Übergang zum legalen Herrschaftstypus im Sinne Max Webers und der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit (Habermas 1965) wird der hermeneutische Widerspruch offen thematisiert: Mit dem Tod 29
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des Königs stellt sich die Frage, wo der eigentliche Ort der Macht ist und wer wirklich im Besitz dieser Macht ist (Giesen/Seyfert 2013). Politische Arkana haben ihren legitimen Stellenwert verloren und gelten als verdächtig. Da wir moderne Verschwörungstheorien als Gegen-Narrative betrachten, können wir sie als einen Modus der »Entverdinglichung« betrachten: Sie irritieren die Legitimation bestehender institutioneller Ordnungen, sie prangern die soziale Verteilung von Wissen an. Da hinter der Fassade Menschen ihre Finger im Spiel haben, werden Ereignisse teleologisch deutbar. Das konspirologische Denken ist kein Anzeichen für individuelle oder kulturelle Paranoia, sondern Ausdruck sozialer Kritik. Konspirologische Verschwörungstheorien versuchen das geheimnisumwitterte Zentrum gesellschaftlicher Ordnung narratologisch zu fassen. Gerade in liberalen Demokratien ist alles nicht sogleich Transparente verdächtig und unpolitisch (Markovits/Silverstein 1989). Seit der Jahrtausendwende und der massenmedialen Weiterentwicklung des Internets kann man Verschwörungstheorien nicht mehr ausschließlich als Ausdruck von Minderheiten oder sozialen Randgruppen rahmen. Deswegen sprechen wir in dieser Arbeit lieber vom konspirologischen Denken.
1.3 Die Kritik: Dekonstruktion und Konspirologie Im Folgenden wollen wir darauf eingehen, wieso wir im Titel von der gesellschaftlichen Dekonstruktion der Wirklichkeit sprechen. Schließlich scheint der Begriff der Dekonstruktion kein ganz unproblematischer zu sein, hängt an ihm der ›Ballast‹ einer ganzen philosophischen und soziologischen Generation von Poststrukturalisten. Von diesem Diskurs wollen wir uns an dieser Stelle distanzieren und verwenden den Begriff in einer wissenssoziologisch nuancierten Art und Weise. Deswegen müssen wir zunächst einem gängigen ›Vorurteil‹ entgegentreten: Dekonstruktion ist nicht gleichzusetzen mit bloßer Zerstörung, mit purer Entzauberung. Denn Dekonstruieren auf der einen Seite geht immer einher mit einer neuen Konstruktion auf der anderen Seite. Aus der Perspektive des Soziologen auf handelnde Akteure stellt die Beobachtung einer reinen Dekonstruktion eine Unmöglichkeit dar. Bereits das Verneinen einer Erzählung markiert den Beginn vom Erzählen einer neuen Geschichte.10 Wer den Institutionen mitsamt ihren institutionalisierten Erzählungen misstraut, dessen Welt ist bevölkert – und in diesem Fall auch wortwörtlich konstruiert – von geheimen Machenschaften auf der politischen Hinterbühne, von Strippenziehern und Verschwörern, von 10 Dies wird auch in Koschorkes Erzähltheorie bestätigt: »Es herrscht mithin eine Art Summenkonstanz in der narrativen Ontologie: Eine Geschichte
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DIE KRITIK: DEKONSTRUKTION UND KONSPIROLOGIE
Mitwissern und Verblendeten. Der Titel könnte genauso gut heißen: Das konspirologische Denken. Zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Konspirologisch zu denken ist eine spezifische Form der Konstruktion unter vielen Möglichkeiten. Wir haben uns trotzdem für den Begriff der Dekonstruktion entschieden. Denn im Gegensatz zum klassischen Sozialkonstruktivismus (wie beispielsweise Tenbruck 1986; Berger/Luckmann 2004) betrachten wir in dieser Arbeit nicht die institutionellen Ja-Sager, sondern die Nörgler und Pedanten, die Kritiker und Unzufriedenen, die Verweigerer und Oppositionellen. Wir betrachten diejenigen, deren Geschichten (noch) nicht in den Geschichtsbüchern stehen. Dauerhafte Ja-Sager der bestehenden institutionellen Ordnung sind nicht bloß, kritisch formuliert, das Phantasma totalitärer Regimes, sondern auch das Phantasma sozialkonstruktivistischer Idealtypen. Wir betrachten jene Menschen, die der gegebenen institutionalisierten Wirklichkeit misstrauen und »Realitätsprüfungen« fordern.11 Klassische sozialkonstruktivistische Theorien erwähnen die Möglichkeit zur Kritik nur am Rande oder lassen sie ganz außer Acht. Luc Boltanski und Bruno Latour haben diesen Mangel betont und die Frage gestellt, ob der institutionenkonforme common sense zu Ungunsten der Fähigkeit zur Kritik überschätzt wird (Kap. 4.1). Jedenfalls herrscht ein Mangel an kultursoziologischen Studien, die nicht einfach, sagen wir mal, Ja-Sager und Nachplapperer politischer oder nationaler Mythen als empirische Basis ihrer konstruktivistischen Studien nehmen. Darauf weisen auch Berger und Luckmann in ihrer gesellschaftlichen Konstruktion hin: »Theoretisch und empirisch sollte die Wissenssoziologie besonders jenen gesellschaftlichen Umständen Beachtung schenken, die der Entverdinglichung entgegenkommen: dem allgemeinen Zusammenbruch der institutionalen Ordnungen, den Kontakten zwischen ehedem einander fernen Gesellschaften und dem wichtigen Phänomen der gesellschaftlichen Grenzsituation« (Berger/Luckmann 2004: 98). Prozesse der Entverdinglichung zu betrachten heißt dabei nicht notwendigerweise den Extremfall eines kompletten Zusammenbruches von Institutionen zu betrachten. Bereits die Stimmen von Institutionenkritiker wahrzunehmen, reicht hierfür aus. Auch deswegen distanzieren wir uns an dieser Stelle vom Begriff der sozialen Konstruktion und sprechen lieber von der Dekonstruktion. Es ist eine Dekonstruktion der Geschichten und Mythen einer gerade vorherrschenden institutionellen Ordnung, eine Dekonstruktion der entkräften heißt, ersatzweise eine andere Geschichte erzählen« (Koschorke 2012: 253). 11 Der Begriff der »Realitätsprüfung« stammt von Boltanski. Er bezeichnet damit die Möglichkeit einer reformistischen Kritik an den herrschenden Institutionen (Boltanski 2010: 155 ff.).
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KRITIK UND PARANOIA
Hegemonie. Wir betrachten jene Menschen, die nicht mehr einfach unter dem schützenden Schirm der Institutionen bleiben; jene Menschen, welche die Institutionen mit ihren Gegenerzählungen in Bedrängnis bringen. Aus dieser Perspektive sind moderne Verschwörungstheoretiker – Konspirologen – weniger als paranoisch einzustufen, sondern vielmehr als rebellisch im Sinne Luhmanns: »Dazu kommt die Last der Verbalisierung und Explikation. Die Institution konnte nahezu unbemerkt entstehen und sich entfalten. Um sie zu stürzen, bedarf es des Wortes. Der Angreifer muß das richtige Wort finden, den Gedanken, der die Institution aus den Angeln hebt« (Luhmann 2008: 69). Ob dieses Wort als realistisch oder wahr einzustufen ist, ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Es zählt seine Äußerung. Und diese nehmen seit über einem Jahrzehnt signifikant zu. Wenn wir moderne Verschwörungstheorien einem kritischen Diskurs zuordnen, dann ist eine Frage, so einfach sie auch klingen mag, mehr als berechtigt: Was unterscheidet den Konspirologen von einem im wissenschaftlichen Feld anerkannten Sozialkritiker? Mit dieser Frage hat sich vor allem Bruno Latour in den letzten Jahren auseinandergesetzt – wenn auch zu emphatisch. Latour ist einer der lautesten Wortführer eines kritischen Sozialkonstruktivismus, immer wieder mahnte er die Öffentlichkeit vor überhastet objektivierten Fakten.12 Seit 9/11 scheint sich der öffentliche ›Wille zur Kritik‹ jedoch fundamental geändert zu haben, wie Latour betont: »Was ist aus der Kritik geworden, wenn mein Nachbar in dem kleinen Dorf im Bourbonnais, in dem ich lebe, als hoffnungslosen Naivling auf mich herabsieht, weil ich glaube, daß die Vereinigten Staaten von Terroristen attackiert worden sind? Wie schön war doch die Zeit, als Universitätsprofessoren auf einfache Leute herabsahen, weil diese Hinterwäldler naiv an Kirche, Mutterschaft und Apfelkuchen glauben konnten. Seitdem hat sich viel verändert, zumindest in meinem Dorf. Heute bin ich als einziger so naiv, an ein paar Fakten zu glauben, denn ich bin gebildet, während die anderen Leutchen zu unsophisticated sind, um gutgläubig zu sein: ›Wo lebst du eigentlich? Weißt du denn nicht, daß es der Mossad und die CIA waren?‹« (Latour 2007: 13, Hervorhebung im Original).
Etwas zugespitzt beschreibt Latour die neue Lage, in der er sich vorfindet. Er beschreibt sich, den sozialkritischen Intellektuellen, der jahrelang zum Hinterfragen scheinbar natürlicher Gegebenheiten anstachelte, von latenten Machtmechanismen sprach und plötzlich vor eine Öffentlichkeit tritt, die kritischer geworden ist als er selbst. Die Verhältnisse sind gekippt: Während kritische Intellektuelle bis in die Neunziger hinein 12 Bspw. in seinem Anfang der Neunziger erstmals erschienenem Wir sind nie modern gewesen (Latour 2008).
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die Laien mit einer relativistischen oder konstruktivistischen Argumentation zu überzeugen versuchten, heften sie sich heute eher an die Argumentationslogik der Realismus-Debatte. Die – ehemals typisch intellektuelle – Kritik, die mit Argumenten kämpft und mit Taten spart, ist in der breiten Masse angekommen. Latours Erfahrungsbericht, dass er niemanden – ja nicht einmal mehr »Hinterwäldler« – mit seiner sozialen Kritik überzeugen kann, stimmt mit unseren Überlegungen zur konspirologischen Stimmung überein: Als naiv gilt heute derjenige, der die offiziellen Erzählungen allzu schnell und ohne zu hinterfragen aufnimmt. Was ist also passiert mit den Geistern, die Bruno Latour rief: »Was ist eigentlich der Unterschied«, fragt er, »zwischen Verschwörungstheorien und einer popularisierten, will sagen lehrbaren Version von sozialer Kritik [...]? In beiden Fällen muß man lernen, alles, was Leute sagen, unter Verdacht zu stellen, denn natürlich wissen wir, daß sie im Bann einer kompletten illusio hinsichtlich ihrer wahren Motive leben. Dann, wenn der Unglaube zugeschlagen hat und für das, was wirklich vorgeht, eine Erklärung gesucht wird, beruft man sich in beiden Fällen auf mächtige Drahtzieher, die im Dunkel bleiben und stets konstant, kontinuierlich und unerbittlich vorgehen. [...] Vielleicht nehme ich Verschwörungstheorien zu ernst, aber es bereitet mir Kopfzerbrechen, wenn ich in diesen verrückten Mischungen aus reflexhaftem Unglauben, pedantischem Bestehen auf Beweisen und freiem Gebrauch kraftvoller Erklärungsmuster aus dem sozialen Nirgendwo viele Waffen der sozialen Kritik wiederfinde. [...] Trotz aller Deformation ist unser Warenzeichen wie in Stahl geprägt noch immer leicht zu erkennen: Made in Criticalland (Latour 2007: 14 ff., Hervorhebung im Original).
Latours Auseinandersetzung mit dem Thema der Verschwörungstheorien ist mitunter etwas zu normativ aufgeladen. Auch wenn er zu Recht auf den potentiellen Missbrauch sozialkonstruktivistischer Argumentationen hinweist, so müssen wir seiner inhaltlichen Auseinandersetzung hier nicht weiter folgen. Es geht uns nicht darum, eine kritische kulturwissenschaftliche Perspektive von den vielen kritischen konspirologischen Stimmen abzugrenzen. Auch seinem Vorhaben, den Empirismus zu erneuern, um die Sozialkritik wieder in die richtige Richtung zu schicken – Latour spricht von der »Rückkehr zur realistischen Haltung« –, können und wollen wir nicht folgen (Latour 2007: 22).13 An dieser Stelle argumentiert Latour gar paradox: Denn gerade jene Menschen, die er prätentiös als »Verschwörungstheoretiker« bezeichnet, glauben ja an das ›Reale‹ – gerade weil es verborgen ist und überspielt wird. Latours 13 Vielleicht ergibt sich die Härte Latours inhaltlicher Kritik aus dem Umstand, dass er seine Position als wortführende sozialkritische Stimme Frankreichs
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Fehler besteht darin, dass er weiterhin konstruktivistisch denken will, jedoch als Intellektueller das Recht beansprucht, zu entscheiden, welcher Inhalt wahr und welcher Nonsens ist. Es verwundert sehr, dass gerade Latour, jahrelanger Verfechter konstruktivistischen Denkens, den Fehler begeht, den Inhalt von Verschwörungstheorien als epistemische Naivität, als kognitive Fehlleistung beziehungsweise kollektiven Trugschluss zu brandmarken. Wir distanzieren uns an dieser Stelle von Latour und formulieren eine These, die bei ihm zwar anklingt, vor welcher er jedoch einen verängstigt erscheinenden Rückzieher macht (Stichwort: »Rückkehr zur realistischen Haltung«): Es gibt keinen Unterschied zwischen einer Verschwörungstheorie – im Sinne von konspirologischem Denken – und einer ›lehrbaren‹ Version von sozialer Kritik. Nichts unterscheidet den Konspirologen vom Sozialkritiker, den Verschwörungstheoretiker vom Intellektuellen. Es ist eine Frage der Anerkennung. Exkurs: Über das Gerücht »Bei Nacht fliegt sie zwischen Himmel und Erde schwirrend durch die Finsternis und schließt die Augen nicht zu süßem Schlummer; am Tag hockt sie als Wächterin entweder ganz oben auf eines Hauses Giebel oder auf hohen Türmen und erfüllt große Städte mit Schrecken, denn sie hält ebenso zäh an Erfundenem und Falschem fest, wie sie die Wahrheit verkündet« (Vergil, Aeneis, Vierter Gesang 184 ff.)
Das konspirologische Denken misstraut der Geschichte. Es zweifelt den Wahrheitsgehalt der offiziellen, institutionalisierten Erzählungen an und stellt Fragen. Das heißt: Wenn das konspirologische Denken eine Kritik institutionalisierter Erzählungen ist, dann ist zugleich klar, dass hier mit Informationen gespielt werden muss, denen der Status einer offiziell bestätigten Nachricht abgesprochen wird. Denn das Offizielle ist, konspirologisch betrachtet, mitunter das Verschleiernde. Eben aus von Thierry Meyssan bedroht sah. Meyssan erregte mit seinem 2002 erstmals veröffentlichten Buch L’effroyable imposture (dt.: 11. September 2001. Der inszenierte Terror. Auftakt zum Weltenbrand?) große Aufmerksamkeit und landete einen Kassenschlager. Er war einer der ersten, der durch alternative 9/11-Erzählungen öffentlich bekannt wurde. Latour macht aus seiner Abneigung ihm gegenüber keinen Hehl: »Was ist aus der Kritik geworden, wenn ein Buch, das behauptet, kein Flugzeug sei je auf das Pentagon gestürzt, zum Bestseller wird? Ich schäme mich zu sagen, daß auch dieser Autor Franzose ist« (Latour 2007: 12 f.).
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diesem Grund stößt man während der Analyse von konspirologischen Geschichten häufig auf Informationen, von denen man – von außen betrachtet – behaupten würde, es handele sich dabei doch ›lediglich‹ um Gerüchte. Kein konspirologisches Denken kommt ohne Gerüchte aus. Dass Verschwörungstheorien und Gerüchte in der Forschung weitestgehend fälschlicherweise synonym verwendet werden, darauf haben wir schon hingewiesen.14 Deswegen halten wir es an dieser Stelle für angebracht, uns kurz mit Gerüchten aus einer kultursoziologischen Perspektive zu beschäftigen. Gerüchte sind Äußerungen ohne Autor, Zitate ohne Quelle. Gerüchte sind Informationen, aber (noch) keine Nachrichten, denn es gibt (noch) keine offiziellen Bestätigungen. Gerüchte sind durch viele Ohren und Münder gegangen – de bouche à oreille –, aber wenn es um den einzelnen Sprecher geht, der die Verantwortung für das Gesagte übernimmt, wird man keinen finden. An dieser Stelle grenzen wir uns von der Phänomenologie Wilhelm Schapps ab, der noch davon ausgeht, dass das Gerücht bis zu seinem Urheber, bis zum Zeugen der Geschichte verfolgt werden kann (Schapp 1985: 184).15 Eine derartige Perspektive unterschlägt die dem Gerücht innewohnende emergente Eigenheit. Es heißt: Man erzählt... Der individuelle Erzähler ist unwichtig, austauschbar, eine anonyme Stimme in der großen kommunikativen Kette des Hörensagens. Gerüchte erlauben das Erzählen, ohne für den Inhalt zur Rechenschaft gezogen zu werden. »Das Man«, so heißt es im viel zitierten 27. Paragraphen von Martin Heideggers Sein und Zeit, »entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit« (Heidegger 1984: 127, Hervorhebung im Original). Sozial betrachtet erzeugt Mitläufertum zwar keine Helden, vermag jedoch Leib und Leben zu schützen. Genau deswegen »behält es [das Man, K. M.] und verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft« (Heidegger 1984: 128). Und genau deswegen ist das Gerücht »das Medium des Unausgesprochenen oder des Unaussprechlichen« (Bühl 2000: 248). Tabuthemen können an- und ausgesprochen werden. Gerüchte sind also Nachrichten, deren Quellen zwar unbekannt sind, deren Inhalt aber umso bedeutungsvoller ist. Deswegen werden sie kommuniziert, deswegen erzählt man sie schnellstmöglich weiter, deswegen faszinieren sie. Gerüchte sind anziehend und abschreckend zugleich, ein alltägliches mysterium tremendum et fascinans. Es kann gefährlich sein, 14 Ein klassisches Beispiel innerhalb der Soziologie für eine derartige ›Vermischung‹ wäre Edgar Morins (1969) Studie über die Gerüchte in Orleans, in der es weniger um die Diffusion von Gerüchten geht als vielmehr um verschwörungstheoretische Narrative; wir kommen weiter unten noch darauf zurück. 15 »Wer das Gerücht weitererzählt, kann einen Gewährsmann nennen, bis man schließlich an einen gelangt, der wirklich etwas von der Sache weiß« (Schapp 1985: 184).
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einem Gerücht sofort zu glauben. Es kann aber genauso gefährlich sein, ein Gerücht ›bloß für ein Gerücht‹ zu halten und es zu ignorieren. Dies macht den Umgang mit ihnen besonders prekär: Es ist eine schmale Grenze, im Nachhinein als ›Insider‹ oder ›Naivling‹ dazustehen (Priddat 2008). In der griechischen und römischen Mythologie wird die Macht des Hörensagens durch eine Gottheit repräsentiert: Ossa (auch Pheme, lat. Fama).16 Im zweiten Gesang der Ilias beschreibt Homer das Gerücht als äußerst ambivalente Figur. Einerseits ist Ossa die personifizierte Botin des Gerüchts. Sie wird von Zeus höchstpersönlich geschickt und bringt die frohe Botschaft über die bevorstehende Eroberung Trojas den ermatteten Truppen der Achaier, indem sie hier und da etwas tuschelt und zuflüstert. Andererseits kann das, was alle sagen und von dem niemand so genau weiß, wer genau es eigentlich gesagt hat, als göttliche Vorhersehung gedeutet werden: Wenn der Autor fehlt, haben die Götter gesprochen. Auch wenn Ossa bei Homer nicht immer die (ganze) Wahrheit tuschelt, so weiß sie doch ganz genau, dass Gerüchte der sozialen Logik einer self-fulfilling prophecy folgen (Merton 1995). Denn auch zu Beginn falsche Definitionen von sozialen Situationen – wie Mertons klassisches Beispiel der Zahlungsunfähigkeit einer Bank – können ein Verhalten hervorrufen, das diese ursprünglich falsche Situationsinterpretation richtig werden lässt. »Die trügerische Richtigkeit der self-fulfilling prophecy«, schreibt Merton, »perpetuiert eine Herrschaft des Irrtums«. Und folgert lakonisch: »So pervers ist die Logik des Sozialen« (Merton 1995: 401). Der Wahrheitsgehalt eines Gerüchtes ist soziologisch bedeutungslos. Auch wenn Gerüchte inhaltlich falsch sein sollten, können sie gleichwohl im höchsten Maße wirkmächtig sein. Deswegen haben bisweilen zu viele Studien eine normativ überhitzende Forschungsperspektive. Genauso wie beim Thema der Verschwörungstheorien sind viele wissenschaftliche Untersuchungen über Gerüchte darum bemüht, zu analysieren, wieso offensichtlich ›abwegigem‹ Wissen Glauben geschenkt wird und was man dagegen unternehmen könnte (Coady 2014). Derartige Forschungsansätze gehen von der klassischen Surrogat-These über das Hörensagen aus. Sie besagt, dass Gerüchte umso besser gedeihen, wo offizielle Informationskanäle den Informationsbedarf nicht mehr decken können (Shibutani 1966). Dies ist vor allem während Krisensituationen der Fall. Der Soziologe Neil Smelser verwendet hierfür sein Konzept der »strukturellen Spannung«. Die bekannte Formel aus seiner Theorie des kollektiven Verhaltens lautet: »Grundsätzlich gilt: Gerüchte und verwandte Vorstellungen entstehen, wenn strukturelle Spannung im beste16 Ausführlicher zum Thema der göttlichen Macht des Gerüchts siehe Fauth (1965), Neubauer (2009) und Meyer (2013).
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henden Aktionsrahmen nicht bewältigt werden kann« (Smelser 1972: 95). Strukturell angespannte Situationen sind, so Smelser, besonders anfällig für hysterische und feindselige Gerüchte. Kultursoziologisch ist diese These wenig überraschend: Viele historische Zeugnisse belegen, wie in Krisensituationen das Verlangen nach Sündenböcken steigt (Girard 1992). Aus diesem Grund sind die Fremden und das Fremde oft Inhalt von Gerüchten. Auch Simmel stellt in seinem Exkurs über den Fremden einen Zusammenhang von Fremdheit, Gerüchten und dem Verlangen nach Schuldigen her: »Von jeher wird bei Aufständen aller Art von der angegriffenen Partei behauptet, es hätte eine Aufreizung von außen her, durch fremde Sendlinge und Hetzer stattgefunden« (Simmel 1992: 767). Hier wird auf der Ebene der handelnden Akteure die Entstehung von Gerüchten durch den dämonologischen Glauben an Aufwiegler und Provokateure erklärt. Trotzdem hat die Surrogat-Forschung ihren Fokus falsch ausgerichtet: Im Mittelpunkt stand die Abwegigkeit des kommunizierten Inhaltes und die Frage, wie man derartigen Situationen vorbeugen könne. Viele sozialpsychologische Studien begünstigten eine ›psychopathologische Aura‹ des Gerüchts. Ihre Forschungsausrichtung behandelte Gerüchte per se als unwahre Nachrichten. Schon in den Anfangsstunden der wissenschaftlichen Gerüchteforschung – im Kontext der forensischen Psychologie Anfang des 20. Jahrhunderts –, belegte William Stern in Experimenten, dass sich die Erinnerung von Zeugen als hochgradig unzuverlässig erweist (Neubauer 2009: 239 ff.) Die rein psychologisch orientierte Gerüchteforschung wurde in der Folgezeit von soziologischen Grundannahmen ergänzt, die das Gerücht als Phänomen kollektiven Veraltens betrachteten. Neben den bereits erwähnten Autoren Shibutani und Smelser sind hier auch die Forscher rund um die sogenannten rumor clinics zu nennen. Im März 1942 entsteht in den Vereinigten Staaten – genauer: in Boston – unter der Leitung von Gordon W. Allport die erste rumor clinic, die das vermehrte Aufkommen von Gerüchten während des Zweiten Weltkrieges analysieren und vor allem ›bekämpfen‹ sollte. Bei dieser institutionellen Einrichtung, deren Entstehung zwar auf die Initiative einer Bürgerin zurückzuführen ist,17 handelt es sich um einen Versuch, das Hörensagen zu zentralisieren, das Gemurmel an der Peripherie einzudämmen.18 Gerüchte können konspirologisches Gedankengut transportieren. Und gerade in Kriegs- und Krisenzeiten gilt für die zentralen 17 Zur Entstehungsgeschichte der rumor clinics siehe Neubauer (2009: 201 ff.). 18 Der Versuch, das Hörensagen zu zentralisieren, ist historisch auch gut dokumentiert für Paris im 18. Jahrhundert, den Jahrzehnten vor der Revolution: Hier wurden sogenannte mouches – Polizeispitzel – eingesetzt, um alle
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Institutionen scheinbar mehr denn je, dass das konspirologische Denken erheblichen Schaden anrichten kann. Die Forscher innerhalb der rumor clinics analysierten weniger die soziale Diffusion von Gerüchten. Hauptsächlich ging es ihnen darum, deren Inhalt in Zeitungskolumnen zu dementieren. Die Psychologen, Verwaltungsbeamten, Kneipenwirte,19 Polizisten und Geheimdienstler, die sich in den 40er Jahren in Amerika mit dem Gerücht befassen, sind somit weniger an dessen Form als vielmehr am konkreten konspirologischen Inhalt interessiert. »Den rumor doctors«, schreibt Hans-Joachim Neubauer, »erscheint das Gerücht als eine Krankheit am Körper der nationalen Kommunikation« (Neubauer 2004: 152). Die Alltäglichkeit der Gerüchte wird hier noch verkannt. Die Arbeit innerhalb der rumor clinics ist ein Kampf gegen das konspirologische Denken. Ein Blick in die von Allport und Postman entwickelten STANDARDS FOR AGENCIES WORKING ON THE PREVENTION AND CONTROL OF WARTIME RUMOR zeigt, wie kompromisslos dieser geführt wird. »Before stating the rumor, damn it; after stating it; damn it again« (Allport/Postman 1965: 235). Sollte sich der Inhalt eines Gerüchts ausnahmsweise als wahr und bedrohlich erweisen, dann solle man besser schweigen, denn dementieren macht verdächtig und ruft den dementierten Inhalt ins Gedächtnis: »Where the rumor is substantially true as well as harmful, it is best not to give it still wider circulation« (Allport/Postman 1965: 235). Dass Allport, Postman und auch Knapp, ein Schüller von Allport, als Begründer der Gerüchteforschung gelten, ist aus einer kultursoziologischen Sicht erstaunlich und interessant zugleich, da sie mehr das Eindämmen konspirologischen Denkens erforschten als das Gerücht selbst. Sie sahen sich als militärische Mediziner im Dienst der herrschenden Institutionen. »All in all«, fast Knapp zusammen, »we know precious little about rumor and how to control it. But we are learning fast. If we are to survive the rumor virus, we will have to learn fast, even faster than we have« (Knapp 1944: 37). Auch wenn der Tenor bei Shibutani (1966), Smelser (1972) und auch Morin (1969) nicht derart martialisch daherkommt, die These der Gerüchtekommunikation als außerordentlicher, irrationaler und zu behebender Zustand bleibt ähnlich. Diese theoretische Haltung ist aus einer soziologischen Sicht nicht ganz unproblematisch, wir kommen direkt darauf zurück. Wir können an dieser Stelle keinen ausführlichen Inhalt über den Stand der bisherigen Gerüchteforschung geben (siehe hierfür Bruhn 2004; Gerüchte, die sie in den Gassen und Kneipen hörten, sofort an die Obrigkeiten weiterzureichen (Farge/Revel 1989). 19 In Boston arbeitete man mit 200 Kneipenwirten zusammen, die festhielten, was sie von ihren Gästen an Gerüchten aufschnappen konnten.
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Kapferer 1996). Wir wollen aber einige Aspekte und Thesen einer kultursoziologischen Perspektive auf das Phänomen der Gerüchte klarstellen. 1. Nehmen wir an, Gerüchte sind tatsächlich ein Fall von außerordentlicher Kommunikation – und außerordentlich sind sie ja schon in dem Sinne, dass sie sich der klaren, ordentlichen Klassifikation in »wahr« und »falsch« verweigern –, dann verkennt der größte Teil der bisherigen Gerüchteforschung, dass Ordnung durch das, was ihr nicht eindeutig und sofort gehorcht, weniger in Frage gestellt wird, als vielmehr erst durch diesen Bezug auf Gegenteiliges und Unordentliches verstanden werden kann. Ambivalenzen und Ausnahmen, Paradoxien und Unterbrechungen, Zwischenlagen und Zwischenfälle, Ungefähres und Vages sind mehr als bloße Störungen der sozialen Ordnung. Sie sind unverzichtbare konstitutive Bestandteile eben dieser Ordnung (Giesen 2010; Giesen/Gerster/Meyer 2014). Kommunikationstheoretisch ist diese These auf Michel Serres zurückzuführen. In seinem Essay über den Parasiten versucht er nachzuweisen, dass ein komplett rationaler, störungsfreier und transparenter Kommunikationsprozess zugleich zum Abbruch jeglicher kommunikativen Akte führen würde: »Irrtum, Ungewißheit, Verwirrung und Dunkelheit gehören zur Erkenntnis, das Rauschen gehört zur Kommunikation [...]. Die Abweichung gehört zur Sache selbst, und vielleicht bringt sie diese erst hervor« (Serres 1987: 26 ff.). Mediensoziologisch haben sowohl Jean-Luc Evard als auch Kay Kirchmann versucht, diese These zu fassen. »[A]nstatt die Gerüchte als eine verfallene Form der öffentlichen Kommunikation zu thematisieren«, schreibt Evard, »nehmen wir uns vor, die öffentliche Kommunikation als eine regulierte Form von Gerücht zu analysieren« (Evard 1989: 100). Wie bei Serres wird das Gerücht zu einer Art konstitutivem Rauschen. Gerüchte sind hier der Normalzustand, Nachrichten eine Art von ›reguliertem Ausnahmezustand‹. Kirchmann betont die gleiche These in einer systemtheoretisch-funktionalistischen Wendung. Bei ihm heißt es, »dass Gerüchte die tradierte (massenmediale) Informationsproduktion und -verbreitung keineswegs negieren oder konterkarieren, sondern vielmehr gerade dynamisieren« (Kirchmann 2004: 74, Hervorhebung im Original). Das Gerücht ist mehr als bloß eine dysfunktionale Störung. Vielleicht der Anfang. 2. Dass Gerüchte die ausschließliche Ursache von Informationsdefiziten sind und von Mund zu Ohr weitererzählt werden, diese klassischen Annahmen der Surrogat-Forschung müssen seit der Jahrtausendwende und den massenmedialen Weiterentwicklungen als widerlegt gelten (Kirchmann 2004: 73). Dass Informationsdefizite die gleichen Auswirkungen auf die Kommunikationsprozesse innerhalb eines Systems ausüben wie Informationsüberschüsse, darauf hat schon Niklas 39
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Luhmann hingewiesen. Das heißt: Das Vorhandensein vieler potentieller Informationen hat keinen Einfluss auf die Abnahme einer Gerüchtekommunikation. Mit zwei sich inhaltlich widersprechenden Informationen steht man, wertneutral betrachtet, wieder vor einer klassifikatorischen Unsicherheit: News oder Fake News? Gerüchte können also nicht ausschließlich auf Krisenzeiten reduziert werden. Diese Annahme wird vom Soziologen Walter Bühl bestätigt: »Das Gerücht kann nun nicht mehr weiter als bloße Regression auf eine Form der archaischen Kommunikation erklärt und nur auf einen Ausfall der offiziellen Information, auf die Absichten und Wirkungen von Propaganda und Gegenpropaganda, auf Katastrophen und Krisenfälle zurückgeführt werden, sondern es muss nun positiv in seiner Eigencharakteristik, in seinen Konstitutionsprinzipien, in seinem kaum zu überschätzenden Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung und seiner auch unter globalen Kommunikationsbedingungen fortdauernden Aktualität erklärt werden« (Bühl 2000: 246).
Vereinfacht ausgedrückt: Unter »globalen Kommunikationsbedingungen« verbreiten sich nicht nur Nachrichten schneller und weiter, sondern auch Gerüchte. Ein perfektes, störungsfreies Nachrichtennetzwerk, wie es die Forscher rund um die rumor clinics anstrebten, ist reine Utopie, vielleicht Ideologie. Seit Einführung des Breitbandinternets erledigen die milia Rumorum ihren Job schneller denn je: Mittels Glasfaserkabeln und Satelliten erreichen Gerüchte das andere Ende der Welt im Bruchteil einer Sekunde.20 Das World Wide Web hat das Gerücht in einen globalen Kontext transportiert. Im Gegensatz zu älteren Massenmedien ist seit der Entwicklung zum sogenannten Web 2.0 das klassische Verhältnis zwischen aktiven Produzenten und passiven Konsumenten von Informationen zugunsten einer Kollaboration aller Beteiligten aufgebrochen (Leggewie/Mertens 2008: 192). Das Argument der oralen Kommunikation ist nicht mehr ausreichend, um das Gerücht zu fassen. 3. Greifen wir nochmals auf Allport und Postman zurück. In ihrem The Psychology of Rumor finden wir ein Argument, das sehr häufig in der Gerüchteforschung aufgegriffen wird. Es handelt sich dabei um den sogenannten »Stille-Post-Effekt« (Bruhn 2004: 24). Genauso wie in verschiedenen Experimenten oder Kinderspielen zeigt sich auch in der alltäglichen Realität, dass Menschen dazu neigen, Geschichten beim 20 Die milia Rumorum sind bei Ovid die Gehilfen im Palast der Fama, der Göttin des Gerüchts. Sie sind zuständig für den praktischen Teil der Arbeit: Sie kommen und gehen, beeinflussen und verstärken sich gegenseitig, vermischen Wahrheit und Erfindung und sorgen so für ein nie zur Ruhe kommendes Hintergrundgemurmel (Ovid 2007: 583 ff.).
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Nacherzählen zu verändern. Allport und Postman bezeichnen derartige narrative Eingriffe als leveling, sharpening und assimilation: Einige Details werden ausgeklammert, andere zugespitzt und die Pointe der Information wird an die jeweilige Erzählsituation angepasst (Allport/ Postman 1965). Dies ist sicherlich richtig, aber keineswegs ein exklusives Merkmal der Verbreitung von Gerüchten. Was Allport und Postman hier beschreiben, sind erzählerische Generalisierungen, die wesentlich für jede Art des Erzählens beziehungsweise wesentlich für jede Geschichte sind, sofern sie den Staus einer rein individuellen Geschichte (story) durchbrechen will (Koschorke 2012: 30 ff.).21 Erzählen findet immer vor einem kulturellen Hintergrund statt. Leveling, sharpening, assimilation sind keine exklusiven Erkennungsmerkmale des Gerüchts, sondern allgemeine narrative Eingriffe, die aus der theoretisch unendlichen Anzahl möglicher Geschichten eine kulturell wiedererkennbare und handhabbare Geschichte machen. 4. In vielen Texten schwindet die Grenze zwischen Gerücht, Verschwörungstheorie, Klatsch und moderner Sage (urban legend). Wir wollen sie kurz schärfen. Viele Studien trennen zwischen Gerücht und Information – und behandeln Gerüchte als eine Art ›minderwertiger‹ Informationen. So sind bei Luhmann Gerüchte nichts weiter als ein Verzerrungseffekt, der die Redundanz der mitgeteilten und nun verfälschten Information verbirgt (Luhmann 2009b: 32). Koschorke positioniert das Wesen des Gerüchts »zwischen bloßem Hörensagen und echter Information« (Koschorke 2012: 35, Hervorhebung K. M).22 Wir halten diese a priori stattfindende normative Abwertung für falsch. Gerüchte sind kein kommunikativer Nonsens. Sie können das sein, müssen es aber nicht. Dies ist zudem beobachterabhängig und trifft auf jegliche Kommunikation zu. Gerüchte sind ganz einfach Informationen, die (noch) nicht autoritativ bestätigt wurden.23 Im Gegensatz zu Nachrichten, die bereits auf eine offizielle Quelle 21 In Bezug auf das Narrativ spricht Albrecht Koschorke von »Schemabildung« und unterscheidet, ähnlich wie Allport und Postman, »Verknappung, Angleichung, Vervollständigung« (Koschorke 2012: 32). 22 Auch Birger Priddat begeht in seinem Essay über Märkte und Gerüchte den gleichen Fehler, gar doppelt: »Nichts ist aufregender als ein Gerücht. Es ist weniger als eine Information: eben ein Gerücht. Und es ist mehr als eine Information: eine aufregende, gegen die Erwartungen gerichtete Nachricht« (Priddat 2008: 216). 23 Mit Bezug auf Gregory Bateson muss auch das Gerücht als Information angesehen werden, da es sonst keinen Unterschied in Bezug auf spätere Ereignisse ausmachen würde und folglich überhaupt nicht kommuniziert werden würde. Wer ständig über das redet, was keinen Unterschied macht, gilt als banal, peinlich, langweilig oder schlichten Gemüts. Er würde Gerüchte erzählen, die jedem egal wären.
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verweisen können. Diese zeitliche Komponente ist wesentlich bei der Erforschung von Gerüchten. Auch Kirchmann betont diesen Aspekt: »Entsprechend ist und bleibt – und ebendies ist für das Gerücht ja gerade konstitutiv – der Wahrheitsgehalt des Gerüchts obskur, er bewegt sich aber in der Regel noch im Bereich des immerhin Vorstell- und Denkbaren. [...] Autoritative Klärung des obskuren Wahrheitsgehalts bedeutet daher immer das Ende des Gerüchts« (Kirchmann 2004: 74 f., Hervorhebung im Original). Gerüchte sind keine ›schlechteren‹, keine ›besseren‹, keine ›unechteren‹ oder ›schnellere‹ Informationen, sondern unbestätigte. Lebt der Inhalt eines Gerüchts trotz offizieller Widerlegung beziehungsweise Dementierung fort, dann handelt es sich nicht mehr notwendigerweise um ein Gerücht, sondern um konspirologisches Denken. Zwar kann die Kommunikation wie beim Gerücht mit einem ›man erzählt‹, ›man munkelt‹ oder Ähnlichem eröffnet werden, trotzdem muss fortan eine nachträgliche Bezweiflung an der offiziellen Geschichte mitthematisiert werden. Diese Differenzierung fehlt beispielsweise in Edgar Morins La Rumeur d’Orléans (1969) gänzlich. Der Titel stiftet Verwirrung. Morin untersucht weniger die Diffusion eines Gerüchtes (fr. rumeur), als vielmehr die kulturelle Grammatik eines konkreten verschwörungstheoretischen Inhaltes (Kap. 2.1). Auch Graus (1987) und Ginzburg (2005) vernachlässigen in ihren historischen Studien diese Unterscheidung. Sobald aber eine offizielle Geschichte angezweifelt wird, dies bestätigt auch Kirchmann, »handelt es sich nicht mehr um die Dynamik eines Gerüchts, sondern um die Motorik der Verschwörungstheorie, die den sozial akzeptierten Autoritäten der Wahrheitsüberprüfung willentliche Verschleierung oder Verstellung der eigentlichen Wahrheit unterstellen muss, um sich überhaupt erst entfalten zu können« (Kirchmann 2004: 74, Hervorhebung im Original). Gerüchteforschung – ob historisch, kulturell oder sozialpsychologisch – sollte diesen Übergang immer mitreflektieren. Beim Klatsch handelt es sich, folgt man Jörg Bergmann, um die Kunst der »diskreten Indiskretion« (Bergmann 1987). Klatsch findet statt, wenn mindestens zwei Personen über die privaten Angelegenheiten eines nicht anwesenden Dritten reden, der den Klatschenden bekannt ist (Kap. 5.2). Klatsch über Unbekannte ist uninteressant. Beim Klatschen können zwar auch Gerüchte ausgetauscht werden. Es kann sich aber auch um offensichtliche Fakten handeln, die bei Anwesenheit des Klatschobjektes taktvoll ignoriert werden, nun aber zum Amüsement und Échauffement offen an- und ausgesprochen werden können (Goffman 1975). Da Klatsch in den meisten Fällen Übertretungen anderer thematisiert, werden zugleich soziale Normen formuliert und wieder ins Gedächtnis gerufen. So stiftet Klatsch unter den Klatschenden Vergemeinschaftung und das Gefühl, der 42
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überlegenen Gruppe zuzugehören (Gluckman 1963; Elias/Scotson 1993).24 Eine letzte Unterscheidung betrifft moderne Sagen (eng. urban oder contemporary legend). Soziologisch ist dieses Feld bisher weitestgehend unerforscht. Dabei ist seit 2001, seit der Entwicklung des Web 2.0, empirisch eine Zunahme des Austausches moderner Sagen zu notieren. Im Kontext global vernetzter Kommunikationsmöglichkeiten steht die Sagenforschung erst am Anfang, sie hinkt den sozialen und digitalen Entwicklungen hinterher (Renard 2007; Gerndt 2002). Im Gegensatz zu den bewunderten Heldentaten von Königen, Prinzen und Prinzessinnen im Märchen, thematisieren Sagen die Ängste der einfachen Leute. Während Märchen im Glück der guten Protagonisten enden (»der Wolf ist tot«, »das Liebespaar für immer vereint« usw.), ist die Sage »demgegenüber von Pessimismus bestimmt, sie ist härter und oft genug bedrückend, der Mensch den transzendenten Mächten und den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert« (Röhrich/Uther/Brednich 2004: 1020). Seit 1930 kam es in Deutschland zur Entwicklung der modernen Sagenforschung. In Zeitungen tauchten immer häufiger ähnliche Geschichten über Unglücksfälle und Gräueltaten auf, die sich angeblich wirklich ereignet haben sollen (Röhrich/Uther/Brednich 2004: 1041). Der außergewöhnliche Inhalt von Sagen tritt somit mit dem Anspruch auf Wahrheit auf. Zweifel beim Rezipienten werden, wie beim Gerücht, versucht, mit dem Hinweis auf diverse – und diffuse – Quellen und Zeugen aus dem Weg zu schaffen (»ein Bekannter von einem Bekannten berichtete, dass...«). Laut Gerndt oszilliert die moderne Sage zwischen Geschichtsdarstellung und Märchen, zwischen Nachricht und Lüge, zwischen Wahrheitsanspruch und Zweifel (Gerndt 2002: 283). So kann eine einfache Nachricht, wie jene über die Milzbrand-Erkrankung eines Mannes in den Vereinigten Staaten im Oktober 2001, mit sagenhaften Erzählelementen angereichert werden – freilich ohne dass hierfür ein einzelner Lügner vonnöten ist (Gerndt 2002; Sarasin 2004). Zu notieren ist, dass seit 2001 nicht nur die gängigen Schreckgeschichten, sondern auch konspirologisches Denken im Gewand moderner Sagen verbreitet werden. Der Mensch sieht sich dann nicht mehr alleine den transzendenten Mächten und Naturgewalten schutzlos ausgeliefert, sondern auch den herrschenden Institutionen und Global Playern. Vor allem in den digitalen sozialen Netzwerken ist die Verbreitung der konspirativen 24 In ihrer Studie über den Klatsch der Etablierten über die Außenseiter betonen Elias und Scotson nicht nur die Herstellung einer mechanischen Solidarität im Falle einer Normverletzung, sondern auch die verborgene und verbotene Sehnsucht der Klatschenden »sich einen Moment lang vorzustellen, daß sie selbst getan hätten, was man nicht tun darf« (Elias/Scotson 1993: 171).
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Machenschaften eigener Regierungen und Firmen wie Apple, Google, Facebook, WhatsApp, McDonalds, Coca-Cola usw. mittels kurzer, sagenhafter Geschichten sehr beliebt. Sie enden zumeist mit der Bitte, man solle sie teilen, um aufzuklären. 5. Nach diesen Unterscheidungen wollen wir zum Abschluss dieses Exkurses unseren kultursoziologischen Standpunkt in Bezug auf das Gerücht nochmals präzisieren. Die Wahrhaftigkeit des Inhaltes ist bedeutungslos. Betrachten wir es durkheimianisch: Der Wert eines Gerüchtes liegt für das jeweilige Kollektiv weniger in seiner deskriptiven als vielmehr in seiner normativen Seite. »Denn Gerüchte«, schreibt Walter Bühl, »dienen nicht der Erkenntnis, sondern der Gemeinschaftsbildung. [...] Dies ist der moralische Imperativ des Gerüchts« (Bühl 2000: 253, Hervorhebung im Original). Um es mit Begriffen von Albrecht Koschorke zu formulieren: Beim Gerücht verselbständigt sich »die Sozialdimension des kommunizierten Wissens auf Kosten seiner Sachdimension« (Koschorke 2012: 36). Sich dem öffentlichen Gerede anzuschließen, ist – wie schon Gluckman (1963) in Bezug auf den Klatsch betonte – mehr eine Frage der Solidarität, als eine Frage der individuellen Einschätzung des Wahrscheinlichkeitsgrades des Inhaltes und der Glaubwürdigkeit des Überbringers. Dies trifft besonders auf mehrdeutige Situationen zu. Gerüchte sind Ausdruck kollektiver Codierungen. Sie konstituieren eine Gemeinschaft der Bedrohten, eine liminale Communitas der Gefahr (Turner 2005). Gerade dieser soziologische Aspekt ist der sozialpsychologischen und historischen Gerüchteforschung jahrzehntelang entgangen. Es mag kontraevident erscheinen, aber Gerüchte folgen einer Logik des Mythos: Sie stellen Fraglosigkeit in Situationen her, die gerade nicht frei von Zweifel sind. Für außenstehende Beobachter – und Forscher – mag dies bisweilen irritierend daherkommen. Gerüchte sind Stimmen gegen den Zweifel und für das Kollektiv. »Das Wiederholen der Gerüchte«, heißt es bei Michel Serres, »berauscht ebenso wie die Gewalt« (Serres 2009: 64). Gemeint ist der Rausch der Vergemeinschaftung.
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2. Stigmata »Ihr sollt nicht alles Verschwörung nennen, was dieses Volk Verschwörung nennt. Das, was sie fürchten, sollt ihr nicht fürchten und nicht davor erschrecken« (Jes. 8, 12)
2.1 Das Stigma der Verschwörungstheorien Als Verschwörungstheorien werden im alltäglichen Gebrauch Erzählungen bezeichnet, die der offiziellen Geschichte nicht trauen und ihren Plot um verheimlichte Machenschaften auf der vermeintlichen Hinterbühne der Gesellschaft erweitern. Sie misstrauen der Oberfläche der Erscheinungen und vermuten dahinter eine verborgene, stärkere Realität. Im öffentlichen Diskurs gesteht man Konspirationstheorien – wenn sie als solche bezeichnet werden – allenfalls eine marginale Rolle zu. Aus der Perspektive der gemeinsamen Zeitgenossen sind Verschwörungstheorien Gegen-Narrative, die sie aus dem Kanon anerkannter und gültiger Weltinterpretationen ausschließen. Wer eine Erzählung als Verschwörungstheorie bezeichnet, tut dies somit nicht ohne Grund. Der Begriff selbst ist normativ besetzt, er geht immer mit einer Anschuldigung einher: Er wertet die Erzählungen, Erklärungen oder Theorien der Anderen ab (Boltanski 2013: 356). Bereits im alltäglichen Gespräch, in welchem, scheinbar ganz flüchtig ohne weitere Reflexion, von ›Verschwörungstheorie‹ die Rede ist, geschieht dies im Sinne einer, wie Karl Otto Hondrich es einmal bezeichnete, »spontaneous micropathologization« (Hondrich 1987: 258). Heute würde man sagen: Verschwörungstheorien sind Fake News. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien sind Verschwörungstheorien per se dem Verdacht ausgesetzt, an einem methodischen Mangel zu leiden (Kuhn 2010). Wer verschwörungstheoretisch denkt, so die allgemeine Vermutung, denke entweder viel zu einfach oder eben viel zu kompliziert, jedenfalls nicht ›vernünftig‹. Der Titel ›Verschwörungstheorie‹ fungiert als Stigmatisierung, die sich einer pathologisierenden Semantik bedient. »Die klinische Schablone der Verschwörungstheorie«, schreibt der Literaturwissenschaftler Arno Meteling, »ist dabei die ›Paranoia‹ in ihrer Spezialbedeutung als Verfolgungswahn« (Meteling 2009: 185). Diese Nähe zum paranoischen Denken wird nicht nur von politischen Aufklärungs- und Gegenkampagnen gezogen, sondern selbst viele wissenschaftliche Studien haben diesen Pathologisierungsprozess seit den 1960er Jahren vorangetrieben. Auch in den Medien und der 45
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Alltagskommunikation findet man diese negative Wertung wieder: Weder stößt man im investigativen Journalismus auf den Begriff der Verschwörungstheorie, wenn es um die Selbstbeschreibung aufgedeckter Fehltritte bekannter Persönlichkeiten und politischer beziehungsweise wirtschaftlicher Skandale geht, noch würde man den eigenen Glauben, auch wenn er von außen betrachtet alle narrativen Merkmale einer Verschwörungstheorie erfüllen würde, auch als eine solche bezeichnen. Auch wenn sie unter dem gleichen Dispositiv handeln – dem Aufdecken einer intentional verheimlichten Wahrheit –, so grenzen sich die Recherchen von Journalisten begrifflich von Konspirationstheorien ab. Als wahr gilt nur das Komplott, nie die ›Verschwörungstheorie‹. Als Der Spiegel zwei Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 berichtete, war darin die Rede vom »Panoptikum des Absurden«: »Verschwörungstheoretiker landen mit ihren angeblichen Beweisen Bestseller, schon ein Fünftel der Deutschen glaubt ihren Halbwahrheiten« (Der Spiegel 37/2003: 58). Was eigentlich das Wesen einer »Halbwahrheit« ausmacht, darüber wird nicht weiter reflektiert. Die journalistische Kritik an der konspirologischen Vernunft besagt jedenfalls, sie hätte nie zu hundert Prozent Recht. Wer von einer Verschwörungstheorie spricht, warnt vor allzu leichtfertigem Glauben und fremden, unbegründeten Ängsten. Schauen wir uns ein alltägliches Beispiel aus der Süddeutschen Zeitung vom 11. Mai 2013 an. Es geht um die Neubesetzung der Intendantenstelle im Düsseldorfer Theater und den, aus Sicht der SZ, nicht haltbaren Verdächtigungen eines Konkurrenzblattes: »Die Tageszeitung Die Welt entwirft derweil eine abenteuerliche Verschwörungstheorie, in der der kommissarische Intendant Manfred Weber die Schurkenrolle spielt: Er habe, heißt es, mittels einer schlauen und bösen Intrige die Kommission zum Platzen gebracht, um selbst Intendant zu werden. In Wahrheit macht Weber seinen kommissarischen Job ganz ordentlich […]« (Süddeutsche Zeitung, 11. Mai 2013).
Als verschwörungstheoretisch wird hier die nicht der Wirklichkeit entsprechende und somit »abenteuerliche« Verdächtigung bezeichnet, der kommissarische Intendant benutze seine Position lediglich als Fassade, um seine rein eigennützigen Motive mittels Intrigen durchzusetzen (Kap. 5.3). Die Distanzierung dieser Annahme der Tageszeitung Die Welt wird von der Süddeutschen Zeitung nicht nur mit der Bezeichnung der »Verschwörungstheorie« zum Ausdruck gebracht, sondern zudem mit der Formulierung »In Wahrheit« am Beginn der eigenen Stellungnahme verschärft. Der Verschwörungstheorie wird so viel realistische Glaubwürdigkeit zugesprochen wie einer phantastischen Erzählung, einem Schelmen- oder Abenteuerromanen. Die Verwendung des Begriffes 46
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der Verschwörungstheorie verweist auf die verfälschte Perspektive anderer auf die Wirklichkeit. Eine Medienanalyse des Begriffes ›Verschwörungstheorie‹ offenbart zudem, wie damit viele heterogene Phänomene erfasst werden. Der Begriff hat wenig Erklärungspotential. Vielmehr fungiert er als großzügiger semantischer Behälter. Eine kleine Auswahl seiner Bedeutungen: radikal-politische Einstellungen (rechts und links), antisemitistische Weltdeutungen, Erzählungen über Außerirdische und Ufos, verschiedene alternative Deutungen zum Kennedy-Attentat und dem 11. September 2001, Warnungen vor den Inhalten der Kondensstreifen am Himmel (chemtrails), Geschichten über geheimbündlerische Aktivitäten, einfach Falsches. Auch in etwas ›spielerischer‹ Form, mit humoristischem Unterton findet der Begriff Verwendung. In den Fokus geraten dann ›verrückte‹ Wirklichkeitsinterpretationen, die noch als ›sympathisch‹, da ungefährlich gelten. Ein typisches Beispiel aus dem Magazin Neon. Unter der Rubrik »Verschwörungstheorien aus dem Netz« finden sich Geschichten wie die Theorie von David Icke, dass jeder 25. Mensch eine humanoide Eidechse aus dem All sei, oder Hinweise auf Videoclips auf YouTube, die beweisen, dass es sich bei den sogenannten Ice Bucket Challenges in Wahrheit um satanische Taufrituale handele (Neon 03/2015). In all diesen Beispielen ist die typisierende Rede von ›den Verschwörungstheoretikern‹, deren einziger gemeinsamer Nenner bei genauerem Hinsehen lediglich darin besteht, dass ihre Wirklichkeitsdeutungen – in diesem Fall von Journalisten – als pathologisch und falsch eingestuft werden. Wichtig in Bezug auf unsere These, und von den meisten rezenten wissenschaftlichen Forschungen kaum beachtet, ist der Umstand, dass viele Artikel über Zweifel an den ›dubiosen‹ Machenschaften von Nachrichten- und Geheimdiensten (vor allem: NSA) und den großen Namen der Industrietechnik (Amazon, Apple, Google, WhatsApp usw.) nicht mit dem Label ›Verschwörungstheorie‹ versehen werden. Mit Bezug auf unsere hier vorgeschlagene Heuristik bedeutet dies: Während in den Leitmedien dämonologische Verschwörungstheorien weiterhin normativ gebrandmarkt werden, hat sich die konspirologische Kritik seit der Digitalisierung des Medienfeldes weitestgehend vom Mantel der Stigmatisierung befreit (Kap. 6.3 und 7.2). Die potentielle Stigmatisierungsgefahr von Narrativen, die Verschwörungen konspirologisch thematisieren und anprangern, wird von den meisten Veröffentlichungen mitreflektiert. So heißt es im Vorwort zu David Ray Griffins The New Pearl Harbor, einer der einflussreichsten Publikationen des amerikanischen 9/11 truth movements: »It must be underscored that this book does not belong in the genre of ›conspiracy theories‹, at least, as Griffin himself points out, in the pejorative sense in which that term is usually understood. It is a painstakingly 47
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scrupulous look at the evidence, with an accounting of the numerous discrepancies between the official account provided by the US government and the best information available. […] Part of the difficulty in achieving credibility in relation to issues this profoundly disturbing to public confidence in the basic legitimacy of state power is that the accusatory voices most often heard are strident and irresponsible, making them easily dismissed as ›paranoid‹ or ›outrageous‹ without further consideration of whether the concerns raised warrant investigation« (Griffin 2004: VIII).
Auch eine Auswertung der Userkommentare zu online publizierten Artikeln zeigt, dass viel Raum dafür verwendet wird, weniger auf die zur Debatte stehenden Inhalte einzugehen als vielmehr auf die gegenseitigen Stigmatisierungsmechanismen. Ein Beispiel vom 18. Juli 2013 zu einem Spiegel Artikel über Chemtrails eines Users Namens MvM NHI: »Oh man....HAARP, 9/11.....scheint Sie haben genau ins Schwarze getroffen. By the way: PRISM wurde von keinem VTler enttarnt...wurde überhaupt mal was durch selbsternannte VTler entdeckt? Nein!«.1 Im extremsten Fall können sich derartige Entgegnungsargumentationen verselbstständigen und zu einer vollständigen Immunisierung führen, die sich nicht durch Gegendarstellungen beirren lässt und die Diffamierungsversuche als Beweis der eigenen Wahrhaftigkeit umcodiert – ›wieso sollte man stigmatisieren, wenn es nicht darum gehen sollte, die Wahrheit zu verheimlichen?‹ (Kap. 7.4). Im argumentativen Wettstreit um den eigentlichen Hergang eines Ereignisses geht es somit auch darum, sich von der diskreditierenden Aura des Begriffes der Verschwörungstheorie zu befreien. Und dieser schlechte Ruf wird nicht nur von außen an das Feld der Konspirationstheorien herangetragen, sondern zudem von einigen, wie in der oben zitierten Einleitung aus Griffins Werk argumentiert wird, »schrillen« und »unverantwortlichen« Stimmen innerhalb des Feldes verstärkt. Kultursoziologisch ist diese Argumentation wenig überraschend: Kritik von außen führt nicht selten zu Reformationen im Inneren. Stigmata werden innerhalb des Feldes einfach weitergereicht. Seit 9/11 findet man in konspirologischen Veröffentlichungen vermehrt Bemühungen, die Verschwörungstheorie als ernstzunehmende Erkenntnistheorie zu etablieren und von einem ›naiven‹ konspirationstheoretischen – das heißt zumeist: dämonologischen – Denken abzugrenzen. »Dieses Buch […] plädiert dafür«, schreibt der taz-Journalist Mathias Bröckers in seiner auflagenstarken Publikation Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9., »die Konspirologie aus der Verbannung als schmutzige, unscharfe Erkenntnistheorie zu befreien und als kritische Wahrnehmungswissenschaft ernst zu nehmen. Wenn es vor einigen Jahrhunderten naiv war und als Aber1
Kommentar zum online-Artikel »Weltverschwörung am Himmel«, veröffentlicht am 18. Juli 2013 auf spiegel.de (letzter Abruf: 19. Juni 2017).
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glaube galt, hinter den Dingen unsichtbare Drahtzieher und Interessen anzunehmen, sollte es im vor uns liegenden Jahrhundert als naiv gelten, hinter der Wirklichkeitssimulation der Medien keine Drahtzieher und Interessen zu vermuten« (Bröckers 2002: 10 f.). Es sei daher Aufgabe einer »kritischen Konspirologie« hinter leeren Signifikanten wie »freier Wettbewerb« und »Marktwirtschaft« die eigennützigen Interessen einiger wenigen und miteinander vernetzten wirkmächtigen Akteure ausfindig zu machen (ebd.: 12). Dezidiert medienkritisch wird eine derartige Debatte – Stichwort: »Wirklichkeitssimulation« – in Deutschland öffentlich unter dem durch die Montagsdemonstrationen der PEGIDA und zum Unwort des Jahres 2014 gekürten Begriff »Lügenpresse« geführt. Auch hier wäre es falsch, die Debatte ausschließlich auf die politischen Ränder zu reduzieren: Fällt doch beispielsweise das vom Politikwissenschaftler Thomas Meyer im Suhrkamp Verlag veröffentlichte Buch Die Unbelangbaren (2015) unter den gleichen trigger (Kap. 7.4). »Ohne angemessene Verschwörungstheorie«, schreibt Bröckers in seiner 9/11-Studie, »lässt sich unsere hochgradig komplexe und konspirative Welt gar nicht mehr verstehen« (Bröckers 2002: 9, Hervorhebung K. M.). Er versucht das Konzept einer »kritischen Konspirologie« einzuführen: Die Theorie über eine Verschwörung ohne dämonisches Wirken. Wenn von Dämonen die Rede ist, dann als Metapher. Ein derartiger Versuch, das konspirologische Denken zu ›verwissenschaftlichen‹ und als ernstzunehmende Epistemologie zu etablieren, zeigt sich auch in den Abgrenzungsbemühungen innerhalb der Grenzen des 9/11 truth movements – beispielsweise an der Splittergruppe Scholars for 9/11 Truth and Justice (STJ). In den Worten von David Gabbard, Wissenschaftler an der staatlichen Universität in Boise: »We’re academics and we’re rational, and we really believe Congress or someone should investigate this. But there are a lot of crazies out there who purport that UFOs were involved. We don´t want to be lumped in with those folks« (zitiert nach Aaronovitch 2010: 319).2 Wechseln wir die Perspektive von der Selbstbeschreibung zum außenstehenden Beobachter, dann muss festgehalten werden: Auch die offizielle Lesart eines Ereignisses kann eine Verschwörungstheorie sein. Sie als solche auch zu benennen und zu kennzeichnen, erfordert jedoch eine zeitliche oder eine kulturelle Distanz. Wir müssen die Perspektive des Zeitgenossen von der kritischeren Perspektive des Historikers oder 2
Auf der offiziellen Homepage der Scholars for 9/11 Truth and Justice wird man mit folgenden Worten begrüßt: »Welcome! We are a group of scholars and supporters endeavoring to address the unanswered questions of the September 11, 2001 attack through scientific research and public education. We take care to present the strongest, most credible research available [...]« (Quelle: www.stj911.org, letzter Abruf: 19. Juni 2017).
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Soziologen unterscheiden. Rückblickend fällt es leicht, Verschwörungstheorien mittels pathologisierenden Begriffen wie »Paranoia« oder »Kollektivwahn« zu charakterisieren, um damit »die heutige Distanz zu alten Narrativen und den Abstand zu obsolet gewordenen Erklärungen in Worte zu fassen« (Heil 2006: 27 f.). Kritische Einwände von Zeitgenossen können dagegen auf Unglauben und harten Widerstand stoßen. Im schlimmsten Fall haben sie mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft der Vernünftigen zu rechnen. Denn aus der Innenperspektive der handelnden Akteure gilt eine »Alltagstheorie« oder eine Erzählung, die von den meisten Angehörigen der Gemeinschaft auch geteilt und anerkannt wird, als respektables und gültiges Modell zur Erklärung sozialen Wandels – und eben nicht als ›Verschwörungstheorie‹, ›unwahre Geschichte‹, ›Hirngespinst‹ oder ›Paranoia‹ (Giesen 1980: 9 ff.). Im Gegensatz zu dämonologischen Geschichten können konspirologische Erzählungen nicht in den Kanon offizieller Geschichte aufgenommen werden. Dies schließt bereits unsere Definition der zentripetal verlaufenden konspirologischen Verdachtsstrukturen aus. Sie sind Gegen-Narrative. Und sofern die betreffenden Aktanten es doch in die offiziellen Geschichtsbücher schaffen, werden sie wiederum dämonisiert: abgestoßen und an den Rand gedrängt. Das konspirologische Denken dreht sich um das eigene politische Zentrum. Hier zeigt sich eine weitere Problematik der Forschungsliteratur: die Diskrepanz zwischen den in wissenschaftlichen Studien immer wieder verwendeten historischen Beispielen für Verschwörungstheorien (Freimaurer, Ufos, rechtsextreme Wirklichkeitsdeutungen usw.) und dem aktuellen öffentlichen Diskurs (9/11 und der Ölkrieg, NSA und Prism, die Finanzkrise und die Spekulanten, Merkel und die Flüchtlinge, VW und der Abgasskandal usw.). Unser Vorschlag einer heuristischen Unterscheidung zwischen dämonologischem und konspirologischem Denken würde solchen empirisch-theoretischen Widersprüchen zuvorkommen. Wer von ›den‹ Verschwörungstheorien spricht und historisch nur auf dämonologische Szenarien verweist, der übersieht die aktuellen kulturellen Entwicklungen. Die Problematik der Beobachterposition wird von vielen Studien übersehen. Eine nennenswerte Ausnahme ist die Publikation von Anton, Schetsche und Walter (2014). Indem die Autoren Verschwörungstheorien wissenssoziologisch als »Wirklichkeitskonstruktionen zwischen Orthodoxie und Heterodoxie« einordnen, reflektieren sie ansatzweise die Position des Beobachters mit (Anton/Schetsche/Walter 2014).3 Paradigmatisch sind jedoch normative – und das heißt immer auch einseitige 3
»Der Begriff ›Verschwörungstheorie‹ und die damit verbundenen Zuschreibungen sind selbst immer Teil des Kampfes um die Definitionsmacht über soziale Wirklichkeit« (Anton/Schetsche/Walter 2014: 12).
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– Perspektiven wie die von David Aaronovitch. In seinem 2009 erstmals erschienenen Buch Voodoo Histories gibt er folgende, prototypische Definition für eine Verschwörungstheorie: »So a conspiracy theory is the unnecessary assumption of conspiracy when other explanations are more probable« (Aaronovitch 2010: 5). Eine derartige Definition macht insofern wenig Sinn, als sie von einem allwissenden, neutralen Beobachter ausgeht, der sich zudem im Besitz der Wahrheit wähnt – eine wissenssoziologische Unmöglichkeit. Sie gibt lediglich die soziale Verwendung des Begriffes ›Verschwörungstheorie‹ wieder, und verkennt dabei, dass die Deutung eines Ereignisses als Verschwörung keineswegs immer als deviant oder pathologisch, als unsinnig oder gar unmöglich gelten muss. Aus einer neutralen Außenperspektive darf dieser Schluss nicht voreilig gezogen werden, denn wie jede Erklärung und jede Erzählung eines Ereignisses, die sich institutionell oder eben subkulturell durchsetzen, sind auch Konspirationstheorien typisch für den jeweiligen kulturellen Nährboden, auf welchem sie gedeihen. Sie passen sich bereits früheren Deutungen und Narrativen über ähnliche Ereignisse an und bedienen sich dabei archetypischer Grundmuster aus dem kollektiven Unbewussten (Bühl 2000). Dies gilt sowohl für dämonologische als auch konspirologische Erzählungen. In seiner hervorragenden Studie über die Verfolgung der Aussätzigen und Juden im 14. Jahrhundert betont der Historiker František Graus genau diesen Aspekt der kulturellen, archetypischen Grundmuster: »Die Formen der kolportierten Vermutungen müssen typisiert, gewissermaßen als Fertigfabrikate geliefert werden; die allgemeinen dumpfen Vorahnungen werden so genormt und in fertige Schemata eingefügt« (Graus 1987: 331). Deutungen, Erzählungen und Theorien entstehen nicht aus dem Nichts. Erst wenn man die typische kulturelle Tiefenstruktur mitreflektiert – also das öffentliche, aber zumeist unbewusste Wissen einer kulturellen Gemeinschaft und deren jeweiligen kollektiven Imaginationen (Giesen et al. 2014: 11 ff.) –, die einer konkreten Verschwörungstheorie unterliegt, kann man das Phänomen auch beschreiben und dekonstruieren, ohne es einfach als pathologische Ausnahme zu rahmen. Kultursoziologisch ist es wenig hilfreich, die zugeschriebene »Irrationalität« verschiedener kollektiver Handlungsabläufe einfach auf das Kollektiv selbst zu übertragen. »Soziologen sollten Erklärungen mißtrauen«, schreibt Eva Illouz in Warum Liebe weh tut, »die Verhaltensweisen a priori pathologisieren« (Illouz 2012: 137). So würde es wenig Sinn machen, über zwei Drittel der amerikanischen Bevölkerung als ›wahnhaft‹, ›wahnsinnig‹ oder als ›verrückt‹ zu bezeichnen, wenn sie über 50 Jahre nach dem Attentat auf John F. Kennedy davon ausgehen, dass ihr damaliger Präsident Opfer einer groß angelegten Verschwörung wurde (Kap. 8.2). Denn in jeder Verschwörungstheorie, egal wie abstrus sie uns auch erscheinen mag, finde zumindest, so Graus, »[e]ine 51
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unbewußte Furcht […] ihren Ausdruck« (Graus 1987: 331). Genauso wenig würde es soziologisch Sinn ergeben, die Wahl von Donald Trump zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten mit dem ›Wahnsinn‹ oder der ›Dummheit‹ seiner Wähler erklären zu wollen. Einen weiteren von wenigen Versuchen, die konkrete kulturelle Tiefenstruktur einer Konspirationstheorie freizulegen, finden wir in Edgar Morins klassischer Studie La rumeur d´Orléans (1969).4 Im Mai des Jahres 1969, inmitten einer Zeit politischer Unruhen und bereits angesetzter Neuwahlen nach dem Rücktritt de Gaulles, geht in der französischen Stadt Orléans die Geschichte um, dass junge französische Frauen in den Umkleidekabinen jüdischer Modeboutiquen mit Spritzen betäubt und über ein unterirdisches Kanalisationssystem aus der Stadt gebracht werden, um schlussendlich als Sexsklavinnen im Orient zu enden. Für diese Verdächtigungen gibt es keinerlei reale Anhaltspunkte. Kein einziges Mädchen wird in der Stadt als vermisst gemeldet. Trotzdem kommt es in Orléans während mehrerer Wochen immer wieder zu Aufständen. Aus den anfänglichen Gerüchten über die entführten Frauen ist binnen kurzer Zeit eine ausgefeilte Verschwörungstheorie geworden, die zum Ausschluss der jüdischen Einwohner aus der Städtegemeinschaft führen (Watzlawick 1976: 85 ff.). Die öffentlichen Dementis bezeugen lediglich, so die konspirologische Logik, dass die Politiker gekauft worden seien. Edgar Morin, der sich zusammen mit einem kleinen Team an Doktoranden in die Stadt begab, gelang es mit der Erforschung der Diffusionslogik der Erzählung zugleich nachzuzeichnen, wie sich ein latent vorhandenes antisemitisches Phantasma zusammen mit unbewussten kollektiven Ängsten zu der Verschwörungstheorie über jüdische Entführer, Zwangsprostitution im Orient und gekaufte Politiker verdichteten. Das Gerede über die entführten jungen Frauen verbreitete sich zuerst auf den Schulhöfen unter jugendlichen Mädchen. Erst in diesem sozialen Milieu Pubertierender, die, bedingt durch ihre eigene sexuelle »Zwischenlage« (Giesen 2010), die Vorgänge der 68-Bewegung sowohl mit einer gewissen Skepsis als auch einer gewissen Verlockung beobachteten, konnte das Narrativ auf Interesse und die nötige Zuschreibung von Wahrscheinlichkeit stoßen, um auch weitererzählt zu werden. Zuhause in den Wohnzimmern vermengte sich diese Angst und Neugier der Schülerinnen beim Weitererzählen mit dem noch immer latent vorhandenen Antisemitismus der Elterngeneration. Das Narrativ über versklavte weiße Frauen in orientalischen Harems war zu jener Zeit zudem kein unbekanntes: Seit Jahren wurde es in Trivialromanen 4
Wir haben bereits erwähnt, dass es sich bei Morins Studie weniger um eine Analyse von Gerüchten als um die Dekonstruktion einer konkreten Verschwörungstheorie handelt.
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als beliebtes Thema verkauft. Die Neueröffnung jüdischer Boutiquen mit einer modernen, freizügigen Großstadtmode – im eher provinziellen Orléans – fiel somit in die Zeit einer, um es mit den Worten Neil Smelsers auszudrücken, »strukturellen Spannung«, welche derartigen feindseligen Verschwörungsszenarien einen besonders fruchtbaren Boden liefern konnte (Smelser 1972). Edgar Morin zeigt in seiner Studie, dass es aus einer kultursoziologischen Perspektive eben nicht nur darum gehen kann, zu zeigen, dass eine Verschwörungstheorie die »unnecessary assumption« einer Verschwörung ist, wo andere Erklärungen »sinnvoller« oder »logischer« wären. Vielmehr geht es darum, aufzudecken, unter welchen kulturellen und sozialstrukturellen Bedingungen eine konspirationstheoretische Vermutung auf eine bereitwillige Resonanz stoßen kann, und zu zeigen, welche Probleme in ihnen bearbeitet und welche Widersprüche aufgehoben werden (Soeffner 2010: 10). Die Resonanz ist dabei nicht an die Größe der jeweiligen Glaubensgemeinschaft gebunden. Auch wenn der verschwörungstheoretische Verdacht nur in kleineren subkulturellen Kreisen umhergeht, geht es trotzdem darum, diese Bedingungen offenzulegen. Die Angst vor der Ansteckungsgefahr des Stigmas, das den als Verschwörungstheorien titulierten Theorien und Erzählungen anhaftet, scheint auch dafür verantwortlich zu sein, dass das Thema ein von Wissenschaftlern eher gemiedenes diskursives Feld ist. Es besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Relevanz von Konspirationstheorien und deren wissenschaftlicher Erforschung (Anton/Schetsche/Walter 2014: 9 ff.). Für den Historiker Rudolf Jaworski werden diese »Berührungsängste« verursacht durch »die Sorge, die Zwielichtigkeit des Untersuchungsfeldes könnte zu unliebsamen Rückschlüssen auf die Seriosität des damit verbundenen Forschers verleiten« (Jaworski 2001: 13). Folgt man dieser Annahme, so werden die Themen natürlich umso brisanter, je aktueller ihr historischer Bezug jeweils ist. Die sichere und ›besserwisserische‹ Position des zeitlich distanzierten Beobachters ist hier noch nicht gegeben. Eine seltene und interessante Ausnahme im kulturwissenschaftlichen Feld ist die bereits 2004 erstmals erschienene Publikation »Anthrax«. Bioterror als Phantasma vom Züricher Historiker Philipp Sarasin. In seiner Studie geht Sarasin der Frage nach, wieso kurz nach den Anschlägen vom 11. September die Furcht vor einer unsichtbaren bioterroristischen Bedrohung größer war als die Angst vor weiteren Flugzeugangriffen. Zwar geht es nicht explizit um konspirologisch argumentierende Verschwörungstheorien, jedoch streift Sarasin bei der Behandlung der Frage, ob die amerikanische Regierung tatsächlich derart von den Angriffen »überrascht« gewesen sei, wie es die offizielle Leseart der Ereignisse nahelegt, immer wieder jenes diskursive Terrain »regimekritischer« Dokumente, das zu betreten seinem Ruf als Wissenschaftler sehr leicht hätte schaden 53
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können. Je gegenwärtiger das untersuchte Ereignis ist, desto problematischer und vor allem poröser wird die Trennungslinie zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven. Denn die Geschichte ist, institutionell betrachtet, noch nicht abgeschlossen. Trotzdem bezieht sich Sarasin in seinem Quellenmaterial immer wieder auf aktuelle kritische Gegendarstellungen, die er vor allem im Internet ausfindig macht. Er scheut als renommierter Historiker selbst nicht davor zurück, seine Zweifel an der offiziellen Erzählung kundzutun: »Die Annahme, die amerikanische Regierung sei von den Attacken vollständig überrascht worden, scheint doch einigermaßen unplausibel. Wahrscheinlicher ist die Vermutung, daß die amerikanische Regierung zumindest eine Ahnung hatte, ›so etwas‹ werde in Kürze passieren, und daß sie es aus Gründen, über die man leider nur spekulieren kann, unterlassen hat, die geeigneten Maßnahmen zur Abwehr zu ergreifen« (Sarasin 2004: 119). Indem Sarasin in seinem Essay diverse 9/11-Verschwörungstheorien als Quellenmaterial normativ zu Wort kommen lässt, nimmt seine Studie im wissenschaftlichen Diskurs eine radikale Ausnahmestellung ein. Da konspirologische Texte, genauso wie Pornographie, für viele Wissenschaftler als verrucht gelten – erinnern wir uns nochmals an Latours kritische Haltung gegenüber konspirologischer Kritik (Kap. 1.3) –, sind sie inhaltlich bisher verhältnismäßig selten zum ernstzunehmenden empirischen Forschungsgegenstand gemacht worden. Die Thematik vom verschwörungstheoretischen Denken wird dominiert von wissenschaftlichen Berührungsängsten. Wegen einer fehlenden zeitlichen und auch kulturellen Distanz gilt dies für das konspirologische Denken umso mehr; dämonologische Verschwörungstheorien sind schon seit längerem Gegenstand historischer Studien. Kommen wir zum Ende dieses Punktes nochmals kurz auf Karl Otto Hondrich zurück. In seinem Essay über Normalität auf der sozialen Makroebene und spontanen Pathologisierungen auf der Mikroebene geht Hondrich von dem ihm so titulierten »contradiction theorem« aus (Hondrich 1987: 255). Schicksalshafte Makronormalität im Sinne Webers produziert auf einer Mikroebene immer auch Menschen, die als Abweichler, Außenseiter und Exzentriker wahrgenommen werden. »In everyday life«, schreibt Hondrich, »we are all engaged in a continuous and subtle process of judging people, including ourselves, in this respect. I call this spontaneous micropathologization« (ebd.: 258, Hervorhebung im Original). Soweit sind diese Überlegungen soziologischer Standard. Hondrich fügt jetzt eine interessante These hinzu: Je länger wir über derartige spontane Stigmatisierungen nachdenken, je mehr wir die Rolle des Anderen übernehmen, desto mehr und mehr gewinnt er unser Mitgefühl und Verständnis. Mit der Zeit denken wir um, wir ändern unser Urteil. Was mit einer spontanen Pathologisierung begann, endet, so Hondrich, mit einer »reflective micronormalization« 54
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(ebd.). Damit verschiebt sich zugleich der Schuldzuweisungsprozess. Wenn der Einzelne nichts dafür kann, dann ist das System schuldig zu sprechen. Die reflexive Mikronormalisierung setzt Hondrich einer »reflective macropathologization« gleich (ebd.). Hondrichs Überlegungen sind in mehrfacher Hinsicht für unsere Forschungsfrage interessant. Zum einen ist der Turn von der Mikropathologisierung hin zur Makropathologisierung ein konspirologisch angehauchter. Nicht der Einzelne, sondern das System, die herrschenden Institutionen geraten unter Verdacht, wenigstens hinter der Fassade nicht mehr ganz ›normal‹ zu verlaufen. Makropathologisierung entlastet den Einzelnen davor, selbst in den Fokus von Schuldzuweisungen zu geraten. Sie übt eine moralische Entlastungsfunktion aus. Zum anderen schützt Hondrichs These des Mikro-Makro-Widerspruchs davor, gegen den wissenschaftlichen Mainstream schwimmende Wirklichkeitsdeutungen nicht sofort mit kulturkritischen Untergangsszenarien begegnen zu müssen. Es mag paradox erscheinen, aber eine öffentlich geführte konspirologische Kritik der Makrostrukturen zeugt von einer, im Sinne Poppers, »offenen« Gesellschaftsstruktur. Darauf weist Hondrich hin.
2.2 Das Stigma der Kultursoziologie. Methodologische Bemerkungen »Ich bin Soziologe, das ist eine Tatsache. Ob ich ein Feldforscher bin, das ist eher ungewiss. Jedenfalls gestehen mir einige meiner Kollegen dieses Attribut nicht zu. Höchstens, wenn man die Bistrots, in die ich sehr oft gehe, als Feld betrachten würde. […] Ist das, was ich mache, etwas Wissenschaftliches? Da bin ich mir nicht sicher. Nehmen Sie es lieber als eine Art von Wachträumerei, der ich nachgehe und die ich zur Diskussion stelle« (Michel Maffesoli)5
Von einem sozialwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet erscheinen sowohl die gerade erwähnten Berührungsängste als auch der normative wissenschaftliche Umgang mit dem Thema der Konspirationstheorien sehr befremdlich. Wurde nicht in den Geburtsstunden der Soziologie bereits das Gesetz der Wertneutralität formuliert? Gilt das nicht auch für ›schmutzige‹, ›verruchte‹, ›zwielichtige‹ Sozialphänomene? Schützt gerade diese Haltung nicht den Ruf des Sozialwissenschaftlers? Tatsächlich scheint es in Mode gekommen zu sein, 5
Zitiert nach und übersetzt von Keller (2006: 62).
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Max Webers These der Wertneutralität einem naiven Relativismus und Konstruktivismus gleichzusetzen und damit zu diskreditieren (siehe als einschlägige Beispiele hierfür: Boghossian 2013 und Hacking 1999). Da diese Arbeit einem kultursoziologischen, und daher per se sozialkonstruktivistischen, Paradigma folgt, müssen wir uns an dieser Stelle kurz mit dieser Kritik auseinandersetzen. Wenn Naturwissenschaftler und analytische Philosophen am Sozialkonstruktivismus den Mut zur Stellungnahme für eine Wahrheit vermissen – und gar als ethisch zweifelhaft behandeln –, dann verwechseln sie gerade die für die sozial- und kulturwissenschaftlichen Studien relevante Frage »Was ist in der Welt der Fall?« mit jener irrelevanten Frage »Was sollte in der Welt der Fall sein?« – auch diese Formulierung geht bereits auf Max Weber zurück (Weber 1973). Es ist nicht wichtig, wie der Autor der vorliegenden Arbeit den Inhalt eines bestimmten konspirologischen Narratives bewertet. Wichtig ist die Tatsache, dass dieses Narrativ in der Welt der Fall ist: Welche Wertideen werden darin ausgedrückt? Und warum es gerade zu diesen kulturellen – und das heißt auch immer: historischen – Bedingungen in der Welt der Fall ist? Soziologisch geht es um Kultur und die Gründe ihres jeweiligen »geschichtlichen So-undnicht-anders-Gewordenseins« (Weber 1973: 171). Bereits Karl Mannheim hat in seinem Gründungstext der modernen Wissenssoziologie darauf hingewiesen, dass das konstruktivistische »Phänomen des Relationierens« nicht mit einem naiven Relativismus oder gar einem Werteurteil über die untersuchten kulturellen Inhalte zu verwechseln sei: »Relationismus bedeutet nicht, daß es keine Entscheidbarkeit in Diskussionen gibt, sondern daß es zum Wesen bestimmter Aussagen gehört, nicht absolut, sondern nur in standortgebundenen Aspektstrukturen formulierbar zu sein« (Mannheim 1965: 242). Wenn Ian Hacking in seinem Buch Was heißt ›soziale Konstruktion‹? die polemische Prognose formuliert, »daß wir nächstes Jahr ein Buch zu lesen bekämen, das den Titel ›Die soziale Konstruktion des Holocaust‹ trägt. Ein Buch, das mit den Thesen aufwartet, die Konzentrationslager seien Übertreibungen und die Gaskammern Erfindungen« (Hacking 1999: 16), dann hat er genau diese Einwände Mannheims nicht verstanden.6 Die Shoah sozialkonstruktivistisch zu untersuchen, bedeutet nicht, dass man historische Fakten leugnen oder in Frage stellen muss. Sozialkonstruktivismus ist kein Revisionismus. Eine »soziale Konstruktion des Holocaust« zu schreiben würde bedeuten, die spezifische Erinnerungskultur eines kulturellen Kollektivs an dieses Ereignis zu durchleuchten. Es würde also hier nicht um den Wahrheitsgehalt eines historischen Er6
Überhaupt wird der Text von Karl Mannheim, der für die Entstehung der modernen Wissenssoziologie von eminent wichtiger Bedeutung war, von den kritischen Gegenpositionen zumeist keiner Erwähnung gewürdigt.
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eignisses gehen, sondern um kollektive Selbst- und Fremdbeschreibungsmechanismen: um Opfer- und Heldenerzählungen, um traumatische Gründungsmythen, um Verdrängungen, Verschiebungen und Verleugnungen, um öffentliches Wissen und kollektiv Unbewusstes, um Brüche zwischen den Generationen. Nochmals mit Mannheim formuliert: Es würde um die tatsächlichen »Aspektstrukturen« von geäußerten oder eben verschwiegenen »Aussagen« gehen. Dass es sich hierbei um Aussagen handeln kann, deren Inhalt man persönlich verabscheut, hat aus der Perspektive eines Sozialwissenschaftlers nichts damit zu tun, dass sie in der Welt der Fall sind. Nicht zuletzt aufgrund der zum größten Teil unberechtigten Kritik am Sozialkonstruktivismus und aufgrund der Unmenge an normativen und daher wissenschaftlich unbrauchbaren Studien über das konspirationstheoretische Denken scheint es notwendig, an dieser Stelle an die fundamentalen Prinzipien einer kulturtheoretisch orientierten Soziologie zu erinnern. Wir tun dies mit den Worten Max Webers und des ehemaligen Konstanzer Kultursoziologen Hans-Georg Soeffner, mit dem wir beginnen: »Soziologie ist Wirklichkeitswissenschaft: Sie beschreibt und analysiert die realen Möglichkeiten und die möglichen Realitäten gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Organisation. Zwangsläufig gilt ihre Aufmerksamkeit – zumal dann, wenn sie sich als materiale Wissenssoziologie versteht – den Strukturen, Bauformen und Elementen gesellschaftlicher Wirklichkeitskonstruktionen. Sozialwissenschaft als Beruf zu betreiben, bedeutet, aus einer strukturell auferlegten Distanz und notwendigen Perspektivenvielfalt heraus zu beobachten, zu beschreiben und zu interpretieren, d.h. mit engagiertem Desinteresse an die Beobachtungsgegenstände und mit interessiertem Disengagement an die Erscheinungs- und Äußerungsformen des Sozialen – dessen Teil man ist – heranzugehen. Soziologie als von Menschen betriebene Humanwissenschaft ist – beinahe zwangsläufig – den Menschen und Gesellschaften, die sie beschreibt und zu verstehen versucht, mit nüchterner oder ernüchterter Sympathie verpflichtet« (Soeffner 2010: 136). »Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, daß wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ›Kultur‹ wertvoll finden, sondern daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Welches immer dieser Sinn sein mag, er wird dazu führen, daß wir im Leben bestimmte Erscheinungen des menschlichen Zusammenseins aus ihm heraus beurteilen, zu ihnen als bedeutsam (positiv oder negativ) Stellung nehmen. Welches immer der Inhalt dieser Stellungnahme sei, – diese Erscheinungen haben für uns Kulturbedeutung, auf dieser Bedeutung beruht allein ihr wissenschaftliches Interesse. Wenn also hier im 57
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Anschluß an den Sprachgebrauch moderner Logiker von der Bedingtheit der Kulturkenntnis durch Wertideen gesprochen wird, so ist das hoffentlich Mißverständnissen so grober Art, wie der Meinung, Kulturbedeutung solle nur wertvollen Erscheinungen zugesprochen werden, nicht ausgesetzt« (Weber 1973: 180 f., Hervorhebung im Original).
Wir müssen uns noch mit einer weiteren potentiellen Kritik an dieser Stelle auseinandersetzen. Sie bezieht sich, vereinfacht formuliert, auf den Stellenwert der Empirie in dieser zum großen Teil theoretisch verfassten kultursoziologischen Studie. Vielleicht wird der ein oder andere Leser dieser Arbeit einen Anhang mit transkribierten Interviews oder ausgewerteten Fragebögen, durchgeführt am einzelnen, ›realen Verschwörungstheoretiker‹, vermissen. Gelegentlich wurde ein derartiger Einwand auf Konferenzen oder in Forschungskolloquien erhoben: Wieso nicht einfach bekennende Verschwörungstheoretiker interviewen? Nicht nur von Fachfremden scheint manchmal die Erwartung an die Soziologie herangetragen zu werden, dass soziologische Resultate ausschließlich aus den quantitativen beziehungsweise qualitativen ›Mittelwerten‹ der direkt am Akteur erhobenen Daten zu bestehen habe. Mehr noch: In derartigen ›Mittelwerten‹ erhofft man sich tatsächlich die Wiedergabe einer entschleierten, realen Wahrheit über das Soziale. Gesellschaftliche Wirklichkeit besteht jedoch nicht aus Durchschnitten. Reflexionen darüber, dass es sich bei dem Label ›bekennender Verschwörungstheoretiker‹ um eine Fremdzuschreibung handelt und die Problematik von Verzerrungseffekten in einem Gespräch mit einem ›offiziellen Wissenschaftler‹ wurden bei derartigen ›Ratschlägen‹ zumeist völlig außer Acht gelassen. Wurde diese Kritik in den Raum geworfen – »arbeite mit einem Fragebogen oder problemzentrierten Interviews« –, dann nahm die Diskussion eine eigenwillige, eher selbstreferentielle Dynamik an. Die Forschungsfrage schien abrupt irrelevant, austauschbar. Fortan ging es um die innerdisziplinären Grabenkämpfe der Soziologie zwischen quantitativen, qualitativen und theoretischen Forschungsperspektiven; um die Besonderheiten der verschiedensten spezialsoziologischen Teildisziplinen, ihre Zugangsmethoden und exklusiven Ansprüche. In seiner Besprechung des Soziologentages 2010 in Frankfurt beobachtet Martin Stempfhuber in der Süddeutschen Zeitung genau diese Entwicklung als außenstehender Beobachter äußerst kritisch: »Man darf sich bei einem Besuch des diesjährigen Soziologenkongresses fragen, ob die Soziologie es mit der Multiperspektivität vielleicht nicht zu weit getrieben hat. Sie präsentiert sich als ein Labyrinth unterschiedlicher Sektionen, deren Disparatheit nur noch ahnen lässt, was denn einen spezifisch soziologischen Blick auszeichnen könnte« (Stempfhuber 2010: 12). Die Verflüssigung dieser gemeinsamen soziologischen Perspektive – wie sie oben in 58
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den Zitaten von Weber und Soeffner erläutert wurde – erweist sich als äußerst problematisch und gefährlich in Bezug auf den Stellenwert des Faches innerhalb der Geisteswissenschaften. Lapidar formuliert: Es ist nie gut, zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein. Die ständige Diskussionen um den Stellenwert zwischen Empirie und Theorie, um die Spezifika von qualitativen und quantitativen Erhebungs-, Zugangs- und Forschungsmethoden und die andauernde Zergliederung in weitere Bindestrich-Soziologien – die oftmals mehr an ihrer eigenen Daseinsrechtfertigung als an ihrer Forschungsfrage interessiert sind – tragen dazu bei, den »spezifisch soziologischen Blick« immer weiter aus den Augen zu verlieren. Diese Debatten dokumentieren mittlerweile mehr den Prozess einer ›Materialermüdung‹ innerhalb der Methodologie der Soziologie,7 als dass sie die Position des eigenen Faches innerhalb des weiten Feldes der Kulturwissenschaften weiter verfestigen. Dabei steht schon bei Simmel: »Nicht ihr Objekt, sondern ihre Betrachtungsweise, die besondre, von ihr vollzogene Abstraktion differenziert sie [die Soziologie, K. M.] von den übrigen historisch-sozialen Wissenschaften« (Simmel 1992: 23). Simmels Worte klingen heute fast mahnend. Wir werden im Folgenden mit der gängigen Argumentationsvorgehensweise innerhalb methodologischer Kapitel in soziologischen Arbeiten teilweise brechen. Weder werden wir aus rein strategischen Gründen auf erwartbare Klassiker der empirischen Sozialforschung hinweisen noch auf die blinden Flecken rein quantitativer, qualitativer oder theoretischer Studien. Jede wissenschaftliche Perspektive hat ihre blinden Flecken, ihren mythischen und damit nicht hinterfragbaren Unterbau (Fleck 1980; Kuhn 2003). Wir wissen um die Schwächen des eigenen Forschungszuganges und um die Stärken anderer – und umgekehrt. Trotzdem werden wir an dieser Stelle nicht umhinkommen, ein kleines Plädoyer für eine impressionistische Kultursoziologie zu halten. Dabei ist dieser Ansatz keineswegs neu, er findet sich bereits in der Soziologie Georg Simmels. Als Grundlage unserer kurzen methodologischen Überlegungen dient ein 1987 auf Deutsch erschienener Aufsatz von Michel Maffesoli.8 In Das ästhetische Paradigma. Soziologie als Kunst beruft sich Maffesoli mit Bezug auf Simmels »formale Soziologie« auf eine erfahrungsgesättigte Beschreibung von sozialen Phänomenen und wendet sich gegen das »Phantasma der Zahlen« der zeitgenössischen Soziologie.9 »Vielleicht 7 8
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Damit ist auch gemeint, die gleichen sozialen Phänomene durch die Zugänge verschiedenster Bindestrich-Soziologien zu betrachten. Ich danke Veronika Zink für den Hinweis auf diesen in Vergessenheit geratenen – beziehungsweise vielleicht noch nie aus der Vergessenheit geratenen – Essay Maffesolis. »Die Arbeiten einiger zeitgenössischer Soziologen – ich denke, ohne Anspruch an Vollständigkeit, an G. Durand, G. Balandier, E. Morin, J.
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ist es an der Zeit«, beginnt Maffesoli seine Ausführungen, »wider das ›social engineering‹ in seinen mehr oder weniger ausgefeilten Versionen für den Soziologen das Recht zu beanspruchen, über die gesellschaftliche Entwicklung zu poetisieren, zu ästhetisieren« (Maffesoli 1987: 460, Hervorhebung im Original). Wir müssen uns genauer anschauen, was Maffesoli in diesem Kontext mit »poetisieren« und »ästhetisieren« meint. Maffesoli plädiert keineswegs für ein anything goes. Noch weniger geht es ihm darum, die empirisch gegebene Wirklichkeit zugunsten fiktiver Phantasiewelten zu opfern. Ein derartiger Vorwurf wäre oberflächlich und falsch. Die ›Poesie‹ und ›Ästhetik‹, die Maffesoli hier anspricht, sind das Resultat einer phänomenologisch-impressionistischen Betrachtungsweise der sozialen Um- und Mitwelt. Maffesolis Methode beschreibt man wohl am besten – mit Veronika Zink formuliert – als Phänomenographie; so wie sie bereits von den Gründern des Collège de Sociologie betrieben wurde (Zink 2014).10 Die methodische Vorgehensweise ist dabei, wie auch Reiner Keller bemerkt, keineswegs beliebig (Keller 2011: 257). Maffesoli stützt sich auf Webers These der Wertneutralität, Schütz´ Konzept der Typizität und vor allem Simmels Idealtypen- und Formenlehre. In Anlehnung an letzteren spricht Maffesoli von einer »formistischen« Soziologie: »Für sie gibt es keine wahre Existenz hinter derjenigen, die sich zeigt. Sie begnügt sich damit, die verschiedenen, das ›theatrum mundi‹ konstituierenden Lebensstile ernst zu nehmen« (Maffesoli 1987: 465, Hervorhebung im Original). In Anlehnung an unser Thema könnten wir behaupten, dass Maffesolis Perspektive auf die soziale Wirklichkeit einer ›anti-konspirologischen‹ Logik folgt: Sie nimmt Oberfläche, Schein und Form ernst: »In der Logik eines Gegebenen, das akzeptiert wird, ›weil es da ist‹, und im Rahmen der Deskription, die mit einer solchen Akzeptanz korreliert, könnte dieses in Rechnung stellen der äußeren Erscheinungsweise ein nicht zu vernachlässigender methodologischer Ansatzpunkt sein« (Maffesoli 1987: 464, Hervorhebung im Original).11 Duvignaud, J. Baudrillard – haben den Weg gewiesen. Sie haben de facto mit dem herrschenden Positivismus und dem Phantasma der Zahlen gebrochen, das im strengen Wortsinne das ›Zeichen‹ der Wissenschaftlichkeit war« (Maffesoli in La connaissance ordinaire von 1985, zitiert nach und übersetzt von Keller 2006: 62). 10 Siehe bspw. den wundervollen Essay über das Heilige im Alltagleben von Michel Leiris aus dem Jahr 1938 (Leiris 1977). 11 An anderer Stelle beschreibt Maffesoli Simmels formale Betrachtungsweise als »eine Haltung, die ohne Verzicht auf geistige Erfordernisse das Reale weder einzwängen noch reduzieren will« (Maffesoli 1988: 173).
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Die phänomenographische Methodik operiert impressionistisch, das heißt, sie basiert auf einer »aus der Erfahrung und Teilnahme am gelebten Leben gesättigten Beschreibung« (Keller 2011: 257). Sie ist kein Plädoyer für Meinungsbildung, sondern für Reflexivität. Somit können tatsächlich die von Maffesoli weiter oben angesprochenen Bistrotbesuche als Feldforschung verstanden werden, denn der Mensch hinter dem Soziologen hört nie damit auf, Eindrücke zu sammeln.12 Maffesolis Anführungen sind weniger sarkastisch oder polemisch, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Die Stärke der Phänomenographie liegt vor allem darin begründet, kulturelle und soziale Brüche und Verschiebungen anhand von Einzeluntersuchungen schneller, da intuitiver zu fassen. Dies wird bereits von Simmel deutlich hervorgehoben, wenn er im ersten Kapitel seiner Soziologie davon spricht, man müsse das »Odium« eines »intuitiven Verfahrens« auf sich nehmen und dürfe es nicht zugunsten einer »restlos formulierte[n] Methodik« opfern (Simmel 1992: 29 f.). Ein derartiges »intuitives« oder eben »impressionistisches« Verfahren bezieht ein Stück des eigenen Erlebens in die Interpretation mit hinein und komplementiert diese durch Rückgriffe auf soziologische, ethnologische, kulturanthropologische, historische, philosophische oder gar literarische Werke.13 Eine impressionistische Soziologie kann dadurch Schriften und Stimmen zu Wort kommen lassen, die aus dem Kanon klassischer Forschungszugänge und Interpretationsangebote tendenziell ausgeschlossen sind. Dies gilt sowohl in Bezug auf das untersuchte ›Material‹ selbst als auch für die zur Interpretation herangezogenen Werke. Hierin sieht Maffesoli eine weitere Stärke begründet: Seine Methode scheint ihm am geeignetsten, der Pluralität und Schnelllebigkeit postmoderner Sozialität gerecht zu werden: »Es scheint, als ob uns die Entwicklung unserer Gesellschaften hin zu Kommunikationsgesellschaften dazu zwingt, das Problem zu überdenken: dem Wort wieder den Stellenwert zuzugestehen, der ihm entspricht, und die Bilder sowie die gesellschaftliche Rhetorik zu beachten, die, angefangen von Stammtischdiskussionen bis hin zu den politischen Diskussionen die Alltagsexistenz akzentuieren. […] Eine ästhetisierende Soziologie kann […] eine Vorreiterrolle bei der Erkundung der sich ankündigenden neuen Welt übernehmen« (Maffesoli 1987: 461 f., Hervorhebung im Original). 12 Und vielleicht auch nicht der Soziologe hinter dem Menschen. 13 So einfach es klingen mag, Empirie besteht auch aus dem, was wir – unabhängig des aktuellen Forschungsprojektes – erlebt haben: aus der Lektüre von Zeitungsartikeln und Internetseiten, den alltäglichen Diskussionen und Streitigkeiten, den wissenschaftlichen Diskussionen und Streitigkeiten, den Erinnerungen an die eigene Kindheit und Vergangenheit, dem Beobachten von Fremden, von Bekannten, von Vertrauten und den Reisen in andere Kulturen.
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Auch wenn die Wortwahl zum Schluss etwas pathetisch daherkommt, so kann man den Umbruch zur »Kommunikationsgesellschaft« spätestens seit der Jahrtausendwende und der Weiterentwicklung zum Web 2.0 nicht mehr abstreiten.14 Losgelöst vom lokalen Ort, blühen die von Maffesoli so titulierten »Stammtischdiskussionen« in den weiten Welten des Internets regelrecht auf. Das ist zuerst einmal weniger ›postmodern‹ als eine ganz konkrete massenmediale Entwicklung. Seitdem ist die Anzahl an konkurrierenden Narrativen, die beanspruchen, die wahrheitsgetreue Version eines bestimmten Ereignisses wiederzugeben, ›verlockend‹ hoch. Einige dieser Erzählungen widersprechen zur Gänze den offiziellen Schilderungen und werden nur von einer Minderheit geglaubt. Andere widersprechen nur halbwegs und werden wiederum von einer Mehrheit für wahrscheinlich gehalten – dies zeigt sich insbesondere in Bezug auf den 11. September. Die Rückkehr vieler kleinerer disparater »Stämme« ist – im Gegensatz zur modernen Masse – für Maffesoli kennzeichnend für die postmoderne Sozialität (Maffesoli 1992). Eine derartige Perspektive steht natürlich ganz in der Tradition von Lyotard (Kap. 1.1). Die impressionistische Soziologie Maffesolis ist auch eine Soziologie der Grenzen, Nischen und Außenseiter, der vielen unzufriedenen, verfemten und (latent) subversiven Gegen-Narrativen, eine Soziologie des Gemurmels und Geraunes an der Peripherie, des »›laisser-aller‹ der gesellschaftlichen Existenz« (Maffesoli 1988: 178). Aber auch auf einer weiteren Ebene will Maffesoli dem Wort seinen Stellenwert zugestehen: dem »poetischen« Wort des Soziologen. Denken wir an die Gründungsväter der Soziologie – und Simmel ist hierfür geradezu ein Paradebeispiel –, so darf tatsächlich mehr als bloß der Verdacht geäußert werden, dass die Soziologie spätestens seit der Nachkriegszeit – allen voran im deutschsprachigen Raum – das Recht, über die »gesellschaftliche Entwicklung zu poetisieren«, aus den Augen verloren hat. Zwar zählen Soziologen akribischer – und das ist auch gut so –, die Kunst des Erzählens haben sie jedoch vernachlässigt. Wenn Maffesoli die »Arbeiten jener Sozialingenieure, die ein für allemal festgelegt haben, daß sich die Wissenschaftlichkeit am Maß der Langeweile bemißt, das ihre Arbeiten hervorrufen« (Maffesoli 1987: 462), anspricht und provokativ kritisiert, dann geht es ihm um die Rückbesinnung der Soziologie auf ihre geisteswissenschaftliche Fundamente: Die Soziologie gehört zu den erzählenden Wissenschaften. Narrare necesse est, titulierte Odo Marquard sein Loblied der Geisteswissenschaften (Marquard 2000). Selbst die moderne – durch 14 Wir haben bereits die These formuliert, dass der ›konspirologische Boom‹ um den 11. September weniger an der Besonderheit des Ereignisses selbst liegt, als vielmehr in der Gleichzeitigkeit zu den massenmedialen Weiterentwicklungen, insbesondere in Bezug auf das Internet.
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wissenschaftliche, technische, ökonomische oder informationelle Rationalisierungen geprägte – Welt, so Marquard, führe nicht zu einer Neutralisierung des Erzählens: »Die Rationalisierungen machen die Narrationen nicht obsolet; ganz im Gegenteil: sie erzwingen Erzählungen mit neuen Formen der Erzählung. Je mehr wir rationalisieren, um so mehr müssen wir erzählen. Je moderner die moderne Welt wird, desto unvermeidlicher wird die Erzählung« (Marquard 2000: 63).
So war die Soziologie in ihren Gründungsstunden geprägt von kompensatorischen Narrativen in Bezug auf die sozialen und technischen Modernisierungsprozesse: Simmel sprach von der »Tragödie der Kultur«, Weber von der »Entzauberung der Welt« und vom »Gehäuse der Hörigkeit«, Durkheim von »organischer Solidarität«. Die Zeit von derartigen großen Modernisierungsnarrativen ist vorbei (Lyotard 2005). Laut Maffesoli tut sich gerade die Kultursoziologie jedoch schwer damit, mit kleineren kompensatorischen Erzählungen in die vielen narrativen ›Lücken‹ postmoderner Entwicklungen hineinzustoßen. Auch wenn diese Arbeit einigen Lesern für eine soziologische Studie etwas zu erzählerisch daherkommen mag, so ist sie als ein Versuch zu verstehen, mithilfe einer »impressionistischen Soziologie« beziehungsweise eines »soziologischen Formismus« (Maffesoli 1987: 465), die Konturen einer ›postmodernen Evolution‹ des verschwörungstheoretischen Denkens nachzuzeichnen. Deswegen greifen wir in dieser Arbeit auf den Begriff der Stimmung zurück (Kap. 1.1). Damit ist sie zugleich eine Kritik an den normativ angelegten Studien, die Verschwörungstheorien als ein paranoisches Gemurmel an der Peripherie der Diskurse betrachten – einer Kritik, wie sie auch von Boltanski bestätigt wird (Boltanski 2013). Seit dem 11. September 2001 hat sich das konspirologische Denken vom Mantel und Stigma des Subkulturellen befreit und ist eine für diese Zeit typische Stimmung der – vor allem: digitalen – Öffentlichkeit, aus welcher heraus, mit Heidegger formuliert, auch der einzelne Redner spricht (Heidegger 1984: 138). Das konspirologische Denken bedarf eben keines Blickes an die diskursiven Ränder mehr, um auch gesichtet zu werden. Al-Qaida und die CIA, die Finanzkrise und die Spekulanten, Edward Snowden und die NSA-Affäre, Google und Facebook, Apple und Microsoft, Drohnen und Überwachungskameras, Big Data, Thermometer und Kondensstreifen, Merkel und Griechenland, Trump und seine Gegner, Airbus und Frankreich, Goldman Sachs und die Fifa, die ›soziale Schere‹ und die Gehälter von Politiker und Manager, Lux-Leaks und die Panama Papers, all dies sind nur einige Schlagwörter, die als Aktanten und trigger immer wieder in konspirologischen Erzählungen auftauchen – und das eben nicht nur in peripheren Medien und subkulturellen Bewegungen. 63
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Zurück zur methodischen Vorgehensweise der vorliegenden Arbeit: Es fehlen eine Erhebung statistischer Umfragewerte und die Veröffentlichung einer gesamten Kodierung von online- und Printpublikationen mittels einer computergestützten Daten- und Textanalyse wie beispielsweise MAXQDA. In den meisten Methodendiskussionen wird dies gleichgesetzt mit einer gänzlichen Verweigerung von empirischem Material. Vielleicht wird dies bedingt durch eine typische ›Nachkriegsneurose‹ der Soziologie: Es ist unmöglich, einer wissenschaftlichen Soziologendiskussion beizuwohnen, in welcher nicht irgendwann eine nicht weiter kontextualisierte und problematisierte Frage ›nach der empirischen Methode‹ fällt. Ein derartiger Vorwurf ist natürlich absurd. Die Grabenkämpfe zwischen quantitativen, qualitativen oder streng theoretischen Forschungsperspektiven sind anstrengend und sinnlos. Eine phänomenographisch betriebene Kultursoziologie im Sinne Simmels, des Collège de Sociologie oder Maffesolis ist keine Soziologie, die sich der empirischen Forschung verweigert. Im Gegenteil: Sie öffnet sich dem Sammeln von Eindrücken und der qualitativen Interpretation. Dies wiederum führt zu einer Ausweitung der Datenerhebungsräume: Empirisches Material wird gesammelt und gesichtet während der Verfolgung öffentlicher Debatten, während Diskussionen auf der Straße, am Campus und in Lokalen, während des stunden- und manchmal tagelangen Durchforschens diverser Internetseiten und Foren, und nicht zuletzt – in Bezug auf die vorliegende Arbeit – während des Auswertens von User-Kommentaren zu online publizierten Artikeln.15 Eine kulturelle Stimmung einzufangen und nachzuzeichnen ist also die Intention dieser Arbeit. In seiner Entstehung ist dieses Vorhaben weniger einem strikt festgeschriebenen, ›ingenieursähnlichen‹ Plan gefolgt. Vielmehr wurde eine Vorgehensweise gewählt, die eine Art der Beobachtung und des Berichtens vereint, welche der Anthropologe Clifford Geertz als »dichte Beschreibung« tituliert: »der Versuch, den Bogen eines sozialen Diskurses nachzuzeichnen, ihn in einer nachvollziehbaren Form festzuhalten« (Geertz 1987: 28). Kultursoziologisch aufgebrochen bedeutet diese Methode, zugleich teilnehmend als auch distanziert reflexiv über kulturelle Entwicklungen, Stimmungen und Trends nachzudenken; sie mithilfe eines semiotischen Kulturbegriffes interpretierend zu dekonstruieren. Unsere methodische Vorgehensweise ist somit weder rebellisch noch gänzlich innovativ. Im Gegenteil, steht sie doch in der Tradition von Simmel, dem Collège de Sociologie, Geertz, Popitz, Bauman und Bernd Giesen.
15 Allen voran auf dem beliebtesten deutschen Nachrichtenportal im Internet: www.spiegel.de.
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3. Zum Stand der Forschung An dieser Stelle können wir keinen allumfassenden Bericht über den Stand der Forschung zum Thema des verschwörungstheoretischen Denkens liefern. Dafür ist der Bestand an mehr oder weniger wissenschaftlicher Literatur sowohl zu umfangreich als auch zu redundant.1 Wir können hier nur auf die Werke eingehen, die für die Entstehung der vorliegenden Arbeit – ob inspirierend oder abstoßend – von Bedeutung waren. Werke, die an anderer Stelle ausführlicher behandelt werden, werden an dieser Stelle nur kurz erwähnt. Um einen besseren Überblick zu wahren, ordnen wir die Forschungen über das verschwörungstheoretische Denken drei Bereichen zu: einem kulturwissenschaftlichen, einem historischen und einem psychologischen. Als ›Klassiker‹ der kulturwissenschaftlichen Forschung über das konspirationstheoretische Denken wird in den meisten Studien der renommierte amerikanische Historiker und zweifache Pulitzer-Preisträger Richard Hofstadter angesehen. Er beschäftigt sich – ähnlich wie Murray Edelman (1990) – in einigen Artikeln aus den 1950er und 60er Jahren mit den emotionalen und symbolischen Aspekten innerhalb des politischen Feldes der Vereinigten Staaten. Er interpretiert die Politik weniger als System rationaler Entscheidungen für das Gemeinwohl einer Gemeinschaft, sondern vielmehr performanztheoretisch als – in den Worten des Kulturanthropologen Victor Turner – »soziales Drama« (Turner 2009: 95 ff.). In seinem 1963 erstmals vorgetragenem Essay The Paranoid Style in American Politics stellt er die Inszenierung einer »kommunistischen Gefahr« und die damit einhergehende Konstruktion eines unsichtbaren Feindes während und nach der McCarthy-Ära in den Kontext eines rechtskonservativen amerikanischen Verschwörungsdenkens, das mit dem 18. Jahrhundert begann (Hofstadter 1996). Seine Diagnose dieser politischen, teils populistischen Rhetorik, beispielsweise der protestantisch-militanten Pamphlete oder der Reden Senator ›Joe‹ McCarthys, wird unmissverständlich im Titel ausgedrückt: The Paranoid Style. Zwar lässt sich in Hofstadters Essay bereits ansatzweise der Versuch finden, kollektive Konspirationstheorien von den wahnhaften Verfolgungsängsten einzelner Personen abzugrenzen, trotzdem beschränkt er den historisch-sozialen Rahmen ausschließlich auf die politischen Ränder, insbesondere den rechten, und ihre dämonologischen Ängste. Das Modell einer individuellen Verirrung und Verwirrung wird trotz einzelner Abgrenzungsversuche auf ein ganzes Kollektiv übertragen. Eine derartige Anwendung des psychiatrischen Begriffs »Paranoia« betrachtet Verschwörungstheorien als irrationale, realitätsferne 1 Der gleichen Auffassung ist auch Boltanski (2013: 353 ff.).
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»Hirngespinste«, als verrückte Perspektive auf das Soziale, das Politische und die Wirklichkeit. Durch die einfache Zweiteilung in ›pathologisch vs. normal‹ wird der Blick auf die politische Geschichte in einer gewissen Hinsicht ahistorisch reduziert.2 Mehrere Historiker haben auf diese Problematik hingewiesen. So kritisiert der Koselleck-Schüler Heinz Dieter Kittsteiner in mehreren Studien derartige (a)historische, normativ aufgeladene Interpretationen. Ein Beispiel aus seinen Bemerkungen über die Hexenverfolgungen: »Spätere, aufklärerische Begriffe wie ›Hexenwahn‹ verstellen die Problematik; hier geht es nicht um ›Wahn‹ oder ›Aberglauben‹, sondern um ein in sich geschlossenes Weltbild« (Kittsteiner 2010: 157, Hervorhebung im Original). Anders formuliert: Was sind die kulturwissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Argumentation, der Erfolg der John Birch Society gründe auf der geistigen Verwirrung seiner Mitglieder und Befürworter? Ein anderes, aktuelleres Beispiel: Sind Menschen, die empfohlene Impfungen als das Produkt politisch-wirtschaftlicher Verstrickungen und Verschwörungen großer Pharmakonzerne betrachten, krank? Solche pathologisierenden Erklärungssemantiken bergen eine ihr eigene Gefahr: Sie tendieren dazu, bestimmte historische Zustände als ›Ausnahmen‹, als ›Fauxpas‹, als sich nie wiederholende ›Fehltritte‹ aus der ›Normalität‹ zu rahmen. Hofstadters Studie aus dem Jahr 1963 ist anzurechnen, dass sie den Weg für eine kulturwissenschaftliche Aufmerksamkeit am Thema der Verschwörungstheorien ebnete. Leider zu erheblichen Kosten: Die normativistische Argumentationsweise des Textes ist erst mit Luc Boltanskis 2012 erschienenen Studie Énigmes et complots (Dt. Rätsel und Komplotte) einer berechtigten kultursoziologischen Kritik unterzogen worden (Boltanski 2013: 339 ff.). Ende der 1990er hatte das Thema der Konspirationstheorien in der kulturwissenschaftlichen amerikanischen Forschung Konjunktur. Binnen eines kurzen Zeitraumes erschienen die Monographien von Daniel Pipes (1997), Mark Fenster (1999), Peter Knight (2000) und Michael Barkun (2003). Alle Studien ordnen das verschwörungstheoretische Denken nicht mehr ausschließlich den politischen und religiösen Rändern zu, sondern situieren es – seit der Ermordung John F. Kennedys – auch innerhalb der amerikanischen Populärkultur. Der amerikanische Journalist und Nahost-Experte Daniel Pipes liefert in seiner 1997 erstmals erschienen und weit rezipierten Studie Conspiracy zwar eine Vielfalt an historischen Details und auch interessanten Beobachtungen über die spezifische verschwörungstheoretische Logik, letztlich scheitert seine Studie jedoch an der eigenen normativen Perspektive und der wenig 2
Zu den verschiedenen Bedeutungsebenen des entgegengesetzten Begriffspaares ›pathologisch‹ und ›normal‹ und der Problematik kulturwissenschaftlicher Anwendbarkeit siehe Hondrich (1987: 256 ff.).
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fundierten und differenzierten Ursachenforschung (Pipes 1998). Zwar gelingt es Pipes, aufzuzeigen, dass das Verschwörungsdenken weiter verbreitet ist, als allgemein angenommen wird. Jedoch hindern ihn seine eigene abwertende Haltung und sein Anspruch, Verschwörungstheorien – für Pipes: »die Angst vor Verschwörungen, die überhaupt nicht existieren« (Pipes 1998: 15) – historisch und systematisch zu widerlegen, daran, soziologisch ergiebigere Ergebnisse zu erzielen. Indem er sich somit als »allwissenden Beobachter« positioniert, dem es darum geht, unwahre Verschwörungstheorien von einer wahren Geschichtsschreibung zu unterscheiden, begeht Pipes den gleichen Fehler wie Aaronovitch in seiner bereits angesprochenen Studie von 2009. Das Verhältnis zwischen Wahrheit und Wirklichkeit ist jedoch aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive weitaus komplexer und vieldeutiger als derartige Studien unterstellen (Kap. 4). Barkun situiert das moderne verschwörungstheoretische Denken innerhalb eines millenaristischen Diskurses: Der religiös-neutestamentarische Millenarismus wich im 19. Jahrhundert einer säkularen Form, die den Endkampf zwischen Gut und Böse in einer politischen Semantik reformulierte, beispielsweise im Marxismus. Seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs macht Barkun nun eine dritte Form konspirationstheoretischer Diskurse aus, er spricht von einem »rise of Improvisational Millennialism« (Barkun 2003: 18). Diese Form ist nicht mehr an nur eine Ideologie oder einen heiligen Text gebunden, sondern eine postmoderne Bricolage, die sich blind gegenüber den eigenen Widersprüchen aus verschiedenen ideologischen Argumentationssträngen bedienen kann. Barkuns Beobachtung, dass sich das konspirationstheoretische Denken nicht mehr ausschließlich in einer ideologischen Bahn bewegt, wird von mehreren neueren Forschungen bestätigt (Kay 2011; Wood et al. 2012). Trotzdem bleiben die Bahnen verrückt, die Epistemologie naiv – auch wenn ihnen fortan ein postmodern-spielerischer Hauch attestiert wird. Festzuhalten bleibt, dass die kulturwissenschaftliche Forschung der 90er-Jahre sich immer häufiger mit dezidiert konspirologischen Erzählungen auseinandergesetzt hat. Auch wenn sie diesen epistemologischen Bruch selbst nicht wahrgenommen hat. Die Liste derartig argumentierender Studien könnte man lange fortführen. Wir ersparen uns diesen Schritt und fassen die ›kultursoziologisch-unterkomplexe-da-normativistische‹ Tradition in den einleitenden Worten der Herausgeber des Bandes Konspiration. Soziologie des Verschwörungsdenkens (2014) zusammen – einem Sammelband, der, ähnlich unserer Vorgehensweise, mit dieser Perspektive brechen will und einige interessante Studien liefert: »Die Leitperspektive entsprechender Untersuchungen ist dabei durch eine essentialistische Herangehensweise gekennzeichnet, mit der Ver67
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schwörungstheorien prinzipiell als illegitimes Wissen betrachtet werden, das sich durch seinen negativen ontologischen Status, respektive fiktiven Charakter, auszeichnet. Die in Verschwörungsdiskursen prozessierten Wissensbestände erscheinen in dreifacher Hinsicht problematisch: Erstens, so wird pauschal behauptet, beruhen sie auf unwahren, unbewiesenen, erfundenen Behauptungen oder Vermutungen (mithin: ›sachlich falschen‹ Wirklichkeitsaussagen). Zweitens wird angenommen, der ›Glaube‹ (bereits die Verwendung dieses Terminus markiert die szientistische Distanzierung vom betreffenden Wissen) an eine entsprechende Verschwörungswirklichkeit würde nicht nur einfach auf sachlich falschen Alltagsüberzeugungen beruhen, sondern darüber hinaus Zweifel an der geistigen Gesundheit jener ›Gläubigen‹ erlauben, wenn nicht gar nahelegen. Und drittens schließlich stellten Verschwörungstheorien eine politische Gefahr dar, da sie den Nährboden für irrationale, politisch extreme Haltungen böten – und damit nicht nur gesellschaftlich riskant, sondern eben auch sozialethisch verwerflich seien« (Anton/Schetsche/Walter 2014: 10, Hervorhebung im Original).
Unsere soziologische Kritik an den mehr oder weniger kulturwissenschaftlich informierten Studien wird somit von den Autoren dieses Bandes bestätigt: Das Phänomen vom verschwörungstheoretischen Denken kann wissenschaftlich adäquat nur konstruktivistisch durch eine relationale Betrachtungsweise erfasst werden (ebd.: 12). Zwei Autoren der kulturwissenschaftlichen Schiene sind noch erwähnenswert: Peter Knight hat das Phänomen seit über einem Jahrzehnt wissenschaftlich akribisch beobachtet und einen umfangreichen Forschungsüberblick erarbeitet (Knight 2000, 2008 und 2014). Seine eigene Interpretation hat jedoch den Nachteil, den Ursprung des verschwörungstheoretischen Denkens zu sehr innerhalb fiktiver Populär- und Trivialkultur anzusiedeln. So macht er aus allen Arten von Konspirationstheorien eine Art ›X-Files Phänomen‹. Auch Mark Fenster situiert das verschwörungstheoretische Denken innerhalb der (amerikanischen) postmodernen Popkultur. Sein Eröffnungsslogan »We’re All Conspiracy Theorists Now« (Fenster 2008: 7) ist nicht ohne polemisch-kulturkritischen Unterton zu lesen. Bei beiden – Knight und Fenster – werden Verschwörungstheorien einer postmodernen Empfindlichkeit angerechnet, die, wie Matthias Hurst anmerkt, »beharrlich zwischen Verzweiflung und Ironie, zwischen Zynismus und Hysterie, zwischen Bedrohung und Heilserwartung schwankt« (Hurst 2014: 242). In die gleiche Richtung ist auch der Essay Spinning Paranoia von Skip Willman einzuordnen (Willman 2002). In diesen Studien verschwimmen die Grenzen zwischen dämonologischem und konspirologischem Denken. Die psychologische Forschungsperspektive ordnet das verschwörungstheoretische Denken ihren funktionalistischen Interpretationsansätzen unter. Ihre starre, stereotypisierende Haltung verschärft sogar den 68
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normativistischen Ton – die fehlende Wertneutralität – kulturwissenschaftlicher Studien. Der Bezug zur individuellen Psychose wird hier offensichtlich gezogen: Aus dem metaphorischen Gebrauch der klinischen Paranoia wird ein strukturelles Erklärungsmodell für kollektive Phänomene. »Alles Übel«, schreibt zum Beispiel Michael Schödlbauer, »alles völlig Unverstehbare auf einen bösen Willen zurückzuführen, – das verbindet das Verschwörungsdenken mit dem Paranoiden« (Schödlbauer 2011: 182). Eine derartige Übernahme psychiatrischer Konzepte – hier: Attribution – auf kollektive Phänomene ist soziologisch untertheoretisiert. Fragen wir naiv dagegen: Verbindet das wirklich nur den Verschwörungstheoretiker mit dem Paranoiden? Oder: Geht es wirklich nur um »Unverstehbares« und »einen bösen Willen«? Was ist, wenn man »Unverstehbares« als unverstanden stehen lässt und nur ein einzelnes Ereignis auf einen bösen, da konspirativen Willen zurückführt? Im psychologisch-funktionalistischen Forschungsansatz steht ein Argument immer wieder im Rampenlicht: Verschwörungstheorien reduzieren Komplexität. Diese Reduktion geschehe zudem mittels einer naiven, selbst wiederum unterkomplexen und in ihrer Logik kindlichen bis verrückten Wirklichkeitsinterpretation. Paradigmatisch sei hierfür auf zwei Sammelbände verwiesen: Changing Conceptions of Conspiracy (Graumann/Moscovici 1987) und Verschwörungstheorien: anthropologische Konstanten – historische Varianten (Caumanns/Niendorf 2001). Funktionalistische Erklärungsansätze greifen (sozial)psychologische Theorieansätze auf, die mitunter bis Kraepelins Lehrbuch der Psychiatrie und Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht zurückreichen. Soziale Kontingenz und kognitive Dissonanz, so der Tenor, werden zur Ungunst einer ›realistischen Perspektive‹ auf die Realität reduziert. Davor bewahren könne auf der »Ebene alltäglicher Wahrnehmung nur der gesunde Menschenverstand« (Groh 1996: 13, Hervorhebung K. M.). Im Extremfall seien Anhänger von Verschwörungstheorien tatsächlich einfach »krank« (Grauman/Moscovici 1987: 171 ff.). Die Argumentation mit diffusen Verallgemeinerungsformeln wie »anthropologische Konstanten« oder »gesunder Menschenverstand« ist kultursoziologisch nicht tragfähig. Bereits die einfache Unterteilung in dämonologisch und konspirologisch argumentierendes Denken widerlegt das Argument der »anthropologischen Konstanten«. Setzen wir uns an dieser Stelle etwas detaillierter mit dem Argument der Komplexitätsreduktion auseinander. Von vielen Studien, ob essayistisch3 oder streng wissenschaftlich, wird es einfach übernommen. So auch von Helmut Reinalter in seinem Werk Die Weltverschwörer: 3
Als Beispiel sei hier an die diversen Essays im Kursbuch 124 vom Juni 1996 oder im Sammelband The Parallax View (Krause/Meteling/Stauff 2011) verwiesen.
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»Verschwörungstheorien konstruieren ein vereinfachtes Muster der Wirklichkeit, um komplexe Zusammenhänge besser verstehen zu können; sie reduzieren Komplexität. Dazu kommt ein normativer Maßstab, weil die als Verschwörung charakterisierten Vorgänge nicht wertneutral beurteilt werden, sondern von einem normativen Standpunkt aus« (Reinalter 2010: 9).
Diese Definition ist in zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens stellt sich die Frage, wie aus der Perspektive der handelnden Akteure überhaupt wertneutral beurteilt werden kann? Alltagsakteure sind – mit Blick auf öffentlich brisante Themen – selten emotional distanzierte Beobachter: »Öffentlichkeiten«, heißt es bei Bernd Giesen, »werden weniger durch vernunftorientierte Diskurse als durch ansteckende Emotionen bewegt« (Giesen 2010: 264). Deutungsmuster ohne normativen Maßstab würden höchstens, im Sinne Durkheims, auf mangelnde kollektive Solidaritätsstrukturen hinweisen. Sie wären jedoch kein Beleg für eine ›komplexitätskonforme‹ Wirklichkeitsdeutung. Wer sollte auch darüber entscheiden – ohne selbst wiederum einen normativen Standpunkt einzunehmen? Zweitens stellt sich die berechtigte, aber in Bezug auf dieses Argument selten gestellte Frage, welches Narrativ kein ›vereinfachtes‹ Handhabungsmuster von Wirklichkeit, Welt oder Realität ist? Egal ob ›Verschwörungstheorie‹ oder hochkomplexe physikalische Formel, narratologisch gewendet handelt es sich hierbei um selektive Tätigkeiten (Koschorke 2012). Das heißt: Es gibt keine Perspektive auf die rohe Welt, keine Erzählung über die soziale Wirklichkeit, die nicht in irgendeine Richtung Komplexität reduziert. Das Argument der Komplexitätsreduktion macht nur innerhalb einer konsequenten systemtheoretischen Perspektive Sinn. Kulturwissenschaftlich aufgebrochen wird es zu einem immer gültigen Einwand. Komplexität zu reduzieren gehört zum fundamentalen Wesen des Menschseins. Auch die Zuschreibung von agency ist kein alleiniges Strukturmerkmal verschwörungstheoretischen Denkens, sondern wenigstens der latente Sinn aller Erzählungen – auch wenn Geschichten über konspiratives Wirken bisweilen zu einem »over-coherent thinking« neigen (Currie/Jureidini 2004). Da sie mit der sozialen Generierungsform der Geheimhaltung argumentieren, setzen sie sich immer der Gefahr aus, die Handlungsmacht einzelner Akteure zu überschätzen (Kap. 5). Die Besonderheit konspirologischer Argumentation liegt weniger in der Reduktion von Komplexität begründet als in einer moralischen Entlastungsfunktion. Dies gilt vor allem für Gesellschaften mit einem neoliberalen Wirtschaftssystem (Markovits/Silverstein 1989). Schuldzuweisungsfragen können vom Einzelnen ins Zentrum rückgesendet werden. So können nicht nur eigene Benachteiligungen erklärt werden – deshalb hat Dieter Groh die verschwörungstheoretische Versuchung 70
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mit der Fragestellung »why do bad things happen to good people?« umschrieben (Groh 1992) –, sondern tatsächlich auch die eigene privilegierte Position innerhalb eines neoliberalen Feldes – ohne schlechtes Gewissen. Hierin liegt die eigentliche Reduktionsfunktion von ›Die da oben‹-Argumentationen – ›die gar hinter geschlossenen Türen walten‹ – begründet: in der Reduktion moralischer Dilemmata. Ein weiteres Problem der psychologischen Forschungsschiene ist die Auswahl ihrer empirischen Beispiele zur Analyse verschwörungstheoretischen Denkens. Dies gilt vor allem für sozialpsychologische Experimente. So liegt der Studie Belief in conspiracy theories. The role of paranormal belief, paranoid ideation and schizotypy (Darwin/Neave/ Holmes 2011) ein diffuser, nicht komplett veröffentlichter Fragebogen zugrunde (Conspiracy Theory Questionnaire CTQ), dessen Themenauswahl selbst wiederum äußerst fragwürdig erscheint. Als Beispiel veröffentlichen die Autoren folgende Frage: »there are specialised government services who attempt to harass UFO witnesses into silence« (ebd.: 1290). Dass die Bejahung dieser Frage mit einer paranormalen Glaubensskala korreliert, sollte wenig überraschen. Derartige sozialpsychologische Experimente weisen alle die gleiche Problematik auf: Als Beispiele dienen ältere, von der historischen Wissenschaft eindeutig als verschwörungstheoretisch gelabelte Geschichten über Außerirdische und Hexen (siehe auch Wood/Douglas/Sutton 2012). So hinkt die empirische Basis dieser Studien der sozialen Realität hinterher. Mit anderen Beispielen – man stelle sich vor, die drei Buchstaben UFO mit NSA zu ersetzen – würden auch die Korrelationen anders verlaufen. Armin Pfahl-Traughbers »›Bausteine‹ zu einer Theorie über ›Verschwörungstheorien‹« halten wir für wenig hilfreich. Seine ideologiekritische Argumentation führt letztlich über Begriffsspielereien nicht hinaus. So lehnt Pfahl-Traughber den Begriff der »Verschwörungstheorie« ab, da von einer »Theorie« aus wissenschaftlicher Perspektive hier nicht die Rede sein kann: »Von daher würde die Bezeichnung ›Verschwörungstheorie‹ eben diesem Denken zu viel der ›akademischen Ehre‹ antun und es in der Wortwahl gleichstellen mit entwickelten Wissenschaftstheorien, was von der Sache her selbst gegenüber im wissenschaftlichen Diskurs umstrittenen Theorieansätzen nicht angemessen wäre« (Pfahl-Traughber 2002: 33). Wo die Grenzen zu »im wissenschaftlichen Diskurs umstrittenen Theorieansätzen« beginnt und ›wer‹ über den Einlass ›entscheidet‹, bleibt unbeantwortet – als sei die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Diskurses transzendentalen Ursprungs. Pfahl-Traughber empfiehlt das verschwörungstheoretische Denken mit den Begriffen der »Verschwörungshypothese«, der »Verschwörungsideologie« und des »Verschwörungsmythos« zu fassen. Dabei handelt es sich um eine Steigerung hin zur kompletten Fiktion: Während die Hypothese einen losen Verdacht bezeichnen soll, steht der 71
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Mythos gänzlich für einen Glauben an real nicht mehr Fassbares. Diese normative Verwendung des Mythosbegriffes steht in Widerspruch zu unseren kultursoziologischen Grundannahmen (Giesen et al. 2014: 175 ff.). Diverse Ausprägungen verschwörungstheoretischer Wirklichkeitsdeutungen sind historisch gut erforscht. Dies trifft vor allem auf das dämonologische Denken zu. Die antisemitischen Vergiftungstheorien des 14. Jahrhunderts sind historisch besonders gut dokumentiert und analysiert (Delumeau 1985; Ginzburg 2005; Graus 1987; Heil 2006; Nirenberg 1996; siehe Kap. 6.2).4 Johannes Rogalla von Bieberstein hat eine umfassende Studie über das verschwörungstheoretische Denken von der Französischen Revolution bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges vorgelegt (Bieberstein 1976). Im 19. Jahrhundert geht, so Bieberstein, die freimaurerische Verschwörungsthese eine Liaison mit dem aufsteigenden Sozialismus ein. In Bezug auf die Austauschbarkeit der Figuren des Freimaurers, des Juden und des Kommunisten spricht er von einer »dämonischen Trinität« (Bieberstein 2002: 24). Morin ist die kultursoziologisch informierte Zusammenstellung und Dekonstruktion der Ereignisse vom Mai des Jahres 1969 in Orléans zu verdanken (Morin 1969; siehe Kap. 2.1). Auch verschiedene konkrete Dokumente wie die Protokolle der Weisen von Zion oder Augustin Barruels Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichten Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme sind historisch gut erforscht (Pierhal 1938; Klausnitzer 2007). Wissenschaftliche Lücken bestehen, wenn es darum geht, das verschwörungstheoretische Denken in einen längeren historischen Zeitraum einzurahmen. Für die doppelte, kontrafaktisch erscheinende Funktion des Geheimnisses in Bezug auf die Bedingung der Möglichkeit von Kritik an absolutistischen Strukturen ist nach wie vor Reinhart Kosellecks Dissertationsschrift wegweisend (Koselleck 1973). Zuletzt sei noch auf einige Studien hingewiesen, die sich einer klaren wissenschaftlichen Zuordnung verweigern beziehungsweise eher ethnologisch oder literaturwissenschaftlich informiert argumentieren. Der Sammelband Transparency and Conspiracy vereinigt einige interessante ethnologische Studien, die sich durch die Distanzierung vom gängigen normativen Argumentationsschema hervorheben (West/Sanders 2003). Der Unterschied zwischen Paranoia und politischer These liege im Auge des Betrachters. Zudem dekonstruieren einige Beiträge populistische Rhetoriken über demokratische Transparenz und distanzieren sich von der These der Komplexitätsreduktion. Das Argument geht hier jedoch 4
Dass viele historische Studien, wie auch in diesem Fall, verwirrenderweise von Gerüchten sprechen, jedoch Verschwörungstheorien untersuchen, darauf haben wir weiter oben bereits hingewiesen (im Exkurs: Über das Gerücht).
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mit einer ähnlichen problematischen Wucht in die andere Richtung: »In fact, it would seem from the evidence here presented that they do precisely the opposite, rendering the world more complex by calling attention to its hidden and contradictory logics, by proposing alternative ways of understanding and engaging it« (ebd.: 17). Ralf Klausnitzer hat eine sehr aufschlussreiche und theoretisch äußerst fundierte literaturwissenschaftliche Studie vorgelegt (Klausnitzer 2007). Er rekonstruiert konspirationstheoretische Deutungsmuster sozialen Handelns in einem größeren Kontext literarischer Szenarien und kultureller Veränderung. Den Fokus richtet er auf die Zeit der Spätaufklärung, in der die Differenz von Sein und Schein Hochkonjunktur hatte: Geschichtsschreibung emanzipierte sich von theologischen Vorstellungen einer göttlichen Vorsehung. Die Fäden werden seither in vielen Erzählungen innerweltlich gezogen. Neben dem Niedergang der Providenz-Erzählungen und der damit einhergehenden Akzeptanz der Geschichtsmächtigkeit menschlicher Akteure gesellten sich auch die Vorstellungen handlungstheoretischer Intentionalität und der Aufstieg des Begriffes der »Sekte« zu den ideengeschichtlichen und mentalitätshistorischen Voraussetzungen verschwörungstheoretischer Argumentation (Klausnitzer 2007, 2011). Klausnitzers Studien überzeugen mit einem hohen Maß an kulturhistorischer Informiertheit. Auch die Bezüge zwischen Fiktion und Realität, zwischen Wahrheit und Imagination werden auf einer komplexeren Ebene gezogen, als im Großteil der psychologischen und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen. Im deutschsprachigen Raum ist er bis dato sicherlich der interessanteste Autor, wenn es um Fragestellungen verschwörungstheoretischen Denkens geht. Als Letztes sei auf Luc Boltanski, Patrick Tacussel und Raphaël Josset verwiesen. Boltanskis Überlegungen zum verschwörungstheoretischen Denken suchen auf einer sozialtheoretischen Ebene Ihresgleichen. In Soziologie und Sozialkritik ordnet er Konspirationstheorien innerhalb eines größeren Diskurses kritischer Stimmen ein. Zudem betrachtet er die institutionellen Mechanismen und politischen Herrschaftsstrukturen mit der nötigen konstruktivistischen Finesse. Konstitution von Realität ist immer institutionell geprägt und peripher gefährdet. Die Möglichkeit der Kritik offenbart alternative Möglichkeiten von Realität, da sie aus der Gesamtmöglichkeit der Welt schöpfen kann (Boltanski 2010: 130 ff.). Da wir an anderer Stelle noch näher darauf eingehen (Kap. 4.1) – und im ersten Kapitel bereits teilweise darauf eingegangen sind (Kap. 1.1) – genügt an dieser Stelle der Verweis, dass es Boltanski damit gelingt, sowohl die gängigen Klischees wissenschaftlicher Studien über Verschwörungstheorien als auch die institutionstreue common-sense-Fixiertheit klassischer sozialkonstruktivistischer Studien offenzulegen (Boltanski 2010). In einem kurz darauf erschienenen Essay 73
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analysiert Boltanski seine theoretischen Konzepte am Beispiel der empirischen Figuren des Rätsels und des Komplottes (Boltanski 2013). Die Realität der Realität in Frage zu stellen verbindet Boltanski mit den Dispositiven des Kriminalromans, des Spionageromans und der Soziologie. Er situiert diese im Übergang zum 20. Jahrhundert. Alle drei haben zur Bekanntheit von Narrativen geführt, die hinter einer vordergründig sichtbaren Realität die eigentlich reale, menschlich intendierte Wahrheit vermuten. Damit schließt sich der Kreis zwischen dem Soziologen und dem Verschwörungstheoretiker: Folgt man Boltanskis Überlegungen, dann ist die konspirologisch argumentierende Verschwörungstheorie die periphere Kommunikation eines Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden gesellschaftstheoretischen Diskurses. Patrick Tacussel befasst sich in seinem kurzen Essay L’Imagination Conspirationniste (2014) mit den Möglichkeiten der Bedingung konspirologischer Kritik liberaler Demokratien. Mit theoretischem Bezug auf Carl Schmitt, Georg Simmel und Max Weber geht es ihm um den verschwiegenen, aber konstitutiven Kern demokratischer Systeme: die Geheimhaltung. Sofern das Wesen der Macht nicht mehr göttlich legitimierbar ist, werden die Repräsentanten austauschbar und die Machtausübung potentiell anzweifelbar (Kap. 1.1 und 6.3). Tacussel spricht von einer Metamorphose des Konspirationismus, und meint damit den Übergang vom dämonologischen hin zum konspirologischen Denken: »Depuis le XXe siècle, et de façon spectaculaire dès la fin des années soixante, le centre de gravité du phénomène conspiratif s’est déplacé, il s’est installé – sans brutalité – à l’intérieur même des dispositifs de la légalité bureaucratique« (Tacussel 2014: 321). Auch wenn die ›Eckdaten‹ Tacussels mit unserer Arbeit übereinstimmen, die Forschungsperspektive ist eine andere: Während wir – konspirologische – Erzählungen über institutionelle Vorgänge betrachten, geht es Tacussel um den ontologischen – konspirativen – Kern von demokratischen Bürokratien. In Complosphère versucht der französische Soziologe Raphaël Josset (2015) L’esprit conspirationniste à l’ère des réseaux zu fassen. Seine Forschungsfrage ist vielversprechend, seine Methode phänomenographisch (Kap. 2.2), und dennoch versäumt es Josset, neue Erkenntnisse auszuarbeiten. Als theoretische Grundlage übernimmt er den oft zitierten »style paranoïaque« Hofstadters: »C’est donc tout un univers de fantasmagories cauchemardesques qui est déployé par les milieux conspirationnistes dont la pratique consiste pour une bonne part à traquer, partout et tout le temps, les ›signes‹ et traces de la présence fantomatique et maléfique de ces démoniaques forces occultes« (Josset 2015: 31). Jossets eigene Rhetorik ist in ihrem Stil dämonologisch und in ihrer Funktion stigmatisierend. Zwar beinhaltet seine Studie ein paar nette – und auf Maffesoli und Guy Debord aufbauende – Beobachtungen 74
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über die »culture multimédiatique de masse«, beispielsweise die digitale Nähe des Faktischen zur »fake-ticité«. Jedoch versäumt Josset es, genau diese Beobachtungen dezidiert auf das konspirologische Denken zuzuspitzen. Der Titel Complosphère ist in diesem Sinne irreführend. Seine Studie verweilt bei den klassischen, analogen »méga complot[s]«: Illumanten, Abbé Barruel und Co. Die vielen kleinen, subtilen, digitalen Kommentare, die einer konspirologischen Argumentation folgen, entgehen Josset völlig.
3.1 »Hass« und »Dummheit«, »stimmt das«? Fünfzehn Thesen Um unseren Standpunkt besser zu verdeutlichen, führen wir an dieser Stelle unsere Thesen einzeln auf. Sofern es sinnvoll und evident erscheint, stellen wir einzelnen Thesen einen Autor entgegen, gegen welchen sie sich wendet. Diese Entgegensetzung gilt dabei paradigmatisch für den aktuellen Stand der Forschung, der sich – wie wir gerade gesehen haben – in Bezug auf die kulturelle Stimmung und Digitalisierung der Massenmedien als veraltet erweist. Der wissenschaftliche Tenor ist seit der Studie von Richard Hofstadter aus den 60er-Jahren mehr oder weniger gleich geblieben. Dies zeigt sich auch anhand eines Blickes in die Feuilletons und Zeitschriften. Interessant ist hier der Umstand, dass diese Artikel nicht nur einzelne ›Theorien‹ als ›Verschwörungstheorie‹ labeln, sondern zudem von einer distanzierten, mehr oder weniger wissenschaftlichen Perspektive das Thema als kulturkritisches Phänomen dekonstruieren. Dies führt selten darüber hinaus, dass die gleichen Klassiker – Hofstadter, Pipes, Groh usw. – zitiert und in ihrem pathologisierenden Ton bestätigt werden. Hier muss wohl auch in Rechnung gestellt werden, dass es vielen Berichterstattern darum geht, dem Mythos vom investigativen Journalismus zu huldigen und ihre Ansprüche auf Enthüllungssemantiken mit Exklusivrechten zu untermauern. ›Verschwörungstheoretiker‹ werden dann zu parasitären Teilhabern eines ihre eigentlichen Kenntnisse übersteigenden Wissensregimes. Sie werden nicht als legitime Experten anerkannt. Seit der Öffnung des Internets Anfang des Jahrtausends sind dies die Folgen eines heiß umkämpften Gebietes um Artikulationschancen (Koschorke 2012: 41 f.). Andersrum sehen sich die Leitmedien häufig dem Verdacht ausgesetzt, nicht neutral zu berichten, da sie ›gekauft‹ seien (Stichwort: »Lügenpresse«). Paradigmatisch hierfür befürchtet der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in einem Essay aus dem Magazin Der Spiegel vom Januar 2015 den Untergang des freien, investigativen und professionellen Journalismus durch »aktuelle Attacken von Verschwörungstheoretikern«. 75
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Sein tonangebender Titel – »Der Hass der Bescheidwisser« – beschwört und kritisiert konspirationstheoretisches Gedankengut (Der Spiegel 2/2015, S. 72–73). Pörksen fügt sich in seiner Argumentation dem wissenschaftlichen Kanon und reduziert dieses Denken auf die extrempolitischen Ränder, vor allem den rechtsextremen – die Veröffentlichung des Artikels fiel in die mediale Aufmerksamkeitsspanne von Pegida und AfD. Im Februar des gleichen Jahres zieht Jürgen Kaube von der Frankfurter Allgemeine Zeitung den Zusammenhang zwischen Moderne und Aberglaube: »Die Dummheit blüht«, so der Titel (faz, 07.02.2015). Kaube löst Verschwörungstheorien von einer rein politischen Motiviertheit und stellt sie in den Kontext eines ›Fachidiotentums‹: »Man muss damit rechnen, dass Manager Pendel benutzen, Ärzte glauben, die Welt sei vor achttausend Jahren entstanden, oder Ingenieure, von einer Rückkehr zur zinslosen Wirtschaft hänge der Friede ab«.5 Verschwörungstheorien als Ursache einer exzessiven Funktionalisierung, als Rückkehr zu Aberglaube und Animismus? Als kindlich irrealistisches Denken, im Sinne einer »Dialektik der Aufklärung«? Kaube verschärft seine Kulturkritik: Als weitere Gründe des Untergangs eines Humboldt’schen Bildungsideals nennt er den modernen Fetisch zum Perfektionismus und die medialen Räume des Internets. »Jeder Blödsinn«, konstatiert er, »wird inzwischen verschriftlicht und findet auf diesem Weg eine Fachgemeinschaft von Mitdummköpfen«. Die soziologische Tiefe Kaubes Argumentation ist weniger konservativ als einfach naiv und paradox, bemängelt er letztlich das Fehlen von professionellen, institutionell legitimierten Gatekeepern und beschwört zugleich das Bild eines freien, alles überschauenden Intellektuellen herauf. Die National Geographic vom März 2015 spricht im Leitartikel – »STIMMT DAS?« – von der »Zeit der Zweifler« und vom »Untergang der Vernunft«. Als bedroht sieht sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Mondlandung und Geenfood, Klimawandel und Impfen, Evolutionstheorie und Geographie, auf diesen und anderen Gebieten wird ein »gefährliche[r] Feldzug gegen die Wahrheit« konstatiert. Die Beispiele bleiben erwartbar, die Typisierungen soweit unbrauchbar.6 Paradoxerweise wird in diesem Artikel eine konspirologische Stimmung sowohl erkannt als auch direkt wieder in die Ecke der naiven, der Aufklärung sich weigernden Eigenbrötler verbannt. 5
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Online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/moderne-und-aberglaube-die-dummheit-blueht-13414273.html (letzter Abruf: 01. April 2015). Wer von einem »gefährliche[n] Feldzug gegen die Wahrheit« spricht, versucht mit einer ontologischen Brille kulturelle Entwicklungen zu konstatieren und zugleich zu stigmatisieren.
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Die sich als wissenschaftlich informiert darstellende Perspektive auf das verschwörungstheoretische Denken scheint sich festgefahren zu haben. Wir müssen nachhaken. »Hass« und »Dummheit«, »stimmt das« so wirklich? Leben wir tatsächlich im Zeitalter einer paranoischen Grundstimmung, in der jeder »Blödsinn« »die Wahrheit« entweiht? Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, unsere Thesen einzeln nochmals zusammenzufassen, um uns klarer von den gängigen Annahmen zu distanzieren: 1. Das verschwörungstheoretische Denken ist keine ahistorische, anthropologische Konstante (vs. Groh 1992). 2. Man muss zwischen dämonologisch und konspirologisch argumentierenden Verschwörungstheorien unterscheiden. Den Beginn dieses historischen Bruches situieren wir innerhalb der »Sattelzeit«: Die Säkularisierung des politischen Zentrums macht dieses zugleich offen für Kritik (vs. Caumanns/Niendorf 2001). 3. Soziologisch ist der Wahrheitsgehalt von Verschwörungstheorien nicht von Bedeutung. Von Bedeutung ist: Was in der Welt der Fall ist (vs. Aaronovitch 2010). 4. Das heißt zugleich: Verschwörungstheorien müssen nicht per se falsch sein; Irrtum und Wahrheit sind keine metaempirische Kategorien (vs. Pipes 1998). 5. Verschwörungstheoretische Erzählungen reduzieren Komplexität. Dies trifft aber auf alle Formen narrativer Wirklichkeitsbewältigung zu. Selbst ›hochkomplexe‹ Deutungen – wie physikalische oder mathematische Formeln – reduzieren Komplexität. In diesem Punkt argumentieren wir somit streng konstruktivistisch: Die Betrachtung und Handhabung roher Welt ist eine Unmöglichkeit. Sie würde Kultur sinn- und nutzlos machen. Die Welt kann immer nur als Rätsel betrachtet und wahrgenommen werden (vs. Groh 1996). 6. Für die im Forschungsfeld oft anzutreffende Aussage, ›Verschwörungstheorien entsprechen einem anthropologischen Bedürfnis nach Weltorientierung‹, gilt das Gleiche: Für welchen Glauben, für welche Theorie, ja selbst für welche noch so beiläufigen kleinen Interaktionsrituale im Sinne Goffmans gilt das nicht (vs. Caumanns/Niendorf 2001)? 7. Wenn es sich, wie Ruth Groh bemerkt, bei Verschwörungstheorien um »Fiktionen [handelt], von deren Realität freilich jene Gruppen, die an sie glauben, überzeugt sind« (vs. Groh R. 2001: 37), so handelt es sich dabei um eine kultursoziologisch unterkomplexe Verwendung der Begriffe der »Fiktion« und des »Imaginären«. (Kap. 4.3). Denn dies trifft auch auf Institutionen zu (Castoriadis 1984; Douglas 1985; Durkheim 1994). Ohne »fiktive Operationsgrößen« (Koschorke) könnten sich Menschen weder vergemeinschaften noch als einheitliches Kollektiv ins Bild setzen. Fiktionen sind daher keineswegs nur 77
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Gegenspieler sozialer Wirklichkeit, eher verdienen sie es, um eine Formulierung Martin Seels aufzugreifen, »als Aphrodisiakum der menschlichen Lebensform anerkannt zu werden« (Seel 2009: 47). Sie sorgen dafür, dass Kultur als anders, anziehend oder abstoßend wahrgenommen wird.7 8. Den Übergang vom dämonologischen hin zum konspirologischen Denken versuchen wir mit drei idealtypischen historischen Etappen zu rahmen: [a] Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert steigt das aufklärerische Dispositiv geschichtsmächtiger Akteure auf. Hierunter fallen sowohl das Abnehmen der Vorstellung einer göttlichen Vorsehung als auch die politisch-symbolische Lücke, die der enthauptete König hinterlassen hat. In liberal-demokratischen Systemen hat theoretisch jedermann die Möglichkeit, eine politische Machtposition zu besetzen. Dies führt zu einer latenten oder gar expliziten und emotional aufgeladenen kulturellen Hermeneutik des Verdachts: Legitime politische Arkana und unergründliche Mysterien werden verdrängt vom Argwohn, Opfer illegitimer konspirativer Abkommen geworden zu sein. Liberal-demokratisch bedingte (Miss)-Gunst schürt konspirologisches Denken. [b] Im Übergang zum 20. Jahrhundert wird die Idee einer vordergründigen Oberflächenrealität und einer hintergründigen Tiefenrealität von mehreren Diskursen aufgegriffen und verstärkt: Hierunter fallen der Kriminal- und Spionageroman, der psychiatrische Paranoiadiskurs und der Aufstieg sozialkritischer Theoreme (Boltanski 2013). Carlo Ginzburg spricht in diesem Zusammenhang vom »Indizienparadigma«, ein sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Humanwissenschaften durchsetzendes Erkenntnismodell, in dem der Verdacht zur epistemologischen Methode erhoben wird (Ginzburg 2011). Auch der Aufstieg der sogenannten Penny Press und des investigativen Journalismus ist diesem Dispositiv des Verdachts zuzuordnen (Starr 2011: 74 ff.) [c] Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es die Öffnung des Internets, die mit der Neuverteilung der Produzenten- und Rezipientenposition innerhalb der Nachrichten- beziehungsweise Informationskommunikation dem konspirologischen Denken mediale Freiräume schafft. Die nicht-lineare und multidirektionale Informationsverteilung vermehrt die Möglichkeit kritischer Interpretationen. Der Aufstieg von digitalen Informationskonzernen wie Google, Facebook oder Apple zu neuen Global Playern und die Enthüllungen der NSA-Spionageaffäre – und andere Leaks – tragen zu dieser Entwicklung bei. 9. Das konspirologische Denken umfasst ein Misstrauen in die politischen Zentralinstanzen und in die leitenden, institutionalisierten Massenmedien: Einerseits stehen die Medien unter Verdacht, nur zensiert 7
Dass derartige Imaginationen fiktiv sind, bemängeln nur Außenstehende.
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zu berichten (Stichwort: »gekaufte Journalisten«8), andererseits wird die Technik selbst zum handlangenden, konspirativen Aktanten, wenn es um Mutmaßungen geht, dass beispielsweise Trojaner private Daten unbemerkt an Nachrichten- und Geheimdienste weiterleiten können oder Überwachungskameras auch die eigenen Leute überwachen sollen – und eben nicht erstrangig das unbefugte Eindringen Fremder. Das Misstrauen gegenüber der digitalisierten Technik wächst mit dem Grad ihrer Nutzung. Dies führt zum Paradoxon einer typisch digitalen Angst, (nicht) beobachtet zu werden (Kap. 9). 10. Wir suchen das konspirologische Denken als kulturelle Stimmung im Sinne Maffesolis und Heideggers zu fassen. »Die Öffentlichkeit«, so letzterer, »braucht Stimmung und ›macht‹ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner« (Heidegger 1984: 138). Eine Stimmung ist kein unabänderlicher brute fact, keine starre Idee oder fixe Psychose. Stimmungen unterliegen Schwankungen. Sie können verdorben oder gelegentlich angestimmt werden. Sie können auch komplett umschlagen, dann wieder auftauchen. Studien, die mit der Pauschalisierung der (beziehungsweise die) Verschwörungstheoretiker operieren und sie innerhalb eines paranoischen Diskurses situieren, verklären genau diesen Aspekt. Sie verkennen die Anziehungskraft kultureller Stimmungen (Bude 2016). Zudem sind Stimmungen lose gekoppelt: Man kann ganz zustimmen, halb zustimmen oder seine Meinung wieder revidieren. Hierin folgen Stimmungen dem Kollektivmodell der pulsierenden Sphären (Giesen 2016). Man kann konspirologisch denken, ohne das gesamte institutionelle Gefüge in Frage zu stellen. So kann man beispielsweise die offiziellen Stellungsnahmen der Bundesregierung in der BND-Affäre von April 2015 durchaus konspirologisch anzweifeln,9 ohne die gesamte politische Struktur auf allen denkbaren Ebenen in Frage zu stellen. Ja man kann sogar konspirologisch denken und zugleich versuchen, die eigene Kritik zu relativieren (beispielsweise indem man sie mit einem sarkastischen Unterton vermittelt): »Ach, ich seh das nicht so eng«, kommentiert der User Eduschu am 30. April 2015 einen Artikel auf spiegel online. »Immerhin taugen die vom BND 8
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Gekaufte Journalisten. Wie Politiker, Geheimdienste und Hochfinanz Deutschlands Massenmedien lenken heißt der Titel eines verkaufstechnisch sehr erfolgreichen Buches Udo Ulfkottes aus dem Jahr 2014. Derartige Werke findet man aber keineswegs ausschließlich in der rechts-konservativen Ecke, man denke etwa an das 2015 im Suhrkamp Verlag veröffentlichte Buch Die Unbelangbaren. Wie politische Journalisten mitregieren von Thomas Meyer. In dieser Spionageaffäre ging es um Hilfeleistungen des BND für den amerikanischen Geheimdienst NSA: Berichten zur Folge habe der Bundesnachrichtendienst seine Abhörstation in Bad Aibling zum Ausspähen hochrangiger Beamter des französischen Außenministeriums zur Verfügung gestellt.
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was, wenn es so lange gedauert hat, sie auffliegen zu lassen«.10 Die Hartnäckigkeit der Verdächtigungen und die Härte der Kritik variieren je nach Stimmung. Sie sind nicht notwendigerweise Ausdruck einer irreversiblen oder extremistischen Haltung. 11. Das heißt zugleich, dass das konspirologische Denken gebräuchlicher und keineswegs derart sozialdysfunktional11 ist, wie vom Forschungsstand über Verschwörungstheorien bisher angenommen wurde (vs. Josset 2015). Soziologisch ist diese Nichtberücksichtigung doch erstaunlich, deutet sich diese Alltäglichkeit bereits in der konspirologischen Konzeptualisierung von Erving Goffmans Interaktionsanalysen an.12 Wie jedes kollektive Statement stabilisiert das konspirologische Denken – wenigstens kurzfristig – Klassifikationsschemata: sowohl die eigenen als auch die unter Kritik geratenen der Anderen. 12. Das konspirologische Denken als Stimmung zu fassen bedeutet, dem Konzept eine gewisse – pulsierende – Elastizität zu überlassen. Die Spannweite reicht von der ideologisch durchtränkten Überzeugung bis hin zum bloßen Verdacht und den ersten Anzeichen von Zweifel, dass irgendetwas am Dargestellten so nicht stimmt. 13. Das konspirologische Denken setzt diverse Ereignisse und Geschehnisse in einen kausalen Zusammenhang und personifiziert die Motive, welche dahinter wirken. Diese Personifizierungsvorgänge müssen keineswegs dazu führen, Akteure und Netzwerke auch explizit benennen zu müssen. Sie können weiterhin diffus bleiben. Ein Beispiel hierfür wäre die konspirologische Deutung bürokratischer Vorgänge (Kap. 6.4). 14. Die Digitalisierung der Enthüllungsmärkte drängt die klassischen Leitmedien in eine ambivalente Position: Einerseits müssen diese auf den Zug der öffentlichen Stimmung mit aufspringen – gerade wenn sie nicht von ihnen angestimmt wurde –, andererseits müssen sie ihre eigene, privilegierte Position als vierte Gewalt mit Exklusivrechten schützen (Kap. 7.3). 15. Betrachtet man die zirkulierenden Fotografien in den sozialen Netzwerken, dann muss dem dämonologischen und dem konspirologischen Bild – genauso wie dem Selfie – ein hoher Stellenwert zugeordnet 10 Es handelt sich um den Artikel »Bundesregierung und BND-Affäre: Ausspähen unter Freunden – geht doch«: http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/bnd-affaere-kanzleramt-in-erklaerungsnot-gegenueber-partnern-a-1031565.html (letzter Abruf: 7. August 2016). 11 Diese Dysfunktionalität steht im Zusammenhang mit der metaphorischen Verwendung des Paranoia-Konzeptes. 12 Ob ›goffmanesk‹ oder konspirologisch, die Rede von »Vorder- und Hinterbühnen«, »Ensemble-Verschwörungen« und »Masken«, »Rollen« und »Mystifikationen« hat ihren Sinn in der Bewertung expressiver Darstellungen.
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»HASS« UND »DUMMHEIT«, »STIMMT DAS«?
werden. Wir werden an anderer Stelle noch genauer darauf eingehen (siehe den Exkurs: Über das Bild in den sozialen Medien), doch so viel sei hier bereits verraten: Während das dämonologische Bild in seiner Art piktorialistisch und in seiner Funktion klassifizierend ist, ist das konspirologische Bild dokumentarisch und dekonstruierend. Mit Bezug auf Roland Barthes (1989): Während man dämonologische Fotografien nur mit dem nötigen studium versteht, müssen konspirologische Bilder auf ein punctum verweisen, um in ihren Bann zu ziehen.
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4. Wahrheit und Wirklichkeit »Die schlichte Wahrheit ist ungenießbar« (Twain 2010: 162) Konspirologisch gedacht geht es um die Wahrheit. Sie ist das, was von Bedeutung ist. Sie ist nicht weiter verhandelbar, sondern sakrosankt: »Is truth merely a consensus?«, fragt ein bekennender Truther den Journalisten Jonathan Kay, »[o]r is truth something else, something holy and sacred?« (Kay 2011: 215). Wäre die Wahrheit nicht von Bedeutung, so gäbe es auch keinen Grund, konspirologisch zu denken: Konspirative Handlungen, Betrug und Täuschung würden einen schlichtweg nicht interessieren. Im folgenden Kapitel soll daher der konspirologische Wahrheitsbegriff und sein Verhältnis zur Wirklichkeit näher erkundet werden.1 Davor erscheint es jedoch unerlässlich, die Begriffe der Wahrheit und der Wirklichkeit auch aus einer allgemeinen konstruktivistischen Perspektive zu präzisieren. Daher wenden wir uns in einem ersten Schritt dem Alltag zu. Natürlich hätte eine vollständige Analyse von Wahrheit und Wirklichkeit weitaus mehr Raum verdient: Sowohl wissenschaftshistorische und systemtheoretische Themengebiete als auch die Grabenkämpfe der ›Konstruktivismus vs. Realismus-Debatte‹ werden hier nur soweit gestreift, wie es der Bearbeitung unseres Forschungsthemas dienlich ist. Soviel sei aber bereits vorweggenommen: Aus einer konstruktivistischen Perspektive muss das Wahre weder wirklich sein, noch das Wirkliche wahr sein. Diese Präzisierung scheint notwendig, da man sich als Kulturwissenschaftler, der sich mit dem Thema der Verschwörungstheorien beschäftigt, immer wieder der Frage stellen muss: »Was nun eigentlich dran sei, an derartigen ›Theorien‹?« beziehungsweise »ob die Verschwörungstheorie XY denn nun wahr sei oder nicht?«. Die Antwort, dass die Beantwortung dieser Frage kultursoziologisch sowohl irrelevant als auch ziemlich uninteressant sei, sorgt zumeist für eine gewisse Verblüffung oder stößt bisweilen gar auf komplette Verständnislosigkeit. Ein Großteil der Forschungsliteratur begeht nun aber genau den Fehler, das Wahrheitskriterium in die Definition für eine Verschwörungstheorie miteinzubeziehen.2 Wir haben bereits gesehen, dass derartige Definitionen lediglich die soziale Verwendung des normativ aufgelade1 2
Auf den folgenden Seiten werden die Begriffe »Wirklichkeit« und »Realität« synonym verwendet. Erinnern wir an einige ausschlaggebende Beispiele: So definiert Pipes in seinem einflussreichen Buch Verschwörungstheorien als »Verschwörungen, die überhaupt nicht existieren« und demnach per se unwahr sind (Pipes 1998: 15); während für Aaronovitch, wie wir bereits gesehen haben,
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nen Begriffes der ›Verschwörungstheorie‹ wiedergeben, wissenschaftlich jedoch wenig hilfreich sind. Dass Menschen Erzählungen Glauben schenken, die von anderen als nicht wahr eingestuft werden, oder eben im Verlauf der Geschichte wiederum widerlegt werden und durch neuere, diesmal ›wahre‹ Erzählungen ersetzt werden, sollte eigentlich wenig überraschen. Die normativ aufgeladene Forschungsliteratur begeht somit genau jenen Fehler, den sie am verschwörungstheoretischen Denken kritisiert: Sie sucht fanatisch nach der Wahrheit – und als Kultur- und Sozialwissenschaftler sollte man genau das nicht tun (Kap. 2.2). Denn die Wahrheit über Verschwörungstheorien zu schreiben, würde darin enden, eine Art von ›Verschwörungstheorie‹ über Verschwörungstheoretiker und ihren Glauben zu schreiben, die letztlich nicht viel weiter führen würde, als das als verschwörungstheoretisch bezeichnete Denken zu diskreditieren. Die Aussage bliebe letztlich immer die gleiche: Das konspirologische Denken sei die Geschichtsphilosophie verschworener Paranoiker.3 In der vorliegenden Untersuchung grenzen wir uns strikt gegen derart normative Schlussfolgerungen ab. Es gibt immer verschiedene kulturelle und subkulturelle Repräsentationen gleicher Wirklichkeitsbereiche beziehungsweise, in der Terminologie von Berger und Luckmann, »konkurrierende Wirklichkeitsbestimmungen« (Berger/Luckmann 2004). Kultursoziologisch geht es eben genau nicht darum, Verschwörungstheorien auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, sondern ihre spezifische Argumentations- und Repräsentationslogik offenzulegen.
4.1 Wahrheit und Alltag: Ungefähres »Wer rücksichtslos die Wahrheit ausspricht, riskiert die Krise der alltäglichen Ordnung« (Giesen 2010: 107) Aus einer kultursoziologischen Perspektive ist die Sicht auf die Wahrheit eine sozialkonstruktivistische; das heißt, dass es hier weniger um einen ontologischen Wahrheitsbegriff geht, als vielmehr um die Wahrheit
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Verschwörungstheorien nichts weiter als die unnötige Vermutung einer Verschwörung sind, wo andere Erklärungen weitaus plausibler wären (Aaronovitch 2010: 5). Richard Hofstadter definiert konspirationstheoretisches Denken mit dem diffusen und normativen Label der »Übertriebenheit« (Hofstadter 1996). Die Diskreditierung verlässt spätestens dann jeglichen wissenschaftlichen Anspruch, wenn zur Legitimierung der Kritik an den Gegenbeweis des ›gesunden Menschenverstandes‹ appelliert wird. Siehe hierzu die Rezension zu Pipes Monographie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 06.10.1998 (S. L32).
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im Sinne einer sozial akzeptierten Konstruktion von Wissen über die Wirklichkeit (Berger/Luckmann 2004) beziehungsweise im Sinne von sozial geteilten und anerkannten Repräsentationen der Wirklichkeit (Searle 1997). Es geht hier nicht um die Unterscheidung von wahrem und falschem Wissen, denn, so formulieren es Berger und Luckmann in ihrer zum Klassiker avancierten wissenssoziologischen Studie, »[d]ie Epitheta ›wissend‹ und ›nichtwissend‹ beziehen sich auf das, was die Gesellschaft als Wirklichkeit ansieht, nicht auf irgendwelche außergesellschaftlichen Kriterien kognitiver Gültigkeit« (Berger/Luckmann 2004: 75). Zudem wäre es vermessen anzunehmen, dass dieses Wissen von der Wirklichkeit lediglich über das Kriterium ›wahr/nicht wahr‹ generiert wird. Theorien, Erzählungen, Mythen, gewisse Aspekte unseres Alltagswissens und selbst wissenschaftliche Wahrheiten4 müssen weder notwendigerweise ›ontologisch wahr‹ sein, noch muss man hundertprozentig von ihrer Wahrscheinlichkeit überzeugt sein, um auch als wirkmächtige Bestimmungen oder Repräsentationen der Wirklichkeit zu fungieren. In einer geradezu idealtypischen Form kann man diesen Aspekt am Gerücht beobachten. Gerüchte unterlaufen die Grenzziehung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahrheit, Missverständnis und Lüge, zwischen dem absolut Sicheren und dem lediglich im Bereich des Möglichen Liegenden. Sie können sowohl wahr als auch falsch sein, und diese kippelige »Zwischenlage« ist konstitutiv für ihre Existenz und Wirkmächtigkeit (Giesen 2010). Der liminale Zustand des Gerüchts macht den Umgang mit ihnen auf eine besondere Art und Weise prekär. Es kann gefährlich sein, ein Gerücht sofort zu glauben. Es kann aber genauso gefährlich sein, ein Gerücht »bloß für ein Gerücht« zu halten und es zu ignorieren, da es unabhängig vom einzelnen kritischen Glauben bereits wirkt, wenn andere ihm glauben und ihre Handlungen danach ausrichten (siehe hierzu den Exkurs: Über das Gerücht).5 4
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Folgt man den wissenssoziologischen Studien von Ludwik Fleck (1980) und Thomas S. Kuhn (2003), dann findet selbst die wissenschaftliche Forschung immer vor dem Hintergrund verschiedener ›mythologischer‹ Annahmen, dem sogenannten »Paradigma«, statt. Das Paradigma konstituiert den Standpunkt, von welchem aus eine wissenschaftliche Aussage formuliert werden kann und dem Kriterium von ›wahr/nicht wahr‹ unterliegt. Das heißt zugleich, dass dieser Standpunkt selbst ein unvermeidbarer blinder Fleck bleibt, der durch das Kriterium der Wahrheit, welches er gerade konstituiert, eben nicht in Frage gestellt werden darf. Diesen unhinterfragbaren konstitutiven Standpunkt meinen auch Berger/Luckmann, wenn sie theoretische Wirklichkeitsbestimmungen am Beispiel der Psychologie wissenssoziologisch dekonstruieren: »Schlicht gesagt: jede Psychologie hat eine Kosmologie zur Voraussetzung« (Berger/Luckmann 2004: 187). Ein Muster, das wir in einer geradezu idealtypischen Form tagtäglich auf den großen Finanzmärkten beobachten können.
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Wahrheit und Wirklichkeit sind somit weitaus loser aneinander gekoppelt, als es unser allgemeines Alltagsverständnis der beiden Begriffe vermuten lässt. Denn Wahrheit, so legt uns dieses alltägliche Verständnis nahe, hätte schließlich mit Fakten und nicht mit Glauben oder Vermutungen zu tun, und dem Wirklichkeitsanspruch von Fakten könne man wenig entgegensetzen (Tenbruck 1989: 93). Durch dieses Alltagsverständnis von Wahrheit ziehen sich mehrere Annahmen hindurch, die noch Anklänge des optimistischen Rationalismus der Aufklärung in sich tragen: Das Wahre kann grundsätzlich gefasst werden, das Wahre ist grundsätzlich jedermann zugänglich und zuletzt die Annahme, dass sich das Wahre auf mehr oder weniger lange Sicht als wirklich durchsetzen wird. Für den handelnden Alltagsakteur fallen die Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit somit fast zusammen, als könnte man sie als ihr jeweiliges Synonym verwenden. Natürlich ergibt das Sinn, würde er an seinem Wissen über die für ihn relevante soziale Wirklichkeit ständig zweifeln, so würde der reibungslose Ablauf seines Alltagslebens gleichzeitig ins Stocken geraten. Würde der Akteur im Alltag ständig alles in Frage stellen, so müsste er mit dem Ausschluss aus der ›Gemeinschaft der Vernünftigen‹ rechnen – einem Stigma, von dem ja gerade viele als Verschwörungstheoretiker bezeichnete Personen betroffen sind (Kap. 2.1). Im Alltag darf nicht alles hinterfragt werden, vielmehr muss man sowohl dem eigenen als auch dem von anderen übermittelten Wissen (zum Beispiel Interaktionspartner, Medien, offizielle Stellungnahmen usw.) eben manchmal ganz einfach Vertrauen.6 Denn »[o]hne jegliches Vertrauen«, schreibt Niklas Luhmann, »[…] könnte er [der Alltagsakteur, K. M.] morgens sein Bett nicht verlassen. Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn« (Luhmann 2009: 1). Ohne eine Grundbasis an Vertrauen wären selbst das Kritisieren und das Hinterfragen verschiedener Bereiche der Realität nicht mehr denkbar. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich im Alltag somit zumeist nicht – sie wird latent gehalten (Giesen 2004). Dies gilt für zwei Ebenen: Einerseits geht man davon aus, dass die Mitmenschen eine gleiche oder zumindest ähnliche Perspektive auf die Welt haben wie man selbst, andererseits wird hinter der Oberfläche der Erscheinungen keine andere, stärkere Realität vermutet. Der erste Aspekt wurde ausführlich von der phänomenologischen Sozialtheorie erforscht (Schütz/Luckmann 2003). Demnach konstituiert sich eine kulturelle Ordnung erst dann, wenn alle Beteiligten einer Gemeinschaft von einer gemeinsamen Perspektive auf die Welt ausgehen – beziehungsweise davon ausgehen, dass auch 6
Natürlich handelt es sich auch beim ›eigenen‹ Wissen um ein aus einem jeweiligen kulturellen Wissensbestand übermitteltes – sonst wären wir wahrlich bei der Creatio ex nihilo, die den Göttern, Helden und Genies zugesprochen wird, angekommen.
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alle anderen davon ausgehen –, die sich zudem jenseits von Zwang oder individuellem Nutzen begründet. Diese kontingenzreduzierende Perspektive auf die Welt und ihre Gegenstände wird von der Sozialphänomenologie als »Epoché der natürlichen Einstellung« bezeichnet (Schütz 1971: 263). Giesen et al. haben zudem gezeigt, dass der Grund des Konsenses, auf dem diese kulturelle Ordnung des Alltags ruht, das Ungefähre und Uneindeutige ist (Giesen et al. 2014; Giesen 2010: 13 ff.). Die Annahme, dass unsere Mitmenschen die Welt in ihren wesentlichen Zügen so sehen wie wir selbst, kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn wir nicht zu genau hinsehen und eine grundsätzliche Unschärfe unserer Wahrnehmung einfach hinnehmen: »Der schließlich erreichte Konsens, das ruhige Voranschreiten der Alltagswelt, beruhen so immer auf einer freiwillig akzeptierten Intransparenz, auf Nichtwissen und auf Wahrnehmungsmängeln. Erst im Zwielicht des Ungefähren, das im taghellen Bewusstsein freilich immer geleugnet und ausgeblendet werden muss, bildet sich Gemeinschaftlichkeit« (Giesen et al. 2014: 8).
Denn würden wir im Alltag ständig zu genau hinsehen, dann würden vor allem die vielen Unstimmigkeiten zu Tage treten, die ein ständiges Nachfragen provozieren würden – »wie meinst Du das genau?«, »sind wir uns auch wirklich einig?« –, welches den alltäglichen Fortgang unnötig hemmen und irritieren würde.7 Wer im Alltag ständig explizit auf Exaktheit, Genauigkeit, Eindeutigkeit und die nackte Wahrheit pocht, muss mit Ausschluss rechnen und damit leben, als Querulant, Nörgler, Pedant oder übertrieben misstrauender Zeitgenosse abgestempelt zu werden.8 Die gleiche Logik trifft auch auf die Regelmäßigkeit unserer ei7
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Kommunikativ kann ein derartiges Ungefähres durch abstrakte, vage Formulierungen hervorgebracht werden, wie Kay Junge bemerkt: »Wer nach Details fragt, nötigt sein Gegenüber zu Ausweichmanövern, zu ambivalenten und vage bleibenden Formulierungen, vielleicht zur Lüge. Wer sich auf Abstraktionen einzulassen versteht, verfälscht nicht eo ipso die Wirklichkeit, wie Nietzsche uns weis zu machen suchte, sondern weiß sie, so die Abstraktion gut gewählt ist, gerade dort zu verschonen, wo sie uns das Leben nur unnötig schwerer machen würde« (Junge 2013: 50). Wenn jede kulturelle Ordnung nur ungefähr gilt und auf der freiwilligen Bereitschaft gründet, dieses Ungefähre mitsamt seiner Unschärfe zu akzeptieren, dann stellt sich hier die Frage, ob die spezifische Bewusstseinsspannung in der »ausgezeichneten Wirklichkeit der Alltagswelt« ausschließlich das von Schütz und der Sozialphänomenologie so bezeichnete »HellWach-Sein« ist (Schütz 1971: 265)? Wenigstens muss der Hell-Wache darin hellwach sein, viele Unklarheiten, Übertretungen und Widersprüche zu
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genen Handlungs- und Verhaltensweisen zu. Folgt man Pierre Bourdieus Habituskonzept, dann können Akteure bestimmte Praktiken für bestimmte soziale Situationen gerade deswegen problemlos voraussagen und ausüben, weil die Basis ihrer Prognose nicht auf einer expliziten Regel oder einem ausdrücklich formulierten Gesetz beruht. Im Gegenteil: »Der Habitus ist aufs engste mit dem Unscharfen und Verschwommenen verbunden. Als eine schöpferische Spontaneität, die sich in der unvorhergesehenen Konfrontation mit unaufhörlich neuen Situationen geltend macht, gehorcht er einer Logik des Unscharfen, Ungefähren, die das normale Verhältnis zur Welt bestimmt« (Bourdieu 1995: 225, Hervorhebung im Original).
Der Alltag ist also darauf angewiesen, dass gerade nicht (ständig) hinterfragt wird: Auch wenn sich der handelnde Akteur der Logik des Eindrucksmanagements bewusst ist – er weiß, dass der Alltag auch immer ein Spiel mit sozialen Masken ist, mit deren Hilfe es auch, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt, legitim ist, Eindrücke hervorzurufen, die nicht ganz der ›wahren‹ Wirklichkeit entsprechen –, so kann er nicht ständig, in der Terminologie Erving Goffmans, von Täuschungsmanövern ausgehen. Eine Täuschung ist, laut Goffman, »das bewußte Bemühen eines oder mehrerer Menschen, das Handeln so zu lenken, daß einer oder mehrere andere zu einer falschen Vorstellung von dem gebracht werden, was vor sich geht« (Goffman 1980: 98). Eine soziale Situation wird dann derart gerahmt, dass die Beschaffenheit der Wirklichkeit durch Manipulation verfälscht wird. Wer diesen Verdacht hat, denkt bereits auf einer Mikroebene konspirologisch. Täuschungsmanöver führen zu einer asymmetrischen Wissenskonstellation, denn nur für die Wissenden eines Täuschungsmanövers geht auch ein Täuschungsmanöver vor sich. Für die Getäuschten geht das vor sich, was vorgetäuscht wird: Sie halten die Rahmung für wirklich und das Vorgespielte für wahr. Täuschungsmanöver sind jedoch anfällig übersehen. Das heißt, dass zum hell-wach-sein immer auch jene Fähigkeit gehört, welche Erving Goffman als »höfliche Gleichgültigkeit« bezeichnet hat (Goffman 2009: 97 ff.). Etwas kulturpessimistischer und auf das moderne Großstadtleben zugespitzt formuliert – wie dies Simmel etwa in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (2008 [1903]) anklingen lässt –, würde bereits ein ›Halb-Wach-Sein‹ reichen, um keine alltäglichen Interaktionsregeln zu verletzen und nicht weiter aus der Rolle zu fallen. In eine ähnliche Richtung geht bereits die Argumentation Gabriel Tardes über den mimetischen Prozess des sozialen Lebens, wenn er behauptet, »[d]ie Gesellschaft besteht aus Nachahmung und Nachahmung aus einer Art Somnambulismus« (Tarde 2003: 111). Das fundamentale Prinzip des Alltags folgt der Logik des Ungefähren.
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für Störungen: Sie können scheitern, sie können verraten werden und sie können durch konspirologisch motivierte Investigationen aufgedeckt und angeprangert werden. Enthüllte Täuschungsmanöver können zu einem Vertrauensverlust seitens der Getäuschten führen, der selbst die Vergangenheit anfällig für Neudeutungen macht: Nach einer aufgedeckten Täuschung kann der Getäuschte unterstellen, immer schon getäuscht worden zu sein. In der Öffentlichkeit stehende ›Täuscher‹ werden so zum Rücktritt gezwungen. Trotzdem kann man in der alltäglichen Lebenspraxis nicht in jeder sozialen Situation den Verdacht eines Täuschungsmanövers aufkommen lassen. Dies wäre mühsam und unbequem, ja sogar problematisch bis unmöglich: Der beständig Verdächtigende würde sich auf seiner Suche nach der Wahrheit auf eine unendliche Odyssee begeben, denn er müsste jeden alltäglichen Eindruck als potentiell oberflächlichen Eindruck deuten, hinter dem die Möglichkeit einer wahreren Wirklichkeit, eines absurden Abgrundes oder einer mephistophelischen Betrügerei lauert. Und er müsste hinter jedem (vermeintlichen) Schleier von der Möglichkeit eines weiteren Schleiers ausgehen. Genau darin unterscheidet sich der Glaube, Opfer eines Betrugs geworden zu sein, von einer klinischen Wahnvorstellung. Der Betrugsverdacht deckt nie alle Bereiche sozialer Wirklichkeit zugleich. Für das alltägliche Leben gilt daher im Normalfall, dass soziale Situationen mitsamt ihren jeweiligen Performanzen auf eine unproblematische Weise für die wahre Wirklichkeit gehalten werden. Grundsätzlich werden sie nicht weiter hinterfragt. Wir müssen an dieser Stelle jedoch kurz anhalten und uns mit einem Einwand auseinandersetzen, den der französische Soziologe und Bourdieu-Schüler Luc Boltanski in mehreren seiner Werke (Boltanski 2013, 2010; Boltanski/Thévenot 2007; siehe auch Kap. 1.1) in den Raum gestellt hat: Tut diese von der Sozialphänomenologie inspirierte Sichtweise auf die Organisation des Alltags den common sense und die darauf aufbauenden Selbstverständlichkeiten – the world taken as granted – nicht überbewerten? Anders formuliert: Beruht der Alltag tatsächlich auf einer derart ausgeprägten Art von stillschweigender Zustimmung der Wirklichkeit? Sind die einzelnen Alltagsakteure nicht weitaus kritischer und damit viel eher bereit, Phänomene zu hinterfragen, als es die meisten Teile sowohl eines pragmatischen als auch kulturorientierten Soziologieprogrammes annehmen? »Man tut so«, schreibt Boltanski in seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2008, »als ob den in Gesellschaft lebenden Personen zwangsläufig der Wunsch innewohne, die sozialen (lokalen) Einrichtungen zu schützen, die bestehenden Bindungen aufrechtzuerhalten, das positive Verhältnis zur Realität wiederherzustellen, und macht somit aus dem sozialen Horror vacui den wichtigsten Impuls des Homo sociologicus. Die Überschätzung 88
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der Fähigkeiten der Akteure, Sinn zu produzieren oder zu reparieren und – unlösbar damit verbunden – Bindungen herzustellen oder wiederherzustellen, hat teilweise vielleicht mit der Übertreibung der Reichweite des Common sense zu tun, der gewissermaßen jedem einzelnen Akteur individuell innewohnen soll« (Boltanski 2010: 87, Hervorhebung im Original).
Boltanski setzt somit dem stillschweigenden Willen zur konstruktivistischen Zustimmung der Wirklichkeit, den alle klassischen sozialkonstruktivistischen Theorien den Akteuren zusprechen, einen ausdrücklichen Willen zur Dekonstruktion entgegen. Diese Entgegnung ergibt durchaus Sinn, schließlich ist das soziale Leben – und dies trifft bisweilen auch auf die kleinsten alltäglichen Situationen zu – ständig von Missverständnissen, Auseinandersetzungen und Verdächtigungen bedroht. Derartige Ungewissheiten müssen nicht notwendigerweise mittels eines, wie Boltanski es formuliert, praktischen Handlungsregisters taktvoll ›übersehen‹ werden, nur um den sozialen Konsens nicht zu gefährden. Man kann sie auch öffentlich anprangern und thematisieren. Die vorliegende Studie behandelt ja einen Fall derartigen dekonstruktiven Denkens. So berechtigt und wichtig Boltanskis Einwände – vor allem in Bezug auf unsere Fragestellung – auch sind, so müssen wir seiner scharfen Kritik an der common sense-Theorie der Sozialphänomenologie und den darauf aufbauenden wissenssoziologischen und interaktionistischen Studien, wie sie von Tenbruck, Berger/Luckmann, Goffman oder Garfinkel vertreten werden, nicht in ihrer ganzen Härte folgen. Im Gegensatz zu den marxistisch geprägten wissenssoziologischen Zugängen sind sie maßgeblich dafür verantwortlich, dass die »Seinsverbundenheit« (Karl Mannheim) jenes basalen Wissens über die Wirklichkeit überhaupt erst in den Fokus der soziologischen Forschung geriet, welches von den Akteuren als ›natürlich‹ gegeben angesehen wird.9 Dieses Jedermannswissen erweist sich in empirischen Beobachtungen als äußerst kritikresistent, die scheinbare ›Natürlichkeit‹ schützt vor der Unterstellung menschlicher Machenschaften und Machtansprüche.10 Nehmen wir das einfache Beispiel der Sprache. Für den zu der jeweiligen Sprachgemeinschaft Zugehörigen verbieten sich bestimmte kritische Fragen: Wieso der ›Baum‹ im Deutschen ›Baum‹ heißt, lässt sich nicht kritisieren, da es 9
Auch wenn sich wichtige Anklänge hierfür bereits bei Karl Mannheim finden lassen, bleibt er doch größtenteils beim Thema der großen politischen Ideologien stehen (Mannheim 1965). 10 Dass diese ›Natürlichkeit‹ wiederum ein soziales Konstrukt ist und jede Art von Institutionalisierung und deren Internalisierung eine Einschränkung der Welt (im Sinne Wittgensteins) durch die gegebene objektive Wirklichkeit ist, welche mit expliziten und stillschweigenden Sanktionsandrohungen untermauert wird, darauf weisen auch Berger/Luckmann (2004) hin.
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letztlich nicht begründbar ist. Genauso bricht der Explikationsversuch alltäglicher Bedeutungen zumeist mit dem Hinweis auf ein »Sie wissen schon...« oder »Das ist eben so!« ab (Giesen et al. 2014). Trotzdem müssen wir Boltanski in dem Argument zustimmen, dass soziale Begegnungen nicht immer dem Muster einer konfliktfreien Übereinkunft folgen und soziales Leben insgesamt ungewisser und unruhiger ist, wie es die common sense-Theorien nahelegen. Er unterscheidet deswegen zwischen »praktischen« und »metapragmatischen« Registern zur Deutung sozialer Realität. Während in praktischen Momenten das Interesse bestimmend ist, die soziale Situation mithilfe von intendiertem Ignorieren und Übersehen aufrecht zu erhalten, steigert sich in metapragmatischen Momenten das Grad an Reflexivität, um die Situation durch Argumentation entweder zu legitimieren oder zu kritisieren. Die damit verbundenen Dispositive ordnet Boltanski keinen antagonistischen Positionen zu. Er verbindet common sense und sozialkritische Theorien miteinander: »In diesem Rahmen sind Bestätigung und Kritik nur in ihrer dialogischen Beziehung sinnhaft erfaßbar« (Boltanski 2010: 98). Ohne common sense würde jegliche Form von Kritik keinen Sinn ergeben. Sie wäre gegenstandlos, purer Nihilismus.11 Wir können festhalten: Das von Boltanski so formulierte metapragmatische Register der Kritik kommt dann zum Zuge, wenn der Verdacht verschleierter menschlicher Machenschaften, die zudem als illegitim eingestuft werden, mit ins Spiel kommt. Die Fähigkeit zur Sozialkritik hat ihre Geburtsstunde somit im konspirologischen Denken. Das heißt jedoch nicht zugleich, und dieser Punkt wird von Boltanski bisweilen überbewertet, dass innerhalb der Geschichte der Soziologie die Fähigkeiten der Akteure, Sinn zu reproduzieren, überschätzt wurden. Denn diese Sinnproduktion wird bereits gewährleistet, wenn man eine grundsätzliche Unschärfe der Wahrnehmung einfach hinnimmt, wie beispielsweise die Theorie über das »Ungefähre« von Giesen et al. belegt (Giesen et al. 2014). Die Produktion von Sinn ist also keineswegs eine derart aktive Bewusstseinsleistung, wie es verschiedene kritische Gegenpositionen unterstellen (Koschorke 2008). Der Einwand Boltanskis müsste anders lauten: Soziologische Studien haben bisweilen unterschätzt, dass Akteure vorgegebenen Sinn hinterfragen können. Deswegen versuchen wir zu zeigen, wie die Stimmung des konspirologischen Denkens die metapragmatische Wirklichkeitsdeutungen – das 11 »Und was die Kritik angeht, so würde sie alle Anwendbarkeit verlieren und in eine Art Nihilismus verfallen, wenn sie ihren Protest gegen beständige Aussagen nicht auf die Erfahrung dessen stützte, was in der Welt geschieht« (Boltanski 2010: 98; siehe auch ebd.: 150). Boltanski schränkt somit von selbst seine teilweise zu scharf formulierte Kritik an der Dominanz von common sense Theorien innerhalb der Sozialwissenschaften wieder ein.
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heißt: sozialkritische Äußerungen – fördert. In diesem Sinne müssen wir mit Boltanski darin übereinstimmen, dass im konspirologischen Denken tatsächlich alteingesessene common sense-Unterstellungen aufgebrochen werden können. Eine weitere metapragmatische Konstellation muss an dieser Stelle beachtet werden. Bevor die Wirklichkeit mittels konspirologischer Unterstellungen auf ihren ›Wahrheitsgehalt‹ hin überprüft wird, gibt es Fälle, in denen sie ganz ohne Kritik brüchig werden kann. Harold Garfinkel, der Begründer der Ethnomethodologie, zeigte in sogenannten »Krisenexperimenten«, dass eine alltägliche soziale Situation erst durch Irritationen, Störungen und Regelverletzungen hinterfragt wird. Betrachten wir ein klassisches Beispiel für ein derartiges Krisenexperiment: »The victim waved his hand cheerily. (S) How are you? (E) How am I in regard to what? My health, my finances, my school work, my peace of mind, my…? (S) (Red in the face and suddenly out of control.) Look! I was just trying to be polite. Frankly, I don´t give a damn how you are« (Garfinkel 1967: 44). Das Beispiel zeigt, wie das nicht-wissende Opfer (S) durch die unerwarteten Nachfragen des Experimentators (E) zu einer davor nicht intendierten Infragestellung eines eigentlich von ihm als unproblematisch gehaltenen Rahmens (eine alltägliche Begrüßungszeremonie) gezwungen wird. Um sich vor weiteren Hinterfragungen zu schützen, quittiert das Opfer die Nachfrage des Experimentators mit einem emotionalen Ausbruch. Es wäre aber denkbar gewesen, dass das Opfer die Situation anders ›retten‹ will und damit beginnt, die Rahmung (»war es vielleicht doch keine einfache Begrüßungszeremonie?«), seinen Interaktionspartner (»führt er was im Schilde?«, »ist er nicht mehr zurechnungsfähig oder gar verrückt geworden?«) oder sich selbst (»was habe ich falsch gemacht?«, »habe ich einen Fauxpas begangen?«) zu hinterfragen. Dann wären jedoch weitere Recherchen nötig gewesen. Die ethnomethodologischen Experimente zeigen jedenfalls auf eine eindrucksvolle Weise, dass wir im Alltag die oberflächlichen Erscheinungen nur bei gravierenden Erwartungsenttäuschungen in Frage stellen. Zwar muss sich diese Erwartungsenttäuschung nicht zu einem konspirologischen Verdacht erhärten, trotzdem muss der Irritierte die oberflächliche Einschätzung der Situation wenigstens für einen kurzen Moment hinterfragen: Das alltägliche »Und-so-weiter« gerät ins Stocken. Und dass in diesen Fällen, wie die ethnomethodologischen Experimente zeigen, eine »Krise« eintritt, belegt, dass die alltägliche Auslegung von Mitteilungen, 91
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Texten, Symbolen, Zeichen, Gesten usw. weder einer dauerhaften Hermeneutik des Verdachts noch einer dauerhaften Hermeneutik des Vertrauens folgt, sondern zumeist einer Hermeneutik des Ungefähren, die zwischen Verdacht und Vertrauen oszillieren kann. Wer nicht zu genau hinsieht, ist wenigstens davor gefeit, allzu schnell hinterfragen zu müssen (Giesen et al. 2014; Bourdieu 1995). Und wer alles genau verstehen will und pedantisch nachfragt, riskiert eben die Krise der alltäglichen Ordnung. Resümierend können wir die wissenssoziologische These festhalten, dass Wirklichkeit im Alltag nicht auf einem exakten Verstehen und dauerhaften Hinterfragen beruht, sondern auf dem mimetischen Prozess der Realitätsbestätigung und Realitätsversicherung über weitere Mitmenschen. Folgt man der sozialkonstruktivistischen Perspektive Tenbrucks, dann werden Bedeutungen für den Menschen erst dann fassbar und real, wenn sie auch für andere gelten: »Die soziale Dimension ist das Medium der Bedeutung« (Tenbruck 1986: 183). Wirklichkeit wird als die wahre erlebt, wenn wir ein ungefähr gleiches Erleben emphatisch an anderen beobachten können. Aus einer Außenperspektive kann diese Wahrheit natürlich auch falsch sein, trotzdem wird sie gestützt und geschützt von der ›Macht‹ der sozialen Dimension. Nur in seltenen Fällen und auf Kosten eines hohen Preises kann es einem Einzelnen oder einer Minderheit an Personen gelingen, ihre Bedeutung mittels Kritik in Frage zu stellen. Kritik erfordert Aufmerksamkeit, Fokussierung, zeitliche und soziale Ressourcen. Wir haben bereits gesehen, dass die Wahrheit der alltäglichen Wirklichkeit in Frage zu stellen, im radikalsten Fall mit dem Ausschluss aus dem Kreis der Vernünftigen enden kann. Derartigen Außenseitern würden die Symptome eines Realitätsverlustes zugesprochen werden. Unser Realitätsbewusstsein wird eben davon mitbestimmt, dass wir die gemeinsame Welt mit anderen teilen. An einer Wahrheit festzuhalten, an die andere nicht glauben, dazu gehört, wie es Hannah Arendt in diesem Zusammenhang einmal formulierte, eine große Menge an »Charakterstärke« (Arendt 2013b: 79). Trotzdem dürfen wir die Fähigkeit zur Kritik, die wenigstens ›theoretisch‹ jedem Akteur innewohnt, nicht übersehen. Denn Wirklichkeitsinterpretationen müssen nicht ausschließlich einer praktischen und leicht handhabbaren Logik des Ungefähren folgen. Es bleibt, im Sinne Boltanskis, die Möglichkeit eines metapragmatischen Registers zur Deutung sozialer Realität. Und je mehr Mitmenschen kritisieren, desto unverfänglicher wird es für den Einzelnen, sich dieser Kritik anzuschließen. Unter diesem Gesichtspunkt muss auch das konspirologische Denken betrachtet werden. Sowohl auf einer Mikro- als auch auf einer Makroebene können die sozialen Situationen nach den Intentionen im Verborgenen wirkender Strippenzieher gedeutet werden.
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Exkurs: Über die Lüge »You are Fake News« (Donald J. Trump) Einen Lügner bezichtigt man, dass der Sinn seiner Mitteilung(en) nicht den wahren Bestand der Wirklichkeit wiedergibt. Damit ist nicht notwendigerweise der objektiv gegebene Bestand gemeint, sondern die Wirklichkeit, wie sie vom Lügenden auch als wahr eingestuft wird. Lügner verdrehen die ihnen bekannten Fakten. Sie erfinden Geschichten. Aber nicht hinter jeder kommunizierten Unwahrheit muss sich die Motivation einer Lüge verbergen. Es kann sich dabei auch ganz einfach um einen bloßen Irrtum, um Unwissenheit, um ein Missverständnis oder um eine einfache Vermutung handeln. Von einer Lüge können wir erst dann sprechen, wenn sich, wie Simmel es in seinem 1899 publizierten Essay Zur Psychologie und Soziologie der Lüge formuliert, der Lügner auch zweier »Vorstellungsreihen« bewusst ist: »eine, die der Lügner selbst für die wahre hält, und eine davon abweichende, die er im Bewußtsein des Belogenen erzeugen will« (Simmel 2008: 86).12 Hannah Arendt bezeichnet die Lüge in ihrem erstmals 1967 veröffentlichten Essay über Wahrheit und Politik komprimiert als »[v]orsätzliche Unwahrheit« (Arendt 2013b: 50). Dies schließt jedoch nicht aus, dass man die Wahrheit sagen kann, um in die Irre zu führen.13 Auch wenn man, mit Paul Watzlawick formuliert, »nicht nicht kommunizieren kann«, gehen wir bei den folgenden Bemerkungen somit davon aus, dass wir 12 In seiner etwas später veröffentlichten Soziologie gibt Simmel im Kapitel »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft« folgende Definition für die Lüge: »Jede Lüge, wie sachlicher Natur auch ihr Gegenstand sei, ist ihrem inneren Wesen nach eine Irrtumserregung über das lügende Subjekt: denn sie besteht darin, daß der Lügner die wahre Vorstellung, die er besitzt, dem Andern verbirgt« (Simmel 1992: 388, Hervorhebung im Original). Das spezifische Wesen der Lüge erschöpfe sich dabei nicht in der bloßen Erregung einer falschen Vorstellung über eine Sache, so Simmel weiter, sondern im zielgerichteten Täuschungsversuch seitens des Lügenden. Bereits Augustinus betonte in seinem Werk De mendacio aus dem Jahre 395, dass die Lüge von der Intention des Gemüts abhängig sei: »Daraus folgt, daß man die Unwahrheit sagen kann, ohne zu lügen, wenn man meint, es sei so, wie man sagt, mag es auch nicht so sein, und daß man die Wahrheit sagen und doch lügen kann, wenn man meint, es sei unwahr und es als wahr ausspricht, mag es auch in Wirklichkeit so sein, wie man es sagt« (Augustinus zitiert nach Bettetini 2003: 21). 13 »Lügen heißt«, schreibt Jacques Derrida in seiner Geschichte der Lüge, »den anderen täuschen zu wollen, manchmal sogar, indem man die Wahrheit sagt« (Derrida 2015: 16, Hervorhebung im Original).
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von einer Lüge erst dann sprechen, wenn diese »zweite Vorstellungsreihe« auch anderen Akteuren intentional mitgeteilt wird (Watzlawick/ Beavin/Jackson 1969: 51). Dabei muss eine Lüge nicht wortwörtlich ausgesprochen werden, man kann auch mittels Mimik, Gestik oder Bilder lügen. Das reine Geheimnis bedarf nicht notwendigerweise einer Lüge, um geheim zu bleiben – wenigstens so lange noch niemand den Verdacht der Verheimlichung ausgesprochen hat.14 Die Behauptung, dass Menschen ab und an lügen, würde wohl niemanden überraschen oder schockieren. Lügen gehören zum Alltag unseres Lebens. Daher tun Akteure in sozialen Situationen manchmal gut daran, mit der Möglichkeit einer Lüge zu rechnen. Natürlich würde ein derartiger Verdacht nicht in jeder sozialen Situation Sinn machen, sondern erst in solchen, in denen, wie Kay Junge bemerkt, »mindestens eine Partei kein Interesse daran hat, die volle Wahrheit zu sagen, obwohl dies, wie alle Betroffenen wissen, im Interesse mindestens einer weiteren Partei läge« (Junge 2013: 42). Anders formuliert: Akteure können die Wahrheit manchmal ganz einfach problemlos verschweigen, weil sie für keinen anderen von Bedeutung oder Interesse ist. Wo niemand betroffen ist, bedarf es keiner Lüge. Andersrum kann man in den Verdacht der Täuschung und Lüge geraten, ohne dass man überhaupt etwas zu verbergen hatte beziehungsweise verheimlicht hat. Obwohl die Lüge alltäglich ist, zeigt bereits das Sprechen von einer Lüge und vor allem die potentielle moralische Entrüstung über eine Lüge, dass sich Äußerungen und Handlungen in den meisten sozialen Feldern auch an einem Wahrheitsanspruch messen müssen.15 Wer überhaupt keine Wahrheit mehr unterstellen würde, könnte weder lügen noch belogen werden (Hettlage 2003: 12). 14 Natürlich drängt sich hier die Frage auf, ab wann man auch ein Schweigen als Lüge betrachten muss. Nicht jede Art von Schweigen, auch wenn damit einem Interaktionspartner potentiell interessantes Wissen verweigert wird, kann mit dem Label der Lüge gefasst werden. Hinter einem Schweigen muss sich also nicht zwangsläufig eine Leugnung von Tatsachen verbergen. Sonst müsste man zugleich von der Annahme ausgehen, dass jede Art einer asymmetrischen Wissensverteilung durch den Generator einer Lüge hervorgebracht wurde – und dann müssten wir tatsächlich, wie dies der Soziologe Robert Hettlage etwas überpointiert formuliert, »[v]om Leben in der Lügengesellschaft« ausgehen (Hettlage 2003). Glücklicherweise sind gegenseitige Interaktionspartner nie allwissende Beobachter der jeweiligen Situation und man kann daher manchmal in prekären Situationen ganz einfach schweigen, ohne ins Zwielicht der Lüge zu geraten. Trotzdem gibt es auch jene Art von Schweigen, das als ein letzter, vielleicht hilfloser Versuch zu deuten ist, einer Lüge aus dem Weg zu gehen und somit bereits selbst zwischen der wirklichen Meinung und einer Lüge oszilliert (Kap. 5). 15 Eine Ausnahme ist bspw. das Feld der Kunst.
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Bereits eine kleine, unscheinbare ›Notlüge‹ stellt einen Versuch dar, mit Hilfe einer oberflächlichen Wirklichkeit von der eigentlichen, dem Lügner bekannten Wirklichkeit abzulenken. Die Lüge ist der aktive, der radikale Versuch, etwas zu verheimlichen. Die Lüge kommt ins Spiel, wenn bloßes Schweigen bereits zu verdächtig wäre.16 Zwar steckt hinter jeder Lüge eine Täuschungsabsicht. Moralisch entrüstet reagieren wir jedoch erst auf eine Lüge, wenn diese Täuschungsabsicht auch eine materielle und/ oder immaterielle Benachteiligung der Belogenen im Sinn hat (Hettlage 2003: 13). Lügen ohne Schädigungsabsicht hingegen – wie ein einfacher Witz, Ironie oder eine Lüge, um einen Anderen gar zu schützen – werden, sofern sie aufgedeckt werden, sowohl von den Belogenen als auch von Dritten nicht als moralisches Vergehen bewertet (Goffman 2003: 56 ff.).17 Im vierten seiner Einsamen Spaziergänge bezeichnet Rousseau daher die ›Lüge‹, die weder einem selbst noch Mitmenschen Schaden zufügt, nicht als ›Lüge‹, sondern als »fiction« (zitiert nach Derrida 2015: 17). Die Trennung zwischen einer Lüge und einer als wahrhaftig eingestuften Äußerung oder Darstellung fällt nicht immer eindeutig aus. Eher handelt es sich dabei um eine Grauzone mit verschiedenen Schattierungen. Ganz gewiefte ›Lügner‹ können gar ohne Lüge lügen. Mit Hilfe diverser Kunstgriffe wie abstrakten, ambivalenten Formulierungen, Andeutungen und Auslassungen lässt sich die Wahrheit kaschieren, ohne im strengen Sinne lügen zu müssen (Goffman 2003: 58; Junge 2013). Im Zeitalter der digitalen Massenmedien ist der Erfolg der Politiker auch davon abhängig, sich in dieser kommunikativen Grauzone von Wahrheit und Lüge mühelos bewegen zu können. So war Gerhard Schröder weder der beliebteste noch der charismatischste Politiker der Bundesrepublik, aber er verstand es wie kein anderer Spitzenpolitiker, Argumente so zu formulieren, dass sie zwar nicht als direkte Lüge entlarvt und verurteilt werden konnten, aber auch keine hundertprozentig wahre Darstellung der Wirklichkeit waren (Maurer/Reinemann 2003). Wer sich in dieser Grauzone rabiater bewegt oder sie offensichtlich übertritt – wie Donald Trump –, der muss seine Kritiker offensiv einschüchtern und sich der Treue seiner Gefolgschaft sicher sein. Und er muss vor allem: Die Anderen der Lüge bezichtigen. Historisch ist der Triumph der Wahrheit über die Lüge in der Zeit des gestiegenen Individualismus der Aufklärung zu situieren. Wahrhaftigkeit 16 Das Aussageverweigerungsrecht stellt hier eine Ausnahme dar: Es ermöglicht einem Beschuldigten zu schweigen, insbesondere dann, wenn er sich durch eine wahrheitsgemäße Aussage selbst belasten würde. Potentielle Lügen vor dem Gesetz sollen so eingedämmt werden. Das Schweigen ist zwar auch in diesem Fall verdächtig, aber, rechtlich betrachtet, legitim. Gleiches gilt auch für das Auskunftsverweigerungsrecht von Zeugen, wenn es um Beschuldigungen naher Angehörigen geht. 17 Im Extremfall können sie gar als altruistische Heldentat gerühmt werden.
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wird hier zur sozialen Pflicht, die man gegen sich selbst erheben kann und bisweilen sogar muss. Diaristische Aufzeichnungen lassen sich zwar schon in der Antike finden, aber erst im 18. Jahrhundert werden die Berichte und Darstellungen zunehmend subjektiver. Diese persönlichen Rechenschaften, die in den Tagebüchern während der Aufklärung, allen voran bei den Pietisten und in der Empfindsamkeitsbewegung, zu finden sind, bezeugen, dass die Unterscheidung zwischen einer authentischen und einer gespielten beziehungsweise vorgetäuschten Rolle zunehmend an Bedeutung gewinnt.18 Gleichzeitig führt diese Akzentuierung in den Aufzeichnungen zu der Thematisierung eines schlechten Gewissens: Wahrhaftigkeit wird zur Erfordernis der Selbstachtung und die Lüge, darauf weist auch Simmel hin, wirkt vor allem nach innen destruktiv, »sie zerstört die Achtung des Menschen vor sich selbst« (Simmel 2008 [1899]: 89). Die Welt der Masken scheint im ausgehenden 18. Jahrhundert beseelt von der Lüge zu sein. Am 19. März 1794, mitten in der Französischen Revolution, verkündet Danton in einer Ansprache: »Ich sehe den willkommenen Augenblick voraus, an dem alle Masken fallen werden […]« (zitiert nach Fischer 1974: 397). Hier spricht die Sehnsucht nach einer Welt ohne Lügen, nach vollkommener Transparenz. Hier spricht jedoch zugleich die Ideologie, mit Bezug auf Simmel formuliert, einer sozialen Unmöglichkeit.19 Über zwei Jahrhunderte nach Dantons Verlautbarung und mit Blick auf die User-Profile der digitalen Netzwerke scheint diese Unmöglichkeit tatsächlich auch offen ersichtlich: Dass Selbstachtung an Wahrhaftigkeit gebunden ist, zählt vor allem noch für die von außen herangetragenen Erwartungen an die politischen Repräsentanten. Zwar gehört in den ›Tagebüchern 2.0‹ das Spiel mit Masken zum Alltag, thematisiert und angeprangert werden jedoch ausschließlich die Masken der Anderen: Das schlechte Gewissen der Pietisten hat sich in der Cyberkultur externalisiert.20 Es ist somit kein Zufall, dass das Aufblühen des modernen konspirologischen Denkens in die Zeit eines hoch ausgebildeten Individualismus und der moralischen Dämonisierung der Lüge fällt. Mit der Diskreditierung der arcana imperii entsteht im Feld der Politik eine Zentralinstanz, die zugleich offen als auch wehrlos gegenüber den Verdächtigungen des Betrugs, der Lüge und der Verschwörung ist. Darin liegt der unerschütterliche demokratische Charakter der Aufklärung begründet: »Denn die Belogenen«, schreibt Simmel, »werden immer gegenüber 18 Zur Verbreitungs- und Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs siehe Boerner (1969: 37 ff.). 19 Erinnert sei an dieser Stelle an Simmels zweite soziologische Apriori. 20 »La carnavalesque mascarade qui était encore il y a quelque temps une pratique marginale, anomique et subversive, permettant d’échapper aux procédures d’identification et de surveillance de l’ordre dominant, devient donc de nos jours la nouvelle norme« (Josset 2015: 132 f.).
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dem Lügner, der durch die Lüge seinen Vorteil findet, in der Mehrzahl sein« (Simmel 1992: 390). Weitere Paradigmenwechsel – wir werden an anderer Stelle noch genauer darauf eingehen – begünstigen diesen ersten konspirologischen Boom im 18. Jahrhundert: Sowohl der Aufstieg der bürgerlichen Geheimbünde, Lesegesellschaften und Klubs und die damit einhergehende Entfaltung einer bürgerlichen Öffentlichkeit (Koselleck 1973) als auch die Entzauberung der Vorstellung einer göttlichen Providenz (Klausnitzer 2007: 66 ff.) führen zu den immer häufiger auftretenden Verdachtsäußerungen, mächtige, aber verborgene Gruppierungen hätten ihre Hände im Spiel (Kap. 6.3). So wird auch die Französische Revolution nicht mehr dem Willen Gottes zugeordnet, sondern es gibt konkret benennbare und dafür verantwortliche, bisweilen auch schuldige Individuen und Kollektive, die sich unter dem Deckmantel des Geheimnisses und der Lüge bewegen.
4.2 Wahrheit und Macht: Transparenz »Ich habe mich seit meiner Amtsübernahme für mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit und der Parlamentarier eingesetzt« (Sigmar Gabriel)21 Eigentlich könnte man dieses Kapitel mit wenigen, zynischen Worten auf den Punkt bringen. Sie könnten etwa folgendermaßen lauten: Macht ist wahr. Oder etwa: Macht hat Recht. Der Grundton wäre zwar etwas pessimistisch. Aber mit einem wissenschaftlichen Fundament – vielleicht Foucault – durchaus denkbar und legitim. Macht hat, wer Wahrheit gegen den Glauben anderer durchzusetzen vermag. Es wäre jedenfalls eine klassische konstruktivistische Vorgehensweise, Wahrheit und Macht in Verbindung zu setzen. Empirisch gesehen würde man die Möglichkeit zur Kritik dann jedoch aus den Augen verlieren. Denn: Macht ist anzweifelbar. Selbst wenn man ihr ausgeliefert scheint. Genau hierin liegt ja auch die Funktion vom konspirologischen Denken begründet. Der Bezug der Macht zur Wahrhaftigkeit wird aus dieser Perspektive brüchig, undurchsichtig, verdächtig. Mit metapragmatischen Wirklichkeitsdeutungen kann wenigstens die Legitimität der vorherrschenden Wahrheit in Frage gestellt werden. Natürlich bleiben sowohl die Möglichkeit der Kritik genauso wie diverse Wahrheitsansprüche an Artikulierungschancen und Ressourcen gebunden. Konspirologische Kritik, sofern möglich, argumentiert letztlich machttheoretisch: Sie fordert Transparenz. 21 http://www.bmwi.de/DE/Presse/pressemitteilungen,did=750566.html (letzter Abruf: 23. Mai 2016).
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Wir haben weiter oben gerade gesehen, dass die Frage nach der Wahrheit über die Beschaffenheit der sozialen Wirklichkeit im Bereich des Alltagswissens zumeist latent bleibt. Wenn Wahrheit im Alltag thematisiert wird, dann von denjenigen, die sich nicht mehr ganz sicher sind, ob der eigene Standpunkt auch der richtige ist. Ohne Zweifel handelt der Alltagsakteur mit der »Selbstverständlichkeit eines Sich-geborgen-Wissens« (Plessner).22 Das Wissen über die vorhandene offensichtliche Wirklichkeit wird jedoch anfälliger für Zweifel, Verdächtigungen und Hinterfragungen, wenn machttheoretische und strategische Annahmen, Vermutungen und Unterstellungen mit ins Spiel kommen und diesen der Stellenwert legitimer Handlungen abgesprochen wird. Dies gilt sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene. Auf der Mikroebene kann der Verdacht entstehen, Opfer einer Intrige geworden zu sein (Kap. 5.3). Erving Goffman spricht in diesem Zusammenhang von »Ensemble-Verschwörung« (Goffman 2003: 161 ff.). Auf der Makroebene geht es um die wahren, aber verborgenen – und zumeist geopolitischen und wirtschaftlichen – Intentionen von Regierungen. Auf dieser Ebene, der politischen Bühne, ist Intransparenz im zivilgesellschaftlichen Diskurs zu einem Schleier verkommen, hinter welchem das Wirken eigennütziger und somit gegen das Allgemeinwohl gerichteter Interessen vermutet werden darf. Selbst wo Transparenz proklamiert wird, kann das als konspirologischer Anhaltspunkt gedeutet werden, vom Eigentlichen abzulenken und somit Intransparenz durch verkündete Transparenz zu produzieren. Wir konzentrieren uns in diesem Abschnitt auf jene Phasen, in denen das politische Geheimnis seine Legitimität verloren hat und somit konspirologisch relevant wird (Kap. 6.3). Erst innerhalb eines demokratischen Kontextes wird das Verhältnis zwischen Wahrheit und Macht zu einer problematisierbaren und vor allem öffentlich kritisierbaren Konstellation. Denn es gehört zum mythischen Fundament des demokratischen Feldes, die Frage nach der Wahrheit über die Beschaffenheit politischer Wirkmächtigkeit aus dem Status der Latenz befreit zu haben (Giesen/Seyfert 2013). Die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Macht beginnt erst im Vorfeld der Französischen Revolution öffentlich virulent zu werden. Bis zum 18. Jahrhundert galten politische Entscheidungen ihrer Natur nach als geheim. Die Weisheit des Herrschers wurde als mysterium dar- und vorgestellt. Im Absolutismus waren politische Arkana gewöhnlich und legitim. Wahrheit konnte einfach verschwiegen, öffentliches Anprangern einfach unterdrückt werden. Unsere Bemerkungen konzentrieren sich daher erst auf die demokratische Form der Machtausübung. 22 Diese Formulierung Helmuth Plessners stammt aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Berger/Luckmanns Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.
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Der Zwang zur unpersönlichen Ordnung und öffentlicher Transparenz sind typische kulturelle Antriebe moderner demokratischer Ordnungen. Natürlich gibt es bereits ältere Debatten über Transparenz, jedoch fokussierten diese sich nicht auf den Bereich politischer Machtausübung, sondern – wie in der Fabel über den nörgelnden Gott Momos – zumeist auf den menschlichen Körper.23 Im ausgehenden 18. Jahrhundert waren es zuerst die radikalen Jakobiner, die von der Macht restlose Sichtbarkeit forderten. Was nicht gänzlich offen gelegt wurde, zog den Verdacht betrügerischer und demnach absolutistischer Machtspielereien nach sich. In den jakobinischen Reden war immer wieder die Rede von »Demaskierung«. Wir haben weiter oben im Exkurs über die Lüge bereits auf Dantons Prophezeiung des Augenblicks, »an dem alle Masken Fallen werden«, hingewiesen (Fischer 1974: 397). Hier spricht die Sehnsucht nach vollkommener Transparenz, einer Welt ohne Masken und Lügen, einer Welt der legitimen, reinen, da absolut wahren Macht. Für die Revolutionäre bedeutete Transparenz die Unmöglichkeit zur Konspiration. Das Legitime war gleichbedeutend mit dem Durchsichtigen. Dieses ins Utopische gewendete politische Ziel führte zu einer paradoxen, alles umfassenden Verdachtslogik: Nicht nur Geheimhaltung, sondern gerade Öffentlichkeit wurde mit einem Schlag zum Generator potentieller Konspirationsszenarien. Laut proklamierte Öffentlichkeit zog Verdächtigungen nach sich, als Ablenkungsmanöver zu fungieren. Das Ende der meisten radikalen Revolutionäre ist allgemein bekannt: »[A]lle hielten sich«, schreibt Manfred Schneider, »gegenseitig für Bestochene, Verschwörer, Konterrevolutionäre und heimliche Royalisten, die lediglich die Maske der Freiheit und des Patriotismus trügen« (Schneider 2013: 131). Eine Welt vollkommener Transparenz, eine Welt ohne Möglichkeit der Geheimhaltung würde nicht nur das Ende vom Politischen einläuten – gerade auch in Demokratien –, sondern jegliche soziale Interaktion unerträglich machen (Simmel 1992; Kap. 5.4). Wir machen jetzt einen zeitlichen Sprung und richten den Fokus auf dieses Jahrtausend, auf die Zeit nach dem 11. September 2001. Denn es ist erst in dieser Zeit – Beyes und Pias sprechen hier von »Digitalen Kulturen« (Beyes/Pias: 2014: 111) –, in welcher der Begriff Transparenz in öffentlichen Debatten zu einem regelrechten »semantische[n] Global Player« avanciert ist (Schneider 2013: 11). So basiert beinahe das gesamte politische Programm der 2006 ins Leben gerufenen Piratenpartei Deutschland auf der konspirologischen Forderung nach einem »transparenten Staat«. Die in Aussicht gestellte Rechnung ist dabei ziemlich simpel: Wo alles hell ist, verschwindet auch das Reich des Zwielichtigen; wo alles durchleuchtet wird, reduziert sich die Gefahr von Amtsmissbrauch und Betrug. »Immer mehr setzt sich auch hier die Erkenntnis 23 Zu einer Kulturgeschichte der Transparenzträume siehe Schneider (2013).
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durch«, heißt es auf der offiziellen Homepage der Partei, »dass Transparenz der öffentlichen Verwaltung nicht nur die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger stärkt und damit der Staatsverdrossenheit entgegenwirkt, sondern dass sie Manipulation und Korruption erschwert«.24 Transparenz ist zum wortwörtlichen »floating signifier« öffentlicher Debatten geworden (Lévi-Strauss 1987; Giesen/Gerster/Meyer 2014). Flottierende Signifikante beziehen sich auf das Ganze und bleiben dennoch in ihrer spezifischen Bedeutung komplett intransparent. Dies trifft auch auf »Transparenz« zu. Oder auf den von Lévi-Strauss untersuchten Begriff des mana. Folgt man seiner Theorie, dann dienen diese Signifikanten der Funktion, »sich der Abwesenheit von Sinn entgegenzusetzen, ohne selber irgendeinen Sinn mitzubringen« (Lévi-Strauss 1989: 40).25 Flottierende Signifikanten sind somit öffentlich flexibel aufrufbar. Natürlich stellt sich hier die berechtigte Frage, ab wann ein öffentlich heraufbeschworener Begriff mitsamt dahinterstehendem Konzept als »flottierender Signifikant« bezeichnet werden kann. Spitzt man das Lévi-Strauss’sche Paradigma etwas durkheimianisch zu, dann lässt sich die These formulieren, dass flottierende Signifikanten kollektiv-emotional aufgeladen im Mittelpunkt von Konfliktnarrativen eingesetzt werden (Koschorke 2012: 236 ff.). Ihr, um Durkheims bekannte Formulierung abzuwandeln, ›effervescenter Kern‹ schützt sie, aus der Binnenperspektive der Beteiligten, vor dekonstruktiver Entzauberung. Flottierende Signifikanten vermögen es, ihre eigenen Paradoxien und Unmöglichkeiten latent zu halten. Transparenz ist flottierend, da unmöglich – genauso wie »Gott«, das »Volk«, die »Liebe«. »Es zeigt sich«, schreibt Manfred Schneider, »dass ›Transparenz‹ immer nur in Aussicht gestellt werden kann. Transparenz hier und jetzt gibt es nicht« (Schneider 2013: 14). Transparenz ist kein Zustand, sondern Kritik; keine Gegenwart, sondern Zukunft. Denn es zählt zu den machttheoretischen Grundannahmen des konspirologischen Denkens, dass in offiziellen Statements proklamierte Transparenz gerade die Durchsicht erschweren soll. Auch hierzu schreibt Manfred Schneider in seiner Studie über das Attentat: »Je weiter, tiefer und heller das politische Theater ausgeleuchtet wird, je näher uns die Politiker auf dem Bildschirm rücken, bis wir die Falten ihrer Stirn und das Rosa ihrer Zunge befragen können, ob sie auch die Wahrheit sagen, je vertrauter und privater die Politik ins Auge des Beobachters fließt, desto nebelhafter, unfassbarer und unerreichbarer scheint 24 Aufrufbar unter https://www.piratenpartei.de/politik/staat-und-demokratie/ transparenter-staat/ (letzter Abruf: 16. Juni 2015). 25 In unserem Fall heißt das: »Transparenz« fordert Transparenz, ohne selbst transparent zu sein.
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auch der Hintergrund zu werden. Mit der Sichtbarkeit wächst die Unsichtbarkeit« (Schneider 2010: 6).
Ob die tatsächliche Unsichtbarkeit wächst, ist nicht von Bedeutung hier. Von Bedeutung ist die Unsicherheit, dass sie gewachsen ist oder wachsen könnte – gerade wo mediale Sichtbarkeit vorherrscht. Eine Analyse des konspirologischen Diskurses zeigt: Wo Transparenz fehlt, wird sie gefordert; wo sie verkündet wird, wird sie angezweifelt. Es scheint, dass die Beziehung zwischen Wahrheit und Macht in »Digitalen Kulturen« (Beyes/Pias 2014) eine unmögliche geworden ist. Betrachten wir hierfür als empirisches Beispiel das Transatlantische Freihandelsabkommen. In öffentlichen Debatten zieht das TTIP bereits seit Mitte 2014 heftige konspirologische Verdächtigungen nach sich. Im August 2015 versprach die EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström daher eine »Transparenzoffensive«.26 Mehrere performative Initiativen wurden ergriffen. Ende Januar 2016 wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ein TTIP-Leseraum eröffnet. Sigmar Gabriel sprach feierlich von einem »weiteren Schritt in Sachen Transparenz«.27 Einer Transparenz, die er schon, laut Eigenaussagen, seit Anbeginn seiner Amtszeit fördert. Jedenfalls rufen politische Performanzen das Thema wieder mit Nachdruck ins öffentliche Gedächtnis. Wie beim Dementieren eines Gerüchtes zeigt sich jedoch, dass Performanzen, die konspirologische Kritik einzudämmen versuchen, scheitern und das Gegenteil bewirken.28 Sie stacheln die kritischen Stimmen an. Über die »Transparenzoffensive« der TTIP-Verantwortlichen haben durchweg alle großen deutschen Nachrichtenportale negativ berichtet. Auch die kritischen Kommentare von Internet-Usern sind bei Berichterstattungen, in denen TTIP und Transparenz-Konzepte in den Überschriften gemeinsam aufgerufen werden, höher, als wenn das Schlagwort »TTIP« alleine steht. Es scheint, als würde Transparenz im Zusammenhang mit Macht als zynisch bewertet werden und einen Drang zu kritischen Äußerungen fördern. Konspirologisch stehen sich »Macht« und »Wahrheit« in einer vehement geforderten und doch aussichtslosen Wechselwirkung gegenüber: eine unmögliche Beziehung. Öffentlich dreht sich diese Debatte um 26 Siehe: https://blog.campact.de/2016/02/ueberwacht-und-unter-zeitdruck-3-abgeordnete-berichten-aus-dem-ttip-leseraum/ (letzter Abruf am 28. Juni 2017). 27 Siehe: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ttip-dokumente-regierung-raeumt-fehlende-regeln-ein-a-1092120.html#js-article-comments-box-pager (letzter Abruf: 28. Juni 2017). 28 Siehe den Exkurs: Über das Gerücht.
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den »floating signifier« der »Transparenz« (Lévi-Strauss 1987).29 Wir beenden diesen Punkt mit einigen Kommentaren von Usern zum Artikel »Akten zum Freihandelsabkommen: Mysteriöse Lücken im TTIPRaum« vom 13. Mai 2016 auf spiegel.de:30 »Tolle Demokratie wo einige wenige bestimmen, vielleicht auch wissen, was Sache ist. Der Herr Gabriel war, ist und bleibt eine Lusche« (f_eu). »TTIP ist das beste Beispiel für den aktuellen Stand der Demokratie in Deutschland/EU. Es geht nicht um das Volk, sondern nur um die Profitsteigerung für die Strippenzieher(Industriemagnate) im Hintergrund. Allein die Gefahr vor sinnlosen Schiedsgerichten und dem Nachsorgeschutz sollte Grund genug sein die Verhandlung auf Eis zu legen« (derknecht). »Da stellt sich der Siggi öffentlichkeitswirksam hin, und preist den Leseraum als eine Errungenschaft hin zu Transparenz. In Wirklichkeit ist es nichts anderes als das von unserer Regierung ständig praktizierte Tarnen, Täuschen, Umdeuten, Verschleiern und die Bürger/Wähler zu verar.....« (dani216). »Die Perversion der Demokratie: Abstimmen, aber ohne zu wissen, über was« (ticino49). »Gabriel gegen TTIP? Dachte wir wären wegen TTIP alle hysterisch? CETA wird aber von Gabriel gepuscht?! Ceta ist nicht in der Öffentlichkeit. Deswegen wird da die Sauerei schön weiter vorangetrieben. TTIP haben endlich genug Menschen mitbekommen, was das werden soll und nun schwätzt der Gabriel den Leuten nach dem Mund, wird aber TTIP schön weiter durchdrücken. Bisher hat Gabriel immer das gesagt, was gut klingt und dann als Tat eine Sauerei vollwissend gemacht« (schamot). »Mysteriös ist nur die klaffende Lücke in der Demokratie! Was soll das für ein ›wichtiges‹ und ›richtiges‹ Abkommen sein, dass so geheim verhandelt wird, dass nicht einmal die Parlamentarier vor der Abstimmung wissen dürfen, was eigentlich drin steht?! Wissen dürfen es nur Lobbyvertreter und eine Handvoll politischer Erfüllungsgehilfen des Kapitals!? Wo steht die Bastille des 21. Jahrhunderts eigentlich?« (khid). »Wer weiß von CETA und davon, dass an der Öffentlichkeit vorbei ein fast gleiches Abkommen mit Kanada in Vorbereitung und fast unterschriftsreif ist. Viele kennen CETA gar nicht und wissen deshalb auch 29 Der ›Gegen-floating signifier‹, um »Transparenz« zu stigmatisieren, wäre »Nationale Sicherheit«. 30 http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/ttip-dokumente-regierung-raeumt-fehlende-regeln-ein-a-1092120.html#js-article-comments-box-pager (letzter Abruf: 28. Juni 2017).
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nicht, dass falls TTIP nicht zustande kommt, die USA über das Abkommen mit Kanada dieselben Forderungen an uns stellen können. Weiter finde ich es unsäglich, wie immer noch nach Beweisen und Erklärungen gesucht wird, warum uns TTIP schaden könnte. Fakt ist, wenn es anders wäre und sich unsere Politiker damit rühmen könnten, würde wir längst bis ins Detail alles erfahren haben. Außerdem stellt sich für mich die Frage, warum unsere Abgeordneten so wenig Interesse an einer Akteneinsicht zeigen ebenfalls nicht, denn sie haben im letzten Jahr oft genug bewiesen, dass sie kein Rückgrat haben und zu einem einzigen Jasagerverein verkommen sind. Deshalb wäre es für sie vertane Zeit um die Belange der Bürger zu kümmern« (nele12).
4.3 Wirklichkeit und Imaginäres: Ansichten »Well, this is the difference between truth and fiction: Fiction has to make sense« aus dem Film The International (2008) von Tom Tykwer31
Wirklichkeit ist kein Ding an sich, sie ist nicht natürlich gegeben – auch wenn der Alltagsakteur zumeist so handelt, als ob sie genau das wäre. Erst wenn seine Handlungen, Erwartungen und Situationsinterpretationen auf einschlägige Schwierigkeiten und Widersprüche stoßen, die nicht mehr einfach mit einem flüchtigen Blick des Ungefähren übersehen werden können, muss er sich auf einer höheren Reflexivitätsebene mit dem Phänomen der Wirklichkeit auseinandersetzen. Denn Wirklichkeit, so haben wir ja bereits mehrmals angedeutet, ist der Mittel-Punkt zwischen dem Faktischen und dem Fiktiven, zwischen dem empirisch Vorhandenen (oder Vermuteten) und der Erzählung darüber (Koschorke 2012). Erst so entstehen für Akteure aus der gleichen Lebenswelt plausible Geschichten. Weder ist das rein Faktische als solches bereits bedeutungsvoll noch kann die alleinige Erzählung ohne Rekurs auf reale Fakten – beziehungsweise wenigstens Fakten, die als real behandelt werden – den Bereich des rein Fiktiven durchbrechen. Erst im Mittel-Punkt zwischen Fakt und Erzählung oder, um eine soziologische Formulierung zu benutzen, zwischen Welt und sozial konstruierter Realität entsteht für den Akteur sinnvoll wahrnehmbare Wirklichkeit.32 Ohne jegliche soziale Konstruktion ist das rein Faktische als solches noch nicht bedeutungsvoll. Genauso wie die Konstruktion ohne jeglichen Rekurs auf die 31 Zitiert nach Hurst (2014: 246). 32 Diese Unterscheidung folgt der Verwendung Luc Boltanskis: »Diese Rede von der Realität [im Sinne einer sozialen Konstruktion von Wirklichkeit, K. M.] läuft darauf hinaus, ihre Bedeutung zu relativieren und damit zu
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Welt auf Glaubwürdigkeitsprobleme stoßen würde. Wenn dieser Rekurs als unwahrscheinlich erscheint und trotzdem Wahrheitsansprüche beansprucht werden, dann müssen derartige Erzählungen im Gewand eines kollektiven Mythos vor dekonstruktiver Kritik geschützt werden. Mythen verfügen über eine Art ›Schutzpanzer‹. Sie halten pedantischen, kritischen Nachfragen, die Ansprüche auf empirische Beweise und realistische Wahrscheinlichkeiten stellen, länger stand als andere Weltinterpretationen. So kann ein Schöpfungsmythos durch die Nachfrage, wie der Schöpfer schöpfen konnte und wer überhaupt der Schöpfer des Schöpfers gewesen sei, nicht in Zweifel gezogen werden. Für den Mythos gilt: »Seine kommunikative Funktion ist die Konstruktion von Latenz, das heißt Fraglosigkeit« (Giesen et al. 2014: 175, Hervorhebung im Original).33 Gerade im Mythos zeigt sich deutlich, wie Imaginäres Wirklichkeit setzen, bestätigen und ›beschwören‹ kann. Wirklichkeit ist also mehr als die einfache Summe aller relevanten (und nackten) empirischen Fakten; sie ist immer auch imaginär aufgeladen. Realität ist ohne Imagination und Illusion nicht denkbar. »So ist der Mensch«, heißt es in Plessners Grenzschrift aus dem Jahr 1924, »in den Antagonismus von Realitätstendenz und Illusionstendenz hineingezogen, ohne ihm entfliehen zu können noch je zu wollen« (Plessner 2002: 68). Dies gilt für alle Bereiche: Alltag und Religion, Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Freizeit. Wirklichkeit wird nicht einfach bloß wahrgenommen, sondern muss auch erzählt und gedeutet werden – sowohl etwaigen Dritten als auch sich selbst. Stellt man aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive die Erzählung als Wissensvermittlung in den Vordergrund – was wäre die Welt ohne Geschichte, ohne Verstricktsein in Geschichten? –, dann wird die besondere Leistung des Imaginären in Bezug auf die Wirklichkeitsbestimmung offensichtlich. Folgt man Albrecht Koschorke, dann oszilliert erzählte Wirklichkeit immer zwischen Wahrheit und Erfindung, zwischen Fakt und Fiktion – sowohl bezüglich ihres kommunizierten Inhaltes als auch ihrer offenkundigen Erzählform:34 »Denn nicht nur sind Erzählungen hinsichtlich ihres Gegenstandes ontologisch indifferent, können Irreales als real und Reales als irreal ersuggerieren, daß sie sich von einem Hintergrund abhebt, in den sie nicht auflösbar ist. Diesen Hintergrund nenne ich die Welt, betrachtet als – mit Wittgenstein gesprochen – ›alles, was der Fall ist‹« (Boltanski 2010: 92; vgl. zudem Boltanski 2013: 24 f.). 33 »So verstanden ist der Mythos die gewaltlose und ohne Gewinnerwartung anerkannte Grundlage jedes Weltverständnisses. Er ist unübersteigbar und weltbegründet« (Giesen et al. 2014: 175). 34 So ist es möglich, eine wirkliche Gegebenheit als Erfindung, das heißt als Fiktion, zu rahmen: Dann wär der Inhalt zwar wahr, die gewählte Erzählform
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scheinenlassen; auch die Bestimmung ihrer kommunikativen Funktion ist unsicher und durchquert die ganze Bandbreite der Möglichkeiten. Das Erzählen kann als Technik der Wissensübermittlung anerkannt oder verworfen werden, mit tieferen Wahrheiten im Bunde stehen oder den Makel der Betrügerei an sich tragen« (Koschorke 2012: 17).
Wir dürfen den Begriff des Imaginären somit nicht mit der Bedeutung seiner alltäglichen, normativ aufgeladenen Gebrauchsanwendung verwechseln. Hier wäre das Imaginäre das rein Eingebildete, das die existierende empirische Wirklichkeit irritiert und stört. In diesem Sinne wäre das Imaginäre von Verschwörungstheorien das Erfundene, das Märchenhafte, das Nicht-Wahre (Kap. 2.1). Der Begriff des Imaginären fällt dann mit jenem des Fiktiven zusammen. Wir dürfen diese Reduktion nicht übernehmen: Imaginär ist nicht gleichzusetzen mit empirisch falsch oder dem Nicht-Realen. Deswegen erscheint es uns an dieser Stelle sinnvoll, den Stellenwert des Imaginären aus einer kultur- und sozialwissenschaftlichen Sicht stärker hervorzuheben.35 »L’imaginaire«, schreibt Gilles Deleuze, »est une notion très compliquée parce qu’il est au croisement des deux couples. L’imaginaire, ce n’est pas l’irréel, mais l’indiscernabilité du réel et de l’irréel« (Deleuze 1990: 93). Das Imaginäre ist weder das rein Reale noch das rein Fiktive. Es ist das Unentschlossene, die bewegliche und ›kippelige‹ »Zwischenlage« (Giesen 2010) von beiden. Das Imaginäre ist der konstitutive Bereich kompositorischer Freiheit innerhalb wirklichkeitsdeutender Geschichten. Soziologische Studien müssen diesem konstruktiven Verhältnis zwischen dem Imaginären und dem kollektiven Wirklichkeitsbezug immer Rechnung tragen. »Une sociologie sans l´imaginaire«, schreiben die Autoren des Bandes Sociologie de l´imaginaire, »c’est une sociologie mutilée, désincarnée« (Legros et al. 2006: 2). Trotzdem wird der Begriff des Imaginären in der deutschsprachigen Soziologie selten benutzt – man scheint ihn einfach der Philosophie und den Literaturwissenschaften überlassen zu haben. Bereits 1986 konstatierte Dietmar Kamper: »Dieses Imaginäre ist nach wie vor kein Thema der Soziologie. Vielmehr versucht diese, sich dagegenzustemmen und in einer Art Abwehrhaltung ihre Realitätskonstrukte zu retten, sei es um den Preis einer Blockade« (Kamper 1986: 12). Dies ist noch immer aktuell und trifft, wie gesagt, vor allem auf die deutschsprachige Soziologie zu. Im jedoch erfunden. Mit diesen Verschachtelungen spielt – wiederum von einer erfinderischen Ebene aus – der Film Die drei Tage des Condor (siehe hierzu den Exkurs: Die drei Tage des Condor). 35 Aus kultur- beziehungsweise sozialwissenschaftlicher Perspektive wird das Imaginäre nicht von seinem kollektiven Bezugsrahmen getrennt, das heißt, unsere Kommentare verweisen immer auf den Hintergrund eines kulturellen Imaginären.
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französischen Philosophie- und Soziologiediskurs scheint der Umgang mit dem Begriff des Imaginären durchaus etwas ›legerer‹ und expliziter. Dies liegt nicht zuletzt an der langen Traditionslinie Émile Durkheims und seines Spätwerkes Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Mit der Unterteilung in die Bereiche des Heiligen und Profanen untermauert Durkheim die Bedeutung des Imaginären und Symbolischen in Bezug auf den Zusammenhalt kollektiver Wirklichkeitsbestimmungen und Solidaritätsbeziehungen. Während man das Profane konsumiert, austauscht, kritisiert, ignoriert und wegwirft, ist das Heilige vor allem etwas, über das man sich Gedanken macht, über das man sich Geschichten erzählt und bildlich vorstellt: »Denn eine Gesellschaft besteht nicht einfach aus der Masse von Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, aus dem Boden, den sie besetzen, aus den Dingen, deren sie sich bedienen, aus den Bewegungen, die sie ausführen, sondern vor allem aus der Idee, die sie sich von sich selbst macht« (Durkheim 1994: 566).
Eine dieser »Ideen«, die Durkheim untersucht, ist das Totem australischer Ureinwohner. Erst mittels einer derartigen symbolischen Repräsentation kann sich die Gesellschaft als einheitliches Kollektiv imaginieren und wahrnehmen. Durkheim formuliert dies in seinem bekannt gewordenen und viel zitierten Satz: »Wenn es also sowohl das Symbol des Totems wie der Gesellschaft ist, bilden dann nicht Gott und die Gesellschaft eins?« (Durkheim 1994: 284). Ohne imaginären Charakter wäre eine stabile Konstruktion von kollektiven Akteuren nicht möglich, sie würde an der rohen empirischen Realität zerbrechen – auch wenn es sich von außen betrachtet dabei um reine Fiktionen handelt. Diese durkheimianische These wird sowohl von Giesen et al. als auch in Koschorkes Erzähltheorie bestätigt: »Das kollektive Imaginäre setzt Gemeinschaften ins Bild, es gibt der – prinzipiell unsichtbaren – Gemeinschaft durch Bilder, Embleme und heraldische Zeichen eine anschauliche Repräsentation. Und es ergänzt die sichtbare Welt einer kulturellen Gemeinschaft durch die unsichtbaren Teile eines Gesamtbildes« (Giesen et al. 2014: 16). »Ohne solche fiktiven Operationsgrößen in Recht, Politik oder Wirtschaft könnten sich Menschen nicht vergemeinschaften; keine Gesellschaft könnte im Medium des positiv Gegebenen allein existieren. Wo Menschen leben, gehen Vorfindliches und Erfundenes die vielfältigsten Verbindungen ein, und es sind gerade diese erfundenen zwischenmenschlichen Wesenheiten, die soziale Komplexität möglich machen« (Koschorke 2012: 230).
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Autoren wie Robert Hertz, die Gründer des Collège de Sociologie (Bataille, Caillois und Leiris), Edgar Morin, Jean Baudrillard, Gilbert Durand und Michel Maffesoli führten die religionssoziologische Perspektive weiter und drängten rein utilitaristisch-materialistische Deutungen von sozialen Handlungen bereits sehr früh in den Hintergrund.36 Sie rückten das Heilige, das Außerordentliche und Verfemte in den Vordergrund und zeigten somit zugleich die konstitutive Funktion und Kraft imaginärer, narrativer und symbolischer Transzendenzen.37 Dabei kann es sich um unsichtbare Unter- und Oberwelten handeln (Mythos), um als anrüchig betrachtete Bereiche menschlicher Zusammenkünfte (Gewalt, Sexualität, Außenseiter usw.) oder um ideale Fluchtpunkte, die so in Realität niemals erreicht werden können (Giesen et al. 2014: 10 ff.).38 Soziale Ordnung wird durch das, was ihr nicht sofort gehorcht, durch das, was sich nicht auf eine eindeutige Art und Weise in das kulturelle Raster klassifizieren lässt, nicht nur in Frage gestellt, sondern kann oftmals erst durch den Bezug auf derartige Gegenstücke verstanden werden (Giesen 2010; Douglas 1985). Dies gilt sowohl für eine rituell-performative als auch narrative Ebene: »Geschichten sind Ablauf-Widerfahrnis-Gemische bzw. Handlungs-Widerfahrnis-Gemische« (Marquard 2000: 61). Auch konspirologische Erzählungen bestätigen in dieser Hinsicht den Glauben an eine legitime kulturelle Ordnung – gerade weil deren Vorhandensein in Frage gestellt wird. Dieser Punkt läuft Gefahr, kulturkritisch allzu schnell übersehen zu werden. Fassen wir zusammen: Wirklichkeit besteht nicht aus einfach gegebenen Fakten, aus nackten Tatsachen. Sie ist imaginär aufgeladen: Mythen, Symbole, Bilder, Erzählungen und Filme sind von fundamentaler Bedeutung für die Selbstbeschreibung von Kulturen und gehören zu jenem Bereich, den Charles Taylor als »soziales Vorstellungschema« (social imaginary) gefasst hat (Taylor 2009). Das kollektive Imaginäre schreibt (oder malt, sagt, zeigt, singt, tanzt usw.) uns vor, wie wir die rohe Welt deutend aufnehmen können oder gar aufzunehmen haben. Dabei handelt es sich um eine selektive Tätigkeit, die außerhalb des 36 »Tatsächlich kann man«, so Maffesoli, »die Hypothese aufstellen, daß wir nach der Vorherrschaft eines ikonoklastischen Denkens – Mißtrauen gegenüber dem Imaginären, Bestreben nach Authentizität, verdächtigendes und also kritisierendes Vorgehen – eine Wiederauferstehung der Erscheinungsweisen erleben« (Maffesoli 1987: 464, Hervorhebung im Original). 37 Ein wahrlich zauberhaftes Beispiel hierfür ist Leiris’ Das Heilige im Alltagsleben (1977). 38 Beispiele für derartige ideale Fluchtpunkte wären ›Gott‹, ›Liebe‹, ›Recht‹, ›Demos‹, ›Transparenz‹ oder ›Nationale Sicherheit‹ und werden von Giesen/Gerster/Meyer (2014: 10 ff.) in Anlehnung an Lévi-Strauss als »empty« beziehungsweise »floating signifiers« bezeichnet (Kap. 4.2).
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einzelnen Wirkmächtigkeitsbereiches liegt.39 In den Bereich möglicher Wirklichkeitsdeutungen wird jeder einzelne Akteur eingewiesen. Jedes kulturelle (Sub-)System verfügt über einen Kanon potentieller Ansichten. Das kollektive Imaginäre ist somit, mit Eva Horn formuliert, »ein fundamentales Element, das die Spezifik eines historischen Lebens- und Existenzstils ebenso prägt wie das System der Bedeutungen, das Sagbare und Unsagbare, das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft« (Horn 2014: 22). Aus diesem Grund ist das Imaginäre mit den Begriffen des Realen und Irrealen nicht zu fassen, sondern befindet sich in einem Zustand der beständigen Oszillation zwischen beiden Polen. Das Imaginäre ist nicht das Nicht-Empirische, sondern die besondere Färbung von rohen empirischen Fakten und Stoffen. Als eine besondere Form der Imagination müssen wir das Fiktive ansehen. Als irreal Be- und Gezeichnetes gehört das Fiktive zunächst dem Bereich des Illusorischen und Wirklichkeitsfremden zu: Wenn behauptet wird, etwas sei Fiktion, dann ist damit zugleich gesagt, dass wir es so nicht innerhalb der sozialen Wirklichkeit wiederfinden. Wenigstens noch nicht, denn, wie Horn in ihrer Studie über katastrophische Szenarien schreibt, Fiktionen sind Modelle, »in denen die [...] Verbindung von Wissen und Nicht-Wissen zu einem möglichen Universum ›hochgerechnet‹, extrapoliert wird – ein Universum, in dem das eingetreten sein wird, was man jetzt noch nicht weiß« (Horn 2014: 35, Hervorhebung im Original). Viele kulturtheoretische Kommentare zu den Attentaten des 11. Septembers spielen genau mit diesem Argument: Die Attentate seien weder als Einbruch einer rohen Realität noch als das radikale Andere, das Undenkbare zu betrachten, sondern als eine real gewordene, typisch westliche Fiktion (beispielsweise Baudrillard 2002; Koschorke 2005). Selbst das Fiktive ist somit nicht endgültig von der sozialen Realität losgekoppelt. Wenigsten im Konjunktiv bleibt eine Verbindung bestehen: Es könnte passieren. Katastrophale Szenarien und öffentlich aufgeführte politische Wirklichkeitsdeutungen leben von dieser imaginären Kopplung. »Vor diesem Hintergrund trägt die Fiktionalisierung letztlich auch dazu bei«, schreibt Michael Schetsche im Handbuch der wissenschaftlichen Anomalistik, »dass [...] im Alltag eigentlich nicht diskursivierbare Erlebnisse des Einzelnen mittels kultureller Folien intersubjektiv gerahmt und damit in prinzipiell kommunizierbare Erfahrungen verwandelt werden« (Schetsche 2015: 69 f.). Fiktionen sind also eindeutig gerahmt: Sie gehören dem ›größeren‹ Bereich des Imaginären zu. Das heißt auch – und dies wird allzu gern übersehen –, dass sich fiktionale Gedankengänge und Repräsentationen nicht nur auf Romane, Filme oder Bilder beschränken. Eine kultursoziologisch informierte Perspektive auf Fiktionen bedeutet, »Literatur und 39 Das Feld der Kunst ist hiervon nicht ausgenommen.
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Wissenschaft, Fiktion und Politik als Diskursformen zu lesen, die sich gegenseitig informieren und kommentieren« (Horn 2014: 36). Unser Blick auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse wird von bereits bekannten fiktionalen Bearbeitungen ähnlicher Ereignisse beeinflusst. Philipp Sarasin hat dies auf eindrucksvolle Weise für die Geschehnisse vom 11. September 2001 nachzuzeichnen versucht: In der erhitzten öffentlichen Berichterstattung ging es weniger um die Nutzung von Passagierflugzeugen als Angriffsmittel als um die aus Fiktionen bekannten unsichtbaren Gift- und Viruswolken (Sarasin 2004). Folgt man den Anführungen von Clifford Geertz zur dichten Beschreibung, dann gilt dies auch für ›neutrale‹ wissenschaftliche Beobachtungen. Verschriftlichte und theoretisch angereicherte Kulturbeobachtungen sind genauso wie Flauberts Madame Bovary Fiktionen (fictio) in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Sie sind »etwas Gemachtes«, »etwas Hergestelltes« (Geertz 1987: 23).40 Jeder soziologische Idealtypus ist nicht mehr und nicht weniger als eine ›realistisch‹ eingestufte Fiktion. Sie sind nicht notwendigerweise ›wahrer‹ oder ›realer‹ als ein fiktiver Film über geheimdienstliche Aktivitäten wie Die drei Tage des Condor. Wenn wir von einem durkheimianisch angehauchten Imaginären ausgehen, das Kollektive aus der Binnenperspektive ins Bild setzt, dann müssen wir auch die komplementäre Kehrseite hiervon betrachten: Bilder und Geschichten des Anderen. Die Frage nach der genauen, ›wahren‹ Identität der Anderen ist uns genauso undurchsichtig wie die nach unserer eigenen (Giesen et al. 2014: 176). Gerade deswegen müssen wir sie in Geschichten verstricken. Die Angst vor Ausgeschlossenen und Feinden wird so zu einer handhabbaren Furcht. Dabei ist jedes Bild – sowohl im Sinne einer Geschichte als auch eines tatsächlichen Bildes – des Anderen immer ein imaginär aufgeladenes. Georg Simmel zählt dieses Wesensmerkmal in seiner Soziologie zu den drei soziologischen Apriori: Das zweite Apriori – die Fähigkeit auszuschließen – besagt, dass jeder Mensch immer mehr ist, als er gerade in einer konkreten sozialen Situation offenbart. Es gibt keine soziale Beziehung, in der sich die Akteure komplett transparent gegenüberstünden. Man kann, wie Simmel schreibt, den anderen niemals absolut kennen, sondern sich lediglich ein Bild von ihm machen, das je nach der sozialen Form, in welcher man zu ihm steht, variiert. »Jede Beziehung zwischen Menschen«, schreibt Simmel, »läßt ein Bild des einen im andren entstehen und dieses steht ersichtlich in Wechselwirkung mit jener realen Beziehung« (Simmel 1992: 385). Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei dem imaginär aufgeladenen Bild um die Wahrheit oder einen Irrtum handelt. Solange Handlungen danach ausgerichtet werden. 40 Und weniger ›etwas Falsches‹ oder ›etwas nicht den Tatsachen Entsprechendes‹.
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Je weiter der Andere entfernt ist, desto imaginärer wird dieses ›Mehr‹ der sozialen Beziehung. Zwar ist es eine Illusion, dass wir glauben, uns nahestehende Personen perfekt zu kennen, bei Fremden und Feinden jedoch reduziert sich ein Großteil der Kenntnis auf ein vages und normativ hochgradig aufgeladenes Hörensagen. Für Außenstehende handelt es sich bei den Geschichten von Feinden eines Kollektivs um Fiktionen, aber soziologisch gesehen helfen sie eben den Feind ins Bild zu setzen und ihn in Geschichten zu verstricken – ihn, einfach formuliert, zu ›verstehen‹. Die imaginäre Bedrohung des Feindes schafft eine liminale Communitas der Gefahr und ermöglicht, den Feind auf einer symbolischen Ebene begegnen zu können (Turner 2005: 94 ff.). Diese Operationen im Imaginären hinsichtlich Feindschaften sind notwendig, denn, so schreibt Koschorke, »[i]n der Tat müssen sich ja selbst Todfeinde auf irgendeiner Ebene ›verstehen‹, um sich zu bekriegen« (Koschorke 2005: 98). Wer den Anderen nur als Fremdling wahrnimmt ohne ihn in Geschichten zu verstricken, schreitet nicht zur gewaltsamen Tat. Dies macht die verschiedenen Feindschaftsparteien ähnlicher, als aus einer Binnenperspektive tatsächlich wahrgenommen wird. René Girard bezeichnete diese imaginäre Projektion von Rivalitäten und Feindschaften als »mimetische Krise« (Girard 2006). Die Unheimlichkeit des Feindes liegt in der Ähnlichkeit begründet – nicht in der Andersheit. Daher ist in Carl Schmitts bekannter Formulierung der Feind »unsere eigene Frage als Gestalt« (Schmitt 1995: 87). Konspirologisch zu denken bedeutet, dieser feindseligen Imagination eine besondere Nuance und Richtung zu verleihen. Denn im konspirologischen Denken wird ein Teil der Imaginationen des Anderen hin zum eigenen politischen Zentrum kanalisiert. Es geht hier nicht mehr um die Barbaren und Verbannten hinter nationalstaatlichen Grenzen, sondern um das sich verbergende Schurkische im Inneren der politischen Organisationsstrukturen. Konspirologische »Figuren des Unheimlichen« sind somit weniger Dämonen, Monster oder Freaks (hierzu Giesen 2010: 143 ff.) als vielmehr Politiker, Finanzmarktspekulanten und gekaufte Medienberichterstatter. Das konspirologische Schurkische wirkt im Inneren der Machtzentren, verborgen hinter der Maske des Gemeinnützigen und geschützt durch ein ganzes konspiratives Netzwerk an Bereicherungen und Gefälligkeiten. Betrachten wir als Beispiel ein Kommentar von Mathias Bröckers zu den Anschlägen vom 11. September: »Wie die gesamte Fahndung ist auch die nach den Hintermännern der Finanzspekulation ein halbes Jahr nach der Tat völlig im Sande verlaufen, obwohl es sich hier um die mit Abstand heißeste Spur auf die wahren Mitwisser und Hintermänner handelt. Doch sie zu verfolgen hätte bedeutet, das herrschende Geld- und Bankensystem mit seinen weitläufigen Offshore- und Graumarkttümpeln mit Gewalt zu knacken« (Bröckers 2002: 109). 110
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Wechseln wir von der Repräsentationsebene kollektiver Akteure zum einzelnen Geschichtenerzähler, dem homo narrans (Kurt Ranke), der schon, wie wir bereits weiter oben gesehen haben, bei der Wiedergabe einfacher Tatsachenberichte zur imaginativen Aufladung, das heißt zu Über- oder Untertreibungen neigt (hierzu den Exkurs: Über das Gerücht). Dies liegt schon darin begründet, dass man Gehörtes, Gesehenes oder Gelesenes nur mit einem – vermutlich unmenschlich – hohen Konzentrations- und Energieaufwand detailgetreu wiedergeben kann. Genauso wie in Experimenten oder Kinderspielen zeigt sich in der Realität, dass Menschen dazu neigen, beim Nacherzählen die Geschichte zu ›verfälschen‹. Die beiden Sozialpsychologen Gordon W. Allport und Leo Postman bezeichnen diese narrativen Eingriffe in ihrer klassischen Studie über die Diffusion von Gerüchten als leveling, sharpening und assimilation (Allport/Postman 1965). Einige Details werden ausgeklammert, andere zugespitzt und die Pointe der Botschaft wird an die jeweilige Erzählsituation angepasst. Mit zunehmender Verbreitung vermischt sich somit jeder eingangs detailtreue Plot einer Geschichte mit Erfundenem, falsch Verstandenem, hinterrücks Hinzugefügtem, Zugespitztem und Ausgelassenem. Dies gilt nicht nur für ›archaische‹ mündliche Kommunikationssysteme, sondern auch für technikfixierte Systeme. Auch hier ist das Imaginäre ›normaler‹ und alltäglicher, als es wohl jeder Erzähler einer als real gedachten Geschichte zugeben würde. Narratologisch gehört das Imaginäre sowohl zur Fiktion als auch zum Fakt. Sobald erzählt wird, wird imaginär aufgeladen. Im Imaginären werden die Grenzen zwischen Realem und Irrealem offener, poröser, toleranter.41 Das Imaginäre ist sozusagen die ›Würze‹ der empirisch direkt wahrnehmbaren Wirklichkeit, es lässt den Menschen träumen und Sinnloses handhabbar machen, Ängste begreifen und Zukunftsszenarien verbildlichen, Neues erfinden und das Soziale symbolisieren (Legros et al. 2006). Dabei gilt zu beachten, dass diese imaginären Zuschreibungen nicht der Willkür einzelner Erzähler entspringen. Auch sie folgen einer kulturellen Grammatik. Versuchen wir ein kurzes Fazit zu ziehen: Wirklichkeit und Imaginäres sind keine Gegenspieler. Gäbe es eine ontologisch wahre Realität, die von soziologischer Relevanz wäre, dann müsste sie von jedermann gleich wahrgenommen werden. Wir hätten uns alle die gleichen Geschichten zu erzählen. Zwar stößt dieses Argument bei Realisten 41 In diesem Punkt wird für kulturwissenschaftliche Studien in den nächsten Jahren noch einiges an theoretischer Feinarbeit zu leisten sein, man stelle sich etwa vor, ein Gegenstand wie Google Glass wird zum alltäglichen Gebrauchsgut. Durchtränkt und vermengt das Fiktive soziale Realität dann mit jedem Blick auf ein Neues? Offenbart ein Blick auf Gesichter dann geheimnisvolle Hintergrundinformationen? Es sind Fragen, welche die Grenzziehung zwischen dem Digitalen und der sozialen Wirklichkeit betreffen.
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immer wieder auf Unverständnis, der Soziologe muss jedoch von der Binnenperspektive der Akteure auf die Realität ausgehen – und die ist wiederum, von außen betrachtet, Ansichtssache. Diskursive Felder, um Foucault abzuwandeln, sind eben imaginär aufgeladen. Genau dies ist auch die Pointe des bereits angesprochenen zweiten soziologischen Apriori von Georg Simmel: Wenn soziale Wirklichkeit immer mehr ist, als in einem gegebenen Moment offenbart werden kann, dann ist sie zu jedem Zeitpunkt auch durchtränkt von Geheimnissen. Autoren wie Caillois und Leiris, Benjamin und Kracauer haben in ihren sozialphänomenographischen Studien diese Pointe Simmels fortgeführt. Im konspirologischen Denken kommt dieser narratologische Aspekt des Geheimnisvollen sehr gut zum Vorschein: Geschichten, welche die Gemüter erhitzen und um öffentliche Aufmerksamkeit ringen, drehen sich in den seltensten Fällen um das rein Offensichtliche. Nachfragen und Verdächtigungen, Streitigkeiten und Versöhnungen, öffentliche Debatten und Katastrophenszenarien, Paniksituationen und Feindzuschreibungen sind die Ursache von Störungen und Überraschungen, von Uneindeutigkeiten und Zweifel sowohl innerhalb der Kommunikation bestimmter institutioneller Felder als auch unserer alltäglichen Wirklichkeitserfahrung. Hier wird das Simmel’sche »Mehr« der wahrnehmbaren sozialen Wirklichkeit thematisiert. Emotionale Diskussionen drehen sich um soziale Geheimnisse und Mysterien. In ihrer Analyse der narrativen Struktur von Liebe und Verbrechen heben Giesen et al. diese Logik der Motivation öffentlicher Kommunikation hervor: »Wir reden zumeist nicht über das, was sich durch empirische Beobachtung entscheiden lässt, sondern gerade über das, was unsichtbar bleibt und sich einer eindeutigen Feststellung entzieht. Das fraglos Gegebene, das Vorhandene und Offensichtliche wird nur aus einer distanzierten, verfremdeten Perspektive zum Thema, im Alltag wird es schlicht vorausgesetzt. Wer es dennoch zur Sprache bringt, gilt als peinlich, banal oder schlichten Gemüts. Das, was sich hingegen der Eindeutigkeit und Offensichtlichkeit entzieht – wie Gott, die Liebe und das noch unaufgeklärte Verbrechen –, reizt unsere Imagination und fokussiert unsere Kommunikation« (Giesen/Gerster/Meyer 2014: 86).
Konspirologische Erzählungen sind Geschichten über die politischen Machenschaften hinter der demokratischen Fassade des Offensichtlichen, Geschichten über verheimlichte Abkommen und klandestine Pläne, Geschichten über die Grauzonen demokratischer Regime, bisweilen auch Geschichten über die Undurchsichtigkeit bürokratischer Systeme und Verfahren, kurzum: Geschichten über den Inhalt einer geheimnisvollen Form. Die Thematisierung etwas nicht direkt Einsehbaren ist per se imaginär aufgeladen – und wähnt sich dabei normativ 112
EXKURS: DIE DREI TAGE DES CONDOR
im Recht: So steht, wie Simmel betont, »das Böse mit dem Geheimnis in einem unmittelbaren Zusammenhang« (Simmel 1992: 407).42 Der focus imaginarus des konspirologischen Denkens sind die modernen arcana imperii: die Welt der Hinterzimmerabkommen und Geheimdienste, der Nachrichtendienste und Medientechnologien, der Militärgeheimnisse und Manipulations- und Kontrolltechniken. Wir wollen uns im weiteren Verlauf mit einem Stück Verschwörungsfiktion auseinandersetzen. Es handelt sich dabei um den Film Die drei Tage des Condor von Sidney Pollack aus dem Jahr 1975. Wie wir sehen werden, ist dieser Film aus mehreren Gründen interessant in Bezug auf unsere These vom konspirologischen Denken. Dass wir Fiktionen nicht völlig losgekoppelt von der sozialen Realität betrachten, haben wir gerade verdeutlicht. Auch wenn sie keinen expliziten Anspruch auf wahre, reale Gegebenheiten formulieren, so darf man ihre Rolle als »Reflexionen des Politischen« nicht verkennen, wie Eva Horn bemerkt. »Fiktion ist darum nicht selten eine der effektivsten Tarnungen, die das politisch Unsagbare angenommen hat. Sie hat Teil an der Arkanstruktur moderner Macht und ist zugleich deren Kritik« (Horn 2007: 35, Hervorhebung im Original). Wir stimmen dieser Position zu – auch wenn wir weniger vom »politisch Unsagbaren« als vielmehr vom politisch Geheimnisvollen sprechen würden. Exkurs: Die drei Tage des Condor Joseph Turner – Codename: Condor – ist an der Reihe. Er muss für sich und seinen Vorgesetzten das Mittagessen holen. Da es regnet, verlässt er seine Arbeitsstelle – gegen die vorgeschriebene Regel – über den Hinterausgang. Dieser Zufall soll ihm sein Leben retten. Denn als Turner vor die Fassade der American Literary Historical Society zurückkehrt – einer kleinen getarnten New Yorker Abteilung der CIA –, wird er ein letztes Mal mit erhobenem Victory-Zeichen lässig in die Überwachungskamera schauen, um Einlass zu erlangen (Abb. 3). Denn irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas ist anders als sonst. Die Tür steht einen Spalt offen. Turner tritt herein. Seine Arbeitskollegen sind tot. Kaltblütig, professionell erschossen. Turner muss untertauchen. Ihm bleibt nicht viel Zeit, um herauszufinden, wer die Drahtzieher hinter diesem Anschlag sind. Und als letztes überlebendes Mitglied einer achtköpfigen Mannschaft der CIA – Sektion 9, Abteilung 17 –, die damit beschäftigt war, internationale Literatur – Bücher, Magazine und Zeitungen – nach nachrichtendienstlich relevanten Informationen zu sichten, weiß er jetzt, 42 Der Grund, etwas zu verbergen, wird damit als soziologischer Ausdruck sittlicher Schlechtigkeit interpretiert (Simmel 1992: 407).
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(Abb. 3) Turner und sein letztes, lässiges Victory-Zeichen vor der Überwachungskamera43
dass er zu viel weiß; jedenfalls so viel, dass er und sein kleines Team einflussreichen Personen gefährlich geworden sind. Auch die Kamera über dem Hauseingang hat ihren symbolischen Status geändert: Turner weiß jetzt, dass sie nicht nur potentielle fremde Eindringlinge fernhalten sollte, sondern auch ihn überwachen sollte.43 Turner flüchtet vom Ort des Attentates und ruft ein paar Häuserblocks weiter, aus einer Telefonzelle, das CIA Hauptquartier an. Überfordert bittet er um Hilfe, um Anweisungen und Schutz: »[...] und nun holt mich um Gottes Willen rein, bitte! Ich bin kein Außenagent, ich lese bloß Bücher«. Die Reinholaktion erweist sich als Falle. Die Auftraggeber des Mordkommandos befinden sich innerhalb der CIA. Turner überlebt auch den zweiten Anschlag und kann niemandem mehr vertrauen. Er entführt eine fremde, junge Frau, um in ihrer Wohnung einen sicheren Unterschlupf zu finden. Schnell entscheidet sie sich dazu, ihm zu helfen. Gemeinsam bringen sie Higgins, den stellvertretenden Leiter der New Yorker CIA Abteilung, in Bedrängnis. Ein Katz und Maus Spiel beginnt. Langsam fängt es Turner an zu dämmern, langsam versteht er die geheimdienstlichen Spielregeln, langsam, aber sicher denkt er konspirologisch. Ein scheinbar unscheinbarer Kriminalroman, der in Sprachen übersetzt wurde, deren Auswahl seltsam anmutet: arabisch, türkisch, spanisch, niederländisch. Turner hatte das Buch in den Händen, gelesen, Bericht abgeliefert, und nicht weiter beachtet. Aber: In den Übersetzungen ist die Auflösung verborgen. Sie liefern Hinweise auf verdeckte Pläne, die sich mit militärischen Interventionen und der Sicherung von Ölressourcen im Mittleren Osten beschäftigen. Turner ist somit – ohne es anfangs zu wissen – auf die eigentlichen Intentionen hinter zukünf43 Abb. 3 und Abb. 4 sind Screenshots aus der europäischen Blu-ray-Veröffentlichung des Films.
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tigen militärischen Aktionen gestoßen, auf Fiktion, die in Realität umgesetzt werden sollte. Brisant genug, um ihn und sein gesamtes Team auszulöschen. Im Mittelpunkt steht eine konspirative Geheimorganisation innerhalb der CIA: die Five Continent Imports Inc. Ein Netzwerk aus Auserwählten und Mitwissenden, dem es gelingt, eine ganze Abteilung des eigenen Dienstgebers hinrichten zu lassen, um die eigentlichen – geopolitischen – Intentionen weiterhin heimlich realisieren zu können. Gemeinsam mit Kathy, der entführten jungen Frau, schafft es Turner, die Verschwörer in Bedrängnis zu bringen. Der vermeintliche Drahtzieher, ein gewisser Leonard Atwood, hohes Tier innerhalb der CIA Rangordnung, wird sogar dem eigenen Nachrichtendienst zu heiß: Er wird von jenem Auftragskiller, den er einst angeheuert hat, um Sektion 9, Abteilung 17 zu eliminieren, erschossen.44 Die konspirativen Netzwerkstrukturen bleiben diffus, die Überwachung omnipräsent, das Ende ungewiss. Turner trifft sich ein letztes Mal mit Higgins. Er will ihm weismachen, er hätte das Komplott aufgedeckt, durchschaut, zerschlagen. Noch glaubt Turner an ein unkorrumpierbares Amerika. Ob Atwood der einzige oder gar wahre Drahtzieher des Mordkommandos war, bleibt jedoch offen. Turner pokert. Er setzt Higgins unter Druck, sagt, er hätte seine Story der aufgedeckten Verschwörung der New York Times gesteckt: »Ihr spielt Sandkastenspiele, und ich erzähle der Presse Geschichten«. Ob er nur blufft? Auch das bleibt ungewiss. Higgins zuckt nur kurz, dann antwortet er mit der teilnahmslosen Selbstsicherheit des sich in den wirkmächtigeren Netzwerkstrukturen Wähnenden. »Hey Turner«, fragt Higgins, »sind Sie sicher, dass sie es bringen? Sie können jetzt spazieren gehen, aber, wie weit kommen Sie, wenn die Times es nicht bringt?«. Turner versucht ein letztes Mal entgegenzuhalten, ein letztes Mal seine Hoffnung zu mobilisieren: »Sie bringt es!«. Doch die Sicherheit in die eigenen Aussagen bröckelt. Turners Blick ändert sich. Was die Times druckt, liegt nicht in seinen Händen, und eine nicht gedruckte Geschichte ist wertlos. Turner weiß das. Gegen die letzte, lapidare Nachfrage von Higgins wirkt Turner hilflos: »Sind Sie sicher?«. Mit diesen drei Worten enden die drei Tage des Condor. Die letzte Einstellung zeigt Turner in einer Halbnahen. Umgeben von Musikern der Heilsarmee, blickt er, den Kragen hochgesteckt, den Kopf eingezogen, ein letztes Mal zurück (Abb. 4). Die weihnachtliche Hintergrundstimmung wirkt auf den Zuschauer wie ein surreales, märchenhaftes Schauspiel, wie ein groß inszeniertes Ablenkungsmanöver. Das Bild scheint in der Mitte getrennt, das Wappen der Methodisten im Vordergrund wirkt wie die materielle Schwelle eines Passagerituals, das Turner in den letzten drei Tagen durchlebt hat. Eine Initiation zum konspiro44 Joubert, gespielt vom fantastischen Max von Sydow.
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(Abb. 4) Die letzte Einstellung: die Augen des Condor und die konspirologische Erkenntnis
logisch Denkenden: Das Vertrauen in die eigenen Institutionen wird in wenigen Augenblicken verschwunden sein. Sidney Pollacks 1975 erschienener Film Three Days of the Condor – die Medienwissenschaftlerin Ute Holl spricht von »einem schön sentimentalen Geheimdienst-Thriller« (Holl 2011: 235) – ist in mehrfacher Hinsicht für unsere Arbeit ein interessantes, fiktives Zeitdokument, das selbst wiederum auf mehreren Ebenen mit den Dimensionen der Wirklichkeit, des Imaginären und des Fiktiven spielt. Auf einer ersten Ebene handelt es sich bei den Drei Tagen des Condor um einen fiktiven Film, um Verschwörungsfiktion. Jedoch würde eine Interpretation, welche die realen politischen Umstände der Entstehungszeit nicht berücksichtigt, kultursoziologisch wenig Sinn ergeben. Der Film muss auch als Kommentar Pollacks gesehen werden, in einer von der Kennedy-Ermordung, dem Vietnamkrieg und der Watergate-Affäre geprägten amerikanischen Öffentlichkeit (Naziri 2003; Holl 2011). Die drei Tage des Condor kann als konspirologischer Kommentar gesehen und gelesen werden, als damalige Zukunft als Katastrophe im Sinne Eva Horns (2014): Geprägt vom politischen Nachkriegsklima und der kritischen Positionierung der ersten Nachkriegsgeneration – hier: dem New Hollywood –, entwirft Pollack ein Szenario, das zukünftige militärische Interventionen als rein geopolitisch motivierte Intentionen eines elitären konspirativen Kreises entlarvt. Mit Bezug auf den realpolitischen Hintergrund des sogenannten »Jom-Kippur-Krieges« handelt es sich dabei um einen Plot mit durchaus realitätsnahem Anspruch.45 Zudem wird das Bild einer omnipräsenten und vor allem skrupellos agierenden nachrichtendienstlichen Überwachungsmaschinerie gezeichnet – auch und gerade mit Bezug auf die eigene Bevölkerung. Zur 45 Hier unterscheidet sich das Drehbuch auch von James Gradys Romanvorlage Six Days of the Condor, in der aufgedeckter Drogenschmuggel als Intention hinter den Auftragsmorden fungiert.
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Wahrung des Geheimnisses werden gar Leben geopfert. Knapp dreißig Jahre vor dem Dritten Golfkrieg nimmt Condor dessen konspirologische Thematisierung vorweg. Während der Film 1975 fiktive Zukunft als Katastrohe thematisierte, zeigt er aus einer ›post 9/11-Perspektive‹ gegenwärtige, als potentiell wahrscheinlich eingestufte nachrichtendienstliche Realität. Die drei Tage des Condor kann dem Filmgenre des sogenannten »Paranoia-Kinos« zugeordnet werden (Naziri 2003).46 Dessen Ursprünge finden sich bereits in den 50er-Jahren. Der Plot war hier zumeist dämonologisch geprägt: Die Gefahr lauerte außerhalb der nationalstaatlichen Grenzen. Filme wie Das Ding aus einer anderen Welt (1951), Kampf der Welten (1953) oder Invasion vom Mars (1953) zeigen Bilder von aggressiven Außerirdischen und lebensbedrohlichen Bestien. Wurde die Bedrohung vermenschlicht, dann in Form einer kommunistischen Schurkenfigur. Rote Gefahr (1949) und Die Stadt der tausend Gefahren (1952) thematisieren die Heimtücke einer kommunistischen Infiltration, Ich war FBI-Mann M.C. (1951) und Spionagenetz Tanger (1953) zeichnen das Bild des heldenhaften, unkorrumpierbaren UndercoverAgenten, der das kommunistische Netz entscheidend schlägt und so die nukleare Katastrophe verhindert. In den 70er-Jahren ist es zu einem Bruch gekommen. Mit dem Generationenwechsel zum New Hollywood wurde die rückblickende Sicht auf die McCarthy-Epoche kritischer, das heißt in diesem Fall: konspirologisch(er). »Die Angst vor der äußeren kommunistischen Bedrohung«, resümiert Naziri in seiner Studie zum amerikanischen Paranoia-Kino der 70er-Jahre, »wich der Angst vor dem inneren Feind, das eigene System wurde kritisch hinterfragt« (Naziri 2003: 16). Zu den einflussreichsten politischen Thrillern der 70er-Jahre, die das eigene Regime kritisch hinterfragen, gehören Alan J. Pakulas sogenannte »Paranoia-Trilogie« – Klute (1971), Zeuge einer Verschwörung (orig. The Parallax View, 1974) und Die Unbestechlichen (orig. All the President’s Men, 1976) –, Der Dialog (1974) von Francis Ford Coppola und eben Die drei Tage des Condor von Sidney Pollack aus dem Jahr 1975.47 Condor ist sicherlich nicht der anspruchsvollste dieser Filme, mit Bezug auf unsere These vom konspirologischen Denken jedoch von besonderer Bedeutung. Dass es sich bei Joseph Turner nicht um einen Agenten, einen Spion im Außendienst handelt, sondern um einen 46 Genauso wie bei den kulturellen Zeitdiagnosen finden wir auch in diesem Fall die metaphorische Verwendung des Paranoia-Begriffs eher unglücklich gewählt. 47 John Frankenheimers bereits 1962 erschienener Botschafter der Angst (orig. The Manchurian Candidate) mit Frank Sinatra in der Hauptrolle wäre als erster konspirologischer Film mit einer hohen gesellschaftlichen Resonanz zu nennen (siehe den Exkurs: Über Mind-Control und Mentizid).
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WAHRHEIT UND WIRKLICHKEIT
eher unheroisch daherkommenden »Analysten im Innendienst« (Horn 2007: 318), macht eine erste konspirologische Prägnanz des Films aus. Anders als in Zeuge einer Verschwörung und Die Unbestechlichen handelt es sich bei Turner auch nicht um einen berufsmäßigen und als unkorrumpierbar dargestellten Journalisten. Im Gegenteil: Turner will niemandem auf die Füße treten, wirkt wie ein Großstadt-Flaneur. Trotz seiner Anstellung in einer kleinen CIA-Abteilung ist Turner mehr Beamter als Agent. Er lässt Bücher durch Maschinen laufen, wertet die Dokumente aus und liefert Berichte ab. Turner ist hauptberuflich Leser. Die undurchsichtigen bürokratischen Strukturen seines Arbeitgebers scheinen ihn wenig zu interessieren.48 Er soll lediglich »Daten sammeln und organisieren, Ordnungen und Algorithmen feststellen« (Holl 2011: 241). Dass Turner als Mitglied der CIA trotz konformen Verhaltens und eigener Unwissenheit aus dem Weg geräumt werden soll, zeigt sowohl die Skrupellosigkeit als auch das Opake nachrichtendienstlicher Institutionen und Abläufe. Die Freund/Feind-Grenzen sind in dieser Welt nicht mehr eindeutig bestimmbar – weder nationalstaatlich noch figurenbezogen. Es walten gnadenlose und widerspenstige Figuren und Handlanger innerhalb der eigenen Machtzentren. Oder sie haben wenigstens unbefugten Zugang. Die Organisation bleibt undurchsichtig. Es ist die Rede von einem geheimen Verbund innerhalb der CIA: der Five Continent Imports Inc. Deren Führung wird nicht explizit personifiziert. Ihr mutmaßlicher Vorsitzender, gespielt von John Houseman, wird im Film nicht beim Namen genannt. Erst im Abspann erfährt der Zuschauer, dass es sich um einen gewissen Mr. Wabash handelt. Mit derartigen erzählerischen Mitteln geht Pollacks Darstellung einer konspirologischen ›Post-Watergate-Stimmung‹ weit über die Konzeption des »Paranoid Style« von Hofstadter hinaus. Der Film operiert weder mit dämonologischen Schurkenfiguren noch mit politisch extremistischen Wirklichkeitsdeutungen. Vielmehr geht es Pollack um die Darstellung jenes innerpolitischen Klimas, welches Eva Horn mit dem Begriff der »Staatsparanoia« zu fassen sucht: »Staatsparanoia ist eine epistemische Krise geheimen Staatswissens und seiner Handhabung. [...] Allerdings ist Staatsparanoia nicht einfach nur die Paranoia des Staates. Vielmehr geht sie in zwei Richtungen, indem sie einerseits das Misstrauen des Staats gegenüber seinen Bürgern, andererseits den Verdacht der Bürger bezeichnet, vom Staat überwacht, verfolgt oder betrogen zu werden« (Horn 2007: 385). Condor fällt in diesen Zeitraum gegenseitigen Misstrauens. Neben die dämonologischen, zumeist rechtskonservativ geprägten Deutungen der 48 Als Turner nach dem Anschlag telefonisch um »Einlass« bittet, sind ihm weder sein eigener Deckname noch die formalen Abläufe eines derartigen Vorgangs sofort parat.
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Kennedy-Ermordung traten immer lauter werdende konspirologische Erzählungen. Condor ist ein Produkt dieser kulturellen Verschiebung. Sinnbildlich hierfür kann die Szene betrachtet werden, in welcher Turner mit erhobenem Victory-Zeichen ein letztes Mal lässig in die Überwachungskamera am Haupteingang seines Abteilungsgebäudes schaut (Abb. 3). Für Turner wird die Kamera in diesem Augenblick zu einem konspirologischen Aktanten. Er selbst wird sie fortan neu sehen, anders wahrnehmen: Denn weniger sollte diese Kamera Fremde vor unbefugtem Eindringen bewahren, als vielmehr der Überwachung der eigenen Mitglieder dienen. Konspirologisch sind die technischen Medien sowohl dem Verdacht der Manipulation und Verblendung als auch dem Verdacht der Kontrolle ausgesetzt. Das Manipulations- und Verblendungsargument besagt, dass die Massenmedien, mit Luhmann formuliert, ein »nichtmitkommuniziertes Interesse« verfolgen (Luhmann 2009: 55). Das ›Wozu‹ der Berichterstattung, beispielsweise die Unterstützung politischer Parteiprogramme, wird zumeist nicht explizit thematisiert. Dem Kontrollargument geht es um die Dekonstruktion der als rational dargestellten Funktionen hinter markttauglichen Technikentwicklungen. Aus einer derartigen Perspektive macht zum Beispiel Google die Suche nach Informationen nicht einfach nur leichter und schneller, sondern vor allem auch einsehbar und klassifizierbar für nachrichtendienstliche Behörden. Symbolisiert in den Aktanten der Überwachungskamera und der New York Times thematisiert Die drei Tage des Condor beide Ebenen.
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5. Der Dritte, das Geheimnis und der Verdacht »Von den kleinsten bis in die größten Verhältnisse hinein zeigt sich die Eifersucht auf das Wissen um eine Andern verborgene Tatsache« (Simmel 1992: 408)
Das folgende Kapitel steht in einer formalsoziologischen Tradition Georg Simmels. Wir betrachten die quantitative Minimalkonstellation einer Verschwörung. Dieser Schritt bietet sich an, da es sich bei der Konspiration, wie im Falle des Streites oder des Geheimnisses (Simmel 1992: 284 ff., 383 ff.), um eine soziologische Form handelt, die sich nur in Bezug auf ihren konkreten Inhalt differenzieren lässt. Die Offenlegung ›formistischer‹ Prinzipien hinter der Deutung sozialer Wirklichkeit anhand dem Argument einer Verschwörung ist im Bestand der bisherigen Forschungsliteratur so nicht vorzufinden. Die formalsoziologische Abstraktion und Reduktion soll zu einem besseren Verständnis konkreter empirischer Inhalte führen. Dies gilt vor allem mit Bezug auf konstruktivistische Forschungsansätze. Die soziologisch fruchtlos bleibende Fixierung auf die Abstrusität dieser oder jener Geschichte kann demnach reduziert werden. Von fundamentaler Bedeutung eines derartigen Paradigmas ist der Dritte. Der Dritte macht den Unterschied. Betritt er die Bühne, dann ändert sich die soziale Konstellation entscheidend. Erstmalig eröffnen sich Alternativen: Dem Einen steht neben dem Anderen nun auch ein weiterer Anderer als potentieller Interaktionspartner zur Verfügung. Mit dem Übergang von einer dyadischen zu einer triadischen Figuration gewinnt das Mit- und Gegeneinander an Komplexität und Undurchschaubarkeit. Die Handlungsspielräume jedes Einzelnen erweitern sich: Intrige, Koalition, Stellvertretung, Verführung und Verschwörung bieten sich als neue strategische Interaktionsmöglichkeiten an. Kurzum: »Die Triade fächert die taktischen Aktionen auf« (Sofsky/Paris 1994: 249). Spätestens mit Georg Simmels 1908 erschienener Soziologie wurde die zentrale Bedeutung der Figur des Dritten für die Sozial- und Geisteswissenschaften, später auch für die Kulturwissenschaften, herausgehoben. Während frühere Sozialtheorien die Konstellation von Intersubjektivität auf die Relation zwischen Ego und Alter beschränkten (so zum Beispiel bei Husserl, Buber oder auch Max Weber) oder sich mit dem Dritten als dem Transsubjektiven beziehungsweise transzendenten Dritten beschäftigten (zum Beispiel Durkheim), findet erst mit Georg Simmel die konkrete Figur des Dritten als Interaktionspartner in der 120
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Vergesellschaftungstheorie ihre systematische Berücksichtigung (Fischer 2010: 138 ff.). Dieser Dritte definiert sich bei Simmel dadurch, dass er der erste ist, der zu einer Zweierbeziehung hinzustößt. Er ist derjenige, der stört. Diese Störung darf soziologisch keineswegs ausschließlich destruktiv interpretiert werden, vielmehr liegt in ihr eine »organisatorische Potenz« begründet (Koschorke 2010: 49, Hervorhebung im Original; hierzu auch Serres 2009). Für die Entfaltung einer gesellschaftlichen Ordnung erweist sich der Dritte von zentraler Bedeutung. Vergesellschaftung beginnt zu dritt. Vierte, fünfte und weitere hinzukommende Akteure beeinflussen die Wechselwirkungen in einem geringeren Maße, sie wiederholen – so Simmel – lediglich dyadische und triadische Figurationen (Fischer 2010: 131).
5.1 Einsam – Zweisam Bevor sich Simmel im zweiten Kapitel seiner Soziologie – »Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe« – mit der Figur des Dritten befasst, geht er auf die numerisch kleineren Gestaltungen sozialer Wechselwirkungen ein: die Einsamkeit und die Dyade. So paradox es auf Anhieb klingen mag, auch bei dem isolierten Einzelmenschen handelt es sich um ein soziologisches Gebilde (Simmel 1992: 96). Einsamkeit kann nur dort entstehen, wo es vormals ›Nicht-Einsamkeit‹, also Gesellschaft, gab. Der Zustand der Einsamkeit wird erst dann wahrgenommen, wenn man ihn von einem Zustand der »Wechselwirkungen mit anderen« abgrenzen und vergleichen kann. Der einsame Mensch ist nicht der von »jeher […] einzige Erdbewohner« (Simmel 1992: 96). »[Der] Begriff der Einsamkeit, […] soweit er betont und innerlich bedeutsam ist, meint keineswegs nur die Abwesenheit jeder Gesellschaft, sondern gerade ihr irgendwie vorgestelltes und dann erst verneintes Dasein. Ihren unzweideutigen positiven Sinn erhält die Einsamkeit als Fernwirkung der Gesellschaft – sei es als Nachhallen vergangener oder Antizipation künftiger Beziehungen, sei es als Sehnsucht oder als gewollte Abwendung« (Simmel 1992: 96).
Der Einsame ist der aus einer Wechselwirkung Ausgeschlossene. Allein muss er deswegen noch keineswegs sein, denn einsam fühlt der Mensch sich zumeist unter anderen »physisch ganz nahen Menschen« (ebd. 97).1 Dieser Ausschluss kann vom Einzelnen entweder aktiv beabsichtigt sein – wie beim Eremiten – oder er wird ihm von anderen aufgedrängt – wie 1
Siehe hierzu auch Simmels Studie über Die Großstädte und das Geistesleben (2008 [1903]).
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beim Dritten, dem der Zugang zu einer exklusiven Zweierbeziehung verweigert wird. Wie bei allen Formen der Wechselwirkung, die Simmel untersucht, interessiert ihn auch an der Einsamkeit die positiv-soziologische Bedeutung (Simmel 1992: 97). Einsamkeit ist nicht lediglich ein bemitleidenswerter Zustand – auch wenn wir davon zumeist aus einer alltäglichen Perspektive ausgehen. In der Einsamkeit liegt zugleich ein Moment der Freiheit. Freilich geht es Simmel hier nicht um eine Freiheit zu, sondern um eine Freiheit von: Freiheit von gesellschaftlichen Verbindungen, von Solidaritätszwickmühlen, Freiheit von etwaigen lästigen Beobachtern. Soziale Verbindungen führen zu sozialen Verpflichtungen. Beachtet und erfüllt der Einzelne diese nicht, muss er mit Sanktionen rechnen: Er kann ausgeschlossen, ignoriert, weggesperrt, verjagt oder gar getötet werden. In der Einsamkeit findet der Mensch somit auch eine Art von Entlastung. Einsamkeit und Freiheit sind Zustände soziologischen Tuns und Erleidens.2 Die methodisch einfachste soziologische Formation ist für Simmel die Wechselwirkung zwischen zwei Individuen.3 Einfacher insofern, da sie sich im Gegensatz zur Einsamkeit nicht über vielgliedrige und indirekte Wechselwirkungen definiert (Simmel 1992: 100). Eine Zweierbeziehung bestimmt sich über Exklusivität und Geschlossenheit. Ego steht unmittelbar Alter gegenüber – und keinem übergeordneten Kollektiv. Deswegen ist die Dyade zugleich die kurzlebigste soziologische Figuration. Der Austritt eines Einzelnen würde die Beziehung zugleich beenden. Im Gegensatz zur Dyade kann eine Dreiergruppe das Ausscheiden eines Einzelnen kompensieren. »Daß aber eine Vereinigung von zweien zwar nicht ihrem Leben nach, aber ihrem Tode nach von jedem ihrer Elemente für sich allein abhängt – denn zu ihrem Leben bedarf sie des zweiten, zu ihrem Tode aber nur des 2
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»[D]ie Freiheit«, schreibt Simmel, »ist kein solipsistisches Sein, sondern ein soziologisches Tun, kein auf die Einzahl des Subjektes beschränkter Zustand, sondern ein Verhältnis, wenn auch freilich vom Standpunkt des einen Subjekts aus betrachtet« (Simmel 1992: 99). Schon im ersten Kapitel der Soziologie, im Exkurs über das Problem »Wie ist Gesellschaft möglich?«, geht Simmel näher auf die Dyade ein. In Anlehnung an Kant fragt er nach den apriorischen Bedingungen, auf Grund derer Gesellschaft möglich ist. Der Ausganspunkt seiner Überlegungen bildet die Ich-Du-Konstellation. Im Gegensatz zur Betrachtung natürlicher Dinge ist die gesellschaftliche Verbindung nicht das Resultat eines intentionalen Bewusstseinsprozesses, sondern ein emergentes Phänomen. Die Gesellschaft ist das nicht intendierte Resultat menschlicher Wechselwirkungen. Für Simmel ist Gesellschaft somit kein Erkenntnisobjekt, sondern ein Realobjekt: »Die Gesellschaft aber ist die objektive, des in ihr nicht mitbegriffenen Beschauers unbedürftige Einheit« (Simmel 1992: 44; hierzu auch Lindemann 2010).
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einen –, das muß die innere Gesamtattitüde des einzelnen zu ihr, wenn auch nicht immer bewußt und nicht immer gleichmäßig, mitbestimmen. Es muß diesen Verbindungen für das Gefühl einen Ton von Gefährdung und von Unersetzlichkeit geben, den sie zu dem eigentlichen Ort einerseits einer echten soziologischen Tragik, andererseits einer Sentimentalität und elegischen Problematik macht« (Simmel 2008a: 153).
Das Wissen über die prekäre Lage der Zweierbeziehung gibt ihr zugleich ein Gefühl von Einmaligkeit. Denn würde sie nicht als etwas Besonderes von beiden Partnern erfahren werden, gäbe es keinen Grund mehr, in genau diese Beziehung zu investieren. Nicht nur der Tod, auch die Trivialität wirkt hier zerstörerisch. Eine weitere Bedrohung für die Zweierkonstellation liegt in der Intimität. Intim sind jene Inhalte und Verhältnisse in einer Beziehung, die man auch nur mit dieser einzelnen Person teilt. Intimität erhebt immer Anspruch auf Exklusivität. Einerseits kann dieser Anspruch enttäuscht werden. Andererseits ist oftmals gerade das, was man vor weiteren Menschen verborgen hält, weder das Ruhmreichste noch das Relevanteste – Simmel spricht hier von den »gleichgültigen ›Intimitäten‹ des Tages«, den »Liebenswürdigkeiten oder Unliebenswürdigkeiten der Stunde« (Simmel 1992: 105). Indem der Fokus zu sehr auf diese Intimitäten gerichtet wird, kann die Beziehung zu zweit leicht enttäuscht und entzaubert werden. Das, was man mit vielen anderen Menschen teilt, findet keine gebührende Beachtung mehr. Innerhalb der Dyade fehlt die entlastende Funktion des Dritten. Weder können Verantwortungen und Pflichten abgewälzt werden, noch kann man seine eigenen Handlungen damit rechtfertigen, indem man argumentiert, man habe lediglich so gehandelt wie die anderen auch. Für den Erhalt der Zweierbeziehung stehen beide Interaktionspartner gleichermaßen in Verantwortung, »so ist doch das Bezeichnende für diesen Fall [die Zweierbeziehung, K. M.], daß eben jeder wirklich etwas leisten muß, und daß, wenn er dies versagt, nur der andere, aber keine überindividuelle Kraft mehr übrig bleibt – wie es doch schon bei einer Dreierverbindung der Fall ist« (Simmel 1992: 114). Die Möglichkeiten komplexerer strategischer Handlungen sind in der Zweierkonstellation sehr beschränkt. Jeder weiß, dass er nur den anderen hat. Heimliche Koalitionspartner und Verschwörungen sind hier ausgeschlossen. Es gibt nur einen möglichen Partner für eine Kooperation,4 und mit diesem muss man sich absprechen. Die Kooperation, das gemeinsam abgestimmte Handeln, wäre in diesem Fall auch jedem 4
An dieser Stelle soll erst von Kooperation und noch nicht von Koalition, Allianz oder Bündnis die Rede sein, da letztere als strategische Kooperationen zu verstehen sind, die nicht für etwas, sondern vornehmlich gegen etwas – also etwaige Dritte – sind (Sofsky/Paris 1994: 250).
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bekannt. Andererseits kann man zwar lügen, seinem Partner etwas Falsches vorspielen, ihn täuschen und sich selbst verstellen,5 aber solche Handlungsalternativen müssen wohl überlegt sein: Denn hier ist das Schicksal der Gruppe viel häufiger vor ein »Alles oder Nichts« gestellt (Simmel 1992: 114). Wer beim Lügen erwischt wird, verliert an Vertrauenswürdigkeit – und für das Fortbestehen einer Zweierbeziehung ist diese unentbehrlich. Auch der Sitz der Macht lässt sich innerhalb der Zweierfiguration schnell klären. Neben der Kooperation gibt es noch eine weitere Option: Der Stärkere gewinnt. Es gibt dann den Mächtigen und den Ohnmächtigen.6 Erst »[d]as Auftreten des Dritten markiert so den Übergang von der Gewaltherrschaft zu sozialer Ordnung« (Giesen 1991: 34). Denn mit dem Auftreten des Dritten steigert sich die Unruhe innerhalb der sozialen Welt. Zwei körperlich Schwächere können sich gegen einen Stärkeren verbünden. Der Dritte kann sowohl Ego auf Alters Irrtum beziehungsweise Täuschungsversuch hinweisen als auch Alter bei letzterem behilflich sein. Die Möglichkeit der Konspiration gehört zum Fundament der sozialen Ordnung.
5.2 Der Dritte »Gibt es einen dritten Mann?« (Serres 1987: 24) Der Dritte, dies wurde weiter oben bereits angedeutet, macht den entscheidenden Unterschied.7 In der Verbindung zu dreien kann jedes Element als Zwischeninstanz der beiden anderen wirken: Zwangsläufig wird jeder in die Position des Dritten geraten (Serres 1987: 37). Die Reflexion über diese Einwirkungen der Figur des Dritten auf die Zweierbeziehung fand bis zum Erscheinen Simmels Soziologie außerhalb der Romanliteratur so gut wie keine Resonanz (Wiese 1933: 474). In der 5
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Bereits für die Interaktion mit einem Anderen gilt laut Luhmann: »Er kann sich irren, er kann mich irren, er kann mich täuschen. Seine Intention kann meine Enttäuschung sein« (Luhmann 2008: 33). Innerhalb dieser idealtypischen Zweierkonstellation muss wohl auch Max Webers bekannte Definition von Macht eingeordnet werden: »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichwohl worauf diese Chance beruht« (Weber 1972: 28). Schon ab der Triade muss dieser eigene Wille mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Kompromissen bereit sein, will er sein Durchsetzungsvermögen wahren. Dies trifft nicht nur auf den Dritten in der Einzahl zu, sondern auch auf mehrere Dritte zusammen, also die Partei des Dritten.
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DER DRITTE
Fiktion ist die Figur des die Idylle störenden Dritten ein klassischer Aktant.8 Die Position und die damit verbundene Funktion, die der Dritte einnehmen kann, sind variabel. Er selbst kann passiv und muss nicht einmal direkt anwesend sein, und kann trotzdem die Handlung der beiden anderen beeinflussen. Diese handeln dann im Idealfall so, wie es der nicht direkt anwesende Dritte auch tun würde, oder genauer: wenigstens für gut heißen würde. Soziologisch kann man hier vom Übergang einer Gewohnheit zwischen zwei Interaktionspartnern zur Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen mittels Dritter sprechen (Kap. 4.1). Der Dritte, diese Idee führten vor allem Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrer gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit weiter aus, wird zum konstitutiven Element für die Emergenz einer objektivierten sozialen Ordnung (Berger/Luckmann 2004: 62 ff.). Erstmals kann man sich darauf berufen, dass man so handelt und erwartet, wie man auch so handelt und erwartet, indem, wie Luhmann es formuliert, »Erwartungen auf unterstellbare Erwartungserwartungen Dritter gestützt werden können« (Luhmann 2008: 65, Hervorhebung im Original). Ohne diese Erwartungserwartungen Dritter würde die Argumentation über das man nicht mehr funktionieren. Auch zu zweit können Erwartungszusammenhänge zwar gestört werden, diese würden aber lediglich zu einer Rückfrage führen, was der Andere nun eigentlich genau meint (Luhmann 2008: 81). Das man beginnt zu dritt. Es benötigt die Möglichkeit eines ›zwei gegen eins‹, einer Mehrheit, auf die man sich berufen könnte. Dieser institutionalisierende Dritte ist nicht mit dem unmittelbaren Zuschauer zu verwechseln. Hinsichtlich der Institutionalisierung reicht es, wenn die Aufmerksamkeit Dritter latent vorhanden ist, wie Luhmann bemerkt: »Man ist Dritter nicht in der momentanen Aktualität seines Erwartens und Handelns, sondern im Erwartungshorizont derer, die sich aktuell an möglicherweise Miterlebenden orientieren. […] Der Zuschauer ist ein konkret faßbarer Dritter, seine Einstellung kann schwankend und beeinflußbar, mit der konkreten Situation modifizierbar sein. Ihm allein kann man die Institution daher nicht anvertrauen. Es sind vielmehr die unbekannten, anonymen Dritten, deren vermutete Meinung die Institution 8
Eines der bekanntesten literarischen Beispiele stammt aus Goethes Wahlverwandtschaften. Charlotte, die Ehefrau Eduards, gerät hinsichtlich dessen Wunsch, seinen langjährigen Freund, den Hauptmann, auf ihr Schloss für einen längeren Aufenthalt einzuladen, in größte Zweifel: »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten. Ich habe Freunde gesehen, Geschwister, Liebende, Gatten, deren Verhältnis durch den zufälligen oder gewählten Hinzutritt einer neuen Person ganz und gar verändert, deren Lage völlig umgekehrt worden« (Goethe 2009: 16).
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trägt. […] Bewußte Aufmerksamkeit ist knapp. Die Dritten haben anderes zu tun. Sie müssen geworben und motiviert, in ihre Rolle als Zuschauer gelotst und gegebenenfalls um ihr Urteil gebeten werden. […] Man muß Alarm schlagen, um Dritte zu interessieren« (Luhmann 2008: 66 f.).
Die Stabilität einer Institution wird gerade dadurch gewährleistet, dass Dritte nicht genau hinschauen; zumindest nicht alle. Wer doch ständig und zu genau hinschaut, missachtet die soziale Logik des Ungefähren (Giesen et al. 2014). Konsens, so lautet Luhmanns nüchternes Fazit, wird einfach unterstellt und damit zumeist potentiell überschätzt. Und auf genau dieser Überschätzung basieren Institutionen.9 Würden alle Dritten zu genau hinschauen, dann würde auch schnell klar werden, dass viele Verhaltens- und Erwartungserwartungen gar nicht so klar wären, wie es unterstellt wurde. Die Verlässlichkeit der Institution stünde auf dem Spiel.10 In diese Wunde trifft das konspirologische Denken. Im Gegensatz zu dieser Figur des latenten Dritten erweist sich der Zuschauer als direkter Beobachter sozialer Wechselwirkungen. Von dieser Position aus kann er erstmals soziale Interaktionen beobachten, in welche er nicht aktiv involviert ist, und sich der bekannten Fragestellung Goffmans bemächtigen: »Was geht hier eigentlich vor?« (Goffman 1980: 35). Da Aufmerksamkeit knapp ist und von anderen potentiell wichtigen Geschehnissen ablenkt, erweist sich auch der Zuschauer im Alltag eher als unaufmerksamer Beobachter – wie es mit Luhmann weiter oben bereits formuliert wurde: »Die Dritten haben anderes zu tun«. In der Kunst des taktvollen und angemessenen Ignorierens sollte der zuschauende Dritte geübt sein, will er nicht zu viele Ressourcen (zum Beispiel Zeit, kognitive und körperliche Ressourcen) in möglichen Konflikten verlieren. Goffman spricht hier von »höflicher Gleichgültigkeit« (civil inattention) (Goffman 1982). Erst besondere Alarmzeichen und narrative trigger rufen Aufmerksamkeit und Wachsamkeit bei den Dritten hervor (Goffman 1982: 318 ff.; zum trigger siehe Kap. 7.4 und Koschorke 2016: 10 ff.). Simmels Analyse des Dritten geht entschieden von der Perspektive der einen dritten Person aus, die auf eine Paarbeziehung hinzustößt. Er unterscheidet in seiner Dreiertypologie den Unparteiischen, den Tertius gaudens und das Prinzip des divide et impera (Simmel 1992: 125 ff.): Der Unparteiische oder Schiedsrichter schlichtet den Streit, der lachende 9
Luhmann schreibt über die Stabilität und Beständigkeit von Institutionen: »Ihr Fortbestand ist gewährleistet, solange fast alle unterstellen, daß fast alle zustimmen; ja möglicherweise sogar dann, wenn fast alle unterstellen, daß fast alle unterstellen, daß fast alle zustimmen« (Luhmann 2008: 71). 10 Im Gegensatz zu Luhmann geht Simmel in seiner »quantitativen Bestimmtheit der Gruppe« auf diese institutionalisierende Funktion der latenten Aufmerksamkeit anonymer Dritter nicht näher ein.
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Dritte profitiert von einem bestehenden Streit und der kluge Herrscher sät aktiv Streit, um seine Position zu sichern. Offensichtlich sieht man in diesen drei Typen jeweils eine soziale Institution repräsentiert: das Recht, den Markt und die Politik. Simmels Dritter ist in mehr oder minder ausgeprägter Form immer Profiteur. Der Eine profitiert vom Konflikt der zwei Anderen. Was hier fehlt, sind die zwei Anderen, die den Einen ausstoßen, verjagen, hintergehen, betrügen oder verprügeln.11 Diese Perspektive auf den Dritten, der zwei Verbündeten gegen den einen Auszustoßenden, wurde innerhalb der Soziologie einige Jahre nach Simmel von Leopold von Wiese eingeführt (Wiese 1933: 477),12 von Theodor Scharmann Ende der Fünfziger als Tertius miserabilis konkretisiert (Scharmann 1959) und fand in Figuren wie René Girards Sündenbock ihre radikalste Ausprägung (Girard 1992). Die Lücke in Simmels Typologie besteht nun genau darin, dass er seine eigenen formalsoziologischen Konzepte der Einsamkeit und des Geheimnisses nicht auf seine Typologie der Triaden anwendet. Der Dritte kann eine bestehende geordnete Figuration nicht nur stören oder aktiv mit ihr interagieren, sondern er kann auch an ihr verzweifeln. Ihm wird der Zutritt verweigert – wenigstens glaubt er daran, dass ihm der Zutritt verweigert wird. Konstitutiv für diese Dreierdynamik sind der Verdacht der Heimlichtuerei und die Hoffnung, dass das Geheimnis gelüftet oder von einem Eingeweihten verraten wird. In aktuellen medialen Debatten übernimmt diese Rolle die Figur des Whistleblowers: Sie schürt konspirologische Sehnsüchte und wird als Held stilisiert. Aus dieser Erzählperspektive des Tertius miserabilis, der sich heimlich hintergangen wähnt, argumentiert das konspirologische Denken: »Ich kenne mich bisher viel zu wenig in der TTIP Thematik aus, um dagegen oder dafür zu sein. Was mir allerdings äußerst sauer aufstößt ist diese Geheimniskrämerei seitens der Politiker, dass Dinge nicht offen auf den Tisch gelegt werden. Das stinkt zum Himmel! Wenn das alles nützlich und zu unserem Besten ist, dann kann man das auch offen legen. So bin ich erst einmal aus Prinzip dagegen!« (niemalsnicht). »Das eben ist die Frage. Wer führt denn die Verhandlungen. Sind die Namen der Verhandlungsführer nicht auch geheim? Wer sind die Berater der Verhandlungsführer? Commerzbankiers? VW-Vorstände/Aufsichtsräte? 11 Nur dem Dritten als Unparteiischer, der mit seiner ganzen Persönlichkeit den beiden anderen Partnern nahe steht, spricht Simmel, ganz nebenbei, eine »diffizilere und oft tragische Lage« zu (Simmel 1992: 130). 12 »Häufiger aber liegt es so, daß sich zwei verbünden und untereinander wesentliche Machtunterschiede nicht aufkommen lassen, den Dritten aber (mehr oder weniger) unterdrücken« (Wiese 1933: 477).
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BASF-Manager? Wozu dann überhaupt ein Abkommen? Wenn 95% nix verstehen, kann man doch auch so, ohne Abkommen machen was man will. Gesetze? Verträge? Kann man doch brechen, wenn’s keiner versteht, keiner merkt. :-((« (wolly21).13 »Es wird höchste Zeit dass Whistleblower geschützt werden, das sind die wirkliche Aufklärer« (garzo). »Ja der Herr Herr Schäuble.....steht schon seit vielen Jahren an vorderster Stelle der Politiker, die sich für die Verleihung der Unglaubwürdigkeitsmedaille bewerben. Schon als Innenminister spielte er nur allzu gerne mit der Schmuddelkindern aus der Verschleierungs- und Überwachungsfront. Von der Bevölkerung jeden Steuercent eintreiben lassen und gleichzeitig Milliarden von Steuergeldern durch staatlich betriebene Steueroasen in Deutschland und in der EU verschenken. Aufklärungswillen und mut ist von Herrn Schäuble nur gegenüber der eigenen Bevölkerung zu erwarten. Schon bei Herrn Juncker oder wie hier im Falle der Ermittlungen gegen einen staatlichen Konzern sind die Worte von Herrn Schäuble nicht die Luft wert, die er dafür wegatmet« (Bürger92). »Die Gewaltenteilung ist abgeschafft, die große Koalition der Profiteure hat die devote Justiz zahnlos, Staatsanwälte mit Absicht lächerlich gemacht. Ob es um’s Geldwäschen geht, die Zulassung von Antibiotika in Tierställen, die neue GEZ, überall wird unter verlogenen Begründungen der Bürger über’n Tisch gezogen, muß er für die kleinen und großen Gauner löhnen. Der kleine Dieb bricht die Gesetze, der große macht sie« (vantast64).14 »Wechsel an der Spitze. Jetzt sind halt mal andere dran, die sich persoenlich auf Kosten anderer bereichern wollen« (genaumeinding).15 13 Die User-Kommentare von niemalsnicht und wolly21 sind dem Artikel Umfrage: Große Mehrheit der Deutschen sieht TTIP kritisch vom 4. Mai 2016 auf spiegel.de entnommen: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ttip-grosse-mehrheit-der-deutschen-sieht-freihandelsabkommen-kritisch-a-1090908.html (letzter Abruf am 29. Juni 2017). 14 Die User-Kommentare von garzo, Bürger92 und vantast64 sind dem Artikel Panama-Affäre der Bundesdruckerei: Schäubles leere Worte vom 28. Mai 2016 auf spiegel.de entnommen: http://www.spiegel.de/wirtschaft/bundesdruckerei-wolfgang-schaeuble-wird-nichts-aufklaeren-a-1094383.html#js-article-comments-box-pager (letzter Abruf: 29. Juni 2017). 15 Der User-Kommentar von genaumeinding ist dem Artikel Fifa-Sperre für Blatter und Platini: Zwei sind raus, die Strippenzieher bleiben vom 21. Dezember 2015 auf spiegel.de entnommen: http://www.spiegel.de/sport/ fussball/sepp-blatter-und-michel-platini-die-fifa-sperren-reichen-nichtaus-a-1068912.html#js-article-comments-box-pager (letzter Abruf: 29. Juni 2017).
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KOALITION – INTRIGE – VERSCHWÖRUNG
5.3 Koalition – Intrige – Verschwörung Im Folgenden werden drei handlungsstrategische Alternativen vorgestellt, die sich ab einer Dreierkonstellation anbieten: die Koalition, die Intrige und die Verschwörung. Bei diesen drei Figurationstypen handelt es sich jeweils um eine Variante des »Zwei-gegen-einen«. Der Eine befindet sich nicht nur in der Minderheit, sondern kann zudem hintergangen werden: Er ist in der Position des Tertius miserabilis. Bei der Intrige und der Verschwörung wird zudem mit der Oberfläche der Erscheinungen gespielt, um hinter der sichtbaren Realität eine weitere Realität wirken zu lassen. Die Koalition ist eine spezifische Form von Kooperation, die nicht nur für etwas, sondern vornehmlich gegen etwas ist (Sofsky/Paris 1994: 250). Daher lohnt es sich zuvor, die spezifischen Merkmale kooperativer Handlungen zu betrachten. Zur Minimalbedingung der Kooperation gehören zwei Interaktionspartner. Beide sind sich darin eins, dass sie eine Sache gemeinsam schneller und ressourcensparsamer erreichen als nur allein. Dieses gemeinsame Ziel, der Inhalt des kooperativen Handelns, verdrängt dabei die Individualität des Interaktionspartners: »Der Fokus von Kooperationen«, schreibt Wolfgang Sofsky in seiner Dissertationsschrift, »ist das Ziel gemeinsamen Handelns, nicht die Gemeinsamkeit des Ziels« (Sofsky 1982: 253). Solange es Menschen gibt, die die gemeinsame Sachorientierung teilen, bleibt der konkrete Kooperationspartner potentiell austauschbar. Bei formalisierten Kooperationsbeziehungen geht diese Austauschbarkeit problemlos von statten – wer am Fließband den nächsten Handgriff vollzieht, bleibt letztlich unwesentlich –, bei informellen Kooperationsbeziehungen, also Organisationsfigurationen, die nicht verbindlich vordefiniert sind, wird die Konstellation prekärer: Kooperationen, welche die offiziellen und offensichtlichen Wege zugunsten undurchdringlicher und unauffälliger Pfade verlassen, müssen umso stärker auf einem Vertrauensverhältnis basieren.16 Steht die Nutzung dieser Pfade unter Sanktionsdrohung seitens Dritter, dann können sich informelle zu geheimen Kooperationen steigern. Hier wird weiterer Vertrauenskredit verlangt: Jeder muss sich darauf verlassen können, dass der Partner das Geheimnis wahrt. Bei der Koalition handelt es sich um eine Kooperationsform zur Missgunst eines Dritten. Der Ausschluss eben dieses Dritten vom Bündnis wird zum Ziel und Inhalt der Koalition. Formalsoziologisch reduziert sich die Triade zu einer Dyade. Es stehen sich zwei Parteien gegenüber: eine Mehrheit und eine Minderheit, eine Allianz und ein 16 »Informeller Partner wird nur der, zu dem man Vertrauen haben kann, sei es aufgrund seiner Kenntnis, seiner Fähigkeiten, seiner Verschwiegenheit, sei es aufgrund bloßer persönlicher Sympathie« (Sofsky 1982: 258).
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Auszuschließender. Der Dritte kommt erst wieder aktiv ins Spiel, wenn Koalitionspartner Neigungen zeigen, abzuspringen. Dann würde er wiederum die Position des Tertius gaudens innehaben. Koalitionen, wie sie hier verstanden werden, sind noch nicht notwendigerweise an Geheimhaltung gebunden. Sie sind zumeist ein Spiel mit offenen Karten – sofern man keine Intrige oder Verschwörung unterstellt. Mit etwaigen Koalitionspartnern kann öffentlich um das bestmöglichste Angebot verhandelt werden. Bleiben diese Verhandlungen geheim, dann nimmt die Koalition erste Züge einer Verschwörung an. Folgt man dem Modell von Richard Utz in seiner Soziologie der Intrige, dann ist auch die Intrige in ihrer einfachsten Form eine Triade: Es gibt den Intriganten, das Intrigenopfer und den Intrigenvollstrecker (Utz 1997: 20 ff.). Da der Intrigant alleine nicht über genügend Machtmittel verfügt, sich einen Vorteil gegenüber dem Intrigenopfer zu nehmen, ist er auf die Hilfe eines Dritten, dem Intrigenvollstrecker, angewiesen. Dieses Beziehungswissen ist aber ausschließlich dem Intriganten selbst bekannt (Paris 1998: 198). Weder der Intrigenvollstrecker noch das Opfer wissen, dass die Machtmittel des ersteren vom Intriganten dazu ausgenutzt werden, sich einen Vorteil gegenüber dem Intrigenopfer zu verschaffen. Die Handlungsanweisungen des Intriganten bleiben unauffällig. Das Perfide an dieser Figuration ist somit, dass einerseits zwei Partner (Intrigenvollstrecker und Intrigenopfer), die sich zudem nahe stehen können, gegeneinander ausgespielt werden, und andererseits beide darum nicht wissen.17 Ein öffentlich weit rezipiertes Beispiel eines Intrigenmodells sind sogenannte Mind-Control-Narrative, die ihre erste Blütezeit während der 50er- und 60er-Jahre im Kalten Krieg hatten. Wie im Plot von John Frankenheimers bekannter Verfilmung von The Manchurian Candidate (1962) werden hier die Ängste vor Gehirnwäsche und unterschwelliger Wahrnehmung thematisiert. Tatsächlich gab es innerhalb der CIA Experimente, welche die Manipulierbarkeit menschlichen Verhaltens unter der Einwirkung verschiedener Drogen testeten. Einerseits sollte so der perfekte Attentäter – als Intrigenvollstrecker – geschaffen werden, der selbst unter Folter keine Geheimnisse an Dritte weitergibt, andererseits sollte auch ein Gegenmittel gefunden werden, um sich gegebenenfalls selbst vor dieser Bedrohung schützen zu können (Horn 2007: 406 ff.; siehe auch den Exkurs: Über Mind-Control und Mentizid). Der Vorteil dieses Intrigenmodells von Richard Utz – also den Intrigenvollstrecker als nichtwissenden Handlanger zu interpretieren – liegt genau darin, es genauer von den Figurationen der Koalition und gehei17 Theoretisch können alle drei Akteure gleichzeitig versuchen, ihre intriganten Fähigkeiten durchzusetzen. In dieser Konstellation würde dann jeder jeden intrigieren, aber keiner davon wissen.
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men Kooperation abgrenzen zu können. Wolfgang Sofsky und Rainer Paris interpretieren die Intrige etwas unbestimmter als hinterhältige Koalition: A und B arbeiten hinter dem Rücken von C zusammen – und vor seinen Augen führen sie sich als unversöhnliche Streithähne auf (Sofsky/Paris 1994: 275 f.; Paris 1998: 196 f.). Definiert man die Intrige auf diese Art und Weise, dann kann man sie als Synonym für Koalition oder geheime Kooperation verwenden; das Element des nichtwissenden Handlangers geht jedoch verloren. Die Verschwörung besteht formalsoziologisch aus mehreren dieser Elemente: Es geht um Macht im Geheimen und geheime Machenschaften. Gerade die kooperative Figuration der Verschwörung ist auf das Geheimnis angewiesen, denn »Öffentlichkeit ist der ärgste Feind des Geheimbundes« (Sofsky/Paris 1994: 276). Im Kern der Konspiration steht ein sich verbergendes Netzwerk – die geheime Koalition –, die eigene Vorteile zur Missgunst ausgeschlossener Dritter durchzusetzen versucht. Zentral für das konspirologische Denken ist zudem die Figur des Handlangers. Dieser kann sowohl wissend als auch nichtwissend agieren. Erstere sind eingeweiht und erledigen schmutzige und gefährliche Aufgaben ihrer Auftragsgeber. In dämonologischen Verschwörungsszenarien wird die Rolle des eingeweihten Handlangers kulturellen und sozialen Außenseitern zugesprochen. Die antisemitische Konspirationstheorie ist wohl das bekannteste abendländische Beispiel (Kap. 6.1 und 6.2). Konspirologische Szenarien projizieren diese handlangenden Instanzen in das politische Zentrum: Hier werden die Politiker zu Interessenvertreter wirtschaftskräftiger ›Strippenzieher‹ (Kap. 6.3). Die Figur des nichtwissenden Handlangers kann einerseits wieder an den Mind-Control-Diskurs angelehnt sein, der Vollstreckung von Handlungen unter Hypnose oder Drogeneinnahme. In diesem Fall sind es dann die eigenen Intentionen, über die man nicht mehr Herr der Lage ist. Andererseits arbeitet die konspirologische Logik immer mit der Differenz von vorgespielten und wahren Intentionen, von Schein und Wirklichkeit. Aus ihrer Perspektive sind nun alle anderen, die sich dieser Differenz nicht bewusst sind, die also dem Zauber der Verblendungsmaschinerie erliegen, auch immer Mitwirker – und somit zugleich nichtwissende Handlanger – ihres eigenen Verderbens. Deswegen verlangt das konspirologische Denken nach Aufklärung, Kulturkritik und Whistleblower.
5.4 Geheimnis und Nichtwissen Fangen wir mit dem an, was Manfred Schneider als »das Unmögliche« bezeichnet hat: dem »Transparenztraum« (Schneider 2013; siehe auch Kap. 4.2). Formalsoziologisch würde eine Welt ohne Geheimnisse, eine 131
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Welt ohne die Möglichkeit das Maß an Wissen, welches wir unserem Gegenüber offenbaren, zu regulieren, in sich zusammenbrechen. »Wir könnten nicht mehr sein«, folgert Alois Hahn lakonisch, »wer wir sind, wenn alle wüßten, was wir waren« (Hahn 2002: 21). Dies gilt nicht nur für das, was wir waren, sondern auch für das, was wir sind, für das, was wir noch vorhaben, und für das, was wir über andere denken.18 Folgt man der klassischen funktionalistischen These von Heinrich Popitz, dann gibt es eine nicht zu unterschätzende Präventivwirkung und sozialintegrative Funktion des Nichtwissens (Popitz 2009). Wer alles sagt, wer unreflektiert jegliches gerade zur Verfügung stehende Wissen seinem Gegenüber offenbart, Informationen somit nicht taktisch und taktvoll abwägt, riskiert die Krise der sozialen Interaktion (Kap. 4.1). Ein ›Zuviel‹ an offenbartem Wissen liefert Angriffsflächen für Enttäuschung, Entzauberung und Kritik. Geheimhaltung und Nichtwissen sind keineswegs nur die Gegenspieler sozialer Wechselwirkungen und längerfristiger Beziehungen, sie sind gleichzeitig deren konstitutive Bestandteile. Im Kapitel »Das Geheimnis und die geheime Gesellschaft« seiner Soziologie schreibt Georg Simmel: »Dennoch ist angesichts unserer zufälligen und mangelhaften Anpassungen an unsere Lebensbedingungen kein Zweifel, daß wir nicht nur so viel Wahrheit, sondern auch so viel Nichtwissen bewahren und so viel Irrtum erwerben, wie es für unser praktisches Tun zweckmäßig ist; […] und es ist überhaupt kein andrer Verkehr und keine andre Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den andern beruht« (Simmel 1992: 385 ff.).
Wir können und müssen nicht alles wissen. Wenigstens funktionalistisch betrachtet scheint dies auch gut so. Nichtwissen und die willentliche Vorenthaltung von Wissen gegenüber Interaktionspartnern – also die Geheimhaltung – dürfen unter ethisch-normativen Gesichtspunkten nicht vorschnell moralisch verpönt werden. Beim Geheimnis handelt es sich für Simmel zunächst einmal ganz einfach um »eine soziologische Form, die völlig neutral auch über den ethischen Bedeutungen ihrer Inhalte steht« (Simmel 2008b: 184).19 Eine wertneutrale, funktiona18 »Wir verheimlichen, daß wir A am liebsten ermorden würden, uns gegenüber B vielleicht Freiheiten herausnähmen, die ihn empören würden, wenn er es wüßte. C verschweigen wir, daß wir ihn für einen Idioten, D, daß wir ihn für einen Verbrecher halten, E, daß er uns langweilt, und F, daß wir sie attraktiver finden, als erlaubt. […] Ja, man darf vielfach unsere Empfindungen nicht einmal erraten, wenn wir nicht uns und die anderen in teuflische Verlegenheit bringen wollen« (Hahn 2002: 21). 19 In analoger Weise argumentiert Simmel auch über die Lüge: »Man muß sich hüten, durch den in ethischer Hinsicht negativen Wert der Lüge über
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listische oder sozialphilosophische Argumentation ist im Alltag jedoch die Ausnahme. Öffentliche Diskussionen sind emotional aufgeladen (Giesen 2010: 264). Gerade Heimlichtuerei gilt als verrucht und wird offen angeprangert. Hier muss Simmel ergänzt werden, denn nicht nur steht »das Böse mit dem Geheimnis in einem unmittelbaren Zusammenhang«, sondern mittlerweile auch das Geheimnis mit dem Bösen (Simmel 1992: 407). So sind »Geheimnis«, »Geheimniskrämerei« oder »Verheimlichung« heute in öffentlichen Debatten zu Signifikanten und konspirologischen trigger geworden, hinter denen kriminelles Verhalten vermutet werden darf. Selbst Bürokratien müssen den ihrem Wesen nach konstitutiven Ausschluss öffentlicher Blicke leugnen: So verabschiedete die ›post-Juncker‹ Regierung Luxemburgs 2015 einen »Gesetzesentwurf zur transparenten und offenen Regierung« (Kap. 6.4). Transparenz gilt als ›gut‹ und scheint Vertrauen zu schaffen. Auch die öffentlichen Stellungsnahmen des VW-Konzerns bezogen sich nach dem Abgasskandal immer wieder auf »mehr Transparenz«. Wie wir bereits gesehen haben (Kap. 4.2), ist der Beweis, dass man tatsächlich »mehr Transparenz« schafft, eine soziale Unmöglichkeit und führt zu einer Erhitzung der konspirologischen Gemüter. Das heißt: Aus der Position des Kritisierenden darf »Transparenz« verlangt werden, aus dem Munde der Offiziellen fungiert »Transparenz« wiederum als trigger, der zu neuen konspirologischen Verdächtigungen führt. In Bezug auf das Private kippt die normative Wertung der beiden Signifikanten in öffentlichen Debatten: Hier wird »Transparenz« dem ›Bösen‹ zugeordnet. Es gibt eine konspirologische Angst vor dem allwissenden Staat, der mittels digitaler Hilfsmedien den gläsernen, durchsichtigen Bürger schafft. »Big Data« und »Big Brother« lauten die narrativen trigger (Kap. 7.4). Ein aktuelles Beispiel ist die Digitalisierung des Sozialversicherungssystems: »Total Vermessen. Wir werden gläserne Patienten« tituliert Der Spiegel seinen Leitartikel aus der Ausgabe vom 5. Dezember 2015. Harald Welzer hat sich diesem konspirologischen Diskurs angeschlossen und 2016 das Buch Die smarte Diktatur. Der Angriff auf unsere Freiheit veröffentlicht. An dieser Stelle bietet es sich an, das theoretische Gerüst von Simmels Geheimnisstudie zu präzisieren, da es für die sozialtheoretische Analyse konspirologischen Denkens von erheblicher Bedeutung ist. Simmels Text markiert den Beginn einer Soziologie des Geheimnisses, und so die soziologisch durchaus positive Bedeutung getäuscht zu werden, die sie in der Gestaltung gewisser konkreter Verhältnisse ausübt«, da »[s]o oft sie ein Verhältnis zerstören mag – solange es bestand, war sie doch ein integrierendes Element seiner Beschaffenheit« (Simmel 1992: 392). Siehe auch den Exkurs: Über die Lüge.
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Erkenntnis erregend seine Beobachtungen sind, sie leiden indes an einem erheblichen Manko: Simmel unterscheidet nicht genau zwischen dem Geheimnis und den verschiedenen anderen Formen von Nichtwissen. Diese vage Grenzziehung ist nicht zuletzt seiner Eigenschaft geschuldet, im Rahmen seiner impressionistischen Methodologie bewusst auf konkrete Definitionen und Eingrenzungen seiner verwendeten Begrifflichkeiten zu verzichten (Kap. 2.2). Das Geheimnis steht zwar immer mit dem Nichtwissen in Verbindung. Umgekehrt muss dies jedoch nicht immer gelten. Es gibt auch Nichtwissen, das nicht durch Geheimhaltung hervorgebracht wird. In seiner vorzüglichen Arbeit über das Geheimnis schreibt der Luhmann-Schüler Burkard Sievers zu Simmels Studie: »Einerseits versucht er [Georg Simmel, K. M.] das Geheimnis einem Kontinuum von Wahrheit und Lüge zuzuordnen, andererseits unterscheidet er jedoch nicht zwischen einem anderen bewußt vorenthaltenen Wissen und einem Wissen, das sich dem kognitiven Zugriff etwa deshalb entzieht, weil es das Potential und die Kapazität des erkennenden Individuums übersteigt« (Sievers 1974: 12).
So schreibt Simmel: »[W]as nicht offenbart wird, darf auch nicht gewußt werden« (Simmel 1992: 396). Jedoch unterliegt nicht alles, was in einer konkreten sozialen Beziehung nicht offenbart wird, dem »Selektionskriterium des Geheimnisses« (Sievers 1974: 12). Es gibt Wissen, das man seinem Gegenüber nicht offenbart, da man weiß, dass es ihn nicht interessiert – es unterliegt dann dem Selektionskriterium des gemeinsamen Relevanzbereiches oder Interessengebietes.20 Es gibt zudem Wissen, das man nicht offenbart, da man vermutet, der Kommunikationspartner verstehe es einfach nicht – Selektionskriterium wäre dann die Einschätzung der empathischen beziehungsweise kognitiven Fähigkeiten des Gegenübers. Es kann auch ganz einfach vergessen werden, etwas Bestimmtes mitzuteilen.21 20 Sievers schlägt deshalb vor, an dieser Stelle zwischen Nichtmitteilung und Nichtthematisierung zu unterscheiden: »Während die bloße Nichtthematisierung von Möglichkeiten sich aus dem gemeinsamen Sinnkontext etwa aufgrund mangelnder Relevanz ergeben kann, bedeutet die Nichtmitteilung, wie sie dem Geheimnis zugrundeliegt, die Negation von Informationsmöglichkeiten für den Kommunikationspartner, obgleich der der gemeinsamen Sinnaktualisierung zugrundeliegende Sinn die Implikation dieser Möglichkeiten bzw. der entsprechenden Nachrichten erwartbar werden läßt« (Sievers 1974: 20 f.). Bei der Nichtmitteilung ist somit davon auszugehen, dass der Kommunikationspartner eigentlich erwarten würde, dass ihm eben gerade diese nicht mitgeteilte Mitteilung hätte mitgeteilt werden müssen. 21 Diese Aufzählung kann man weiterführen, enden würde sie jedenfalls bei einem Nichtwissen, welches die »Kapazitäten beider erkennenden Individuen
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In der bisherigen Forschungsliteratur zum Geheimnis konnte sich noch kein Konsens über die genaue Verwendung der verschiedenen Begrifflichkeiten wie Geheimnis und Heimlichkeit, absolutes und relatives Geheimnis, oder einfache und reflexive beziehungsweise doppelte Geheimhaltung einstellen. Wir versuchen daher jene Begriffe genauer einzugrenzen, die für den weiteren Verlauf dieser Arbeit von Bedeutung sind – vor allem auf die Arbeiten von Burkard Sievers und Alois Hahn wird dabei Bezug genommen. Um Wissen gezielt vorzuenthalten, genügt bereits eine Person. Diese kann versuchen, etwas, was ausschließlich ihr bekannt ist, vor fremden Blicken und fremdem Wissen fernzuhalten. In seinem Buch Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität zeigt Erving Goffman, wie verschiedene Individuen mit körperlichen oder sozialen Stigmata durch geschickte Informations- und Körperkontrolle eine mögliche Enthüllung und drohende Diskreditierung zu umgehen versuchen (Goffman 1975). In diesen Fällen, in denen einer der alleinige Besitzer eines bestimmten Wissens ist, sprechen wir von Heimlichkeit (Hahn 2002: 25).22 Erst wenn dieses exklusive Wissen mit mindestens einer weiteren Person geteilt wird, gehen wir von der sozialen Dynamik des Geheimnisses aus. Durch die Mitteilung wird die Heimlichkeit in ein Geheimnis verwandelt. Diese Geheimhaltung macht aber nur dann Sinn, wenn andere Personen von diesem Wissen ausgeschlossen werden. Ein Geheimnis zieht immer eine Grenze gegenüber ausgeschlossenen Dritten.23 Für Simmel entwickelt das Geheimnis seine volle soziologische Potentialität erst in dieser Dreierkonstellation: »Die Absicht des Verbergens nimmt aber eine ganz andre Intensität an, sobald ihr die Absicht der Entschleierung gegenübersteht. Dann entsteht übersteigen« würde, und welches der Philosoph Martin Seel als »konstitutives Nicht-Wissen« bezeichnet: Es »besteht in einem mit allem begrifflichen Wissen verbundenen, aber von den Wissenden nicht überschaubaren Horizont der Unbestimmtheit« (Seel 2009: 47). Ohne diesen Horizont der Unbestimmtheit wäre unser Leben erwartbar, frei von Überraschungen und frei von Verdächtigungen. Seel erkennt deshalb dieses konstitutive Nichtwissen als »Aphrodisiakum der menschlichen Lebensform« an. Von diesem »konstitutiven« Nichtwissen unterscheidet er das »kontingente« Nichtwissen, das Verhältnisse betrifft, »von denen man zufällig oder aus eigenem Verschulden keine Kenntnis hat« (Seel 2009: 47) – Verhältnisse also, die im Nachhinein mit einem ›das hätte ich wissen müssen‹ quittiert werden. 22 Nedelmann spricht hier vom »absoluten Geheimnis« (Nedelmann 1995: 3 f.). 23 »Immer wenn es ein Wir gibt, gibt es ausgeschlossene Dritte, für die die Wir-Beziehung ein Geheimnis bleibt« (Moebius 2002: 18).
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jenes tendenziöse Verstecken und Maskieren, jene sozusagen aggressive Defensive gegen den Dritten, die man erst eigentlich als Geheimnis bezeichnet« (Simmel 1992: 405).
Aus der Innenperspektive der Eingeweihten sorgt das geteilte Geheimnis für eine stärkere Bindung zwischen den Mitwissenden, die schon deswegen zustande kommt, da die Geheimhaltung eine spezielle »Binnenkommunikation« erfordert, die es vor zu einfacher und schneller Enthüllung schützt (Nedelmann 1995: 5). Das Geheimnis schafft ein Gefühl von Exklusivität. Es zieht Grenzen, schafft Wissensdifferenzen und stiftet somit ganz einfach Identität. Soziologisch geht es hier weniger um die faktischen Verschiedenheiten in der Verteilung von Wissen. Vielmehr lebt die öffentliche Spannung von der normativen Dramatisierung dieser Wissensdifferenzen (Hahn 2002: 26). Tatsächlich zeigt sich hier wieder die soziale Macht des Imaginären gegenüber realen Gegebenheiten (Kap. 4.3): Die Dramatisierung kann selbst ohne Differenzen stattfinden. Wird Geheimhaltung vermutet, fordert man Transparenz – folglich lässt sich der Verdacht nicht mehr entkräften. Den »logischen Gegensatz« zum Geheimnis bildet der Verrat: »Das Geheimnis«, schreibt Simmel, »legt eine Schranke zwischen die Menschen, zugleich aber den verführerischen Anreiz, sie durch Ausplaudern oder Beichte zu durchbrechen« (Simmel 1995: 409). Formalsoziologisch wohnt dem Geheimnis eine besondere Spannung inne, es ist eine leicht zu kippende Figuration: Je höher die Exklusivität des gemeinsamen Besitzes ist, desto attraktiver kann die Möglichkeit des Verrates werden.24 Der Verrat oder das Ausplaudern können wiederum als Geheimnis gerahmt werden: ›Kannst du ein Geheimnis für dich bewahren…?‹. Das Geheimnis bleibt somit eine prekäre und labile, da stets durch Verrat bedrohte, Konstellation. Verräter, vor allem solche, die ihren Verrat intentional begangen haben, müssen mit Ausschluss aus der von ihnen hintergangenen Gemeinschaft rechnen. Zudem können institutionelle Vorkehrungen – wie »Heilsinteressen, Berufsethik und Angst vor diesseitigen und jenseitigen Sanktionen« (Hahn 2002: 26) – den Reiz einer Preisgabe einschränken. Fassen wir zusammen: »Systemtheoretisch« – und mit Alois Hahn – »gesprochen, ließe sich sagen, daß die Verheimlichung eine Information jeglicher Kommunikation entzieht oder zu entziehen sucht, und zwar durch totalen Mitteilungsverzicht, wohingegen die Geheimhaltung sich auf bereits Mitgeteiltes bezieht« (Hahn 1997: 23). Dieser Gedanke lässt sich weiterführen: Auch Geheimhaltung kann ›verheimlicht‹ werden. 24 Mit Birgitta Nedelmann formuliert: »Geheimhaltung beruht somit auf dem Paradox von Attraktivität durch Exklusivität und hierdurch hervorgerufene Attraktivität durch Verrat« (Nedelmann 1995: 6).
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Deswegen ist eine weitere wichtige Unterscheidung notwendig: die zwischen einfachen und reflexiven Geheimnissen (Sievers 1974). Im ersten Fall ist die Existenz eines Geheimnisses Dritten bekannt, im zweiten wird auch diese verheimlicht, oder, um nochmals eine Formulierung Burkard Sievers zu verwenden, bei reflexiven Geheimnissen wird selbst die Nichtmitteilung nicht mitgeteilt. Für viele soziale Positionen von Amtsinhabern und für einige soziale Funktionen des Geheimnisses ist das Bekanntsein der Existenz eines solchen eine notwendige Bedingung. Nicht Eingeweihte müssen wenigstens wissen, dass andere ein Geheimnis teilen. Die »normative Dramatisierung« von Wissensbarrieren kann zum Beispiel der Herstellung von Rangdifferenzen oder Charisma dienen (Hahn 2002: 28). Einfache Geheimhaltung entlastet außerdem von übermäßigen Sicherheitsvorkehrungen. Durch Unachtsamkeit kann die Existenz des Geheimnisses selbst nicht mehr verraten werden – höchstens der Inhalt. Innerhalb liberaler Demokratien ist einfache Geheimhaltung auf der politischen Bühne als äußerst problematisch einzustufen – beziehungsweise aufzuführen –, wie die hitzig geführte Debatte rund um die Verhandlungsrunden des Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) zeigt. Einfache Geheimhaltung gilt als Rudiment arkanpolitischer Strukturen. Das Geheimnis kann aber auch dann von sozialer Bedeutung sein, wenn nicht Eingeweihte nicht wissen, dass Geheimnisse existieren. Dies gilt zum Beispiel für verschwörerische Gruppierungen: Sie müssen ihre Koalition vor Dritten verheimlichen. Reflexive Geheimhaltung entlastet zwar einerseits von der Rechtfertigung, anderen zu erklären, wieso man Geheimnisse hat. Andererseits entsteht gerade dadurch eine hohe Belastung in der Erwartungsstruktur des Geheimhaltenden: Bei der reflexiven Geheimhaltung »bedarf es in weit stärkerem Maße als bei der einfachen Geheimhaltung der Einbeziehung der Erwartungen des anderen einschließlich der Erwartungen, die dieser vom Geheimhaltenden erwartet« (Sievers 1974: 32). Der Geheimhaltende muss sein Handeln und seine Mitteilungen so einstellen, dass er darauf vertrauen kann, dass ihm sein Gegenüber vertraut. Er muss ihm glaubwürdige, unscheinbare Geschichten stricken (Schapp 1985). Der Verdacht würde das für die reflexive Geheimhaltung grundlegende Vertrauen zerstören. Dies würde den Beginn einer neuen Verstrickung markieren: der Verschwörungstheorie.
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Exkurs: Über die Spionage »Es gibt Morgen, da schau ich in den Spiegel und frage mich: ›Bin ich eigentlich ein kommunistischer Dschihadist oder nicht?‹ Aber dann beruhige ich mich wieder: ›Mach dir keinen Kopf, Alter. Da gibt es Kompetentere, die sich darum kümmern: Die lesen deine E-Mails, hören deine Telefonate ab, vielleicht ist deine Wohnung auch schon verwanzt...und die wissen ganz genau, ob du Terrorist bist oder nicht. Und das Schöne: Die können dich vor dir selber schützen!‹«25
Im folgenden Exkurs gehen wir – so unsere These – von zwei verschiedenen Möglichkeiten der narrativen Rahmung geheimdienstlicher Machenschaften aus. Uns geht es nicht um die tatsächlichen systeminternen Vorgänge – außenstehenden Beobachtern sind diese ohnehin nicht einsehbar –, sondern um die öffentlich aufgeführten Debatten und fiktionalen Darstellungen zu und über Spionage-Affären. Wir unterscheiden dabei eine dämonologisch geprägte Perspektive auf das Wesen der Spionage von einer konspirologischen. Historisch situieren wir den Übergang in die Zeit der beginnenden Zweifel an den von der McCarthy-Ära geprägten dramaturgischen Feindesmodellen. Als ausschlaggebendes Ereignis für die kippende Stimmung innerhalb der öffentlichen Rezension ist die Watergate-Affäre zu nennen.26 Während das dämonologische Spionagemodell einer romantischen Erzähllogik folgt, ist die konspirologische Perspektive satirisch geprägt. Wir können an dieser Stelle keine exakte historische Studie nachrichtendienstlicher Aktivitäten nachzeichnen. Dies würde den Rahmen dieses Exkurses sprengen. Wichtig sind uns an dieser Stelle lediglich einige charakteristische Aspekte öffentlicher und fiktionaler Darstellungen. Beginnen werden wir mit der im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkrieges immer beliebter werdenden literarischen Gattung des Spionage- und Agentenromans. Als einflussreichste und daher gattungsbegründende Schrift nennt Luc Boltanski in seiner Studie über Rätsel und Komplotte John Buchans 1915 erschienenen Roman Die neununddreißig Stufen (Boltanski 2013: 229 ff.).27 Im Gegensatz zu älteren Kriminalromanen befindet sich, so Boltanski, der Staat im Spionagethriller in einer Art von latentem, dauerhaftem Kriegszustand: »Die gesamte Gesellschaft 25 Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung vom 22. Juni 2015. 26 In typischen – und vermutlich zu weit gefassten – soziologischen Klassifikationsmustern ausgedrückt: Die konspirologische Erzählung geheimdienstlicher Vorgänge ist ein charakteristisches Phänomen postmoderner Erzählkulturen. 27 Alfred Hitchcock verfilmte den Roman 1935.
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wird durch die Machenschaften – die die Form von Komplotten annehmen – von subversiven und geheimen Großorganisationen gefährdet, deren Umfang den territorialen Rahmen einer Nation weit übersteigt und deren Verzweigungen bis in den Kern des Staates selbst reichen, der dadurch teilweise oder vollständig korrumpiert oder zumindest handlungsunfähig gemacht wird« (Boltanski 2013: 235). John Buchans fiktiver Held Richard Hannay folgt noch ganz dem Ideal des ›Empire-Agenten‹: Er ist Abenteurer und Gentleman, gebildet und weltgewandt, sachlich, aber in den richtigen Momenten furchtlos und wagemutig (Horn 2007: 230). In Den Neununddreißig Stufen muss Hannay eine weit angelegte anarchistische Verschwörung mit deutschen Drahtziehern aufdecken – »Der Schwarze Stein« –, während er gleichzeitig von den eigenen Behörden des Mordes verdächtigt und verfolgt wird. Am Ende beweist Hannay seine Unschuld, hat Zugang zu einem elitären und selbst wiederum opaken Regierungskreis, und gemeinsam gelingt es ihnen, den Kreis um die Agenten und Spione des »Schwarzen Steins«, welche wichtige Geheimdokumente gestohlen hatten, zu zerschlagen. Der – offen geführte – Krieg kann trotzdem nicht verhindert werden (Buchan 1975). Neben dieser Figur des ›gentlemanhaften‹ Agenten steigt rund um die Ereignisse des Ersten Weltkrieges der diskursive Bekanntheitsgrad von der Figur der weiblichen Spionin. Sie ist die Femme fatale, eine, wie Horn schreibt, »zugleich glamouröse und erbärmliche, verführerische und verführte, zwischen Grande Dame und Prostituierter oszillierende Gestalt« (Horn 2007: 230). Im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant fußt ihre Berühmtheit auf – wenigstens scheinbar – realen Figuren wie Margaretha Geertruida Zelle (Mata Hari) oder Elsbeth Schragmüller. Es spielt jedoch keine Rolle, ob es sich um weibliche oder männliche Agenten handelt, ihre Herkunft real oder fiktiv gerahmt ist, das Spiel um Spionage und Geheimdokumente bleibt innerhalb einer klar trennbaren Freund/Feind-Semantik dekodierbar. Ist der Schleier gelüftet, die Tarnung aufgedeckt, dann kann der Spion eindeutig einer feindlich gesinnten Gruppierung zugeordnet werden. In ihrem Kern sind die Kollektivzugehörigkeiten klar gezeichnet. Die Gegner von Hannay, die Hintermänner vom »Schwarzen Stein« sind Deutsche, Anarchisten, Kapitalisten und Juden; Mata Hari und Elsbeth Schragmüller arbeiteten jeweils für den deutschen Geheimdienst usw. Ein weiteres anschauliches Beispiel einer derart dämonologisch geprägten Perspektive auf das Wesen der Spionage ist Fritz Langs 1928 erschienene Verfilmung von Thea von Harbous Roman/Drehbuch Spione (Abb. 5). Hier ist es die unscheinbare Fassade einer Bank, hinter der ein international aktives Netz von Saboteuren und Spionen operiert. Drahtzieher ist Haghi. Oberflächlich kommt er als gelähmter Bankdirektor daher. In Wirklichkeit hat er sich auf Erpressung mit geraubtem, 139
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(Abb. 5) Screenshot aus Fritz Langs Spione von 1928: Haghi in seiner Kommandozentrale28
prekärem Wissen spezialisiert. Sein Schreibtisch ist eine nachrichtendienstliche Schaltzentrale, seine Befehlswelt bevölkert von Spitzeln und reich an technischen Überwachungsmöglichkeiten. Lang und Harbou haben sich von dämonologischen Bildern ihrer Zeit prägen lassen: Äußerlich ist Haghi eine Mischung aus Lenin und einem »erkennbar mit allen antisemitischen Attributen ausgestatteten Bankier[...]« (Horn 2007: 241). Haghi, dieser Meister des Verkleidens und Belauschens, sabotiert gar als falscher Informant den Geheimdienst. Am Ende fliegt seine Tarnung auf und Haghi wird sich selbst richten. Zeitgenössische Rezensionen notierten hier die Anspielung von Lang und Harbou auf den realen Fall um Oberst Alfred Redl: Dieser beging am 25. Mai 1913 Selbstmord, nachdem er als Generalstabchef der österreich-ungarischen Armee Militärgeheimnisse an Russland, Italien und Frankreich verraten hatte (Aurich et al. 2001: 126 f.). 28 Auch um und nach dem Zweiten Weltkrieg finden sich diese dämonologisch geprägten Erzählungen über Spionage wieder. Der Kampf und Neid um Wissen zwei gleichgroßer ›Supermächte‹ nimmt während des Kalten Krieges in seiner öffentlichen Würdigung grotesk-karikaturhafte Züge an. Von außen betrachtet zeichnet sich die damalige Situation durch eine komplett symmetrische Ausgangslage aus: zwei feindselig gestimmte Lager, die sich in ihrer Zuschreibung von absoluter Anders28 Fritz Lang: Spione, DVD erschienen bei Transit Film (2007). Copyright: Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung.
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artigkeit tatsächlich spiegelbildlich selbst projizieren; das fortdauernde Beschwören apokalyptischer Szenarien durch eine nukleare Bedrohung; eine die öffentliche Diskussion dominierende Furcht, der Feind hätte sich unter das eigene Volk geschlichen, um zu sabotieren und spionieren. Erinnert sei an dieser Stelle an McCarthys berüchtigte Liste der 205 Namen. Dass eine derart inszenierte Feindschaft zwischen zwei Kontrahenten Ähnliches erzeugt, dass eine »paradoxe Nähe zwischen Polarisierung und Mimesis« besteht (Koschorke 2005: 108), zeigt auf eine sehr humorvolle Art und Weise der kubanisch-amerikanische Zeichner Antonio Prohías in seiner Comicreihe Spion und Spion (Spy vs. Spy). Prohías fertigte seine dialogfreien Kurzgeschichten von 1961 bis 1987 im Auftrag des amerikanischen Satiremagazins MAD an (Abb. 6). Seine satirische Dekonstruktion der dämonologischen Spionagemodelle während des Kalten Krieges ist so einfach wie treffsicher: Zwei Spione, äußerlich bis auf ihre nur farblich unterschiedliche Kleidung komplett identisch, versuchen an das jeweils geheime Wissen des anderen zu gelangen. Das Aufschnappen geheimen Wissens wird zu einer derartigen Obsession, dass der eigentliche Inhalt gänzlich irrelevant und austauschbar ist. Die beiden Spione führen, mit Simmel formuliert, einen Kampf um eine bestimmte Form und nicht um konkrete Inhalte. Ihre tiefe Verbundenheit entfesselt sich in einem mit fair verteilten unfairen Mitteln geführten Kampf um ›geheimes‹ Wissen. Spionage ist hier, in überzeichneter Form, zum reinen Selbstzweck verkommen: Die Spion und Spion Comicreihe zeigt deutlich, weshalb wir weiter oben der dämonologischen Rahmung nachrichtendienstlicher Vorgänge eine romantische Erzähllogik unterstellt haben: »Romantisch« bezieht sich hier auf die eindeutig vorhandenen Unterscheidungslinien, auf ein klar vorherrschendes Netz an Klassifikationsmustern. Jede Partei weiß, vor wem sie sich hüten muss. Die zweite Form der Codierung beziehungsweise narrativen Rahmung geheimdienstlicher Aktivitäten und öffentlicher Spionage-Affären ist die konspirologische. Hier bricht das romantische Netz an eindeutigen kulturellen Klassifikationsmustern in sich zusammen: Wer Freund und wer Feind ist, wer wen ausspioniert und auszuspionieren hat, und welche Abkommen auch tatsächlich eingehalten werden, all diese Rahmungen werden diffus und porös. Nach welchen Regeln spioniert wird, scheint aus einer Außenperspektive selbst den internen Mitspielern nicht mehr klar ersichtlich. Und wenn doch, lügen sie. »Die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin ist angekratzt«, schreibt die Süddeutsche Zeitung am 27. Mai 2015: »Angela Merkel wusste, dass es keine Chance auf ein No-Spy-Abkommen mit den Amerikanern gibt. Gesagt hat sie es nicht« (SZ vom 27. Mai 2015). Im Zuge der Spähangriffe der US-Geheimdienste auf ihr Handy agierte Angela Merkel in ihrem ersten öffentlichen Statement als tadelnde 141
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(Abb. 6) Spy vs. Spy-Comic von Antonio Prohias für das MAD-Magazin aus dem Jahr 196129
Empörte:29»Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht«.30 Diese performative Empörung legt den Verdacht der bloßen öffentlichen Inszenierung nahe. Ein Blick auf rezente Spionage-Affären offenbart, dass diese intern nicht mehr den Spielregeln einer Freund/Feind-Unterscheidung folgen. Knapp eineinhalb Jahre nach ihrer ›Entrüstung‹ musste Merkel wiederum öffentlich klären, wieso Spionage unter ›Freunden‹ scheinbar doch möglich ist. Im April 2015 wurde bekannt, dass Mitarbeiter der NSA die Abhörstation in Bad Aibling benutzten, um hochrangige Beamte des französischen Außenministeriums auszuhorchen – unter Mitwirkung deutscher Behörden.31 So helfen Freunde ihren Freunden, Freunde auszuspionieren.32 29 Quelle: http://belatednerd.com/wp-content/uploads/2011/09/spy-61.jpg (letzter Abruf: 3. Juli 2017, Copyright: Antonio Prohias/MAD-Magazin). 30 Siehe bspw. den Artikel »Merkel zur Handy-Affäre: ›Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht‹« auf spiegel.de vom 24. Oktober 2013 (letzter Abruf: 3. Juli 2017). 31 Für diese Affäre ist wohl nicht unwesentlich, dass die Amerikaner die Antennenanlage von Bad Aibling gebaut und 2004 dem BND übergeben haben. Dass drei der Todespiloten vom 11. September in Hamburg gewohnt hatten, brachte Deutschland bereits Ende 2001 in die Bredouille, den Vereinigten Staaten »uneingeschränkte Solidarität« (Gerhard Schröder) zukommen zu lassen. 32 Am 7. November 2015 wurde schließlich ein Bericht auf spiegel.de veröffentlicht, in welchem selbst die Mittlerposition des Bundesnachrichtendienstes
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Dass Regierungen ihre eigene Bevölkerung ausspionieren, ist keineswegs eine neue, moderne oder ›post 9/11-Entwicklung‹. Die Kaiser im alten Rom heuerten sogenannte Delatores an: Späher und Spitzel, die sich unter das Volk mischten und alle erhaschten Gerüchte den kaiserlichen Hofbeamten zutrugen (Meyer 2013: 73). Auch die französischen Könige – allen voran Louis XV. – griffen auf die Spitzeldienste eines 1708 ins Leben gerufenen, zwielichtigen Korps an Inspektoren zurück, dessen Tätigkeit zugleich »geheim und allen bekannt« war und von der Bevölkerung als mouches – ›lästige Fliegen‹ – verschmäht wurde (Farge/ Revel 1989: 48; Sälter 1996: 12). Die »Zentralisierung des Hörensagens« ist ein historisch oft unternommener Versuch, die staatlichen Peripherien auszuhorchen und im Zaum zu halten (Neubauer 2009: 200). Konspirologisch ist an diesem Spiel der Spionage die nicht mehr klar einzuordnende Zuschreibung von Intentionen und Solidaritätsbeziehungen, die scheinbar überpräsente Überwachungsmaschinerie und die fehlenden Klassifikationsmuster. »Spionage-Affäre: BND schnüffelte BND aus«, lautete eine Schlagzeile auf bild.de vom 14. Juni 2015. Die Auftraggeber bleiben diffus. Im 21. Jahrhundert wird Überwachen als »Fürsorge« gelabelt.33 Gestellt unter den leeren, frei flottierenden Signifikanten der »nationalen Sicherheit«, lassen sich weitere Intentionen – Industriespionage, Wirtschaftsspionage usw. – mittels einfacher Geheimhaltung leicht verbergen (zur Dekonstruktion derartiger Signifikanten siehe Giesen et al. 2014). Sicherheit, so wird konspirologisch immer wieder moniert, ist seit der Jahrtausendwende zum Synonym für Überwachung und Spionage geworden. Ein weiterer Aspekt, den Zygmunt Bauman als »flüchtige Überwachung« bezeichnet, muss in diesem konspirologischen Kontext der Spionage angesprochen werden (Bauman/Lyon 2013). Bauman geht es um den räumlichen Aufbruch des klassischen Panoptikum-Konzeptes: Überwachen und Aushorchen bedarf keiner Mauern mehr. Selbst der menschliche Spion ist im »post-panoptischen« Spiel nicht mehr von Nöten. Drohnen und Kameras, Computerprogramme und auswertende Datenalgorithmen, digitales Monitoring und Tracking sind technische Aktanten, deren Stellung in der Welt der Spionage – sowohl im Feld selbst als auch in den Erzählungen darüber – immer bedeutungsvoller wird. Wo keine Menschen aushorchen, wird die Zuschreibung von Intention und Verantwortung problematisch (Rauer 2014). Illustrieren wir dies anhand einiger Filmbeispiele. Auch wenn es sich hierbei um fiktive Darstellungen und Durchleuchtungen handelt, so haben sie doch relativiert wird: Auch auf eigene Faust sollen »Ministerien befreundeter Staaten« ausspioniert worden sein (Artikel »BND spionierte Ministerien befreundeter Staaten aus«, letzter Abruf: 3. Juli 2017). 33 So bspw. im USA PATRIOT Act vom Oktober 2001.
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– betrachtet als kollektive Erzählungen – Rückkopplungseffekte auf die lebensweltliche Wahrnehmung von Spionage (Giesen/Gerster/Meyer 2014; zu unserer Konzeption von Fiktion siehe Kap. 4.3). Aus einer romantisch-dämonologischen Perspektive dient Technik lediglich der Verfeinerung der menschlichen Sinne. Mit technischen Hilfsmitteln lässt sich besser hören und sehen, lauschen und beobachten. Das heißt: Wenn Technik hier Erwähnung findet, dann richtet sich der Fokus trotzdem auf den Menschen, der sie bedient. Eine derartige Thematisierung lässt sich in filmischen Darstellungen wie Fritz Langs Spione (1928), Francis Ford Coppolas Der Dialog (orig. The Conversation, 1974) oder Florian Henckel von Donnersmarcks Das Leben der Anderen (2006) ausmachen. Konspirologisch ist der bedienende Mensch in den Hintergrund geraten, im Mittelpunkt steht eine sich verselbstständigende Technik. Sie ist nicht mehr bloß ein passives Hilfsmittel, sondern wird zum eigenmächtigen Aktanten. Programmierte Drohnen fliegen Routen selbständig ab, zeichnen auf, senden die Daten weiter an algorithmisch auswertende Computer. Letztere geben Befehle und leisten Widerstand. Das Spiel der Zuschreibung von Intentionen und Solidaritätsbeziehungen wird hier nochmals diffuser und undurchsichtiger. Narratologisch handelt es sich hierbei um den mythischen Plot der aus den Händen des Schöpfers geratenen Schöpfung (Giesen et al. 2014: 185 f.).34 Filmische Beispiele einer derartigen konspirologischen Thematisierung wären etwa Kubricks Klassiker 2001: Odyssee im Weltraum (1968), Matrix (1999) von den Wachowski Geschwistern oder in etwas abgeschwächter Form mit leichten dämonologischen Restzügen Tony Scotts Der Staatsfeind Nr. 1 (1998). Seit ›Snowden‹ nimmt die konspirologische Thematisierung innerhalb fiktiver Darstellungen zu. Ein letzter Punkt muss noch angesprochen werden. Wie jede Art von Denken muss auch das konspirologische, von außen betrachtet, mit kognitiver Dissonanz umzugehen wissen (Festinger 1978; siehe auch Kap. 9). Auch diesen Aspekt hat Zygmunt Bauman mit seinem Konzept des »Post-Panoptismus« zu fassen gesucht (Bauman/Lyon 2013). Vielleicht können wir an dieser Stelle tatsächlich, in Anlehnung an Dieter Groh (1992), von einem konspirologischen Paradox reden. Im konspirologischen Denken wird die Angst einer Medienverschwörung und Technikmanipulation expliziter formuliert als jemals zuvor. Gleichzei34 Zygmunt Bauman: »Das ist also diejenige Perspektive der neuen Spionageund Überwachungsgeräte, die – aufgrund deren Fähigkeit, in großer Entfernung autonom zu agieren – ihren Konstrukteuren die meisten Sorgen bereitet, und folgerichtig auch den Journalisten, die über sie berichten: die Aussicht auf einen ›Daten-Tsunami‹, dessen Vorboten die Mitarbeiter in den Kommandozentralen der Air Force bereits jetzt überfordern und der ihre Aufnahmefähigkeit bald vollends zu übersteigen und ihnen (wie auch allen anderen Akteuren) gänzlich zu entgleiten droht« (Bauman/Lyon 2013: 34).
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(Abb. 7) Screenshot einer Warnung an die Facebook-Kontakte vor den verborgenen Facebook-Machenschaften
tig nehmen die freiwilligen Selbstentblößungen in sozialen Netzwerken im Internet zu. Man hat Angst, dass die digitalen Kanäle angezapft und ausspioniert werden, und gleichzeitig ›füttert‹ man sie mit ›privaten‹ Daten. »Soziale Netzwerke«, schreibt David Lyon, »können nur existieren, indem sie ihre Nutzer pausenlos beobachten und die so erhobenen Daten an Dritte verkaufen« (Bauman/Lyon 2013: 18). Handlungstechnisch äußert sich diese kognitive Dissonanz beispielsweise in den vielen Warnungen über illegitime, verschleierte Eingriffe in die Privatsphäre von Facebook-Accounts, die über Facebook verteilt werden (Abb. 7). Als Grund hierfür werden zumeist neue allgemeine Geschäftsbedingungen genannt. Die Ratschläge derartiger Posts sind fast immer falsch, sie erfüllen nicht den proklamierten Zweck.35 Bei ei35 Zu derartigen Falschmeldungen (Hoax) siehe auch den Exkurs: Über das Gerücht.
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nem Vergleich der betreffenden Accounts zeigt sich zudem: Je mehr eine Person postet und veröffentlicht, desto eher verbreitet sie auch derartige Botschaften. Je mehr eine Person Privates öffentlich zugänglich macht, desto eher befürchtet sie einen Geheimnisverrat. Dass diese Warnungen gerade über Facebook verbreitet werden – also den vom potentiellen Spion zur Verfügung gestellten Kommunikationsmedien –, führt zu dissonantem Verhalten: Hier kollidieren Einstellung und Handlung (Koschorke 2012: 189). Die konspirologische Angst vor einer beobachtenden Zentralinstanz steht im direkten Widerspruch zur postmodernen Angst, gänzlich übersehen zu werden. Die Angst, nicht beachtet und die Angst, beobachtet zu werden, treffen sich so in einem digitalen Widerspruch (Kap. 9).
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6. Was ist der Fall und wer steckt dahinter? Über Dämonen, Verschwörer und Bürokraten In diesem Kapitel soll der Versuch unternommen werden, die historischen Entwicklungen des verschwörungstheoretischen Denkens offenzulegen. Dabei rücken vor allem die Dispositive in den Vordergrund, die, so unsere These, im 18. Jahrhundert zu einer Verschiebung vom dämonologischen hin zum konspirologischen Denken führten. Mit dem Beginn der »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck) erfolgte innerhalb des verschwörungstheoretischen Denkens eine Zäsur. Mit der idealtypischen Unterteilung in ein vormodernes dämonologisches Denken und ein modernes konspirologisches Denken versuchen wir diese Änderungen und Verschiebungen zu fassen. Das konspirologische Denken ist Ausdruck einer den liberalen Demokratien inhärenten Paradoxie. Diese unterschiedliche Logik von vormodernen und modernen Konspirationstheorien wird von nahezu allen Studien übergangen und übersehen, wie die folgende Bemerkung von Rex Rexheuser aus der Einführung in die Schlussdiskussion der vom Deutschen Historischen Institut Warschau organisierten Tagung »Verschwörungstheorien – Typen, Variationen, Testfälle« von 1999 belegt: »Ich hatte während unserer Konferenz zunehmend den Eindruck, dass Verschwörungstheorien zu jener beunruhigenden Gruppe von Phänomenen gehören, die gut beschreibbar und doch kaum zu fassen sind, weil sie in den unterschiedlichsten Kontexten auftreten können und jeder Versuch, sie historisch dingfest zu machen, zu scheitern droht« (Rexheuser 2001: 183).1 Mit der Differenzierung in ein dämonologisches und ein konspirologisches Denken wird an dieser Stelle der Versuch unternommen, zu zeigen, dass das verschwörungstheoretische Denken wie jedes kulturelle Narrativ und Klassifikationsmuster seine Geschichte hat.2
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Eine von wenigen Ausnahmen ist der Essay From Evil Others to Evil Elites von Véronique Campion-Vincent (2005). Wir verneinen somit die von Rexheuser am Ende seines Vortrages gestellte Frage: »Sollte die Geschichte der Verschwörungstheorien also gar keine Geschichte haben und uns nur ein Panoptikum der immer gleichen, immer möglichen Verirrung des Gattungswesen Mensch darbieten?« (Rexheuser 2001: 186). Eine Bejahung wäre in dreifacher Hinsicht falsch: Sie wäre normativ, pathologisierend und unhistorisch zugleich.
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WAS IST DER FALL UND WER STECKT DAHINTER?
6.1 Das dämonologische Denken »Es bleibt für unser Teil das Beste nun / Verschlagen durch Betrug und Hinterlist / Was durch Gewalt nicht glückte, zu bewirken / Daß nämlich er zuletzt an uns erkenne: / Wer durch Gewalt besiegt, besiegt nur halb«
(Milton 2008: 35) Verschwörungstheorien gehen davon aus – und das ist zugleich ihre Minimaldefinition –, dass hinter der harmlosen Oberfläche der Erscheinungen verborgene, mächtige und subversive Wesen am Wirken sind. Der Glaube an menschliche Verschwörer folgt somit auf dieser ersten Ebene einer ähnlichen Logik wie der Glaube an unheimliche Dämonen. Sowohl für das dämonologische als auch für das konspirologische Denken gilt: Die soziale Um- und Mitwelt steht unter Verdacht. Sie ist nicht immer das, als was sie uns erscheint. Der Schein kann trügen. Die Welt ist beseelt von einer geheimen, unsichtbaren und mysteriösen Macht. Hinter der sichtbaren Realität verbirgt sich eine verborgene, stärkere und somit wirkmächtigere Realität. Sie wird als besonders gefährlich und schädlich eingestuft. Mit dem Dämonischen hat zugleich die Möglichkeit der Täuschung Einlass in die Welt gefunden. Der Historiker Jean Delumeau weist in seiner Studie über die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts darauf hin, dass fast alle dämonologischen Traktate der damaligen Zeit einem ähnlichen Argumentationsmuster folgen: So haben Dämonen zwar ein Gesicht und eine Gestalt, sie können diese jedoch geschickt hinter einer Fassade verbergen. Ihre eigentlichen Intentionen teilen sie nicht mit. Sie verbergen auch diese hinter scheinbar harmlosen Handlungen. Dämonen sind im Stande die Sinneswahrnehmungen des Menschen zu täuschen: Sie spielen dem Auge etwas vor und flüstern dem Ohr Lügen und Gerüchte zu. Sie verführen den allzu Leichtgläubigen zu Taten, die in seinem eigenen Verderben enden können. Dieses Wissen über das dämonische Wirken verbreitete sich über das Hörensagen: Es waren vor allem Hausierer, wandernde Magier und Teufelsaustreiber, die diese Geschichten von den Fallstricken der Dämonen bis ins 17. Jahrhundert kolportierten (Delumeau 1985: 111 ff.). Es ist das unsichtbare Wirken, das Verstecken hinter einer scheinbar harmlosen Fassade, welches das Grauen vor dem Dämonischen bewirkt. »Die Struktur des Dämonischen«, schreibt Bernhard Giesen, »trennt zwischen dem unsichtbaren Dämon und der harmlosen und vertrauten Fassade, hinter der er sich verbirgt. Diese Trennung und die Möglichkeit der Täuschung deuten sich schon an, wenn eine Doppelexistenz zeitlich differenziert wird: Der normale unscheinbare Mensch 148
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wird nachts zum Werwolf oder Vampir, zur Hexe oder zum Succubus. Die Dämonen sind Body Snatcher, Soul Stealer, Verführer und Trickster, die tagsüber die Gestalt von vertrauten und harmlosen Personen annehmen, in ihre Körper einfahren und sie in Besitz nehmen. Ihr Ziel ist der Identitätsverlust, die Täuschung, der Verlust des Weltvertrauens« (Giesen 2010: 144 f.).
Auch wenn der religionsphänomenologische Begriff ›Dämon‹ dem Griechischen (daimon) entstammt, widersetzt sich das dämonologische Denken der Einschränkung auf eine konkrete religiöse Praxis und geographische Lage. »Dämonistische Vorstellungen«, heißt es in der Theologischen Realenzyklopädie, »sind dem gesamten Orient genauso geläufig wie dem vorhellenistischen Griechentum, dem Hellenismus, dem antiken Judentum und dem Neuen Testament; sie finden sich aber auch, nahezu identisch, in vielen primitiven und halbprimitiven Religionen aller Erdteile, ferner im Volksglauben (Märchen) und Aberglauben noch der neueren und neuesten Zeit« (Böcher et al. 1981: 271). Dämonen sind archetypische Repräsentanten der unverfügbaren, der bedrohlichen und unheimlichen Seite nicht nur der natürlichen Umwelt, sondern vor allem der sozialen Mitwelt: Die Intentionen anderer kann man nicht sehen. Legen wir unser Hauptaugenmerk auf das dämonische Spiel mit der Oberfläche der Erscheinungen – der trügerischen, offensichtlichen Wirklichkeit –, dann sind Erzählungen über das Wirken unsichtbarer Dämonen nicht nur, wie in der Forschungsliteratur allgemein angenommen wird, kontingenzreduzierende Narrative in Bezug auf die Deutung von Naturkatastrophen oder Krankheiten. Zugleich steigern sie die Komplexität in der Beurteilung des sozialen Umfeldes: Jeder kann besessen sein, egal wie nahe man der Person steht und wie vertraut sie einem ist. Der dämonologische Blick sieht hinter der bekannten Oberfläche etwas Fremdes, Bösartiges, Konspiratives.3 Nicht nur die Benennung von Sündenböcken, auch die, wie Simmel es formulierte, grundsätzliche Undurchschaubarkeit des Anderen (Kap. 5.4) werden in dämonologischen Narrativen zum Ausdruck gebracht. Das dämonologische Denken ist geprägt von einem Zweifel am Offensichtlichen. Phänomenographisch ist hier die imaginative Wirkmächtigkeit des Geheimnisses offenzulegen. Im Gegensatz zum modernen konspirologischen Denken sind die Menschen, denen man eine konspirative Gesinnung unterstellt, jedoch nicht Herr über die Intentionen ihrer Handlungen. 3
Einer gegenteiligen Logik folgt der seit dem Ersten Weltkrieg sich entwickelnde viktimologische Blick: Hier wird hinter der fremdartigen, boshaften, grauenhaften, dämonischen Fassade etwas Gleiches vermutet, was zu einer empathischen Annäherung und Identifikation führt. Siehe hierzu Bernd Giesens Ausführungen zu den verschiedenen »Figuren des Unheimlichen« in: Giesen (2010: 143-162).
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Übersinnliche Wesen bestimmen über sie. Sie sind die Verführten, die nicht komplett für ihr subversives Handeln zur Rechenschaft gezogen werden können. Vor allem Anders- und Leichtgläubige werden als Handlanger dämonischer Strippenzieher imaginiert.4 Das Zentrum der Verschwörung liegt außerhalb dieser Welt, es ist metaphysisch begründet. Götter, Teufel und Dämonen schmieden die Pläne.5 So erwähnt beispielsweise Martin Luther, wenn er vor der »mohammedanischen Bedrohung« warnt, im gleichen Atemzug den Papst und den Teufel. Für Luther bilden diese drei Parteien »ein teuflisches Komplott, das die geschwächte und sündige christliche Welt angreift« (Delumeau 1985: 410). Dämonologisch geprägte Verschwörungstheorien richten sich selten direkt gegen die religiösen und politischen Machtinhaber. Die Feindeszuschreibungen tendieren sozialstrukturell zum unteren Ende: Sie richten sich an die Ausgestoßenen und Verachteten, an die religiös Andersdenkenden und äußerlich Stigmatisierten. Die Gefahr für die hegemoniale Macht liegt vor allem in der Möglichkeit ausufernder Volksunruhen – aus diesem Grund wurden dämonologische Verdächtigungen von offizieller Seite schnell dementiert (Kap. 6.2). In dämonologischen Erzählungen werden Ängste zum Ausdruck gebracht, die Victor Turner in seiner Ritualtheorie als »mystische Gefahr und Macht der Schwachen« bezeichnet hat (Turner 2005: 107 ff.). In Anlehnung an Mary Douglas’ Theorie der klassifikatorischen Leistung der Kultur geht auch Turner davon aus, dass, von der Innenperspektive einer Gemeinschaft aus betrachtet, alles, was nicht eindeutig klassifiziert werden kann, als gefährlich und anarchisch, als subversiv und verunreinigend, als – im Sinne Batailles – souverän behandelt wird.6 Dies trifft nicht nur auf Gegenstände, Tiere und Handlungen, sondern auch auf Menschen zu. 4
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Auf den Zusammenhang von dämonischen Strippenziehern und der Permissio Dei können wir im Folgenden nicht weiter eingehen. Sie war im Volksglauben auch weitaus weniger von Bedeutung als in den gelehrten Traktaten. Die in der jüdischen, muslimischen und christlichen Kultur weit verbreitete Geschichte vom Leben und Leiden des Hiobs ist vielleicht, so vermutet zumindest Rexheuser (2001: 184), die älteste uns überlieferte Verschwörungstheorie. Ob dies stimmt, sei dahingestellt – jedenfalls erfüllt sie alle narrativen Merkmale einer dämonologischen Verschwörungstheorie. Vielleicht verfluchen wir noch heute die Schicksalsgötter, die sich gegen uns verschworen haben, wenn wir von einer ›Hiobsbotschaft‹ sprechen. Souveränität ist bei Bataille eng mit dem verbunden, was er als »niedere Heterogenität« bezeichnet. Hierunter versteht er eine Wirklichkeit, die den Alltag überschreitet und der Logik homogener Nutzenkalküle eine Ekstase der Verausgabung und Verschwendung entgegensetzt: Die Gewalt der Schwachen, die Trunkenheit der Alkoholiker, das Lachen der Ausgestoßenen und die Sexualität der Perversen sind Beispiele solcher Überschreitungen. Sofern sie nicht rituell gebändigt werden, gelten sie als Bedrohung der Kultur (Bataille 1978).
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In den dämonologischen Verschwörungsszenarien finden wir ein nahezu archetypisches kollektives Angstphantasma zum Ausdruck gebracht: die Angst vor der unsichtbaren Vergiftung, der schleichenden Verunreinigung des sozialen Körpers. Das Andere, das beschmutzende Fremde, hat die Grenzen zum Inneren der kulturellen Gemeinschaft mittels Tarnung überschritten. Um die kulturelle Ordnung zu schützen, muss das Dämonische und Konspirative, das Abgründige und Ungeheure hinter der harmlosen Fassade sichtbar gemacht werden. Es muss einem eindeutigen Gesicht zugeordnet werden können. Der enthüllte, benennbare Dämon hat seine unheimliche Macht genauso eingebüßt wie die entlarvten Verschwörer.7 Da dämonologische Erzählungen Ängste ausdrücken und Schuldige benennen, lassen sie sich sehr leicht politisieren. Populistische Reden erzielen ihre Wirkung aus dieser magischen Argumentationslogik (Giesen 1983; siehe zudem Kap. 7.4).8 Vor allem am rechten Rand werden die Verunreinigungsängste dämonologisch thematisiert. Die Gefahr kommt von außen: schleichend und verdeckt, unauffällig, aber gewaltsam. Aus dem Grundsatzprogramm der AfD: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland. In seiner Ausbreitung und in der Präsenz einer ständig wachsenden Zahl von Muslimen sieht die AfD eine große Gefahr für unseren Staat, unsere Gesellschaft und unsere Werteordnung. Ein Islam, der unsere Rechtsordnung nicht respektiert oder sogar bekämpft und einen Herrschaftsanspruch als alleingültige Religion erhebt, ist mit unserer Rechtsordnung und Kultur unvereinbar. [...] Die AfD verlangt jedoch zu verhindern, dass sich islamische Parallelgesellschaften mit Scharia-Richtern bilden und zunehmend abschotten«.9 7
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Genau hierin liegt auch die rituelle Funktion dämonischer Masken begründet: »Masken des Dämonischen«, schreibt Bernd Giesen in seinen Zwischenlagen, »sind nicht einfach beliebige Abbildungen, sondern sie sind Verkörperungen des Grotesken und Unheimlichen, die es erlauben, den dämonischen Prozess des Verbergens der wahren Absichten umzukehren: Der ehemals verborgene Dämon ist jetzt offen sichtbar und verdeckt den Träger der Maske, der sonst den Dämon hinter einem harmlosen Gesicht verbirgt. Einmal sichtbar, hat das Dämonische seinen eigentlichen Vorteil verloren. Es wird von der Uneindeutigkeit in die Eindeutigkeit überführt, die Ambivalenz des dunklen Verdachts wird durch die Sicherheit des Beobachtbaren ersetzt: Es kann ausgetrieben werden« (Giesen 2010: 145). Sind sie oppositionell, dann mischen sich hierunter konspirologische Schuldzuweisungen. Online aufrufbar unter: https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/ sites/7/2016/05/2016-06-27_afd-grundsatzprogramm_web-version.pdf (letzter Abruf: 14. Juni 2016).
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Eine derartige dämonologische Argumentation ist in zweifacher Hinsicht magisch. Einerseits in der Logik ihres Plots: Das Böse und Verführerische wird außerhalb der eigenen primordialen Grenzen angesiedelt, es hat einen ›quasi-transzendentalen‹ Status (Giesen 1983). Andererseits folgt der dämonologische Sprechakt selbst einer »magischen Wirksamkeit« (Därmann 2011: 55 ff.): Die Gefahr wird performativ im Augenblick der Rede hervorgebracht und muss durch formelle Sprechakte ständig neu beschworen werden. In den mündlichen Reden zeigt sich die ganze Dynamik dämonologischer Rhetorik. Im Gegensatz zur mehr oder weniger nüchternen Formulierung der schriftlichen Verfassung müssen die Ängste, Hass- und Zugehörigkeitsgefühle der Zuhörerschaft hier aktiv und im emotional aufgeladenen Ton ›bezaubert‹ werden. So sind »Muslime«, »Islam« und »Flüchtlinge« seit dem Syrien-Krieg in den Wahlkampfreden der AfD-Politiker oder, um ein amerikanisches Beispiel zu nennen, von Donald Trump zu Schlagwörtern und trigger geworden, die keiner weiteren erzählerischen Engführung bedürfen, um diffuse Befindlichkeiten in xenophobe Bahnen zu kanalisieren (Koschorke 2016: 9 ff.). Vergleicht man Trump mit seinem ›Vorgänger‹ George W. Bush, dann fällt die dauerhafte und kompromisslose Akzentuierung des dämonologischen Denkens auf: Während Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausdrücklich davor warnte, den ganzen Islam zu dämonisieren – »das Gesicht des Terrors ist nicht das wahre Gesicht des Islam«10 –, hat Trump Amerikas Muslimen eine Mitschuld am Attentat auf die Diskothek Pulse in Orlando vom 12. Juni 2016 zugesprochen. Zugleich sieht er seine Forderung nach einem temporären Einreiseverbot für Muslime bestätigt. Die Dämonisierung wird hier nicht mehr eingegrenzt, sondern auf eine ganze Weltreligion ausgeweitet. Im folgenden Punkt werden wir die Logik derartiger Verdachtszuschreibungen anhand eines historischen Beispiels genauer betrachten. Es handelt sich um die gut dokumentierte Erzählung über die vergifteten Brunnen im Südwesten Frankreichs aus dem Jahre 1321. Geradezu idealtypisch können wir hier den ganzen Kanon erzählerischer Motive einer dämonologisch argumentierenden Verschwörungstheorie offenlegen. Die Angst vor der unsichtbaren Verunreinigung des kulturellen Körpers finden wir hier projiziert in der Vergiftung des Grundwassers wieder.
10 Zitiert nach: http://www.sueddeutsche.de/politik/us-republikaner-trump-nachorlando-spalter-statt-staatsmann-1.3033104 (letzter Abruf: 3. Juli 2017).
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6.2 Das vergiftete Wasser: Verunreinigungsängste um 1321 In seiner Studie Pest – Geissler – Judenmorde beschreibt der Historiker František Graus das 14. Jahrhundert als Krisenzeit. Die Verfolgung von Minderheiten, legitimiert über den Vorwurf, dass sie sich verschworen hätten, war zwar keineswegs neu – man denke etwa an die Verfolgung der Templer und die Unterstellungen des Hostienfrevels und Ritualmordes durch Juden –, trotzdem gehört das 14. Jahrhundert, allen voran die Jahre 1321 und 1348/49, »zu den verstörendsten Momenten mittelalterlicher Geschichte« (Heil 2006: 275). In seinem Essay über den Bioterror als Phantasma bezeichnet Philipp Sarasin die Vorkommnisse jener Jahre gar als »Mutter aller Verschwörungstheorien« (Sarasin 2004: 142). Historisch ist diese Formulierung jedoch nicht haltbar. Im Jahr 1321 keimte im Süden Frankreichs folgender Verdacht auf: Irgendeine verschworene Gruppierung hätte das Wasser vergiftet, um die gesunden Christen auszurotten. Es sei vergiftetes Pulver in Quellen, Brunnen und Flüsse geschüttet worden.11 Die ersten Schuldigen wurden schnell gefunden: Am 21. Juni 1321 erteilte der französische König Philipp V. der Lange – von dem erzählt wurde, er habe zu jener Zeit kein Brunnenwasser, sondern nur noch Wasser aus der Seine getrunken (Graus 1987: 303) – in einem Edikt die Erlaubnis, die Leprakranken durch Massenmord oder Internierung zu beseitigen (Ginzburg 2005: 48). Die Verunreinigungsängste waren damit keineswegs gebannt. In weiteren Varianten der gleichen Erzählung gerieten auch die Juden und mächtige muslimische Auftraggeber unter Verdacht. Für die anschließenden Verfolgungen gab es historische Vorläufer, die aus kulturellen und sozialstrukturellen Spannungssituationen hervorgegangen sind. Ein Jahr zuvor, 1320, ist in der Region von Aquitanien eine judenfeindliche Stimmung durch die Bewegung der Pastorellen verbreitet worden: Jugendliche Hirtenjungen und -mädchen, die sich, von Paris aus über die Normandie, auf einen Kreuzzug Richtung Süden machten, und dabei, vor allem in Aquitanien, sowohl die Aussätzigen verfolgten als auch die Juden gewaltsam vor die Wahl stellten, sich taufen zu lassen 11 Der Vorwurf, dass die Brunnen von Menschen vergiftet wurden, tauchte immer wieder während Pestwellen und anderen Epidemien auf, so auch während den Jahren 1348-50. Den ältesten Hinweis zur Übertragung der Pest durch die Vergiftung des Wassers findet sich wohl bei Thukydides: »In Athen fiel sie [die Pest, K. M.] plötzlich ein und zwar ergriff sie zunächst im Hafen die Menschen, weswegen es auch hieß, die Peloponnesier hätten Gift in die Zisternen geworfen« (Thukydides 1954: 35). Den Brunnenvergiftungsvorwürfen von 1321 ging indes keine reale Epidemie voraus.
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oder zu sterben (Delumeau 1985: 418; Ginzburg 2005: 52; Nirenberg 1996: 43 ff.). Diese Aktionen zogen zwar die Missbilligung des Königs nach sich, vom Volk wurden sie dagegen unterstützt. Der Historiker David Nirenberg hat in seiner Studie Communities of Violence darauf hingewiesen, dass man die Gewalttätigkeiten der Pastorellen gegenüber den Juden nicht nur im Rahmen ihrer religiösen Andersartigkeit interpretieren darf, sondern sie zudem als eine Art antimonarchischen Protest lesen muss. Was sich im konspirologischen Denken explizit gegen die bestehende herrschende institutionelle Ordnung formiert und formuliert, wird im dämonologischen Denken noch über Außenseiter und Minderheiten kanalisiert. Den Pastorellen – so jedenfalls Nirenberg – sei durchaus bewusst gewesen, dass sie mit den Juden die »fiscal agents of the state« verfolgten, und damit gezielt auch dem König Schaden zufügten (Nirenberg 1996: 49). Als die Gerüchte über die Verschwörung der Aussätzigen und Juden ein Jahr später wieder auftauchten, stießen sie im Volk auf eine bereits latent vorhandene judenfeindliche Stimmung, die durch die Lockerung der christlichen Zinsrestriktionen weiter angeheizt wurde. Nun traten auch aufsteigende christliche Kaufleute hinzu, die in den Juden hauptsächlich Konkurrenten im Geldgeschäft sahen und dementsprechend Interesse daran hatten, das antijüdische Stereotyp vom Wucherer zu verfestigen. Ein Beschwerdebrief der Konsuln aus Carcassonne zeigt die gängige Rhetorik dieser Beschuldigungen: Juden schändeten nicht nur die heilige Hostie, sondern sie prostituierten und vergewaltigten zudem die Frauen derjenigen Christen, die ihr Pfand nicht bezahlen könnten. Kurzum: »Gott und den Glauben verachtend, begingen sie Schandtaten jeder Art« (Ginzburg 2005: 52). Philipp der Lange versuchte anfangs die Judenverfolgungen einzudämmen, daher ›opferte‹ er in seinem Edikt lediglich die Leprakranken als stellvertretenden Sündenbock (Girard 1992). Einerseits waren ihm die steuerlichen Abgaben der Juden zu wichtig, andererseits ging es ihm auch darum, die Gefahr von ausschweifenden Volksunruhen so früh wie möglich einzuschränken (Graus 1987: 222). Zum entscheidenden Wandel kam es durch ein zusätzliches konspirationstheoretisches Konstrukt – einem »Wozuding« im Sinne Wilhelm Schapps (1985) –, welches das Wirken von Aussätzigen, Juden, muslimischen Herrschern und dem Teufel miteinander in Verbindung brachte. Die wohl detaillierteste Nacherzählung dieser Geschehnisse findet sich in den Chroniken des Guillaume de Nangis und seinen Fortsetzern (Heil 2006: 277; Ginzburg 2005: 50). Die Chronisten geben Geständnisse von Leprakranken wieder, die zugaben, das Wasser im Auftrag der Juden vergiftet zu haben. Das Gift – bestehend aus Menschenblut, Urin, drei unbekannten Kräutern und einer geweihten Hostie – sei zu Pulver verarbeitet worden und in Säckchen in die verschiedenen Was154
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serquellen geworfen worden. Das eigentliche organisatorische Zentrum wurde dabei außerhalb der territorialen Grenzen angesiedelt: Hinter all diesen subversiven Aktionen wurde das Wirken des Königs von Granada vermutet.12 Er lieferte das Gift und finanzierte die Verschwörung (Graus 1987: 303). In seinen Plan, die ganze Christenheit auszurotten, willigten die Juden zwar ein, jedoch konnten sie die Handlangerfunktion nicht selbst ausführen, da sie hierfür schon zu sehr unter Generalverdacht standen. Erst daraufhin hätten die Juden auch die Leprakranken als Teil der Verschwörung gewinnen können. Dies gelang mithilfe der verführungstechnischen Künste des Teufels. Mehrere historische Quellen erlauben die Vermutung, dass diese Version der Erzählung, welche die Aussätzigen und die Juden mit dem König von Granada in Verbindung setzt, die am weitesten verbreitete war.13 Für den König Philipp V. war sie jedenfalls von erheblicher Bedeutung. Erst jetzt konnte er dem Duck des Volkes nachgeben, ohne dabei sein Gesicht und seine Autorität zu verlieren. Am 26. Juli 1321 sprach er auch die Juden als »schuldig und verdächtig« aus, mithilfe der Leprakranken und im Auftrag des Königs von Granada gegen die Monarchie konspiriert zu haben. Vervollständigt wurde das konspirative Netzwerk durch Luzifer. Die Verfolgungen von Aussätzigen und Juden, die schon ohne königliche Erlaubnis stattfanden, konnten ›umcodiert‹ werden: Die Juden wurden angegriffen, um den König – und mit ihm die gesamte christliche Nation – zu schützen (Nirenberg 1996: 66). Die Erzählung über das vergiftete Brunnenwasser von 1321 – und das macht wohl ihren, vom Historiker Johannes Heil so titulierten, »verstörenden« Charakter aus – war nicht nur der hysterische Glaube einer fanatischen, ›halb-paranoiden‹ Minderheit oder des zornigen und 12 Figuren wie der »König von Granada« oder der »Sultan von Babylon« waren zur damaligen Zeit die sozialimaginären ›Schurken vom Dienst‹: Allmächtige Verführer und Verschwörer, die sich irgendwo zwischen einer immanenten und transzendenten Ebene bewegten und in welchen sich die Angst vor einer mohammedanischen Invasion widerspiegelte. Derartige Feindbilder folgen einer dämonologisch geprägten Angstlogik. 13 So z.B. in einem Schreiben vom Herzog von Anjou an Papst Johannes XXII., in welchem von einem geheimnisvollen Brief die Rede ist, den man – kurz nach einer Sonnenfinsternis vom 26. Juni 1321 – im Haus des Juden Bananias gefunden hat. Der Brief, gerichtet an mehrere sarazenische Herrscher, gab zwar Auskunft darüber, dass mehrere Aussätzige bei ihren Taten erwischt wurden, einer baldigen Eroberung des christlichen Abendlandes aber trotzdem nichts im Wege stünde: »Dann werdet ihr das Meer überqueren, im Hafen von Granada anlegen, eure Herrschaft auf die Länder der Christen ausdehnen und den Thron von Paris einnehmen können« (zitiert nach Ginzburg 2005: 64).
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unzufriedenen Volkes. Legt man die konkrete kulturelle Tiefenstruktur offen, sind derartige Behauptungen wissenschaftlich falsch. Sie war eine in allen sozialen Schichten kursierende – und als wahrscheinlich eingestufte – Erzählung. »Die Fama«, schreibt Heil zu diesen Ereignissen, »mag vom Bodensatz der Gesellschaft aufgestiegen sein – an ihrer Spitze löste sie nicht Kopfschütteln, sondern hektische Aktivität aus« (Heil 2006: 285, Hervorhebung K. M.). Der Monarchie lieferte sie das fehlende Bild eines äußeren Feindes, um die innerterritorialen Unruhen zu kanalisieren und den aufsteigenden Kaufleuten eine passende Gelegenheit, die jüdischen Konkurrenten zu diffamieren. Hinter dem Vorhaben des Königs von Granada, der Juden und Aussätzigen wurden der Einfluss und die Befehlsgewalt des Teufels vermutet. Dies wird vom Historiker Robert Ian Moore in seiner Studie The Formation of a Persecuting Society bestätigt: »A conspiracy between Jews and lepers was alleged to have poisoned the wells of France in 1321. […] The images and nightmares are not always consistent, but they always feed the same fear. For all imaginative purposes heretics, Jews and lepers were interchangeable. They had the same qualities, from the same source, and they presented the same threat: through them the Devil was at work to subvert the Christian order and bring the world to chaos« (Moore 2007: 60 f.).
Im Volksglauben gingen der Teufel und die Juden bereits seit der ersten »diabolischen Explosion« (Jacques Le Goff) im 11. Jahrhundert eine verheerende konspirative Liaison ein – auch im modernen Antisemitismus lassen sich noch Spuren dieser Überzeugung finden (Trachtenberg 1943). In der Erzählung über die Brunnenvergiftung von 1321 finden sich die archetypischen narrativen Schemata einer dämonologisch argumentierenden Verschwörungstheorie wieder. Es geht um geheime Abkommen und Versammlungen, in denen der konspirative Plan ausgeheckt wird (die Leprosen- und Judenversammlungen, der Briefwechsel zwischen Juden und sarazenischen Herrschern); um scheinbar harmlose Fassaden, hinter denen dieses konspirative Vorhaben verdeckt wird. Es wird ein globales, hierarchisches und subversiv agierendes Netzwerk an Verschwörern offen gelegt, das durch machtpolitische, religiöse und wirtschaftliche Interessen gelenkt wird. Handlungstechnisch wird der Plot in Szene gesetzt mithilfe einer klassischen konspirationstheoretischen Rollenstruktur: Drahtzieher (der König von Granada), Vermittler (die Juden), Helfershelfer (die Aussätzigen) und die wortführenden Aufdecker des Komplotts. Die explizite Verbindung zu einer transzendenten dämonischen Ebene findet sich dagegen in ihrer derartigen Form im modernen konspirolo156
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gischen Denken nicht mehr wieder. Hier sind das Dämonische, das Böse keine als real imaginierten übermenschlichen Wesen mehr, sondern die Charaktereigenschaften der kritisierten Persönlichkeiten oder Institutionen. Auch das Brandmarken von sozialstrukturellen und religiösen Außenseitern ist typisch für das dämonologische Denken. Für das moderne konspirologische Denken sind es zusehends die eigene Elite und Regierung, die eigenen Institutionen – also der eigene heilige politische Kern –, denen eine konspirative Gesinnung zugesprochen wird. Sozialstrukturell gesehen sind die Beteiligten an einer Verschwörung ›aufgestiegen‹. Der Plot über das vergiftete Wasser wurde in den folgenden Jahrhunderten immer wieder bei schwer erklärbaren Ereignissen aufgegriffen – so auch kurz nach den Attentaten des 11. Septembers 2001. Die Ereignisse vom 11. September zeigen sehr deutlich, wie kurz nach den Angriffen das dämonologische Denken überhandnahm. Gejagt wurde der radikale Andere, der ›unmenschliche‹ Feind. Wie Fine und Ellis in ihrer Studie aufzeigen, kursierten in dieser ersten Phase Geschichten über Juden und den Teufel, über bioterroristische Angriffe und ›feiernde Araber‹ (Fine/Ellis 2010). Kultursoziologisch sind diese konservativ geprägten, dämonologischen Ängste wenig überraschend: Zu dieser frühen Zeit wäre Kritik unpatriotisch, gar verdächtig. Erst nachdem der Schock sich gelegt hatte, das Trauma an- und ausgesprochen werden konnte, häuften sich – von Europa hinüber in die Vereinigten Staaten kommend – die konspirologischen Verdächtigungen (zum Trauma siehe Giesen 2004a).
6.3 Das konspirologische Denken Seit dem 16. Jahrhundert traten vereinzelt Erzählungen über Verschwörungen auf, in denen der Teufel seinen Platz als Strippenzieher eingebüßt hatte. Metaphysisch und theologisch begründete Verschwörungen, die aus der Angst vor den allgegenwärtigen Dämonen entsprangen, wurden in den populären Erzählungen mehr und mehr von innerweltlichen Verschwörungen abgelöst.14 Die ›Dämonisierung der Dämonen‹ wurde vom Aufstieg der protestantischen Kirche und der Infragestellung der Existenz des Fegefeuers begünstigt – auch wenn sie selbst sehr früh 14 Der französische Kunsthistoriker Daniel Arasse zeichnet diese Entwicklung zur Vermenschlichung des Dämonischen auf einer ikonographischen Ebene in seinem Essay über die Bildnisse des Teufels (2012) nach: Seit dem 16. Jahrhundert werden die traditionellen Bilder des Dämons – ein wunderlich-ungeheures Mischwesen mit Hörnern – zusehends von Teufeln mit einem rein menschlichen Antlitz verdrängt.
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zum Opfer derartiger Verdächtigungen wurde: Bereits den Massakern der Bartholomäusnacht im August 1572 ging der allgemeine Verdacht einer Verschwörung der Hugenotten voraus.15 Im 17. Jahrhundert kam es vor allem in Frankreich zu mehreren öffentlichen Aufständen, die aus der Furcht vor der sogenannten »Salzsteuerverschwörung« resultierten. Im Mai 1685 stürmte aufgrund derartiger Gerüchte eine aufgebrachte Menge das Rathaus von Bordeaux und brachte die Steuereinnehmer um (Delumeau 1985: 244). Im 18. Jahrhundert kam es dann zur endgültigen Zäsur: Vor allem für Paris belegen viele historische Quellen den Glauben an eine Verschwörung des Adels und der Kirche, der Revolutionäre und der Gefängnisinsassen, der Landstreicher, Illuminaten und Lombarden (Lefebvre 1988). Mit der Geburt des Demos verschwanden die Dämonen endgültig und es kam zur konspirologischen Wende: Das Zentrum des Konspirativen wurde innerhalb des Zentrums der Demokratie imaginiert. Der dämonologische Blick – die Angst vor außerweltlichen, unsichtbaren und die Gestalt wechselnden Trickster – ist seit dem Absolutismus und der Aufklärung einem modernen konspirologischen Blick gewichen: der Furcht vor den geheimen Machenschaften menschlicher Akteure. Diese Ansicht wird auch von Ralf Klausnitzer in seiner Studie über Poesie und Konspiration bestätigt, er situiert den Beginn des Bruchs Mitte des 17. Jahrhunderts: »Während das auf einem dämonologischen Weltbild und theologischen Argumenten basierende Hexenstereotyp seine Zentralbehauptung eines häretischen Geheimbundes mit der außerweltlichen Instanz des Teufels verband, führten Jean de Filleaus Relation juridique von 1654 und die ihr folgenden Schriften offensichtliche Differenzierungs- und Separierungsprozesse innerhalb der katholischen Kirche auf eine Verschwörung jansenistischer Geistlicher und also auf das geheime Wirken menschlicher Akteure zurück. Damit fixierten sie einen innerweltlichen Konspirationismus, der trotz rhetorischer Anleihen am Vokabular der Heiligen Schrift ohne göttliche bzw. teuflische Erklärungselemente auskam« (Klausnitzer 2007: 65).
15 Delumeau liefert hierfür ein anschauliches Beispiel: »[D]er protestantische Geistliche Loys Lavater aus Zürich hat in einem 1571 erschienenen Werk jede Art von Geistererscheinungen bestritten, so wie die protestantische Kirche die Existenz des Fegefeuers bestreitet. Letzteres führte Lavater zu dem Schluß, daß es nur zwei Orte gäbe, an die die Seelen sich nach dem Tod des Körpers zurückziehen, nämlich das Paradies und die Hölle. Jene, die ins Paradies eingegangen sind, können auf die Hilfe der Lebenden verzichten, und diejenigen, die zur Hölle gefahren sind, müssen dort auf ewig verbleiben« (Delumeau 1985: 112).
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Im Gegensatz zu dämonologisch orientierten Verschwörungstheorien geht es im konspirologischen Denken weniger um eine Bedrohung von außen. Der sozialstrukturelle Aufstieg der Strippenzieher lässt sie – wenigstens äußerlich, scheinbar – als kulturell gut integrierte Mitglieder daherkommen. Mit Mary Douglas formuliert: Die klassifikatorische Verunreinigung findet im kulturellen Zentrum ihren Ursprung (Douglas 1985). Trotzdem bedeutete diese Zäsur keineswegs die Beendigung der Verfolgung von Außenseitern: Im 19. Jahrhundert wich die religiös motivierte Abneigung gegenüber Juden einem rassistisch begründeten Judenhass und führte zu einem vermehrten Aufkommen antisemitischer Konspirationsfiktionen wie beispielsweise den Protokollen der Weisen von Zion. Genauso wie jede ›Flüchtlingswelle‹ einen dämonologisch geprägten Populismus nach sich zieht. Die Entwicklung vom dämonologischen hin zum konspirologischen Denken – in den Worten Campion-Vincents (2005): from evil others to evil elites – wurde durch mehrere Dispositive begünstigt. Der Einfachheit halber unterscheiden wir hier drei historische Umbruchsphasen. Das 1. Dispositiv ist gekennzeichnet durch das Projekt der Aufklärung, den Sturz des Königs und den Aufstieg des Demos. Wir werden hier der These nachgehen, dass das konspirologische Denken typisch für liberale Demokratien ist. Das 2. Dispositiv ist geprägt von der psychiatrischen Entdeckung der Paranoia, der sozialwissenschaftlichen Entdeckung der ›Realität‹ und der Entstehung des Detektivromans. In der 3. und letzten Phase richten wir den Fokus auf die für das konspirologische Denken relevanten massenmedialen Entwicklungen seit der Ermordung Kennedys am 22. November 1963 in Dallas. 1. Die Aufklärung hat sich in mehrerlei Hinsicht auf die narrative Struktur von Verschwörungstheorien ausgewirkt. Die sich im katholischen Frankreich ausbreitenden Theorien der philosophischen Aufklärung beschäftigten sich mit der Bekämpfung von Vorurteilen, mit der Enthüllung der Schein- und Trugbilder, der ideologischen Lehren, auf denen die absolutistische politische und religiöse Ordnung fußte – also mit jener Gruppe an »Vorurteilen des Geistes«, die Francis Bacon als idola theatri bezeichnete (Knoblauch 2010: 28 ff.). Als Kritik am Schein folgt die Aufklärung per se einer verschwörungstheoretisch angehauchten Epistemologie. Dass dabei vor allem die hegemonialen Machtstrukturen unter Beschuss gerieten, begünstigte die Wende hin zum konspirologischen Denken. Ganz im Geiste des religionskritischen Aufrufs Voltaires – »Écrasez l´infâme« – konnte sich die Lehre vom Priester- und Herrentrug im Frankreich des 18. Jahrhunderts auf ein breites bürgerliches und vor allem ideologiekritisches Publikum stützen. Wie Reinhart Koselleck dargelegt hat, war das 18. Jahrhundert geprägt vom Aufstieg neuer gesellschaftlicher Gruppierungen, die zwar über genügend kulturelles, 159
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wirtschaftliches und soziales Kapital verfügten, deren Einflussvermögen auf politische Entscheidungen jedoch missbilligt wurde (Koselleck 1973).16 Ideologiekritik stieß beim finanzkräftigen Bürgertum auf offene Ohren. Es kam, wie Koselleck es formuliert, zu einer »Institutionalisierung im Hintergrund« (Koselleck 1973: 53). In den Kaffeehäusern und Akademien, in den Clubs und Salons vermehrten sich die kritischen, klatschenden und konspirologisch argumentierenden Stimmen. Zudem erhoben sie erstmalig Anspruch auf Öffentlichkeit – auch wenn sie sich unter dem Deckmantel des Logengeheimnisses verbergen mussten. Folgt man Reinhart Koselleck, dann steht die ›Verschwörung‹ des aufsteigenden Bürgertums für die Geburt des konspirologischen Denkens. Die Frage nach dem Schicksal der Menschen wurde unter der aufklärerischen Weltanschauung von der durch Augustinus und der Scholastik geprägten christlichen Idee der Providenz befreit. Auch wenn die Vorstellung einer göttlichen Vorsehung seit dem 17. Jahrhundert – allen voran in katholischen Gebieten – zusehends an Wirkmächtigkeit verlor, so blieb die Frage und Problematik der Willkür natürlicher und sozialer Ereignisse bestehen. Die Vorstellung der Kontingenz konnte jene der Providenz zwar aus dem Geschichtsbewusstsein verdrängen, als »Ordnungssemantik«, so Klausnitzer (2007: 67), jedoch nie adäquat ersetzen. Man misstraute dem Zufall, hielt ihn für unwahrscheinlich. Das Fehlen Gottes und die Stigmatisierung des Zufalls schafften den narrativen Platz für die Figurationen heimlicher menschlicher Machenschaften in der Deutung historischer Ereignisse. Die aufklärerische Weltanschauung verbannte nicht nur Gott und den Zufall, sondern begünstigte somit die Entstehung einer spezifischen konspirologischen Semantik: des Modells des Priester- und Herrentrugs. Hinter sozialen Ereignissen war es nicht mehr die Hand Gottes, sondern die Hände und Intentionen verborgener personaler Akteure, die als Wirkursache erwähnt und imaginiert wurden. Das heißt: Auch wenn konspirologische Narrative einer säkularisierten Weltdeutung folgen, so bleiben sie doch bis zu einem gewissen Grad einer theistischen Logik treu. Geschichte wird weiterhin gelenkt. Diesen Aspekt fasste Karl Popper an mehreren Stellen seines Werkes als »Verschwörungstheorie der Gesellschaft« zusammen – auch wenn er darin ein falsches Modell zur Erklärung sozialen Wandels sah: 16 »Aus allen diesen Gruppen verschiedenster Art: sozial anerkannt, aber ohne politischen Einfluß wie der Adel, oder von wirtschaftlicher Macht, aber sozial als homines novi abgestempelt wie die Financiers, oder sozial ohne rechten Ort, aber von höchster geistiger Bedeutung wie die Philosophen, formierte sich eine neue Schicht, die verschiedenste, ja entgegengesetzte Interessen verfolgte, deren gemeinsames Schicksal es aber war, in den bestehenden Einrichtungen des absolutistischen Staates keinen zureichenden Platz zu finden« (Koselleck 1973: 52).
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»Homer sah die Macht der Götter so, daß alles, was auf dem Feld von Troja geschah, nur die verschiedenen Verschwörungen auf dem Olymp widerspiegelte. Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft ist nur eine Variante des Theismus, eines Glauben an Götter, deren Launen und Willen alles beherrscht. Sie kommt davon, daß man Gott aufgibt und dann die Frage stellt: ›Wer nimmt seinen Platz ein?‹ Sein Platz wird dann besetzt durch verschiedene mächtige Menschen und Gruppen – durch finstere Interessengruppen, denen dann unterstellt wird, daß sie die große Depression geplant haben, und alle Übel, an denen wir leiden« (Popper 1994: 179 f.).
Die offiziellen Erzählungen und, während der Anfangszeit hauptsächlich, die christlichen Ideologien wurden von den kritischen aufklärerischen Stimmen als Betrugsmittel der herrschenden Klasse dargestellt. So wurde den Priestern vorgeworfen, Wissen und Macht hintergründig dafür einzusetzen, sich selbst zu bereichern (Knoblauch 2010: 31 f.). Anders als bei den dämonologisch argumentierenden Erzählungen richtet sich der Verdacht zentripetal gegen die institutionalisierten Gruppierungen und Einrichtungen. In der Lehre vom Priester- und Herrentrug formulierte die Staatsphilosophie der Aufklärung ihre radikale, revolutionäre Kampfthese gegenüber der Arkanpolitik des Ancien Régime. Sie lieferte, in den Worten Theodor Geigers, eine »bittere Kritik des degenerierten Selbstherrschertums« und leitete die Entwicklung zum Gegenmodell der demokratischen Staatsform ein (Geiger 1953: 13). Wir haben es bereits betont (Kap. 1): Das konspirologische Denken ist die erste Form einer reinen Sozialkritik, einer Dekonstruktion an den vorherrschenden kollektiven Identitätsangeboten, einer Kritik an den Institutionen – ohne Götter. »Die Illusion der Gemeinschaftlichkeit«, schreibt Bernhard Giesen in Bezug auf die ideologiekritische Tradition des achtzehnten Jahrhunderts, »wird hier als vermeidbares falsches Bewußtsein verstanden und auf die Ranküne der Ideologen, der Priester, der Politiker, der Intellektuellen zurückgeführt. Vom Interesse an Herrschaftserhalt und Karriere bewegt, versuchen danach Ideologen Gemeinschaftsideen, an die sie selbst nicht glauben oder nicht glauben müssen, für ein glaubensbereites Publikum zu inszenieren und zu imaginieren« (Giesen 1999: 12). Das Projekt der Aufklärung führte zu einer zentripetal ausgerichteten Kultur des Verdachts. Nicht nur das Fehlen Gottes und der für unwahrscheinlich gehaltene Zufall, auch der geköpfte König hat eine narrative Lücke hinterlassen, die konspirologische Mutmaßungen nach sich zog. Liberale Demokratien, so unsere These, sind offen für konspirologisches Denken. Dies liegt schon innerhalb der institutionellen Logik des hermeneutischen Widerspruchs begründet (Kap. 1.2). Wie Giesen und Seyfert gezeigt haben, ist der Ort der Macht mit der Konstitution liberaler Demokratien prinzipiell leer geworden: 161
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»Wenn in monarchischen Gesellschaften der König eine jenseitige Figur ist, die beispielsweise durch Abstammungslinien und Gottesgnadentum vom Volk getrennt werden muss, dann ist der Ort der Macht dort zwar auch geheimnisvoll, aber eben körperlich außer Reichweite. Die demokratische Entleerung dieses Ortes [...] gibt dem leeren Signifikanten [»das Volk«, K. M.] eine viel dramatischere Wendung, weil nun zwar alle prinzipiell Zugang haben, aber niemand genau weiß, wo die Macht ist, wer sie gerade hat und wie sie zu erlangen ist« (Giesen/Seyfert 2013: 42).
Folgen wir dieser These von Giesen und Seyfert, dann ist das konspirologische Denken eine spezifische Art und Weise der Thematisierung dieser demokratischen »Entleerung«. Wenn mit der Ersetzung des Monarchen prinzipiell Jedermann im Namen des Volkes Macht erlangen kann, dann sind sowohl Zweifel am Repräsentanten selbst als auch an der Wahrhaftigkeit seiner offenkundigen Intentionen die Folge dieser politischen Wendung. So treffen sich das liberale Bestreben »Ich will an die Macht!« und das demokratische Ideal »Ich handle im Auftrag und zum Wohle aller!« mit der konspirologischen Frage »Wo befindet sich der eigentliche Sitz der Macht?« in einem nicht aufzuhebenden – und von Boltanski so titulierten –»hermeneutischen Widerspruch« (Boltanski 2010: 131 ff.). Ein letzter, wichtiger Punkt muss an dieser Stelle in Betracht gezogen werden: das Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichem und Privatem seit dem Projekt der Aufklärung. Für Markovits und Silverstein (1989) prägt dieses Spannungsverhältnis das Wesen liberaler Demokratien und sorgt für ein beständiges konspirologisches Hintergrundrauschen. Der demokratische Leitgedanke, Macht zum Wohle aller schnellstmöglich einzusetzen, steht im Widerspruch zum Liberalismus, dessen grundsätzliches Misstrauen gegenüber politischer Macht – bedingt durch einen kompromisslosen Individualismus –, nur mittels klar geregelter Verfahren gemildert werden kann (Markovits/Silverstein 1989: 160). Egal welche Seite betont wird, der Verdacht bleibt: Pointiert man das Demokratische, dann fokussiert sich das konspirologische Hintergrundrauschen auf die Freiheitsverletzungen des Individuums und institutionellen Machtmissbräuche (Beispiel: die Überwachung öffentlicher Räume); hebt man dagegen das Liberale hervor, dann steht man unweigerlich vor der konspirologischen Möglichkeit der individuellen Bereicherung und institutionellen – und damit demokratischen –Machtvernachlässigung (Beispiel: TTIP). 2. Über das zweite Dispositiv hat Luc Boltanski 2012 das Standartwerk Énigmes et complots verfasst.17 Im Zentrum seiner Studie steht eine kulturtheoretische Auseinandersetzung mit dem Kriminal- und Spi17 Die deutsche Übersetzung ist 2013 unter dem Titel Rätsel und Komplotte erschienen.
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onageroman.18 In Abgrenzung zur phantastischen Erzählung und zum Schelmenroman steht in den Detektiv- und Spionageromanen erstmals das Dispositiv einer objektiv beschreibbaren sozialen Realität im Vordergrund. Diese populärkulturelle Entwicklung geht auf die sozialwissenschaftlichen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts zurück: Statistik, politische Ökonomie und Soziologie (Boltanski 2013: 39). Bestärkt durch die Fortschritte auf dem Gebiet der klinischen Psychiatrie – allen voran die Entdeckung der »Paranoia« – entstand so ein erheblicher epistemologischer Einschnitt: Realität konnte erhoben und beschrieben werden – aber nur dem aufmerksamen Beobachter. Die wahre Realität konnte sich hinter der oberflächlichen Realität verbergen.19 Zeitgleich treten in populären Erzählungen dieser epistemologischen Wende die Figuren des Forschers, Detektivs und Spions beziehungsweise Geheimagenten als Aktanten auf den Plan. Vor allem der Spionageroman ist von Bedeutung in Bezug auf das konspirologische Denken, da sich hier der Verdacht auf die institutionalisierten Führungsebenen ausweitet (Boltanski 2013: 44).20 Die Frage, ob die oberflächlich wahrnehmbare und von jedermann beschreibbare Realität auch die wirkliche ist, wird mit machttheoretischen Enthüllungsversuchen unterlegt. Es geht im Spionage- und Geheimagentenroman um die Figur des 18 Siehe hierzu auch den Exkurs: Über die Spionage. 19 Mitunter führte diese epistemologische Wende zu kuriosen wissenschaftlichen Grabenkämpfen: So taten sich die beiden renommierten französischen Psychiater Paul Sérieux und Joseph Capgras schwer damit, ihr bei Psychosen angewandtes theoretische Konzept der »Realität hinter der Realität« für sozialwissenschaftliche – allen voran sozialkritische – Studien freizugeben. Die ›Konzeptbesetzung‹ führte in diesem Fall soweit, dass sie in ihrem 1909 erschienen Standartwerk zu paranoiden Psychosen behaupten, es gäbe »keinen grundlegenden Unterschied zwischen einem verbissenen Prozesssüchtigen, Wiedergutmachung für eine angebliche oder reale Rechtsverletzung zu erhalten, oder diesem oder jenem Sucher nach dem Stein der Weisen, der seine Energie und sein Vermögen in aussichtslosen Laborexperimenten verschwendet, oder diesem oder jenem träumenden Soziologen, der voller Kampfgeist seine Ideen propagiert und sie in der Realität durchzusetzen versucht« (Sérieux/Capgras 1909: 251 f., Übersetzung K. M.). Die soziologische Rede von latentem Sinn, verschleierten Herrschaftsstrukturen und eigentlichen Intentionen zu pathologisieren, muss hier als Versuch gedeutet werden, den Stellenwert der Psychiatrie im Feld der Wissenschaft zu schützen. 20 »Die gesamte Gesellschaft wird durch die Machenschaften – die die Form von Komplotten annehmen – von subversiven und geheimen Großorganisationen gefährdet, deren Umfang den territorialen Rahmen einer Nation weit übersteigt und deren Verzweigungen bis in den Kern des Staates selbst reichen, der dadurch teilweise oder vollständig korrumpiert oder zumindest handlungsunfähig gemacht wird« (Boltanski 2013: 235).
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realen Machtinhabers. Dabei entsteht ein epistemologisch interessanter Turn: Boltanski zufolge wird das von der Psychiatrie als paranoisch gelabelte Verhalten zum normalen und rationalen Verhalten desjenigen, »der in den Kriminal-/Spionage-Kosmos eingebunden ist – ob als Autor, Figur oder Leser« (Boltanski 2013: 60). Die Grenze zwischen Paranoiker und genialem Enthüller ist demnach eine labile; populärkulturell wird sie wiederum zwischen Genie und Wahnsinn thematisiert. In seiner in Frankreich preisgekrönten Studie stellt Boltanski die konspirologische Dekonstruktion der vordergründig sichtbaren Realität, diesen – für ihn – typisch modernen Zweifel an der Realität der Realität, in einen noch detaillierteren kulturhistorischen Zusammenhang. Neben den wissenschaftlichen Entwicklungen sind dies auch wirtschaftliche und kulturelle: allen voran der Kapitalismus und das professionelle Pressewesen. So muss man den aufsteigenden journalistischen Diskurs Ende des 19. Jahrhunderts als Agentur begreifen, die gewisse Dinge, Gegebenheiten und Geschehnisse performativ als ›wahr‹ oder ›falsch‹ hervorbringt und somit den Zweifel an der Realität der Realität fördert. Auch die ›zugleich abstrakte und konkrete Entität des Kapitalismus‹ (Boltanski 2013: 255) hat zur gleichen Zeit erheblichen Einfluss auf die Strukturierung von Zweifel und Unklarheit, Neid und Misstrauen. Denn die »Ungewissheit in Bezug auf den Ort der Macht«, schreibt Boltanski, »setzt an dem Punkt ein, an dem sich die staatlichen Ambitionen, die Realität zu organisieren, und der mit der Entwicklung des Kapitalismus einhergehende Zerfall der traditionellen Gemeinschaften und etablierten sozialen Bindungen überschneiden« (ebd.: 257). So steht im Zentrum dieses Spannungsverhältnisses die Frage nach dem legitimen Zusammenhang von herrschenden Eliten und Volk. Diese Ungewissheit und die damit einhergehenden Ängste haben laut Boltanski zwei Formen angenommen: eine revolutionäre und internationalistische Linke – und eine revolutionäre und nationalistische Rechte (ebd.). Während die Linke das »Volk« als bedroht ansieht und die herrschende Klasse der »Kapitalisten« anprangert, sieht die Rechte das Wohl der »Nation« in Gefahr und thematisiert als deren Widersacher »Kapitalisten«, »Sozialisten«, »Anarchisten« und »Juden«. Beide Strömungen haben das von uns so bezeichnete konspirologische Denken geprägt. Ob »Volk« oder »Nation«, die Angst vor einer »Entleerung« der demokratischen Signifikanten hat eine intensive Verdachtskultur an den herrschenden Institutionen gefördert. 3. Neben einem politischen und einem wissenschaftlichen/populärkulturellen Dispositiv bleibt als drittes ein mediales Dispositiv zu erwähnen (Kap. 8). Vier verschiedene historische Entwicklungsstufen und technische Errungenschaften gilt es hier zu differenzieren: den Druck, die Fotografie, den Film und das Internet (insbesondere das So164
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cial Media). Während es im vor- und nachrevolutionären Paris erstmals möglich war, Flugblätter und Pamphlete in einer großen Stückzahl in privaten Kammern herzustellen und sowohl an der Zensur als auch der monopolistischen Buchhändlerzunft vorbeizuschleusen (Kap. 7.3; Darnton 1985),21 war es im ausgehenden 20. Jahrhundert die Erfindung der Fotografie,22 die für eine aufklärerische, dokumentarische Bewegung sorgte. Zwar wurde bereits mit dem Durchbruch zur illusionären Kunst in der Antike und auch später in der Renaissance versucht, die Unterscheidung zwischen Bild und Referenz zu überwinden (Giesen et al. 2014: 170 f.), doch erst die Technik des Fotografierens hat für den euphorischen und zugleich beklemmenden Glauben gesorgt, dass es möglich sei, Realität detailgetreu und uneingeschränkt abzubilden. Genau dies führte zu Ängsten, wie der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in seiner Geschichte der Unschärfe anführt, »die Präzision, die bis ins Kleinste reicht, könnte ›erschreckend‹ etwas sichtbar machen, was besser nicht sichtbar würde« (Ullrich 2009: 24). Die Ängste wurden von der Peripherie herangetragen, sie entsprachen der Laienperspektive auf die Technik der Fotografie.23 Die Entdeckung der Röntgen-Strahlen Ende des 19. Jahrhunderts beflügelte zudem Spekulationen und Imaginationen über weitere Strahlen, unsichtbare Energien und immaterielle Körper. X-Strahlen regten populärkulturelle Bilder und Erzählungen über unbegrenzte Beobachtungskulturen an (Abb. 8). Okkultistische Weltbilder und insbesondere Geisterfotografien waren zu dieser Zeit sehr verbreitet. Die Entstehung des fotografischen Bildes wurde vielerorts als ›Magie‹ empfunden. Der fotochemische Prozess der Abbildung des Sichtbaren wurde kausal in den Zusammenhang der Erkenntnis des Verborgenen gesetzt. Avantgardistisch wurde die Fotoentwicklung – im Gegensatz zu den peripheren Ängsten – als künstlerische und wissenschaftliche Chance interpretiert. »Wir wollen das wiedergeben, was an der Oberfläche nicht sichtbar ist«, proklamierte der italienische Fotograf und Futurist Anton Bragaglia im Jahr 1913 (zitiert nach Ullrich 2009: 108). Diese Wiedergabe des Verhüllten stand anfangs mit einer noch ungewollten Unschärfe der Abbildungen in Verbindung (Geimer 2010). Später, in 21 Darnton stellt diese publizistischen Tätigkeiten im vorrevolutionären Frankreich innerhalb des Kontextes eines intellektuellen Prekariats – wie bei Koselleck geht es hier um eine Art von »Institutionalisierung im Hintergrund« der Unzufriedenen und vom Arkansystem Missachteten. 22 Ob man von »Erfindung« oder »Entdeckung« der Fotografie sprechen muss, soll an dieser Stelle nicht von Belang sein. Zur Geschichte und Vorgeschichte der Fotografie siehe Geimer (2010: 21 ff.). 23 Aus der Perspektive der Pioniere im Feld war die Vorgeschichte der Fotografie ein Spiel mit Chemikalien, verschiedenen Oberflächenmaterialien und der Einwirkung von Sonnenlicht.
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(Abb. 8) Populärkulturelle Imagination um 1900 über den Staat als Beobachter im Jahr 2000: hier noch mit dämonologisch eingestelltem Fokus ausgerichtet24
der Übergangszeit zum 20. Jahrhundert, nutzten viele Fotografen Sfumato-Effekte auch intentional, um fallende, durchlässige Schleier zu suggerieren (Ullrich 2009: 24 ff.). Sowohl für den peripheren als auch für den avantgardistischen und technikaffinen Blick auf das fotografische Medium gilt während dessen Geburtsphase, dass sie das Tor zu einem neuen visuellen Paradigma geöffnet haben: der Erkenntnis wahrer, unkorrumpierbarer Realität in ihrer fotochemischen Abbildung. Konspirologische Bildinterpretationen haften dieser Epistemologie weiterhin an. Sie folgen einem indexikalischen und damit dokumentarisch-dekonstruierenden Muster – gerade weil die nackte Wahrheit vorwiegend mittels Sfumato-Effekten repräsentiert wird (Kap. 8). 24 Die bewegten Bilder des Films gehorchen einer gleichen Logik – wir kommen im Kapitel über das konspirologische Bild darauf zurück. An dieser Stelle sei lediglich auf das erste politische Ereignis hingewiesen, das eine langwierige konspirologische Auslegung technisch aufgezeichneter Bilder nach sich gezogen hat: die Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963 in Dallas. »Alle Diskussion über den Mord an Präsident Kennedy«, schreibt Manfred Schneider, »stützt sich auf diese Bilder« (Schneider 2010: 476). Das Bild macht die Ansage. Es steht im Zentrum der konspirologischen Exegese. Tatsächlich fand das Attentat zu einer Zeit statt, in der sich nicht nur Fotoapparate, sondern auch 24 Lebensmittel-Sammelkarte eines Kakao-Herstellers. Quelle: http://www. spiegel.de/fotostrecke/roentgenstrahlung-in-der-kultur-der-jahrhundertwende-fotostrecke-131747-4.html (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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DAS KONSPIROLOGISCHE DENKEN
Amateurfilmkameras in ihrer Blütezeit befanden. So sind die beiden unscharfen und verwackelten 8-mm Aufnahmen von Abraham Zapruder und Orville Nix tief verankert im visuellen – und heute: digitalen – Kollektivgedächtnis: »Die eigenartige Macht dieser Kennedy-Bilder kommt auch von ihrer globalen Bekanntheit« (ebd.). Zu dieser Publicity hat auch Oliver Stone mit seiner Kinoverfilmung JFK – Tatort Dallas von 1991 beigetragen. Eine weitere Quelle der Macht, die solchen Amateuraufnahmen innewohnt, ist die Aura des Authentischen und Zufälligen, die sie um- und verhüllt. Verwackelte und unscharfe Aufnahmen repräsentieren den naiven, noch nicht korrumpierten Blick der Peripherie auf das Geschehen und wahren – durch die schlechte Qualität der Aufnahmen – den ›Schein der Nicht-Inszenierung‹ (Kap. 8.2). Es geht (in) ihnen nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit, nicht um Piktorialismus, sondern um Dokumentarismus (Belting 2011: 216 ff.). Das konspirologische Bild formt in den Sozialen Medien somit das Gegenstück zum Selfie (siehe hierzu den Exkurs: Über das Bild in den Sozialen Medien).25 In konspirologischen Fotografien kreuzen und treffen sich die Blicke interessierter Dritter auf der Suche nach Beweisstücken und Realität (Kap. 5.2). Was sich mit dem Kennedy Attentat erstmals offenbarte, gehört heute zum alltäglichen Bild: Immer mehr anwesende Dritte verfügen über die schnell handhabbaren technischen Mittel, Beobachtungen aufzuzeichnen und mit anderen, nicht anwesenden, aber interessierten Dritten zu teilen. So verdankt das fotografische Bild als indexikalisches Zeichen sein vermehrtes Wiederauftreten den sozialen Medienplattformen und dem Smartphone. Wir wollen an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: Es geht uns nicht um neue beziehungsweise digitale Formen des Sozialen oder um die Rückkehr des revolutionären Geistes durch die Sozialen Medien. Unser Punkt ist einfacher: Es geht uns zuerst um die Verfügbarkeit von Aufnahmegeräten und Kommunikationskanälen, um das technologische Gestell einer dauerhaften »Beobachtungskultur« (Meyer 2015). Denn sobald halbwegs Ereignishaftes oder Elendiges in einem öffentlichen Raum sich auch nur andeutet, ist eine Handlung immer wieder zu beobachten: Augenzeugen zücken ihre Handys, Tablets oder digitalen Fotoapparate. Während diese Zeilen niedergeschrieben wurden, ereigneten sich am 13. November 2015 die terroristischen Angriffe in Paris während des Fußballländerspiels zwischen Frankreich und Deutschland. Hier zeigte sich sehr deutlich, dass die periphere Beobachtungskultur mittlerweile einen zentralen Platz innerhalb der Live-Berichterstattungen der Leitmedien eingenommen hat. Die großen Fernsehsender, Zeitschriften und deren online-Ableger sind nicht mehr auf eigene Reporter und 25 Besonderes Kennzeichen des Selfies ist die Redundanz der inszenierten Pose.
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Korrespondenten angewiesen, die vor Ort sein müssen, um Bilder zu senden oder zu veröffentlichen. Sie warten auf die ersten hochgeladenen Amateurkommentare und Fotografien.26 Nachrichtenberichterstattung folgt mittlerweile einer Logik des #Hashtags und Retweets. Die Leitmedien haben damit das ihnen innewohnende Dilemma der »Asynchronizität« bis auf ein Minimum reduziert – ihre Position als institutionalisierte Nachrichteninstanz jedoch zugleich geöffnet (zur »Asynchronizität« siehe Giesen 2010: 284 ff.).27 Die reduzierte Ungleichzeitigkeit – das Retweeten ungeprüfter Informationen – erfordert eine hohe Aufmerksamkeit beim Rezipienten. Denn die Unterscheidung von Gerücht und Nachricht wird zugunsten einer schnellen Informationsvermittlung von den Medien zunächst ignoriert (hierzu den Exkurs: Über das Gerücht). Der Verweis auf die Zitation aus Sozialen Medien entlastet von publizistischer Verantwortung. Zugleich wird ein ›Kult des Leserreporters‹ gefördert.28 So ist wohl auch das erregte, hastige und bisweilen gedankenlose Hochladen der aufgenommenen Dateien zu erklären – wie die von Jordi Mir auf Facebook hochgeladene Videosequenz der Ermordung des Polizisten Ahmed Merabet durch die Charlie-Hebdo-Attentäter.29 Die periphere Beobachtungskultur wird zentral angeregt und gefördert. Es würde zu kurz greifen, das Filmen und Fotografieren anwesender Dritter ausschließlich mit dem »touristischen Blick« zu fassen und interpretieren (Giesen 2010: 199 ff.). Im Fokus der Kamera steht nicht immer das Souvenir an ein Ereignis oder die Bewunderung des eigenen Portraits (Selfie). Auch das konspirologische Bild muss in diesem Kontext in Betracht gezogen werden. Hier dreht sich der Fokus um die Sehnsucht nach dem hastigen Schnappschuss und der heißen Spur, die Sehnsucht nach dem ontologischen Detail. Die neue Ausrichtung der Berichterstattungen sogenannter Leitmedien mit Blick auf Twitter, In26 Als nicht leibhaftig involvierter Beobachter muss man sich zuweilen auch wundern, in welchen Grenzsituationen Menschen noch im Stande sind, das sich Ereignende mit technischen Geräten aufzuzeichnen – und es sofort hochzuladen. 27 Zur widersprüchlichen ›Liaison‹ von alteingesessenen Nachrichteninstanzen und peripheren Informationsplattformen siehe Kap. 7.2 und 7.3. 28 Während Stern und Bild derartige Leserreporter-Kampagnen seit 2006 großformatig fördern und hierfür von anderen Medien der Nichtprofessionalität angeprangert wurden, sind heute alle auf diesen Zug aufgesprungen. So folgen bspw. die Live-Ticker von Spiegel und Zeit mit ihren Retweets der gleichen Logik. 29 Laut eigenen Aussagen hat Jordi Mir kurze Zeit nach dem Hochladen seine Aktion bereut und das Video wieder gelöscht. Doch es war zu spät. Seine ›Beobachtung‹ wurde bereits geteilt und von den bekannten Medien gezeigt.
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EXKURS: ÜBER MIND CONTROL UND MENTIZID
stagram und Co. und die Förderung des Leserreporter-Kultes haben die Jagd nach dem enthüllenden, von vielen zitierten Bild belebt.
Exkurs: Über Mind-Control und Mentizid Die Unterteilung in dämonologische und konspirologische Verschwörungstheorien ist eine idealtypische. Das heißt: Es gibt Grenzübertretungen, Mischformen, »Zwischenlagen« (Giesen 2010). Auch wenn unsere Heuristik evolutionstheoretisch angelegt ist, gibt es historisch Überschneidungen. Man kann, wie wir weiter oben mit der Interpretation David Nirenbergs gesehen haben, den Angriff der Pastorellen auf die Juden im Jahr 1320 als konspirologisch motivierte Tat deuten; gesetzt der Fall, es sollte sie tatsächlich in ihrer Funktion als »fiscal agents of the state«, als Funktionäre des Königs treffen (Nirenberg 1996: 49). Entgegengesetzt wird es noch deutlicher. Das dämonologische Denken ist in seinem Ursprung vormodern, nicht in seinem Vorkommen. Noch immer sind antisemitische Verschwörungstheorien dämonologisch geprägt. Auch die Diskurse über die Angst vor dem Anderen, beispielsweise in der Furcht vor einer ›islamistischen Bedrohung‹, folgen einer dämonologischen Logik. So war rund um die Ereignisse des Syrienkrieges und der ›Flüchtlingsdebatte‹ 2015 in Deutschland ein signifikanter Anstieg von dämonologischen Angst- und Hasskommentaren in den Sozialen Medien (beispielsweise Facebook und Twitter) zu notieren. Die durchschnittliche Argumentation einer Pegida- oder AfD-Rede verläuft in beide Richtungen: Das konspirologische Anprangern der eigenen Regierung trifft auf dämonologisch geschürte Ängste vor einer »Islamisierung des Abendlandes«. Ein Beispiel vom offiziellen AfD-Profil auf Facebook: »Zum aktuellen Frontex-Bericht erklärt der stellvertretende AfD-Vorsitzende Alexander Gauland: ›Der Frontex-Bericht muss sehr ernst genommen werden, denn er enthält viele vernünftige Forderungen und einige erschreckende Tatsachen. 2015 hat es mehr als zwei Millionen illegale Grenzübertritte in die EU gegeben, das ist ungefähr 30mal so viel wie im Vorjahr. Zurecht bezeichnet Frontex dies als die größte Migrationskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich müssen die EU-Außengrenzen geschützt werden und natürlich müssen die Mitgliedstaaten dies gemeinsam tun. Viel schlimmer jedoch ist die Bilanz, die im Bericht gezogen wird: Die großen EU-Länder, allen voran Deutschland, haben nichts aus den absolut chaotischen Zuständen des letzten Jahres gelernt, im Gegenteil: Man versendet weiterhin falsche Signale und Deutschland befördert nach wie vor eine Anreizsituation, die die Krise immer weiter verschlimmert. Merkel bleibt untätig. Das ist nicht nur sträflich uneinsichtig, zumal mittlerweile genügend vernünftige Konzepte zur Lösung der Asylkrise 169
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vorliegen, sondern auch grob fahrlässig, da die Balkan-Route parallel zu neuen Routen über Polen und Spanien wieder aufzuleben droht. Merkel sollte die Vorschläge von Frontex dringend aufnehmen, sonst wird sie zur Wiederholungstäterin.‹«30
Wir wollen uns an dieser Stelle kurz mit dem Diskurs über Mind-Control und Mentizid (Gehirnwäsche) beschäftigen. Hier sieht man die Grenzübertretungen zwischen dämonologischem und konspirologischem Denken sehr deutlich: Was nach dem Zweiten Weltkrieg als (dämonologische) Angst vor einer ›kommunistischen Bedrohung‹ begonnen hat, lebt heute gleichermaßen in den (konspirologischen) Debatten über den ›Gläsernen Menschen‹ und ›Big Data‹ weiter. Wir betrachten die Entwicklung des Mind-Control-Diskurses seit den Fünfziger Jahren:31 Geprägt vom Koreakrieg, kursierten vor allem in Amerika Geschichten über die geheimen Wundertechniken zur psychischen Manipulation von Kriegsgefangenen in China und in der Sowjetunion (Horn 2007: 405 ff.). Derartige Erzählungen folgten einer Logik von urban legends: Es wurde auf Berichte über heimkehrende, aber mental abwesende Kriegsgefangene verwiesen, auf militärische Informationen über Kollaborationen zwischen Kommunisten und Amerikanern, und es war die Rede von 21 freiwillig zurückgebliebenen Amerikanern in Nordkorea – alles mit Verweis auf diffuse Quellen.32 Populärkulturell angekurbelt wurde der Diskurs von der auf Richard Condons Roman basierenden Verfilmung von The Manchurian Candidate (dt. Botschafter der Angst) von John Frankenheimer aus dem Jahr 1962.33 Die kollektiven Imaginationen dieses Diskurses fußten nicht ausschließlich auf fiktiven Szenarien. Tatsächlich experimentierte die CIA zwischen 1949 und 1963 in verschiedenen Forschungsprojekten damit, Menschen in Bezug auf ihre psychische Manipulierbarkeit zu testen. Derartige Experimente hatten sogar Vorläufer: Bereits die Navy testete in Menschenversuchen genauso wie die Nationalsozialisten in 30 Gepostet am 18. Juni 2016 um 8:30 Uhr. Nach der gängigen AfD-Argumentation ist Merkel mehr getrieben von Lobbyismus denn von der Fürsorge ihrer eigenen Bevölkerung. 31 Die dämonologisch imaginierte Verbindung zwischen Hypnose und Medialität im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert – man denke etwa an Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari (1920) oder die Dr. Mabuse-Romane von Norbert Jacques (1921 und 1932) – lassen wir an dieser Stelle unberücksichtigt. 32 Zur modernen Sage siehe den Exkurs: Über das Gerücht. 33 Auch wenn (oder gerade weil) der Film mit Frank Sinatra in der Hauptrolle nach der Ermordung Kennedys aus den amerikanischen Kinos zurückgezogen wurde.
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den Konzentrationslagern Dachau und Mauthausen die Auswirkungen verschiedener chemischer Substanzen wie beispielsweise Meskalin (Anton 2015). Da man den Feind bereits im sagenhaften Besitz derartiger psychedelischer Fähigkeiten wähnte, galt es nun, wie John Marks in The Search for the »Manchurian Candidate« schreibt, den »mind-control gap« bedingungs- und kompromisslos zu schließen (Marks 1979: 28). Dies führte zu einem doppelten populärkulturellen Angstszenario: Neben die Angst vor dem ›roten Feind‹ gesellte sich jene vor den ausufernden Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten des eigenen Staates. Wenn es möglich schien, den perfekten Agenten zu schaffen, der fremdgesteuert Aufträge erledigt und selbst unter Folter keine Informationen preisgibt, wie sollte dann wohl das Bild vom perfekten Staatsbürger (oder vom perfekten Konsumenten) aussehen? Die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn spricht in diesem historischen Kontext von »Staatsparanoia«, diese verlaufe »in zwei Richtungen, indem sie einerseits das Misstrauen des Staates gegenüber seinen Bürgern, andererseits den Verdacht der Bürger bezeichnet, vom Staat überwacht, verfolgt oder betrogen zu werden« (Horn 2007: 385). Das dämonologische Misstrauen des Staates bezog sich auf die potentielle ›kommunistische Verschwörung‹, die hinter der Maske eines unscheinbaren Bürgers lauern konnte. Das konspirologische Misstrauen der Bürger befürchtete ein heimliches Eindringen des Staates in das heilige Reich des Privaten. Gemeinsam prägten sie den Diskurs über Gedankenkontrolle, Fernlenkung und Mentizid: Während der Staat zentrifugal vor falschen Predigern und Magiern warnte, entstand auf der anderen Seite das zentripetale Misstrauen gegenüber den neuen medialen Entwicklungen, die hier, wie Marshall McLuhan es zur gleichen Zeit intellektuell zu fassen suchte, als potentielle »Erweiterungen des Menschen« betrachtet wurden.34 Jede technologische und mediale Entwicklung hat konspirologische Verdächtigungen nach sich gezogen. So sorgte die Einführung eines neuen, EDV-gerechten Personalausweises 1984 in Deutschland für große konspirologische Wellen in der Öffentlichkeit: Der Spiegel titulierte seinen Leitartikel »Eintrittskarte in den Überwachungsstaat« (Der Spiegel 32/1983: 17 ff., siehe hierzu Kap. 7.2). Medien wurden (und werden) – selbst wiederum medial inszeniert – als repressive Instrumente einer ›Kontrollgesellschaft‹ thematisiert. Sie sind, mit Foucault formuliert, fest mit dem Dispositiv der Überwachung verbunden. Und es scheint, dass diese Verbindung mit dem Übergang zur Digitalisierung verstärkt wurde. Der Mind-Control-Diskurs ist also weit davon entfernt, ein Relikt aus den Fünfziger Jahren zu sein. Während dämonologische 34 McLuhans Understanding Media: The Extensions of Man (dt. Die magischen Kanäle) ist 1964 erstmals erschienen.
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Thematisierungen ihr rotes Gewand abgelegt haben und weitestgehend gleichmäßig argumentieren – »wer hat die jungen Männer zum Dschihad verführt?« –, finden sich die konspirologischen Verdächtigungen aufgebrochen, politisch zerstreut in mehreren Sub-Diskursen wieder: allen voran dreht sich der Verdacht der Gehirnwäsche um die trigger Internetüberwachung (Stichwort: »Cookies«), Medienmanipulation (Stichwort: »Lügenpresse«) und Big Data (Stichwort: »Zwangsdigitalisierung«).35 Die (wissenschaftliche) Rede von Mentizid oder Mind-Control verleitet dazu, an radikale Argumentationen zu denken. Ein Beispiel hierfür: Ende 2013 wurde an einem Lehrstuhl der Universität Konstanz ein Brief mit Dokumenten eingereicht, die beweisen sollen, dass der anonyme Absender Opfer einer groß angelegten ›Frank Schirrmacher-BNDMind-Control-Verschwörung‹ geworden ist.36 Neben anderen Schriftstücken befand sich hierin die Kopie eines Schreibens an Hans-Christian Ströbele: »ich wende mich an Sie als an das dienstälteste Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestages zur Kontrolle der Geheimdienste, das sich im Rahmen der NSA-Affäre unmissverständlich und dezidiert für die Rechte Edward Snowdens als eines politisch Verfolgten eingesetzt hat. Neben der uns alle betreffenden Dimension des Datenschutzes hat die aktuelle Debatte um geheimdienstliche Überwachung für mich eine persönliche Relevanz: Von 2006 bis dato wurde ich durch den F.A.Z.-Herausgeber Frank Schirrmacher und eine (mir nur zum Teil bekannte) Personengruppe der Medienbranche bzw. des Geheimdienstes widerrechtlich abgehört und phasenweise terrorisiert. Wie ich im Laufe dieses Jahres erfahren habe, wurden hierbei geheimdienstliche Methoden wie Mind Control (eventuell in Form von Brainwave Stimulation, Brain-Computer-Interface, Neural Impulse Actuator o. ä.) und Mentizid eingesetzt. Bevor Sie die Lektüre meines Briefes an dieser Stelle aufgrund der Annahme abbrechen, dass sich der Herausgeber einer Zeitung, die z.T. durchaus engagiert gegen den Überwachungs-Terror zu kämpfen scheint, unmöglich selbst geheimdienstlicher Methoden bedienen wird, bitte ich Sie zu erwägen, dass eine NSA-kritische Berichterstattung als perfekter Deckmantel dienen kann. Nicht ohne Grund nennt man Frank 35 In seiner ›harmlosesten‹ Ausprägung handelt es sich hierbei um die Werbeeinblendungen im Internet wie bspw. die Amazon-Vorschlagsliste: Durch das algorithmische Auswerten aller gespeicherten Daten mittels Cookies kann so bereits im Vorfeld festgestellt – oder eben festgelegt – werden, was der einzelne Nutzer als ›gut‹ empfinden wird – beziehungsweise als ›gut‹ zu empfinden hat. Kritische Stimmen an diesem Usertracking streifen immer wieder Mentizid-Argumentationen. 36 Dieser Brief wurde mir vom Lehrstuhlinhaber dankeswerterweise überlassen.
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Schirrmacher, wie Sie vielleicht wissen, in Medien-Kreisen einen ›Dirty Harry‹«.
Die Tragik dieser persönlichen Geschichte besteht darin, dass sie keine anderen mit hinein verstrickt (Schapp 1985). Auch wenn hier explizit mit Mind-Control argumentiert wird, der Diskurs muss weitläufiger gefasst werden. Die Wirkmächtigkeit von Mentizid-Narrativen liegt im Subtilen einer alltäglichen Perspektive auf die Informatik begründet. »Brainwave Stimulation«, »Brain-Computer-Interface« und »Neural Impulse Actuator« vermögen nur bedingt eine Geschichte über verschwörerische Aktivitäten zu stricken, die soziale Anerkennung findet. Anders sieht es aus mit Geschichten über Algorithmen, Cookies, Google, die Digitalisierung des Alltags und die Speicherung von Daten.
6.4 Die bürokratische Herrschaft und das konspirologische Denken »In der Stube der Führerschaft – wo sie war und wer dort saß, weiß und wußte niemand, den ich fragte [...]« (Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer) Fangen wir mit einem Gesetzesentwurf an, einem Gesetzesentwurf zur Veröffentlichung von Verwaltungsakten. Es geht also um Transparenz. Genauer: Es geht um Transparenz in bürokratischen Herrschaftsstrukturen. Der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel, der im Dezember 2013 nach fast 19-jähriger Amtszeit Jean-Claude Juncker ablöste, hat den Entwurf im Mai 2015 vorgestellt. Am 16. Mai 2015 schreibt das Luxemburger Wort:37 »Zeitgleich mit der Regierungserklärung zur Lage der Nation hinterlegte Xavier Bettel nämlich den blau-rot-grünen Ersatz zur Juncker-Vorlage, die jetzt nicht mehr ›Gesetzesentwurf über den Zugang der Bürger zu Verwaltungsdokumenten‹ heißt, sondern ›Gesetzesentwurf zur transparenten und offenen Verwaltung‹. Ziel der Vorlage sei es, die Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern in ›ganz neue‹ Bahnen zu lenken, so Xavier Bettel am vergangenen Dienstag im Kammerplenum. [...] So soll die Einsicht in amtliche Akten nicht mehr auf Anfrage erfolgen; nein, die Dokumente sollen weitgehend automatisch im Internet veröffentlicht 37 Mit einer Auflage von ungefähr 70.000 Exemplaren handelt es sich beim Luxemburger Wort um die größte Tageszeitung im Großherzogtum Luxemburg. Politisch steht sie der Christlich Sozialen Volkspartei (CSV) nahe.
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werden, so Bettel in der Regierungserklärung« (Luxemburger Wort vom 16. Mai 2015, S. 2).
Auch wenn dieser empirische Fall sich auf das kleine Luxemburg beschränkt, so geht es im Kern der Debatte um die Gretchenfrage demokratischer Bürokratien: In wie weit soll das ›allgemein öffentlich Zugängliche‹ auch in Wirklichkeit allgemein öffentlich zugänglich sein? Aus der Perspektive der Regierenden kann Transparenz nämlich potentiell handlungslähmend wirken. Umgekehrt gilt: Transparenz ist Proklamation oder Kritik, kein realer Status. In den Worten Manfred Schneiders: »Transparenz hier und jetzt gibt es nicht« (Schneider 2013: 14). Trotzdem fußt jede demokratisch-bürokratische Herrschaft in ihrer ausdrücklichen Selbstbeschreibung auf dieser Annahme der Eindeutigkeit, Begründbarkeit und Sichtbarkeit der Ordnung. Die Verteilung der Macht folgt demnach dem Prinzip einer formalen Organisation mit klarer Mitgliedschaft und expliziten und rational begründeten Normen. Theoretisch sind die Strukturen offen, die Einsichten klar, die Entscheidungsträger lediglich Delegierte (Bourdieu 1989). Diese öffentliche Einsehbarkeit unterscheidet Demokratien von absolutistischen Entscheidungsstrukturen. Wir werden in diesem Kapitel nachzeichnen, wie diese Selbstdarstellungen konspirologisch angezweifelt werden, wie der demokratische Bürokratismus absolutistisch umgedeutet wird. Aus einer theoretischen Perspektive liegt unser Fokus auf Max Webers »Wesen, Voraussetzungen und Entfaltung der bürokratischen Herrschaft« (Weber 1980: 551-579). Neben der Offenlegung eines konspirologischen Kernes innerhalb des soziologischen Diskurses werden wir zudem versuchen, die Alltäglichkeit einer derartigen Argumentation nachzuweisen. Weber verfasste seine Bestimmungen über den Bürokratismus bekanntermaßen im historischen Kontext der preußischen Verwaltungsorganisation. Ähnlich wie Franz Kafka beobachtete er den unaufhaltsamen Anstieg schicksalhafter Bürokratisierung. Im Besonderen ging es Weber um die Differenzierung eines professionellen Beamtentums von den vielen ehrenamtlichen Beamtentätigkeiten, deren Entscheidungsinstanzen noch stark von kollegialen Netzwerken durchtränkt waren.38 In seiner idealtypisierenden Art sucht Weber den monokratischen, zentralisierten Bürokratismus zu fassen: »Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Ueberlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten 38 Die Zahl der im öffentlichen Dienst Beschäftigten stieg bereits zu Webers Lebzeiten – zwischen 1882 und 1907 – von 815.000 auf 2.042.000 an (Kaesler 2011: 114).
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der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert« (Weber 1980: 561 f., Hervorhebung im Original).
Obwohl bisweilen darauf reduziert – Stichworte: »eiserner Käfig«, »Gehäuse der Hörigkeit« –, bleiben Webers Ausführungen keineswegs bei der Beschreibung eines mechanischen Apparats stehen. Hinter der Fassade vom Idealtypus des »menschlich unbeteiligten, daher streng ›sachlichen‹ Fachmann[s]« (ebd.: 563) bricht auch bei Webers Dekonstruktion der bürokratischen Herrschaft ›allzu Menschliches‹ hervor: opake Entscheidungsstrukturen und egozentrische Intentionen, persönliche Machterhaltungsinteressen und demokratische Scheinbegründungen. Hinter der Oberfläche von Sachlichkeit und stumpfen, mechanischen Handlungsabläufen stecken Emotionen, Eigeninteresse und Egoismus. So kommt Weber gegen Ende seiner Ausführungen zu der interessanten These, dass selbst demokratische Verwaltungsorganisationen in ihrem Kern einer klandestinen Logik gehorchen: »Bürokratische Verwaltung ist ihrer Tendenz nach stets Verwaltung mit Ausschluß der Oeffentlichkeit« (Weber 1980: 572).
Hier geht es intentional darum, Undurchsichtigkeit herzustellen – auch wenn es sich im Fall ›der Bürokratie‹ um einen abstrakten Aktanten handelt. Der Bürokratismus, so Weber, steht im Widerspruch zur Transparenz. Das Geheimnis bewahrt vor Kritik und Entzauberung,39 und festigt zugleich die Machtposition der Regierenden und Verwaltenden: »Die Bürokratie verbirgt ihr Wissen und Tun vor der Kritik, soweit sie irgend kann« (ebd.). Bürokratien verwenden demnach einen hohen Anteil ihrer ›Energie‹ zum reinen Selbstzweck: Der professionelle Bürokrat – der Beamte – will zuallererst seine eigene Position sichern, das heißt: die Herrschaft ›seiner‹ Bürokratie. Weber war einer der Ersten, der in derartigen Entwicklungen die Irrationalität von Rationalisierungsprozessen erkannte.40 Weber zeichnet somit ein hochgradig konspirologisch aufgeladenes Bild der bürokratischen Herrschaft. Wer in Webers Schriften eine Verherrlichung des rationalen Betriebskapitalismus erkennt, liest ihn falsch. 39 Entzauberung hier im Sinne von Dekonstruktion des demokratischen Mythos (Weber 1980: 568). 40 Und es ist genau diese Pointe, die von seinen Kritikern zumeist übersehen wird.
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Darauf hat auch sein Biograph Dirk Kaesler hingewiesen: »Wer aus den weberschen Arbeiten zum modernen rationalen Betriebskapitalismus eine Verherrlichung herausliest«, so Kaesler in einem Interview mit dem Spiegel, »der kann nicht bei Trost sein. Da finden sich apokalyptische Befürchtungen, aber es fehlt jede Glorifizierung. [...] Weber vermittelt nicht nur keine Hoffnung, er stößt einen gewissermaßen in die Verzweiflung« (Der Spiegel 17/2014: 120). Es ist diese nüchterne Härte – gepaart mit dem Gefühl absurder Ausweglosigkeit –, die Weber als wissenschaftliche Schablone von Kafkas Prosa erscheinen lassen. Hinter dem Schutzmantel seiner selbst ausgerufenen Werturteilsfreiheit lässt Weber in seinem Bürokratie-Aufsatz immer wieder Momente konspirologischer Kritik und Verzweiflung erkennen: »Ob die Macht der Bürokratie als solcher zunimmt, ist also a priori [...] nicht zu entscheiden. Die Zuziehung von Interessenten oder von anderen fachkundigen Nichtbeamten oder umgekehrt von fachfremden Laienvertretern, die Schaffung beschließender lokaler oder interlokaler oder zentraler parlamentarischer oder anderer repräsentativer oder berufsständiger Organe scheint dem ja direkt entgegenzulaufen. Inwieweit dieser Schein Wahrheit ist, gehört im einzelnen in ein anderes Kapitel als in diese rein formale und kasuistische Erörterung« (Weber 1980: 572, Hervorhebung im Original).
Kritisiert man bürokratische Verfahren, dann steht man vor zwei Alternativen: Man kann entweder systemtheoretisch oder konspirologisch argumentieren. Systemtheoretisch – beziehungsweise systemkritisch – geht man von einer intentional nicht gewollten Undurchsichtigkeit aus. Bedingt durch ihren strikt eingegrenzten Zuständigkeitsbereich, die mangelnde Kommunikation zwischen den verschiedenen Instanzen und die lediglich formal stattfindende Kommunikation mit Außenstehenden lähmen bürokratische Verfahren sich dann selbst. Als Beherrschter steht man so unweigerlich vor dem Gefühl, Ausschluss und Zurückweisung seien aufgrund systeminterner Schwachstellen vorhanden. Diese Möglichkeit der systemtheoretischen Kritik erfordert jedoch ein erhebliches Maß an emotionaler Distanz zu den eigenen Benachteiligungen. Zudem kann man ein System als Ganzes moralisch nicht verurteilen. In Webers Schriften lassen sich durchaus normative Maßstäbe finden (Kaesler 2011: 116). In seinem Abschnitt über den Bürokratismus folgen diese – so unsere These – keiner systemkritischen, sondern einer konspirologischen Argumentation. Lediglich auf den ersten Blick mag das überraschen. Denn dies liegt bereits in Webers Wunschbild einer plebiszitär-charismatischen Herrschaft begründet, deren Machtbereiche mittels eines parlamentarisch-bürokratischen Apparates eingegrenzt werden. Diese besondere Form des Cäsarismus ist ihrem Wesen nach of176
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fen für konspirative Machtmissbräuche: »Führer wird nur derjenige, dem die Maschine folgt, auch über den Kopf des Parlaments« (Weber zitiert nach Kaesler 2011: 115). Gemeint ist hier die ›Bürokratie-Maschine‹. Diese bürokratische Undurchsichtigkeits-Maschinerie lässt Außenstehende bisweilen mit einem Gefühl zurück, vor einer »Niemandsherrschaft« (Hannah Arendt) zu stehen. In Bezug auf bürokratische Instanzen steht man dann vor der konspirologischen Frage schlechthin: »Wo befindet sich das eigentliche Machtzentrum?«. Diese Fragekonstellation ist alles andere als paranoid – vielmehr alltäglich. Auch hier scheitert der bisherige Forschungsstand zum allgemeinen Thema des verschwörungstheoretischen Denkens. Schauen wir uns die alltägliche Verzweiflung an bürokratischen Verfahren genauer an: Der Ethnologe David Graeber geht in seiner Rede – »Beyond Power/Knowledge. An Exploration of the Relation of Power, Ignorance and Stupidity« – vom 25. Mai 2006 an der London School of Economics and Political Science auf die bürokratischen Prozesse gegenseitiger Idiotisierung ein. Graeber berichtet von eigenen, mühevollen Auseinandersetzungen mit bürokratischen Behörden und fügt einen interessanten theoretischen Turn ein: Die Sprache der Bürokratie, so Graeber, ist die Sprache der Kolonialherren (Graeber 2006: 6). Graeber verdeutlicht dies anhand eines Beispiels aus Madagaskar: (Kritische) Nachfragen beantworten die Behörden nicht auf Malagasisch, sondern auf Französisch – einer Sprache, der die wenigsten Einwohner mächtig sind. So schützt sich das System vor kommunikativer, rechtfertigender Verausgabung. Graebers Pointe ist so einfach wie überfällig: Genauso wie körperliche Gewalt (Giesen et al. 2012) nimmt sich bürokratische Kommunikation das Recht, das »taking the role of the other« (George Herbert Mead) verweigern zu dürfen. Wer zuschlägt, braucht sein Gegenüber nicht zu verstehen. Wer hinter dem Schalter steht, genauso wenig. In beiden Fällen handelt es sich um soziale Situationen, die »extreme lopsided structures of imaginative identification« produzieren (Graeber 2006: 8). Die Imaginationsprozesse gehen von den Außenstehenden, den Benachteiligten aus. Für Graeber ist dies das Wesen struktureller Gewalt: Macht kann widersprüchliche Entscheidungen treffen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Macht kann – wenn sie will – Empathie verweigern. »In practice, bureaucratic procedure invariably means ignoring all the subtleties of real social existence and reducing everything to preconceived mechanical or statistical formulae« (Graeber 2006: 9). Die Bürokratie selbst muss weder sprechen noch antworten, und wenn doch, dann darf sie dies in einer ihr eigenen Expertensprache. So werden die einfachsten Sachverhalte in einer standardisiert-reduzierten und zugleich juristisch-überladenen Sprache ausgedrückt (Herzfeld 1993). Literarisch hat diese bürokratisch untermauerte strukturelle 177
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Gewalt Kafka in seinem Werk zu fassen gesucht: Es ist K., der spricht. Doch das »taking the role of the other« wird ihm verweigert. Ob vor dem Gesetz oder vor dem Schloss: K. wird die Einsicht verwehrt. Der Grund seiner Überwachung bleibt nebulös (Solove 2004: 36 ff.). Es sind die Beherrschten, die mit Deutungsarbeit beschäftigt sind: K. ist von der Idee besessen, einem konspirativen bürokratischen Machtapparat ausgeliefert zu sein. Sofern institutionelle, bürokratische Macht zum Objekt einer peripheren, hermeneutischen Auslegung wird, liegt die Entstehung konspirologischer Verdächtigungen nahe. In diesem Punkt treffen sich Kafkas Prosa, Webers normative Bemerkungen zur bürokratischen Herrschaft und die Alltäglichkeit am Verzweifeln mit bürokratischen Angelegenheiten: Sie treffen sich im konspirologischen Denken, dass Bürokraten im Endeffekt eine eingeschworene, konspirative Gemeinde bilden; dass es den beziehungsweise die Drahtzieher im Hintergrund gibt; dass bürokratisches Schikanieren intentional gewollt ist; dass Entscheidungen nicht transparent im Büro, sondern, wie bei Kafkas Erzählung Beim Bau der Chinesischen Mauer, klandestin in »der Stube« getroffen werden. Die Anthropologin Erica Caple James hat hierfür den Begriff der heimtückischen »bureaucraft« verwendet: »Occult economies are not solely the product of traditional beliefs and practices in contexts where witchcraft is a prominent political discourse; they are also generated by the secrecy and opacity of modern bureaucratic technologies and practices« (James 2012: 57). Hiermit trifft James den wunden Punkt einer kulturwissenschaftlichen Forschungslücke: Konspirologisches Denken gedeiht inmitten bürokratischer Kulturen – ganz ohne Hexerei.
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7. Das konspirologische Narrativ »So hat der Abschlussbericht der 9/11-Commission zwar ein wirkungsmächtiges Narrativ geschaffen – eine große Erzählung von Pleiten, Pech und Pannen, die es 19 Hijackern ermöglichten, mit Teppichmessern vier Flugzeuge zu entführen, die Luftabwehr stundenlang am Eingreifen zu hindern und drei Wolkenkratzer zu pulverisieren –, doch mit der Realität hat dieses Narrativ nur begrenzt zu tun«
(Bröckers/Walther 2011: 16)
7.1 Die Verstrickung »Wir Menschen«, heißt es bei Wilhelm Schapp – einem heute leider in Vergessenheit geratenen Schüler von Simmel und Husserl –, »sind immer in Geschichten verstrickt. Zu jeder Geschichte gehört ein darin Verstrickter. Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann« (Schapp 1985: 1). Menschen sind in Geschichten verstrickt und Menschen stricken ihre Geschichten. Sonst würden sie ihre soziale Mit- und Umwelt weder erleben noch mitteilen. Wer nicht verstrickt ist, nimmt weder teil noch gehört er dazu. Welt, so könnte man lapidar behaupten, muss erzählt werden. Ist niemand verstrickt, gibt es nichts zu berichten. Menschsein ist, phänomenologisch betrachtet, an eine nicht aufhebbare narratologische Verfasstheit gebunden.1 Selbstverständlich folgen die Verstrickung und die gestrickten Geschichten kulturellen Mustern. Nicht jede Form des »In-Geschichte-verstricktsein« gilt als legitime Erzählung. Geschichten können nicht willkürlich nach eigenem Gutdünken gestrickt werden, sie unterliegen institutionellen Rahmenbedingungen. Daneben ist das Erzählte publikumsabhängig: »Man kann nicht«, so Schapp, »jedem jede Geschichte erzählen« (Schapp 1985: 117). Geschichten vergegenwärtigen und stiften Identität, sowohl eigene als auch fremde (Giesen 1999). Wir (und die Anderen) sind das, was wir (und die Anderen) sind, durch die Geschichten, in die wir (und 1
»Man kann sogar fragen«, schreibt Schapp, »ob nicht der einzelne Verstrickte immer nur durch sein seelisches Gesamtgefüge in Geschichten verstrickt sein kann. Ebensogut mag man allerdings fragen können, ob dies Gesamtgefüge vielleicht nur über Geschichten und in Geschichten zum Vorschein kommen, auftauchen, festgehalten werden kann« (Schapp 1985: 2).
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DAS KONSPIROLOGISCHE NARRATIV
die Anderen) verstrickt sind.2 Wir sind das, was wir erzählen beziehungsweise das, was über uns erzählt wird. Deswegen ist der Mensch, wie Ernst Boesch ihn nannte, ein erzählender, ein »Homo Narrator« (Boesch 2009). Erzählungen konstruieren Sinn, sie erzeugen Realität.3 Aber nicht alles darf jederzeit in einer spezifischen Kultur gefahrenlos erzählt werden. Sinn kann tabuisiert sein, als ›dämonisch‹ oder ›krank‹ gebrandmarkt werden. Der Erzähler muss dann mit Ächtung und Sanktionen rechnen (Kap. 2.1). Oder Erzählungen können ganz einfach von der Mehrheit als langweilig oder gar ›sinnlos‹ eingestuft werden. In dem Fall kann sich das Publikum mit dem Verstricktsein des Erzählers nicht identifizieren. Seine Stricke verfehlen die kulturellen Knotenpunkte. Fremdverstricken kann immer misslingen. »Dann mag die Geschichte in eine gewisse Ruhelage kommen« (Schapp 1985: 108). Gleichwohl kann jede zur Ruhe gekommene Geschichte wieder aufgegriffen und weitergestrickt werden. Kulturelle Tätertrauma folgen einer derartigen Logik (Giesen et al. 2014: 33 ff.). Ziehen wir zu Schapps Geschichten-Philosophie Heideggers Daseinsanalytik heran. Hier bedeutet Menschsein: »Dasein«. Es ist die Eigenart dieses Daseins, dass es ein fragendes ist. Tiere und Dinge fragen nicht. Das Sein des Daseins ist also, folgt man Heidegger, das Fragen (Heidegger 1984). Wer fragt, der sorgt sich; und wer sich sorgt, der erzählt. »Das Erzählen«, heißt es daher in Koschorkes Erzähltheorie, »dient also der Bearbeitung und Auflösung einer ›mich betreffenden Sorge‹« (Koschorke 2012: 69). Die Sorge kann sich tatsächlich um einen selbst und um seine Mitmenschen drehen, man kann sich auch stellvertretend für andere sorgen, ohne direkt betroffen zu sein, man kann sich um die Bedrohung einer ganzen Kultur oder um die Verschmutzung der Natur sorgen. Vielleicht sorgt man sich um ganz profane, leblose Dinge – in dem Fall handelt es sich, in der Terminologie von Schapp, um »Wozudinge« (Schapp 1985).4 Phänomenologisch sind Erzählen und Sorgen eng aneinander gekoppelt – ja vermutlich nicht voneinander zu trennen. Das Dasein des Menschen dreht sich um Sorgen mitteilende Erzählungen. Mit Victor Turner könnte man auch sagen: Das Dasein des 2 3
Siehe hierzu das Vorwort von Hermann Lübbe zu Schapp (1985). Dies trifft auch – performanztheoretisch betrachtet – auf Rituale zu, denn ohne Rahmengeschichte wäre jedes Ritual sinnlos. Kultursoziologisch sollte deswegen von einer verschränkten Koexistenz von Erzählungen, Bildern und Performanzen ausgegangen werden. Auch wenn in diesem Kapitel der Fokus auf der narrativen Konstruktion von Kultur liegt, so darf nicht unterschlagen werden, dass Kultur außerdem performativ und ikonisch begründet ist. Auch die Ikone muss wiederum in Geschichten verstrickt sein (hierzu Giesen et al. 2014; Belting 2011). 4 »Wozudinge« stricken, so Schapp, eine Verbindung zwischen Außenwelt und Geschichte.
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DIE VERSTRICKUNG
Menschen dreht sich um »soziale Dramen« und um »Geschichten über sie« (Turner 2009).5 Man könnte nun sofort einwenden, dass auch Bedeutungsloses erzählt werden kann. Doch wo Belangloses und Offensichtliches erzählt wird, handelt es sich um dafür speziell vorgesehene und gerahmte Interaktionsrituale wie Smalltalk (Goffman 2009, 1982). Keineswegs handelt es sich hierbei jedoch um Geschichten, die weitergestrickt werden. Im Gegenteil: Belangloses wird immer wieder von neuem erzählt.6 Kulturell relevante Geschichten folgen einer anderen Logik. Genau diesen Aspekt versucht Schapp mit seinem Konzept des »InGeschichte-verstrickt-sein« zu fassen: Geschichten, welche die Gemüter erhitzen und zum Mit- und Weiterstricken verleiten, drehen sich um Sorgen und Krisen, um Verborgenes und Verdächtigungen. Bedrohungsszenarien generieren imaginäre Gemeinschaften und kollektive Emotionen. Auch hier gilt wieder Durkheims Diktum, dass es das Außerordentliche ist, das unsere Imagination reizt und unsere Kommunikation fokussiert (Durkheim 1994; siehe auch Giesen/Gerster/Meyer 2014: 86). Das konspirologische Denken thematisiert das Verstricktsein in soziale Dramen auf eine ihm eigentümliche Art und Weise. Es setzt Ereignisse, Geschehnisse und Widerfahrnisse mit einer besonderen Figur in einen größeren und kulturell handhabbaren Kausalzusammenhang: dem Geschichtenstricker. Verstrickung in Geschichte(n) wird hier auf einer expliziten und ›konstruktivistischen‹ Ebene thematisiert. Konspirologisch ist die institutionalisierte Geschichte tatsächlich menschlich gestrickt. Das Stricken tritt im konspirologischen Denken aus der Verstrickung hervor und somit erzählerisch in den Vordergrund der Geschichte. Mathias Bröckers und Christian C. Walther beginnen ihren konspirologischen Bestseller 11.9. – zehn Jahre danach genau mit dieser Wendung: »9/11 ist ein Film«, heißt es im ersten Satz, »den 2,5 Milliarden Menschen gesehen haben« (Bröckers/Walther 2011: 15). 5 6
»Soziale Dramen und Geschichten über sie« lautet der Titel eines Kapitels seiner Monographie Vom Ritual zum Theater (2009). Neuere digitale Kommunikationsformen wie Jodel steigern diese Redundanz-Bewegungen: Hier geht es ausschließlich darum, zu kontrollieren, ob die ›Kommunikationsleitungen funktionieren‹. Immer wieder wird das Gleiche gepostet. Das konkrete Feedback zu den einzelnen Postings ist komplett irrelevant geworden. Die Verstrickung hat nur einen ›Knotenpunkt‹, der sich sofort wieder auflöst. Nach der gleichen Logik funktioniert auch die beliebte App Snapchat. »Mit dem Internet«, schreibt Michel Maffesoli über diese neuen Kommunikationsformen, »geht man von einer logozentrischen Tradition, in der das Wort herrschte, zu einer anderen, weitaus lokozentrischeren Tradition über, in der nur der Raum, nur die mit anderen geteilte ›Website‹ ausschlaggebend ist. Hieraus erklärt sich der Eindruck, dass man redet, um nichts zu sagen. Tatsächlich sagt man nichts, doch dieses Nichts ist wesentlich, es ist matrixhaft« (Maffesoli 2014: 142, Hervorhebung im Original).
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Eine weitere Wendung Schapps ist an dieser Stelle sehr aufschlussreich. Geschichten sind nicht nur in eine soziale, sondern auch in eine narrative Umgebung eingebettet. Sie haben eine Vorgeschichte, die selbst wiederum eine Vorgeschichte hat; sie erzählen von Handlungen im Vordergrund und Unbestimmbarem im Hintergrund. »Die eigentliche Bewegung«, schreibt Schapp, »die vielleicht zu jeder Geschichte gehört, verläuft im Vordergrunde, während das Kennzeichen des Hintergrundes Ruhe und Beharren ist, doch so, daß aus ihm alles hervorbrechen kann« (Schapp 1985: 91). Das konspirologische Denken betrachtet nun den Hintergrund offizieller Geschichten und strickt hieraus wiederum eine neue, alternative Geschichte. Da Inszenierung thematisiert wird, gehört zur Vorgeschichte der Erzählung auch der Hintergrund älterer, offizieller Geschichten. »In der Tat – wer hinter den als Hijacker identifizierten Täternamen wirklich steckte, wurde nie zweifelsfrei ermittelt« (Bröckers/Walther 2011: 18).
Das konspirologische Denken öffnet den Hintergrund der Geschichte. Narratologisch wird somit dem Latenten eine besondere Rolle zugewiesen. Der Begriff Latenz, hergeleitet vom lateinischen latere, bedeutet so viel wie »verborgen«, »versteckt sein« oder »das aus dem Verborgenen Drohende« (Haverkamp 2002: 7). Dieses hintergründige, latente Wirken ist im konspirologischen Denken gleichwohl immer personifiziert. Hinter den großen politischen Ereignissen und wirtschaftlichen Abkommen stehen unsichtbare Gruppierungen. Individuelle und kollektive Schicksalsschläge, politische wie wirtschaftliche (Fehl-)Entwicklungen können somit auf menschliche Urheber zurückgeführt und moralisch verurteilt werden (Paris 1998: 195). Diese personifizierte Konzeptualisierung von Latenz muss von denjenigen der Psychoanalyse, dem Strukturfunktionalismus oder der Systemtheorie unterschieden werden.7 Es geht um geheime menschliche Machenschaften. Für die latenten Funktionen und die nicht intendierten Folgewirkungen von Handlungen, die den Akteuren selbst nicht bewusst 7
Freud führte den Begriff des Unbewussten ein, der sich z.B. in der Unterscheidung von manifestem Trauminhalt und latenten Traumgedanken darlegt. Hier sind es verdrängte Wünsche, die sich hinter den manifesten Traumbildern verbergen und das Bewusstsein immer wieder heimsuchen. Ihr plötzliches Hervortreten kann zum Gefühl der Unheimlichkeit führen (Freud 1970). Erst wenn dieses Verdrängte innerhalb eines rituellen Rahmens (z.B. einer therapeutischen Sitzung) zum Vorschein gebracht wird, kann es auch ›geheilt‹ werden. Hier folgt die Psychoanalyse einer ›verschwörungstheoretischen‹ Logik: Die Benennung des verborgenen Dämons – ob als Verdrängtes, Unterdrücktes oder als geheimes Wirken anderer – gilt als erster Schritt zu seiner Bewältigung (Giesen 2010: 145). Aus einer systemtheoretischen Perspektive ist die Latenz keine Verdrängung ins Unbewusste
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sind, interessiert sich das konspirologische Denken weniger. Auch wenn weite Teile der sozialen Umwelt mit der Unterscheidung ›öffentlich/verborgen‹ beobachtet werden, so bleiben die Intentionen der Verschwörer letztlich manifest. Theoretisch geraten konspirologische Narrative dann an ihre explanatorischen Grenzen, wenn Verstrickung so nicht mehr und von niemandem gewollt war. Hier neigt die Zuschreibung von Intentionalität zu einer sozialtheoretisch unterkomplexen Handhabung. Die Nutzung von Latenzkonzeptionen als heuristisches Instrument birgt die Gefahr in sich, Latenz potentiell zu überschätzen. Wer Verborgenes vermutet, kann dies nur auf Kosten des Offenkundigen tun. Die Öffnung des Hintergrundes einer Geschichte führt zu einer mehr oder weniger starken Verflüssigung des Geschehens im Vordergrund. Manchmal kann das Wirkmächtige ganz einfach oberflächlich sein. Zudem sind Latenztheorien – und hierin ähneln sie Transparenzforderungen – tendenziell unabschließbar: Hinter der an die Oberfläche geholten Tiefenstruktur kann sogleich wieder eine neue Tiefenstruktur vermutet werden (Maye/Meteling 2009: 59). So setzt manche Geschichte über den 11. September 2001 ihren erzählerischen Anfang bereits einige Jahrhunderte zuvor an. Dies mag man bisweilen belächeln. Jedoch dürfen wir die Anfechtbarkeit von Kausalitätszuschreibungen nicht ausschließlich auf ›Verschwörungstheorien‹ reduzieren. Sie gilt für alle Geschichten. »Der Anfang einer historischen Erklärung«, schreibt Werner Binder in seiner Studie über den Abu-Ghraib-Skandal, »ist willkürlich und daher besonders begründungspflichtig, da prinzipiell immer weiter zurückgegangen werden könnte« (Binder 2013: 98). Letztlich bleibt die Zuschreibung von Kausalität immer tentativ. Die Verstrickung ist ein erzählerischer Akt – trotz aller Realität.
7.2 Die Erzählkultur Ereignisse sind nicht einfach bloß geschehen, sie müssen auch erzählt werden. Ob konspirologisch oder nicht: Ereignisse benötigen in Geschichte Verstrickte. Und Geschichten darüber. Dies gilt selbst in Bezug auf institutionalisiertes historisches Wissen. Geschichte, heißt es in – für Luhmann kann gar Unbewusstes, bevor es nicht bewusst gemacht wird, nicht einfach »irgendwo« und »irgendwie« vorhanden sein, es existiert ausschließlich als »Beobachtungsschema des Therapeuten« (Luhmann 1999: 230) –, sondern die notwendige Voraussetzung von Gesellschaft und Kommunikation: Wir können nicht ständig über alles sprechen, einiges muss als gemeinsam vorausgesetzt werden. Kontingenz darf nicht ständig mitreflektiert werden, sie würde die Kommunikation blockieren und das System unnötig belasten. Für weitere wissenschaftliche Konzeptualisierungen von Latenz siehe Maye/Meteling (2009).
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Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, umfasse »das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung« (Hegel 1999: 65). Man berichtet, erzählt, mutmaßt und verdächtigt – wie wir gerade gesehen haben –, um andere in Geschichten mit hinein zu verstricken. Geschichten brauchen positive Resonanz – auch wenn sie Böses schildern. Dies gelingt zumeist jenen Geschichten, die Missverhältnisse mit menschlichen Intentionen in Verbindung bringen und Fremdverstrickungen somit affektiv aufladen (Koschorke 2012: 78). Natürlich könnte – rein theoretisch – jedes Ereignis auch anders erzählt werden. In Wirklichkeit sind derartige narrative Eingriffe jedoch an Machtansprüche gekoppelt. Nicht jede Geschichte kann gefahrenlos (anders) erzählt werden – wenigstens nicht vor jeder Zuhörerschaft. Man könnte das Verstricktsein anderer entweihen, das Publikum beleidigen, ihren Zorn auf sich ziehen. Soziologisch gewendet: Erzählen findet unter bestimmten und bestimmenden institutionellen Rahmenbedingungen statt. Das heißt: Gesellschaftliche Kommunikation muss immer als Verteilungskampf um die Definitionsmacht kulturell einflussreicher Narrative gedacht und gedeutet werden (Koschorke 2012: 41). Geschichten, die auf heftigen Widerstand stoßen, stellen die Legitimität der kollektiven Identität der sich bedroht fühlenden Erzählgemeinschaft in Frage.8 Der Ablauf eines historischen Ereignisses hängt davon ab, wer die Deutungshoheit im Kampf der Erzählungen behält und Geschichte schreibt beziehungsweise geschriebene Geschichte überwacht. »Das kann im Grenzfall so weit führen«, heißt es bei Koschorke, »dass zweifelsfrei belegbare Fakten verleugnet und revidiert werden. Aber auch abgesehen von offen ideologischen Manipulationen stellt jede historiographische Unternehmung eine Umschrift der Vergangenheit dar, insofern sie die Handlungen von Menschen mit Motiven versieht und in Zusammenhänge einbringt, die den damaligen Akteuren nicht bekannt waren und nicht mit der Selbstbeschreibung früherer Epochen übereinstimmen; sie ist aus der Perspektive eines besseren Wissenden verfasst, das in der eigenen Gegenwart wurzelt« (Koschorke 2012: 227, Hervorhebung im Original). Geschichte – sowohl im Sinne von story als auch history – muss nicht notwendigerweise wahr sein. Das ändert auch die Tatsache nicht, ob es sich dabei um die institutionalisierte oder eine alternative Version handelt. Wirklichkeit ist, wie wir bereits gesehen haben, nicht an ontologische Wahrheit gebunden (Kap. 4.2 und 4.3). Kulturkritisch zugespitzt erläutert Michel Foucault diese konstruktivistische Perspektive auf narratologische Machtansprüche in einem Interview mit Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino: »Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Ge8
Zum Konzept der »kollektiven Identität« siehe Giesen (1999).
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sellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihr [sic] ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht« (Foucault 1978: 51).
Trotz (oder gerade: wegen) diesen narrativen Kämpfen ist jedes Kollektiv – im Sinne einer imagined community – an Rahmungen angewiesen, die als unhintergehbar gelten. Das trifft auch auf das Erzählen von Geschichte(n) zu: Gerade die wichtigen narrativen Fundamente einer kulturellen Identität, wie Mythen oder bedeutende historische Ereignisse, können – aus der Innenperspektive der Zugehörigen – nicht ständig in Frage gestellt werden. Sie müssen vor einer kommunikativen Verflüssigung geschützt werden. Damit bleibt der kontingente, fiktive Charakter derartiger Verabredungen, auf denen kollektive Zugehörigkeitsmerkmale und -gefühle fußen, latent.9 Ohne Fiktionen – und wir haben bereits mehrmals gesehen, dass jede Institution einen fiktionalen Kern hat – wäre ein gemeinschaftliches Zusammenleben wortwörtlich nicht denkbar, nicht vorstellbar (Durkheim 1994). Genau hierin liegt die Gefahr von konspirologischen Erzählungen in Bezug auf die hegemoniale Macht begründet. Da sie als Gegen-Narrative der offiziellen Geschichte misstrauen, sie verändern und neu erzählen wollen, gehen ihre Wortführer ein entsprechend hohes Risiko ein. Schließlich greifen sie nicht nur diejenigen an, die die Definitionsmacht über das Erzählen beanspruchen, sondern auch deren Befürworter und Gefolgschaft. Der Kritiker kann zwar, mit Luhmann formuliert, Anerkennung finden und sich zum Sprecher einer »latent verbreiteten Unzufriedenheit« machen – und genau diese Entwicklung ist in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten –, aber er kann auch ausgestoßen werden und sich dem Vorwurf schuldig machen, »daß er an feindlichen Ufern anzulegen sucht« (Luhmann 2008: 69). Sein Renommee bleibt prekär, seine alternative Perspektive potentiell beleidigend. Alles hängt davon ab, ob seine Um-Erzählung zur Modellierung einer neuen, imaginativen Wir-Gruppierung führt. Gelingt ihm dies nicht, so wird er von 9
Folgt man der Theorie des Ungefähren von Giesen et al., dann kann man zwischen einer repräsentierenden, klassifikatorischen und grammatischen Funktion der Kultur unterscheiden. Während die kulturellen Repräsentationen auf Symbolen und Fiktionen basieren, die die Welt einteilen und klassifizieren, ist es gerade die Leistung der grammatischen Funktion, »die Prinzipien der sozialen Ordnung latent zu halten und sie dem Bereich des Fragwürdigen zu entziehen« (Giesen et al. 2014: 7).
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seinen Mitmenschen als Einfaltspinsel oder Paranoiker abgestempelt (Kap. 2.1). Betrachten wir einige Beispiele hierfür aus der online-Diskussion über sogenannte Chemtrails – Kondensstreifen am Himmel – auf spiegel.de:10 »Ich wundere mich eher, dass diese unsinnigen Behauptungen immer noch im Netz kursieren. VTs sind wohl schlecht tot zu kriegen, sind sie doch auch immun gegen Logik, Vernunft und Argumenten« (mczeljk). »Chemtrails ist einer der dümmsten und lächerlichsten der populären Verschwörungshypothesen. Spielt in der gleichen Liga wie die gefälschte Mondlandung. Das heißt, man muss eine Menge des kleinen 1x1 von Physik-, Chemie- und technischem Wissen ignorieren, damit die Verschwörungshypothese nicht sofort implodiert« (hk1963). »Wäre mal eine Thema für Galileo Mystery... ›Wolken am Himmel – Mythos Chemtrails: Aimann Abdallah auf der Spur – versprühen Illuminaten Sperma am Himmel?‹ Erinnert mich an den SpiegelTV-Beitrag ›Teuflische Barcodes‹. Es scheint manchen Deutschen einfach zu gut zu gehen, dass sie Zeit haben stundenlang in den Himmel zu starren und irgendwelche Verschwörungstheorien zu stricken« (Flusher).
Ein weiteres Beispiel zum 11. September 2001: Im Juli 2005 veröffentlichte die amerikanische Regierung auf ihrer Homepage eine zweiseitige Anleitung zur ›Diagnose‹ konspirologischen Denkens in Bezug auf die Anschläge. Ein kurzer Auszug: »Does the story claim that vast, powerful, evil forces are secretly manipulating events? If so, this fits the profile of a conspiracy theory. [Conspiracy theories] are rarely true, even though they have great appeal and are often widely believed. In reality, events usually have much less exciting explanations. The U.S. military or intelligence community is a favorite villain in many conspiracy theories« (zitiert nach Knight 2008: 172 f.).
Bleiben wir an dieser Stelle beim 11. September 2001 und befassen uns damit aus einer narratologischen Perspektive. Die meisten Leser würden wohl darin zustimmen, dass es sich hierbei um einen Tag handelt, den sie als ›außerordentlich‹ empfunden haben. Vermutlich kann jeder sich daran erinnern, was er gemacht hat, als er erste Informationen zu den Geschehnissen erhielt. Diese Rahmung der Erfahrung des 11. Septembers 2001 als ›besonders‹ und ›außerordentlich‹ ist ein sozial unterstütztes – radikaler formuliert: hervorgerufenes – Konstrukt mit jour10 Es handelt sich dabei um den Artikel »Weltverschwörung am Himmel« vom 18. Juli 2013. In Klammern befinden sich die jeweiligen Namen der User (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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nalistischen, politischen und sozialwissenschaftlichen Wortführern auf der Makroebene.11 9/11 ist »Rohmaterial erzählerischen Interesses und Erzeugnis [...] der narrativen Aufmerksamkeitsführung« und wird im öffentlichen beziehungsweise institutionalisierten historischen Diskurs als einschlaggebendes Ereignis für den Beginn einer neuen Zeitrechnung herangezogen (Koschorke 2012: 62, Hervorhebung im Original). 9/11 markiert einen Bruch in der, im Sinne Albrecht Lehmanns, »Erzählkultur« der betreffenden Gemeinschaften: »Dazu gehört, dass sich überall ›Vorher-Nachher-Geschichten‹ im individuellen und kollektiven Bewusstsein beobachten lassen, vor und nach [...] dem Attentat auf das World Trade Center« (Lehmann 2009: 67).
Wir wollen uns an dieser Stelle auf einen besonderen Aspekt dieser Erzählkultur nach 9/11 konzentrieren. Wir haben bereits ganz am Anfang dieser Arbeit betont, dass es einen eklatanten Widerspruch zwischen den wissenschaftlichen, normativ aufgeladenen und abwertenden Texten über ›Verschwörungstheorien‹ und der empirischen Gegebenheit gibt. Ob Konspirationstheorien Narrative mit einem zu einfach gestrickten Plot sind, ist an dieser Stelle nicht von Bedeutung. Kultursoziologisch relevant ist ihr vermehrtes Vorkommen. Im Falle des Attentats auf das World Trade Center ist es zu einem Bruch innerhalb der westlichen Erzählkultur gekommen, der eine Öffnung hin zum konspirologischen Denken markierte. Die ersten konspirologischen Werke erschienen zuerst in Deutschland (Bröckers 2002) und Frankreich (Meyssan 2002). Für die US-Regierung waren sie zu diesem Zeichen lediglich Anzeichen eines wachsenden Anti-Amerikanismus in Europa. Doch seit 2004 wurden sie auch in den Vereinigten Staaten einflussreicher: Michael Moores Fahrenheit 9/11 markiert einen populärkulturellen Wendepunkt. Aus einer distanzierten, wertneutralen Perspektive lassen sich heute viele einem konspirologischen Plot folgende Narrative auch in sogenannten Leit- und Mainstreammedien ausfindig machen. In Bezug auf 9/11 ist konspirologisches Denken weniger stigmatisiert, das heißt, öfters vorzufinden und mittlerweile weitestgehend befreit von einer rein antiamerikanisch geprägten Stimmung. Der Verdacht hat sich gegenüber allen institutionellen Repräsentanten generalisiert (Boltanski 2013). In seinem Essay Elend der Kritik hat Bruno Latour genau hierauf hingewiesen (Latour 2007: 12 ff.). Die kultursoziologische Bedeutung dieser Entwicklung ist ihm jedoch entgangen. Wenn er schreibt: »Heute bin ich als einziger so naiv, an ein paar Fakten zu glauben, denn ich bin gebildet, während die anderen Leutchen zu unsophisticated sind, 11 Zu unserem Verständnis der Formulierung einer »sozialen Konstruktion« siehe Kap. 2.2.
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um gutgläubig zu sein« (Latour 2007: 13, Hervorhebung im Original), so entgeht ihm die Beobachtung, dass es gerade diese »unsophisticated Leutchen« sind, die im konspirologischen Denken ihre Sehnsucht nach realen – wenn auch verborgenen – Fakten ausdrücken (Kap. 1.3). Aus der distanzierten Perspektive eines Wissenschaftlers sind derartige Konspirationstheorien sicherlich konstruktivistisch. Was Latour jedoch nicht bemerkt, ist, dass sie aus der Binnenperspektive ihrer argumentativen Forderungen einem, so könnte man formulieren, ›postmodernen Konstruktivismus-Overflow‹ entgegenzuwirken suchen: Sie fordern Realität. Und diese Forderung nimmt seit über einem Jahrzehnt zu. Eben gerade nicht nur in den Geisteswissenschaften. Auch in populären konspirologischen Erzählungen geht es um das Reale in der Kultur der Moderne. Diese Öffnung hin zum konspirologischen Denken steht nicht alleinig im Zusammenhang mit einem Ereignis – dem 11. September 2001 – oder der Öffnung der Kommunikationskanäle im Internet, sondern muss auch innerhalb eines größeren makrosoziologischen – und das heißt durkheimianisch: religionssoziologischen – Kontextes betrachtet werden. Dann gehört, so eine mögliche These, das konspirologische Denken jener kulturellen Entwicklung an, die Bernhard Giesen als das »dritte Projekt der Moderne« bezeichnet hat (Giesen et al. 2014: 235 ff.). Freilich geht es hier nicht um das Wiederaufleben des Interesses an rituellen und charismatischen Formen religiöser Praxis, sondern um das Interesse an narrativer Welterklärung. Diese ist zwar an sich nichts Außerordentliches (Kap. 3.1), besonders ist in diesem Fall jedoch das quasi-religiöse Verlangen nach der einen richtigen Erzählung, die Suche nach der einen Wahrheit, nach Primordialem. Konspirologische Erzählungen treten dann in die Lücken der großen Narrative der Moderne (Kap. 1.1). Sie gehören zur postmoderne Erzählkultur,12 nicht etwa weil das Leben unübersichtlicher geworden ist oder das ›moderne Subjekt sich in einer Krise befindet‹ (so die Argumentation in Hepfer 2015),13 sondern – und damit ganz einfach narratologisch betrachtet – um der Vielzahl an Meinungen entgegenzuwirken. Sie folgen der – im Sinne Bernd Giesens – typisch modernen epistemologischen Figur der »Reduktion auf Primordiales« (Giesen 2010: 196). Zwar ist auch das konspirologische Denken nur eine mögliche Meinung unter vielen, jedoch eine, die nackte, nicht weiter verhandelbare Tatsachen, Fakten und Wahrheit(en) fordert. In diesem Sinne gehört es als Epistemologie dem »dritten Projekt der Moderne« an. Ein Blick in die Medien und auf die Bestsellerlisten der meistverkauften Sachbücher sollte genügen, um diese These vom ›konspirologi12 Die postmoderne Erzählkultur ist nicht gleichzustellen mit einer postmodernen Erzählung. 13 Welches ›Subjekt‹ befindet sich nicht in einer ›Krise‹?
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schen Turn‹ innerhalb der – im engeren Sinne: deutschen, im Weiteren: westlichen – Erzählkultur empirisch zu bekräftigen. So hat sich Udo Ulfkottes Gekaufte Journalisten seit der Veröffentlichung im September 2014 über ein Jahr an der Spitze der »Spiegel Bestsellerliste Sachbücher« gehalten. Überhaupt muss hierunter der gesamte wirtschaftliche Erfolg des Kopp Verlags gerechnet werden.14 Eine Zeit-Umfrage unter tausend Befragten vom Juni 2015 bestätigt dieses kulturelle Erzählklima: 60 Prozent der Befragten gaben an, wenig bis gar kein Vertrauen in die Medien zu haben (Die Zeit vom 25. Juni 2015). Dabei steht immer wieder das konspirologische Argument zur Debatte, dass die alteingesessenen, zentralen Medieninstanzen entweder staatlich eingeschüchtert oder eben – wie bei Ulfkotte – gänzlich »gekauft« seien. Das Verhältnis zwischen Medien und Konspirologie ist ein widersprüchlich aufgeladenes, allen voran die bekannten Printmedien stehen hier vor einem erzählerischen Dilemma: Einerseits gilt es nach wie vor alternative Berichterstattungen zu stigmatisieren, um die institutionalisierte Position als aufdeckende Instanz zu verfestigen, anderseits gilt es auf den Zug einer gerade vorherrschenden kulturellen Stimmung mit aufzuspringen.15 Hier müssen wir kurz anhalten und einem besonderen, bisweilen mythisch aufgeladenen Punkt Rechnung tragen: Rückt man nicht die peripheren ›Gegenrecherchen‹, sondern die vorherrschenden Zentralinstanzen in den Vordergrund, dann haftet der investigative Journalismus bis zu einem gewissen Grade per se einem konspirologischen Ethos an.16 Sonst würde er sich als kritischer Beobachter der Staatsgewalt selbst überflüssig machen. Oder er stünde tatsächlich zur Gänze in deren Dienst. Schließlich »verdankt«, so der Kultursoziologe Werner Binder, »der investigative Journalismus [...] sein Charisma nicht zuletzt der aufklärerischen (aber auch amerikanisch-puritanischen) Überzeugung, dass sich durch öffentliche Anprangerung gesellschaftliche Missstände beseitigen und künftige Verfehlungen verhindern lassen« (Binder 2013: 204). Es ist genau dieser Mythos vom investigativen Journalismus, die Monopolstellung als öffentliche Mahninstanz, die seit über einem Jahrzehnt immer mehr ins Wanken gerät. In den Worten eines Artikels aus der Wochenzeitschrift Die Zeit klingt die Reflexion mit dem Umgang dieser neuen Erzählkultur wie folgt: 14 Ein kleiner, deutscher Buchverlag mit Sitz in Rottenburg am Neckar, spezialisiert auf die Veröffentlichung von dämonologischen und konspirologischen Geschichten. 15 Hier gilt die einfache Regel: Die Aufnahme peripherer Standpunkte vermindert deren Bedrohung als Konkurrenz. 16 ›Konspirologischer Ethos‹ verwenden wir hier im Sinne von einem kritischen Beobachter politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Geschehens.
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DAS KONSPIROLOGISCHE NARRATIV
»Etwas Grundlegendes scheint hier ins Rutschen gekommen zu sein. Es ist, als gelte nicht mehr, was lange als ausgemacht galt, dass die Medien so etwas wie eine Schutzmacht für die Bürger sind und für die Demokratie als Ganzes. Eine vierte Gewalt, die die drei Staatsgewalten Regierung, Parlament und Justiz halbwegs zuverlässig kontrolliert und trotz aller Fehler das Vertrauen der Bevölkerung genießt« (Die Zeit 26/2015: 8).
Der Zeit-Artikel handelt von einem peripheren Vertrauensverlust. Betrachtet man ausschließlich die journalistischen Dossiers – also nur den Inhalt, nicht die Rezension –, dann ist festzuhalten, dass auch die alteingesessenen Medieninstanzen seit der NSA-Affäre im Sommer 2013 auf den – investigativen – ›Zug der konspirologischen Stimmung‹ aufgesprungen sind. Diese These lässt sich anhand einer Analyse der Titelbilder und Artikelüberschriften des Spiegels zu den Jahrestagen des 11. Septembers überprüfen.17 2003 heißt es: »Verschwörung 11. September. Wie KonspirationsFanatiker die Wirklichkeit auf den Kopf stellen«. Weitere Schlagwörter sind »Panoptikum des Absurden« und »Tod im Päckchen: Fälscher und Spinner nutzen das Internet, um Legenden und Lügen zu verbreiten« (Der Spiegel 37/2003). Zum fünften Jahrestag des Ereignisses wird die Tonart schon etwas neutraler in Bezug auf die Zweifler und unsicherer in Bezug auf die offiziellen Darstellungen: »Ein Tag erschüttert die Welt«. Der Wind scheint sich wortwörtlich zu drehen: »Die Winde des Glaubens«, heißt es weiter: »Wo ist Osama Bin Laden? Trotz Satelliten- und Abhöranlagen haben amerikanische Geheimdienstler keine heiße Spur« (Der Spiegel 36/2006). Fünf weitere Jahre später sind diese zweifelnden Wörter einem konspirologischen Urteil gewichen: 2011 stellt Der Spiegel die Anschläge vom 11. September und den Bundeswehreinsatz in Afghanistan unter den Titel »Die Geschichte eines Irrtums« (Der Spiegel 36/2011).18 Auch wenn es sich rückblickend immer um die nachträgliche Perspektive des Besserwissers handelt, der Grundton ist unverkennbar konspirologisch.19 Die Betrachtung aller Titelbilder eines Jahres bestätigt unsere These. 2013 sind zwölf, 2014 elf der 52 Titelbilder einem konspirologischen Diskurs zuordenbar. Zum Vergleich: 2004 sind es fünf Artikel – und diese sind alle einer antiamerikanischen Bush-Stimmung zuzuordnen, die im Mai 2004 mit der Veröffentlichung der Skandalfotografien von Abu Ghraib von den institutionalisierten Medienvertretern übernommen wurde (Binder 2013). Im Laufe der Jahre hat sich diese amerikakritische Zentrierung gelöst. Seit 2013 sind die konspirologischen trigger im Spiegel: »NSA«, »BND«, »Merkel«, »Kapitalismus«, 17 Alle abrufbar auf der offiziellen Homepage des Magazins. 18 Zyniker würden wohl auch vom Irrtum der eigenen Geschichte sprechen. 19 Das Label »Irrtum« bezieht sich in diesem Fall nicht auf die ungewollten Folgen unvorsichtigen Handelns, sondern auf das Hören und Folgen von Anweisungen der falschen »politischen und militärischen Antreiber« (Der Spiegel 36/2011: 76).
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DIE ERZÄHLKULTUR
»Europäische Union«, »Wohlfahrtsstaat«, »Google«, »Facebook«, »Freihandelsabkommen« und »Lebensmittelindustrie« (Kap. 7.4). Die Angstszenarien schließen zumeist einen Zusammenhang zwischen zentralen Instanzen und neueren technologischen Errungenschaften. Wichtig zu bemerken: Folgt man unserer Heuristik, dann zählen hierzu nicht die Artikel, die zwar eine Verschwörung thematisieren, sich dabei jedoch einer dämonologischen Argumentation und Semantik bedienen – wie der Syrienkonflikt um Assad oder die Machtdemonstrationen zwischen Putin und der Europäischen Union. Wie gesagt: Investigativer Journalismus hat per se einen Hang zum regimekritischen Denken. Vor 2004, so zeigt eine Betrachtung aller Spiegel Titelbilder, sind konspirologische Themengebiete jedoch an lokale Ereignisse oder Jubiläen gebunden. Nehmen wir das Jahr 1983 als Beispiel: Zwei Titelthemen lassen sich hier ausfindig machen, die alle beide den »Überwachungsstaat« thematisieren: Der Spiegel 1/1983 betrachtet das Realitätspotenzial von George Orwells Dystopie 1984, im Spiegel 32/1983 geht es um die Einführung eines neuen, EDV-gerechten Personalausweises – auch hier wird wieder auf Orwell zurückgegriffen.20 Einen letzten Aspekt wollen wir an dieser Stelle noch erwähnen. Es gibt, so unsere These, einen Zusammenhang zwischen der konspirologischen Erzählkultur und dem seit einigen Jahren sehr hohen Beliebtheitsgrad von satirischen Formaten wie beispielsweise Neues aus der Anstalt oder der heute-show auf ZDF.21 Letztere hat 2015 im Durchschnitt mehr Zuschauer als die großen Nachrichtensendungen heute, Tagesschau oder Tagesthemen erreicht (vgl. Die Zeit 26/2015: 9). Dabei ist die Pointe in jeder Sendung gleich: Äußerungen und Kommentare von Politikern, Journalisten und ›Lobbyisten‹ werden eingeblendet, um dann vom Moderator Oliver Welke als Lüge entlarvt zu werden. Satirisch werden die institutionellen Repräsentanten als ›Teil des Systems‹ betrachtet, das uns die realen Missstände vorenthalten möchte. Es geht in solchen Formaten um bloße Skandalisierung, nicht um Verbesserungsvorschläge oder konstruktive Kritik.22 Letztlich befriedigen sie die reine Lust am konspirologischen Denken (Abb. 9). 20 Originalton aus dem Artikel »Eintrittskarte für den Überwachungsstaat«: »Eingeweihte sehen, ganz im Gegenteil, in dem Ausweis das entscheidende Teilstück eines umfassenden Kontrollsystems, das gesellschaftsverändernde Kräfte entfalten könnte: ein Instrument, das Bürgerrechte zu bedrohen und den Rechtsstaat in einen Polizeistaat zu verwandeln vermag – wenn nicht gar in eine ganz andere Republik«. Und das, so heißt es weiter, »fünf Monate vor Anbruch des Orwell-Jahres 1984« (Der Spiegel 32/1983: 17 f.). 21 Auch auf online-Plattformen wie YouTube sind satirische Clips in der Beliebtheitsskala sehr weit oben anzusiedeln. 22 Mit emotionaler Distanz betrachtet gilt dies für alle Skandalisierungen. Denn »Skandale«, wissen wir seit Hondrich, »korrigieren hier und dort,
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DAS KONSPIROLOGISCHE NARRATIV
(Abb. 9) Screenshot von der politischen Kabarettsendung Neues aus der Anstalt: Die satirische Lust am konspirologischen Netzwerkdenken23
7.3 Die Enthüllungsmärkte »Es ist in den Marktgesellschaften«, schreibt Karl Otto Hondrich in seiner kultursoziologischen Skandaltheorie, »auch ein Markt für Enthüllungen entstanden« (Hondrich 2002: 11). Mit Bezug auf unsere Forschungsfrage können wir diese Feststellung verfeinern: Es gibt in »Digitalen Kulturen« (Beyes/Pias 2014) einen Markt für konspirologische Enthüllungen. Mit der Bezeichnung »Digitale Kulturen« wollen Beyes und Pias den sozio-technischen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre Rechnung tragen. Tatsächlich muss man seit der Öffnung des Internets zum sogenannten Web 2.0 beziehungsweise seit der Entstehung von Social Media von einer gewissen Form der digitalen Welterzeugung ausgehen. Weit mehr als eine bloße technologische Spielerei hat sie erheblichen Einfluss auf die Strukturierung und Wahrnehmung sowohl unseres sozialen Umfeldes als auch unserer Identität. So müsste man Berger und Luckmanns soziologischen Klassiker genau um diesen Bereich erweitern – auch wenn letztlich alle relevanten Schritte im digitalen Universum Konsequenzen im analogen Leben haben (Meyer 2015). Wir können an dieser Stelle jedoch nicht auf alle soziologischen Faktoren einer digitalen Konstruktion von Wirklichkeit eingehen. Dies wäre die Aufgabe einer eigenständigen Untersuchung. Was uns an dieser Stelle interessiert, ist der Zusammenhang von digitalen Märkten und konspirologischer Skandalkultur. 23 aber sie machen die Welt nicht besser. Skandale desillusionieren zweimal: durch das, was sie enthüllen, und durch das, was sie als Ergebnis hinterlassen« (Hondrich 2002: 72). 23 Es handelt sich hierbei um die Folge vom 13. November 2012.
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DIE ENTHÜLLUNGSMÄRKTE
Zuvor gehen wir auf eine kurze historische Beobachtung ein. Neben der Entwicklung von sozialen Zentralinstanzen, die unter Verdacht geraten können, ist konspirologische Kritik auf die kulturelle Entwicklung und technisch-mediale Unterstützung eines öffentlichen Marktes für Enthüllungen und Skandalisierungen angewiesen. Wir haben bereits gesehen, dass mit der Diskreditierung politischer Geheimnisse und Providenz-Vorstellungen, dem gleichzeitigen Aufstieg der vielen bürgerlichen Geheimbünde, Lesegesellschaften und Klubs und der damit einhergehenden Entwicklung zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit die ersten Bedingungen eines solchen Marktes erfüllt sind (Kap. 6.3; Koselleck 1973). Für periphere Kritik ist zudem die technische – im Sinne einer massenmedialen – Förderung von fundamentaler Bedeutung. Im vor- und nachrevolutionären Paris war es erstmals möglich, Flugblätter und Pamphlete in einer größeren Stückzahl und trotz Zensur, Polizei und einer monopolistischen Buchhändlerzunft herzustellen (Darnton 1985). So konnten die in privaten Hinterzimmern, zwielichtigen Kellern und kleinen Werkstätten gedruckten subversiven Geschichten über politische und soziale Ereignisse unter das Volk gebracht werden. Gerüchte und regimekritische Geschichten konnten innerhalb kurzer Zeit eine Menge an Personen erreichen, und jene, die es nicht selbst gelesen hatten oder nicht lesen konnten, erfuhren es durch Hörensagen. Es entstand der erste technisch unterstützte und mit ernstzunehmenden politischen Druckmitteln ausgestattete konspirologische Markt (Würgler 1996). Die Entstehung der sogenannten Penny Press im späten 19. Jahrhundert führte zu ersten Versuchen, diesen konspirologischen Markt mit exklusiven Zugangsrechten auszustatten. Die Verbreitung dieser kleinen, billigen Sensationspapiere war sowohl an die Erfindung einer schnelleren Satztechnik im Druck als auch des Telegraphen gebunden (Starr 2011: 74 f.). Erstmals konnten Nachrichten, Gerüchte und Geschichten auch über längere Strecken weiter verbreitet werden, ohne an Aktualität einzubüßen. Für diesen Zeitraum spricht der Medienwissenschaftler Douglas Starr von »the world’s first media explosion« (ebd.: 75). Mit der weiteren Professionalisierung des journalistischen Feldes wurden die Zugangsrechte zu diesem Enthüllungsmarkt stärker überwacht. Investigative Journalisten sahen sich selbst als sogenannte »Vierte Gewalt« im Staat: als Wortführer öffentlicher Anprangerung. Zurück zu unserer eingangs formulierten These, dass es in »Digitalen Kulturen« einen größer werdenden Markt für konspirologische Enthüllungen gibt. Seit der Jahrtausendwende ermöglichen Breitband-Internetzugänge nicht nur einen schnelleren Austausch von größeren Daten wie Fotos und Filmen, sie lösten zudem den Internet-User aus seinem passiven Zustand: Seither kann jeder seinen Beitrag aktiv dazu steuern – und genau das meint die Formulierung »Digitale Kulturen«. Wir sind 193
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somit nicht weiter bloß Konsumenten von Daten, sondern auch Produzenten. Wir kommentieren, teilen, ›liken‹, ›twittern‹, ›jodeln‹, laden hoch und prangern an. Diese Neuverteilung innerhalb der publizistischen Machtverhältnisse hat mehrere Konsequenzen: 1. Die Position des klassischen investigativen Journalisten verliert sowohl an Renommee als auch an Standfestigkeit innerhalb des Feldes. Vielleicht muss die Rede von einer »Vierten Gewalt« durch eine »Fünfte« ergänzt werden.24 2. Hinzu kommt der Umstand, dass soziale Netzwerke, klassische Massen- beziehungsweise Mainstreammedien und in der Öffentlichkeit stehende Akteure sich gegenseitig beobachten, beeinflussen und Bezug aufeinander nehmen. Diese mediale ›Echolalie‹ lässt vor allem berufsmäßigen Journalisten weniger Spielraum für innovative Meinungen. 3. Das Publizieren und Kommentieren mittels digitaler Medien erlaubt eine gewisse Art von Anonymisierung: So muss man sich heute gewahr sein, dass hochgeladene Daten – dem Gerücht ähnlich – einfach ohne Quellenangabe weiter geteilt und retweetet werden können. Im Gegensatz zum klassischen Printjournalismus kann nicht mehr ein konkreter Initiator zur Verantwortung gezogen werden. 4. Dies führt zu einer vermehrten, da hinter dem Schutzschild einer digitalen Identität darstellbaren, konspirologischen Kritik (Abb. 10). So können Zentralinstanzen unter Beschuss genommen werden, ohne direkt juristische Schritte zu befürchten – vor allem unter dem Deckmantel von Deep Web oder Darknet.25 5. Da die wenigen charismatischen Wortführer hinter den vielen anprangernden, kritischen und nörgelnden Stimmen verstummen, gehört die konspirologische Skandalisierung zum alltäglichen Hintergrundrauschen der digitalen Medienlandschaft: Kein online-Bericht ohne konspirologische User-Kommentare darunter, keine Facebook-Visite ohne Hinweise auf staatliche Beobachtung oder Datenmissbrauch, keine Datenschutz-Debatte ohne Hinweise auf Orwells »Großen Bruder« (Kap. 9). 6. Trotzdem ist die Skandalkultur nicht übersättigt,26 da es aus der Unmenge an Einblicken in die »Sub-Kultur von moralischen Grundvorgängen« (Hondrich 2002: 19) wiederum selbst nur ein kleiner Teil in die Pop-Kultur der Medienlandschaft schafft. Folgt man dem Gesetz der ›Echolalie‹, dann verweilen die meisten konspirologischen 24 Siehe hierzu den Essay »Vertrauen/Angst. Der Journalismus steckt in einer Glaubwürdigkeitskrise« von Götz Hamann aus Der Zeit vom 25. Juni 2015 (26/2015). 25 Hierbei handelt es sich dann jedoch um subkulturelle Öffentlichkeiten: Ohne das nötige Know-how hat man weder Zugang zum Deep Web geschweige denn zum Darknet. Letzteres ist ein sogenanntes Peer-to-PeerOverlay-Netzwerk, das jegliche Rückschlüsse auf die realen User unterbindet. 26 Karl Otto Hondrich: »Auch für Skandale gibt es Bedarfsdeckungen, Sättigungsgrenzen. Die Lust am Skandal verwandelt sich in Überdruß.
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DIE ENTHÜLLUNGSMÄRKTE
(Abb. 10) Screenshot der User-Kommentare auf den spiegel-online-Artikel »Weltverschwörung am Himmel« vom 18. Juli 2013: binnen weniger Stunden 290 Kommentare27
Verdachtsangebote als Kassandrarufe in den weiten Sphären des digitalen Universums. Sofern sie nicht von den sozialen Netzwerken oder großen Nachrichtenagenturen aufgegriffen werden, fällt es leicht, sie einfach zu ignorieren. 7.27Wir haben bereits erwähnt, dass auch der satirische Boom an konspirologischen Skandalisierungen im ZusammenÜberziehen sie, wendet sich die angefachte Empörung auf die Skandalierer selbst zurück« (2002: 102 f.). 27 http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/chemtrails-fakten-und-behauptungen-zu-verschwoerungstheorie-a-911711.html (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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hang mit der Digitalisierung von Enthüllungsmärkten steht. Wie so oft bei Modeerscheinungen ist der Ursprung in der Peripherie zu suchen (Simmel 1995): Die vielen satirischen Amateuraufzeichnungen auf den online-Videoplattformen waren die Vorläufer von professionellen Formaten wie der heute-show oder Neues aus der Anstalt von ZDF (Kap. 7.2). Zudem schützt die satirische Überzeichnung vor einem Überdruss an Skandalisierung. 8. Die Öffnung des Internets hat eine neue Art der Kommunikationsführung von öffentlichen Debatten ausgelöst. Soweit der Konsens in den Wissenschaften. Wie diese Entwicklung zu werten sei, darüber herrscht jedoch weniger Einigkeit. Die Gretchenfrage lautet, ob die Digitalisierung der Medien zur Demokratisierung von Öffentlichkeiten oder zur Zersplitterung von Demokratien führt. In einem 2008 veröffentlichten Essay macht Jürgen Habermas die Wertung vom politischen System anhängig: »[C]omputergestützte Kommunikation [kann] unzweideutige demokratische Verdienste nur für einen speziellen Kontext beanspruchen: Sie unterminiert die Zensur autoritärer Regime, die versuchen, spontane öffentliche Meinungen zu kontrollieren und zu unterdrücken. Im Kontext liberaler Regime überwiegt jedoch eine andere Tendenz. Hier fördert die Entstehung von Millionen von weltweit zerstreuten chat rooms und weltweit vernetzten issue publics eher die Fragmentierung jenes großen, in politischen Öffentlichkeiten jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums. Dieses Publikum zerfällt im virtuellen Raum in eine riesige Anzahl von zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen« (Habermas 2008: 161 f.).
Habermas macht sich die Antwort sichtlich einfach. In seiner Aussage spiegelt sich vielmehr die prototypische Unsicherheit und Unwissenheit eines Geisteswissenschaftlers in Bezug auf technologische Entwicklungen.28 Ob es sich um ›demokratische‹ oder ›totalitäre‹ Regime handelt, die Digitalisierung der Enthüllungsmärkte führt zu einer Dezentralisierung der Entscheidungsmacht, welche Fragestellungen als bedeutend und diskussionswürdig zu gelten haben. Es macht somit wenig Sinn, die »weltweit zerstreuten chat rooms« ausschließlich während der Geburtsphase von Demokratien zu befürworten. Schließlich kann man Habermas dagegenhalten: Wer soll die Ausrichtung »jenes großen, in politischen Öffentlichkeiten jedoch gleichzeitig auf gleiche Fragestellungen zentrierten Massenpublikums« dirigieren? Könnte man diese Aufmerksamkeitslenkung nicht genauso kritisieren? Die Zersplitterung in Öffentlichkeiten gehört zum demokratischen Fundament. Gerade mit 28 Man vergleiche die geistes- und kulturwissenschaftlichen Debatten zu »Big Data«.
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Bezug auf die Digitalisierung der Medienlandschaft und die Entstehung neuer Enthüllungsmärkte sollte man nicht aus den Augen verlieren: Das konspirologische Denken ist die notwendige Konsequenz liberaler Demokratien (Kap. 6.3) – und eben nicht einfach das fehlgeleitete Produkt von »zersplitterten, durch Spezialinteressen zusammengehaltenen Zufallsgruppen« (ebd.).
7.4 Das Narrativ: Argumentation und trigger »Denn die Erzählung herrscht, so scheint es, in ihrem Reich bedingungslos und allmächtig; sie muss sich um Kongruenz mit der äußeren Realität nicht bekümmern; sie nimmt sich die Freiheit, alles und jedes zu einem Gegenstand in der Welt zu erklären. Wie das Denken und Sprechen überhaupt, so verfügt auch das Erzählen über kein hinreichendes intrinsisches Wahrheitszeichen. Wie in einem Wirbel mischen sich darin Elemente von Wahrheit, Anschein, Hörensagen, Unwissenheit, Irrtum und Lüge. Erzählungen können frei zwischen beiden möglichen Extremen hin- und hergleiten, sich auf eine ihnen gemäße Art der Wirklichkeitstreue verpflichten oder aber ihren Realitätsbezug gänzlich kappen, ohne ihrer inneren Beschaffenheit nach von dieser Alternative berührt zu sein« (Koschorke 2012: 12)
»Eine einzelne Geschichte genügt nicht«, schreibt Wolfgang MüllerFunk, »um ein Narrativ zu etablieren. Denn eine narrative Formation gründet sich darauf, daß seinesgleichen immer wieder geschieht« (Müller-Funk 2008: 160, Hervorhebung im Original). Genau dies ist der Fall bei Geschichten, die wir dem konspirologischen Denken zuordnen. Es gibt einen klar wiedererkennbaren Grundplot. Deswegen sprechen wir vom konspirologischen Narrativ. Wir distanzieren uns dabei von genuin literaturwissenschaftlichen Perspektiven (Genette 1998) und betrachten die Erzählung – genauso wie Bilder und Performanzen – als eine »elementare Form der kulturellen Repräsentation« (Binder 2013: 90 ff.). Wir haben bereits erwähnt (Kap 7.1), dass Erzählungen Sinn stiften und somit Realität konstruieren. In ihnen vollzieht sich eine dramaturgische und dynamische Bearbeitung von Geschehnissen und Ereignissen, die weit über eine nüchterne, rein deskriptive Darstellung hinausgeht (Gerster 2016: 96 ff.). In diesem Punkt geht es uns jedoch weniger um die phänomenologische Perspektive auf die narratologische Verfasstheit des Menschseins – auf seine 197
DAS KONSPIROLOGISCHE NARRATIV
nicht aufhebbare Verstrickung in Geschichten (Schapp 1985) –, sondern um den spezifischen Aufbau einer konspirologischen Erzählung. Dabei stehen folgende Fragen im Mittelpunkt: Wie wird der typische konspirologische Plot narrativ strukturiert? Wie sind die spezifischen Thematisierungen – konspirologisch und dämonologisch – argumentativ aufgebaut? Welche narrativen trigger führen zu einer ›Aktivierung‹ konspirologischen Denkens? Als »Grundoperation des Erzählens« führt Albrecht Koschorke die Überführung von »komplexe[n] Gegebenheiten in eine sequentielle Ordnung« an (Koschorke 2012: 236). Das heißt, dass die sinnstiftende Kraft von Narrativen nicht in den jeweiligen Inhalten zu suchen ist, sondern in der strukturellen Typisierungskomponente liegt (MüllerFunk 2008: 29). Erzählungen typisieren Welt (Allport/Postman 1965). Gegebenheiten sind demnach komplex, sofern sie ungeordnet und nicht klassifiziert sind – unrein im Sinne Mary Douglas’ (1985). Erzählungen konstruieren eine zeitliche Ordnung, setzen Geschehnisse mit anderen Geschehnissen in Verbindung und konstruieren so historische Zusammenhänge. Mit Konjunktionen wie ›und‹, ›weil‹, ›damit‹, ›um zu‹ oder ›ungeachtet‹ werden Kausalbezüge hergestellt. So werden »ausgehend von zerstreuten Einzelereignissen signifikante Gesamtheiten« gebildet (Ricœur 1987: 60). Neben der Herstellung von Kausalbezügen besteht die zweite fundamentale Leistung des Erzählens in der Herstellung von Handlungsmächtigkeit, von agency. »Das Erzählen«, heißt es bei Koschorke, »steht so im Bund mit einem Animismus, der alle Wesen beseelt« (Koschorke 2012: 79). Wir haben bereits mehrfach gesehen, dass diejenigen Geschichten mit einer hohen öffentlichen Resonanz rechnen können, die außerordentliche, irritierende Verhältnisse mit menschlichen Intentionen in Verbindung bringen (ebd.: 78; Paris 1998). Abstrakte Geschichten ohne Helden und Bösewichte stoßen höchstens beim betreffenden Fachpublikum auf Verständnis. Die Zuschreibung von Intentionalität gilt umso mehr für Krisendiagnosen: Sie fordern Sündenböcke und Handlanger, Helden und Opfer (Giesen 2004a). Eine ›gut‹ erzählte Geschichte ähnelt in dieser Hinsicht der Aufklärung eines Verbrechens: Ereignisse werden menschlichen Handlungen untergeordnet, und diese wiederum persönlichen Intentionen (Giesen/Gerster/Meyer 2014). In diesem Punkt distanzieren wir uns von Bernd Giesens Theorie der Krisendiagnostik (Giesen et al. 2014: 191 ff.) und behaupten, dass im breiten öffentlichen Diskurs weiterhin die Zuschreibung von agency im Vordergrund steht.29 So folgt die öffentlich diskutierte Geschichte hinter 29 »Von Krise reden wir, wenn sich mit dem vorhandenen Wissen der kurzfristige Ausgang der gegenwärtigen Geschichte nicht mehr voraussagen lässt, wenn die verschwörungstheoretische Vorstellung von intentionalem und
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DAS NARRATIV: ARGUMENTATION UND TRIGGER
der Krisendiagnose der Logik eines klassischen Helden- und Schurkenmythos (Campbell 1971) – man denke an die gängigen Narrative der »raffgierigen Banker« während der Finanzkrise 2007. Eines der bekanntesten »Gesichter der Finanzkrise« (Der Spiegel) ist Fabrice Tourre, Spitzname »Fabulous Fab«. Immer wieder fällt sein Name in Artikeln, wenn es um Schuld- und Verantwortungsfragen rund um die Finanzkrise geht. Tourre wird zum Inbegriff eines ›Wall-Street-Verschwörers‹ stilisiert. Am 24. Januar 2014 veröffentlicht das manager magazin ein Kurzportrait unter dem Titel »Skandalbanker mit Ambitionen: Der fabelhafte Professor Tourre«: »Fabrice Tourres Laufbahn ist bereits beeindruckend: In der Finanzkrise führte er Goldman Sachs in einen der größten Investmentskandale, wofür ihn kürzlich ein Gericht als ersten Wall-Street-Banker schuldig sprach. Nun kommt der nächste Coup: ›Fabulous Fab‹ will in die Wissenschaft. Wer in Hollywood nicht spätestens jetzt zum Hörer greift, hat wohl seinen Job verfehlt: An der Universität von Chicago schickt sich ein junger Mann an, seinen Doktor in Wirtschaftswissenschaften zu machen, mit dem Ziel, später möglicherweise einmal Studenten in die Geheimnisse des Investmentbankings einzuführen. Sein Name: Fabrice Tourre«.30
Derartige Erzählungen stiften eine lineare Ordnung des Zeitlichen und legen Handlungsintentionalitäten offen. Sie »helfen«, schreibt Zygmunt Bauman, »den nach Verständnis suchenden, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, Handlungen von ihren Begleitumständen, den Handlungsstrang vom Hintergrund und die Helden [oder Schurken, K. M.] im Zentrum des Geschehens von den zahllosen Statisten und Strohmännern« (Bauman 2005: 28). Dabei stützen sich Geschichten auf kulturell vorgeprägte Erwartungen. Kein Plot kann gänzlich innovativ oder neu sein. Dies würde beim Publikum auf Unverständnis stoßen. Narrative folgen kulturellen Schemata und mythischen Archetypen. Sie bieten sowohl dem Erzähler als auch seinem Publikum Orientierung. Die Aussage »die Welt wird schlechter« ist noch kein Narrativ. Sie transportiert zwar eine tragische – beziehungsweise je nach Ton auch satirische – Wertung, verfügt jedoch über keinen Plot. Es ist eine Prognose. Sie könnte jedoch erzählerisch ausgebaut werden, indem man sie beispielsweise mit der melancholischen Perspektive des Rückblickenden verbindet: »Die Welt wird schlechter, damals war eben alles besser: schuldigem Handeln nicht mehr greift und wenn die verfügbaren und gewohnten Routinen die Steuerung der gegenwärtigen Verhältnisse nicht mehr erlauben« (Giesen et al. 2014: 192). 30 http://www.manager-magazin.de/finanzen/artikel/ex-goldman-sachs-banker-fabrice-tourre-will-professor-werden-a-945330.html (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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Während man früher noch mit seinen Mitmenschen von Angesicht zu Angesicht interagierte, blickt heute jeder vereinsamt auf einen Bildschirm...«. Diese romantisch-verklärte Perspektive auf die Vergangenheit transportiert ein klar erkennbares kulturkritisches Narrativ. Die Prognose könnte auch mit einem konspirologischen Narrativ ausgeweitet werden. Nehmen wir ein aktuelles Beispiel und betrachten die Skepsis des Geistes- beziehungsweise Kulturwissenschaftlers vor »Big Data«, hier vorgetragen von der Wissenschaftsjournalistin Sue Halpern: »Da im Internet der Dinge menschliches Verhalten in massivem Umfang aufgezeichnet und kommerziell ausgewertet wird, schafft es die perfekten Bedingungen für die Stärkung und den Ausbau des Überwachungsstaats. Heizung, Kühlschrank, Fitneßgerät, Kreditkarte, Fernseher, Rollos, Waage, Medikamente, Kamera, Herzfrequenzmonitor, elektrische Zahnbürste, Waschmaschine, Telefon – in der Welt des Internets der Dinge erzeugt alles einen endlosen Strom von Daten, der für den, der ihn erzeugt, größtenteils außer Reichweite ist, nicht aber für den, der bereit ist, dafür zu zahlen, oder ihn sonst irgendwie anfordern kann« (Halpern 2014: 16).
Die narrative Strukturierung folgt hier einem konspirologischen Plot: Es ist der trigger »Überwachungsstaat«, der eindeutig den technikund institutionenkritischen Grundton angibt. Erzählungen benötigen bekannte kulturelle Muster. In der hier von Sue Halpern vorgetragenen Geschichte ist es die verschwörungstheoretische Argumentation mit Vorder- und Hinterbühne, mit dem harmlosen Sichtbaren und dem wirkmächtigen Unsichtbaren.31 Das Öffentliche und Offensichtliche wird im konspirologischen Denken narrativ zum Ort der Intransparenz. Dekonstruiert man die Schemabildung weiter, dann lassen sich die bezeichnenden konspirologischen Aktanten offenlegen: die Strippenzieher und Nutznießer im Hintergrund, die Handlanger, die Verblendeten im Vordergrund, das wirkmächtige Geheimnis und die wahren, verheimlichten Intentionen. Während die Aktanten – narratologisch – den Ablauf der Geschichte strukturieren, lösen die trigger wertende Haltungen und – im Extremfall – soziale Aktivität aus. Im Gegensatz zu Koschorke (2016: 10 ff.) fassen wir unter trigger keine lebendigen charismatischen Wortführer, sondern einzelne Begriffe. Leitbegriffe wie »Überwachungsstaat« geben der darauf folgenden Argumentation eine – in diesem Fall: konspirologisch ausgerichtete – Erwartbarkeit: Sie übersetzen und kanalisieren Stimmungen in konkrete Verdachtsmomente und benennbare Schuldige. 31 Soweit folgen sowohl konspirologische als auch dämonologische Narrative der gleichen kulturell geprägten Schemabildung.
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Auch wenn man als neutraler Beobachter die politische Ausrichtung des jeweiligen Mediums mitreflektieren muss, so lässt sich doch ein mehr oder minder populärer Kanon konspirologischer Begriffe ausmachen: In Bezug auf spiegel.de besteht dieser seit 2013 aus »NSA«, »BND«, »Merkel«, »Kapitalismus«, »Europäische Union«, »Wohlfahrtsstaat«, »Google«, »Facebook«, »FIFA«, »TTIP«, »Lebensmittelindustrie« und »Pharmakonzerne« (Kap. 7.2). Überprüfen lässt sich diese These vom trigger-Begriff auf zweierlei Weise: Einerseits kann der Aufbau der Argumentation eines Artikels klare Rückschlüsse auf konspirologisches Denken zulassen, andererseits kann dies durch die Überprüfung der online-Kommentare unter den Artikeln geschehen. Letzteres ist auf Publikationen im Internet beschränkt. Hier muss noch eine zweite Konstellation in Betracht gezogen werden: Die Motivation eines Artikels kann sich gegenüber konspirologischen Überzeugungen verweigern. In diesem Fall sind es ausschließlich die Kommentare, die den Leitbegriff als konspirologischen trigger zu positionieren suchen. Ein heftig diskutiertes Beispiel hierfür wäre auf spiegel.de die Debatte um sogenannte »Chemtrails«. Diverse Kommentare zur »Europäischen Union« sind auch dieser Kategorie zuzuordnen – vor allem seit dem Referendum des Vereinigten Königreichs über einen möglichen EU-Austritt (Stichwort: »Brexit«). Zum Abschluss dieses Kapitels versuchen wir die spezifische Argumentationslogik sowohl von dämonologischen als auch von konspirologischen Narrativen mit einer von Bernd Giesen vorgeschlagenen Heuristik offenzulegen. In dem Aufsatz »Moralische Unternehmer und öffentliche Diskussion« unterscheidet Giesen zwischen einer magischen, einer moralischen und einer wissenschaftlichen (zum Beispiel einer medizinisch-psychiatrischen oder sozialwissenschaftlichen) Thematisierung des Drogenkonsums auf öffentlichen Plattformen (Giesen 1983). In Bezug auf unsere Forschungsfrage ist diese Unterscheidung sehr aufschlussreich: Verschwörungstheoretisches Denken oszilliert zwischen einer magischen und moralischen Thematisierung von Störungen der Sozialordnung. Idealtypisch sind dämonologische Narrative einer magischen, konspirologische einer moralischen Argumentation zuzuordnen. Dabei kann es zu Überschneidungen kommen. Magische Thematisierungsformen gehen von willentlichen Handlungen schuldiger Akteure als Ursache der Störung aus, siedeln diese jedoch über die Aberkennung primordialer Codes außerhalb der Grenzen der Gemeinschaft an: Dämonische Kräfte und fremde Verführer haben es geschafft, als externe und unsichtbare Akteure Macht über wehrlose Menschen zu gewinnen und sind verantwortlich für deren Unheil. Die Schuld bleibt bei magischer Thematisierung offenkundig personifizierund verkörperbar. Diese »magische Kombination von Voluntarismus und Externalismus erlaubt es einerseits, das Problem mit alltäglichen 201
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vertrauten Deutungsschema – Bedrohung und Konflikt – zu begreifen, andererseits aber auch die gesellschaftliche Gemeinschaft von Schuld frei zu halten und die Energien der Konfliktbewältigung ganz nach außen zu richten« (Giesen 1983: 238). Außenseiter und Minderheiten fungieren als Sündenböcke dieser Projizierung des Bösen in einen Außenbereich der Unreinheit. Betrachten wir als Beispiel die sogenannten Birther in Amerika: Indem sie davon ausgehen, dass Barack Obama kein gebürtiger Amerikaner ist, sondern je nach Theorie in Kenia oder Indonesien geboren wurde, wahren sie die Reinheit ihres kollektiven Binnenraumes. Für die Birther – zu den bekanntesten Vertretern gehört Donald Trump – ist Obama ein falscher und vor allem fremder Prophet. In ihrem Kern folgt diese Theorie einer magischen Argumentation: Der amerikanische Präsident kann kritisiert werden, ohne die institutionellen Strukturen zu beschmutzen. Werden verschwörerische Schurkengestalten innerhalb der primordialen Grenzen einer Gemeinschaft imaginiert, dann bekommt die öffentliche Thematisierung der Bedrohung einen moralischen Unterton. Zwar geht es auch hier um das willentliche und verantwortbare Handeln benennbarer Akteure, diese werden jedoch, im Gegensatz zur magischen Argumentation, der eigenen bedrohten Gemeinschaft zugeordnet. Dies ist in Erzählungen über den 11. September 2001 der Fall, die das Attentat als inside job beziehungsweise false-flag-Ereignis interpretieren. Hohe Regierungsbeamte und Militäroffiziere haben die bestehende normative Ordnung übertreten und Tabus gebrochen, obgleich ihnen die sakrosankten Regeln der Gemeinschaft bekannt sind und sie diese repräsentieren. Aus der Perspektive des Konspirologen ist dieses Vergehen moralisch doppelt verwerflich: Es ist nicht nur die Übertretung allein, die Empörung und Abscheu hervorruft, sondern die Scheinheiligkeit, hinter der sie sich verhüllt. Konspirologische Skandalisierungen suchen Einblicke in diese dunkle Tiefenschichtung der Moral zu gewähren. Für die Truther-Bewegung beweint die (Bush-)Regierung Opfer, die sie selbst geopfert hat. Der Performance der Politiker wird in diesem Fall die Glaubwürdigkeit aberkannt. Sie wird, mit Goffman gesprochen, als »unwahre Darstellung« gelabelt, die von der eigentlichen Wahrheit ablenken soll (Goffman 2003: 54 ff.). In einem moralisierenden Diskurs ist Wahrheit kein verhandelbares Gut. Das macht, folgt man Howard S. Beckers Theorie, »moralische Unternehmer« aus (Becker 1973). Wiederholen wir die bereits zitierte (Kap. 4) Fragestellung eines bekennenden Truthers: »Is truth merely a consensus? Or is truth something else, something holy and sacred?« (Kay 2011: 215).
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8. Das konspirologische Bild »Ein Bild zeigt so viel, ein Bild zeigt so wenig. Der Raum dazwischen reicht aus, um dich wahnsinnig zu machen« (Grady 2016: 68)
8.1 Die Fotografie und das Reale: Eine Scheinbeziehung Die Frage, die das konspirologische Bild aufwirft, betrifft in mehrfacher Hinsicht den ›heiligen Kern‹ des fotografischen Mediums: Zur Debatte steht nichts Geringeres als die Wahrheit der Repräsentation. Zweifelt man über diese, dann ergeben sich zwei verschiedene Argumentationslogiken: Entweder man stellt den fotografierten Referenten oder das Medium selbst in Frage. Diese Möglichkeit liegt in der Wesensart der Fotografie begründet:1 »Fotografien sind ikonisch und indexikalisch, mimetisch und mechanisch zugleich« (Binder 2013: 85). Sowohl das Abbild als auch das technische Herstellungsverfahren ermöglichen Spielräume zur Manipulation. Damit lässt sich der Wahrheitsgehalt einer fotografischen Repräsentation innerhalb drei verschiedener Wertungen aufnehmen: als real, als inszeniert (›falscher Referent‹) oder als technisch manipuliert (›falsches Medium‹). Folgt man Roland Barthes’ Phänomenologie des fotografierten Bildes – und auf diese werden wir uns in den folgenden Überlegungen öfters beziehen –, dann liegt die Kunst der Fotografie in der Herstellung von Latenz: Sie hebt sich selbst als Medium auf (Barthes 1989). Sie tut dies, indem sie den Betrachtungsfokus auf eine »reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war«, verweist (ebd.: 86). Den fotografischen Signifikanten auszumachen, ist zwar nicht unmöglich, erfordert jedoch wenigstens, so Barthes, »einen sekundären Akt des Wissens oder der Reflexion« (ebd.: 13). Für den ›alltäglichen‹ Betrachter einer Fotografie ist der Referent von Bedeutung, nicht das Medium. Da sich das Medium als Medium selbst aufhebt – beziehungsweise hinter dem Referenten versteckt –, spricht Barthes vom »Es-ist-so-gewesen« als Noema der Fotografie (ebd.: 87). Tatsächlich scheint Barthes in seinen Überlegungen hier weniger einen phänomenologischen als einen wichtigen kulturellen Aspekt zu treffen, steht dieses »Es-ist-so-gewesen« doch im Mittelpunkt jeder öffentlichen Debatte, die Fotografien anvisiert. Fotografien beanspruchen 1
Wir beschränken unsere Ausführungen über das konspirologische Bild auf die Fotografie. Selbstverständlich gibt es auch andere ikonische Darstellungsmuster konspirologischer Verdächtigungen, bspw. gezeichnete Karikaturen.
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DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
Wahrheit. Seit ihren Anfängen gelten sie als technisches Verfahren zur »Einschreibung des Realen« (Geimer 2010: 15). Mitte des 19. Jahrhunderts erhoffte sich beispielsweise William Henry Fox Talbot, ein Pionier auf dem Gebiet der Fotografie, »eine neue Art von Beweis« entdeckt zu haben. Er sprach in seinem Pencil of Nature von einer »stumme[n] Zeugenaussage des Bildes vor Gericht« (zitiert nach ebd.: 69). Es ist schwer vorstellbar, dass heutzutage ein Wissenschaftler derart bedenkenlos den naiven Fotorealismus verteidigen würde. Dennoch haftet jeder Fotografie ein Hauch dieser ›Realitätssehnsucht‹ bis heute an.2 Die Beziehung zwischen Fotografie und Realität ist somit eine unentschlossene. Denn die ›Sehnsucht nach dem Realen‹ kollidiert mit der Gewissheit, dass die Kunst der Fotomontage so alt ist wie das Medium selbst. Sofern man die Fotografie tatsächlich als »stumme Zeugenaussage« aufruft, muss man sich im gleichen Augenblick eingestehen – oder wenigstens verdrängen –, dass es sich hierbei um einen sehr leicht zu manipulierenden Zeugen handelt. Keineswegs muss es sich um einen intentionalen Betrug handeln. In seiner kunsthistorischen Studie über Bilder aus Versehen hat Peter Geimer eindrucksvoll die Anfälligkeit für Störungen und Parasiten des fotografischen Mediums dargestellt (Geimer 2010). Neben der technischen Täuschung und der ›Manipulation aus Versehen‹ können Abbildungen zudem ganz einfach inszeniert werden. Hierfür bedarf es keiner technischen, sondern schauspielerischen Mittel. Die Frage nach dem Status des Realen ist vom konspirologischen Bild nicht zu trennen. Sie haftet ihm an. Hier geht es offenkundig um Wahrheit. Wird diese Frage nicht gestellt, so kann das Bild auch kein konspirologisches sein. Dabei muss man unterscheiden, ob die Fotografie als »stumme Zeugenaussage« aufgerufen wird, oder ob das abgelichtete Geschehen – spectrum im Sinne Barthes’ – der Lüge bezichtigt wird. Je nach Argumentation fungiert die Fotografie entweder als Medium des Realen oder als Medium des Scheins. In unseren Bemerkungen werden wir das Augenmerk vor allem auf die erste Argumentationslogik legen: der Fotografie als Zeuge von Wahrheit. Trotzdem wollen wir an dieser Stelle kurz auf zwei Beispiele für Verdächtigungen eingehen, die hinter dem fotografischen Abbild Betrug wittern: die technische Manipulation und die Inszenierung. Unser Beispiel für eine technische Manipulation wurde bereits offiziell als Betrug – »der Premierminister duldet so etwas nicht«3 – eingeräumt. Ende 2015 kam es in Südindien zu erheblichen Überschwemmungen. Auch die Metropo2 3
Auch in Barthes’ klassischen Überlegungen zur Fotografie ist diese Sehnsucht deutlich herauszulesen. Zitiert nach spiegel.de: http://www.spiegel.de/politik/ausland/indien-narendra-modi-erntet-spott-fuer-manipuliertes-foto-a-1066030.html (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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DIE FOTOGRAFIE UND DAS REALE
(Abb. 11) Modi und die Katastrophe I: Diese Fotografie wurde auf dem offiziellen Twitter-Account des Regierungschefs veröffentlicht
lenregion von Chennai war betroffen. Da die Naturkatastrophe mehrere hundert Menschenleben kostete, musste Indiens Premierminister Narendra Modi performative Anteilnahme zelebrieren. Zwar sind derartige öffentliche Auftritte immer eine heikle inszenatorische Angelegenheit, doch die indische Regierung leistete sich einen gravierenderen Fauxpas. Gezeigt werden sollte ein Bild von Modi im Flugzeug über dem Katastrophengebiet mit Blick aus dem Fenster. Die Fotografie wurde jedoch in zwei unterschiedlichen Versionen veröffentlicht. Die Veröffentlichung auf dem offiziellen Twitter-Account von Modi zeigte einen anderen überschwemmten Untergrund als die Version, die von der Presseabteilung veröffentlicht wurde. Es spielt hier keine Rolle, welche Version die reale ist – beziehungsweise ob es überhaupt eine reale Version gibt und nicht beide ›gephotoshopt‹ sind. Von Bedeutung ist, dass durch die Veröffentlichung zweier unterschiedlicher Versionen des gleichen performativen Augenblickes die Inszenierung sich als solche selbst entlarvt: ein peinlicher Widerspruch. Die indische Regierung hat technisch – wenn auch etwas dilettantisch – an der fotografischen Abbildung des Realen nachgeholfen. Dass Bilder digital nachbearbeitet werden, ist zwar ein offenes Geheimnis. Jedoch darf der technische Eingriff selbst nicht offensichtlich werden. Auch wenn die indische Regierung die zweite Version schnell 205
DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
(Abb. 12) Modi und die Katastrophe II: Diese Version wurde von der Presse4 stelle der Regierung veröffentlicht
wieder aus dem Netz nahm, das ›Recht auf Vergessen‹ liegt im ›digitalen Raum‹ nicht mehr in den eigenen Händen. Das Bild wurde bereits geteilt, kommentiert, kritisiert und parodiert. 4 Für das Beispiel einer Inszenierung betrachten wir den 11. September 2001 (Abb. 13). Egal ob man von der konspirologischen LIHOP- (Let it happen on purpose) oder MIHOP- (Make it happen on purpose) Theorie ausgeht, jegliche Aufführung seitens der Regierung nach den Anschlägen ist hier reine – heuchlerische – Inszenierung einer dämonologischen Gefahr. Entrüstung, Wut und Trauer werden dann gedeutet als Schein, politisches Theater und hinterhältige Darstellung. Nehmen wir das bekannteste Bild von George W. Bush jenes Tages: Betrachten wir den Augenblick, in dem ihm die Botschaft überliefert wird. Konspirologisch betrachtet wird diese Momentaufnahme zur inszenatorischen Meisterleistung. Die Botschaft des ›terroristischen Anschlages‹, des territorialen Eindringens der schurkischen Anderen wird Bush während eines Momentes der reinen, erhabenen Unschuld übermittelt. Dass er vor Zweitklässlern sitzt, lässt die Bedrohung noch bedrohlicher, das Schurkische noch schurkischer und die Gefahr noch akuter er4
Quelle für beide Fotografien: http://www.spiegel.de/politik/ausland/indien-narendra-modi-erntet-spott-fuer-manipuliertes-foto-a-1066030.html (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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DIE FOTOGRAFIE UND DAS REALE
(Abb. 13) Die Überbringung der Botschaft vom 11. September 2001: für Kons5 pirologen eine performative Meisterleistung
scheinen. Folgt man den klassischen Hollywood-Skripten – man denke an dämonologische Katastrophenfilme wie Krieg der Welten (2005) –, dann wirkt die Darstellung von Gefahr am eindringlichsten, wenn das Leben der Kinder mit auf dem Spiel steht. 5 Alle klassifikatorischen Grenzziehungen, die der »Krieg gegen den Terrorismus« nach sich ziehen wird, sind in den Bildern der ›Botschaft an den Präsidenten‹ symbolisch vorgezeichnet: Die Reinheit der Vereinigten Staaten steht der Unmoral der »Achse des Bösen« gegenüber, die Sichtbarkeit Amerikas der Unsichtbarkeit einer terroristischen Bedrohung. Bushs Körpersprache und sein Blick zeugen für die Bereitschaft zum Kampf, die Kinder im Vordergrund für die Notwendigkeit einer Operation Enduring Freedom. Wer advokatorische Angst um Kinder ausdrückt, ist moralisch im Recht.6 Zwischen dem kindlichen Vordergrund und dem schurkischen Hintergrund thront Bush in einer Mischung aus notwendigem Mediator und besonnener Vaterfigur. 5
6
Quelle: http://www.newsweek.com/george-hw-bush-george-w-after-911get-back-white-house-right-now-282557 (letzter Abruf: 05. Dezember 2017, Copyright: Win McNamee/Reuters). »Wer Angst hat, ist moralisch im Recht, besonders wenn er für andere Angst hat und seine Angst einem anerkannten, nicht pathologischen Typus zugerechnet werden kann« (Luhmann 2008b: 160).
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DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
Wie gesagt, eine derartige Bildinterpretation muss notwendigerweise von einem konspirologischen Standpunkt ausgehen. Die politische Inszenierung performativer Bilder ist an eine Mitwisserschaft gebunden. Sonst wäre alles reiner Zufall. Den Bildern könnte keine intendierte symbolische Aufladung zugesprochen werden. In den weiteren Punkten dieses Kapitels werden wir die Perspektive jedoch ändern: Wir gehen nicht mehr von der konspirologischen Interpretation von Bildern aus, sondern betrachten die Interpretationen mit konspirologischen Bildern. Es wird um die Fotografie als »Zeugenaussage« gehen und nicht mehr um die Kritik am Bild. Die reinen konspirologischen Bilder werden als real angesehen und sollen beweisen, dass sich die Geschichte nicht so abgespielt hat, wie offiziell erzählt wird. Dabei bedienen sie sich, so unsere These, zweier besonderer Stilmittel: dem Blow-up-Beweis und dem konspirologischen Sfumato.
8.2 Blow-up-Beweise und konspirologisches Sfumato: Kennedy und der 11. September 2001 »This is our generation´s Kennedy assassination« (Korey Rowe)7 »Das einzige, was ich heute verkauft habe, waren Fotoapparate. In der Stunde nach dem ersten Schlag, haben wir zwischen 60 und 100 Kameras verkauft« (Chéroux 2011: 34 f.)8
Die Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas ist wohl das erste einschlägige Ereignis, das auch im großen Rahmen von den Medien konspirologisch aufgearbeitet wurde – und weiterhin aufgearbeitet wird. Grund hierfür ist zunächst einmal das Vorhandensein von Bildern, welche die Augenblicke des Attentates festgehalten haben. Auch die bildlich festgehaltene Ermordung Lee Harvey Oswalds, zwei Tage später, hat sicherlich nicht zur Beruhigung der Zweifel an der offiziellen Einzeltäterversion beigetragen. »Alle Diskussion über den Mord an Präsident Kennedy stützt sich auf diese Bilder« (Schneider 2010: 476). Anders als in Schneiders Studie wollen 7
8
Einer von drei Produzenten des konspirologischen 9/11-Dokumentarfilms Loose Change. Das Zitat stammt aus einem Interview mit der Zeitschrift Vanity Fair: http://www.vanityfair.com/news/2006/08/loosechange200608 (letzter Abruf: 4. Juli 2017). Die Aussage eines New Yorker-Drugstore Besitzers über den 11. September 2001.
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BLOW-UP-BEWEISE UND KONSPIROLOGISCHES SFUMATO
wir diese »Diskussion« jedoch keiner normativen Kritik unterziehen, sondern kurz auf zwei spezifische Aspekte der Bilder eingehen.9 Das Abgebildete wird auf diesen Bildern als reale Spur gehandhabt, sie fungieren als »stumme Zeugenaussage«. Nicht die Abbildung, sondern die Geschichte dazu soll als gefälscht entlarvt werden. Konspirologische Bildinterpretationen zweifeln am Kanon offizieller Erzählungen. Details am Referenten sollen beweisen, dass etwas nicht stimmen kann. Und auch wenn sie keine ›handfesten‹ Beweise liefern, so müssen derartige konspirologische Fotografien wenigstens das: Zweifel verbildlichen. Betrachtet man Fotografien, die derartige zentripetale Zweifel transportieren, dann fallen zwei Stilmerkmale immer wieder auf: Einerseits zeichnen sich diese Bilder durch einen hohen Grad an Unschärfe-Effekten aus – wir sprechen an dieser Stelle vom konspirologischen Sfumato –, andererseits werden einige dieser verschwommenen Stellen und Pixel durch sogenannte Blow-up-Kennzeichnungen hervorgehoben. Fotografische Bilder zeigen eine scheinbar permanente, vom zeitlichen Zerfall befreite Vergangenheit.10 Im Fall vom Attentat auf Kennedy 9
Schneiders eigentlich interessante Studie über das politische Attentat stellt sich selbst durch einen nicht weiter problematisierten normativen Standpunkt ins wissenschaftliche Abseits. Zwei Beispiele: »Der Verdacht glaubt lieber an das Unwahrscheinlichste, als sich mit den wahrscheinlichsten Wahrscheinlichkeiten zufrieden zu geben« (Schneider 2010: 429). Oder: »An der Entschlüsselung geheimer Botschaften in Zapruders Filmbildern haben sich unzählige paranoische Augenpaare beteiligt: Politiker, Kriminalisten, Mathematiker, Chirurgen, Medienspezialisten, Ballistiker, Schriftsteller, Kinoleute und eine weitere Gemeinde artifizieller Deuter, die heute noch auf diversen Websites ihre Gespenster hausen lassen« (ebd.: 478). Hier wird der Inhalt zugunsten einer schönen Formulierung aufgegeben. Allein diese zwei Beispielsätze transportieren eine Unmenge weiter zu klärender Fragen. Wir können sie nicht komplett dekonstruieren, nur so viel: Was sind »wahrscheinlichste Wahrscheinlichkeiten« im Vergleich zum »Unwahrscheinlichsten«? Wer verfügt über die Entscheidungshoheit dieser »wahrscheinlichsten Wahrscheinlichkeit«? Wieso sind die Augenpaare paranoisch? Stützt Schneider sich nicht selbst auf die Ergebnisse dieser »paranoischen« Kriminalisten und Schriftsteller? Ein letztes Beispiel: »Woraus aber speist sich die Zähigkeit des Verdachts, der sich im Jenseits des Staates, der Gerichte, der Wissenschaft, im Jenseits aller Wahrscheinlichkeit zu einem nationalen Konspirationsmythos aufgebläht hat?«. Diese Fragestellung ist sogar in sich widersprüchlich: Ein »nationaler Konspirationsmythos« bläht sich nicht im »Jenseits des Staates, der Gerichte, der Wissenschaft« auf. Ganz im Gegenteil: Er bläht sich im Zentrum auf und wird allenfalls mit peripheren Deutungen vermengt. Die ›Suche‹ nach dem »Jenseits aller Wahrscheinlichkeit« lassen wir an dieser Stelle gänzlich unberührt. 10 Genauer betrachtet ist die Zeitlosigkeit der Abbildung ein Trug: Sowohl analoge als auch digitale Bilder sind der ständigen Gefahr einer materiellen Zersetzung beziehungsweise Festplattenlöschung ausgesetzt.
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DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
(Abb. 14) Phillip Willis’ berühmteste Fotografie: Die Ermordung John F. Kennedys11
sind es vor allem die beiden kurzen 8-mm Aufnahmen von Abraham Zapruder und Orville Nix – jeweils von der gegenüberliegenden11Seite der Elm Street aufgenommen –, die sich tief im visuellen Gedächtnis der Medienlandschaft verankert haben.12 Beide Aufnahmen dauern jeweils nur wenige Sekunden, trotzdem, oder gerade deswegen, erzählen sie eine Vielzahl alternativer Geschichten. Zudem sind sie grobkörnig, unscharf, verwackelt, voller Bildsprünge und anderer Unregelmäßigkeiten. Diese Unreinheiten lassen sie als authentisch erscheinen: »Sensationelle Fotografien«, schreibt Wolfgang Ullrich, »sind oft unscharf – und fast ebenso oft macht erst die Unschärfe sie zur Sensation« (Ullrich 2009: 123). Diese verschleiernde Unschärfe bezeichnen wir als konspirologisches Sfumato. 11 Copyright: Phillip Willis. 12 An dieser Stelle sei nur kurz angemerkt, dass wir die harte Grenzziehung Roland Barthes’ zwischen dem Film und der Fotografie nicht teilen. In Die helle Kammer geht er davon aus, dass der Film die Pose des einzelnen Bildes unterbricht, beseitigt und leugnet (Barthes 1989: 88 ff.). Folgendes lässt sich hier einwenden: Einerseits besteht auch der 8-mm Film aus einer Aneinanderreihung von Einzelbildern, andererseits werden immer wieder Screenshots (Bildschirmfotos) von Filmen gemacht, um dann in Zeitschriften, Büchern, Fernsehsendungen und Internetseiten wie Fotografien interpretiert zu werden. In Bezug auf unsere Forschungsfrage halten wir die von Barthes vorgeschlagene Trennung zwischen Film und Fotografie somit für irrelevant.
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BLOW-UP-BEWEISE UND KONSPIROLOGISCHES SFUMATO
(Abb. 15) Konspirologisches Detail aus der Willis-Fotografie: der Black Dog Man13
Neben den beiden 8-mm Aufnahmen des Mordes an John F. Kennedy existieren auch einige Fotografien. Die bekannteste hat Phillip Willis geschossen (Abb. 14). Sie ist von der gleichen Seite aufgenommen wie die Nix-Aufnahme, etwas näher am Geschehen. Die Fotografie ist grobkörnig, fleckig und unscharf. Sie zeigt den Präsidenten kurz vor den tödlichen Schüssen. 13 Die Willis-Fotografie ist vor allem bekannt und brisant wegen ihrer linken Hälfte in der Bildmitte. Hier spielt sich das – konspirologische – Geschehen ab. Zumeist wird sie deshalb beschnitten und detailvergrößert wiedergegeben, was zugleich den Sfumato-Effekt verstärkt. Die unscharfe Vergrößerung des Bildes schafft in Bezug auf den Verdacht narrative Klarheit. Das konspirologische Sfumato und die Blowup-Kennzeichnung erzählen die Geschichte eines Schattenmannes, im Fall des Attentats auf Kennedy: des sogenannten Black Dog Man (Abb. 15). Der Kreis hebt die Bedeutung hervor. Derartige Fotografien, unscharf und vergrößert, stehen – neutral von außen betrachtet – immer vor der Frage, ob das, was man sieht, auch wirklich vorhanden ist? Material und Referent scheinen in einer nicht mehr klar zu differenzierenden Kippfigur zu verschwimmen (Geimer 2010). So kann es sich beim schwarzen ›Fleck‹ in der Mitte des Kreises tatsächlich um den Schatten 13 Quelle: http://jfk-officielverite.jimdo.com/umbrella-man-badge-man/ (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
eines Mannes handeln. Es könnte aber auch der Schatten eines Objektes sein, oder ein einfacher technischer beziehungsweise materieller Aussetzer. So heben die Vergrößerung und der Kreis zwar das Signifikat einer Konspiration hervor, die Vagheit des Signifikanten bleibt jedoch bestehen. Blow-up-Effekte tragen nicht notwendigerweise zur klaren Einsicht der Abbildung bei, irgendwann stößt jede fotografische Vergrößerung an die Grenzen ihrer eigenen Materialität – ob am Bildschirm oder in der Dunkelkammer. Von genau dieser Problematik handelt Michelangelo Antonionis Film Blow Up aus dem Jahr 1966. Thomas, ein junger, erfolgreicher Fotograf, beobachtet heimlich das Treiben eines Pärchens – eine junge, schlanke Frau und ein älterer Mann – in einem idyllischen Park. Er spannt und fotografiert. Er wird erwischt und flieht. Daheim beginnt er mit der Entwicklung der Negative und vergrößert sie so lange, bis er das Signifikat eines Mordes zu erkennen scheint. Schätzt man den ›Fleck‹ als real ein – das heißt: zählt man ihn zur Ebene des Referenten und nicht zur Ebene des Materials oder der Technik –, dann handelt es sich dabei um das punctum der Fotografie im Sinne Barthes’. Wir werden im folgenden Exkurs: Über das Bild in den sozialen Medien näher auf die Theorie von Roland Barthes eingehen. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass das punctum ein kleines, zufälliges Detail ist, das den Betrachter besticht, in den Bann zieht und nicht mehr loslässt (Barthes 1989: 36). Zum Wesen des punctum gehört auch, dass es nie zur Gänze durchschaubar, verständlich und, im Sinne Mary Douglas’, klassifizierbar ist (Douglas 1985). Ohne obskures punctum würde dem konspirologischen Bild jegliche soziale Brisanz verloren gehen: Das konspirologische Denken versucht zwar Intransparenz zu bekämpfen, ist bildlich gleichwohl darauf angewiesen. Je schlechter die Qualität der Aufnahmen ist, je grobkörniger, verpixelter und verschwommener die Auflösung der Fotografien, Filme und Screenshots ist, desto wertvoller sind die Bilder für konspirologische Interpretationen von Realität. Dies zeigt eindrucksvoll eine Betrachtung der Bilderflut zum 11. September 2001. Der Sfumato-Effekt wird hier auf eine natürliche Art und Weise verstärkt: Während die Aufnahmegeräte im Gegensatz zur Kennedy-Ermordung mittlerweile eine bessere Bildqualität gewährleisten, sind es Asche und Rauch, die einen Schleier über das Ereignis legen (Chéroux 2011). Die 9/11-Fotografien zeigen wenig Klares. Eher gehorchen sie einer Logik der Verführung: Sie locken mit Andeutungen, Hinweisen, Ungefährem (Baudrillard 2012; Giesen 2010: 103 ff.). Wie beim verschleierten Bild zu Sais halten sie den Betrachter dazu an, einen Blick hinter den Schleier zu werfen und das Geheimnis zu lüften (Assmann 1990). Die angedeutete Enthüllung weckt im Betrachter das Begehren nach einer ganzen Enthüllung »und 212
BLOW-UP-BEWEISE UND KONSPIROLOGISCHES SFUMATO
die Ahnung einer geheimen starken Wirklichkeit dahinter« (Giesen 2010: 64). Dylan Avery, Jason Bermas und Korey Rowe, die drei Macher hinter dem Dokumentarfilm Loose Change, haben die verführerische Logik solcher Bilder früh erkannt. Avery, die treibende Kraft hinter dem Projekt, schnitt den Film mit einem Budget von gerade einmal 2000 Dollar auf seinem eigenen Laptop zusammen. Der damals 22-Jährige stellte sein Werk der Öffentlichkeit erstmals im April 2005 online zur Verfügung. In den folgenden Monaten und Jahren erschienen mehrmals überarbeitete Versionen. Loose Change ist einer der meistgeklickten Filme in der Geschichte des Internets. Der Film ist eine Kollage aus konspirologischen Bildern und offenen Fragen, die das offizielle Narrativ – den 9/11 Commission Report – aufbrechen. Es geht weniger darum, ein kohärentes Gegennarrativ zu liefern, als vielmehr zu zeigen, dass alle anderen Erzählungen wahrscheinlicher sind als die offizielle. »It’s up to you«, lautet das Motto des Films, »ask questions. Demand answers«. Durch den Film führt eine kritische Erzählstimme. Kurze – und bisweilen aus dem Kontext gerissene – Äußerungen von amerikanischen Regierungsbeamten werden zwischendurch eingeblendet und konspirologisch hinterfragt. ›Geheime Dokumente‹ und ›Expertenmeinungen‹ sollen die These der Widersprüche, Ungereimtheiten und Lügen im 9/11 Commission Report untermauern. Inszenatorisch ist Loose Change dokumentarisch aufgemacht. Dessen ungeachtet dominiert rein ikonographisch das konspirologische Sfumato: Wiederholt werden diese Bilder eingefroren und detailvergrößert dargestellt (Blow-up-Beweise):
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DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
(Abb. 16-18) Loose Change: Konspirologisches Sfumato und die Sehnsucht nach erzählerischer Durchsicht14
Im folgenden Exkurs werden wir uns mit den Fotografien in den sozialen Medien auseinandersetzen.14 Diese Publikationsplattformen sind 14 Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=iE9LTYHiknE (letzter Abruf: 4. August 2016).
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EXKURS: ÜBER DAS BILD IN DEN SOZIALEN MEDIEN
gerade in Bezug auf das konspirologische Bild von grundlegender Bedeutung. Indem wir drei Idealtypen unterscheiden – das dämonologische Bild, das Selfie und das konspirologische Bild –, versuchen wir das konspirologische Bild gegenüber anderen beliebten online-Fotografien abzugrenzen und kulturwissenschaftlich genauer zu fassen. Exkurs: Über das Bild in den sozialen Medien Wir richten unser Augenmerk im folgenden Exkurs auf die Fotografie in den sozialen Medien.15 Unter sozialen Medien verstehen wir alle digitalen Plattformen, die es Nutzern ermöglichen, sich als Gemeinschaft zu inszenieren und auszutauschen. Seit Anfang des Jahrtausends bietet die Weiterentwicklung zum sogenannten Web 2.0 Internetusern die Möglichkeit, Daten nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu senden. Diese Digitalisierung der Massenmedien hat zu einer Neuverteilung innerhalb der publizistischen Machtverhältnisse geführt (Kap. 7.3). So hat die Stimme der klassischen Nachrichtenanbieter in den sozialen Medien einen in den letzten Jahren immer lauter werdenden Konkurrenten bekommen.16 Zu den derzeit bekanntesten sozialen Plattformstellern zählen Facebook, Google+, Instagram, Twitter oder Snapchat. Die Auswirkungen dieser Dezentralisierung der Datenproduktion auf die publizistischen Machtverhältnisse lassen wir an dieser Stelle unberührt. Wir wollen uns ausschließlich auf die zirkulierenden Fotografien in diesen Netzwerken konzentrieren. Dabei gehen wir von drei Idealtypen aus: Wir unterscheiden das dämonologische Bild, das konspirologische Bild und das Selfie. Wie jede sozial- beziehungsweise kulturwissenschaftliche Zergliederung in Idealtypen kann auch diese keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Trotzdem glauben wir an einen heuristischen Mehrwert, denn gemeinsam decken sie den Großteil der Bandbreite an fotografischer Inszenierung und Überformung von Sozialität in den sozialen Medien ab. So lassen sich beispielsweise touristische Landschaftsaufnahmen, die man öffentlich teilt, der Kategorie des Selfies unterordnen. Wir kommen darauf zurück. Den Stellenwert der Fotografie in Bezug auf die sozialen Medien quantitativ zu fassen, fällt schwer. Denn niemand kennt die genaue Anzahl an Bildern, die tagtäglich im Internet hochgeladen werden. Laut einer Reportage aus der Zeit von 2015 handelt es sich dabei wohl um »einige 15 Hierbei handelt es sich um eine leicht ausgearbeitete Version von Meyer (2016). 16 Dass heute alle bekannten Nachrichten- und Medienagenturen selbst offizielle Accounts auf diesen digitalen Plattformen führen, zeigt nicht zuletzt die privilegierte Position, in der sich die sozialen Medien in diesem Spiel um die Aufmerksamkeit Dritter befinden.
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Milliarden am Tag [...]. Aufgenommen von billigen Smartphones oder schicken Digitalkameras, im Urlaub an der Ostsee oder im Gewirr des syrischen Bürgerkrieges« (Die Zeit 28/2015: 149). Qualitativ ist davon auszugehen, dass die Fotografie – vor allem das Bild von sich selbst (Selfie) – in »Digitalen Kulturen« zur wichtigsten Währung sozialen Kapitals avanciert ist (Beyes/Pias 2014). Denn letztlich folgen die vielen sozialen Netzwerke im World Wide Web einer rituellen Logik: Wer dazugehören will, muss mitmachen (Turner 2005). Das heißt konkret: Man muss sowohl die Anderen beobachten als auch sich selbst öffentlich entblößen. Wer sich dieser rituellen Logik verweigert, kann auch nicht beanspruchen, Teil an dieser neu entstandenen digitalen Öffentlichkeit zu haben. Die Bilderflut in den sozialen Medien darf somit nicht einfach kulturkritisch denunziert werden. Hinter diesen Bildern steckt auch – durkheimianisch betrachtet – der Druck kollektiver Zugehörigkeit, die Sehnsucht nach dem ›Wir‹ (Durkheim 1994). Fassen wir die zirkulierenden Bilder in den sozialen Medien zuerst tabellarisch zusammen. Dabei ist unsere Heuristik sowohl an die klassischen religionssoziologischen Ansätze von Émile Durkheim (1994) und Mary Douglas (1985) als auch an Roland Barthes’ Bemerkungen über die Fotografie angelehnt (Barthes 1989). Wir unterscheiden die drei Bildtypen nach fünf verschiedenen Faktoren: ihrer fotografischen Stilrichtung (Art), ihrer bildlichen Aufladung, ihrer sozialen Funktion und – mit Bezug auf Barthes – ihrer Bedeutungsebene und Fokussierung. Seinen zwei klassischen Bedeutungsebenen des studiums und punctums fügen wir eine neue, dritte hinzu: das vacuum. Mit ihr glauben wir, dem rezenten Trend der Fotografie von sich selbst – welche weder studium noch punctum, weder spectator noch spectrum benötigt – gerecht zu werden. Zudem weisen alle drei Bildtypen ein spezifisches Textverhältnis auf: Während das dämonologische Bild auf einen Begleittext angewiesen ist und das konspirologische Bild offizielle Erzählungen anzweifelt, funktioniert das Selfie weitestgehend textlos. Das dämonologische Bild
Das Selfie
Das konspirologische Bild
Art:
piktorialistisch
selbstreferentiell
dokumentarisch
Aufladung:
symbolisch
ästhetisch
ontologisch
Funktion:
klassifizierend
repräsentierend
dekonstruierend
Bedeutungsebene:
studium
vacuum
punctum
Fokussierung:
spectator
operator
spectrum
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EXKURS: ÜBER DAS BILD IN DEN SOZIALEN MEDIEN
Das dämonologische Bild Dämonologische Bilder sind immer symbolisch aufgeladen. Sie schocken weniger durch das, was sie abbilden, als durch den Verweis auf eine Geschichte, für die sie stehen. Wer diese Horror- und Schreckensgeschichten nicht kennt, lässt sich auch nicht vom Bild in seinen Bann ziehen. Dieser Link wird durch eine symbolische Decodierung hergestellt. Wer das Symbol nicht versteht, gehört auch nicht zur rituellen Angstgemeinschaft. Nehmen wir ein einfaches Beispiel aus dem Frühjahr 2014: Eine Fotografie eines weißen Transporters, die auf Facebook und anderen sozialen Medien auf erhebliche Resonanz gestoßen ist (Abb. 19). Wie so häufig in digitalen Netzwerken wurde auch dieses dämonologische Bild mit einer kurzen Anekdote geteilt. Der Text hilft bei der symbolischen Decodierungsarbeit: Man kann den eigenen Erfahrungsschatz auf Ähnlichkeiten überprüfen. Denn Symbole besitzen »keine feste Syntax wie andere Zeichen«, sondern wirken, so Soeffner, im Kontext einer »von ihnen evozierte[n], eigene[n] Realität« (Soeffner 2010: 18). Deswegen folgen dämonologische Bilder einer piktorialistischen Stilrichtung. In den Anekdoten unserer Beispielfotografie wurde auf Augenzeugen verwiesen, die den Kleinlaster in einem bestimmten Landkreis gesehen hätten. Es handele sich dabei um die osteuropäische Kinderschändermafia.17 Man solle auf die eigenen Kinder aufpassen – und weiße Transporter mit osteuropäischen Kennzeichen im Auge behalten. Die Polizei sah sich mancherorts gezwungen – etwa in Duisburg und Stuttgart – offizielle Dementis zu veröffentlichen: Die Geschichte sei ein Hoax, eine Falschmeldung, eine moderne Sage.18 Die Wahrheit berührt uns an dieser Stelle nicht. Von Bedeutung ist, dass dämonologische Bilder an bekannte kulturelle Erzählungen anknüpfen und es damit beim spectator schaffen, an ein ›Wir-Gefühl‹ zu appellieren.19 Sie schaffen eine »liminale Communitas der Gefahr« (Turner 2005). Anders als beim Selfie und dem konspirologischen Bild richtet sich die Fokussierung hier auf den spectator im Plural: Im Mittelpunkt steht das Wir – und die dämonologische Angst vor dem Anderen. Die Abbildung eines dämonologischen Bildes führt wenig Schockierendes mit sich. Sie ist nicht zu verwechseln mit jenen Ablichtungen, 17 In manchen Versionen war auch von der Organmafia die Rede. 18 An dieser Stelle sei nur kurz erwähnt, dass die Sagenforschung den sozialen und technischen Entwicklungen hinterherhinkt. Moderne Sagen (urban legends) und dämonologische Bilder erfreuen sich in den digitalen Netzwerken einer großen Beliebtheit. Kulturwissenschaftlich muss dieses Terrain noch genauer erschlossen werden; siehe hierzu den Exkurs: Über das Gerücht. 19 In unserem Beispiel: ›Rotkäppchen und die osteuropäischen Wölfe im weißen Transporter‹.
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DAS KONSPIROLOGISCHE BILD
(Abb. 19) Der weiße Transporter20
die Barthes als »Schockfoto« bezeichnet. Diese bilden Leid direkt ab und schockieren gerade deswegen, da man den Blick freiwillig auf sie richtet und nur schwer abwenden kann (Barthes 1957). Dämonen hingegen verbergen ihr wahres, ungeheures Gesicht hinter einer harmlosen, alltäglichen Fassade (Giesen 2010: 143 ff.). Die Schockerfahrung des dämonologischen Bildes wird somit erst durch das studium vermittelt. Kennt man den konkreten kulturellen Kontext, den das studium offenlegt, nicht, so erkennt man auch nicht das Dämonische hinter der fotografierten Belanglosigkeit. 20 Ein anderes Beispiel hierfür: Schauen wir uns die Geschehnisse der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof an. Sie sorgten im Internet – sowohl bei den klassischen Nachrichtendiensten als auch in den sozialen Netzwerken – für eine hitzige Veröffentlichungsflut. Die geteilten Fotografien waren jedoch so alltäglich wie unspektakulär. Man sieht auf den ersten Blick – wie beim weißen Transporter – weder Außergewöhnliches noch Beängstigendes: Sie zeigen eine dichte Menge an – größtenteils dunkelhaarigen – Männern im öffentlichen Raum.21 Erst das studium 20 Q u e l l e : h t t p : / / w w w. s c h w a r z w a e l d e r- b o t e . d e / m e d i a . f a c e b o o k .7152c6b9-29d9-4be6-92c7-9c7531d91f5a.normalized.jpg (letzter Abruf: 4. Juli 2017). 21 Auf manchen Fotografien sind zudem brennende Feuerwerkskörper und johlende Männergruppierungen zu erkennen. Doch auch diese Bilder haben nichts Außergewöhnliches an sich, begleiten sie doch so gut wie jedes gut besuchte Fußballspiel in Deutschland.
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EXKURS: ÜBER DAS BILD IN DEN SOZIALEN MEDIEN
sorgt für die emotionale Wirkung beim Betrachter des Bildes. Es vermittelt die schockierende Botschaft, das Symbolhafte der Abbildung. Dämonen müssen appräsentiert werden, dann ziehen sie einen in ihren Bann. Dabei muss dieses ›In-den-Bann-ziehen‹ nicht notwendigerweise durch besondere Heftigkeit gekennzeichnet sein, es reicht, wie Barthes bemerkt, »eine Art allgemeiner Beteiligung« (Barthes 1989: 35). Das macht die hohe Resonanzkraft dämonologischer Bilder aus. Wie alle symbolischen Abbildungen sind auch dämonologische Fotografien immun gegenüber Widersprüchlichkeiten und klassifizieren die Welt (Douglas 1985; 2004). Sie ziehen klare Grenzlinien: ›Wir‹ gegen die ›Anderen‹, die ›Guten‹ gegen die ›Bösen‹, die ›Reinen‹ gegen die ›Schmutzigen‹, die ›Sittsamen‹ gegen die ›Perversen‹. Dämonologische Fotografien verbildlichen, wer Freund und wer Feind ist. Sie schützen das Zentrum und schließen aus. Mit nüchternen Argumenten ist dem nur äußerst schwerlich entgegenzuwirken. Der Verweis auf die Alltäglichkeit der Abbildung offenbart lediglich, nicht dem betroffenen ›Wir‹ anzugehören. Der symbolisch soziale Gebrauch von dämonologischen Fotografien zeigt, dass letztlich die Gemeinschaft die Bedeutung des Bildes ist (Giesen et al. 2014: 170).
Das Selfie Der Siegeszug des Selfies begann 2012. Mochte man damals noch an eine reine Modeerscheinung glauben, so ist heute nicht mehr zu bezweifeln, dass sie zu einem »stabil beliebten Genre von Bildern geworden sind« (Ullrich 2015: 32). Das Selfie dominiert die digitale Netzwerkwelt.22 Im Selfie fallen operator, spectator und spectrum – im Sinne Barthes’ – in sich zusammen. Das heißt: Der Fotograf fotografiert sich, um sich selbst zu betrachten. Die Fokussierung liegt ausschließlich beim operator, denn er nimmt zugleich die Positionen des spectator und des spectrum ein. Auch wenn man Selfies teilt, geht es weniger um die Betrachtungen der Anderen, als vielmehr darum zu zeigen, dass man sich selbst noch immer als spectrum – im Sinne von: Spektakel – betrachtet (Barthes 1989: 17 ff.). Ein beliebtes Selfie-Motiv ist das Posieren vor dem Spiegel. Der Blick des Fotografen geht dabei meistens Richtung Kamerabildschirm: Er betrachtet sein eigenes Abbild und nicht die potentiellen anderen Betrachter wie beim klassischen Selbstporträt. Wir distanzieren uns somit 22 Laut Oxford Dictionary handelt es sich deshalb beim Selfie um »ein Foto, das jemand von sich selbst, üblicherweise mit dem Handy oder der Webkamera, aufnimmt und über soziale Netzwerke teilt« (online abrufbar unter: http://www.oxforddictionaries.com/de/definition/learner/selfie; letzter Abruf: 27. Juli 2016).
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von Theorien, die den Sinn des Selfies innerhalb des kommunikativen Aktes mit anderen situieren (zum Beispiel: Ullrich 2015). Wir behandeln das Selfie an dieser Stelle als – mit leichter Anlehnung an Husserl formuliert – rein egologische Fotografie. Es ist diese Fokussierung auf den operator, die das Selfie kulturgeschichtlich von älteren Selbstporträts unterscheidet. War das Porträt früher an die Gunst eines Gönners und das Talent eines Künstlers angewiesen, gibt es heute genauso viele ›Porträtierte‹ wie ›Porträtierer‹. Aus dem Selbstporträt des Künstlers ist eine digitale Spielerei für jedermann geworden, der über das nötige technische Equipment verfügt. Hinter der Huldigung des eigenen Bildes sind keine sozialen Stellungsmarkierungen mehr ausfindig zu machen, keine Botschaften an die Nachwelt, kein sakraler Link.23 Selfies haben nichts Überraschendes an sich: weder in ihrem Vorkommen noch in ihrer Abbildung. Ein Foto wirkt aufregend und anziehend, »sobald man nicht weiß, warum es aufgenommen wurde« (Barthes 1989: 43). Dieses Überraschungsmotiv wurde von der Veröffentlichungsflut an Selfies weggeschwemmt. Höchstens der Bewunderer einer bestimmten Person, der Fan, lässt sich beim x-fachen Anblick der gleichen fotografierten Pose noch emotional berühren. Dies ist der Wesenszug jeder selbstreferentiellen Art: Entweder der Betrachter ist überwältigt oder schaut unberührt und gelangweilt weg. Das Selfie ist eine Fotografie ohne punctum, ein Bild ohne jedwede Überraschung. Man erblickt darauf weder etwas Seltenes noch etwas Bewegendes, weder etwas künstlerisch Anspruchsvolles noch etwas Originelles (Barthes 1989: 42 f.). Selfies sind durch einen hohen Grad an Isomorphismus gekennzeichnet. Es gibt darauf keinen originellen Fund. Sieht man die Redundanz der Abbildungen auf einen Blick, dann geben die Selbstporträts sich leicht der Lächerlichkeit preis. Zumindest für den außenstehenden Beobachter. Klickt man auf Facebook auf den Ordner ›Profilbilder‹ befreundeter oder fremder Personen und erblickt alle bisher veröffentlichten Selfies im Kleinformat nebeneinander gereiht, dann erkennt man allzu deutlich: Der Ausdruck einer Person hat sogar bei der Darstellung verschiedener Emotionen eine nicht zu verbergende Grundähnlichkeit. Diese Eigenart lässt Selfies wie ›vermenschlichte Emoticons‹ wirken: das immergleiche Lächeln, der immergleiche Kussmund, der immergleiche Schmollmund usw. Da das Selfie als Bild ohne punctum oder studium funktioniert,24 ist es an dieser Stelle sinnvoll, Barthes’ Phänomenologie des fotografischen 23 Im Mittelalter wurden Selbstbildnisse zumeist in sakrale Werke eingebunden. Damit erhoffte der Künstler, »dass der dankbare und bewundernde Betrachter beim Beten an den Urheber denken möge« (Hall 2015: 12). 24 Natürlich könnte man hier einwenden, dass unsere Bemerkungen über das Selfie dem studium angehören. Jedoch macht es Sinn, zwischen einem
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Blickes um eine weitere Bedeutungsebene zu ergänzen. Hierfür führen wir den Begriff des vacuum ein. Auf einer ersten Ebene benutzen wir den Begriff nach seiner lateinischen Herkunft: Mit vacuum meinen wir zuerst einmal »die Leere«. Denn die Botschaft, die ein Selfie transportiert – die Neuigkeit –, ist tatsächlich: nichts. Das Signifikat hat die Position des Signifikanten eingenommen. Dahinter befindet sich nichts mehr. Die Aufladung des Selfies ist rein ästhetisch. Es zählt nur der Schein der Oberfläche. Das Selfie gehört zur sogenannten ›Like-Kultur‹ sozialer Medien. In ihrem Essay über das Geheimnis im Zeitalter »Digitaler Kulturen« weisen Timon Beyes und Claus Pias darauf hin, dass diese Likes weniger der politischen Partizipation dienen, als vielmehr der Logik vormoderner »Rituale des Konsens« folgen (Beyes/Pias 2014: 115, Hervorhebung im Original). Dabei handelt es sich um einen Konsens in seiner äußersten Form, denn inhaltlich steht nichts auf dem Spiel. Es verwundert kaum, dass die Kommentare unter den Facebook-Profilfotos immer die gleichen sind: »wunderschön«, »Hübscheste«, »cooler Typ« usw. Hierin liegt zugleich das Rezept für den kulturübergreifenden Erfolg des Selfies begründet: Da ausschließlich die fotografische Form und nicht der abgelichtete Inhalt zählt, werden sie auf der ganzen Welt ›verstanden‹. Der Begriff des vacuum lässt noch eine weitere Bedeutungsebene zu: die des Vakuums. Vakuumieren heißt, das Flüchtige zu konservieren, es vor jeglicher zersetzenden Materie zu behüten. Im Gegensatz zum Festen und Beständigen kann das Flüssige und Flüchtige ohne Hilfe kaum seine Form wahren (Bauman 2003). Das Vakuum überformt. Auch aus dieser Perspektive muss das Selfie somit betrachtet werden: Das vacuum ist der fotografische Ausweis einer eigentlich flüchtigen, pulsierenden Identität. Es steht zugleich für das ›Wir‹ und das ›Nichts‹ (Giesen 2016). Gerade an Gruppenselfies lässt sich dies paradoxerweise am besten herauslesen. Es zählt der Augenblick, die festgehaltene Stimmung, das Spektakel des Selbst. Diese egologische Fokussierung auf die reine Gegenwart führt zur radikalen Kurzlebigkeit des einzelnen Selfies. »Ein Selfie, das aus einer Laune heraus entstanden ist«, schreibt Wolfgang Ullrich, »hat für Urheber wie Rezipienten schon nach kürzester Zeit so wenig Belang wie ein alter Einkaufszettel oder eine bereits abgehörte Nachricht auf dem Anrufbeantworter« (Ullrich 2015: 35). Verschiedene beliebte Apps gehen gar soweit, dass sie die hochgeladenen Fotos ›alltäglichen‹ und einem ›wissenschaftlichen‹ studium zu unterscheiden. Anders formuliert: Es gibt studium erster Ordnung und studium zweiter Ordnung. Unsere Bemerkungen gehören der zweiten Ordnung an, also dem studium über das vacuum der Fotografie.
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nach wenigen Sekunden löschen und nicht speichern. Das vacuum löst sich schnell in Luft auf. Und damit löst das Digitale zugleich eine der Grunderrungenschaften der Fotografie auf: Es geht bei derartigen Applikationen gerade nicht mehr darum, Wirklichkeit auf Dauer zu konservieren. Der performative Sinn des Fotografierens liegt hier nicht in der Erinnerung, sondern in der rituellen Überhöhung des Alltags. Unter diesem Gesichtspunkt können auch die Skandalbilder aus Abu-Ghraib als Selfie beziehungsweise Gruppenselfie betrachtet werden (Binder 2013). Ein weiterer Aspekt scheint uns hier noch erwähnenswert: Vakuumierte Augenblicke lassen sich gut und schnell miteinander vergleichen: Arm ausstrecken, knipsen, anschauen, hochladen, anschauen, gegenüberstellen, bewerten – vielleicht noch liken, kommentieren und wieder vergessen. Den Erfolg einer derartigen Vergleichskultur hat Zygmunt Bauman bereits vor fast zwei Jahrzehnten vorausgesehen: »Es heißt nur, daß wir heute am Ende der Ära vorgefertigter ›Bezugsgruppen‹ stehen und in das Zeitalter des ›universellen Vergleichs‹ eintreten« (Bauman 2003: 14). Um konkurrenzfähig zu bleiben, muss das zu Vergleichende immer wieder neu in Form gebracht werden. Dafür steht des vacuum des Selfies: für die Überformung. Wir haben weiter oben bereits auf die klassische Landschaftsaufnahme verwiesen. Auch diese lässt sich zum größten Teil mit der SelfieHeuristik erfassen. Wird sie digital veröffentlicht und geteilt, so gehört sie bereits ohne menschlichen Körper dem Vergleichenden des vacuum an. Trotzdem verliert die reine Landschaftsfotografie in den sozialen Medien immer mehr an Gewicht. Im Trend liegen hier Mischformen aus Selfie mit der zu vergleichenden Landschaft beziehungsweise Sehenswürdigkeit im Hintergrund: ein grinsendes Gesicht vor dem Eiffelturm, ein küssendes Pärchen vor dem Sonnenuntergang in der Karibik, eine kleine Reisegruppe vor dem Taj Mahal usw. Hier lädt das Selfie sich mit der auratischen Kraft des Souvenirs auf: Das Foto wird zum unwiderlegbaren Beweis, leiblich vor Ort gewesen zu sein (Giesen 2010: 207).25
25 Zum Schluss dieses Punktes noch eine kurze Anekdote: Ich habe nie verstanden, wieso einige Besucher in Museen die ausgestellten Werke fotografierten, z.B. die Mona Lisa im Louvre. Was mich bei derartigen Beobachtungen irritierte, war weniger das Übertreten eines Verbotes – zumeist wird das Fotografieren in Museen nicht erlaubt –, als vielmehr der Fakt, dass Bilder dieser Werke problemlos und vermutlich in besserer Qualität im Internet frei zugänglich sind. Heute weiß ich, dass dieses hektische Fotografieren
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Das konspirologische Bild »Gute Bilder«, schreibt Bernd Giesen in seinen Zwischenlagen, »sind Rätsel, die nicht gelöst werden können« (Giesen 2010: 63). Es ist genau diese anziehende, rätselhafte Ahnung beim Betrachten einer Fotografie, die Roland Barthes mit dem punctum zu fassen sucht. Ein kleiner Punkt – »Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt« (Barthes 1989: 36) –, der einen nicht mehr loslässt, gerade weil man nicht hundertprozentig klären kann, wieso das der Fall ist. Das punctum ist die Irritation. Sie sorgt für Fragen in Bezug auf den Status des abgelichteten Referenten. Während beim dämonologischen Bild der spectator und beim Selfie der operator in den Mittelpunkt der Fokussierung rücken, ist es beim konspirologischen Bild das spectrum. Konspirologische Fotografien prüfen die Realität. Sie sind ontologisch aufgeladen. Das heißt: Sie erheben Anspruch auf die Wahrheit und vergleichen das Abgebildete mit den betreffenden offiziellen Erzählungen. Während dämonologische Bilder auf einen erklärenden und bürgenden Begleittext angewiesen sind, versuchen konspirologische Bilder institutionalisierte Geschichte(n) zu widerlegen. Ein weit rezipiertes Beispiel hierfür wäre das Attentat auf John F. Kennedy (Kap. 8.2). Standbilder aus den beiden bekannten 8-mm Aufnahmen von Abraham Zapruder und Orville Nix oder Fotografien wie die von Phil Willis werden in Zeitschriften, Büchern, Dokumentationen und Internet-Foren immer wieder als Beweis herangezogen, dass Details aus dem Warren-Report so nicht stimmen können. Während sich die Fotografie mit der Aura des Realen umhüllt, hat der Text, konspirologisch gelesen, mit dem Stigma der Fiktion zu kämpfen. In den sozialen Medien erfreuen sich konspirologische Bilder einer großen Beliebtheit. ›Medienereignisse‹ wie die Attentate auf die Twin Towers oder die öffentliche Debatte um die Enthüllungen Edward Snowdens heizen diesen Trend immer wieder an. Betrachtet man die vielen Beiträge auf Facebook, Twitter oder unter den Berichterstattungen gängiger Nachrichtendienste, so kann, mit Bezug auf Heidegger, behauptet werden, das konspirologische Denken ist eine für unsere Zeit und Kultur typische Stimmung (Kap. 1.1). »Die Öffentlichkeit [...] hat nicht nur überhaupt ihre Gestimmtheit, sie braucht Stimmung und ›macht‹ sie für sich. In sie hinein und aus ihr heraus spricht der Redner« (Heidegger 1984: 138). Das Gleiche gilt für das Teilen von Bildern. der Logik des Selfies folgt: Es geht nicht um den abgelichteten Referenten, sondern ausschließlich um den operator. Nur er kann das vacuum des Bildes ausfüllen, nur er sieht sich wieder davor stehen. Für alle anderen ist es eine redundante und vermutlich sinnlose Fotografie eines bereits tausende von Malen fotografierten Kunstwerkes. Solche Bilder sind selbstreferentiell: Es geht um den Fotografen – nicht um die Mona Lisa.
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(Abb. 20) Das punctum, der Kreis und die konspirologische Stimmung26
Konspirologische Bilder sind beliebt, da sie nicht notwendigerweise mit vollkommener Überzeugung und hundertprozentigem Ernst interpretiert werden müssen. Es gibt eine spielerische Freude am Rätsel und Verbrechen, eine Sehnsucht nach Komplotten, die soziale Missstände dekonstruieren und erklären (Boltanski 2013). Im Gegensatz zu dämonologischen Bildern versuchen konspirologische Fotografien den Ursprung des Bösen innerhalb der eigenen sozialstrukturellen Grenzen darzustellen: Die Vertuschung kommt von ›oben‹, aus dem Zentrum. 26 Die Art der konspirologischen Fotografie ist dokumentarisch: Sie will Vertuschungen aufdecken, den Tatsachen entsprechend berichten. Hierfür ist sie auf das punctum angewiesen: Es zieht den Blick an und verfügt über eine »expansive Kraft« (Barthes 1989: 55). Das punctum bürgt für den realistischen Charakter des spectrum, es sorgt, um einen weiteren Begriff von Barthes einzuführen, beim Betrachten für einen »Wirklichkeitseffekt« (Barthes 1968: 171). Wichtig hierfür ist, dass es in der Abbildung nicht als inszeniert erscheinen mag. Das punctum in der konspirologischen Fotografie ist der pure Zufall, das Unkontrollierbare, der Beweis, dass etwas in Realität nicht so stattgefunden hat, wie es erzählt wird. Die Kritik an der Inszenierung muss dabei unterschlagen, dass sie freilich selbst mit den Stilmitteln der Inszenierung spielt. »Wenn bestimmte Details«, schreibt Barthes, »die mich ›bestechen‹ können, dies nicht tun, dann zweifellos deshalb, weil der Photograph sie mit 26 Ein häufig vorkommendes Bildmuster in Bezug auf den 11. September 2001, so bspw. in der weit verbreiteten Dokumentation Loose Change. Die Abbildung hier wurde gefunden auf: http://www.rense.com/general66/ P0001117cutC.jpg (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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Absicht plaziert [sic] hat« (Barthes 1989: 57). Die Darstellungsarten von Selfie und konspirologischer Fotografie sind somit gegensätzlich: Während das Selfie mit der künstlichen Überformung offenkundig spielen darf, muss letztere diese gerade verbergen. Das punctum, das oft durch sogenannte ›Blow-up-Umkreisungen‹ hervorgehoben wird, kann, mit Heidegger formuliert, dem Seinsmodus der »Auffälligkeit« zugeordnet werden (Heidegger 1984: 73 f.; hierzu auch Geimer 2010: 83 ff.). Das, was auffällt, ist dasjenige, was nicht problemlos klassifiziert werden kann und deswegen in einer »Zwischenlage« verweilt (Giesen 2010). Das punctum ist da. Man weiß nicht genau, warum es da ist: Es fällt auf. Es ist, wenigstens auf den ersten Blick, reiner Signifikant. Und es ist genau das Fehlen eines Signifikats zugunsten des Referenten, das Barthes als »Signifikat des Realismus« definiert hat: »Es kommt zu einem Wirklichkeitseffekt«. Die umkreisten Pixel ›schreien‹: »wir sind das Wirkliche« (Barthes 1968: 171, Hervorhebung im Original). Konspirologische Bilder sind auf diesen Realitätseffekt angewiesen: Ohne diesen kleinen, schattigen, umkreisten Stich würde unsere Beispielfotografie ihre ganze Wirkung einbüßen (Abb. 20). Das Unbeabsichtigte der Abbildung wird bei konspirologischen Fotografien immer wieder betont. Anders als beim dämonologischen Bild und beim Selfie kommt der Gleichzeitigkeit hier eine besondere Bedeutung zuteil: Die zufällige Begegnung zwischen dem unvorhersehbaren Ereignis und dem Knipsen des Fotografen macht die besondere Aura der konspirologischen Fotografie aus. Erst dadurch wird das Auffällige zum punctum und das gesamte spectrum interessant. Hierin ähnelt das konspirologische Bild der Zeitungsfotografie (Boltanski 1981). Konspirologische Bilder sind unscharf, ihr Signifikat ungewiss (Ullrich 2009). Dies wird durch drei Umstände bedingt: Erstens führt die – tatsächliche oder inszenierte – hektische, amateurhafte Handhabung der Zufallsaufnahme zu Wacklern und Verzerrungen. Zweitens sind es die Blow-up-Effekte und Vergrößerungen, die zu grobkörnigen Abbildungen führen. Drittens spielen viele konspirologische Bilder mit Sfumato-Effekten: Die Abbildungen wirken, als läge ein Schleier über ihnen (Kap. 8.2).27 Das Sfumato kann sowohl Produkt einer künstlichen Nachbearbeitung als auch Folge wirklicher Vorgänge sein – wie der Rauch nach den Angriffen vom 11. September 2001 (Chéroux 2011). Beim Betrachter wird hierdurch das Begehren geweckt, einen Blick hinter den Schleier zu werfen und das Geheimnis zu lüften (Assmann 1990). Die Blow-up-Effekte tragen ein gewisses Risiko bei der Bildinterpretation mit sich, wie Peter Geimer in seiner Studie zeigt: Je näher man an 27 Der Begriff Sfumato ist aus der Malerei übernommen. Es war Leonardo da Vinci, der die Technik des Sfumato perfektionierte: Mehrere Farbschichten
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eine Fotografie herangeht, desto mehr kommt ihre eigene Materialität zum Vorschein (Geimer 2010: 88 ff.). Dies gilt sowohl für das Papier der analogen als auch den Bildschirm der digitalen Abdrücke. Schaut man zu lange, zu genau und zu nah herangezoomt eine einzelne Fotografie an, dann steht man unweigerlich vor der gleichen Frage wie der erfolgreiche Jungfotograf Thomas in Antonionis Film Blow Up (1966): Gehört der Pixel, das einzelne Silberkorn zum Material oder zum Referenten? Die Fotografie an sich teilt nichts mit (Barthes 1989: 117). So könnte es sich beim umkreisten Stich in unserer Beispielfotografie um einen ganz profanen Fleck auf der Linse handeln. Das Gleiche gilt für den sogenannten »Black Dog Man« auf der Fotografie von Phillip Willis im Augenblick der Ermordung John F. Kennedys (Kap. 8.2). Die Unschärfe des konspirologischen Bildes lässt keine eindeutige Leseart zu und fordert damit sowohl die analytische Schärfe des Betrachters als auch die Geschlossenheit institutionalisierter Narrative heraus. Der Betrachter übernimmt – sofern das punctum ihn konspirologisch besticht – die Rolle des Detektivs (Giesen/Gerster/Meyer 2014). Die Annahme einer aufzudeckenden Verschwörung verleiht der konspirologischen Fotografie ein ihr eigenes Noema: Aus dem, wie Barthes es formuliert, »Es-ist-so-gewesen« (Barthes 1989: 87) wird ein »Es-ist-sogewesen-und-nicht-wie-behauptet-wird«.
verschwimmen in- und übereinander wie Rauch und legen so einen geheimnisvollen Schleier über das Bild (Prater 1999).
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9. Schlussbetrachtungen »You’re saying it’s a falsehood. And they’re giving – Sean Spicer, our press secretary – gave alternative facts to that« (Keelyanne Conway)1
9.1 Dissonanz: Über die Angst, (nicht) beobachtet zu werden Statt eines klassischen Resümees gehen wir an dieser Stelle auf eine Schlussbetrachtung ein, die eine Art von »kognitiver Dissonanz« analysiert, auf die wir bei der Durchforschung des digitalen empirischen Materials wiederholt gestoßen sind (Festinger 1978).2 Diese widersprüchlichen Handlungen in Bezug auf die kommunizierten Meinungen lassen sich unter dem trigger »Datenschutz« fassen (Kap. 7.4). Wieso teilen Menschen die Angst vor einem möglichen Missbrauch ihrer (digitalen) Daten gerade über die digitalen Medien mit? Wieso warnen User vor den undurchsichtigen Machenschaften von Facebook auf ihrem eigenen Facebook-Profil (Abb. 7)? Die Handlung steht hier kontrafaktisch dem kommunizierten Inhalt gegenüber. Das Thema »Datenschutz« wird in vielen online-Kommentaren konspirologisch behandelt. Dennoch scheint für die meisten User der Verzicht auf das Teilen von Daten keine ernstzunehmende Alternative darzustellen. »Datenschutz« ruft kognitiv dissonantes Verhalten hervor. Wir müssen uns damit kulturwissenschaftlich – und im Rahmen dieser Schlussbetrachtung sogar etwas kulturkritisch – auseinandersetzen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung an das Thema »Datenschutz« muss bei einer einfachen Frage anfangen: Was steht eigentlich zur Debatte, wenn wir von »Datenschutz« sprechen? Formalsoziologisch relevant ist an dieser Stelle die Figur des Dritten (Kap. 5.2). Denn wer den Schutz der eigenen Daten als bedroht ansieht, der wähnt einen interessierten Dritten, der heimlich mitlauscht, beobachtet und ausspäht. Dieser parasitäre Dritte macht sich Daten zu eigen, die weder ganz der Öffentlichkeit zugedacht waren (sonst stünde das Thema »Datenschutz« nicht zur Debatte) noch ganz privat waren (sonst hätte man sie nicht geteilt). 1 2
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=VSrEEDQgFc8 (letzter Abruf: 4. Juli 2017). Hierbei handelt es sich um eine stark ausgearbeitete Version von Meyer (2015).
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SCHLUSSBETRACHTUNGEN
Vor noch nicht allzu langer Zeit konnte dieser interessierte, aber ausgeschlossene und dennoch lauschende Dritte durch eine besondere Figur repräsentiert werden: den Spion. Mit der NSA-Affäre hat sich jedoch etwas geändert. Wofür IT-Experten Jahre zuvor noch als ›Verschwörungstheoretiker‹ oder ›Nerds‹ belächelt wurden, ist schlagartig öffentlicher Konsens geworden: Die Überwachung ist omnipräsent. Die konspirologische Erzählung über die geheimdienstlichen Machenschaften und Spionage-Affären hat, wie wir gesehen haben, zu einer Krise auf der repräsentativen Ebene geführt (siehe den Exkurs: Über die Spionage). Selbst der Mensch hat im Zuge der Entwicklungen auf dem Gebiet der Technik als Spion ausgedient. Auswertende Computerprogramme, beobachtende Satelliten und Drohnen haben seinen Platz übernommen. Spionage und Datenklau gehört heute in die Welt des Monitorings und Trackings. Die undurchsichtige Aktantenlage, fehlende Freund/ Feind-Klassifikationsmuster, unübersichtliche Intentionszuschreibungen und lose Solidaritätsbeziehungen haben so ein schwer eingrenzbares Gefahrenszenario entstehen lassen. Imaginär sind jene Gefahren eine große Herausforderung, die nicht sichtbar sind: »Das Unsichtbare reizt die Imagination stärker als das Offensichtliche« (Giesen 2010: 267).3 Diese kultursoziologische These der imaginären Aufladung unsichtbarer Gegebenheiten wollen wir an dieser Stelle erweitern. Dabei wollen wir die medial geförderte Angst vor einer allumfassenden Überwachung weder befürworten noch kritisieren, weder bekräftigen noch belächeln. Was wir vorschlagen, ist eine dekonstruktive Lesart, die – in der Tradition von Merton (1995) – die latenten Funktionen kollektiver Wirklichkeitsdeutungen offenlegt. Dann dient die ganze Projektion auf den ›Großen Bruder‹, die allumfassende Überwachungsmaschinerie und die konspirativen Institutionen auch dazu, sich gerade nicht damit auseinandersetzen zu müssen, dass wir die Beobachtung nicht allein fürchten und verteufeln, sondern vielmehr suchen und wünschen. Wir leben in einer Beobachtungskultur. Damit ist weniger eine dystopische Welt gemeint, wie sie fiktiv von Samjatin, Huxley oder Orwell beschrieben wurde, als vielmehr eine Kultur, in der Beobachtung zum wichtigsten sozialen Kapital avanciert ist. Das konspirologische Denken ist ein Produkt dieser Kultur. Dieser Link erklärt das dissonante Verhalten. Die vielen sozialen Netzwerke im World Wide Web folgen einer rituellen Logik: Wer dazugehören will, muss mitmachen (Turner 2005). Das 3
Als Beispiel vergleicht Giesen die Gefahr eines von Experten diagnostizierten Virus mit der Gefahr einer sichtbaren und von allen wahrnehmbaren Überschwemmung: »Diese kann jeder in Rechnung stellen und auf bewährte Vorsichtsmaßnahmen setzen, bei jener ist hingegen unklar, wer von ihm befallen ist und wer nicht, ob man selbst vielleicht schon betroffen ist und so weiter« (Giesen 2010: 267).
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DISSONANZ: ÜBER DIE ANGST (NICHT) BEOBACHTET ZU WERDEN
heißt: Wer dazugehören will, muss sowohl die Anderen beobachten als auch sich selbst öffentlich inszenieren. Wer sich verweigert, kann auch nicht teilnehmen an dieser neu entstandenen digitalen Öffentlichkeit. Der kollektive Druck innerhalb »Digitaler Kulturen« (Beyes/Pias 2014) ist beachtenswert: Denn Ausgrenzung – und nicht Inhaftierung oder Haft – gilt heutzutage, wie Zygmunt Bauman in einem Gespräch mit David Lyon über sein Konzept der »flüchtigen Überwachung« bemerkt, als schlimmste Bedrohung unserer existentiellen Sicherheit (Bauman/ Lyon 2013: 37). Integration funktioniert durch Beobachtung. In den Medien und in den vielen online-Kommentaren wird »Datenschutz« fast ausschließlich konspirologisch behandelt und allein mit dem Missbrauch zentraler Instanzen in Verbindung gebracht: mit dem ›Staat‹, der ›Polizei‹ und der Europäischen Union; mit NSA, BND und SRE; mit Google, Facebook und Co. Gleichzeitig leben wir in einer digitalisierten Kultur: einer Kultur des »Gefällt mir«, des »Teilens«, des Hashtags, Tweets und Retweets. Kultursoziologisch bedeutet das: Beobachtung versteckt sich nicht nur hinter Drohnen und Kameras. Beobachtung und Beobachtetwerden sind integraler Bestandteil unserer Event-, Konsum- und Wissenskultur. Missachtung bedeutet Ausschluss. Wir wollen somit gesehen werden. Wir wollen gestalkt werden. Deswegen ist das Selfie die am häufigsten veröffentlichte Fotografieform der letzten Jahre (siehe den Exkurs: Über das Bild in den sozialen Medien).4 Die öffentliche Debatte um den konspirologischen trigger »Datenschutz« zeigt, dass die Ethik der Beobachtung den technischen Entwicklungen »Digitaler Kulturen« etwas ›hinterherhinkt‹. Die Empörung über die Überwachung öffentlicher Räume ist – konsequent zu Ende gedacht – eine Farce. Ein öffentlicher Raum gänzlich frei von Videoüberwachung wäre zugleich ein menschenleerer Raum. Denn sobald halbwegs Ereignishaftes oder Elendiges geschieht, ist eine Handlung immer wieder zu beobachten: Die Augenzeugen zücken ihre Handys. Sie filmen und fotografieren. Sie laden hoch und teilen. Sie tweeten und kommentieren. Sie machen Selfies. Kurzum: Sie übernehmen die Rolle des Überwachers. Genau diesen Aspekt hat Zygmunt Bauman mit seinem Konzept der »flüchtigen Überwachung« zu fassen gesucht (Bauman/Lyon 2013). Das Internet ist kein öffentlicher Raum der Privatheit – wenigstens nicht auf eine unproblematische Art und Weise. Dass es so benutzt wird, führt zu dissonantem Verhalten. Dabei müsste gerade diese dem Internet 4
Natürlich urteilen wir hier aus der distanzierten Perspektive des Dekonstruktivisten. Auf der Ebene der handelnden Akteure trifft man auf das explizite Eingeständnis, den Mittelpunkt der Beobachtung aufzusuchen, eher selten: »Man sei in den sozialen Medien aktiv, weil alle anderen es auch sind«, lautet das vorherrschende öffentliche Statement.
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SCHLUSSBETRACHTUNGEN
inhärente Paradoxie im Schnittpunkt seiner Nutzung liegen: Niemand kann gleichzeitig Privatheit beanspruchen und öffentlich in Erscheinung treten.5 Hinzu kommt eine Verschiebung innerhalb der publizistischen Machtverhältnisse: Der bloße Konsument von Daten wird zusehends von flüchtigen Produzenten verdrängt (Kap. 7.3). Konnte man früher einen konkreten Journalisten zur Verantwortung ziehen, muss man sich heute gewahr sein, dass hochgeladene Daten einfach ohne Quellenangabe weiter geteilt werden können. Selbst der Urheber kann seine Daten nicht einfach kontrollieren: Das Recht auf Vergessen liegt im Internet nicht mehr in den Händen derjenigen, die vergessen wollen – erinnert sei nochmals an die Aufnahmen der Ermordung Ahmed Merabets durch die Charlie-Hebdo-Attentäter (Kap. 6.3). Ein kultursoziologisches Plädoyer für eine neue Ethik der – digitalen – Beobachtung darf weder ein mahnender Fingerzeig noch eine allzu einfache Lobrede auf das Geheimnis sein. Vielmehr geht es um Folgendes: Wir leben in einer Beobachtungskultur, in der sich die Angst, nicht beachtet und die Angst, überwacht zu werden, in einem digitalen Widerspruch äußern. Was bleibt – trotz der Dissonanz –, ist die Gewissheit, dass konspirologisches Denken ein Beleg für eine »offene Gesellschaft« im Sinne Karl Poppers ist (Kap. 2.1). Es ist Ausdruck einer den liberalen Demokratien inhärenten Paradoxie (Kap. 6.3). Dagegen zeugt dämonologisches Denken von einer konservativen Haltung. Beide Denkarten folgen der Melodie öffentlich aufgeführter Stimmungen: Sie können sowohl an- als auch umgestimmt werden. Dass dämonologisches Denken seit 2015 unter dem trigger »Flüchtlingskrise« vermehrt angestimmt wird, ist besorgniserregend und wenig überraschend zugleich. Denn der stimmungsvolle Anschluss gehorcht einer »pulsierenden Bewegung« (Giesen 2016). Hier bleibt weitere Forschung nötig: Es gilt, die zeitliche Dynamik und die kategorialen »Zwischenlagen« (Giesen 2010) dieser Bewegungen mithilfe der hier vorgeschlagenen Heuristik genauer zu dekonstruieren.
9.2 Konstanz: Postfaktisch und preängstlich Das Postfaktische ist in aller Munde. In den Feuilletons wird der Begriff inflationär eingesetzt. Trump: postfaktisch. Brexit: postfaktisch. Pegida: postfaktisch. Selbst kleine politische Rangeleien auf Lokalebene: postfaktisch. Es scheint, als würden die Lügner die politische Medienlandschaft überschwemmen. Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat »postfaktisch« zum Wort des Jahres 2016 auserkoren. 5
Sofern dies nicht advokatorisch aufgeführt wird, ist die Performanz zum Scheitern verurteilt.
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KONSTANZ: POSTFAKTISCH UND PREÄNGSTLICH
Das Argument der Medienvertreter ist klar: Wer vom Postfaktischen redet, unterstellt Populismus. Und diese Unterstellung ist häufig vorzufinden, oder, wie Angela Merkel es im Zuge des schlechten Abschneidens der CDU in der Berlin-Wahl im September 2016 formulierte: »Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen«.6 Merkels Formulierung war sehr geschickt gewählt. Denn indem sie den postfaktischen Zeiten ein »es heißt ja neuerdings« voransetzte, verwendete sie das Argument als Erklärung für die Wahlkampfniederlage ohne jegliches Risiko. Jedenfalls seien die postfaktischen Zeiten daran schuld, dass Populisten gerade ein leichtes Spiel hätten. Was in der ganzen verschwörungstheoretisch aufgeladenen Debatte um die Postfakten jedoch überrascht, ist, dass die konkrete Frage nach den Zeiten, in denen Menschen mehr den Fakten und weniger ihren Gefühlen folgten, eher selten gestellt wird. Die Antwort wäre jedenfalls sehr ernüchternd. Um es schnell und einfach auf den Punkt zu bringen: Das reine Fakt ist kein politisches Argument. Bereits lange vor Trump, Brexit, Pegida und Co. profitierte wirkmächtige politische Rhetorik von der emotionalen Kraft des Konjunktivs. Fakten bewegen keine öffentlichen Diskurse, sie erreichen immer nur den kleinen Teil der an ihnen interessierten Experten. Ängste und Emotionen hingegen bewegen und mobilisieren die breite Masse. Man muss nicht viel verstehen, um Angst zu haben. Wenn Politiker vor die Kameras und Mikrofone treten, dann sprechen sie zumeist von bevorstehenden Katastrophen und Krisen. Dies gehört zu ihrem Job. Sie wollen zeigen, was alles geändert werden muss und wieso man deswegen gerade sie wählen sollte. Sie appellieren ganz einfach an die Ängste der Menschen und rufen diese damit zugleich hervor. Genau dies tat auch Angela Merkel, indem sie das Wort postfaktisch in ihrer Rede verwendete. Das heißt: Nicht nur wer postfaktisch redet, sondern auch wer vom Postfaktischen redet, schürt Ängste. Ob populistisch oder nicht, ob in der Regierung oder Opposition, ob demokratisch oder totalitär: Politische Reden sind immer emotional aufgeladen. Sie müssen dabei ignorieren, dass zukünftige Krisen immer nur im Bereich des Möglichen liegen. Niemand kann die faktische Zukunft voraussehen. Politik argumentiert preängstlich. Postfaktisch hin oder her.
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Zitiert nach: http://www.tagesspiegel.de/politik/angela-merkel-im-wortlautwenn-wir-nicht-gerade-aus-stein-sind/14576252.html (letzter Abruf: 4. Juli 2017).
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Eine Auswahl aus unserem Programm Bernhard Giesen, Werner Binder, Marco Gerster und Kim-Claude Meyer (Hg.) Ungefähres Gewalt, Mythos, Moral 2014 · 300 S. · geb. · 29,95 EUR · ISBN 978-3-942393-64-5 Kultur ist ein Bereich des Ungefähren und Unbestimmten, für den Phänomene der Übersetzung und Überschreitung konstitutiv sind: Kulturelle Muster wandern, kreuzen Grenzen und werden neu integriert, ohne sich jemals völlig zu assimilieren. Keine Kultur ist mit sich selbst identisch, sondern bestenfalls selbst-ähnlich. Die vorliegenden kultursoziologischen Studien sind einer kulturellen Logik des Ungefähren auf der Spur, die sich meist hinter der Maskerade des Eindeutigen und Selbstverständlichen verbirgt. Das Wuchern der Diskurse und die Vervielfältigung der Bilder fördern eine Unübersichtlichkeit, in welcher die Unterscheidung zwischen Gerücht und Wissen, Original und Kopie, Gegnerschaft und Nachahmung zu kollabieren droht. Im Spannungsfeld von Logos und Mythos, von kultureller Repräsentation und ihrer Destruktion wird so auch ein neuer Blick auf Probleme der Gegenwartsgesellschaft möglich.
Kay Junge, Werner Binder, Kim-Claude Meyer und Marco Gerster (Hg.) Kippfiguren Ambivalenz in Bewegung 2013 · 280 S. · geb. · 29,90 · EUR · ISBN 978-3-942393-61-4 ›Ambivalenz‹ hat sich zu einem Schlüsselwort der modernen Kultur entwickelt, dem als Platzhalter für alle nicht unmittelbar eindeutigen menschlichen Belange und institutionellen Konflikte eine in seinen Konsequenzen konfliktdämpfende Scharnierfunktion zukommt. Die dauerreflexive Stabilisierung der mit dem Wort ›Ambivalenz‹ benannten, aber eben auch gebannten Spannung und der damit zunächst vielleicht nur als Provisorium akzeptierten Interimslösung ist kein Verfallssyndrom, sondern selbst eine den Status quo stabilisierende kulturelle Leistung und Neutralisierungstechnik – kulturelle Integration unter modernen Lebensbedingungen wird so vielleicht erst möglich. Ambivalenz ist die heute vielleicht prominenteste Chiffre des vergeblich gesuchten Grundes einer Moderne, die sich des legitimationsentziehenden Vorwurfs der Säkularisierung nicht entwinden kann.
www.velbrueck-wissenschaft.de
Bernhard Giesen, Francis Le Maitre, Nils Meise und Veronika Zink (Hg.) Überformungen: Wir ohne Nichts 2016 · 228 S. · br. · 29,90 EUR · ISBN 978-3-95832-088-8 Das Soziale erscheint unter den Bedingungen der Globalisierung und der Digitalisierung nicht mehr als funktional differenzierte Maschine oder als strukturierter, geschlossener Organismus, sondern als ein vielverzweigtes, multioptionales Netzwerk mit undurchsichtiger und komplexer dynamischer Struktur. Was meint also Gesellschaft und wie lässt sich dieses scheinbar indefinite Konglomerat an Subjekten soziologisch begreifen? Wie erscheint uns das Soziale in seiner Morphologie gegenwärtig? Der Sammelband widmet sich entsprechend der Frage, inwiefern wir mit einem epistemischen Bruch hinsichtlich unserer Vorstellungen von Gesellschaft und unserer sozio-ontologischen Prämissen konfrontiert sind, mit einer Bewegung weg vom Glauben an ein stahlhartes Gehäuse hin zum Glauben an eine neue Wirklichkeit der societas abscondita, innerhalb derer sich die Idee des ›Wir‹ mit Verweis auf die eigene Zentrums- und Grundlosigkeit als eine vage und kontingente Größe formiert.
Marco Gerster Gewalt ohne Grund Über die narrative Bewältigung von Amokläufen 2016 · 308 S. · br. · 34,90 EUR · ISBN 978-3-95832-097-0 Amokläufe sind Beispiele für vermeintlich »grundlose« Gewaltereignisse, die einen ernsten gesellschaftlichen Erklärungsnotstand hervorrufen. Die Beliebigkeit von Tätern und Opfern, das Fehlen von verständlichen Motiven sowie die Ausführung der Taten als rational geplante Exzesse werden in modernen Wissens- und Risikogesellschaften, in denen nichts ohne letzte Ursache bleiben darf, zur Anomalie. Das vorliegende Buch beschäftigt sich aus kultursoziologischer Perspektive mit der gesellschaftlichen Bewältigung von Amokläufen. Es thematisiert die sozialen Mechanismen und narrativen Muster, die aus der »grundlosen« Gewalt Sinn und Bedeutung schöpfen. Ziel ist es, in historischer, theoretischer und empirischer Perspektive die Debatte um Amokläufe selbst deutend zu verstehen, um aus den Ergebnissen Erkenntnisse in Bezug auf das Selbstverständnis der Gesellschaft zu gewinnen.
www.velbrueck-wissenschaft.de