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German Pages [225] Year 2010
Karen Joisten (Hg.)
Das Denken Wilhelm Schapps Perspektiven fr unsere Zeit
KONTEXTE
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ALBER PHNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495997390
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B
ALBER PHNOMENOLOGIE
A
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Über dieses Buch: Das philosophische Werk Wilhelm Schapps (1884–1965) findet in den letzten 10 Jahren vermehrt Beachtung. Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Soziologie, der Jurisprudenz, der Theologie, der Pädagogik, der Literaturwissenschaft und in den Kulturwissenschaften findet eine rege Rezeption statt. Angelpunkt der Rezeption ist die zentrale These Schapps: »Die Geschichte steht für den Mann«. Sie rückt explizit das »Verstricktsein des Menschen in Geschichten« in den Vordergrund und macht kenntlich, dass der Mensch durch eine konstitutionelle Geschichtenhaftigkeit ausgezeichnet ist. So ist das Sein des Menschen für ihn als ein ›Verstricktsein in Geschichten‹ zu bestimmen, also als eine Vielzahl von verwobenen Geschichten, in denen der Mensch unter Mitmenschen lebt und sein Leben sichtbar wird. Schapps Denken nimmt somit die Veränderungen im Leben des Menschen und seiner selbst ernst, die sich in seiner Lebensgeschichte und der der Anderen zeigen. Der vorliegende Band versammelt primär die Beiträge der Tagung »In Geschichten verstrickt. Das Denken Wilhelm Schapps – Perspektiven für unsere Zeit«. Internationale Forscher setzen sich mit den Grundgedanken und -problemen von Schapps Philosophie, wie sie zwischen 1910 bis 1965 entwickelt wurden, auseinander. Im Zusammenspiel der unterschiedlichen Themen stellt der Band einen Einund Überblick in Schapps Philosophieren dar, das seinem Entwicklungsgang und seinen systematischen Überlegungen gerecht wird und darüber hinaus eine kritische Auseinandersetzung mit Perspektiven der heutigen Zeit berücksichtigt.
Die Herausgeberin: Karen Joisten wurde am 18. 6. 1962 in Rüsselsheim geboren. Zur Zeit ist sie als Hochschuldozentin am Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz beschäftigt. Der vorliegende Band versammelt Beiträge internationaler Forscher, die das philosophische Denken des Husserl Schülers Wilhelm Schapp in seinem Entwicklungsgang dokumentieren. Schapps Philosophie wird im Zusammenspiel unterschiedlicher Themen in einer kritischen Auseinandersetzung mit Perspektiven der heutigen Zeit diskutiert.
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Karen Joisten (Hg.) Das Denken Wilhelm Schapps
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PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler
KONTEXTE Band 21
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Karen Joisten (Hg.) unter Mitarbeit von Nicole Thiemer
Das Denken Wilhelm Schapps Perspektiven für unsere Zeit
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48379-4
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Inhalt
Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karen Joisten
Grußwort zur Akademietagung »In Geschichten verstrickt«. Zum Gedenken an Wilhelm Schapp – Perspektiven für unsere Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Karl Kardinal Lehmann
Die Idee der Phänomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps . . . . . . . . . .
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Burkhard Liebsch
Welt und Grenze. Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans Rainer Sepp
Geschichtenphilosophie und Recht . . . . . . . . . . . . . .
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Jan Schapp
Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten . . . . . . . . . . . . . . .
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Stefanie Haas
Wilhelm Schapps narrative Ontologie. Eine Problematisierung seiner Geschichtenphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Klaus-Dieter Eichler
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Inhalt
Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Markus Pohlmeyer
Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Nicole Thiemer
Im Netz des Lebens verstrickt. Jenseits der Dinge und Sinnperspektiven der Naturwissenschaften . . . . . . . . . . . . 159 Gian Maria Raimondi
Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums. Grundzüge und Gesprächsanlässe . . . . . . 172 Karen Joisten
Phänomenologie als Philosophie der Geschichten: eine vierte, stille Revolution der philosophischen Denkungsart? . . . . . 190 Jean Greisch
Die Autoren des Bandes Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
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Siglenverzeichnis
Werke von Wilhelm Schapp B Beiträge zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung [1910], Frankfurt a. M. 4 2004. NWR I Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung, 1. Bd.: Der Vertrag als Vorgegebenheit, Berlin-Grunewald 1930. NWR II Die neue Wissenschaft vom Recht. Eine phänomenologische Untersuchung, 2. Bd.: Wert, Werk und Eigentum, Berlin-Grunewald 1932. IGV In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding [1953], Frankfurt a. M. 4 2004. PdG Philosophie der Geschichten [1959], Frankfurt a. M. 2 1981. EE Erinnerungen an Edmund Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976. MN Metaphysik der Naturwissenschaft [1965], Frankfurt a. M. 3 2009. (Die zweite Auflage ist 1981 in Frankfurt a. M. unter dem Titel erschienen: Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaft .) MM Zur Metaphysik des Muttertums, Den Haag 1965.
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Zu diesem Buch Karen Joisten
Die in diesem Buch versammelten Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im November 2008 im Erbacher Hof in Mainz stattgefunden hat. Konzeptionell erarbeitet wurde diese Tagung von der Schapp-Forschung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die es sich u. a. zur Aufgabe macht, die Diskussion um Wilhelm Schapp (1884–1965) im Austausch renommierter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im In- und Ausland anzuregen, um in eine fruchtbare Auseinandersetzung mit seinem Denken treten zu können. Auch wenn nämlich das philosophisch bedeutsame Werk Wilhelm Schapps nicht zuletzt in den letzten Jahren vermehrt Beachtung findet und neben der Philosophie in verschiedenen Bereichen wie der Soziologie, der Jurisprudenz, der Theologie, der Pädagogik, der Literaturwissenschaft und in den Kulturwissenschaften rezipiert wurde, steht eine tiefere Aneignung noch aus. Achtet man auf den Denkweg Schapps lassen sich eine Vielzahl von Horizonten aufspüren, die von ihm als eine Art Mittelpunkt zusammengehalten werden. Sie können aus einer anderen Perspektive als (Geschichten)Gedankenfelder gelesen werden, auf denen sich Schapp sein ganzes Leben lang bewegt hat, auch wenn sie nur zu bestimmten Phasen seines Denkens explizit in Publikationsform an die Öffentlichkeit getreten sind. Denn das umfangreiche Nachlassmaterial zeigt, dass Schapp entsprechend seiner eigenen Konzeption des In-GeschichtenVerstrickseins unablässig an der Vertiefung seines Verstehens der Geschichtenhorizonte arbeitete. Einer dieser Horizonte bzw. Gedankenfelder lässt sich mit der Überschrift ›Wahrnehmung‹ versehen, wobei man – dies sei wenigstens angemerkt – eine solche Überschrift bereits Schapp zufolge als eine Geschichte verstehen kann. 1 Schapp, der Rechtswissenschaft und 1
Vgl. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 282 ff.
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Karen Joisten
Philosophie bei Heinrich Rickert in Freiburg und bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel in Berlin studierte, zählt man bekanntlich zum engeren Kreis der Husserl-Schüler in Göttingen. Diesem Kreis, dem sogenannten »Göttinger Phänomenologenkreis«, gehörten auch z. B. Jean Héring, Hans Lipps und Adolf Reinach an. Neben seinem Rechtsreferendariat verfasste Schapp bei Edmund Husserl seine Dissertation Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, die 1910 veröffentlicht wurde. Diese Dissertation zählt zweifelsohne zu einer der wichtigsten Schriften der klassischen Phänomenologie und wenn man auf ein Zeugnis von Thomas Rolf achtet, hat man diese Schrift auch gelesen, um Edmund Husserls äußerst schwieriges Buch Logische Untersuchungen verstehen zu können. 2 Schapp entschloss sich allerdings gegen eine akademische Laufbahn und arbeitete ab 1911 als Anwalt und Notar in Aurich. In Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit und im Weiterdenken seines phänomenologischen Ansatzes entstanden in der Folgezeit insbesondere Schriften zur Rechtstheorie, die neben dem Gedankenfeld der Wahrnehmung ein weiteres der Rechtsphilosophie, das man auch mit der Wendung Rechtsphänomenologie überschreiben könnte, sichtbar werden lässt. Zu den Schriften in diesem thematischen Umkreis zählt insbesondere die zweibändige Untersuchung Die neue Wissenschaft vom Recht, wobei der erste Band Der Vertrag als Vorgegebenheit 1930 und der zweite Band Wert, Werk und Eigentum 1932 erschienen ist. Der berühmte spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset hat bereits zwei Jahre nach Erscheinen der deutschen Erstausgabe von Der Vertrag als Vorgegebenheit eine spanische Übersetzung dieses Buches besorgt. Und Jan Schapp, ein intimer Kenner der Philosophie Wilhelm Schapps, hat sich in seiner Doppelbegabung und Doppelausbildung als Jurist und Philosoph unermüdlich um ein Verstehen auch dieser rechtsphänomenologischen Überlegungen Schapps bemüht und darüber hinaus die »Fortsetzung« der Geschichtenphilosophie auf diesem Feld vorangetrieben. 3 In dieser Zeit beschäftigte sich Schapp allerdings nicht nur mit Fragen in rechtsphilosophischen Horizonten, sondern auch mit solchen Rolf, Thomas, Wilhelm Schapps »Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmnung«, S. VII, in: Schapp, B (4. Aufl.), S. V-XII. 3 Vgl. hierzu insbesondere die Dissertation von Jan Schapp, Sein und Ort der Rechtsgebilde. Eine Untersuchung über Eigentum und Vertrag, Den Haag 1968. 2
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Zu diesem Buch
Themen, die man dem Gedankenfeld Muttertum zuordnen könnte. So entstand in dieser Zeit auch die Schrift Zur Metaphysik des Muttertums, die jedoch erst 1965 veröffentlicht wurde. 4 Um Missverständnisse zu vermeiden, ist darauf hinzuweisen, dass im Kontext dieses Gedankenfeldes grundlegende Fragen nach dem Verhältnis Mutter-Vater-Kind aufgeworfen werden, die nicht auf Rollenverständnisse reduziert werden dürfen. Vielmehr lassen sie mit Schapp einen metaphysischen Zusammenhang zum Vorschein treten, mit dessen Hilfe man zum christlichen Gott und zur Gottesliebe geführt werden kann. Geradezu programmatisch ist folgende Äußerung in diesem Buch: »Wo Liebe ist, da ist das Göttliche und Gott. Die Liebe ist um nichts geringer, weil und soweit sie vom Muttertum, von der Mutter in die Welt gekommen ist. Wir wagen den letzten Schritt und setzen Mutterliebe und Gottesliebe gleich.« 5 Schapps Loslösung von der Philosophie Husserls hin zu seiner eigenständigen Konzeption einer Geschichtenphilosophie, die man als ein weiteres Gedankenfeld herausheben kann, erfolgte zunächst relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit. Denn erst in den 50er Jahren trat er wieder mit drei philosophischen Schriften, die man gerne unter dem Titel ›Geschichtentrilogie‹ subsumiert, an die Öffentlichkeit. Diese sind: 1. In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding (1953), 2. Philosophie der Geschichten (1959) und 3. Metaphysik der Naturwissenschaft (1965), das jüngst in dritter Auflage (Frankfurt am Main 2009) erschienen ist. In dieser Trilogie entfaltet Schapp den grundlegenden anthropologischen Gedanken des In-Geschichten-Verstricktseins des Menschen, der kenntlich macht, dass der Mensch durch eine konstitutionelle Geschichtenhaftigkeit ausgezeichnet ist. Die Geschichtenphilosophie, die nicht mit traditioneller Geschichtsphilosophie verwechselt werden darf, deckt die Geschichtenvergessenheit der Tradition auf und lässt nach drei »Revolutionen der Denkart« von Thales, Francis Bacon und Immanuel Kant durch die »Philosophie der Geschichten« die Möglichkeit einer vierten Revolution zutage treten. 6 Folgt man dieser, eröffnet sich von hier aus ein verwandeltes VerständJan Schapp deutet demgegenüber die drei Bücher der 30er Jahre, nämlich die beiden Bände von Die neue Wissenschaft vom Recht und die Schrift Zur Metaphysik des Muttertums als drei Untersuchungen, die alle als »Beiträge zu einer Phänomenologie der Werte« verstanden werden können. Siehe dazu seinen Aufsatz in diesem Band. 5 Schapp, MM, S. 168. 6 Vgl. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. XIII ff. 4
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Karen Joisten
nis des Menschen, seines Zugangs zu den Dingen und der (Außen)Welt, aber auch seines bisherigen Umgangs mit Geschichten und der Einstellung zum naturwissenschaftlichen Wissen. Der vorliegende Band verfolgt die Intention, das Denken Wilhelm Schapps, das sich primär innerhalb der grob skizzierten Horizonte der Wahrnehmung, der Rechtsphilosophie / Rechtsphänomenologie, des Muttertums und der Geschichtenphilosophie bewegte, die wiederum eine Vielzahl weiterer Horizonte mit sich führen, in seinen unterschiedlichen Facetten freizulegen und erstmals einen umfassenderen Ein- und Überblick in Schapps Philosophie, wie sie zwischen 1910 bis 1965 entwickelt wurde, zu geben. Dabei entspricht der Weg und der Gang der hier versammelten Beiträge gewissermaßen auch dem Denkweg Schapps, da wir auf ihm von der Idee der Phänomenologie zur Metaphysik des Muttertums geführt werden und die von einer Geschichtenphilosophie aus sich öffnenden Horizonte, wie die der Wahrnehmung, der Geschichten, der Verstrickung, des Rechts, der Allgeschichte, des Wortes, der Welt und des (naturwissenschaftlichen) Wissens, gemeinsam durchstreifen können. Auch wird die Möglichkeit einer gegenseitigen Befruchtung der Geschichtenphilosophie Schapps und der Literaturwissenschaft diskutiert und schließlich der Blick auf gegenwärtige Positionen innerhalb der Phänomenologie in Frankreich gelenkt, mit denen Schapps Denken kritisch konfrontiert werden kann. Den Auftakt dieses Buches bildet das Grußwort des Bischofs von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, das dieser zur Eröffnung der Akademietagung am Erbacher Hof mit dem Titel »In Geschichten verstrickt«. Zum Gedenken an Wilhelm Schapp – Perspektiven für unsere Zeit verfasst hat. In diesem Grußwort tritt nicht nur die persönliche Verbundenheit von Kardinal Lehmann mit Wilhelm Schapp zum Vorschein, sondern es werden bereits Anstöße für eine zu führende Diskussion gegeben, die die Thematik der Lebenswelt und der Hermeneutik zu beachten hat. Burkhard Liebsch erkennt, wie er in seinem Beitrag Die Idee der Phänomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps darlegt, in Schapps narrativistischer Philosophie eine Ambivalenz in Bezug auf ihr Verhältnis zur Idee der Phänomenologie. Denn einerseits, so die These Liebschs, vollzieht Schapp mit seiner narrativistischen Konzeption einen Bruch mit der Phänomeno14 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Zu diesem Buch
logie, andererseits bleibt er ihr bei genauerem Betrachten dennoch begrifflich verpflichtet. Indem Liebsch darüber hinaus auch Schapps Grundpositionen in seiner Geschichtenphilosophie und ihre Probleme herausarbeitet, konturiert und entfaltet er gewissermaßen den Hintergrund vor dem ein Verständnis des Denkens Schapps möglich wird. Während sich Hans Rainer Sepps Aufsatz Welt und Grenze. Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten primär dem Begriff der Grenze in Schapps Beiträge(n) zur Phänomenologie der Wahrnehmung zuwendet und mit Schapp die zweifache Struktur der Grenze aufdecken kann, sich also dergestalt eher innerhalb des Gedankenfeldes der Wahrnehmung bewegt, rückt Jan Schapp auf rechtsphänomenologischem Terrain – bzw. vom Selbstverständnis des Verfassers her – auf wertphänomenologischem Terrain den Zusammenhang der Geschichtenphilosophie und (des) Recht(s) ins Zentrum der Betrachtung. Von der Trilogie der 30er Jahre aus, nämlich Die neue Wissenschaft vom Recht in zwei Bänden und Metaphysik des Muttertums, macht Jan Schapp auf Verbindungslinien zur Vergangenheit und zur Zukunft aufmerksam, wodurch es gelingt, die untersuchten Gebilde der Rechtsphänomenologie in ihrem inneren Zusammenhang mit der sich herausbildenden Geschichtenphilosophie zu erfassen. In dem Beitrag Wilhelm Schapps unzeitgemäße Betrachtung »Zur Metaphysik des Muttertums«. Grundzüge und Gesprächsanlässe wird in einem ersten Schritt Intention und Inhalt dieser Untersuchung skizziert, um in einem zweiten Schritt philosophische Positionen unserer Zeit anzuführen, mit denen Schapps Deutung des Muttertums (und des Vatertums) in ein fruchtbares Gespräch eintreten können. Begibt man sich nun explizit auf das weite Feld der Geschichtenphilosophie widmen sich dieser aus unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunktsetzungen die Aufsätze von Stefanie Haas, KlausDieter Eichler, Markus Pohlmeyer, Nicole Thiemer und Gian Maria Raimondi. Stefanie Haas macht in ihren Überlegungen Keine Erzählung ohne Verstrickung. Mit Schapp im Gepäck bei literarischen Mitverstrickten kenntlich, dass ein Missverständnis der Schappschen Position wäre, Geschichten vorschnell mit Erzählungen (erzählten Geschichten) gleichzusetzen. Stattdessen ist es erforderlich die Wechselwirkungen zwischen der Verstrickung in Geschichten und der Erzählungen im Denken Schapps näher zu betrachten, um im nächsten Schritt die Mög-
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Karen Joisten
lichkeit einer gegenseitigen Bereicherung von Geschichtenphilosophie und Literaturwissenschaft ins Auge fassen zu können. Klaus-Dieter Eichler macht in seinen Überlegungen Wilhelm Schapps narrative Ontologie. Eine Problematisierung seiner Geschichtenphilosophie kenntlich, dass dessen Bestimmung des menschlichen Seins als eines in Geschichten verstrickten Seins im Sinne eines Existenzials zu verstehen ist, das als eine essentielle Bestimmung eine nicht mehr hintergehbare Voraussetzung ins Zentrum rückt. Diese narrative Ontologie Schapps tritt explizit mit dem Anspruch auf, einen neuen Zugang zum Menschen und seinem »Selbst« gewonnen zu haben, was Eichler in vier Perspektiven kritisch hinterfragt und diskutiert: erstens im Blick auf das Misslingen alltäglicher Lebens- bzw. Handlungsvollzüge. Zweitens in Bezug auf die Reichweite von Erzählungen und von narrativen Formen. Drittens hinsichtlich des Verhältnisses zwischen wissenschaftlichem und philosophischem Denken. Und schließlich viertens beim Übergang vom Ich zum Wir bzw. von der Ichverstrickung hin zu einer Wir-Geschichte. Markus Pohlmeyer rückt in seinem Beitrag Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung, wie der Titel bereits kenntlich macht, die Allgeschichte des Christentums, die Schapp insbesondere in seiner Schrift Philosophie der Geschichten näher zu erfassen versucht und die man als geschichtlich gewachsene, universale Groß- bzw. Metageschichte (neben den Allgeschichten des Judentums, des Buddhismus und des Islams) umschreiben kann, ins Zentrum seiner Ausführungen. Auf diese Weise kann Pohlmeyer zufolge sichtbar werden, dass Schapps Geschichten-Hermeneutik als eine (dynamisch zu deutende) Ontologie der Geschichten bzw. als Fundamentalanthropologie charakterisiert werden kann, bei der – im Blick auf die Allgeschichte des Christentums – die christliche Verantwortung gewissermaßen intuitives Moment einer Letztbegründung ist, durch das Verstrickung und Verantwortung untrennbar zusammengehören. Im vierten Teil seiner Philosophie der Geschichte stellt Schapp im Kontext seiner Geschichtenphilosophie ein damit einhergehendes verwandeltes Verständnis des inneren Zusammenhangs von Geschichten, der Sprache / dem Sprechen und dem Wort vor. Im Kontext dieser Ausführungen wird auch, wie Nicole Thiemer in ihrem Aufsatz Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalitätsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert 16 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Zu diesem Buch
darlegt, das »stille Sprechen« thematisch, das von Schapp als »Urform des Sprechens« bezeichnet wird. Dieser Gedanke des inneren Sprechens rückt, so die These Thiemers, Schapps Geschichtenphilosophie in die Nähe der modernen philosophischen Hermeneutik und ihrem Grundgedanken des Universalitätsanspruchs, der die Universalität des Zu-Sagenden und der Sprachlichkeit angesichts der Unvollkommenheit des Gesagten in Aussagen behauptet. Gewissermaßen wissenschaftliches Neuland betritt Gian Maria Raimondi, der sich in seinem Aufsatz Im Netz des Lebens verstrickt. Jenseits der Dinge und Sinnperspektiven der Naturwissenschaften erstmals intensiver mit dem dritten Band der Geschichtentrilogie Schapps, nämlich Metaphysik der Naturwissenschaft auseinandersetzt. Dabei arbeitet er nicht nur Status und Stellung der Naturwissenschaften im Schapps narrativer Phänomenologie heraus, sondern zeigt auch darüber hinaus auf, wie im Anschluss an dessen Konzeption der Entwurf einer allgemeinen Weltanschauung möglich wird, die sich an der holistischen Auffassung wissenschaftlicher Forschung orientiert. Deutlich tritt Raimondi zufolge zutage, dass die Wissenschaft auf Geschichten von Menschen angewiesen ist, insofern deren Identität aus Bildern einer ursprünglich sinnstiftenden Geschichte resultieren und auch nur von diesen her gewonnen werden kann. Den Abschluss dieses Bandes bildet Jean Greischs Beitrag Phänomenologie als Philosophie der Geschichten: eine vierte, stille Revolution der philosophischen Denkungsart? In diesem legt Greisch das Hauptaugenmerk auf Schapps Hauptwerk Philosophie der Geschichten, das er in ein kritisches, notwendig zu führendes Gespräch zu neueren Entwicklungen innerhalb der gesamten französischen Phänomenologie bringt, zu denen neben Paul Ricœur, Emmanuel Levinas und Michel Henry, Jean-Luc Marion, Claude Romano und Jean-Louis Chrétiens zu zählen sind. Überblickt man die in diesem Band erfolgenden Annäherungen an die Schappsche Philosophie kann im Zusammenspiel der unterschiedlichen Themen ein Zugang zu seinem Philosophieren möglich werden, der seinem Entwicklungsgang und seinen spezifischen Überlegungen gerecht wird und darüber hinaus eine kritische Auseinandersetzung mit Perspektiven der heutigen Zeit berücksichtigt. Denn das Ziel jeder Forschung (auch einer Schapp-Forschung) sollte nicht in der reinen Auslegung eines Textes aufgehen, sondern darin bestehen – und hier spiele ich mit Wendungen Schapps – sich in ein Denken zu verstricken 17 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Karen Joisten
und dann buchstäblich an diesem weiterzustricken, um mit ihm gemeinsam voranschreiten zu können. So möchte dieses Buch nicht nur Schapps Thesen referieren, sondern in Auseinandersetzung mit den Perspektiven für unsere Zeit auch kritische Akzente setzen und somit auf Anknüpfungspunkte mit zeitgenössischen Positionen aufmerksam machen. Dieses Buch wäre ohne zahlreiche Unterstützung nicht möglich gewesen. Aus dem Kreis der Förderer möchte ich aus institutioneller Sicht vor allem die Freunde der Universität Mainz und das Philosophische Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz herausheben; des Weiteren ist insbesondere dem Akademiedirektor des Erbacher Hofs in Mainz, Prof. Dr. Peter Reifenberg, zu danken, der die Tagung, die die Grundlage für dieses Buch bildete, in seinem Haus mit allem ihm zur Verfügung stehenden Mitteln großzügig ermöglichte; und natürlich Prof. Dr. Jan Schapp, der jederzeit mit Rat und Tat behilflich war. Danken möchte ich nachdrücklich aber auch Frau Nicole Thiemer, M.A., die mit großem Einsatz und wissenschaftlichem Enthusiasmus an der Realisierung dieses Buches mitgearbeitet hat.
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Grußwort zur Akademietagung »In Geschichten verstrickt«. Zum Gedenken an Wilhelm Schapp. Perspektiven fr unsere Zeit am 28. November 2008 im Erbacher Hof, Mainz Sehr herzlich und mit Freude begrüße ich Sie alle, denn es war schon lange mein Wunsch, das Werk von Wilhelm Schapp einer größeren Öffentlichkeit näherzubringen. So freue ich mich ganz besonders, dass der Sohn von Wilhelm Schapp, Herr Prof. Dr. Jan Schapp aus Gießen, bei uns ist und sprechen wird. 1 Er führt ja auf seine Weise besonders in der Rechtsphilosophie Anregungen und Gedanken seines Vaters fort. Ich freue mich besonders, dass es dank der Initiative von Frau Prof. Dr. Karen Joisten und ihrer Mitarbeiterin Nicole Thiemer im Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität seit dem letzten Jahr auch institutionell eine Arbeitsstelle »Wilhelm Schapp-Forschung« gibt. Zugleich freue ich mich über die Kooperation mit den Freunden der Universität Mainz e. V. Ich begrüße sehr herzlich Herrn Prof. Dr. Stephan Grätzel, Geschäftsführender Leiter des Philosophischen Seminars. Sehr herzlich begrüße ich auch meinerseits die Professoren und Vortragenden, die oft von weit hergekommen sind, z. B. Herr Prof. Dr. Hans Rainer Sepp aus Prag. In den letzten zehn Jahren ist das Interesse für Wilhelm Schapp gewachsen. 2 Mein Interesse für ihn ist viel älter, nämlich über 50 Jahre alt. Als ich mich ab 1957 intensiver um Martin Heidegger, nicht zuletzt auch das Verhältnis zu Edmund Husserl, kümmerte, fiel mir das 1953 erschienene Werk In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch
Vgl. dazu Schapp, Jan, Freiheit, Moral und Recht, Tübingen 1994; ders., Sein und Ort der Rechtsgebilde, Den Haag 1968; dazu Schapp, Wilhelm, Die neue Wissenschaft vom Recht, 2 Bände, Berlin / Grunewald 1930/1932. 2 Die Zahl der Arbeiten über ihn bleibt dennoch relativ spärlich, vgl. vor allem Wälde, Martin, Husserl und Schapp. Von der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins zur Philosophie der Geschichten, Basel 1985; Pohlmeyer, Markus, Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp (Pontes 22), Münster 2004. 1
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Grußwort zur Akademietagung »In Geschichten verstrickt«
und Ding in die Hände. 3 Die frühen Aufsätze von Hermann Lübbe 4 aus den Jahren 1960/61 haben mir dann zusätzlich geholfen, den eigenständigen und unverwechselbaren Ort von Wilhelm Schapp in der frühen Geschichte der Phänomenologie zu entdecken. So habe ich in meiner philosophischen Dissertation Vom Ursprung und Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heideggers, 5 die freilich erst viel später gedruckt wurde, 6 Wilhelm Schapp immer wieder einige Ausführungen gewidmet. 7 Dabei war mir bei der differenzierten Beziehung zwischen Husserl und Heidegger vor allem die genauere Fassung des Weltbegriffs Heideggers wichtig. Ich fand in Wilhelm Schapps Gedanken bei der Herausbildung der Phänomenologie einen sehr selbstständigen und eigenständigen Denker, der einen eigenen Platz zwischen den »Riesen« Husserl und Heidegger verdiente. Außerdem war mir von Anfang an sympathisch, was Hermann Lübbe in einem späteren Aufsatz als Charakteristik über Wilhelm Schapp, übrigens ein Landsmann von Lübbe aus Ostfriesland, so bezeichnet hat: »berufsfrei und lebensweltnah«. 8 Dieser eigene Standort Schapps neben der so genannten Münchener Phänomenologie, von der Schapp vielfach angezogen worden ist, kommt auch gut zum Ausdruck in Schapps Erinnerungen an Husserl aus dem Jahr 1959, dem Jahr des 100. Geburtstages von Husserl. 9 Seitdem hat mich Wilhelm Schapp nie losgelassen. Ich war auch fest überzeugt, dass er in der Diskussion um die Hermeneutik und besonders eben auch um die ganze Thematik der Lebenswelt einen noch unausgeschöpften Platz beanspruchen kann. Daran hat mich auch 4. Auflage, Frankfurt 2004. – Vgl. jedoch bereits Wilhelm Schapp, Beiträge zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung, Göttingen 1910, 4. Auflage, Frankfurt a. M. 2004 (in den einzelnen Auflagen verschiedene Vorworte von Carl Friedrich Graumann und Thomas Rolf). 4 Später zusammengefasst in dem Buch »Bewusstsein in Geschichten. Studien zur Phänomenologie der Subjektivität: Mach / Husserl / Schapp / Wittgenstein«, Freiburg i. Br. 1972, bes. S. 81–114. 5 Diss. phil., Rom 1962, 2 Bände. 6 Mainz 2003, 2. Auflage 2006. 7 Vgl. z. B. S. 85 f., 95, 271 f., 273 ff., 279 ff. u. ö. 8 Lübbe, Hermann, Philosophie in Geschichten. Über intellektuelle Affirmationen und Negationen in Deutschland, München 2006, hier: S. 134–151. 9 Edmund Husserl. 1859–1959 [= Phaenomenologica 4, La Haye 1959, 12–25], als eigenständige Schrift erschienen: Schapp, Wilhelm, Erinnerungen an Edmund Husserl. Ein Beitrag zur Geschichte der Phänomenologie, Wiesbaden 1976. 3
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Grußwort zur Akademietagung »In Geschichten verstrickt«
die Begegnung mit Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode, 10 zweifellos ein Standardwerk in der deutschsprachigen Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bestärkt. Um so wichtiger war es, dass Wilhelm Schapp selbst seine Gedanken nochmals vertieft und entfaltet hat. 11 Deswegen haben mich, auch später, vor allem die Bücher Metaphysik der Naturwissenschaft12 und Zur Metaphysik des Muttertums 13 immer wieder angezogen und beeindruckt. Ich war mir auch klar, dass viele Gedanken für manche Wissenschaften äußerst fruchtbar waren, nicht zuletzt auch und gerade bei den hermeneutischen und anthropologischen Aufgaben der Theologie. Ich breche hier ab und möchte nochmals meine Anerkennung und Sympathie zum Ausdruck bringen, dass die Akademie des Bistums Mainz in Kooperation mit dem Philosophischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz diese Tagung durchführt. Ich wünsche vor allem auch den anregenden Gesprächen einen guten Erfolg. Wir müssen Wilhelm Schapp das zurückgeben, was ihm aus vielen Gründen bei aller Anerkennung versagt blieb, nämlich nicht nur Ehre und Dank, sondern auch das Weiterdenken auf seinen Spuren, auf das es ihm besonders ankam. Mainz, 27. November 2008
Karl Kardinal Lehmann
Tübingen 1960, 6. Auflage 1990; dazu Pohlmeyer, S. 27 ff. Vgl. Philosophie der Geschichten, Neuausgabe hrsg. v. Schapp, Jan / Heiligenthal, Peter, 2. Auflage, Frankfurt 1981 (Erstauflage 1959). 12 Den Haag 1965, später: Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaft, 2. Auflage, Wiesbaden 1976, später Frankfurt a. M. 1981 und Frankfurt a. M. 2009. 13 Den Haag 1965. 10 11
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Die Idee der Phnomenologie im Lichte ihrer narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps Burkhard Liebsch
We’re in this thing one way or the other now. I know you can’t […] see the life around you, only what’s past […]. If you could tell it, it won’t stay true. Peter Landesman 1
1.
Die Idee der Phnomenologie als reduktive Erforschung des »Gegebenen« im Rckblick
Misst man die Idee der Phänomenologie, wie sie Husserl in Vorlesungen des Jahres 1907 2 dargelegt und ein knappes Jahrzehnt später als fundamentales Projekt einer erneuerten bzw. von ihm selbst erst eigentlich zu begründenden Ersten Philosophie 3 beschrieben hat, an seinen eigenen Ambitionen, so muss man feststellen, dass ihr nicht der erhoffte Erfolg beschieden war. Noch immer schreiben sich zwar viele Autoren in die Geschichte dieser Idee ein und setzen sie produktiv fort. Doch Husserls Projekt, das die Philosophie insgesamt auf die Arbeit einer phänomenologischen »strengen Wissenschaft« verpflichten sollte, wird kaum noch verfolgt oder sogar rigoros verworfen. Auch der Ausgangspunkt, den es in der Selbstgebung dessen finden sollte, was sich von sich her zeigt, kann bis heute nicht als gesichert bzw. als unumstritten gelten. Gerade deshalb freilich bezeugt die Geschichte der Phänomenologie noch immer eine ungebrochene Vitalität. Auch diejenigen, die mit Husserl nach wie vor der Überzeugung sind, dass die Landesman, Peter, The Raven, London 1997, S. 50, 227, 119. Vgl. Husserl, Edmund, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II (= Hua), hrsg. v. Biemel, Walter, Den Haag 1973. 3 Husserl, Edmund, Erste Philosophie [1923/1924], Hua VII, hrsg. v. Boehm, Rudolf, Den Haag 1956. 1 2
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Philosophie in erster Linie phänomenologisch Rechenschaft davon abzulegen hat, was sich zeigt und wie das Sich-Zeigen selbst eigentlich geschieht, streiten bis heute produktiv über den Sinn dieser Begriffe, ohne dass sich allerdings Einigkeit abzeichnete. Einigkeit besteht unter Phänomenologen allenfalls darin, dass das Erscheinen, das Sich-Zeigen oder die Gegebenheit von etwas sowie die Rechtfertigung dieser Begriffe selbst am Anfang jeglicher Philosophie stehen müsse. Was auch immer man philosophisch darüber hinaus begründen und konstruieren möchte, muss demnach wenigstens anknüpfen an das Erscheinende, an das Sich-Zeigende oder Gegebene. Denn allein damit haben wir ursprünglich zu tun. Der vom tschechischen Phänomenologen Jan Patocˇka beklagte »Siegeszug der Konstruktion« in der westlichen Kulturgeschichte im Allgemeinen und in der europäischen Philosophie im Besonderen würde in dieser Sicht auf ein fatales Verkennen dessen hinauslaufen, was Erfahrung ursprünglich bedeutet, wenn sich ihm nicht eine phänomenologische Rückbesinnung darauf widersetzte, wie uns ursprünglich alles, was zu erfahren ist, als Erscheinendes und SichZeigendes gegeben ist. 4 Die Crux der Phänomenologie liegt nun aber gerade darin, dass sich Antworten auf diese Frage dem naiv Erfahrenen nicht einfach ablesen lassen. Die naive Erfahrung verliert sich im Erfahrenen, ohne dieses auch nur als solches – d. h. als »Gegebenheit« – und den Prozess der Erfahrung selbst als solchen – als deren originäre Zeitigung – zu befragen. Sie fragt nicht, wie (und inwieweit) es überhaupt möglich ist, dass etwas oder jemand in Erscheinung tritt, sondern nimmt das, was sich zeigt, für selbstverständlich. Auf derartige Selbstverständlichkeit beruft sich die Phänomenologie bekanntlich gerade nicht. Die ganze Anstrengung ihrer Methoden zielt vielmehr darauf ab, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die dem Erscheinen des Erscheinens bzw. dem Sich-als-Gegebenheit-Zeigen dessen, was sich zeigt, im Wege stehen. Die Methode der Reduktion ist deshalb zunächst ein primär destruktives Unterfangen, das gerade von der Nicht-Evidenz der Gegebenheit als solcher ausgeht. Was phänomenologisch als Gegebenheit gilt, ist eben nicht einfach vorzufinden oder als empirische Tatsache aufzulesen. Was Husserl schließlich als originale Selbstgebung bezeichnet, ist das Ergebnis einer mühsamen Arbeit der Freilegung, die vom Erschei-
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Vgl. Patocˇka, Jan, Die Bewegung der menschlichen Existenz, Stuttgart 1991, S. 427.
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nenden alles fernhalten soll, was das Erscheinende als solches verkennen zu lassen, zu kaschieren oder zu transzendieren scheint. Husserl glaubte offenbar ernsthaft, die von ihm »vorgedachten Wahrheiten« einer ein für alle Mal begründeten (phänomenologischen) Ersten Philosophie bräuchten in Zukunft von loyalen Nachfolgern nur noch »im eigenen einsichtigen Denken nacherzeug[t]« und methodisch diszipliniert angewandt zu werden. 5 Doch wirft die von ihm begründete Konzeption phänomenologischer Erforschung des originär Gegebenen nach wie vor tiefgreifende Probleme auf. Sie beginnen, wie Jean-Luc Marion im Zuge einer eindringlichen Radikalisierung der Frage nach dem Selbstgegebenen gezeigt hat, bereits damit, wie das, was phänomenologisch als Sich-Zeigendes zu sichern ist, eigentlich zu benennen ist. Ist es nur ein semantischer Zufall und eine kontingente Zweideutigkeit, dass wir das derart Gegebene sowohl als gegenwärtig (présent) als auch als gegeben (donné) verstehen? Liegt in dieser Ambiguität ein tiefer Sinn, der auf die Spur einer Gabe alles Gegebenen zu führen verspricht? Oder verrät eine solche Deutung den Sinn der Phänomenologie selbst, wenn sie die Gabe »vor« der Gegebenheit vermuten lässt? 6 Diese gegenwärtig brisante Frage beweist, dass nach wie vor die Gegebenheit, mit Heidegger zu reden, der »Stein des Anstoßes« der Phänomenologie ist. 7 Hier steht nicht nur in Frage, ob originär Gegebenes durch die Methode(n) 8 der Reduktion als solches zu sichern ist, sondern auch, was es überhaupt bedeutet, ihm den Status der Gegebenheit, eines Sich-Zeigenden oder gar einer Gabe zuzuschreiben (wenn das Gegebene nicht auch diesen Status eindeutig als solchen zu erkennen gibt). Dieses Beispiel macht deutlich, wie gerade eine auf den ersten Blick eng an Husserls Konzeption der Ersten Philosophie anschließende Radikalisierung seines Ansatzes geradewegs auf eine (theologische) Husserl, Erste Philosophie [1923/1924], S. 5. Marion, Jean-Luc, Reduktive ›Gegen-Methode‹ und Faltung der Gegebenheit, in: Von der Ursprünglichkeit der Gabe. Jean-Luc Marions Phänomenologie der Gabe in der Diskussion, hrsg. v. Gabel, Michael / Joas, Hans, Freiburg i. Br. / München 2007, S. 37–55 (vgl. S. 45), sowie ders., Eine andere ›Erste Philosophie‹ und die Frage der Gegebenheit, ebd., S. 56–77. 7 Heidegger, Martin, Grundprobleme der Phänomenologie [1919/1920], GA 58, hrsg. v. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt a. M. 1993, S. 5. 8 Deren Differenzierung (phänomenologische vs. eidetische Reduktion), wie sie Husserl u. a. im Encyclopaedia Britannica-Artikel vornimmt, muss hier außer Betracht bleiben. 5 6
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Auskehr aus der Phänomenologie hinauslaufen kann. Der umgekehrte Fall, dass eine mehr oder weniger brüske Verabschiedung dieses Ansatzes in die ursprünglichen Grundprobleme der Phänomenologie zurückzuführen scheint, ist nicht weniger instruktiv und gibt ebenfalls Anlass dazu, sich auf die Idee der Phänomenologie kritisch zurückzubesinnen. Ein solcher Fall liegt in Wilhelm Schapps narrativistischer Philosophie vor. Die in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts erschienenen Werke dieses erzählenden Philosophen repräsentieren auf den ersten Blick nicht mehr nur eine der vielen phänomenologischen Häresien, die die Geschichte der Phänomenologie geradezu auszumachen scheinen, sondern einen veritablen Bruch mit ihr. Bei näherem Hinsehen zeigt sich indessen, wie subtil vielfach gerade diese narrativistische Verabschiedung der Phänomenologie ihr begrifflich verpflichtet bleibt. Sie wirft darüber hinaus die grundsätzliche, keineswegs auf die klassische und vielfach bis heute orthodox fortgeschriebene Phänomenologie beschränkte Frage auf, ob sich die seit alters her auf Begründung verpflichtete Philosophie (gleich welcher speziellen Provenienz) den Rekurs auf das ersparen kann, was sich der Erfahrung vor jeglicher Begründung ursprünglich zeigt und was insofern allem Denken vorgegeben ist. (Der Rückbezug von begründendem Denken auf das sich Zeigende muss in keiner Weise darauf hinauslaufen, dieses Denken darauf zu beschränken, das Gegebene einfach hinzunehmen, wie es Wittgenstein nahe gelegt hat.) Die folgenden Überlegungen erheben mit Blick auf diese grundsätzliche Frage nicht den Anspruch, zu ermitteln und darzulegen, was aus der ursprünglichen Idee der Phänomenologie geworden ist, sich strikt an die »Selbstgegebenheit« der viel zitierten »Sachen« zu halten, zu denen nach einer stereotyp wiederholten Devise die Phänomenologie angeblich im Unterschied zu allen anderen Philosophien oder Philosophemen ja »zurück« will. 9 Was aus diesem Ansatz, der nicht weniger als eine endgültig fundierte Erste Philosophie in Aussicht gestellt hatte, inzwischen geworden ist und wie er heute kritisch einzuschätzen ist, wäre eine eigene Untersuchung wert. Auch zur Beantwortung der Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sich Wilhelm Schapp von einem loyalen Schüler Edmund Husserls (wie so viele vor Eine Devise, die zuletzt Blumenberg ironisch kommentiert hat. Vgl. Blumenberg, Hans, Zu den Sachen und zurück, Frankfurt a. M. 2007 (= ZdS).
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und nach ihm) zu einem veritablen Häretiker gewandelt hat, müsste man viel weiter ausholen, als es hier möglich ist. Scheinbar hat ja Schapp mit der vor allem mit seinem Namen verbundenen Rede von einer unvermeidlichen und unhintergehbaren Verstrickung in Geschichten einen Husserls Projekt diametral entgegengesetzten Weg eingeschlagen. (Ich sage »scheinbar«, weil sich bei näherem Hinsehen, etwa in der Philosophie der Geschichten [1959], deutlich zeigt, wie Schapp trotz seines erklärten Bruchs mit der Phänomenologie zentrale phänomenologische Termini beerbt. So werden Geschichten als »Urphänomene« bezeichnet und die Verstrickung in sie als »Selbstgegebenheit« eingestuft. 10 ) Blieb Husserls Ideal die mathematische, evidente Einsicht, die wie der phythagoreische Lehrsatz jeglicher geschichtlichen Anfechtung standhält, so zögert Schapp nicht, uns buchstäblich Märchen als Paradigmen einer Erfahrung der Geschichtlichkeit ans Herz zu legen, über die wir weder hinausgelangen können noch, so scheint es, hinausgelangen sollten. Was sich so prima facie als bloßer Abweg vom rechten Pfad einer endgültig fundierten Ersten Philosophie darstellt, möchte ich nun freilich doch auf einige produktive, nicht derart abzuwertende Herausforderungen hin diskutieren, die sich aus dem Denkweg Schapps im Hinblick auf die Idee der Phänomenologie zu erkennen geben und ihm aktuelle Bedeutung bescheren.
2.
Schapps Verwurzelung in der Phnomenologie, seine Abwendung von ihr und erneute Anlehnung an sie
Gewiss kann man sagen, dass seit Husserl die Idee der Phänomenologie in geradezu kanonischer Form auf den Begriff gebracht worden ist. Mit gleichem Recht aber hat man schon oft betont, »die« Phänomenologie gebe es gar nicht, nur eine phänomenologische Bewegung, die fortgesetzt Häresien aus sich hervortreibt (ungeachtet oder vielmehr gerade wegen gegenläufiger Tendenzen, sog. neue Phänomenologien als die wirklich maßgeblichen zu installieren). 11 Gleichwohl scheint es nicht Schapp, PdG (1. Aufl.), S. XIV, 5, 213, 293. Siehe unten, Anm. 32. Vgl. v. Verf., Disziplinierte Naivität und Grenzen der Erfahrung. Marginalien zu aktuellen Problemen der Phänomenologie, in: Phänomenologische Forschungen NF 4/ 2 (1999), S. 213–237.
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übertrieben, im Hinblick auf alle Strömungen, die unter diesem Begriff firmieren, eine besondere Maßgeblichkeit der Erfahrung zu statuieren. Man mag deren vielfach rohe, unzureichend artikulierte oder auch sich selbst missverstehende Ausdrucksformen kritisieren und für disziplinierungs-, aufklärungs- und rationalisierungsbedürftig halten. Doch jedes moderne Projekt – von der Zivilisierung bis zur rationalen Läuterung der Erfahrung – musste (bislang) anknüpfen an ein irdisch situiertes, endliches Leben, in dem wir uns vorfinden bzw. in das wir uns »verstrickt« finden. Für Schapp handelt es sich letztendlich immer um eine geschichtliche Verstrickung, die die menschliche Erfahrung in allen ihren Erscheinungs-, Artikulations- und Darstellungsweisen ausnahmslos und bedingungslos affiziert – wie fatal auch immer. Schapp meint, wir seien immer in Geschichten verstrickt; und es gebe scheinbar »keine Tür ins Freie«. Selbst eine versuchte (und immerhin denkbare) Flucht aus geschichtlicher Verstrickung oder vor ihr gehört demnach in die Geschichten, die uns rückhaltlos zu narrativen Wesen machen. Selbst das Antlitz des Anderen erzählt noch eine Geschichte oder muss eine Geschichte zu erzählen versprechen, um menschlich als solches verständlich zu sein. Selbst Zugang zu sich und anderen wie auch zu jeglicher »Gegebenheit« gibt es für Schapp nur so, d. h. im Modus der Narrativität. 12 Schapp, der mit seiner Dissertation (1910) als Schüler Husserls zunächst einen phänomenologischen Denkweg einschlug, hat sich bekanntlich in seinen späteren Werken, v. a. in seinem Buch In Geschichten verstrickt, mit dieser Position dezidiert von der Phänomenologie abgewandt. 13 Gleichwohl lässt er sich durchaus zu denjenigen zählen, Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 100, 103, 125 f., 168; vgl. demgegenüber die etwas nuancierteren Überlegungen zum Antlitz in Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 82. 13 Einer mündlichen Mitteilung von Jan Schapp zufolge ist bereits im Jahre 1931 ansatzweise im Werk seines Vaters von einer Verstrickung in Geschichten die Rede. Andererseits wurde noch im Jahre 1951 eine Neuauflage der Beiträge erwogen, die ihrerseits bereits eine Vergeschichtlichung der Dinge bedenken (s. u.). Näheres wird die Erforschung des Nachlasses erbringen. Im Übrigen werde ich im Folgenden die juristischen und rechtsphilosophischen Schriften Schapps außer Acht lassen. Im Hinblick auf die Phänomenologie sind sie weitgehend unergiebig, trotz der Anlehnung Schapps an den für seine phänomenologische Studie über die »apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts« und besonders das Versprechen noch heute bekannten Adolf Reinach. Man vergleiche nur, wie beiläufig und kritisch letzterer in W. Schapps Buch Die neue Wissenschaft vom Recht, Berlin 1930, Erwähnung findet (S. 182 f.). 12
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die emphatisch der »Maßgeblichkeit der Erfahrung« beipflichten. Nur handelt es sich für Schapp um (fast ausschließlich) narrative Erfahrung, die in Geschichten zur Aussprache ihres Sinnes kommt (um es in Anlehnung an Husserls Cartesianische Meditationen zu sagen). 14 Die »Maßgeblichkeit« besagt hier: 1. dass die narrative Erfahrung der Ausgangspunkt allen Philosophierens ist; 2. dass sie ihr bevorzugter, wenn nicht einziger Gegenstand zu sein hat; und 3. dass die Philosophie nicht über die narrative Erfahrung hinaus gelangt und ihrerseits geschichtliche Form annehmen muss. Sie vermag also die Narrativität eines von Anfang an geschichtlich verfassten Lebens weder als Ausgangspunkt noch als Gegenstand noch auch als ihren letzten Horizont zu überspringen. Schließlich münden für Schapp alle Geschichten in eine integrale »Allgeschichte«, an deren innerer Kompossibilität und Erzählbarkeit er offenbar keinen Zweifel hegte. 15 Bevor ich auf einige Probleme zu sprechen komme, die speziell in dieser Zuspitzung der Maßgeblichkeit der Erfahrung begründet liegen, möchte ich zunächst deren phänomenologische, von Schapp wie gesagt später zurückgewiesene Interpretation verdeutlichen. Zweifellos gibt es Philosophien, für die die Erfahrung in der angedeuteten Art und Weise nicht maßgeblich ist. Nicht selten wird ein Rekurs auf Erfahrung, der nicht strengen Begründungsansprüchen genügt, für philosophisch suspekt gehalten und einer unbegründeten Berufung auf bloß subjektive Einsichten verdächtigt. Nichts dergleichen hatte freilich Husserl im Sinn, der sich durchaus dem hergebrachten Verständnis der Philosophie als einem Projekt der Rechenschaftsgabe
Husserl, Edmund, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua I, hrsg. v. Strasser, Stephan, Den Haag 2 1962, § 16, S. 76 f. 15 In PdG (1. Aufl.), S. XIII spricht Schapp von einer Einheit der Geschichte, »in der noch der Armseligste seinen Platz« habe. Offenbar beerbt hier die restlose Einordnung jedes Einzelnen in eine Allgeschichte das Absolute, das in den Beiträgen noch mit dem Licht verstehender Einsicht verknüpft worden war (vgl. B [3. Aufl.], S. 148). Alternativ kann sich der Autor nur vorstellen, wir seien »eine Art Schimmel auf einem beliebigen Stern« (PdG [1. Aufl.], S. 183, 291). Aber die geschichtliche Integration in einem »Meer von Geschichten« kann scheinbar doch nicht verhindern, dass wir über einen Schiffbruch »im Nichts« nicht hinaus gelangen (ebd., S. 327). Wenn Schapp dagegen seine Deutung des Christentums als »Allgeschichte« aufbietet, aus der sich niemand ausschließen könne, so muss er sich fragen lassen, ob er so nicht eine Art universaler Integration vorschlägt, in der sich Andere nur als Ausgeschlossene »aufgehoben« finden werden (vgl. IGV [2. Aufl.], S. 198–206). 14
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(logon didonai) verpflichtet fühlte. 16 Doch damit war für ihn keineswegs ausgemacht, dass sie solche Formen der Begründung annehmen muss, die es allenfalls als Propädeutikum gelten lassen, zu zeigen, was überhaupt der Begründung bedarf oder als zu Begründendes vorliegt. 17 Im Gegenteil stufte Husserl die – wohlgemerkt phänomenologisch legitimierte – Erfahrung geradezu als »Rechtsquelle« aller Philosophie ein, die demnach zuerst Rechenschaft davon abzulegen hat, was erfahrungsmäßig überhaupt vorliegt bzw. gegeben ist und woran jeglicher Begründungsversuch anknüpfen muss. Schenkt man dem keine besondere Aufmerksamkeit, so riskiert man am Ende auch eine Sinnkrise unserer Orientierung an Begründungen, deren Verortung im Leben unklar bleibt. Für die Phänomenologie ist die Erfahrung nicht nur ein naiver Ausgangspunkt, wie es gewisse phänomenologische »Überwinder der Naivität« 18 gerne sähen, sondern Quelle der Verpflichtung, von ihr Rechenschaft abzulegen und auf sie wieder zurückzukommen, wenn ggf. aufgeklärt ist, wie sich die menschliche Erfahrung als solche womöglich selbst missversteht. 19 In beiden Hinsichten soll nach Meinung des Phänomenologen Klaus Held gelten, dass man den vielfach statuierten Gegensatz der (transzendentalen) Phänomenologie zur sog. natürlichen Einstellung abbauen müsse; andernfalls werde sich der Mensch in dieser, sein alltägliches Leben bestimmenden Einstellung nicht davon überzeugen lassen, dass Philosophie für ihn Sinn mache. 20 Wenn man die Phänomenologie auch als »Philosophie von un-
Vgl. Husserl, Erste Philosophie [1923/1924], Erstes Kapitel, S. 3–17. Man könnte am Beispiel neuerer Gerechtigkeitstheorien ohne weiteres zeigen, welche Folgen es hat, wenn man nur noch die Gerechtigkeit rational zu begründen versucht, ohne aber in Rechnung zu stellen, woher das Verlangen nach Gerechtigkeit eigentlich stammt, nämlich aus der Erfahrung von Ungerechtigkeit, in der weit mehr liegt als nur ein Mangel an oder Fehlen von Gerechtigkeit. 18 Fink, Eugen, Nähe und Distanz, Freiburg i. Br. / München 1976, S. 98–126. 19 Überdies stützt sich die transzendentale Phänomenologie ihrerseits unvermeidlich, meint Husserl, auf ein naives Vertrauen auf evidente Selbstgebung dessen, was sie am Ende zweifelsfrei zeigen will (vgl. in: Husserl, Edmund, Erste Philosophie [1923/1924], 2. Teil, Hua VIII, hrsg. v. Boehm, Rudolf, Den Haag 1959, S. 169, 53. Vorlesung zur transzendentalen Naivität). 20 Held, Klaus, Husserl und die Griechen, in: Phänomenologische Forschungen 22 (1989), S. 137–176, hier: S. 155. 16 17
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ten« 21 bezeichnet hat, so meint man darüber hinaus, sie rede nicht einfach über die menschliche Erfahrung, sondern erwachse aus ihr und werde schließlich auch für die Erfahrung praktiziert, d. h. um sie sich selbst besser verstehen zu lehren. 22 Man will also klären, was Erfahrung überhaupt ist, wenn sie nicht bloß darin liegt, weit herumgekommen zu sein und von Begebenheiten berichten zu können. In diesem Sinne mag noch der in den letzten Jahren viel diskutierte Begriff des Ereignisses auf das Eräugnis zurückverweisen, dessen Augenzeuge par excellence als dazu befugt galt, selbst erlebte Geschichte zu erzählen und auf diese Weise geschichtliches Wissen zu fundieren. 23 Doch die Autopsie des selbst Gesehenen erklärt uns so wenig wie der narrative Bericht von gewissen Vorkommnissen (für wen auch immer sie wichtig sind), was das Erfahrene, die Erzählung davon oder auch die Rezeption einer Geschichte durch einen Hörer oder Leser eigentlich zu »Erfahrung« macht und wie weit sie reicht. Wo ihre Grenzen liegen und was jenseits liegen mag, ist nicht einfach der narrativ präsentierten Erfahrung zu entnehmen. Phänomenologie ist deshalb von Anfang an auch kritische Wendung gegen die Erfahrung, um sie als Erfahrung überhaupt zur Geltung bringen zu können. Es handelt sich nicht einfach um eine »institutionalisierte Naivität« (wie sie Spaemann einmal bezeichnet hat 24 ), sondern um ein ständiges Sich-Wenden gegen sich selbst – aber im Rekurs auf naive Erfahrung, in kritischer Wendung gegen sie und im Zurückkommen auf sie. Denn die Phänomenologen sind sich nicht dessen sicher (und können sich vielleicht auch niemals dessen sicher sein), dass sie nicht ihrerseits naiven Vor-Meinungen etwas entnehmen und in die Phänomenologie hineintransportieren, was sachfremd ist. Wie auch immer man die Maßgeblichkeit der Erfahrung näher bestimmt, sie kann gewiss nicht einfach darin liegen, philosophisch zu reproduzieren, was sich als solche ausgibt. Am Ende verdient gerade die
Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie, Existenzphilosophie und Seinsdenken, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, S. 742–752. 22 Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie in Deutschland: Geschichte und Aktualität, in: Husserl Studies 5 (1988), S. 143–167, hier: S. 152. 23 Vgl. v. Verf., Ereignis – Erfahrung – Erzählung. Spuren einer anderen Ereignis-Geschichte: Henri Bergson, Emmanuel Levinas, Paul Ricœur, in: Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, hrsg. v. Rölli, Marc, München 2004, S. 183–207. 24 Vgl. Lübbe, Hermann, Vorwort, in: Schapp, IGV (2. Aufl.), S. V-VII. 21
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spektakuläre Erfahrung, die wir Sensation zu nennen pflegen, ihren Namen am allerwenigsten. 25 Darum wissend, beschränkt sich die Phänomenologie gerade nicht auf irgendwie »herausragende« Erfahrung, sondern beansprucht als eigentliche Philosophie der Erfahrung (im doppelten Sinne), deren ganze Vielfalt und Fülle in ihren theoretischen Blick zu nehmen – von der urtümlichsten Impression im »Empfindnis« (Husserl) über den inneren Zusammenhang eines Lebens bis hin zu exzessiven Grenzerfahrungen, die es »außer sich« geraten lassen (sofern es nicht immer schon »ekstatisch« existiert). Vielleicht aus Angst vor eben solchen Erfahrungen, spekuliert Rudolf Bernet in seinem Kommentar zu Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins 26, ist allerdings eine vielfache, zuweilen enervierende Beschränkung auf den vermeintlichen Prototyp der Wahrnehmung: die Dingwahrnehmung festzustellen. Besteht die Welt nicht am Ende aus Dingen, wenn nicht sogar aus »starren Wozudingen«, fragt auch Schapp in seinen Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Ist womöglich die Welt selbst eine Art Ultra-ultra-chose – und jeder von uns selbst als Subjekt zugleich ein »denkendes Ding« (Kant) in ihr? 27 Wäre der Begriff des Denkens so weit zu fassen, wie es Descartes vorschlug, träfe der Begriff dann auf jegliche Erfahrung zu, die Subjekte machen? In diesem Falle müsste man nur die Relation von Subjekten via Erfahrung zum Erfahrenen als solchen klären. Die vorzüglichste Tätigkeit dieser Subjekte wäre das Denken von Dingen, anhand dessen sich prototypisch und paradigmatisch zeigen ließe, was es mit menschlicher Erfahrung auf sich hat, die am Ende, mit Husserl, zur »reinen Aussprache« bzw. Aussage ihres Sinns in Satzform zu bringen wäre. Bekanntlich hat aber die Phänomenologie alle diese scheinbar so überaus plausiblen Schlussfolgerungen destruiert. Das Subjekt als reines Bewusstsein des Denkens scheint erstens gerade nicht phänomenologisch gewonnen, stellt Pöggeler fest. 28 Die Erfahrung, die es verVgl. Löwith, Karl, Paul Valéry, Göttingen 1971. Bernet, Rudolf, Einleitung, in: Husserl, Edmund, Texte zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917), Hamburg 1985, S. XI-LXVII, hier: S. XLII. 27 Schapp, B (3. Aufl.), S. VIII, 59; ders., MN (2. Aufl.), S. 3. Der Begriff der ultra-chose stammt von dem Psychologen Henri Wallon. 28 Pöggeler, Otto, Heideggers Neubestimmung des Phänomenbegriffs, in: Phänomenologische Forschungen 9 (1980), S. 124–162, hier: S. 136; vgl. Blumenberg, ZdS, S. 169. 25 26
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meintlich »macht«, enthüllt sich zweitens der phänomenologischen Forschung in Wahrheit als eine Subjekt-Objekt-indifferente Offenbarkeitsdimension 29 zwischen uns und der Welt. Um diese Dimension bzw. um dieses »Element« unseres Lebens müsse es der Phänomenologie in Wahrheit gehen, insistiert Klaus Held. Unübersehbar besteht hier eine gewisse Nähe zu Schapps Rede vom »Auftauchen« 30 narrativer Erfahrung, das keinem Subjekt einseitig zu verdanken ist und im Modus der Verstrickung einen originären Weltbezug stiftet, der ursprünglich nicht gegenständlich vorliegt. Demnach, drittens, ist auch die Welt kein Gegenstand oder Sammelsurium von »Gegebenheiten«. »Solche Gegebenheiten gibt es nicht«, heißt es in Wissen in Geschichten (1965) scharf, wo Schapp außerdem kategorisch die Reduzierbarkeit von Gegebenheiten auf (phänomenologische) Sachverhalte bestreitet. 31 Was »es gibt«, ist für ihn überhaupt nichts positiv Vorliegendes, das wir bloß aufzulesen hätten; es handelt sich vielmehr um Resultate eines Auftauchens, das zu erfahren, zu erkennen, zu denken gibt und in seiner Gebung etwas sich zeigen lässt. Im besagten Zwischen zeigt sich etwas, gibt sich originär etwas zu erkennen. Aber selbst diese Formulierungen stehen im Verdacht, unreflektierte Vorurteile aus der natürlichen Einstellung unbedacht zu beerben. Ist es denn sicher, dass das, was sich zeigt, in jedem Falle etwas ist (so dass das Etwas als die oberste Kategorie gelten dürfte)? Gibt sich etwas in jedem Falle zu erkennen? Phänomenologen sind sich dessen offenbar weniger denn je sicher. Schapp für seinen Teil verlangt jedenfalls eine destruierende Präparation vermeintlich »unmittelbarer Selbstverständlichkeiten«. Was phänomenologisch Selbstgegebenheit heißt, sei in jedem Fall erst dazu zu »bringen«, schrieb er bereits in den Beiträ-
Held, Klaus, Heidegger und das Prinzip der Phänomenologie, in: Heidegger und die praktische Philosophie, hrsg. v. Gethmann-Siefert, Annemarie / Pöggeler, Otto, Frankfurt a. M. 1988, S. 111–139. 30 Vgl. Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 2, 72, 148, wo der phänomenologische Begriff der Wahrnehmung durch die maritime Metapher des »Auftauchens« von oder aus Geschichten ersetzt wird. Dieser Unterschied wäre eigens zu bedenken, wenn man Geschichten nicht verdinglichen will, die subjektlos als fertige, am Ende sich selbst narrativ darstellende und erzählende oder sogar sprachlos (ebd., S. 178) aus einem Meer von Geschichten ans Licht treten könnten. 31 Schapp, MN (2. Aufl.), S. 97. 29
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gen. Es handelt sich demnach um ein Ziel, um zu Zeigendes oder Aufzuzeigendes, nicht um einfach Vorliegendes. 32 Dieses Ziel zu verfolgen, gehorcht zwar zunächst der methodischen Devise, nur leibhaftig etwas als solches, nichts »Hinzugedachtes« oder »Hinzugemeintes« gelten zu lassen. Doch die bemühte Voraussetzungslosigkeit phänomenologischer Forschung, die sich erklärtermaßen »vor aller Theorie«, also theorielos zu bewähren hätte 33 , stößt alsbald an eine schier unüberwindliche Grenze. Das »als Selbst Auftauchende« lässt sich nicht einfach einer wahrgenommenen im Gegensatz zu einer bloß gedachten, konstruierten, geradezu errechneten und modellierten Welt zuordnen, wie es sich selbst Merleau-Ponty gelegentlich vorgestellt hatte. Dieser Unterschied verliere grundsätzlich an Bedeutung, meint Schapp schließlich in Wissen in Geschichten, weil die sog. wahrgenommene Welt von Gedachtem überlagert sei. 34 Die Metapher der Überlagerung verharmlost allerdings noch die Schwierigkeit einer phänomenologischen Rechtfertigung der Rede von originär selbst Auftauchendem, wenn es sich um eine Imprägnierung und gegenseitige Durchdringung von originär Wahrzunehmendem und sekundär Hinzugedachtem handelt, die beides nicht mehr klar zu Vgl. Schapp, B (3. Aufl.), S. 3, 14 f., 93, 146; Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie in Deutschland: Geschichte und Aktualität, in: Husserl Studies 5 (1988), S. 143–167. Wer hinsieht, kann nicht leugnen, heißt es in den Beiträgen, dass er »›das Innere‹ der Dinge leibhaftig vor sich hat« (B [3. Aufl.], S. 24). Wer sich davon nicht überzeugen lässt, kann auch durch Andere, die zu »zeigen« hätten, was mit dem Begriff der Selbstgegebenheit gemeint ist, nicht belehrt werden (ebd., S. 16 f.; allerdings »sehen« wir ideale Objekte überhaupt nicht; Schapp, MN [2. Aufl.], S. 119). Hier kommt Schapp ähnlichen Überlegungen Wittgensteins bemerkenswert nahe. Vgl. Lübbe, Hermann, Bewußtsein in Geschichten, Studien zur Phänomenologie der Subjektivität, Freiburg i. Br. 1972, S. 81 ff. Was angeblich sich von ihm selbst her zeigt (als evident), muss eigens gezeigt werden (und lässt sich insofern nicht einfach »von ihm selbst her sehen«), aber unter Zuhilfenahme eines Hinsehens, das wiederum niemandem zu demonstrieren ist (vgl. Blumenberg, ZdS, S. 346). Dieser Schwierigkeit entgeht auch Schapps Philosophie der Geschichten nicht, die über weite Strecken voraussetzt, Geschichten zeigten sich von sich aus in einer Weise, die geradezu die phänomenologische Selbstgegebenheit scheint beerben zu können. Vgl. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 15 1984, S. 27 f. (§ 7). 33 Schapp, B (3. Aufl.), S. 10, 20, 38 f. 34 Schapp, MN (2. Aufl.), S. 130. In der Philosophie der Geschichten wird sogar der Begriff der Wahrnehmung als bloße »Konstruktion« zurückgewiesen (S. 293). Verworfen wird somit die Vorstellung einer ersten Naivität als Ausgangspunkt phänomenologischer Forschung, die suggerieren würde, dass wir zu einem nur technisch imprägnierten bzw. überformten Kern der Dinge, Wesen genannt, vordringen könnten. 32
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unterscheiden gestattet. Was, wenn die Idee originärer Selbstgegebenheit nur ein phänomenologischer Wunschtraum ist 35 – oder wenn die Erscheinungen nicht zeigen, was sie sind, und sogar »lügen«, wie Schapp zu bedenken gibt? Was, wenn wir uns in unendlichen Wahrnehmungen verlieren, statt, wie von phänomenologischer Seite erhofft, ihrem vermuteten eidetischen Kern so weit wie möglich näher zu kommen? 36 Ungeachtet einer Vielzahl von Arten und Weisen, wie wir uns auf Gegenstände beziehen, schien sich Schapp zur Zeit seiner Dissertation noch dessen sicher gewesen zu sein, wenigstens dies phänomenologisch aufklären zu können: »wie wir das Haben von Gegenständen haben« 37 . Am Ende wird er uns glauben machen, seine Philosophie narrativer Verstrickung gebe uns den Universal-Schlüssel zur Antwort auch auf diese Frage in die Hand. (Der Begriff der Verstrickung in aktuelle Geschichten ersetzt in der Philosophie der Geschichten geradezu den der Selbstgegebenheit. 38 ) Doch da hat Schapp bereits mit einer Phänomenologie gebrochen, die versprechen zu können schien, nicht bloß alle möglichen Gegenstände als Phänomene beschreiben, sondern darüber hinaus die eigentliche Phänomenalität der Phänomene selbst, d. h. die Erstaunlichkeit ihres Erscheinens aufklären zu können. 39 Wie auch immer man sie »hat« oder wie auch immer sie sich zeigen, beides, das Haben und Zeigen, sollte sich demnach als solches phänomenologisch »ausweisen« lassen. 40 Allerdings nicht »rein«. Das Sich-Zeigen (oder Schapps »AufDiese Frage hat schon Husserl umgetrieben, u. a. in den Analysen zur passiven Synthesis, wo das Selbst eines Gegenstandes der sog. äußeren Wahrnehmung als unerreichbar beschrieben wird, wohingegen es bei immanenten Gegenständen noch als einholbar gilt (Husserl, Edmund, Analysen zur passiven Synthesis [1918–1926], Hua XI, hrsg. v. Fleischer, Margot, Den Haag 1966, S. 20 ff.). 36 Vgl. Schapp, B (3. Aufl.), S. 61, 103, 73. 37 Ebd., S. 3, 6. 38 Vgl. Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 293. In seinen 1959 zuerst veröffentlichten Erinnerungen an Edmund Husserl dagegen bekennt Schapp, die Reduktion, die die Selbstgegebenheit ja sicherstellen sollte, nie richtig verstanden zu haben. Im Übrigen beschränkt er sich auf Fragen wie diese: lässt sich überhaupt alles zur Selbstgegebenheit bringen, und zwar als Einzelnes oder als in Horizonten Gegebenes oder als Horizont selbst? (EE, S. 13 ff.) 39 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Einführung in die Phänomenologie, München 1992, S. 19, 41; Blumenberg, ZdS, S. 180 unter Verweis auf Hobbes. 40 Vgl. Taylor, Charles, Philosophical Arguments, Cambridge / London 1995, S. 4, 6. 35
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tauchen«) kann paradoxerweise stets nur indirekt an etwas (oder an jemandem) deutlich gemacht und nicht im direkten Zugriff – an allen »Sachen« vorbei – allgemein aufgeklärt werden. So zeigt sich etwas und daran das Sich-Zeigen als solches. Man ist auf etwas aufmerksam und daran zeigt sich die Aufmerksamkeit als solche (bzw. spez. Formen der Aufmerksamkeit, die nicht ohne vergleichende Untersuchung anderer Formen als – stets nur provisorischer – »Kern der Sache« Aufmerksamkeit auszugeben sind). 41 Auf dieser Linie liegt m. E. das, was Waldenfels später als »strukturale« Untersuchung konzipiert hat. 42 Auch auf das Haben oder Sich-Zeigen von Etwas ist nicht gleichsam einfach zu lauschen. Stets geht es um ein indirektes (Sich-) Zeigen als etwas im Wie des Zugangs zu ihm. Das Gleiche gilt für das Haben und Auftauchen. Darüber hinaus erweist sich das- oder derjenige, dem sich etwas zeigt, als darin verstrickt. Es gibt kein reines Bewusstsein, das nur Beliebiges erscheinen ließe und dabei selbst unbetroffen bleiben könnte. Die Verstrickung erfasst den etwas Erfahrenden, den Prozess der Erfahrung und das Erfahrene als solches gleichermaßen; es gibt keinen neutralen Standpunkt außerhalb oder oberhalb ihrer. Stets muss jedes vermeintliche Wesen einer Sache oder der Erfahrung, die für sie aufschließt, Resultat einer Prüfung sein, die nur bis auf weiteres Bestand haben kann und geradezu danach verlangt, nach Abweichungen zu forschen. In den frühen Beiträgen glaubt Schapp noch, das Wesen der Dinge habe unanfechtbar Bestand. Er gibt hier der Verführung eines gewissen (Platon selbst eher fremden) Platonismus nach, der glauben macht, das, was sich angeblich von sich her zeigt, bestehe ohne unser Zutun unverfälscht als das, was es an sich ist. Schapp redet hier einer »selbständigen Sphäre« der Gültigkeit von Ideen das Wort, die rein hervortreten könnten, »indem die verstandene Wahrnehmung alles Menschliche abstreift« 43 . Doch unübersehbar drängt sich hier bereits eine unhintergehbare radikale Geschichtlichkeit auf, wenn Schapp feststellt, jedes Demnach entdeckt die eidetische Reduktion Wesen als fungierende in der Erfahrung und übersteigt sie nicht. Zudem spielt sie nie alle Variationen durch; vgl. Waldenfels, Einführung, S. 31. Zur Verquickung von Sich-Zeigen und Aufmerksam-machen vgl. Blumenberg, ZdS, S. 183. 42 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Phänomenologie unter eidetischen, transzendentalen und strukturalen Gesichtspunkten, in: Sinn und Erfahrung, hrsg. v. Herzog, Max / Graumann, Carl Friedrich, Heidelberg 1991, S. 65–85. 43 Schapp, B (3. Aufl.), S. 140–146. 41
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Ding habe seine Geschichte – »fast wie Narben« –, und wenn er den Weg zum Ding bedenkt. 44 So müsse man sich erst in die »Stelle« eines Schmiedes versetzen, um phänomenologisch adäquat beschreiben zu können, was es heißt, mit Dingen in einem handwerklichen Raum zu hantieren. 45 Der perspektivisch vermittelte Zugang zum Ding ist für die phänomenologische Rekonstruktion unerlässlich. Der Weg zum Ding (oder die »Zugangsart«) gehört mit zu ihm (bzw. zu seinem »Sachgehalt«). Die Dinge aber gehören in diesem Falle zu einem Raum, den die Geschichte alsbald weitgehend zum Verschwinden bringen wird. Noch aber steht Rechenschaft über das aus, was man später den Einbruch der geschichtlichen Kontingenz in die menschlichen Lebensformen genannt hat, der fast ein halbes Jahrhundert später scheinbar uneingeschränkt triumphiert. 46 Daraus ziehen die Bücher In Geschichten verstrickt (1953), Philosophie der Geschichten (1959) sowie Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaft (1965) zwei systematische Konsequenzen, die ich im Folgenden thesenartig zusammenfasse.
3.
Grundpositionen von Schapps Narrativismus und ihre Probleme
1. Alles der Erfahrung Gegebene taucht im Kontext von Geschichten und in geradezu geschichtlich verfasster Form auf. Schapp verwirft ausdrücklich jegliche nicht-narrative Objektivierbarkeit psychischer Phänomene. 47 War er ursprünglich einer deskriptiven Psychologie auf
Vgl. ebd., S. 36. Bemerkenswert ist überdies, wie sehr Schapp bereits in den Beiträgen über die ontologische Solidität der Welt ins Grübeln gerät. Unterscheidet er zunächst Dinge und Phänomene, so wird ihm schließlich restlos zweifelhaft, was wesentlicher ist. Es gebe keinen Rechtsgrund dafür, dass Dinge das Wesentliche seien. Am Ende wird das Gegebene selbst in jedweder Form zum befremdlichen Rätsel (ebd., S. 94 f., 126). 45 Ebd., S. 27. 46 Das gilt mit der offensichtlichen Ausnahme der Metaphysik des Muttertums, ein Werk, das Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts geschrieben wurde, aber erst 1965 zur Veröffentlichung gelangte. Rückblickend wäre ironischerweise auf kein anderes Werk Schapps so wie auf dieses der Gedanke der geschichtlichen Verstrickung anzuwenden. Wie im Einzelnen, wird die Forschung zeigen müssen. 47 Vgl. u. a. das Beispiel der Trauer, Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 157. 44
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der Spur (als die Husserl die Phänomenologie zunächst eingestuft hatte), so gibt er hier nun den Begriff der Seele ebenso preis wie die Idee der »Selbstgegebenheit« bzw. einer nach mathematisch-logischem Vorbild gesuchten Evidenz. Ohne narrativen Kontext suche auch der Aussagesatz vergeblich seinen Sachverhalt. Den Kontext könne man im Grunde aber nur abblenden. 48 So entstehen Gegenstände (wie auch der biologische menschliche Körper 49 ): d. h. eigentlich infolge einer Einklammerung ihrer ursprünglichen narrativen Einbettung, die als solche dann aber vielfach vergessen werde. An einer Stelle heißt es lapidar: wir »finden in erster Linie Geschichten vor« 50 . Doch weit radikaler ist letztlich gemeint: alles begegne uns in geschichtlicher Form und 2. nichts vermöge sich einer primär bzw. ursprünglich bereits geschichtlich verfassten Erfahrung zu entziehen. Das gilt selbst für die Welt und den welt-geschichtlichen Sinn der menschlichen Gattung. Jeder Einzelne werde schließlich erst zum Menschen durch seine Verstrickung in Geschichten; und niemanden könne man aus ihr gänzlich herauslösen. 51 Ich möchte mich im Folgenden weitgehend auf den ersten Punkt beschränken, werde aber den zweiten am Ende kurz streifen. Geschichten für schlicht »vorfindlich« zu halten, scheint mir irreführend. Denn so werden Geschichten ihrerseits nach dem Vorbild von Sachverhalten gedeutet, deren objektives Vorliegen Schapp bestritten hatte. Überdies insistiert Schapp ja, dass man Geschichten nur insoweit »kenne«, als man in sie verstrickt sei. 52 Dass gerade die Verstrickung dem Kennen und der Erzählbarkeit von Geschichten im Wege stehen könnte, zieht er nur en passant in Erwägung, bestreitet aber im Zuge dieser Überlegung, dass Geschichten gegenständlich vorliegen. 53 Wenn sie »auftauchen« müssen, um uns als solche zu begegnen, so handelt es sich nicht um ein unproblematisches Ans-Licht-Treten. Vielmehr geschieht das Auftauchen immer nachträglich; es verweist ex post auf eine geschehene, stets vergangene (aber ev. noch unabgeschlossene) Geschichte, deren »Passiertsein« sie in originärer Nachträglichkeit erst
48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 174, 179. Ebd., S. 194. Ebd., S. 78. Schapp, MN (2. Aufl.), S. 117. Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 85 f. Vgl. Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 149; IGV (2. Aufl.), S. 182.
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zum Vorschein bringt, so dass gelebte (bzw. »passierte«) und Anderen zu erzählende Geschichte unvermeidlich auseinander treten. 54 Nie ist das »Selbst« der Geschichte gegeben. 55 Demzufolge hätten wir hier auf jegliche Selbstgegebenheit, Evidenz und Wesensforschung zu verzichten. 56 Das »Heute«, in dem sich alle Geschichten verankert In PdG (1. Aufl.), S. 287 nivelliert Schapp freilich den Unterschied zwischen gelebter und zu erzählender Geschichte wie auch ihr »Passiertsein« und »Auftauchen«, ohne dass sich das zwingend aus seiner Position ergäbe, dass »›passieren‹ […] ohne Menschen oder nach unserer Sprechweise, ohne Geschichten« keinen Sinn ergibt (MN [2. Aufl.], S. 28; IGV [2. Aufl.], S. 86). 55 Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 181. Davon kann das menschliche Selbst, das sich narrativ auf die Spur zu kommen versucht (aber keinesfalls mit dem »Selbst der Geschichte« zu verwechseln ist), nicht unbetroffen bleiben, zumal wenn man bedenkt, wie Schapp, der zunächst meinte, das Ich bleibe in allen Geschichten »dasselbe« und man komme sich selbst in Geschichten am nächsten, andererseits betont, »je tiefer wir eindringen, desto mehr verschwinden in den Geschichten die Menschen« (PdG [1. Aufl.], S. 149). Hier wird das Geschehen narrativer Sinnbildung geradezu in einen Gegensatz zum narrativen Selbst gebracht und geht nicht in letzterem auf. 56 Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 94. Oben (s. Anm. 32 ff.) war bereits darauf hingewiesen worden, dass Schapp in Wahrheit viel tiefer in der phänomenologischen Denktradition verwurzelt blieb, als es seine wiederholten Erklärungen, sich von ihr verabschiedet zu haben, ahnen lassen. Kommt am Ende auch Geschichten in ihrer angeblichen »Selbstgegebenheit« doch eine Art von Evidenz zu (PdG [1. Aufl.], S. 293)? Kann es denn eine paradoxe Selbstgegebenheit ohne Selbst der Geschichte geben? Und welcher Art wäre die? Gewiss kann es sich nicht um die Evidenz einer Unanfechtbarkeit durch Zweifel handeln, wie sie Husserl vorschwebte (Erste Philosophie [1923/1924], 2. Teil, S. 44–50, 33. Vorlesung). Für Husserl macht »Evidenz von individuellen Gegenständen […] im weitesten Sinne den Begriff der Erfahrung aus«, deren »letztes Substrat« (im Sinne primär gegenständlicher Evidenz im Gegensatz zur sekundären Urteilsevidenz) für Husserl nur ein »gänzlich ungeformtes Etwas« sein kann (Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg 1985, §§ 5, 6, S. 20 f.). Eine Impression kommt als ein Grenzfall der Evidentmachung in Betracht (Erste Philosophie [1923/ 1924], S. 157–166, 23. Vorlesung). Im Fall der narrativen Erfahrung (aus der isolierte Urteile und Sätze nach Schapp immer nur nachträglich herausgelöst werden können) stoßen wir niemals auf ein solches gänzlich ungeformtes Etwas, sondern auf prä-narrative, aber narrativ polymorphe Strukturen vielfältiger Erzählbarkeit, die sich nicht einfach »von sich aus zeigen«, sondern kontrastiver Artikulation bedürfen, um als solche erkennbar zu werden. Auch hier stoßen wir auf eine subtile Verschränkung des SichZeigens mit dem, was gezeigt (artikuliert) werden muss. Wenn wir hier überhaupt zu einer Evidenz gelangen (was Husserl zweifellos bestreiten würde, solange man sich im Ungefähr von Meinungen bzw. »äußerer Erfahrung« hält; ebd., 5. Vorlesung), so muss sie herausgearbeitet werden. Dessen ungeachtet bleibt die Frage ihrer Adäquatheit noch zu klären, die für jeden Anspruch, Geschichte(n) erkenntniskritisch zu befragen, zentral sein dürfte (vgl. Erste Philosophie [1923/1924], 2. Teil, S. 26–35, 31. Vorlesung). Schapp verabschiedet allerdings auch diesen Anspruch. Erkannte und adäquat (bzw. narrativ 54
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erweisen sollen, stellt sich für Schapp als das Rätselhafteste überhaupt, keineswegs als im Modus der Evidenz Aufklärbares heraus. 57 Überdies erweisen sich Geschichten als miteinander derart verflochten, dass zweifelhaft erscheint, ob wirklich jedes Erlebnis in eine Geschichte »gehört« 58 , ob es sich nicht in seiner Verknüpfbarkeit mit verschiedenen Seiten-Geschichten, Vor- und Nach-Geschichten vielmehr unvermeidlich als narrativ polymorph erweisen wird. 59 Diese Frage stellt sich unvermeidlich, wenn das »Auftauchen« von Geschichten nicht auf ein bloßes Sichtbarwerden, sondern nur auf eine nachträgliche Realisierung hinauslaufen kann, die zwischen gelebter und zu erzählender Geschichte ein Moment der Distanznahme zur Geltung bringt. Letzteres lässt sich nicht umgehen, wenn es denn stimmt, dass Geschichten sich ständig voraus gehen und gleichsam hinterherlaufen. 60 Gelebte Geschichte geschieht gleichsam im Vorgriff auf ihre Erzählbarkeit; umgekehrt greift die erzählte Geschichte unvermeidlich auf eine Prä-Narrativität zurück, ohne die sie im Gelebten keinen Ansatzpunkt hätte. Das unvermeidliche, diastatische Auseinandertreten von Vor- und Rückgriff aber schließt es aus, im einen wie im andern Fall mit dem »Selbst der Geschichte« zu tun zu haben. Das gilt in einem narrativen Selbstverhältnis ebenso wie im Verhältnis zum Anderen. Eine dem Anderen erzählte Geschichte gibt sie weiter, aber nicht nur reproduktiv wieder. 61 Indem einer sie zu hören oder zu lesen gibt, verstrickt sich ein Anderer mit in die Geschichte, meint Schapp. Aber was bedeutet das, wenn sich »jeder anders« in eitriftig erzählte) Geschichte gibt es für ihn offenbar nicht. Vgl. zur Pränarrativität Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung I, München 1988, S. 98 ff., mit Blick auf Schapp (ebd., S. 119), zu Grenzen der Phänomenologie in dieser Hinsicht (ebd., S. 269 ff.), sowie v. Verf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, S. 243 ff., 260 ff., zur epistemologischen Frage adäquater Erzählung ders., Perspektiven einer kritischen Revision des Verhältnisses von Historik und Hermeneutik, in: Divinatio. Studia Culturologica Series 14, autumn – winter 2001, S. 29–66; Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, hrsg. v. Joisten, Karen, Berlin 2007. 57 Vgl. Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 276. 58 Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 121. 59 Nur en passant sei auf die berühmten Passagen in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften verwiesen, in denen von einer netzartigen Verflechtung von Geschichten die Rede ist. Diesen Gedanken unterläuft Schapp, wo er einerseits jeder Geschichte »Selbständigkeit« bescheinigt und andererseits Geschichten als lediglich »benachbart« beschreibt (vgl. PdG [1. Aufl.], S. 3 f., 290; IGV [2. Aufl.], S. 94). 60 Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 91, 139. 61 Hier wird Ricœurs Mimesis-Theorie der Narrativität ansetzen.
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gene und fremde Geschichten verstrickt? 62 Es geht keineswegs nur um eine einfache Erweiterung von Eigengeschichte in Richtung auf die Fremdgeschichte Anderer. Ausdrücklich hatte Schapp zugestanden, dass Eigengeschichte und Fremdgeschichte miteinander verflochten sind und nicht etwa letztere einer exklusiv ums eigene Selbst kreisenden Eigengeschichte nachgeordnet oder aus ihr abgeleitet zu verstehen ist. Bedeutet das nicht, dass ich ev. meine Geschichte erst durch die Anderen, durch ein akroamatisches Geschehen, aber als eine ursprünglich befremdete erfahre? Und beginnt nicht jede Eigengeschichte geradezu als Fremdgeschichte, wie es auch eine Phänomenologie der Generativität lehrt, der sich Schapp selbst in seiner Metaphysik des Muttertums stellenweise nähert? 63 Nirgends wird freilich das Desiderat deutlicher, das Schapp wie kein anderes zu untersuchen auffordert. Er hat nicht geklärt, was Verstrickung wirklich bedeutet. In der Metaphysik lässt er sich vom Paradigma eines exklusiv-dyadischen Mutter-Kind-Verhältnisses leiten, ohne dessen Fundament (und Vorbild?) aller menschlichen Beziehungen die Welt letztlich ins Chaos stürzen müsse. 64 In dem Buch In Geschichten verstrickt dagegen begegnet die (oder der) Andere primär als Dritte(r), als Zeuge vor allem, der nur von außen an eine andere Geschichte herantrete (und insofern zu deren originärer, nachträglicher Bewahrheitung im Zuge der an ihn adressierten Erzählung nichts scheint beitragen zu können). 65 Tatsächlich kann die oder der Andere natürlich diese Rolle übernehmen, nicht nur als Zeuge vor Gericht (das Beispiel, das Schapp mehrfach bemüht), auch als historischer Augen- und Ohrenzeuge. So kann er zur Berichtigung von Geschichten beitragen. (Ohne diese Funktion des Zeugen wäre keine Geschichtswissenschaft denkbar, die gerade nicht mit Schapp voraussetzen kann, dass Geschichten sich selbst berichtigen. 66 ) Es mag demnach zwar sein, dass das Verstricktsein in Geschichten (wie das Dasein bei Heidegger) im Grunde diesseits Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 107, 182; PdG (1. Aufl.), S. 181. Schapp, MM. 64 Vgl. Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 196 f. 65 Vgl. zum primär juridisch aufgefassten Zeugen Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 183–185. 66 Ebd., S. 152. Die weitere Forschung wird diese Annahme wie auch die wenig spezifizierte Rede von einer ausnahmslosen und nicht hintergehbaren Verstrickung in Geschichten historisieren und untersuchen müssen, was sie im geschichtlichen Kontext der Nachkriegszeit bedeutete. Das gilt sowohl im Hinblick auf den zweifellos pejorati62 63
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von Wahr und Falsch liegt 67 , gerade weil es überhaupt erst den Zugang zu beidem eröffnet. Doch erübrigt das nicht die kritische Frage, wo es uns möglicherweise in die Irre geführt hat. Gewiss geht die »rückwirkende Kraft«, die Schapp, hier an Nietzsche erinnernd, menschlicher Geschichtlichkeit zuschreibt, nicht so weit, durch eine Rektifizierung von Geschichten deren Geschehensein nachträglich ändern zu können. 68 Doch muss sie als kritische im Auseinandertreten von gelebter und zu erzählender Geschichte intervenieren können, wenn letztere die – unvermeidliche – Verstrickung in eine polymorphe Geschichtlichkeit nicht bloß – in durchaus vermeidbarer Art und Weise – narrativ reproduzieren soll. In die Aufgabe eines kritischen Neu- und Anders-Erzählens von verschieden einzufädelnden Geschichten sind wir gewiss nicht in der gleichen Art und Weise verstrickt wie in die Geschichten, die uns widerfahren und heimsuchen – angefangen bei der Geschichte derer, denen wir unser eigenes Leben verdanken. Schließlich verhalten wir uns auch dazu, in bestimmte Geschichten verstrickt zu sein – eventuell bis zur Weigerung, eine Geschichte so oder anders überhaupt fortzuschreiben. Ungeachtet dessen kann gerade eine vermeintlich abgebrochene Geschichte gleichsam subkutan deren subtilste Nachwirkung heraufbeschwören und insofern das zurückgewiesene Verstricktsein in sie auf unerkannte Art und Weise verlängern. Schapp vernachlässigt diese Fragen, indem er dazu neigt, jegliches Verhalten zu Geschichten, in die man sich verstrickt erfährt, unter eine indifferente Kategorie der Verstrickung zu subsumieren, die am Ende jeden Unterschied zwischen verschiedenen Arten und Weisen bewusstloser Fortsetzung, gleichgültiger Verlängerung, kritischer Revision oder radikalen Bruchs mit geschichtlicher Verstrickung nivellieren müsste. Schapp bringt allerdings selbst eine einschneidende Transformation geschichtlicher Verstrickung zur Sprache, die evtl. mit dem Hinzutreten Dritter als Zeugen einher geht. Während die Hermeneutik der Narrativität traditionell, im Grunde seit Dilthey, annahm, Geschichte spiele sich zunächst am je-meinigen Selbst ab, bringt Schapp den vor allem juridisch aufgefassten Zeugen als einen Dritten ins Spiel, ven Beiklang des Verstricktseins wie auch im Hinblick auf dessen (in Schapps Werk nicht ausgeführte, aber suggerierte) Assoziation mit dem Gedanken fataler Schuld. 67 Ebd., S. 150. 68 Ebd., S. 166.
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dem die Kenntnis unserer Geschichte zur Feststellung unserer Selbigkeit genügen würde, ohne dass unsere Selbstheit dafür im Geringsten in Betracht zu ziehen wäre. 69 Im Sinne der Selbigkeit wird man von Anderen zu jemandem »gestempelt«, schreibt Schapp. 70 Aber reduziert sich das, was im narrativen Ausdruck unserer Verflechtung mit den Geschichten Anderer zur Geltung kommen soll, wirklich bloß darauf, dass wir durch unsere Geschichten in ihren Augen als dieselben wiedererkennbar werden? Ist man in die am je-meinigen Selbst leibhaftig sich abspielenden Geschichten im gleichen Sinne verstrickt wie in Geschichten, die uns in den Augen Dritter auf eine Art Selbigkeit zu reduzieren drohen? Reduziert sich der Sinn des Erzählens von Geschichten am Ende darauf, das, was man unsere Identität nennt, sozial und politisch verfügbar zu machen? »Erschöpft« sich sogar das Menschsein in diesem Sinne in Geschichten, wie Schapp an einer Stelle wörtlich sagt? 71 Das scheint mir eine dogmatische Schlussfolgerung zu sein, kennen wir doch Formen sozialen und politischen Lebens, z. B. der Gastlichkeit, die gerade im Verzicht auf eine narrative Festlegung des Anderen »menschlichen« Empfang realisieren. 72 (Und sind Mutterschaft und Vaterschaft so weit entfernt davon, einem Anderen als ursprünglich Fremden und vielleicht niemals ganz in »eigener« Geschichte Aufgehenden gastliche Aufnahme zu bereiten? 73 ) Für Schapp geht es offenbar nur um das, was Lübbe später die »Identitätspräsentationsfunktion« der Selbigkeit genannt hat. In der Philosophie der Geschichten wird die Frage nach dem Selbst mit dem Hinweis auf das vermeintlich Sicherste erledigt, dass derjenige, dem eine Geschichte »passiert«, wirklich existiert. Erst die Frage Als wer? würde auf die Spur einer in schierer Selbigkeit nicht aufzuhebenden Selbstheit führen, die im Übrigen nicht nur geschichtlich re-präsentiert wird (nach dem Motto »Die Geschichte steht für den Mann« – oder die Frau), sondern die Frage aufwirft, ob das Selbst für eine (und welche) Geschichte in seiner Gegenwart und Zukunft einsteht. Vgl. v. Verf., Das bezeugte Selbst. Kierkegaard nach Hegel – und danach, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 53 (2006), Nr. 3, S. 681–716. 70 Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 128. 71 Ebd., S. 123; vgl. Lübbe, Bewußtsein in Geschichten, S. 106. 72 Für Schapp dagegen ist jeder Eintritt in einen neuen Wirkungskreis davon abhängig, dass die Geschichten des Betreffenden bekannt werden, so wie sie für ihn Bedeutung haben (IGV [2. Aufl.], S. 116). Vgl. Hiltbrunner, Otto, Gastfreundschaft, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. VIII, Stuttgart 1972, Sp. 1061–1123. 73 Schapp nähert sich dieser Frage stellenweise, wo er die menschliche Generativität als ein Antwortverhältnis beschreibt (MM, S. 98). Doch fasst er das Kind als Werk auf (ebd., S. 118) und beschreibt das generative Verhältnis selbst in Begriffen reproduktiver Ähn69
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Die narrative Verstrickung, der uns Schapp scheinbar distanzlos ausgeliefert sieht, wäre als solche nicht einmal denkbar, ließe sie sich nicht als »Intrige« auffassen, die einem nicht immer schon geschichtlich gebändigten Anderen widerfährt. Ob dessen wohl unvermeidliche Verflechtung und Verstrickung mit den Geschichten Anderer unweigerlich auf eine Art Gefangennahme hinauslaufen muss, die jeden Gedanken an Flucht vereiteln würde, scheint mir indessen nicht ausgemacht. So hätte eine Apologie der »Verstrickung« in Geschichten auch das Verhältnis von Eigen- und Fremdgeschichte im Sinne der Frage neu zu bedenken, was eigener und fremder Geschichte unaufhebbar fremd bleibt und uns möglicherweise vor solcher Gefangennahme bewahrt. (Ich verweise nur auf die Exteriorität des Anderen bei Levinas.) Wo das unterbleibt, wird am Ende selbst das liberalste, um »kosmopolitische« Erweiterung bemühte Verständnis menschlicher Geschichte schließlich nur auf das Denken einer geschlossenen Gemeinschaft hinauslaufen, die wohl Beitritt gestattet, aber im Verhältnis zu denen, die ihr nicht (ganz) zugehören, ihre bedrohliche Kehrseite offenbart, auf die Schapp selbst aufmerksam macht. Eigene bzw. angeeignete Geschichte, die in sich kein Verhältnis zu in ihr nicht aufgehobener Fremdheit mehr erkennen lässt, verhält sich am Ende zu fremder (oder lichkeit und genealogischer Verwandtschaft, in der ihm auch die elterliche Verantwortung begründet scheint. Diese wiederum stützt sich auf eine fragwürdig hypostasierte Idee der Familie, die sich seit alters her trotz schier unendlicher Variationen und Übergänge wie eine substanzielle Urgewalt durchsetze (ebd., S. 33 f., 49, 54). Damit befindet sich Schapp in einem noch kaum ausgeloteten Gegensatz zu einer Philosophie der Verantwortung, die sie von der Alterität des Anderen her denkt und gerade nicht von einer vorausgesetzten familialen bzw. genealogischen Zugehörigkeit abhängig macht. Schapps (Kains-) Frage »soll ich meines Bruders Hüter sein?« hat v. a. Levinas so aufgefasst, dass auch die Alterität des Kindes jeglicher Verfügung über es als Werk Anderer radikal entzogen erscheint. Levinas begründet eine nicht-biologische, ethische Verwandtschaft ohne Rekurs auf eine ursprüngliche Zugehörigkeit, von der alle Anderen zunächst ausgeschlossen wären. So wird auch die menschliche Generativität als eine Form der Gastlichkeit selbst angesichts des Fremden verständlich, den man aufnimmt, ohne nach seiner Identität zu fragen, ohne ihm eine Geschichte abzuverlangen oder vorzuschreiben, um zu wissen, wer er ist oder sein wird. Diese Philosophie läuft geradezu auf eine Befreiung aus fataler geschichtlicher Verstrickung durch Befremdung im Zeichen des Anderen hinaus. Vgl. v. Verf., Leben im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit? Zur Kritik vorgreifender Macht über das Leben Anderer: Kant, Levinas und Habermas in bio-politischer Perspektive, in: sinn macht unbewusstes. unbewusstes macht sinn, hrsg. v. Kadi, Ulrike / Unterthurner, Gerhard,Würzburg 2005, S. 230–264.
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befremdeter) Geschichte feindselig, weil sie jedes Anzeichen solcher Fremdheit per se als destruktive Unterminierung reiner Eigengeschichte erscheinen lässt – genau so, wie es zwischen den Völkern und Nationalgeschichten des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen zu sein scheint. 74 (Mit dieser Aussicht entlässt das Buch In Geschichten verstrickt seine Leser.)
4.
Rckblick
Wie stellt sich nun rückblickend die Phänomenologie im Lichte ihrer resümierten narrativistischen Verabschiedung im Werk Wilhelm Schapps dar? Ich beschränke mich, ohne bereits Gesagtes zu wiederholen, auf einige wenige Punkte, die zunächst residuale gemeinsame Ansatzpunkte und Desiderate, dann aber auch den Sinn der Philosophie selbst betreffen, soweit sie darauf angewiesen bleibt, die Aufklärung des Sich-Zeigenden bzw. Gegebenen zu betreiben (auch wenn sie sich im Übrigen weigert, sich mit einer unkritischen Hinnahme des Gegebenen abzufinden und in der Kritik des Gegebenen zu Formen der Begründung übergeht, die sich nicht auf eine Phänomenologie des Sich-Zeigenden reduzieren lassen). 1. Wenn auch offenbar kaum von Heidegger und Merleau-Ponty beeinflusst, so ist Schapp doch auf dem gleichen Weg wie diese: er sucht ein in der Welt situiertes Selbst zu denken, dem alles als zu Erfahrendes aufgegeben ist. (Damit verlässt er den Pfad der Suche nach Selbstgebung, apodiktischer und adäquater Evidenz, die den Preis einer »Weltvernichtung« nicht scheut, durch den ein transzendentales Ich sollte zu sich kommen können, dem dann abverlangt wurde, die Welt zu »konstituieren« allein aufgrund eigener Leistung, obgleich es doch nicht einmal mehr zum Nächsten schien vordringen zu können. 75 ) 2. Aber denkt Schapp dasjenige oder denjenigen angemessen, dem seine narrative Verstrickung anscheinend verwehrt, es jemals mit reinen, geschichtlich nicht angefochtenen »Gegebenheiten« zu tun zu haben – also dieses Selbst? Hätte er nicht dessen Verflechtung mit und Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 202, 204. Vgl. Husserl, Erste Philosophie [1923/1924], 2. Teil, S. 69–75, 37. Vorlesung; Husserl, Edmund, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen 1980, § 49, S. 91–93.
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Die Idee der Phnomenologie
denkbare Entflechtung 76 von dem Leben Anderer genauer bedenken müssen, wenn schon das Phänomen der menschlichen Generativität trotz aller Verstrickung in soziales und politisches Zusammenleben darauf aufmerksam macht, dass uns (spätestens) die Geburt in es eintreten und der Tod (in welchen Formen auch immer) aus ihm austreten lassen? 3. Und wie schließlich ist diese Ver- und Entflechtung verbunden zu denken mit den Geschichten, die unsere praktischen, sozialen und politischen Lebensformen prägen? Hans Blumenberg stellt in seiner eingangs erwähnten Bilanz der Idee der Phänomenologie fest, unsere Situierung in solchen Lebensformen lasse uns letztlich jede evidente Anschauung des Wesentlichen verfehlen. 77 Ein für sie erforderliches »reines« Subjekt sei pure Fiktion, genau so wie Vorstellung einer vollständigen Variation und Reduktion dessen, was es zu »reiner Aussprache« seines Sinnes hätte bringen sollen. 4. Doch die Aufgabe einer strukturalen Beschreibung bzw. des »Zeigens« bleibt, womit wir es, bis auf weiteres wenigstens und in einer eidetischen Annäherung eigentlich zu tun haben, wenn wir etwa darauf abzielen, etwas zu begründen. Es mag sein, dass die Phänomenologie damit sich selbst überfordert, wenn sie sich von der Unendlichkeit »der Sachen selbst« in Anspruch nehmen lässt, wie Blumenberg meint. Aber was wäre dagegen von einer geradezu ökonomisch beschränkten Philosophie zu halten, die sich an eine offenbar naturgeschichtlich tief verwurzelte Ökonomie des Bewusstseins halten wollte, die angeblich gebietet, sich mit weniger als der Sache selbst zufrieden zu geben, schlicht um überleben zu können? 78 Ließe sich das nicht auch als Rechtfertigung von Gleichgültigkeit und Ignoranz auffassen? Sollte es zwischen jenen unerreichbaren Sachen selbst und derartiger Borniertheit nicht noch dritte Wege geben? Genau das, meine ich, legt Blumenberg in seiner Beschreibung des Menschen nahe, die sich als eine Apologie der Aufmerksamkeit als Philosophie bzw. der Philosophie als theoretischer Form menschlicher Aufmerksamkeit lesen lässt. 79 Diese Lesart ergibt nur Sinn, wenn man En passant erwähnt wird sie in PdG (1. Aufl.), S. 19, während es an anderer Stelle heißt, manche lebten »eingemauert« in ihre Geschichte (ebd., S. 183). 77 Blumenberg, ZdS, S. 9. 78 Ebd., S. 150. 79 Blumenberg, Hans, Beschreibung des Menschen, Frankfurt a. M. 2006; vgl. v. Verf., Von den Sachen zurück zu den Menschen. Profile einer Philosophie der Aufmerksam76
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Burkhard Liebsch
die Aufmerksamkeit nicht auf eine wie auch immer i. E. naturgeschichtlich begründete Funktion reduziert, sondern der Philosophie gerade solche Formen der Aufmerksamkeit zuschreibt und zur Aufgabe macht, die sich nicht als bloß überlebensnotwendig erweisen, sehr wohl aber in einem anderen Sinne als unverzichtbar gelten können: als unverzichtbar für ein sensibles Verständnis jenes »situierten« Lebens eines menschlichen Selbst. Aufmerksamkeit, als Philosophie praktiziert, wäre demnach geradezu als die theoretische Form der Sensibilität zu verstehen, die ein solches Verständnis so weit wie möglich zu suchen und zu erforschen hätte. Solches Verständnis ist von einem reinen, weltunbedürftigen Subjekt schlechterdings nicht zu erwarten, das kein Verhältnis mehr zum Leib und seiner Hinfälligkeit in der Zeit hat und keine Zerstörbarkeit kennt. Als ein geeigneterer Kandidat bietet sich dagegen ein geschichtlich situiertes bzw. verflochtenes Selbst an, das sich praktisch wie theoretisch der Welt aussetzt, sich »Blößen gibt« und nur darum auch sein sensibles Exponiertsein theoretisch zu artikulieren vermag. 80 Jede Art der Aufmerksamkeit und ihrer Artikulation wird bereits Stellungnahme zu einer Welt sein müssen, in der sich dieses Selbst situiert findet. Was immer ihm »leibhaftig« widerfährt und darin unfehlbar Präsenz beanspruchen mag, wird ihm aber niemals »rein« gegeben und in einer neutralen Beschreibungssprache zur Geltung zu bringen sein. (Das gilt auch für die Rede von phänomenologischen Gegebenheiten und von ihrem Sich-Zeigen als Gegebenes.) Eine reine Sprache, die sich von ihrer Herkunft aus situierten Lebensformen gänzlich zu lösen vermöchte, steht uns nicht zur Verfügung. 81 Auch die Sprache, die wir verwenden, um Aufmerksamkeit als Aufmerksamkeit zu beschreiben, bleibt eben den vielfach einander widerstreitenden Lebensformen verhaftet, die uns bis zur geistigen Blindheit ganz und gar zu verstricken drohen in Unverstandenem und Unbegriffenem. Dass Schapp, für den Verstrickung und Gegenwart geradezu zusammenfielen 82 , darin kaum einmal auch eine Gefahr gesekeit in Hans Blumenbergs nachgelassenen Schriften, in: Philosophischer Literaturanzeiger 61, Heft 1 (2008), S. 87–101. 80 Vgl. v. Verf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008. 81 Vgl. Fink, Nähe und Distanz, S. 202. 82 Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 143. Hier kann Schapp mit dem Begriff der Gegenwart gewiss nicht mehr das sog. Präsenzfeld der Zeiterfahrung meinen, dem Husserl wahr-
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Die Idee der Phnomenologie
hen hat, ist keine Harmlosigkeit. In dieser Position zeigt sich unübersehbar ein scharfer Gegensatz zur Idee einer Philosophie als phänomenologischer Aufklärung, die im skizzierten narrativistischen Denkweg auf den ersten Blick nur ein sträfliches Abirren vom rechten Weg der Theorie erkennen kann, die aber ironischerweise ihrerseits von der Geschichte eingeholt worden ist; vielleicht eben deshalb, weil sie sich außerstande zeigte, sich als Theorie geschichtlich zu begreifen. 83 Auch die als Erste Philosophie konzipierte Phänomenologie erweist sich als in Geschichten verstrickt. Heute wäre zu zeigen, wie sie dies anerkennen kann, ohne sich im gleichen Zug einer geschichtlichen Blindheit auszuliefern, die uns unvermeidlich wie ein universaler Verblendungszusammenhang beherrschen würde, wenn alles und jeder als »restlos« in Geschichten verstrickt gelten müsste und eine indifferente Kategorie der Verstrickung (s. o.) gewissermaßen das letzte Wort hätte. So würde die vermeintlich triumphierende universale Vergeschichtlichung umschlagen ins indifferente Gegenteil: wo alles geschichtlich verstrickt ist, ist nichts geschichtlich verstrickt. Verstrickung als solche ließe sich nicht einmal denken. Davon abgesehen handelt es sich aber gewiss nicht bloß um eine interessante Metapher. Indem Schapp auf unser Verstricktsein in Geschichten aufmerksam macht, sprengt er den Rahmen des für Husserl noch ganz und gar verbindlichen cartesianischen Projekts. Drehte sich dieses in unzähligen Paraphrasen des cogito um die Kernfrage, was wir sind (ob res cogitans oder evidente Selbstgegebenheit zeitigendes transzendentales Ich, das für Husserl gerade kein »Bestandsstück« der Welt sein konnte) und wie darauf zweifelsfreie Gewissheit zu gründen ist, so stellt sich Schapp die Frage, wer wir sind, als unvermeidlich in Eigenund Fremdgeschichte Verstrickte, d. h. im geschichtlichen Verhältnis zu Anderen, denen wir bestenfalls vertrauen oder glauben können. Damit steht aber indirekt auch der Sinn einer Ersten Philosophie grundsätzlich zur Disposition, der in dieser Frage brisante Konkurrenz erwach-
genommene Vergangenheit zuschreibt (Husserl, Edmund, Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Tübingen 1980, S. 397 f.). Ersichtlich denkt Schapp an Geschichten, die dieses Präsenzfeld überschreiten. Die Frage ist dann aber, welchen Begriff ausgedehnter Gegenwart er sich macht. 83 Blumenberg, ZdS, S. 132.
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sen ist. 84 Nicht freilich im Sinne eines rein theoretischen Problems der Selbsterkenntnis etwa, sondern im Sinne einer radikalen praktischen Krise, die jegliches Sichverlassenkönnen auf sich selbst und Andere als fragwürdig erscheinen ließ. Auf diese eminente geschichtliche Herausforderung wird kein philosophischer Theoretizismus in der Tradition einer Ersten Philosophie, sondern allenfalls eine Sozialphilosophie Antwort geben können, die unsere geschichtliche Verstrickung ernst nimmt, ohne uns ihr aber in fataler Weise restlos auszuliefern.
Vgl. in diesem Sinne die Skizze d. Verf., Descartes, Merleau-Ponty und das Selbst. Überlegungen zur Nachträglichkeit neuzeitlicher Philosophie, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie (2006), Nr. 1, S. 109–122.
84
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Welt und Grenze Wilhelm Schapps Philosophie der Geschichten Hans Rainer Sepp
1. Besitzt Welt eine Grenze? Bis ans Ende der Welt – so sagt man und weiß doch, dass Welt ein Ende nicht hat, solange das Leben währt. Welt ist kein übergroßer Behälter, an dessen Wandung man gelangen könnte. Wenn Welt aber nicht ein Behälter ist und doch eine Grenze haben soll, kann diese Grenze Welt nicht begrenzen: Sie durchschneidet Welt. Diese Grenze ist aber keine Mauer, schafft nicht ein Hüben und Drüben, bedeutet nicht die Aufteilung eines homogenen Ganzen. Denn wäre es so, würde man von der Mauer wieder umfasst wie von einem Behältnis, in dem man sich sodann befände; und wagte man den Sprung über die Mauer, würde die Grenze nicht mehr bestehen, wäre nicht mehr wirkliche Grenze, die ein tatsächliches Übersteigen unmöglich machte. Eine Grenze, welche hingegen die Welt durchschneidet und unaufhebbar ist, wäre eine solche, die ein Paradox realisiert: nämlich im Hier zugleich mit dem ganz Anderen zu diesem Hier konfrontiert zu sein. Dies ist der Grundgedanke Friedrich Nietzsches, den dieser beispielsweise in seiner Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben zum Ausdruck bringt: Dort heißt es, dass »jedes Lebendige« »nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden« könne; es gehe darum, »einen Horizont um sich zu ziehen«, also den unverwechselbaren Ort des Eigenen zu übernehmen. Zugleich aber, und in eins mit dieser absoluten Verortung, gilt es das Gegenteil davon ins Werk zu setzen, nämlich sich absolut nicht im Selbst zu verorten, indem man, um sein »selbstisches« Wesen zu überwinden, versuchen müsse, »innerhalb eines fremden [Horizonts] den eigenen Blick einzuschliessen«. 1 Das Bewusstsein dieser Grenze der unmöglichen 1
Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, in: ders.,
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und nichtsdestotrotz immer wieder zu unternehmenden Selbsttranszendenz bezeichnet Nietzsche hier mit dem Ausdruck der »Linie«: einer Linie, die »das Uebersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet«. 2
2. Die Grenze von Welt zu denken, und Welt im Hinblick auf Grenze, heißt also, Welt als eine Totalität und als Nicht-Totalität zugleich und ebenso den Weltbezug als Interorität und Exteriorität zugleich zu bestimmen. Auch in Wilhelm Schapps Spätphilosophie geht es um »Historie«, um Geschichten im Plural, und es geht um Welt. Wir wollen fragen, wie es dabei um die Grenze bestellt ist. Einen Grundbegriff in Schapps Philosophie der Geschichten bildet der Begriff des Horizontes. ›Horizont‹ ist die Grenze des Blicks, markiert dasjenige, das gerade noch zu gewahren ist, bevor es sich dem erfassenden Auge entzieht. Die erste Aufgabe, die sich Schapp in seinem Buch In Geschichten verstrickt stellt, besteht darin, die »Wozudinge«, die Dinge des werktätigen Umgangs, zu analysieren, um so der »Verbindung zwischen Geschichte und Außenwelt« nachzuspüren.3 Der Horizont ist für Schapp dasjenige, aus dem heraus Wozudinge begegnen. 4 Dinge besitzen eine Verwendungs- und Herstellungsgenese, die ihnen im aktuellen Gebrauch als ein zeitlicher Horizont anhaftet. ›Horizont‹ übersetzt Schapp auch als »Sinnzusammenhang«: 5 Das, was vom aktuellen Gebrauch eines Dinges auf seine früheren wirklichen Verwendungen, schließlich auf seine Herstellung, aber auch auf seine möglichen Funktionen verweist, sind Sinnbestimmungen, die mit diesem Ding insofern als Horizont gegeben sind, als sie mit ihm zwar im Prinzip geweckt sind, aber dennoch nicht thematisch zu sein brauchen. Wenn so jedes Werkding seine Sinn-Geschichte hat, steht es über das werktätige Leben des Menschen mit den Sinn-Geschichten aller anderen Arbeitsprodukte in Verbindung. Der Kitt, der diese VerbinUnzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück, KSA Bd. 1, hrsg. v. Colli, Giorgio / Montinari, Mazzino, München 1999, S. 243–334; hier: S. 251. 2 Ebd., S. 252. 3 Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 11. 4 Ebd., S. 18. 5 Ebd.
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dungen fugt, ist der Horizont, und wenn der Horizont geschichtlich ist, da er die Folge von Sinngenesen impliziert, fallen Horizont und Geschichtlichkeit letztlich in eins. Horizonthaftigkeit ist das Medium, der große Ozean, aus dem Geschichten »auftauchen« und wieder versinken. Das »Schwimmen der Geschichte im Horizont« 6 – mit diesem plastischen Ausdruck beschreibt Schapp nicht nur den für ihn bestehenden engen Zusammenhang von Geschichte und Horizont, sondern auch die Unhintergehbarkeit des Horizonts wie letztlich der Geschichte: Geschichten werden so zu dem »Grundlegenden«, aus dem erst »Menschen, Tiere und Häuser heraustreten«. 7 Nicht mehr hintergehbar – das heißt: Wenn der Horizont Geschichten als das Grundlegende aus sich entlässt und wieder in sich zurücknimmt, der Mensch sich aber erst in Geschichten findet, hat es keinen Sinn mehr zu fragen, was jenseits des Horizontes sei. Der Horizont selbst wird zum Inbegriff dessen, was, ohne feste Grenze, verschwimmt, wird also nicht zu der Linie, die, wie Nietzsche es wollte, »Uebersehbare[s], Helle[s] von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet«. Denn die Dämmerung – ein beliebtes Beispiel, das Schapp immer wieder heranzieht – lässt das Lichte allmählich, und nicht abrupt, ins Dunkel vergehen und umgekehrt. Das bewegliche Moment des Horizontes, das im Auf- und Abblenden von Geschichten sein Fluidum erweist, ist bei Schapp zu einem absoluten Medium geworden, angesichts dessen es keinen Sinn mehr hat, nach dem zu fragen, was ›außerhalb‹ des Horizonts oder ›hinter‹ ihm noch sei. 8 Alles ›Weitere‹ bis hin zum Weitesten ist stets wieder nur horizonthaft vermittelt. Horizont zu sein, mit seinen Geschichten in ihm, markiert ein Medium, das keinen Plural kennt, und damit ein Ganzes, ein solches jedoch, das prinzipiell nicht geschlossen ist. »Geschichte« – das ist »der letzte in sich verständliche Teil eines mit ihm auftauchenden ungeschlossenen Ganzen«. 9 Es ist ein Ganzes, dessen Ränder vermöge des Auftauchens und Versinkens von Horizonten porös sind, ein Ganzes, das nicht in sich geschlossen und zugleich in der Lage ist, sich beständig in sich aufzuteilen: Die konkrete Geschichte ist Partikel des offenen Ganzen, genannt Horizont, wobei jede Trennung, die eine Geschichte von einer 6 7 8 9
Ebd., S. 95. Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 3, 164, 166. Ebd., S. 146.
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anderen trennt, nur relativ ist, da im Horizont einer Geschichte schon die anderen Geschichten auf der Lauer liegen. Geschichten im Ganzen des Horizonts oder stets nur horizonthaft verbundene Geschichten – beides umreißt den Begriff, den Schapp sich von der Welt macht. Sofern auch alle Horizonthaftigkeit letztlich nur ist, sofern sie Geschichten auf- und untergehen lässt, versammelt sich alles in Geschichten. Somit ist Welt gleich Geschichte, oder mit Schapps eigenen Worten: »Für uns fällt Welt und Geschichte, in die wir verstrickt sind, zusammen.« 10 Eine Figur, die Schapp mehr noch als das in der Dämmerung fluktuierende Wechselspiel von Licht und Dunkel erwähnt, ist der Kreis: Schapps Philosophie der Geschichten besitzt keine Ecken und Kanten; hier ist alles rund. Wie der Tageszyklus treten Geschichten aus ihren Horizonten, manifestieren sich, bleiben eine Zeitlang im Vordergrund und entziehen sich dann wieder in das Dunkel ihrer Horizonte zurück; Dinge treten auf, erzählen ihre Geschichte, verweisen damit auf die Kette der ihnen zugrunde liegenden Geschichten, die ihrerseits bis auf das einzelne Ding hingeleiten. Die Welt wird zu einer Bühne, aber zu einer Bühne ohne Zuschauer. Denn »man verfälscht das Bild, wenn man es mit den Augen eines Zuschauers oder eines Außenstehenden betrachtet«. 11 Für solche »Weltflucht« 12 gibt es in Schapps Philosophie der Geschichten ebenso wenig Anlass wie in der Konzeption des Inseins des In-der-Welt-seins, mit der sich schon Martin Heidegger gegen die von ihm konstatierte »weltlose« Position von Husserls »transzendentalphänomenologischem Zuschauer« gewandt hat. Noch der Husserl- und Heidegger-Schüler Eugen Fink schreibt in seiner Hegel-Vorlesung, dass es beim Philosophieren »keine Kriegsberichterstatter aus sicherer Distanz« gebe; denn hier werde »überall scharf geschossen«. 13
3. Von Distanz spricht auch Schapp. Er macht in einem nicht pejorativen Sinn eine »Leere« namhaft, in der Dinge für die tastende und zugreiEbd., S. 143. Ebd., S. 151. 12 Ebd., S. 125. 13 Fink, Eugen, Hegel. Phänomenologische Interpretationen der »Phänomenologie des Geistes«, Frankfurt a. M. 1977, S. 4. 10 11
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fende Hand, und nicht erst für das Distanzen überfliegende Auge auftauchen; Dinge, feste Dinge, und eine Leere, die ihrerseits nötig ist, damit sich der Mensch den Dingen als einem von ihm selbst Unterschiedenem anzunähern vermag. 14 An einer bemerkenswerten Stelle seines Buches In Geschichten verstrickt skizziert Schapp eine Phänomenologie des Bildes im Raum. 15 Das Bild im Raum stellt offenbar einen Sonderfall im Gesamt all der möglichen begegnenden Dinge dar. Und dieser Sonderfall hat mit Grenze, mit einem Sprung als einer Diskontinuität des Kontinuierlichen, zu tun. Obgleich das Bild im Raum als bloßes Ding nicht von anderen Dingen im Raum unterschieden ist, d. h. mit diesen denselben Grundcharakter teilt, ein Wozuding zu sein, ist der Umgang mit ihm von besonderer Art. Das Problem, das Schapp hier ausfindig macht, formuliert er auf folgende Weise: »Ist die Leere, die sich von dem gemalten Hause bis zu uns erstreckt, dieselbe Leere wie die, die sich von dem Rahmen zu uns erstreckt?« 16 Dies ist eine hellsichtige Frage, und Schapp ist sich der in ihr zum Ausdruck kommenden Schwierigkeit wohl bewusst. Die Frage ist hellsichtig, da sie, konsequent weiterverfolgt, zu einer Infragestellung des kontinuierlichen Verlaufs der Horizontverweisungen führen müsste. Denn auf die Frage müsste man antworten: Nein, es handelt sich nicht um dieselbe Leere. Denn wäre dies der Fall, müssten wir, die wir vor dem gemalten Haus stehen, nicht nur in der Lage sein, die Distanz zwischen uns und dem Rahmen des Bildes und seinem Malgrund zu überbrücken, sondern in das Haus selbst eintreten können. Das Bild im Raum markiert somit den besonderen Fall, dass wir es selbst – und nicht nur Rahmen und Leinwand als Wozudinge – im Kontinuum unseres jeweils gegenwärtigen Bezugs zu Dingen im Raum erfassen können; dass es aber gleichzeitig nicht einen direkten Weg von Bezügen zu Wozudingen im Raum und dem in einem Wozuding dargestellten Bild selbst gibt. Schapp formuliert diese Diskrepanz, diesen Bruch im Kontinuum, sehr deutlich, wenn er schreibt, »daß zwischen den Bildgegenständen […] und uns ein Abgrund klafft, daß die Leere zwischen uns und dem Bilde, wenn die Bildgegenstände als Bildgegen-
14 15 16
Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 125–126. Vgl. ebd., S. 77–80. Ebd., S. 78.
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stände auftauchen, irgendwie unterbrochen ist«. 17 Und dennoch: Schapp verfolgt diesen Bruch, diese aufbrechende Diskontinuität nicht weiter; er bedenkt nicht, welche Folgen diese Abgründigkeit für das durch den Verbund der Horizonte garantierte »Grundlegende«, das die Geschichten für das Auftauchen der Wozudinge doch verkörpern sollen, haben müsste. Denn offenbar liefert das Bild im Raum ein schlichtes Beispiel dafür, dass simultan zwei Zusammenhänge von Geschichten mit ihren jeweils eigenen Horizontbezügen aufeinandertreffen können, zwischen denen es keine Übergänge gibt, die horizonthaft vermittelt wären. Wenn das aber so ist, dann ist die Alternative Zuschauer oder Mitspieler und die dazu korrelative Alternative eines theoretischen Ansatzes, der von einem archimedischen Punkt aus dem Welttreiben zusieht, oder eines Ansatzes, der inmitten der Geschichten steht, ungenügend. Es scheint eine dritte Position zu geben: zwar nicht die eines Kriegsberichterstatters, der aus sicherer Distanz dem Geschehen folgt, aber doch eines solchen, der sich nicht auf Gedeih und Verderb in einen Kampf aller gegen alle verwickeln lässt.
4. Eine absolute Distanz, eine solche, die das eine nicht auf anderes zurückführt und die dennoch in Relation zu allem anderen steht, dachte Schapp jedoch in seinem Frühwerk. Und er dachte diese besondere Relation expressis verbis unter dem Begriff der Grenze. Ich meine die letzten zehn Seiten (Kap. III und IV des III. Abschnitts) seiner bei Husserl verteidigten und 1910 veröffentlichten Dissertation Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung. Die Argumentation beginnt hier bereits mit einer Grenzziehung. Schapp legt Wert darauf, »Idee« und »Wahrnehmung« voneinander zu unterscheiden. »Idee« versteht er in einem vortastenden Versuch, ihre Eigenart zu bestimmen, als einen Griff, der ein Ding gleichsam umklammert und es in seiner Beschaffenheit bestimmt. Schapp spricht daher auch von der Idee als von einem »Begriff«. Dieser ein Ding fassende Griff ist nicht das Ding selbst – denn ich kann, das ist Schapps Beispiel, ein bestimmtes Etwas unter bestimmten Umständen entweder als »Speckschwarte« oder als »Tonscherbe« auffassen. Der Griff 17
Ebd., S. 79.
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bestimmt das Ding als Ding, der Begriff oder die Idee ist, wie Schapp sagt, das »als was« eines Dings. Das »als was« in seiner Differenz zum wahrgenommenen ›Ding‹ in Anführungszeichen – denn das Ding wird zum Ding erst aufgrund seines Als-was – sucht man in Schapps späterer Philosophie der Geschichten vergebens. Das Als-was taucht hier als der Zweckzusammenhang auf, in dem ein Aus-was, ein Stoff, zu einem Ding gestaltet wird. Da aber das Zusammengehen von Aus-was und dem Wozu im Kontext der horizonthaft operierenden Geschichtlichkeit erfolgt, wird die Differenz von Wozu (Als-was) und Aus-was relativiert. Anders im Frühwerk. Hier betont Schapp – in einem ersten Schritt – die Differenz von Als-was und einem wahrnehmbaren ausgedehnten ›Etwas‹, das vermöge eines Als-was zu diesem oder jenem wahrnehmbaren Ding wird. Bekanntlich polemisiert Schapp später gegen die Annahme von allgemeinen Gegenständen und Begriffen als etwas, das außerhalb der Geschichten stünde. 18 Ein Allgemeines wie Gattung, so führt Schapp in seinem Spätwerk aus, steht dem Einzelnen, das es befassen will, nicht wirklich gegenüber. 19 Es sei lediglich Hypostasierung, ein bloß gedanklich Angesetztes, denn ihm entspreche nichts, das, wie im Fall konkreter einzelner Wozudinge, auftauchen könnte. Ein so genanntes »Allgemeines« werde daher nur in Zusammenhängen fassbar, die letztlich auf Wozudinge Bezug haben. »Auch die allgemeinen Sätze der Geometrie« seien in diesem Sinn »den Wozudingen verhaftet«. 20 Das Bemerkenswerte ist nun, dass Schapp in seiner Dissertation nicht nur Idee und Wahrnehmung, Idee von Ding, trennt, sondern – und das ist der zweite Schritt – auch auf der Differenz von Idee und allgemeinem Gegenstand beharrt. Die »Idee« in seinem Sinn, das Alswas, dürfe nicht mit »Gattung« oder »Art« verwechselt werden; es ist ein absolut Individuelles, ein solches, das keine Besonderung von einem es noch Übergreifenden darstellt. Es ist dasjenige, das sagt, was das Betreffende – und nur dieses und gegebenenfalls nur für diesen Moment – sei. Das Als-was erweist sich hier vielmehr als solches, das eine Gattung auf Dinge bezogen sein lässt, 21 und genau dieser Punkt,
18 19 20 21
Vgl. ebd., S. 167. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 71. Schapp, B (2. Aufl.), S. 135–136.
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dieses ›Zwischenglied‹, ist in der späteren Philosophie der Geschichten zwar vorausgesetzt, thematisch aber übersprungen. Die Differenz zwischen Als-was und Ding ist freilich nicht so groß, dass das Als-was überhaupt in keinem Bezug zum Ding stünde, im Gegenteil: Sofern das Als-was sowohl vom Ding wie auch von der Gattung unterschieden ist, vermag es in das Ding ›einzugehen‹. Das Als-was ist also durch Differenz und In-sein in einem gekennzeichnet: Die Idee werde, so Schapp, »in der Wahrnehmung« erfasst; 22 es ist »die Idee, die zum Ding gehört«, 23 so dass das, was wahrgenommen wird, das »Ding in seiner Idee« ist 24 – ohne dass das Als-was mit dem wahrgenommenen Ding selbst je identisch würde. 25 Indem sich das Als-was mit der jeweiligen Auffassung und ihrem Aufgefassten verbindet, 26 erhält es einerseits selbst Körperlichkeit und gliedert andererseits ein Ungegliedertes in In-dividuelles, in Ab-getrenntes: Das Als-was hat für Schapp kosmogonische Relevanz, ist welt-bildend. So heißt es bei ihm: »Die sinnliche Welt wird aber erst zur Welt, zum ›Kosmos‹, zu etwas eindeutig bestimmtem, sofern sie fähig ist, die Idee zu verkörpern, in sich aufzunehmen.« 27 Weltwerden, Werden der sinnlichen Welt, wird dergestalt als eine Bewegung gedacht, die aufgrund von »Bestimmung« eine unablässige »Vergewaltigung des Chaos« darstellt, 28 wie Schapp sich äußert, darin aber, und nur darin, zugleich sinnstiftend verfährt: Durch die Idee ist »eine Art ›verstehen‹ in der Wahrnehmung enthalten«. 29 Dieses Eingehen des Als-was in die sinnliche Welt, diese Aufladung des Wahrnehmens mit Sinn fasst Schapp als einen diskontinuierlichen Vorgang. Das Als-was eines Dinges leuchtet unvermittelt auf: »[…] jedes Begreifen vollzieht sich nicht in Stufen, wird nicht durch endlose Wiederholungen erreicht, sondern es vollzieht sich plötzlich.« 30 Es realisiere sich »mit einem Schlage« 31 – mit denselben Worten charakterisierte 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31
Ebd., S. 139. Ebd., S. 133. Ebd., S. 141. Ebd., S. 132. Vgl. ebd., S. 144. Ebd., S. 140. Ebd., S. 141. Ebd., S. 144. Ebd., S. 147. Ebd.
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Husserl den Vollzug der phänomenologischen Epoché. 32 Der Preis, der für die Vergewaltigung des Chaos entrichtet wird, erkauft sich den Kosmos: diejenige lichte Ordnung, die Dinge zu Dingen individualisiert und Leerräume sowohl zwischen ihnen wie zwischen ihnen und denen einräumt, denen sie sich präsentieren und von denen sie verstehend erfasst werden. Das Als-was lässt Dinge als abgetrennte Individualitäten aufleuchten in Korrelation zu dem Verstehen, das durch das Als-was seine »Erleuchtung«33 erfährt. Was aber hat dieses Lichtungsgeschehen mit ›Grenze‹ zu tun? Mit einer einfachen Analyse versucht Schapp das Wesentliche der Grenze im Kontext der Wahrnehmung zu erfassen: Gewahren wir einen Fleck an der Wand, so können wir ihn in seiner Gestalt betrachten: als diese konkrete Figur. Dabei gehen wir, so Schapp, von außen an den Fleck heran, umrunden ihn gleichsam von allen Seiten und bestimmen ihn auf diese Weise in seinem gestalthaften Aussehen. Diese Bestimmung charakterisiert Schapp als »Richtung«, als einen Verlauf von Wahrnehmungs-›Gängen‹, eine Abfolge von einzelnen Perspektiven, in denen die bestimmte Gestalt als ganze schließlich ›erblickt‹ wird. Solcherart erwächst die Wahrnehmung einer Gestalt aus einem Zusammenhang von miteinander zusammenstimmenden Horizonten, und als Richtungs-Nahme ist die Gestaltwahrnehmung für Schapp eine »Funktion der Anschauung«. Die Grenze ist etwas ganz anderes. Sie ist dies, eine Funktion der Anschauung, gerade nicht. Sie ist vom Erfassen einer gestalthaften Figur darin unterschieden, dass in ihrem Fall das Erfassen nicht von außen das Wahrzunehmende abschreitet, sondern, wie Schapp betont, es »von innen« 34 her erfasst. An die Grenze des Flecks gelangt man, wenn man von seinem Inneren ausgeht und schließlich dort ankommt, wo der Fleck aufhört, auf den ausgezeichneten Ort trifft, wo der Unterschied von »›noch‹ und ›nicht mehr‹« 35 sich aufdrängt. Schapp entwickelt hier, im Kontext einer Analyse der Wahrnehmung, eine Theorie der Alterität en miniature. Er stellt fest, dass es nicht genüge, die »Wahrnehmung von objekHusserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana VI (= Hua), hrsg. v. Biemel, Walter, Den Haag 1954, S. 153. 33 Schapp, B (2. Aufl.), S. 147. 34 Ebd., S. 152. 35 Ebd. 32
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tiv verschiedenem« zu konstatieren. 36 Denn die Erfahrung des ›noch – nicht mehr‹ ist nicht die Erfahrung zweier verschiedener Qualitäten, etwa wenn man sagen würde, die Grenze bestehe darin, dass ein »Weiß« von einem »Braun« abgelöst werde. Die bloße Konstatierung zweier wahrgenommener Qualia würde nicht die Konkretheit des weißen Etwas verständlich werden lassen. Erforderlich sei daher nicht eine andere Wahrnehmung mit einem anderen Wahrnehmungsgehalt, sondern vielmehr eine »Wahrnehmung der Verschiedenheit, des Andersseins« selbst, 37 d. h. die Erfahrung der Differenz von noch und nicht mehr: die Erfahrung der Grenze als ein qualitativer Sprung bezüglich des Verlaufs der Wahrnehmung von Qualitäten. Schapp bemerkt, dass die Rede von »Individuum, Art und Gattung« sinnvollerweise nur auf die Gestalt zu beziehen sei, dass es aber im Fall der Grenze »unmöglich« sei, »von Gattung und Art zu reden«. 38 Das Kriterium hierfür bildet das entscheidende Element: Grenze steht außerhalb von aller Differenz von Allgemeinem und Besonderem, weil sie in sich selbst absolute Trennung – oder, mit Schapps eigenem Wort, ein »Aufhören« ist. 39 Das Aufhören stehe nicht in einer Reihe mit den Gegenständen, und daher gebe es auch keine Zwischenstufen zwischen dem Aufhören eines bestimmten Gegenstands und dem Aufhören selbst. Das Aufhören ist der Inbegriff des Diskontinuierlichen, des Einschnitts ins Kontinuum. Mit der Bestimmung der Grenze als Aufhören durchtrennt Schapp nicht nur die – wie er es in seinem Spätwerk sieht – hypostasierende Bildung allgemeiner Gegenstände, die aber in dieser Hypostasierung an Wozudinge zurückgebunden bleiben, sondern auch jede durch Horizonthaftigkeit gekennzeichnete Abfolge von Wahrnehmungen, jedes Wahrnehmungskontinuum. Die Grenze entzieht sich dem Horizont, da sie »unsichtbar« und »doch da« ist. 40 Sie ist, so könnte man hinzufügen, das Fremde im Horizont, das nie im Horizonthaften aufgeht und doch umgekehrt noch alle Horizonthaftigkeit trägt. Ist die Grenze nicht die Funktion einer Anschauung und zugleich von allem Allgemeinen unterschieden, so ist sie – Schapps Schlussfol-
36 37 38 39 40
Ebd. Ebd. Ebd., S. 154. Ebd. Ebd., S. 155.
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Welt und Grenze
gerung – »eine Funktion, um nicht zu sagen ein Produkt […] der Idee«. 41 Das heißt: Das Als-was konstituiert nur aus dem Grund das Ding als dieses je konkrete Etwas, weil die Grenze ihr Werk getan hat. Mittels der Grenze also »begrenzt« die Idee das Ding, »zerschneidet« sie das Sinnliche, wie Schapp formuliert. 42 Das in keine Horizonte eingehende, sondern sie erst entfaltende, begrenzende und ausschneidende Als-was stiftet die absolute Trennung, den Egoismus. Schapp sieht das sehr klar: »Das Tintenfaß neben der Lampe, die Lampe neben dem Aschbecher und auf dem Aschbecher die Zigarre. Sie alle bilden souveräne Staaten für sich, die in Gemeinschaft untereinander stehen.« 43 (Der spätere Jurist Schapp spricht sogar von »sozusagen juristischen Persönlichkeiten«.) Und freilich, so könnte man hinzufügen, bei alldem er-grenzt sich das souverän sich dünkende Sub-jekt selbst. Die souveränen Sub- und Ob-jekte vollziehen die absolute Trennung, weil kein übergreifendes Ganzes mehr besteht, auf das hin sie sich relativieren würden. Es ist vielmehr umgekehrt: Alle Relation geht von der EigenMacht der Souveräne aus. Das aber heißt, dass hier das Strukturprinzip von Ganzem und Teil, das der spätere Schapp in seiner Philosophie der Geschichte(n) beansprucht, auf die Struktur des begrenzenden Als-was nicht angewendet werden kann. Als-was und ›Ding‹, Verstehen und Wahrnehmen sind aus dem Grund verschieden, im Differenten aber zusammentretend, weil das Als-was mittels der Grenze, die keine Funktion der Anschauung ist, ›Dinge‹ zu absoluten Entitäten werden lässt und ihnen sich einverleibt. Das aber bedeutet, dass Wozudinge nicht das sind, was sie sind, aufgrund von in Horizonten sich gebenden Geschichten, sondern aufgrund von solchem, das Horizonte durchschneidet: aufgrund der Grenze. Lässt das Als-was Dinge in ihrer absoluten Individualität nur aufleuchten, weil in ihm die ergrenzende-begrenzende Grenze fungiert, so ist diese ihrerseits, wie Schapp sich ausdrückt, »nicht in der Welt« und doch zugleich in ihr, sofern sie »hineingelegt« wird. 44 Dieses Hineinlegen ist aber nicht Resultat einer »Aufmerksamkeit«, die Betrachtetes heraushebt. Schon in seiner Dissertation spricht Schapp vom Licht der Aufmerksamkeit, das Dinge heraushebt und sie ins Licht stellt. Doch er 41 42 43 44
Ebd., S. 157. Ebd., S. 156. Ebd., S. 155. Ebd.
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Hans Rainer Sepp
macht zugleich deutlich, dass das Licht, mit dem das Als-was Welt bildet, ein Anderes und ein ›Früheres‹ als das Licht der Aufmerksamkeit ist. Denn das Licht der Aufmerksamkeit setzt nicht harte Grenzen, sondern besitzt verschwimmende Ränder: Es blasse notwendigerweise allmählich ab. 45 Schapp beschreibt hiermit also genau dasjenige, was er mehr als vierzig Jahre später als das Wirken der in Horizonten auf- und untertauchenden Geschichten zu fassen suchte. In seinem Frühwerk aber besteht er darauf, dass solches Auf- und Abtauchen in Horizonten sich einem Anderen verdankt, das absolut nicht in Horizonten einzufangen ist: dem Licht des begrenzenden Als-was, das in Horizonte eingeht und in diesem Eingehen doch nie mit ihnen verschmilzt. Dieses Licht, das andere, der Grenze inhärente Licht ist dasjenige, das, um noch einmal Nietzsche zu zitieren, »Uebersehbare[s], Helle[s] von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet«.
5. Die von Schapp in seinem frühen Werk aufgedeckte Struktur der Grenze beinhaltet also ein Zweifaches: Zum einen wird die Grenze von einem In-sein aus, von innen her, erprobt, und erweist sich darin als ein Bruch in der Horizontverweisung, da die Erfahrung der Differenz von ›noch‹ und ›nicht mehr‹ als solche keinen weiteren Verweis beinhaltet. Zum zweiten ist die Erfahrung der Grenze Bedingung der Möglichkeit von Stiftung eines Sinns: Sinn geht in eins mit der Erfahrung der Grenze auf, nicht aber hält sich Erfahrung der Grenze schon im Medium dieses Sinns; und wenn Sinnstiftung nicht selbst schon im Umkreis von gegebenem Sinn erfolgt, besteht nicht ein Homogenes, kein Sinnraum, in dem Verhältnisse wie Ganzes und Teil oder Urbild und Abbild vorherrschen. Schapps Ansatz zu einer Phänomenologie der Grenze besitzt ein eigentümliches Pendant in Eugen Finks genau zwanzig Jahre später ebenfalls bei Husserl unter dem Titel »Vergegenwärtigung und Bild« angefertigter und 1930 publizierter Dissertation. 46 Wieder sind es auch Ebd., S. 156. Fink, Eugen, Vergegenwärtigung und Bild. Beiträge zur Phänomenologie der Unwirklichkeit, in: ders., Studien zur Phänomenologie 1930–1939, Den Haag 1966, S. 1– 78.
45 46
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Welt und Grenze
hier die letzten zehn Seiten, die ein besonderes Interesse erwecken. Denn was Fink hier in Bezug auf eine Phänomenologie des Bildes im Raum entwickelt, entspricht seiner Struktur nach exakt Schapps frühen Überlegungen zur Beschaffenheit der Grenze. Zugleich gibt Fink hier implizit schon eine Antwort auf die Frage, die Schapp gut 20 Jahre später bezüglich der Leere im Fall der Bilderfassung formulieren wird. Die Erfassung eines Raumbildes ist für Fink ein von ihm so genannter »medialer Akt«, 47 da Bildwahrnehmung in sich selbst ein Unwirkliches birgt: Wahrnehmung, die auf wirkliches Sein bezogen ist, impliziert in sich selbst das genaue Gegenteil von wirklichem Sein: eben ein bildlich Imaginiertes. Bildwahrnehmung ist ein Fall, wo ein Akt in sich selbst einen Bruch erfährt und eine Diskontinuität entfaltet – ohne dadurch selbst auseinanderzubrechen. Der Bildsinn, auf den Bildwahrnehmung bezogen ist, entfaltet sich erst mit diesem Bruch, indem die normale Wahrnehmung in sich selbst an eine Grenze gelangt, sich in sich aufhebt, sozusagen in das Bild hineinhebt, aber sich eben nur in sich hebt, d. h., ohne selbst zu verschwinden. Denn im Bezogensein auf den Bildsinn tritt der reale Raum zurück, bleibt aber auf eine eigentümliche Weise gegenwärtig. Beim Betrachten eines Bildes verliert sich die oder der Betrachtende ja nicht völlig in ihm, ein rudimentäres, passives Bewusstsein vom Weiterbestand der realen Welt bleibt bestehen. Das sachliche Korrelat, das dieses Bewusstsein stützt, bezeichnet Fink als »Durchsichtigkeit«:48 Die reale Welt und zunächst der Bildträger schimmern im Sich-Verlieren in die Bildwelt gleichsam durch. Fink betont, dass dieses Hindurchschimmern nicht ein Modus der Aufmerksamkeit sei, dass also die Weise, wie Realität im Bezogensein auf Bildlichkeit ›durchschimmert‹, nicht diejenige eines Horizontbezugs ist. Der Hinweis auf die Transparenz wäre also Finks Antwort auf Schapps Frage, wie sich die beiden Weisen der Leere, die Leere im Wahrnehmungsraum und die Leere im Bildraum, zueinander verhalten. Im Phänomen der Transparenz treten beide Leerbezüge zusammen, ohne sich zu vermengen. Transparenz ist sozusagen ein Tor, das einmal nach der Bildwelt, das andere Mal nach der realen Welt hin sich öffnen lässt. In der Transparenz liegt der Bruch, die Diskontinuität, die als solche nicht zu überbrücken ist. 47 48
Ebd., S. 72. Ebd., S. 76.
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Im Gegensatz zu Schapp, der sein frühes Konzept der Grenze fallen lässt, bleibt Fink bei dieser Struktur. In Finks Spätwerk 49 taucht das Verhältnis von Bild und Realwelt im Verhältnis von menschlicher Existenz und Welt wieder auf. Menschliche Existenz ist sozusagen eine Medialität – Fink verwendet hierfür den Begriff des »Spiels« –, ein mediales Sein jedoch von der Art, dass sein Träger, die Existenz, selbst durchlässig ist auf das ganz Andere zu ihr, das Fink »Welt« nennt. Aufgrund ihrer Durchlässigkeit wird Existenz als Spiel zu einem »Symbol« für Welt. Symbol meint hier das griechische symbolon: ein Bruchstück. Im antiken Griechenland brach man beispielsweise eine Münze, um anhand der passend zueinander zu fügenden Bruchstücke einen Fremden als den erwarteten Vertrauten zu identifizieren. Das Wesentliche: Symbol ist hier nicht mehr Nachbild oder Surrogat für ein Eigentliches; es ist die Wirklichkeit, die da ist, die man je selbst ist. Zugleich zeigt das symbolon als Bruchstück aber an, dass dieses Bruckstück nicht alles ist. Das Alles wird auf diese Weise gegenwärtig, ohne je wirklich so gegenwärtig zu werden wie das Bruchstück selbst. Welt selbst wird somit lediglich im Bruch dieser Bruchlinie angezeigt, nicht horizonthaft, sondern sozusagen an der Grenze von ›noch‹ und ›nicht mehr‹. Und auch hier kann Sinnstiftung erfolgen – Stiftung in Bezug auf das, wie dasjenige, das nicht als es selbst erscheint, doch gedacht werden könnte: Das ist der Anfang aller »metaphysischen Erzählungen«, auch gerade solcher, welche die Grenze verwischen und das symbolon tatsächlich als Symbol nehmen, das etwas repräsentiert. Aber diese Geschichten setzen einen Bruch voraus, einen Riss, der die menschliche Existenz selbst ist, und kein Horizont verweist von einem zum anderen, von der Existenz zur Welt.
6. Mit den Phänomenen der Transparenz, der Bruchlinie, gibt also Fink eine Antwort auf Schapps Frage nach dem Verhältnis der beiden Leerbezüge. Und doch ist noch eine wesentliche Erweiterung dieser Antwort denkbar. Denn Schapp bringt mit dem Hinweis auf die Leere etwas ins Spiel, dem Fink in diesem Zusammenhang nicht explizit seine Aufmerksamkeit schenkt, und das ist der menschliche Leib. Der Leib 49
Vgl. Fink, Eugen, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960.
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Welt und Grenze
ist es, der in der Wahrnehmung oder in der Einstellung auf das Imaginäre des Bildes den Bezugspunkt für die festgestellte Leere zwischen dem Betrachter und dem Angeschauten verkörpert. Schon der Hinweis auf diese zweifache Leere – deren Heterogenität Schapp als Problem stehen lässt und hierbei Leere nicht, wie an anderer Stelle, in einer Art Horizontverschmelzung bei einer sich intensivierenden Dämmerung verschwinden lässt – dieser Hinweis auf ein Zueinander von Leersystemen, das sich gerade nicht dem fungierenden Horizontzusammenhang eingliedern lässt, denkt existenzielle Räumlichkeit radikaler, als dies beispielsweise Heidegger in Sein und Zeit versucht. Für Heidegger ist Räumlichkeit ein Privativum der Erschlossenheit von Welt, alle Rede von Raum und Leere wird solcherart zurückbezogen auf ein Dasein, das die Existenzialien von »Entfernung« und »Ausrichtung« ausgebildet haben muss, bevor es sich verstehend in Räumen bewegt. 50 Bei Schapp kündigt sich in der Unvereinbarkeit der beiden Leersysteme ein Bruch an, der das zirkuläre System der Erschlossenheit der Welt untergräbt. Was Schapp jedoch nicht mehr in Betracht zieht, ist die Rolle, die der Leib bei diesem Abbruch von Sinn spielt. Dabei spricht Schapp vom Leib. Im Buch In Geschichten verstrickt wird ein sogenannter »innerer« Leib ausfindig gemacht und einem »visuellen« Leib gegenübergestellt. Darin spiegelt sich die alte phänomenologische Unterscheidung zwischen dem fungierenden Leib einerseits, dem sichtbaren Leibkörper andererseits wider. Den inneren Leib bestimmt Schapp jedoch als den »tätigen« Leib, der es mit Wozudingen zu tun hat. Den fungierenden Leib setzt Schapp also sehr spät an, indem er ihn auf den werktätigen Leib begrenzt. Fungierende Leiblichkeit ist aber ursprünglich schlicht sich ausleibende, sich selbst existierende, sich selbst vermögende Leiblichkeit. In Bezug auf diese ursprünglich sich selbst vermögende Leiblichkeit kann abschließend ein Vorblick darauf geworfen werden, wie auf dieser Grundlage die Frage nach den beiden miteinander unvereinbaren Systemen des Leerbezugs beantwortet werden könnte. Wenn sich die Leere, die sich zwischen meinem Leib und dem realen Bildding auftut, nicht bruchlos in die Leere fortsetzt, die sich zwischen meinen Leib und das imaginäre Bild schiebt, dann erfährt das leibliche Können, das gewohnt ist, Horizonte aufzufalten und zu besetzen, einen StillHeidegger, Martin, Sein und Zeit, GA 2, hrsg. v. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt a. M. 1977, § 23, S. 140–147.
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stand, einen Einschnitt. Dieser Einschnitt ist aber zugleich Bedingung der Möglichkeit, dass sich ein anderes Sinngefüge, die Welt des Bildes, öffnet. Aber diese Öffnung erfolgt nur, sofern Leiblichkeit es sich versagt, das Angebot eines Verweises auf fortsetzbares Hineinleben in die reale Welt weiterhin anzunehmen. Der Leib lässt die Grenze zu, die ihm mit dem Einbruch des Bildes gezogen wird – und ergreift sie als eine neue Chance. Das aber zeigt, dass es doch etwas gibt, das früher als alle Geschichten ist: eben der Leib – nicht als der werktätig sich in Geschichten einstellende Leib, sondern als Leib, der sich durch seine Inkarnation ursprünglich verortet und darin selbst der erste ist, der für sich eine Grenze zieht, die darin besteht, da und nicht dort, ein ego und nicht ein alter ego zu sein; der sich zugleich ursprünglich bewegt, indem er diese Grenze ist, sie existiert, und der sich bewegt, indem er sich mit dieser Grenze bewegt; und der von da aus immer neu Grenzen erfährt, Grenzen, an denen sein Können-wollen zerschellt und die ihn doch provozieren, sich sinnstiftend zu ihnen zu verhalten. Aber diese Grenzen kann er nur erfahren, weil er an sich selbst ursprünglich als Grenze existiert. Und gerade darin ist der an seine Leiblichkeit gebundene Mensch nicht Zuschauer, aber auch nicht Spielball anonymer Mächte, von denen man annehmen könnte, sie hätten den Kampfplatz schon abgesteckt. Vielleicht ist er doch so etwas wie jemand, der, nicht ganz Kämpfer, nicht ganz Kriegsberichterstatter, im Kampf innehalten kann: der mitten ins Geschehen gestellt ist und darin zugleich seine eigene Grenze zu erfahren vermag; ja, der durch seine absolute Selbstverortung vorweg schon allem entzogen und doch so verletzbar ist, dass eine Kugel ihm die letzte Grenze weist, zu der er sich nicht mehr verhalten kann. Aber damit käme der Leib an sein Ende, und nur aus diesem Grund wäre es auch das Ende aller Geschichten. 51
Diese Publikation ist im Rahmen des Forschungsvorhabens »Antropologie komunikace a lidské adaptace« der Fakultät der Wissenschaften vom Menschen der Karls-Universität Prag entstanden (FHS UK, MSM 0021620843).
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Geschichtenphilosophie und Recht Jan Schapp
Einfhrung Dass Wilhelm Schapp nicht nur Philosoph, sondern auch Jurist war, ist für die Entstehung seiner Philosophie der Geschichten sicher von einer Bedeutung gewesen, die nicht unterschätzt werden darf. Vielleicht kann man sogar sagen, dass seine langjährige Erfahrung als Rechtsanwalt und Notar ebenso Voraussetzung der Entstehung dieser Philosophie gewesen ist wie seine Herkunft aus der Phänomenologie Edmund Husserls. Nun fließt die praktische juristische Tätigkeit Wilhelm Schapps ihrerseits nicht nur direkt, sondern auch durch philosophische Werke vermittelt in die Geschichtenphilosophie ein. Es handelt sich dabei um drei Werke aus den dreißiger Jahren, die man im weitesten Sinne als Trilogie zusammenfassen kann. Wilhelm Schapp selbst hat sich in den Werken seiner Geschichtenphilosophie aus den fünfziger Jahren auf diese Werke der dreißiger Jahre bezogen und die dort vorgetragenen Gedankengänge auch im eigenen Selbstverständnis aufgenommen und fortgesetzt. Wenn wir hier nach dem Verhältnis von Geschichtenphilosophie und Recht fragen, so muss uns vor allem diese Beziehung interessieren. Ich darf daher einführend noch einmal an diese drei Werke erinnern. Es sind zunächst die 1930 und 1932 erschienenen beiden Bände von Die neue Wissenschaft vom Recht mit den Untertiteln Der Vertrag als Vorgegebenheit und Wert, Werk und Eigentum. 1 Dann verfasste Wilhelm Schapp etwa 1937 ein Manuskript mit dem Titel Zur Metaphysik des Muttertums, für das er damals keinen Verleger fand. Er veröffentlichte dieses Manuskript erst in seinem letzten Lebensjahr 1965 im Verlag Martinus Nijhoff in Den Haag. Berlin-Grunewald 1930 und 1932; der Untertitel des ersten Bandes wurde erst durch den zweiten Band hinzugefügt.
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Eine Einordnung dieser Werke in das weite Feld, das mit den Worten Rechtswissenschaft, Phänomenologie und Philosophie umschrieben werden kann, ist nicht ganz leicht, zumal das dritte Buch zum Muttertum in dieser Reihe doch eine gewisse Sonderstellung einnimmt. Unter dem Aspekt der Rechtswissenschaft werden in dem ersten Band Grundlagen des Schuldrechts und im zweiten Band Grundlagen des Sachenrechts untersucht. Zum dritten Band sagt Wilhelm Schapp selbst, dass als weitere Fortsetzung nun wohl nach Vertrag und Eigentum eine Arbeit über das Familienrecht fällig gewesen wäre. Im Laufe der Jahre habe sich das Thema aber in eine Metaphysik des Muttertums verwandelt. Unter philosophischem Aspekt lassen sich die Bücher zweifellos der Phänomenologie zuordnen. Der Ausdruck Rechtsphänomenologie würde wohl nur für die ersten beiden Bände zutreffen, scheint mir aber doch auch hier einige Fragen aufzuwerfen. Allgemein wird Adolf Reinach mit seinem 1913 erschienenen Werk Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts als Begründer der Rechtsphänomenologie begriffen. Wilhelm Schapp knüpft nun zwar an die Fragestellungen von Reinach an, stellt die Untersuchung aber im Vergleich zu Reinach auf eine neue Basis, weil er nach den Werten im Recht fragt. Ich verstehe daher alle drei Bücher der dreißiger Jahre als Beiträge zu einer Phänomenologie der Werte. Im Unterschied zu dem blassen Begriff der Rechtsphänomenologie hat diese Deutung auch den Vorteil, dass sie auch das dritte Buch zwanglos mitumfasst. Wilhelm Schapp hat diesen Zusammenhang dort in die Worte gefasst: »Der Mensch lebt, und darauf beruht seine Würde, in einer von Werten erfüllten Welt.« 2 Die Deutung der Trilogie der dreißiger Jahre als Wertphänomenologie ermöglicht nun ihrerseits einen Brückenschlag sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Wir werden im Folgenden sehen, welche Verbindungslinien sich von hier aus zu Wilhelm Schapps Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung 3 von 1910 ziehen lassen. Besonders muss uns natürlich der Brückenschlag in die Zukunft interessieren. Offenbar bestehen Beziehungen zwischen den Werten und den Geschichten. Wir erinnern uns an die Wertschätzung, die Wilhelm Schapp bei aller Kritik der phänomenologischen Lehre von Satz
2 3
Schapp, MM, S. 67. Schapp, B (4. Aufl.).
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Geschichtenphilosophie und Recht
und Sachverhalt in Philosophie der Geschichten der Wertlehre Husserls und Schelers entgegenbringt. 4 Mit dem Anschluss an eine Wertwelt ist die Begrenzung durchbrochen, die für eine Untersuchung mit der Zuordnung zur Rechtsphänomenologie und selbst zur Rechtsphilosophie immer schon mitschwingt. Die untersuchten Gebilde treten uns entgegen als Teil der Welt der Philosophie oder im Sinne der sich dann entfaltenden Geschichtenphilosophie als Teil der Welt der Geschichten. Es ist der Gesichtspunkt, unter dem sie Wilhelm Schapp in der folgenden Geschichtenphilosophie auch interessieren. Die Absicht geht nicht auf die Begründung einer vielleicht sogar methodisch selbständigen Rechtsphilosophie. Es ist schon deutlich geworden, dass wir drei Schaffensperioden von Wilhelm Schapp unterscheiden müssen, die allerdings doch eng miteinander zusammenhängen und aufeinander aufbauen. Die frühe Schaffensperiode ist die Zeit der Schülerschaft bei Edmund Husserl von 1906–1910, die mit der Dissertation Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung endet. In der mittleren Schaffensperiode verfasst Wilhelm Schapp die drei Werke der Wertphänomenologie. Die späte Schaffensperiode der fünfziger und sechziger Jahre führt zu der Trilogie der Geschichtenphilosophie, wobei die Veröffentlichung des dritten Werkes der Wertphänomenologie in die Zeit der Geschichtenphilosophie fällt. Wir werden uns im Folgenden unserem Thema »Geschichtenphilosophie und Recht« in mehreren Schritten nähern. Ausgangspunkt der zentralen Betrachtung Wilhelm Schapps zum Recht in Philosophie der Geschichten ist das Wozuding. 5 In einem 1. Abschnitt werden wir uns daher den Weg Wilhelm Schapps zum Wozuding der Geschichtenphilosophie vergegenwärtigen, der bereits 1910 beginnt. Wir zeichnen dabei den Weg so nach, wie Wilhelm Schapp ihn 1953 in In Geschichten verstrickt selbst in der Rückbesinnung gesehen hat. In einem 2. Abschnitt wenden wir uns dann näher den beiden ersten Bänden der wertphänomenologischen Trilogie zu, und hier insbesondere dem zweiten Band mit dem Untertitel Wert, Werk und Eigentum. Es handelt sich um die wohl wichtigste Station auf dem Wege zur Geschichtenphilosophie und zugleich um den Ausgangspunkt der Betrachtun4 5
Vgl. etwa Schapp, PdG (2. Aufl.), S. XVIII. Ebd., S. 40 ff.
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Jan Schapp
gen zum Recht in der Philosophie der Geschichten. Mit dem 3. Abschnitt sind wir dann in der Philosophie der Geschichten angekommen. Unser Thema sind jetzt die »Reihen im Recht«, d. h. der Gesichtspunkt, unter dem Wilhelm Schapp die rechtlich interessanten Gebilde Eigentum, Vertrag und Gesetzgeber in die Philosophie der Geschichten einordnet. Der 4. Abschnitt ist dem Verhältnis von Geschichtenphilosophie und Rechtswissenschaft gewidmet. In einem 5. Abschnitt wenden wir uns der Bedeutung zu, die die Untersuchungen Wilhelm Schapps zur Metaphysik des Muttertums für die Philosophie der Geschichten gehabt haben. Das soll allerdings nur noch in Gestalt eines Ausblicks geschehen, da Frau Joisten und Herr Pohlmeyer das Thema sicher vertieft behandeln werden.
1.
Abschnitt: Auf dem Weg zum Wozuding
Im ersten Kapitel von In Geschichten verstrickt schildert Wilhelm Schapp uns zunächst, dass wir Menschen immer in Geschichten verstrickt sind. In diesen Geschichten kommen andere Menschen vor, übernatürliche Wesen, auch Tiere. In den Geschichten kommt dann weiter vor die anscheinend unausschöpfbare sogenannte Außenwelt, von der man nicht mehr sagen kann, dass sie in Geschichten verstrickt ist. Wilhelm Schapp sieht die Nahtstelle zwischen den Geschichten und dieser Außenwelt nun in den Gebilden, die er Wozudinge nennt. Es sind die vom Menschen geschaffenen Dinge wie Tische, Stühle, Tassen, Häuser, Paläste, die Werke des Menschen. Die Wozudinge fügen sich in die Geschichte eines Menschen ein, wobei Wilhelm Schapp zunächst den Schöpfer des Wozudings im Auge hat. Dabei bleibt aber die Frage nach dem Verhältnis des Wozudings zur Außenwelt noch unbeantwortet. Ist das Wozuding schließlich nur ein Ding unter den Dingen der Außenwelt oder bildet die Außenwelt sich überhaupt erst von den Wozudingen her, so dass sie in ein Nichts zusammenfällt, wenn man die Wozudinge und den Zusammenhang, in dem sie auftauchen, wegdenkt? Dieser Frage geht Wilhelm Schapp im ersten Abschnitt von In Geschichten verstrickt nach, der überschrieben ist »Das Wozuding in der Außenwelt und seine Wahrnehmung«. Das geschieht in der Weise, dass er die verschiedenen Abschnitte seines philosophischen Weges zum Wozuding in einer Rückbesinnung gewissermaßen noch einmal durchwandert, um sie dem Leser als Teil seines Weges zum Wozuding 68 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Geschichtenphilosophie und Recht
verständlich zu machen. Wenn ich im Folgenden von verschiedenen Abschnitten oder Stufen der Betrachtung spreche, so geschieht das nur der Anschaulichkeit halber. Tatsächlich handelt es sich um eine Abfolge feiner Akzentverschiebungen, die Wilhelm Schapp einander dann auch nicht mit Schärfe entgegensetzt. Eine gewissermaßen erste Stufe auf diesem Weg liegt in dem die Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung von 1910 beherrschenden Gedanken, dass ich keine Sinnesqualitäten wie Farben, Töne, Geräusche wahrnehme, sondern immer schon das Ding mit seinen Charakteren, also z. B. dieses Haus. Falsch wäre auch der Ausdruck, dass ich eine bestimmte Anordnung von Farben als Haus wahrnehme. Die Fixierung auf den Wahrnehmungsakt wird bereits hier fast unmerklich verdrängt durch die Vorstellung eines Auftauchens des Dinges in seinen Horizonten. Im Hintergrund mag die phänomenologische Lehre von der Selbstgegebenheit stehen. Der phänomenologische Akt der Wahrnehmung beginnt jedoch schon, sich aufzulösen. Dieser Auflösungsprozess scheint mir am weitesten gediehen, wenn Wilhelm Schapp in den Beiträgen schreibt: »Es ist, als ob jedes Ding seine Geschichte habe und als ob diese Geschichte Spuren in ihm hinterlasse«. 6 Dann richtet Wilhelm Schapp unseren Blick in seiner Rückbesinnung gewissermaßen auf einer zweiten Stufe auf das Schaffen des Dinges, das er jetzt schon als Wozuding bezeichnet. Dieses Schaffen findet im Sägen, Bohren, Hämmern am Ding statt. Das Schaffen wird dabei auf den Leib bezogen. Über die Verbindung des Leibes zur Erde betätigen wir im Schaffen den Tastsinn, ja was Tasten ist, ist uns eigentlich nur über dieses Schaffen zugänglich. Wilhelm Schapp bezeichnet jetzt das Schaffen von Wozudingen als tätige Wahrnehmung. Es ist in etwa der Standpunkt von Wert, Werk und Eigentum von 1932 erreicht. Der Ausdruck tätige Wahrnehmung ermöglicht den Anschluss an die Betrachtung der Dingwahrnehmung von 1910. In einer dritten Stufe erscheint Wilhelm Schapp dann die Herstellung eines Wozudings selbst als eine Geschichte. Wahrnehmung und tätige Wahrnehmung gibt es nur insoweit, als es diese Geschichte gibt. Sie lösen sich damit mehr oder weniger in diese Geschichte auf. Da Wilhelm Schapp in diese Geschichte des Schaffens von Wozudingen auch das Auswas der Wozudinge einbezieht, ist mit den Akten der Wahrnehmung zugleich auch die Vorstellung einer materiellen Au6
Schapp, B (4. Aufl.), S. 117.
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ßenwelt von dieser Auflösung betroffen. Im Sinne seiner Ausgangsfrage hat Wilhelm Schapp damit den Primat der Geschichten vor der Außenwelt dargetan oder die Außenwelt und alles, was damit zusammenhängt, ist nur ein Derivat von Geschichten. In einem unveröffentlichten Manuskript vom 6. Oktober 1960, 7 also ein Jahr nach dem Erscheinen der Philosophie der Geschichten, resümiert Wilhelm Schapp seine eigene Entwicklung noch einmal unter der Überschrift »Verbindungslinien«. Er schreibt: »Wenn ich von Zeit zu Zeit versuche, ohne Verfälschungen das festzuhalten, was Ausgangspunkt und später vielleicht auch Mittelpunkt meines Nachdenkens geworden ist oder besser gewesen und geworden ist, so möchte ich beginnen mit der geistigen Aura, die in jeder Wahrnehmung enthalten ist oder, wie man sich auch ausdrücken könnte, mit dem Denken, was in jeder Wahrnehmung enthalten ist. […] Es liegt hier irgend etwas vor, was wohl fast alle Philosophen zum Nachdenken gereizt hat, was dann aber in der verschiedensten Weise beschrieben und aufgefaßt ist. […] Es scheint mir, daß ich von Anfang an versucht habe, dies Licht in Verbindung zu bringen mit Vergangenheit des Dinges, mit den Spuren der Vergangenheit am Ding und sogar schon mit den Geschichten des Dinges. […] Zwanzig Jahre später stießen wir in »Wert, Werk und Eigentum« bei der Untersuchung der Beziehungen zwischen Werk und Eigentum auf all die Sinnzusammenhänge, in denen das Werk stehen kann. In Fortsetzung dieser Überlegungen kamen wir dann wieder zwanzig Jahre später auf die Wozudinge und fanden damit den schärfsten Ausdruck, den vorläufig schärfsten Ausdruck für dies seltsame Licht in der Wahrnehmung, und zwar durch eine Verbindung der Geschichten mit dem Wozuding. […] Die Schwierigkeit dabei war, daß die Philosophie, soweit sie mir bekannt war, kaum jemals sich mit Geschichten als einem eigenen Gebilde befaßt hatte, andererseits war das Material, nämlich mehr oder weniger geschlossene Geschichten, in Wahrheit unerschöpflich. Bei der Aufklärung des Verhältnisses zwischen Wozuding und Geschichten kam mir die intensive Beschäftigung mit Werk und Eigentum zustatten.«
Seine Betrachtung führt Wilhelm Schapp in diesem Manuskript schließlich zu folgender Bemerkung: »So ist schließlich bei der Wahrnehmung des Ozeandampfers nicht die nicht wahrgenommene Rückseite das eigentlich Auffällige, sondern die nicht wahrgenommene Vergangenheit des Dampfers, die nur in Geschichten aufleuchten kann, wobei dann doch wohl die Rückseite aufhört, ein Problem zu sein, oder nur zu einem Problem von minderer Bedeutung wird.« Dieses wie auch die im Folgenden zitierten unveröffentlichten Manuskripte befinden sich in der Bayerischen Staatsbibliothek in München.
7
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Geschichtenphilosophie und Recht
2.
Abschnitt: Der Zusammenhang von Wert, Werk und Eigentum
Wilhelm Schapps eigene Hinweise verweisen uns auf eine etwas nähere Betrachtung des Zweiten Bandes von Die neue Wissenschaft vom Recht mit dem Untertitel Wert, Werk und Eigentum von 1932. Da dieses Buch eine Fortsetzung des ersten Bandes dieses Werkes mit dem Untertitel Der Vertrag als Vorgegebenheit ist, werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf diesen ersten Band. Wilhelm Schapp knüpft in ihm an Adolf Reinachs Lehre von der Bedeutung der spezifischen Akte im Recht an, macht jetzt aber statt des Versprechens oder des Anspruchs den Vertrag zum Gegenstand seiner Untersuchung. Er interessiert sich dabei nicht für einen allgemeinen Begriff des Vertrages, sondern für den Austauschvertrag, also Verträge wie Kauf, Miete, Pacht oder Werkvertrag. Die spätere Abwendung von der Gattung und Hinwendung zu den Reihen konkreter Gebilde bereitet sich in diesem Perspektivenwechsel bereits vor. Der Austauschvertrag, z. B. ein Kauf, gliedert sich in einen Oberbau und in einen Unterbau. Der Oberbau erfasst den Vertragsschluss. Hier beziehen sich zwei Akte des Versprechens oder der Übertragung aufeinander. Der Unterbau ist in einer Sphäre des Fühlens und Genießens von Werten fundiert. Diese Wertgrundlage und ihre Entwicklung ist es eigentlich, die den Vertrag zustande bringt. Jeder Vertragspartner muss die Leistung des anderen höher schätzen als seine eigene, wenn es zu einem Vertragsschluss kommen soll. Wenn der Vertragsschluss auf diese Weise in einer durch Wertfühlen geprägten Grundlage fundiert ist, dann muss dem Eigentum an Dingen gewissermaßen als Ziel des Vertrages entscheidende Bedeutung zukommen. Eine Lehre vom Vertrag fordert damit als zweiten Teil eine Lehre vom Eigentum, insbesondere eine Antwort auf die Frage, wie Eigentum entsteht. Ihr wendet Wilhelm Schapp sich in Wert, Werk und Eigentum zu. In den Mittelpunkt der Untersuchung tritt nun die Frage nach dem Verhältnis von Schöpfer und Werk. Alles jemals Geschaffene ist Werk, ob daran nun Eigentum bestehen kann oder nicht. Damit sind Werke auch das englische Weltreich und sogar das ganze Leben Napoleons. Werke sind auch die geistigen Werke wie Kunstwerke, die Dichtwerke, der mathematische Lehrsatz als ein Feld, in dem die Eigentumsproblematik nicht mehr auftaucht. Die Untersuchung kulminiert in dem Satz: »Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer 71 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Jan Schapp
Werke«. 8 Die Werke sind in der Seele des Schöpfers verankert. Wilhelm Schapp spricht hier unter Hinweis auf einen glücklichen Ausdruck Alexander Pfänders von einer Verankerung im »voluminösen Ich«. 9 Schließlich beschäftigt Wilhelm Schapp sich dann mit den Werken, an denen vorrechtlich Eigentum entsteht. Sie machen nur einen Teil der vorher als Werk begriffenen Schöpfungen aus, wenn es sich hier vielleicht auch um den Kernbereich der Schöpfungen handeln mag. Dieses vorrechtliche Eigentum ist seit vielen tausend Jahren, und zwar das Eigentum noch sehr viel länger als der Vertrag, durch positive Sitte, Moral, Religion geschützt. Ihnen gesellt sich schließlich das Gewohnheitsrecht zu. Das positive Recht im Sinne des Gesetzesrechts nimmt dann dieses Gewohnheitsrecht auf, präzisiert und verfeinert es. Vertrag und Eigentum im vorrechtlichen Sinne gehen in das positive Recht ein und werden durch das positive Recht leicht umgebogen, umgeändert und als so modifizierte Gebilde in positivrechtlicher Anerkennung geschützt. Die Perspektive auf die Geschichten taucht in Wert, Werk und Eigentum schon an verschiedenen Stellen auf, so wenn es heißt, dass in diesem Sinne eine Flasche Moselwein, ein Schuh, ein Automobil, ein Pferd, die Farbe und der Duft einer Rose ihre Geschichte haben. 10 Auch der Sache nach scheint Wilhelm Schapp schon die Geschichten im Auge zu haben, wenn er schreibt: »Wir haben nicht allein das Werk, sondern das Werk hat auch uns.« 11 In Kenntnis der späteren Geschichtenphilosophie ist man an vielen Stellen der Betrachtung geradezu versucht, den Ausdruck Werk durch den Ausdruck Geschichte zu ersetzen. Während Werk damit bei Wilhelm Schapp in gewissem Sinne eine Vorform der Geschichte ist, könnte man das Werk, an dem Eigentum besteht, als Vorform des Wozudings bezeichnen. In einem unveröffentlichten Manuskript vom 16. 4. 1933 bedenkt Wilhelm Schapp noch einmal die Zusammenhänge, die er uns in der Neuen Wissenschaft vom Recht vor Augen gestellt hat. Er spricht von einer Geschichte der Menschheit, die sich über 500 000 Jahre erstreckt, von einer Geschichte, die nur in ihren letzten 10 000 Jahren allmählich etwas deutlicher vor uns zu liegen beginnt. In diese Geschichte, so fährt Schapp, NWR II, S. 67. Ebd., S. 51, 80. 10 Ebd., S. 67. 11 Ebd., S. 74. 8 9
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Geschichtenphilosophie und Recht
er fort, sind wir Heutigen verstrickt, ist aber auch jeder unserer Vorfahren verstrickt.
3.
Abschnitt: Die Perspektive der Geschichtenphilosophie: Eigentum und Vertrag in der Wozudinggeschichte, die Reihe der vom Gesetz geregelten Flle
Dass das Wozuding mit seinem Geschichtencharakter im Rahmen der wertphänomenologischen Untersuchung in Wert, Werk und Eigentum schon weitgehend vorbereitet wurde, rückt die mittlere und die späte Zeit des Philosophierens von Wilhelm Schapp in einen engeren Zusammenhang. Jetzt soll uns interessieren, wie Wilhelm Schapp das Thema in den Werken seiner Geschichtenphilosophie selbst aufgreift. Das geschieht vor allem in dem Abschnitt »Reihen im Recht« in der Philosophie der Geschichten, 12 dann aber auch in kürzeren Passagen im zweiten Abschnitt von In Geschichten verstrickt. Wichtig für ein Verständnis des Abschnitts »Reihen im Recht« ist zunächst der Kontext, in dessen Rahmen diese Untersuchung in dem mit »Die Sonderwelt des Abendlandes« überschriebenen Kapitel im ersten Teil der Philosophie der Geschichten steht. Wilhelm Schapp möchte die Abhängigkeit dieser Sonderwelt des Abendlandes, die er auch als Atomwelt oder physikalische Welt bezeichnet, von den Geschichten offenlegen, oder zumindest die Verbindungslinien zwischen der Welt der Geschichten und der physikalischen Welt aufzeigen. 13 Eine Verbindung zu dieser Atomwelt ist immer nur von der festgegründeten Erde möglich, dabei ist die Erde immer schon der Schauplatz der Geschichten. Was aber Schauplatz heißt in diesem Sinne, das lässt sich am besten über die Wozudinge und über das Auswas der Wozudinge klarmachen. 14 Von besonderer Bedeutung sind dabei für ihn die an die Stelle der Gattung tretenden Reihen von Gebilden in den Geschichten. Die schon häufiger erwähnten Reihen der Wozudinge, etwa die Reihe der Schiffe vom Einbaum bis zum Ozeanriesen, erfahren nun eine Vervollständigung auf dem Gebiete des Rechts durch Daran knüpfe ich in meiner Untersuchung Sein und Ort der Rechtsgebilde, Den Haag 1968, an. 13 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 35. 14 Ebd., S. 35. 12
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Jan Schapp
Reihen von Gebilden des Rechts, insbesondere durch Reihen von Eigentum und von Vertrag. 15 Diese bilden neben den Reihen der Wozudinge gewissermaßen Reihen zweiter Ordnung. 16 Die Wozudinggeschichte als Gegenpol zur Atomwelt gewinnt jetzt größeres Gewicht allein schon dadurch, dass in ihrem Horizont Eigentum und Vertrag auftauchen, sichtbar werden. Die Wozudinge sind über und über eingehüllt in Eigentum. 17 Es wird mit diesen Gebilden des Eigentums und des Vertrages in der Wozudingwelt ein neues Reich erschlossen, das so bisher noch nicht sichtbar war. Eigentum und Vertrag sind, wie das Wozuding auch, Gebilde in Geschichten, die die Geschichtenwelt mit ausmachen und die als Gebilde in einer Atomwelt sinnlos wären. Das Interesse Wilhelm Schapps geht zunächst dahin, den Gebilden Eigentum und Vertrag in konkreten Wozudinggeschichten ihren Platz als Geschichtengebilde anzuweisen. Ausgangspunkt ist dabei der Ichverstrickte als Eigentümer eines bestimmten Wozudings. Die ganze Untersuchung ist überhaupt nur verständlich, wenn man sich klarmacht, dass es sich um diese Perspektive des Verstrickten auf Eigentum und Vertrag handelt, nicht etwa um die des Gesetzgebers oder der Rechtswissenschaft. Wilhelm Schapp bezeichnet das Eigentum des Ichverstrickten als konkretes Eigentum, um es vom »Eigentum überhaupt« zu unterscheiden. Wenn man sprachlich näher an das Eigentum herankommen wollte, müsste man »mein« und »dein« und »sein« und viele andere Ausdrücke in Verbindung mit Eigentum bringen. Im Horizont dieses konkreten Eigentums taucht das jeweilige konkrete Eigentum des Rechtsvorgängers auf bis zu dem Moment, in dem das Wozuding hergestellt wird. Die Eigentumsübertragungen werden in der Regel durch entgeltliche Verträge vermittelt. Damit tauchen im Horizont des Wozudinges eine bestimmte Reihe von Eigentumsverhältnissen und eine zu ihr gehörende Reihe von Austauschverträgen auf. Entsprechende Reihen gehören zu jedem meiner Wozudinge, dann aber auch zu den Wozudingen meiner Familienangehörigen, meiner Mitverstrickten, meiner weiteren Vorfahren, bis in die entferntesten Zeiten. Wilhelm Schapp schreibt: 15 16 17
Ebd., S. 40. Ebd., S. 44. Ebd., S. 41.
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Geschichtenphilosophie und Recht
»Wenn wir von der Summe des gegenwärtigen konkreten Eigentums in der Welt ausgehen, so haben wir nach rückwärts im Horizont bezüglich dieses Eigentums jeden Wechsel im Griff. Der heutige Zustand gründet sich auf den vorhergehenden Wechsel. […] Mit der Verfolgung des heutigen Eigentums nach rückwärts und mit der Ergänzung durch Querschnitte in den vergangenen Zeiten erfassen wir jeden Wechsel im Eigentum.« 18
Vom einzelnen Wozuding und seinem Eigentümer aus gesehen erscheinen Herstellung und Wechsel im Eigentum als Geschichte dieses konkreten Eigentums, der durch Vertrag herbeigeführte Wechsel im Eigentum als Vertragsgeschichte, die zugleich Eigentumsgeschichte ist. In diesem großen Rahmen der Wozudinggeschichten und der zu ihnen gehörenden Reihen von konkretem Eigentum und entgeltlichen Verträgen lassen sich dann auch die Schenkungen, der Eigentumserwerb durch Erbfolge, der betrügerische Vertrag, die Delikte und was es sonst an Konstellationen geben mag, einordnen. Während Wilhelm Schapp in den Werken der dreißiger Jahre im Anschluss an die Rechtsphänomenlogie Reinachs mit einer Untersuchung des Vertrages begann, die ihn dann zu einer Untersuchung des Eigentums führte, verschiebt sich jetzt der Schwerpunkt der Untersuchung auf das Eigentum. Der Vertrag wird unter dem Gesichtspunkt des Wechsels im Eigentum gesehen, die Vertragsgeschichte wird damit zum Teil der Eigentumsgeschichte. Beide Geschichten sind wiederum Teil der Wozudinggeschichte. Man kann vielleicht sagen, dass der Vertrag zur Vertragsgeschichte erst wird über seine Verbindung zum Eigentum. Auf diese Weise wird aus der Perspektive des Ichverstrickten ein Ort für den Vertrag als Vertragsgeschichte gewonnen, der schließlich auch Ausgangspunkt für die juristischen Perspektiven auf den Vertrag sein muss. Mit der Gewinnung eines Ortes für die Vertragsgeschichte wird nun andererseits die Wozudinggeschichte nicht mehr primär als Geschichte der Herstellung des Wozudings gesehen. Die vertraglichen Schicksale des Wozudings gehörten genauso zu seiner Geschichte wie seine Herstellung. Wilhelm Schapp sieht schließlich sogar den vertraglichen Wechsel im Eigentum in der Perspektive des Schaffens, wenn er auf die Beziehung zwischen Schaffen, Anschaffen, Beschaffen, Verschaffen hinweist. 19 18 19
Ebd., S. 47. Ebd., S. 43. In Sein und Ort der Rechtsgebilde, S. 55 ff., 73, beziehe ich das Schaffen
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Jan Schapp
Die Perspektive des Ichverstrickten auf Eigentum und Vertrag als Reihen beantwortet noch nicht die Frage nach der Bedeutung des positiven Rechts für Eigentum und Vertrag. Wilhelm Schapp verfolgt hier zwei Untersuchungsansätze. In In Geschichten verstrickt ordnet er die Gesetzgebung in eine Reihe ein, die bis zu der von dieser Gesetzgebung betroffenen Geschichte des Ichverstrickten führt, in der weiteren Untersuchung des Abschnitts »Reihen im Recht« in Philosophie der Geschichten betrachtet er dagegen Eigentum und Vertrag in der Perspektive der Rechtswissenschaft und des durch die Rechtswissenschaft geprägten Gesetzes. In unseren Zusammenhang gehört die erste Perspektive, zum Verhältnis von Geschichtenphilosophie und Rechtswissenschaft werden wir im folgenden Abschnitt Stellung nehmen. In der kurzen Skizze zur Gesetzgebung im hier einschlägigen 7. Kapitel des zweiten Abschnitts von In Geschichten verstrickt weist Wilhelm Schapp zunächst darauf hin, dass der Jurist gewohnt ist, das Gesetz als eine allgemeine Anordnung für einen generellen Personenkreis zu sehen. Seine Kritik richtet sich gegen diese Vorstellung. Der Gesetzgeber hat – ebenso wie der Vater, der für seine Familie und seinen Haushalt Anordnungen trifft – nur eine Reihe von einzelnen Geschichten, von Einzelfällen in der Zukunft bei seinen Regelungen im Auge. Die Zahl dieser Einzelfälle liegt zwar noch nicht fest, das heißt aber nicht, dass sie deswegen eine Gattung bilden. Auch diese zukünftigen Einzelfälle werden zählbar sein und bilden daher nur eine konkrete Reihe. »Das Gesetz fügt sich mit den Einzelgeschichten, die unter das Gesetz fallen, wie der gangbare Ausdruck heißt, zu einem eigenartigen Gesamtgebilde zusammen, welches wir wieder als Geschichte auffassen. Das Gesetz ist ein Moment oder ein weniger oder mehr selbständig faßbarer Teil dieses Gesamtgebildes. Die Einheit des Gesamtgebildes ergibt sich aber schon daraus, daß Gesetz und Einzelfall sich gegenseitig tragen. Das Gesetz ist nichts ohne den Einzelfall. Der Einzelfall ist nichts ohne das Gesetz.« 20
In jeder konkreten Rechtsgeschichte steht im Mittelpunkt zunächst der darin Verstrickte. Dann ist von der einen Seite der Gesetzgeber darin verstrickt, von der anderen Seite der Richter. Gesetzgeber, Ichverstricknicht allein auf die Herstellung des Wozudings, sondern auf das Vermögen; damit sind die Verträge in die Wozudinggeschichte mit einbezogen. Vgl. dazu auch Wilhelm Henke, Recht und Staat, Tübingen 1988, S. 244. 20 Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 109.
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Geschichtenphilosophie und Recht
ter und Richter sind Mitverstrickte in einer Geschichte. Es ist hier also die gesetzliche Anordnung, die die Reihe der vom Gesetz geregelten Fälle bis hin zum Verstrickten begründet. Im Horizont des Gesetzgebers tauchen seine Vorgänger auf, die die Fälle ähnlich oder anders geregelt hatten, bis vielleicht das Gewohnheitsrecht oder Sitte, Moral, Religion die Regelung übernehmen. Wieder ist die vom Ich ausgehende Reihe das Band, welches das Gesamtgebilde zusammenhält. Die Betrachtung der vom Gesetz geregelten Fälle als durch den Gesetzgeber begründete Reihe von Fällen lässt schließlich das Gesetz selbst als Moment der Wozudinggeschichte erscheinen. Damit bilden Wozuding, Eigentum und Vertrag eine Einheit, mit der Recht und Welt immer schon mitgegeben sind. In der Geschichtenphilosophie tritt die Mitgegebenheit von Recht und Welt an die Stelle der Vorgegebenheit von Vertrag und Eigentum im Sinne der Werke der dreißiger Jahre. Auf die unterschiedlichen politischen Pespektiven auf das Eigentum geht Wilhelm Schapp nur am Rande ein. Es sei wohl überflüssig zu sagen, dass auch in der kommunistischen Welt mein und dein keineswegs aufgehoben sind. 21 Vielleicht kann man sagen, dass in der Sicht der Geschichtenphilosophie die Eigentumsauffassungen des Konservativismus, des Liberalismus, des Christentums, des Sozialismus nur den Charakter unterschiedlicher Momente in Wozudinggeschichten haben, die den Grundsatz nicht berühren, dass das Wozuding ohne Geschichten und ohne Eigentum sinnlos ist. 22
4.
Abschnitt: Geschichtenphilosophie und Rechtswissenschaft
Bei der Untersuchung von Eigentum und Wechsel im Eigentum, wie beides in Geschichten vorkommt und wie sie auch jedes Märchen kennt, fühlt Wilhelm Schapp sich noch frei vom BGB und seinem System. Er stellt nun in der weiteren Untersuchung des Abschnitts »Reihen im Recht« in Philosophie der Geschichten die Frage, welche Stellung beides im BGB hat. Da der Gesetzgeber des BGB mit den in langer Tradition durch die Rechtswissenschaft herausgearbeiteten Begriffen arbeitet, dürfte der eigentliche Adressat der Frage die Rechtswissenschaft sein. Wilhelm Schapp spricht sie auch bald direkt an. Wenn 21 22
Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 41. Vgl. v. Verf., Sein und Ort der Rechtsgebilde, S. 69.
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man den Adressaten noch genauer bezeichnen wollte, könnte man in heutiger Sprechweise vielleicht sagen, dass Wilhelm Schapp jetzt die Frage nach der Bedeutung der rechtswissenschaftlichen Dogmatik stellt. Schon in In Geschichten verstrickt hatte Wilhelm Schapp darauf hingewiesen, dass der Zusammenhang zwischen Gesetz und Geschichte in der Tradition durch den systematischen Aufbau der Gesetze wie durch einen Vorhang verdeckt wird. Er wendet sich jetzt insbesondere dem Vertrag des BGB zu, der begriffen wird als eine auf den Eintritt bestimmter Rechtsfolgen gerichtete Willensübereinstimmung. Er kommt zu dem Ergebnis, dass den so verstandenen Verträgen des Allgemeinen Teils, des Schuldrechts und des Sachenrechts des BGB in der Geschichtenwirklichkeit nichts entspricht und dass sie daher als solche die ihnen von Gesetzgeber und Rechtswissenschaft zugeordneten Rechtsfolgen auch nicht verständlich zu machen vermögen. So vermag der Konsens weder die Entstehung der Verpflichtung zur Eigentumsverschaffung noch den Eigentumsübergang zu erklären, sondern es muss etwas hinzukommen: Der Vertrag muss entgeltlich oder unentgeltlich sein. 23 Wilhelm Schapp vergleicht nun die schon zurechtgestutzten Gebilde der Rechtswissenschaft, die so nicht in der Wirklichkeit angetroffen werden, mit den entsprechenden Gebilden in den Geschichten und stellt fest, dass die zugrunde liegende Wirklichkeit ständig den Gang der mehr künstlichen Rechtsgebilde reguliert. Auf dieser Grundlage unterscheidet er jetzt die Geschichte in seinem Sinne und den juristischen Fall. In In Geschichten verstrickt hatte er zuvor schon den juristischen Fall ebenso wie den Fall des Arztes, des Geistlichen, des Morallehrers als das Gerippe einer Geschichte bezeichnet. Jetzt weist er darauf hin, dass die menschlich interessanten Geschichten auf juristischem Gebiet keine nahe Beziehung zu den interessanten Rechtsfällen haben, die oft an die Lösung einer Schachaufgabe erinnern. »Die zahlreichen Fälle, in denen der Gesetzgeber gegen den Strich arbeitet, scheinen den fruchtbaren Boden für das Aufsprießen von Rechtsfällen zu geben.« 24 Im Zusammenhang mit dieser Regelung gegen den Strich steht ein gewisses kombinatorisches Element des positiven Rechts. Eine
23 24
Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 55. Ebd., S. 62.
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positivrechtliche Bestimmung gegen den Strich zieht die andere nach sich, bis irgendwo das Gleichgewicht wieder erreicht ist. 25 Wilhelm Schapp schlägt dann vor, eine gewisse Ordnung dadurch zu erreichen, dass Reihen des positiven Rechts von Reihen der natürlichen Regelung unterschieden werden mit zahlreichen Zwischengebilden zwischen beiden Polen. 26 Als Beispiel der natürlichen Regelung nennt er den Normalkauf, Miete, Pacht, als Beispiel der positivrechtlichen Regelung die Verfügung des Nichtberechtigten und die Rechtswirkung des abstrakten Vertrages. Ein Zwischengebilde ist dann etwa der Bereicherungsanspruch. »Die Geschichten verdünnen sich dabei zu Fällen, je weiter wir in das Gebiet der künstlichen Rechtsgebilde vordringen«. 27 Bei aller Kritik der Dogmatik räumt Wilhelm Schapp allerdings ein, dass diese Art Regelung durchaus einer wirtschaftlichen Vernunft entsprechen kann und aus Geschichten verständlich wird. 28 An anderer Stelle heißt es: »Wer den Vertrag der klassischen Jurisprudenz in der Wirklichkeit sucht, ist dem Seefahrer zu vergleichen, der nach dem Äquator selbst ausschaut; das hindert nichts daran, daß es wiederum auch ohne Äquator nicht geht«. 29 Tatsächlich erfährt jeder jüngere Jurist im Laufe seiner Ausbildung schon bald dieses Leben in zwei Welten, das Wilhelm Schapp hier beschreibt. Man könnte es fast als Ziel der Ausbildung bezeichnen, ihn in dem Umgang mit diesen beiden Welten zu schulen. Das Problem scheint mir allerdings in dieser Schärfe doch nur formulierbar von der Geschichtenphilosophie aus. Die Unterscheidung der beiden Welten dürfte dann auch die Grundlage für wichtige Fragen an die juristische Dogmatik sein. So scheint uns z. B. im Rahmen der juristischen Methodenlehre die Reihe der durch das Gesetz geregelten Fälle noch nicht genügend in den Blick gerückt zu sein. 30 Auch ist es z. B. ein Unterschied, ob man bei der historischen Auslegung des Gesetzes nach dem
Ebd., S. 64. Ebd., S. 64. 27 Ebd., S. 64. 28 Ebd., S. 64. 29 Ebd., S. 62. 30 An diese Perspektive knüpfe ich an in meinen Schriften Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, Tübingen 1983, und Methodenlehre des Zivilrechts, Tübingen 1998. 25 26
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Willen des Gesetzgebers sucht oder ob man die Reihen der Gesetzgeber und damit die Geschichte des Gesetzes in den Blick nimmt. Der Kontext, in den die Betrachtung Wilhelm Schapps zu den Reihen im Recht eingeordnet ist, führt zur Frage, ob er die Rechtswissenschaft in dem dargestellten Sinne der Atomwelt oder sagen wir hier lieber der Sonderwelt des Abendlandes zuordnen würde. Das scheint in der Tendenz des Ansatzes zu liegen. Auch würde es dem Fortgang der Untersuchung entsprechen, die sich dann den Reihen in der Mathematik und in der Naturwissenschaft zuwendet. Diese Einordnung ließe sich weiter dadurch begründen, dass ja die Rechtswissenschaft mit ihren Grundbegriffen der Sache als körperlichem Gegenstand und des psychischen Willensaktes bis zu einem gewissen Grade doch dem naturwissenschaftlich geprägten Weltbild des 19. Jahrhunderts verhaftet ist. Wilhelm Schapp unterscheidet dann allerdings doch wieder verschiedene Arten von Verwissenschaftlichung auf dem Wege vom Wozuding zum Atom, die er in ihrer Eigenart aufzeigen will, so dass man sich hier auch vor Pauschalierungen hüten sollte. In den nachgelassenen Schriften finden sich zwei Stellen, die noch etwas nähere Aufklärung geben. In einem Manuskript vom 20. Oktober 1961 interessiert Wilhelm Schapp die Frage, wie und ob sich auch die letzte feinste Bestimmung des BGB über Eigentum und Vertrag schon aus dem urzeitlichen Eigentum, aus dem urzeitlichen Vertrag ableiten lässt oder richtiger auf die letzte auftauchende Geschichte zurückführen lässt. Dann heißt es weiter: »Dabei schwebt uns etwa der Gedanke vor, daß, wie sich aus den Wozudingen die Technik und die Naturwissenschaft entwickelt haben mag, sich aus Eigentum und Vertrag etwa das römische Recht und im Anschluß daran unser heutiges, modernes Recht als Wissenschaft entwickelt hat. Die Entwicklung geht in Rom, was die Rechtswissenschaft anlangt, in einem rasenden Tempo vor sich und hält über Ostrom wohl fast kontinuierlich bis heute durch. Dem ursprünglichen Tempo im römischen Reich entspricht wohl nicht eine ähnliche Entwicklung der Technik, wenigstens nicht in diesen Ausmaßen, aber vielleicht wohl eine Entwicklung des Verkehrs. Nun ist Wozudinglichkeit, Eigentum, Vertrag, Verkehr, Technik alles gleich alt, nur über Geschichten zu erfassen. Das alles bildet nur Momente in Geschichten, und wie sich aus dem Einbaum Dreiruderer, Segelschiffe, Dampfschiffe entwickeln, entsprechend entwickeln sich Eigentum in allen Feinheiten und Verträge in allen Feinheiten. Der Meister von heute könnte die Entwicklung dem Meister von damals klarmachen. Das ist nichts Besonderes. Jedes Kind macht heute eine ähnliche Entwicklung durch. Das Besondere ist nur die wissenschaftliche Form der Darstellung. Hier handelt es sich
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Geschichtenphilosophie und Recht
wohl um eine Eigenart des Abendlandes. Am Recht kann man vielleicht am leichtesten nachweisen, daß die wissenschaftliche Form hier überspitzt ist und entsprechend vielleicht zu Fehlern führt, die wieder unerwünschte Rückwirkungen haben können.«
In einem Manuskript vom 12. August 1960 vergleicht Wilhelm Schapp die Rechtswissenschaft mit einem Lehrer, der auf den Gedanken kommt, einen Volkswagen, einen Mercedes, einen Omnibus, einen Trecker seinem Schüler dadurch bekannt zu machen, dass er z. B. ein Auto bis in die letzten Teile auseinandernimmt, sie auf einen großen Tisch legt und nun dem Schüler die einzelnen Teile erklärt. Er fährt fort: »Je weiter die Aufteilung geht, desto schwieriger ist es in diesem Fall für den Schüler, sich ein Bild vom Mercedes zu machen. Ein tüchtiger Lehrer wird anders verfahren, er beginnt mit dem fertigen Mercedes, probiert ihn aus beim Fahren und zeigt dann Stück für Stück in Funktion am Mercedes. Schließlich wird es dann auch einmal zum Auseinandernehmen und Zusammensetzen kommen, wenn man Wert legt auf vollständige Vertrautheit, dann steht aber bei jedem Stück schon der fertige Mercedes im Horizont.«
5.
Abschnitt: Ausblick. Metaphysik des Muttertums und Philosophie der Geschichten
Zunächst nur einige Worte, warum das Verhältnis von Metaphysik des Muttertums und Geschichtenphilosophie in den Gesamtzusammenhang unseres Themas Geschichtenphilosophie und Recht gehört. Der dritte Band der wertphänomenologischen Trilogie hatte sich von einem Familienrecht zu einer Metaphysik des Muttertums entwickelt, in der das positive Familienrecht dann nicht mehr thematisiert wurde. Insoweit kennzeichnen die beiden Ausdrücke Neue Wissenschaft vom Recht und Metaphysik des Muttertums die Entwicklung des Philosophierens von Wilhelm Schapp in den dreißiger Jahren zutreffend. Ein weiterer Gedanke mag dann hilfreich sein für die Beurteilung des Verhältnisses dieser Metaphysik zum Recht. In der philosophischen Tradition knüpfen von Aristoteles über Althusius bis Hegel bedeutende Philosophen des Staates an die Familie an. Die Familie als Gemeinschaft wird als Keimzelle des Staates betrachtet. Religiöse Perspektiven werden erst daran angeknüpft. Wilhelm Schapp tut von Muttertum und Familie aus diesen Schritt zum Staate hin nicht. Das dritte Buch von 81 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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Zur Metaphysik des Muttertums, in dem man die Einordnung der Untersuchung in einen derartigen Zusammenhang erwartet hätte, ist vielmehr überschrieben »Die Zusammenhänge zwischen der Liebe Gottes und der Mutterliebe«. Das Buch thematisiert damit schließlich den Zusammenhang zwischen der Familie und der christlichen Religion. Darin liegt eine weitere Rechtfertigung des gewählten Titels Metaphysik. Damit scheint uns bei Wilhelm Schapp eine Metaphysik in diesem Verständnis an die Stelle einer Philosophie des Staates zu treten. Den wesentlichen Gehalt der Metaphysik des Muttertums trägt Wilhelm Schapp dann 1953 fast 12 Jahre vor der Veröffentlichung des Manuskripts selbst unter dem Aspekt des Verstricktseins in Geschichten am Schluss von In Geschichten verstrickt vor. Sein Anliegen ist dort, von der Ichverstrickung zur Wirverstrickung vorzustoßen. Nach dem Blick auf verschiedene Arten von Gemeinschaften scheint ihm von allen Gemeinschaften die Gemeinschaft der Verwandtschaft in nächster Beziehung zur Wirbeziehung zu stehen. 31 Ihr Kern ist die Mutter-Kind-Beziehung und in ihm die Liebe der Mutter zum Kind. Alle anderen Verwandtschaften sind davon abgeleitet. So erscheint z. B. die Liebe des Vaters zum Kind als Abglanz der Liebe der Mutter zum Kind, die den Vater in ihre Kindesliebe hineinzieht. Die Gemeinschaften der Verwandtschaft dehnen sich immer weiter aus, bis man schließlich gleichsam auf natürlichem Wege zu dem Wir der Menschheit kommt. 32 »Wir Menschen« versteht Wilhelm Schapp also im Sinne von »wir Verwandten«, wobei die Verwandtschaft wohl im leiblichen, nicht jedoch im biologischen Sinne zu verstehen ist. Er hält Verwandtschaft für ein Gebilde, dem man sich nur in Geschichten und über Geschichten nähern kann, indem man sich in das Mutter-Kind-Verhältnis vertieft. Seine Überlegungen zum Verwandtschaftswir schließen mit der Bemerkung, dass man hier vielleicht von dem materiellen Gehalt des Wir sprechen könnte. 33 Von dem Verwandtschaftswir wendet sich Wilhelm Schapp dann einer ganz anderen Betrachtungsweise zu, in der er auf das Wir von einer anderen Seite stößt, allerdings in der Hoffnung, dass er schließlich eine Brücke zwischen den beiden Betrachtungsweisen findet. Er stellt nämlich die Frage nach dem Wir in der Weltgeschichte. Welt31 32 33
Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 196. Ebd., S. 196. Ebd., S. 198.
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geschichte ist dabei für ihn nicht die Geschichte der Welt, die uns die Historiker mit dem Anspruch auf größte erreichbare Objektivität erzählen, nicht die Geschichte von Weltreichen, sondern die Weltgeschichte, in die der einzelne als eine Wirgeschichte verstrickt ist. Man könnte hier vielleicht auch von gelebter Weltgeschichte sprechen. Wilhelm Schapp hat keine Bedenken, von seinem Standpunkt aus von einer jeweiligen Weltgeschichte zu reden, wobei allerdings wieder die jeweiligen Weltgeschichten nicht ohne inneren Zusammenhang sind, so dass man vielleicht auch wieder von einer Geschichte der jeweiligen Weltgeschichten reden könnte, die aber gleichsam das niemals vollendete Dach der jeweiligen Weltgeschichten wäre. 34 Von diesen geformten Weltgeschichten, in denen Wilhelm Schapp das volle Wir antrifft, liegt ihm am nächsten die christliche Weltgeschichte, in der er aufgewachsen ist. Er versucht nun, an der Weltgeschichte im Sinne der christlichen Religion als einer Weltgeschichte, die er vorfindet und die ihn als solche schon bei seinen bisherigen Gedankengängen leitete, im einzelnen sichtbar zu machen, wie es sich hier um Weltgeschichte handelt. 35 Im Rahmen einer kurzen Zusammenfassung der christlichen Lehre weist er darauf hin, dass diese nicht von einer Verstrickung in Geschichten, sondern von einer Verstrickung in die Sünde spricht. Diese Verstrickung in die Sünde habe aber Beziehungspunkte zu dem, was er unter Verstrickung in Geschichte versteht. Wesentlich für die Verstrickung in eine Weltgeschichte ist, dass die Welt von Anfang bis Ende und darüber hinaus als eine Geschichte begriffen wird, in die man sich verstrickt fühlt, in die man verstrickt ist. 36 Als andere Weltgeschichten mit diesem Anspruch nennt Wilhelm Schapp eine heidnische Weltgeschichte, die jüdische Weltgeschichte, die mohammedanische Weltgeschichte. 37 Auch im Buddhismus finden sich vielleicht Ansatzpunkte für eine solche Weltgeschichte, obwohl jedenfalls dem Anschein nach die Zusammenfassung aller Menschen in eine einheitliche Geschichte dort nicht die eigentliche Grundlage bildet. 38
34 35 36 37 38
Ebd., S. 199. Ebd., S. 201. Ebd., S. 202. Ebd., S. 201. Ebd., S. 204.
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Außerhalb der Bezirke dieser Religionen findet Wilhelm Schapp keine Weltgeschichte vor, trifft auch das Wir nicht in dem Sinne, wie es ihm in den Weltgeschichten begegnet. Die Nationalgeschichten dringen nicht bis zum Wir vor, obwohl vielleicht eine Ahnung von einem Wir in den Gesichtskreis tritt. Dieses Wir wird aber nicht lebendig, weil es sich in der Nation abschnürt gegen das umfassende Wir und keinen Kontakt zu dem umfassenden Wir erlangt. Die anderen Völker sind die anderen. Die Völker stehen sich feindselig oder gleichgültig gegenüber. 39 Der Kreis schließt sich, wenn Wilhelm Schapp dann unter Rückgriff auf das dritte Buch von Zur Metaphysik des Muttertums das Verhältnis Gott-Mensch als Gotteskindschaft deutet. Später wird er den Sinn des Alten und des Neuen Testamentes am besten im Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Ausdruck gebracht sehen. Er nimmt dieses Motiv hier vorweg, wenn er sagt, dass die Rückkehr in das Vaterhaus immer freisteht. 40 Wir versuchen, das Schlusskapitel von In Geschichten verstrickt dahin zusammenzufassen, dass eine Versenkung in das Verhältnis von Ich und Wir uns nicht nur eine Versenkung in das Verhältnis von Mutter und Kind nahelegt, sondern darüber hinaus zu einer Versenkung in das Verhältnis von Gott und Mensch führt, die aber nur als Versenkung in die christliche Geschichte der Gotteskindschaft möglich ist. Das Verhältnis Mutter-Kind und das von ihm abgeleitete Verwandtschaftswir und Menschheitswir mag uns zwar den materiellen Gehalt des Wir zeigen, das aber doch erst in der christlichen Geschichte schließlich lebendige Gestalt gewinnt. Mit dieser Betrachtung des Wir in der religiösen Weltgeschichte ist die Grundlage für die Untersuchungen zu den positiven Welten in der Philosophie der Geschichten gelegt. Diese positiven Welten gewinnen dort weitere Kontur in Abgrenzung zu der naturwissenschaftlichen Welt oder Sonderwelt des Abendlandes. Auch dazu hat Wilhelm Schapp mit seiner Untersuchung des Verhältnisses von Geschichte und Sachverhalt in In Geschichten verstrickt schon die Grundlage gelegt. Dem Verhältnis von Geschichtenwelt und wissenschaftlicher Welt ist dann schließlich der dritte Band der Geschichtentrilogie Metaphysik
39 40
Ebd., S. 204. Ebd., S. 202.
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Geschichtenphilosophie und Recht
der Naturwissenschaft 41 gewidmet. An die Betrachtung zum Muttertum knüpfen in der Philosophie der Geschichten die Untersuchungen zum in Geschichten Verstrickten in der Reihe seiner Vorfahren und Nachkommen an. In diesem Zusammenhang stehen auch die Untersuchungen zum Alter des in Geschichten Verstrickten. Die Geschichtenwelt ist also nicht nur die Welt der Wozudinge, sondern auch die Welt des Menschen in der Reihe seiner Vorfahren und Nachkommen, die Welt der menschlichen Familie mit all ihren Horizonten.
Den Haag 1965; zweite Auflage unter dem Titel Wissen in Geschichten. Zur Metaphysik der Naturwissenschaft, Wiesbaden 1976. Die dritte Auflage unter dem Titel der ersten Auflage ist in Frankfurt am Main 2009 erschienen.
41
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Keine Erzhlung ohne Verstrickung Mit Schapp im Gepck bei literarischen Mitverstrickten Stefanie Haas
Wilhelm Schapp ist ein Erzähler. Er trägt seine Überlegungen zu den Geschichten mit einer merkwürdigen Eindringlichkeit vor, und bei aller Vielschichtigkeit der Gedanken klingt es vordergründig bisweilen mehr nach Märchen denn nach Philosophie. Wer so von Geschichten erzählt, riskiert das Missverständnis, dass diese Geschichten für Erzählungen gehalten werden. Hier geht es nun um die Wechselwirkungen von Verstrickung und Erzählung. Zunächst ist zu untersuchen, wie und wo die erzählten Geschichten in der Geschichtenphilosophie vorkommen und wie man sich dem Entstehen und der Rezeption von Erzählungen nähern kann. Dieser Vorgang soll innerhalb der Geschichtenphilosophie betrachtet werden; daran schließt sich die Frage an, was dem lesenden Verstrickten die Begegnung mit literarischen Mitverstrickten bringt. Ein Blick auf den Sonderfall Autobiographie und auf Goethes Dichtung und Wahrheit als exemplarische Verstrickungserzählung zeigt die feinen Interferenzen von Verstrickung und Erzählung, und daraus möge ersichtlich werden, wie die Geschichtenphilosophie die Literaturwissenschaft bereichern und das Vergnügen an der Literatur erhöhen kann und die Erzählungen wiederum das Bewusstsein fürs Verstricktsein in Geschichten zu schärfen vermögen.
1.
Unterscheidungsschwierigkeiten und Verwandtschaftsverhltnisse: Geschichte, Erzhlung, Verstrickung
Die voreilige Gleichsetzung von Geschichten und erzählten Geschichten hat die gründliche Rezeption der Geschichtenphilosophie bisweilen verhindert, und die Abkehr von dieser Gleichsetzung wiederum hat zur Vernachlässigung der Frage geführt, wie Erzählung und Verstrickung zusammenhängen. Bekannt sind die Überlegungen von Paul Ricœur 86 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Keine Erzhlung ohne Verstrickung
und Jean Greisch zu diesem Thema, Jan Schapp hat sie aufgegriffen und weitergeführt. 1 Ferdinand Fellmann meint, Schapp verfehle mit dem Begriff der Verstrickung »das eigentlich Geschichtliche an den Geschichten«, dies bringe der »Doppelsinn von Geschichte als Geschehen und Bericht über dieses Geschehen« mit sich. 2 Von Gérard Genette stammt eine gängige Differenzierung: er nennt den narrativen Inhalt »Geschichte«, den narrativen Text oder Diskurs »Erzählung« und den produzierenden narrativen Akt »Narration«. 3 Die Frage nach dieser Unterscheidung stellt sich so in der Geschichtenphilosophie nicht. Schapp spielt nicht die Geschichten gegen die Erzählungen aus. Er hebt zwischen beiden nicht einen Graben aus, über den er dann wieder Stege zu bauen versucht. Für Fellmann setzt das Erzählen die Lösung aus der Verstrickung voraus, daher ist er der Ansicht: »Wer in ›Geschichten‹ verstrickt ist, kann sie nicht erzählen, und wer sie erzählen kann, ist nicht mehr in sie verstrickt« 4 . Für Schapp hingegen kann es eine Lösung aus den Geschichten nicht geben, Verstrickung und Erzählung lassen sich nicht trennen. Die erzählte Geschichte ist für Schapp an mehreren Stellen Ausgangspunkt, nicht das Ziel seiner Überlegungen zum menschlichen Verstricktsein in Geschichten. In der Rezeption wurden Geschichten und Erzählungen häufig gleichgesetzt. Wilhelm Schapp allerdings legte – im Gespräch – Wert auf die Unterscheidung von Geschichte und Erzählung, das berichtet Jan Schapp. »Man ist in Geschichten und nicht in Erzählungen verstrickt. Erzählungen kommen in Geschichten vor. Dann sind es allerdings auch Erzählungen, die uns den Zugang zu Geschichten ermöglichen. […] Die Beschäftigung mit der Erzählung steht also immer in der Gefahr, den Gesichtspunkt des Verstricktseins in Geschichten auszublenden.« 5 Hier sollen Erzählung und Verstricktsein Schapp, Jan, Verstrickung und Erzählung, in: Phänomenologische Forschungen (2007), S. 125–144. Vgl. auch Haas, Stefanie, Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität, Hildesheim 2002. 2 Fellmann, Ferdinand, Das Ende des Laplaceschen Dämons, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, Poetik und Hermeneutik V, hrsg. v. Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter, München 1973, S. 115–138, hier: S. 136. 3 Genette, Gérard, Die Erzählung, München 1998, S. 16. 4 Fellmann, Das Ende des Laplaceschen Dämons, S. 136–137. 5 Schapp, Jan, Erinnerungen an Wilhelm Schapp, in: Geschichte und Geschichten, Stu1
87 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Stefanie Haas
in ihren Wechselwirkungen untersucht werden, ohne das eine vom anderen zu trennen.
2.
Erzhlungen in der Geschichtenphilosophie
Es gibt für Schapp keine Erzählungen außerhalb von Geschichten. Die Erzählungen, die er heranzieht, stehen stets im Zusammenhang mit dem Verstricktsein in eigene Geschichten. Mehrfach erwähnt Schapp die Buchgeschichten, der Begriff der Erzählung umfasst aber mehr. Erzählungen selbst sind nicht in Geschichten verstrickt. Erzählungen kommen in Geschichten vor, und Erzählungen können wiederum von Geschichten und von Verstrickungen handeln. Schon auf der ersten Seite von In Geschichten verstrickt nennt Schapp Beispiele solcher Verstrickungserzählungen: »Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstricktsein in Geschichten zum Gegenstande. Wir brauchen nur einige Namen wie Homer, die Bibel, Cervantes, Swift, Shakespeare, Goethe, Dostojewski zu nennen, und schon leuchtet eine unendliche Folge von Geschichten, in die Menschen verstrickt sind, vor uns auf.« 6 Der Weg zu Beginn von In Geschichten verstrickt führt von der Dichtung über die Geschichtsschreibung zu den alltäglichen, jedem bekannten Geschichten, die die Weltgeschichte gewissermaßen grundieren. Mittelpunkt all dieser Geschichten ist der Verstrickte, das haben alle Geschichten gemeinsam. Schon hier ist zu erkennen, dass Geschichten und Erzählungen verwandt sein könnten. Bei der nachfolgenden Klärung, was denn in Geschichten vorkomme, ist von Erzählungen nicht die Rede. Erzählte Geschichten gehören demnach nicht zur Außenwelt, sie sind die Geschichten anderer Verstrickter, mal mehr geformt, mal weniger, mal niedergeschrieben, mal mündlich erzählt. Und vielleicht ist es müßig zu unterscheiden, ob es gefundene oder erfundene Figuren sind, deren Geschichten uns begegnen. Dem »Gebilde der erzählten Geschichte« versucht sich Schapp am
dien zur Geschichtenphänomenologie Wilhelm Schapps, hrsg. v. Lembeck, Karl-Heinz, Würzburg 2004, S. 13–24, hier: S. 19. 6 Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 1.
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Keine Erzhlung ohne Verstrickung
Beispiel der Geschichte von Rotkäppchen zu nähern. 7 Die Untersuchung im zweiten Abschnitt von In Geschichten verstrickt nimmt den Weg von der Fremdgeschichte über die eigensten Geschichten zu den Wirgeschichten. Ausgangspunkt ist die erzählte Geschichte, sie scheint für Schapp exemplarisch zu sein für die Geschichten in seinem Sinne. Er bemüht sich, die Vorgänge des Erzählens und Verstehens zu beschreiben und zu erhellen. Das Verstehen einer Erzählung bedarf des Anschlusses; jede Verständigung ist davon abhängig, »daß bei dem Hörenden schon ein Horizont vorhanden ist, in den sich die Rede einfügt oder vielleicht besser, in den sich das Gedankengebilde einfügt.« 8 Beim Lesenden wird das ähnlich sein. Es verhält sich nicht so, dass eine Geschichte erst erlebt und dann erzählt oder gehört wird, vielmehr findet sie im Erzählen oder Hören ihre Fortsetzung: »Das Erzählen und Hören scheint uns niemals eine Bekanntgabe, eine Weitergabe, ein Weiterreichen von Geschichten zu sein, sondern auf mannigfachste Art wieder selbst zu einer Geschichte zu gehören.« 9 Das Erzählen und Verstehen kann nach Schapp »nicht unter dem Bilde des Einträufelns der Geschichte gefaßt werden«. 10 Vielmehr, so schreibt er, »scheint uns doch dies Erzählen und Hören schon wieder eine Geschichte zu sein oder nur im Rahmen einer Geschichte erfaßt, gefaßt werden zu können« 11 . Nicht um eine Ineinanderschachtelung von Geschichten handle es sich, wenn Geschichten erzählt und gehört werden, sondern um eine Fortsetzung von Geschichten in Geschichten. 12 In der Gesamtgeschichte habe »das Erzählen und Hören der geschlossenen Geschichte einen festen Platz« 13 . Es trete keineswegs zufällig zur Einzelgeschichte hinzu, »sondern die Einzelgeschichte ist darauf angelegt, weitererzählt zu werden« 14 . Das Erzählen und Hören ist mehr als nur ein Weitergeben der Geschichte, mehr als eine sachliche Ebd., S. 88–93. Ebd., S. 7. 9 Ebd., S. 107. 10 Ebd., S. 101. 11 Ebd. 12 Vgl. ebd., S. 101. 13 Ebd., S. 117. 14 Ebd. 7 8
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Kenntnisnahme. 15 Sie wirkt bei dem, der sie erzählt bekommt, nach, bei jedem auf unterschiedliche Weise, und diese Nachwirkung »ist eine Fortsetzung der gehörten Geschichten«. 16 Schapp erwähnt auch erzählte Geschichten, wie man sie einem Anwalt oder einem Arzt vorträgt, einem Richter oder einem Geistlichen, damit der sie fortführe und bearbeite. Damit ist der Hörer dieser erzählten Geschichte mitverstrickt. In der Philosophie der Geschichten führt Schapp seine Überlegungen zu den erzählten Geschichten fort. Hier stellt er die Frage nach »der Verbindung zwischen der Welt der Geschichten und der Dichtung, vielleicht müssen wir auch sagen der Welt der Dichtung« 17 . Diese Welten stehen nicht nebeneinander und müssten erst vermittelt werden, die Dichtung gehört immer schon zur Welt. Schapp schreibt: »Es mag sein, daß die Welt, so wie wir sie auffassen, die Welt der Geschichten einmal ohne Dichter war, aber niemals war sie ohne Dichtung. Die Dichtung gehört von Anfang an zu den Geschichten, in die die Menschheit, hier dürfen wir vielleicht nicht sagen der Mensch, verstrickt war.« 18 Die Gleichursprünglichkeit von Dichtung und Geschichten zeigt die enge Verwandtschaft beider und die Unmöglichkeit, die Bezirke präzise voneinander abzugrenzen. Vielleicht ähnelt das Verhältnis von Geschichten im Sinne Schapps und erzählten Geschichten dem Verhältnis von stillem Sprechen und lautem Sprechen: 19 »Wir meinen, daß dies laute Sprechen vielleicht nur Wellenkämmen auf dem Meer des inneren leisen Sprechens zu vergleichen ist, daß es nicht eine Eingebung des Augenblicks ist, sondern verwurzelt ist in vielem und oft wiederholtem leisen Sprechen.« 20 Das stille Sprechen – bisweilen nennt Schapp es auch das leise Sprechen –, das alle Geschichten begleitet und ihnen vorangeht, kann auch eine Vorstufe zu einer Erzählung sein, und eine Erzählung wiederum kann das stille Sprechen prägen. Möglicherweise handelt es sich bei den Stufen des stillen, des leisen und des lauten Sprechens um Formen von impliziten und expliziten Geschichten. Das stille Sprechen und das Geschichtenerleben sind »seit Ewig-
15 16 17 18 19 20
Vgl. ebd., S. 119. Ebd. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 10. Ebd., S. 10–11. Vgl. auch Schapp, Verstrickung und Erzählung, S. 131–135. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 270.
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keiten eins gewesen«. 21 Schapp hält es für unmöglich, zwischen erlebten und erzählten Geschichten zu unterscheiden, »da auch die erzählten Geschichten miterlebt sind und in untrennbarem Zusammenhang mit den erlebten Geschichten stehen«. 22 Für den Leser literarischer Geschichten ist es ein Miterleben mit den fiktiven Mitverstrickten. Zu grob wäre die Unterscheidung in Geschichten im Sinne der Geschichtenphilosophie hier und Buchgeschichten als Inbegriff der Erzählungen dort. Man könnte sprechen von graduellen Unterschieden zwischen: (1) den grundlegenden Geschichten im Sinne Schapps und dem Summen in den Köpfen, (2) den erzählbaren Geschichten, die man sich leise sprechend erzählt, (3) den erzählten Geschichten, (4) den niedergeschriebenen Geschichten, (5) den niedergeschriebenen und veröffentlichten Geschichten (die Schapp Buchgeschichten nennt). Die gedichteten Geschichten sind den Traum- und Rauschgeschichten näher als den Wachgeschichten, und alle diese Geschichten stehen in einem Zusammenhang. 23 Schapp spricht von den »geschichtenartige[n] Gebilden der Dichtung« 24 , diese »treten vielleicht zunächst auf im Gewande der Geschichte, die sich hier oder dort begeben hat, und weisen zugleich weit über sich hinaus in ein Reich von Geschichten hinein, die damit zugleich eine höhere Wirklichkeit enthalten.« 25 Im Folgenden seien mit Erzählungen diese »geschichtenartigen Gebilde der Dichtung« gemeint, die über sich hinausweisen und mit den alltäglichen Geschichten verwandt sind. Erzählung ist ohne Verstrickung also nicht möglich, Erzählender und Hörer oder Leser sind in gemeinsame Geschichten verstrickt. Die Verstrickung scheint die Bedingung der Möglichkeit der Erzählung zu sein. Zur Unterscheidung der Geschichten im Sinne Schapps von den Erzählungen und auch zum besseren Verständnis des Zusammenspiels beider kann ein Abstecher zu Paul Ricœur hilfreich sein.
21 22 23 24 25
Ebd., S. 282–283. Ebd., S. 283. Vgl. ebd., S. 9–10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 10.
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3.
Erzhlungen – woher sie kommen, wohin sie gehen
Man kann sich nun fragen, wie aus erlebten oder auch still gesprochenen Geschichten erzählte Geschichten werden und wie diese Erzählungen wiederum zurückwirken auf die Welt der unerzählten und unerzählbaren Geschichten. Paul Ricœurs Modell zum Zirkel der dreifachen mimesis 26 wird im Folgenden kurz skizziert, um es anschließend innerhalb der Geschichten Schapps anzusehen und so das Verhältnis von Verstrickung und Erzählung näher zu bestimmen.
3.1 Ricœurs Modell der dreifachen mimesis Ricœurs Vorhaben im ersten Band von Zeit und Erzählung ist es, »die Gesamtheit der Vorgänge zu rekonstruieren, durch die ein Werk sich von dem undurchsichtigen Hintergrund des Lebens, Handelns und Leidens abhebt, um von einem Autor an einen Leser weitergegeben zu werden, der es aufnimmt und dadurch sein Handeln verändert.« 27 Zu dieser Rekonstruktion entwickelt Ricœur das Modell der dreifachen mimesis. In dieser Vorstellung gibt es ein Außerhalb der Geschichten, ein Vorher und ein Nachher. Den Konfigurationsakt, das Erzählen oder Erfinden von Geschichten, nennt Ricœur mimesis II. Hier werden die Geschehnisse zusammengesetzt zu einer »in sich geschlossenen und ganzen Handlung« mit Anfang, Mitte und Ende. 28 Diese »mise en intrigue« versteht Ricœur als dynamischen Vorgang. Sie macht aus den vielen einzelnen Vorfällen eine Geschichte, sie verwandelt diese Vorfälle in eine Geschichte. In diesem Modell wäre ein Ereignis außerhalb der Geschichte ein kontingentes Vorkommnis, erst in der Geschichte wird es zum Ereignis. Die mimesis II dient also dem besseren Verständnis der Erfahrung, sie ordnet Ungeordnetes. Und was geht der Erzählung voraus? Gibt es so etwas wie eine Erzählbarkeit der Welt? Jeder kennt die Alltagserfahrung, dass man Ricœur, Paul, Zeit und Erzählung I: Zeit und historische Erzählung, München 1998, S. 87–135; vgl. auch Haas, Kein Selbst ohne Geschichten, S. 66–74. 27 Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 88. 28 Das entspricht dem »mythos« in der Poetik des Aristoteles, vgl. Aristoteles, Poetik, übers. und hrsg. v. Fuhrmann, Manfred, Stuttgart 1994, 1450 b 23–26. 26
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einige Episodenfolgen des eigenen Lebens als »(noch) nicht erzählte Geschichten« sieht und diese Geschichten für erzählenswert hält. Ricœur empfindet den Ausdruck »(noch) nicht erzählte Geschichten« als »ungehörig«, da Geschichten definitionsgemäß erzählt würden. Dennoch fragt er nach »virtuellen Geschichten« und gesteht der Erfahrung einen »Ansatz zum Narrativen« zu, »der ein authentisches Erzählbedürfnis konstituiert«. 29 Diese pränarrative Struktur ist die mimesis I. Es ist nicht verwunderlich, dass Ricœur an dieser Stelle die Geschichten Schapps erwähnt und mit ihm das Erzählen von Geschichten als »Bekanntwerden von Geschichten« bezeichnet. 30 Ansätze und Anlässe zum Erzählen sieht Ricœur im Leben und im Handeln – und nur weil es diese Ansätze gibt, können erzählte Geschichten rezipiert und wieder in das Leben integriert werden. Das ist dann die Vermittlung von erzählter Geschichte und Welt des Lesers, die mimesis III. Es ist also die Rückkehr von der gedichteten Geschichte ins Leben, und zwar in ein verändertes Leben. Der Kreis der mimesis ist kein Teufelskreis: die Bewegung von Leben zu Text zu Leben verläuft zwar kreisförmig, aber nicht zweidimensional, sondern in Form einer Spirale. Es ist ein verändertes Leben, in das der Leser zurückkehrt, und aus diesem veränderten Leben entstehen wiederum andere erzählbare Geschichten.
3.2 Der Zirkel der mimesis und die Geschichtenphilosophie Es liegt nahe, einige Aspekte aus dem mimesis-Modell herauszugreifen und sie in die Geschichtenphilosophie einzuordnen oder von ihr abzugrenzen. Vieles von dem, was Ricœur als mimesis I beschreibt, ist mit den Geschichten im Sinne Schapps verwandt. Zudem könnte man das stille Sprechen als eine innerliche Form der mimesis II verstehen. Darüber hinaus könnte man fragen, wie die zweite und die dritte Stufe der mimesis auf die Geschichten und auf den Verstrickten wirken. Was Schapp über das Erzählen und Hören schreibt, über Anschlussstellen und Horizonte, erinnert an die mimesis III. Es handelt sich – wenn man mit Ricœur an die Geschichtenphilosophie herangehen möchte – um einen Zirkel von Geschichten im 29 30
Ricœur, Zeit und Erzählung I, S. 118. Ebd., S. 119, mit Bezug auf Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 101.
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Sinne Schapps und Buchgeschichten oder allgemeiner Erzählungen. Den Erzählungen gehen notwendig die Geschichten im eigentlichen Sinne voraus; hier muss es Anschlussstellen geben, die das Erzählen und schließlich das Verstehen von Geschichten ermöglichen. Mit Hilfe des mimesis-Modells könnte man die Geschichten im Sinne Schapps von den Erzählungen oder literarischen Geschichten unterscheiden. Hier soll ein anderer Weg beschritten werden: Mit dem Modell kann man versuchen besser zu verstehen, wie Erzählungen und Geschichten zusammenhängen, und zwar nicht die Erzählungen der Literatur und die Geschichten Schapps, sondern die Erzählungen, wie sie dem Verstrickten in Geschichten auftauchen. Also eine ›geschichtenphilosophieimmanente‹ Beschreibung von Erzählung.
3.3 Der Zirkel der mimesis in der Geschichtenphilosophie Überträgt man Ricœurs Modell der mimesis auf Erzählungen, die in Geschichten vorkommen, so ergibt sich folgende Route: Der Weg führt von der Lebensgeschichte des Ich-Verstrickten über die Dichtung und die Bekanntschaft mit mitverstrickten Figuren wieder zur veränderten Lebensgeschichte des Ich-Verstrickten. Von den Geschichten, in die wir verstrickt sind, sagt Schapp: »Wir können bei diesen Geschichten nicht eine Wort- oder Sprechseite und eine andere Seite, etwa eine Art Geschehens-Seite unterscheiden«.31 Dies wäre der Übergang von der mimesis I zur mimesis II, und den gibt es hier nicht. Die Literatur kann auf den Verstrickten nur wirken, weil auch die literarische Figur verstrickt ist. Möglicherweise gibt es Grade der Mitverstrickung, abhängig davon, ob es sich um sogenannte wirkliche Menschen und Zeitgenossen handelt oder um Figuren der Geschichte oder um literarische Figuren. Man lernt andere Menschen über ihre Geschichten kennen, und da ist es vielleicht zweitrangig, wie wirklich oder wie fiktional diese anderen Menschen sind. Die mimesis III und die Fragen der Rezeptionsästhetik sind für die Geschichtenphilosophie insofern von Bedeutung, als sie mit dem Verhältnis von Fremd- und Eigengeschichten zusammenhängen. »Vielleicht berühren uns die Fremdgeschichten nur, weil sie ihrem Sinne 31
Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 271.
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nach eigene oder eigenste Geschichten sind, die uns ebenso hätten passieren können, wie sie dem Helden der Geschichte passiert sind.« 32 Die Überschneidung der beiden Geschichten und die Möglichkeit der Identifikation des Lesers mit dem Helden liegen wohl auch in der Tatsache des Verstricktseins in Geschichten. Betrachtet man den Erzählungs-Kreislauf innerhalb der Geschichtenphilosophie, kann man sich der Feststellung Jan Schapps anschließen, der sagt, »dass die Lebensgeschichte des Ich-Verstrickten für uns gewissermaßen das Basislager dieses ganzen Weges ist, zu dem der IchVerstrickte nach seinem Ausflug in das Reich der Dichtung zurückkehrt«. Und er fügt hinzu: »Die Dichter selbst machen auch nur diesen Ausflug, so fiktional sie ihre Erzählungen auch gestalten.« 33 Und was kann der Leser beim Ausflug in das Reich der Dichtung erleben? Was bringt er mit?
4.
Weshalb dem Verstrickten die Erzhlungen hilfreich sein knnen
Die erzählte Geschichte in ihrer Geschlossenheit vermittelt einen Eindruck von der Geschichtenhaftigkeit aller Geschichten, sie ist ein Muster für die allgegenwärtigen Geschichten, in denen uns die Außenwelt auftaucht und in die wir verstrickt sind. Eine Erzählung kann dem Hörer oder Leser die eigene Verstrickung bewusst machen, daher auch die vielen Beispiele aus Literatur, Märchen und Sagen in der Geschichtenphilosophie. Der Lesende ist wie der Dichtende ein Verstrickter, auch die Figuren in den erzählten Geschichten sind mitverstrickt. Besonders eindrucksvolle Beispiele von Verstrickungen scheinen Texte aus der Zeit des poetischen Realismus zu bieten. Gottfried Keller beispielsweise eröffnet dem geschichtenphilosophisch geschulten Leser ein feines und buntes Gewebe von Erzählungen und Verstrickungen. Auch dass in jeder Eigengeschichte eine Wir-Geschichte enthalten ist, kann einem klarer werden bei der Lektüre von Erzählungen. Über die Erzählungen Homers oder der Bibel ist der Leser oder Hörer in positive Welten mitverstrickt, eine Ahnung dieses Verstricktseins kann 32 33
Ebd., S. 26. Schapp, Verstrickung und Erzählung, S. 144.
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bei der Lektüre wachsen. Wenn der Mensch der in Geschichten Verstrickte ist und wenn die Geschichte für den Menschen steht, dann braucht der Mensch die erzählten Geschichten, um seine eigene Verstrickung besser zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit literarischen Geschichten kann helfen, die Wirrnisse des Alltags zu strukturieren. Leseerlebnisse, literarische Muster und Vorbilder prägen das Fühlen, Denken, Handeln und Sprechen – und nicht zuletzt das stille Sprechen. Weil der verstrickte Leser und der Verstrickte in der Erzählung die gleichen Fragen haben, kann das Hören und Lesen zu einem vertieften Verständnis der vielfältigen Verstrickungen beitragen. Die Rede vom Menschen als dem In-Geschichten-Verstrickten bedeutet nicht eine Aneinanderreihung von Geschichten, es ist ein unergründlicher Zusammenhang. »Einen Einblick aber, wie die Geschichten zusammenhängen, geben uns Kunst, Religion, Philosophie, oder die Durchblicke, die wir vorfinden, bezeichnen wir als Kunst, Religion, Philosophie.« 34 Die Kunst der literarischen Erzählung vermag insofern einen Einblick zu geben, als sie die Zusammenhänge der vielfältigen Geschichten zwar nicht erklärt, aber anschaulich macht. Anregend in diesem Zusammenhang ist die Position von Odo Marquard. 35 Großzügig rückt er die Geschichten Schapps in die Nähe der Erzählungen; er ist von der Notwendigkeit des Erzählens überzeugt. Die These der Geschichtenphilosophie lautet nach Marquard: »die Menschen, das sind ihre Geschichten, die erzählt werden müssen«. 36 Er vertritt auch in diesem Zusammenhang seine Kompensationsthese: je unübersichtlicher die moderne Welt wird, um so mehr braucht sie die Geschichten. Geschichten sind für Marquard »Handlungs-Widerfahrnis-Gemische« 37 und Menschen »Wesen, bei denen Aktionen und Kontingenzen sich legieren« 38 . Poetische Darstellungen solcher Legierungen bieten Anknüpfungspunkte für den Leser, da sie unabhängig von den einzelnen Erlebnissen Beispiele für die Verwicklung in Handlungs-Widerfahrnis-Gemische sind und strukturelle Ähnlichkeiten mit dem eigenen Leben aufwiesen. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 12. Marquard, Odo, Die Philosophie der Geschichten und die Zukunft des Erzählens, in: Geschichte und Geschichten, S. 45–56. 36 Ebd., S. 51. 37 Ebd., S. 50. 38 Ebd. 34 35
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5.
Sonderfall Autobiographie
Ein Sonderfall von Verstrickungsgeschichte ist die Erzählung der eigenen Geschichte, die Autobiographie. Es ist eine eigenartige Verstrickung von Verfasser, Erzähler und Protagonist und eine sonderbare Mischung von Erlebtem und Gedichtetem. Bei der Selbstbetrachtung handelt es sich für Schapp um »eine ›Versenkung‹ in die eigenen Geschichten in der Weise, daß auf diese Geschichten sich neue aufbauen«. 39 Auch der Zugang zu sich selbst kann nur über Geschichten geschehen: »Der Aufforderung, uns selbst zu erkennen, können wir nur Genüge tun, indem wir unsere Geschichten prüfen.« 40 Wenn dies in Form einer Erzählung geschieht, kann das – je nach Begabung des Verfassers – zu einer Autobiographie führen. Das ist dann der Aufbruch aus dem Basislager der erlebten Lebensgeschichte in die Lebenserzählung. Innerhalb des Sonderfalls Autobiographie nehmen die Autobiographien von Dichtern eine besondere Rolle ein. Darin werden die Themen Lesen und Schreiben und Rezeption erörtert und verdichtet – ein Dichter hat ein anderes, vielleicht tieferes Verhältnis zum Verstricktsein, ein anderes Bewusstsein von Geschichten. Und diese Lebensgeschichten der Dichter weisen einen anderen Grad an Kompositionskunst auf als die Biographien von Leuten, die sich nicht ein Leben lang mit Geschichten befassen. Eine Autobiographie ist die Geschichte einer Verstrickung. Der Verfasser erzählt, wie es dem Protagonisten in seinem Leben ergangen ist. Erzählt wird vom Verhältnis von Ich und Wir-Geschichte, von naheliegenden Verstrickungen und unverständlichen. Viele Autobiographien haben sich selbst zum Thema, häufig fühlen sich die Verfasser oder Erzähler bemüßigt, Gründe für die Niederschrift ihrer Lebenserzählung zu nennen. Daher haben viele Vorworte zu Autobiographien einen merkwürdigen apologetischen Unterton. Für den Verfasser einer Autobiographie ist es – neben der Selbstinszenierung – ein Bewusstmachen der eigenen Verstrickung und die Annäherung an das Verhältnis von Ich- und Fremdverstrickung, und an diesen Vorgängen hat der Leser als Mitverstrickter teil. Wenn man im Sinne der Geschichtenphilosophie an eine Autobio39 40
Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 126. Ebd., S. 127.
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graphie herangeht, stellen sich Fragen, die ins Zentrum der Gattung führen, und es lassen sich Nuancen im Text aufspüren, die das Vergnügen am Text erhöhen und das Verständnis vertiefen. Das literarische Beispiel und die Geschichtenphilosophie können sich wechselseitig erhellen.
6.
Ausflug mit Goethe – mit Schapp im Gepck
Untersucht man das Verhältnis von Verstrickung und Erzählung in Goethes Dichtung und Wahrheit, eröffnen sich Durchblicke sowohl auf die Geschichtenphilosophie als auch auf die Besonderheit von Goethes Lebenserzählung. 41 Innerhalb dieser Verstrickungsgeschichte zeigt Goethe, wie sehr Protagonist und Erzähler mit Geschichten spielen und unmerkliche Übergänge zwischen erlebten und erfundenen Geschichten inszenieren. Erlebtes und Erlesenes überschneiden sich, und die Versuche des kindlichen und jugendlichen Protagonisten, nach literarischen Mustern zu leben und zu fühlen, gehen in der sogenannten Wirklichkeit nicht immer gut aus. Goethe stilisiert sich zum mitfühlenden Leser, er lebt mit und in der Dichtung, und wenn er sich kompensatorisch dichtend mit eigenen Erlebnissen auseinandersetzt, versuchen bisweilen die Rezipienten, aus der Dichtung wieder die Erlebnisse herauszufiltern. Goethe hat versucht, den Lauf seines Lebens in Bilder zu fassen, und diese Bilder ändern sich während der Niederschrift. Der Leser wird Zeuge dieses Wandels, er blickt dem ordnenden Autobiographen über die Schulter und sieht ihm dabei zu, wie er sich um die Deutung seiner Lebensbruchstücke bemüht, wie er mal spielerisch, mal mit Schwierigkeiten Zusammenhänge herstellt oder zum Vorschein bringt und stellenweise eben auch Inkohärentes nebeneinander stehen lässt. Und wie es ihm nicht endgültig gelingt, die Entwicklung seines Lebens und Schreibens bildlich zu fassen und zu vermitteln. Dieses Misslingen ist insofern gelungen, als es dem Leben in seiner Unerklärlichkeit gerecht wird. Vgl. hierzu Haas, Stefanie, Text und Leben, Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in Dichtung und Wahrheit, Berlin 2006. Die Geschichtenphilosophie kommt dort nicht explizit vor, doch die gesamte Studie ist schappgrundiert.
41
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Da nicht nur der Held, sondern auch der Erzähler Schwierigkeiten hat, sonderbare Erfahrungen zu benennen und einzuordnen, wirkt das dem Eindruck entgegen, es handle sich um eine allzusehr geglättete Geschichte, in der Einzelteile im nachhinein harmonisiert und in einer kausalen Ordnung dargestellt werden, die im Leben nicht einmal zu ahnen war. Goethes Überlegungen zur Erzählbarkeit des Lebens sind nicht im Sinne einer Programmatik zu verstehen. Der Leser erlebt mit, wie der Verfasser die eigene Verstrickung zur Lebenserzählung verdichtet und wie sich die »halb poetische, halb historische Behandlung« 42 seines Lebens als schwierig erweist. Goethe thematisiert die Mühen, das gelebte Leben »faßlich und lesbar zu machen« 43 , das wäre der Übergang von der Verstrickung zur Erzählung. Man kann Dichtung und Wahrheit freilich nicht mit »Erzählung und Verstrickung« übersetzen. Doch es ist ein Buch, in dem es vordergründig auch um das Entstehen und die Rezeption von Geschichten geht, das aber noch viel Grundlegenderes zum Thema Verstrickung enthält. Die Interferenzen von Leben und Dichtung, von Verstrickung und Erzählung sind auch deshalb so anschaulich, weil Goethe den Leser mitnimmt in den Vorgang des Deutens des eigenen Lebens. Es ist eine Besonderheit von Dichtung und Wahrheit, dass der Verfasser unergründliche Zusammenhänge und unerklärbare Geschehnisse anschaulich macht, ohne sie restlos zu erklären. So entsteht ein »Handlungs-Widerfahrnis-Gemisch«, wie Marquard es nennen würde, ein Exempel, das über dieses eine, bestimmte Dichterleben hinausweist. Vielleicht ist es das, was Goethe das »Grundwahre« 44 nennt, und was für Schapp etwas mit Verstrickung zu tun haben muss. Goethe, Johann Wolfgang, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Nachdruck der Ausgabe Weimar 1887–1919, Tokyo / Tübingen 1975, S. 8. Die Bände 26–29 enthalten die vier Teile von Dichtung und Wahrheit. 43 Goethe, Dichtung und Wahrheit, 4. Teil, S. 3. 44 Goethe, Johann Wolfgang, Brief an König Ludig I. von Bayern, 12. Januar 1830, in: Goethes Briefe, Hamburger Ausgabe, hrsg. v. Mandelkow, Karl Robert, Band IV, München 1988, S. 363. Über den »freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung« schreibt Goethe, Anlass sei die Erfahrung gewesen, »daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege«. Es war sein »ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken«. 42
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Wilhelm Schapp soll – so berichtet es Jan Schapp – gesagt haben, Goethe sei nach Dichtung und Wahrheit ein anderer gewesen als vorher. Das mag mit einem erweiterten oder vertieften Verstrickungsbewusstsein zu tun haben. Die vielfältigen Verschränkungen von Verstrickung und Erzählung in Dichtung und Wahrheit lassen etwas erahnen vom Grundwahren des Menschen als dem In-GeschichtenVerstrickten.
7.
Wechselwirkungen von Verstrickung und Erzhlung
Wie könnte nun ein Weiterdenken auf den Spuren Wilhelm Schapps im Hinblick auf die Erzählungen aussehen? Die Auseinandersetzung mit erzählten Geschichten kann ein differenziertes Verständnis der Geschichtenphilosophie ermöglichen. Sie kann verhindern, die Geschichtenphilosophie als narrative Phänomenologie im doppelten Sinne zu sehen (als von Erzählungen erzählend), und der Gegenbewegung entgegenwirken, dass man aus lauter Vorsicht, man könne die Geschichten mit den Erzählungen gleichsetzen, die Erzählungen erst gar nicht beachtet. Und was bedeutet das für den Umgang mit Erzählungen? Die Auseinandersetzung mit einem Text kann eine Art Unterhaltung sein zwischen mir, dem Ichverstrickten, mit den Verstrickten aus den Buchgeschichten und Erzählungen. Gian Raimondi geht in seinem Beitrag in diesem Band darauf ein, dass die Geschichtenphilosophie einem »sensiblen Physiker« neue Blicke auf grundlegende Zusammenhänge eröffnen könne. Dies gilt auch für sensible Literaturwissenschaftler, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen bedarf es einer leidenschaftlichen Lektüre. Der Leser ist mit den Figuren der Erzählung verstrickt, erinnert sich an ihre Geschichten wie an die Geschichten sogenannter wirklicher Mitverstrickter und hat somit viele literarische Bekannte. Diese leidenschaftliche Lektüre ist Voraussetzung jedes tieferen Verständnisses; es kann die analytische Auseinandersetzung mit der Erzählung nie ersetzen, ist aber unverzichtbares Fundament. Zum andern bedarf es einer besonderen Sensibilität für Verstrickungen im Text: so lassen sich inszenierte Verwicklungen von Verfasser und Erzähler aufspüren, das führt zu Fragen, wer mit Verstrickungen spielt oder wo die Verstrickung selbst zum Thema wird. Beispielhaft für das Verwandtschaftsverhältnis von Erzählung und Ver100 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Keine Erzhlung ohne Verstrickung
strickung könnten Texte von Gottfried Keller oder Christa Wolf sein, und auch die Theorie der Autobiographie kann von der Geschichtenphilosophie profitieren. Es sind grundlegende Fragen, mit denen sich der Verstrickte in seinem Leben ebenso herumschlägt oder vergnügt wie die literarische Figur in ihrer fiktiven Verstrickung (oder die halbpoetische in der Autobiographie). Der In-Geschichten-Verstrickte ist mitverstrickt in die Erzählungen von anderen Verstrickten, und der Grad an Fiktionalität ist weniger entscheidend als die gemeinsame Basis des Verstricktseins. Man kann die Verstrickung nicht von der Erzählung trennen. Aber man muss beide unterscheiden, um sich ihrem Zusammenhang zu nähern. Es ist aufschlussreich, mit Schapp im Gepäck einige Mitverstrickte auf ihren verschlungenen Wegen in den Erzählungen zu begleiten und in den Verstrickungen mit literarischen Figuren beiläufig etwas über die eigene Verfasstheit als Verstrickter zu erfahren.
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Wilhelm Schapps narrative Ontologie Eine Problematisierung seiner Geschichtenphilosophie Klaus-Dieter Eichler
»Die Dinge singen höre ich so gern« R. M. Rilke
Eine etwas lngere Vorbemerkung 1 : Im Vorwort zu dem 1959 erschienenen Band Philosophie der Geschichten charakterisiert Wilhelm Schapp sein Unternehmen – nicht ganz unbescheiden – als »vierte Revolution«. 2 Er verweist dabei auf die berühmte Vorrede Kants zur Kritik der reinen Vernunft in der zweiten Auflage von 1787. Hier attestiert Kant dem »bewunderungswürdigen Volke der Griechen« 3 , die Mathematik auf den »sicheren Weg« einer Wissenschaft gebracht zu haben. Damit wäre zugleich ein Zustand des »bloßen Herumtappens« durch eine »Revolution der Denkart« beseitigt worden. Von einer zweiten Revolution spricht Kant in Bezug auf die Entstehung der »reinen« Naturwissenschaft zu Beginn der Neuzeit. Hier war es ausdrücklich der britische Lordkanzler Francis Bacon, der eine solche Revolution der »Denkart« für sich in Anspruch nahm und in dessen Tradition sich Kant stellt. Im Gegensatz zur Mathematik und Naturwissenschaft, deren Erkenntnisfortschritte für Kant Beispielcharakter haben, erscheint die Geschichte der Metaphysik als Kampfplatz endloser »Spiegelgefechte«. Kants berühmte Forderung nach einer »Kopernikanischen Wende« läutet die dritte Revolution ein. Sie beginnt mit der Erstürmung der Bastionen der dogmatischen Me-
Für Hinweise und hilfreiche Diskussionen danke ich Karen Joisten und Jan Schapp. Auch für die Geduld. 2 Schapp, PdG (1. Aufl.), S. XI. 3 Kant, KrV B XI. 1
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Wilhelm Schapps narrative Ontologie
taphysik. Metaphysik kann sich nur aus dem Zustand des »Herumtappens« befreien, wenn sie zur Wissenschaft wird. Man könnte nun, so Schapp, über diese »Revolutionäre am Schreibtisch«4 spotten, bliebe da nicht ein fader Beigeschmack, der sich in der Verwendung des Ausdrucks Revolution anzeigt. Zu gering sei der Unterschied zwischen den Bastionen der Metaphysik und den Mauern der Bastille. Wie in den »richtigen« Revolutionen – Schapp nennt hier u. a. die Jahreszahlen 1789; 1848; 1917 und 1949 – kommen offensichtlich in der Geschichte der theoretischen Revolutionen die wirklichen Akteure der Umwälzungen zu wenig zu Wort. »Von uns selbst« ist »herzlich wenig die Rede« 5 , klingt fast wie ein Blochsches Diktum. Man müsse sich deshalb die Frage »nach dem Sinn dieser Revolutionen« stellen, »hapert« es doch noch »hier und da an der menschlichen Wohlfahrt und Würde«. 6 Nun entwickelt Schapp keine politische Philosophie. Er ist auch kein Theoretiker der Revolution, wie es die bisherigen Äußerungen nahe legen könnten. Wenn schon Revolutionen, dann im Denken. Das vergangene Jahrhundert war nicht arm an Revolutionsversprechen. Von welcher Revolution spricht Wilhelm Schapp? Wovon soll sie die Menschen befreien und was soll an die Stelle des Überwundenen treten? Worin besteht ihr Versprechen? Immerhin ist der artikulierte Anspruch nicht gering. Vorab kann gesagt werden, dass an die Stelle des Alten eigentlich nichts Neues treten soll. Vielmehr soll etwas, das sich dem distanzierenden Blick der Wissenschaften und der objektiven Analyse der Philosophie entzogen hat, wieder ins rechte Licht gerückt werden. Wir sollen wieder neu sehen lernen. Dann sehen wir etwas, was immer schon da war. Zunächst geht es um eine fundamentale Kritik von Wissenschaft und Technik und ihre je spezifischen Weisen, die Welt und die Dinge in ihr, einschließlich des Menschen, zu betrachten. Dieses Denken wird von Schapp in Anlehnung an die klassische Phänomenologie »Sachverhaltsdenken« genannt. Es ist die Aufgabe der »vierten Revolution«, die Wiederbelebung eines verlorengegangenen Selbst- und Weltverständnisses zu befördern und den Geltungsleistungen der »natürlichen Erfahrung« (Husserl) wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei wird eine Differenzierung von Phi4 5 6
Schapp, PdG (1. Aufl.), S. XII. Ebd., S. XII. Ebd., S. XIII.
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losophie und Wissenschaft kaum vorgenommen. Wissenschaft wiederum wird in der Regel mit Naturwissenschaft identifiziert, das Paradigma ist die Physik. Den Anfang des naturwissenschaftlichen, physikalischen Weltbildes sieht Schapp schon bei den Vorsokratikern. Im Unterschied zu den »positiven Welten« des Mythos und der Religionen bezeichnet er die von den Wissenschaften konstruierte Welt als »Sonderwelt«. Dabei wird philosophisches Wissen in der Regel mit theoretischem Wissen gleichgesetzt, traditionelle philosophische Probleme werden weitgehend als erkenntnistheoretische wahrgenommen. Die auf Aristoteles zurückgehende Tradition der praktischen Philosophie wird ausgeblendet. Orientierungswissen wird von den Religionen zur Verfügung gestellt. Schapp diagnostiziert Pathologien der Moderne. Mit der Durchsetzung des wissenschaftlichen Weltbildes geht eine massenhafte Entwertung religiöser und kultureller Orientierungen einher. Die moderne Welt ist aus den Fugen geraten; sie kann nicht mehr als eine geschlossene und überschaubare Ordnung erfahren werden. Sie ist zu einem »großen Spielzeugkasten« 7 der experimentierfreudigen Wissenschaften degradiert worden. Im Unterschied zu vielen anderen Kritikern des Rationalismus und der Fetischisierung der Technik im 19. und 20. Jahrhundert – man denke nur an Nietzsches Nihilismusdiagnose, Heideggers Analyse der Verfallsgeschichte der Metaphysik, Horkheimers und Adornos Thematisierung der Dialektik der Aufklärung, Georg Lukács Verdinglichungskritik und Wittgensteins Kritik des logischen Atomismus – vollzieht Schapp seine metaphysikkritische Wende im Rückgang auf eine narrative Phänomenologie, die sich versteht als eine Philosophie der »fließenden Übergänge« und der »Auflösung fester Grenzscheiden«. Die Genauigkeit und Präzision seiner phänomenologischen Beschreibungen steht dabei im Dienst einer Offenlegung von »Gewalt«, die den Dingen und den Menschen angetan wird, wenn sie unter den analytisch geschärften und methodisch disziplinierten Blick der Wissenschaften geraten. 8 Er ist ständig um den Nachweis bemüht, dass die europäische Tradition des philosophischen Ebd., S. 251. Schapps präzise phänomenologische Beschreibungen sollen vor unerlaubten Vereinfachungen und Konstruktionen schützen. Das dennoch im phänomenologischen Blick »Festgehaltene« darf nicht »zu einer Erstarrung und Versteinerung der Gebilde führen, oder jedenfalls muß diese Erstarrung […] jederzeit als Gewalt, die wir den Gebilden antun, gekennzeichnet bleiben […].« Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 136.
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und wissenschaftlichen Wissens, die in der Konstruktion einer »Sonderwelt« offen zu Tage tritt, auf unzulässige Weise die »Fülle menschlichen Daseins« vereinfacht und schematisiert. Dabei setzt Schapp in seiner geschichtsphilosophischen Diagnose tief an. Orientiert sich Nietzsches und Heideggers Kritik der Moderne in je unterschiedlicher Akzentuierung am Welt- und Menschen-Verständnis des archaischen Griechentums, das sich bei den Vorsokratikern und bei den griechischen Tragödiendichtern ausspricht, begann für Horkheimer und Adorno die Geschichte des bürgerlichen, die Natur unterwerfenden Individuums schon beim listenreichen Odysseus, in dessen Verhalten sich instrumentelle Rationalität manifestiert, so sind es bei Schapp die großen »All«- oder »Wir«-Geschichten der »positiven«, religiös konnotierten »Welten«, in denen sich der Mensch geborgen weiß. Stellt Heidegger die Seinsvergessenheit, Husserl die Lebensweltvergessenheit, Wittgenstein das Überspringen konkreter Sprachspiele an den Pranger, so finden wir bei Schapp die Geschichtenvergessenheit. Die Philosophie habe immer wieder den Fehler begangen, dass sie mit Maßstäben und Kriterien die Geschichten von außen zu beurteilen versucht und deshalb die Sicht auf die Lebenswirklichkeit durch ein Netz logischer Bestimmungen und Kategorien verstellt. In Schapps Geschichten der Revolution stehen nicht »Sachen, Sachverhalte und Sätze« – auch keine »blutleeren gespenstigen Beziehungspunkte, die Sachverhalte intendieren«; hier geht es um keinen sicheren Gang der Erkenntnis, sondern um »Geschichten«, in die jeder schon immer verstrickt ist. Hier kommen in »Geschichten verstrickte Helden, Könige, Priester, Seher, Heilige, Propheten, Dichter oder jemand aus dem Volke« vor, alle mit »ihren Sondergeschichten.« 9 Das Hauptgewicht der »Welt [liegt] nicht bei Galilei [und] Newton, sondern bei Buddha, Plato, Sokrates, Christus, Mohamed oder auch bei den großen Dichtern und Künstlern«. 10 Alle diese Geschichten bilden eine Einheit, sie hängen auf eine noch zu bestimmende Weise zusammen. In ihnen findet der »Armseligste so gut einen Platz […] wie der Prophet und der Religionsstifter« 11 . Ihr Name ist ›Philosophie der Geschichten‹. Zwar wird vom Autor dieser Geschichtenphilosophie kein Wissen darüber, was Philosophie sei, in Anspruch genommen, sicher Schapp, PdG (1. Aufl.), S. XII. Schapp, MN (2. Aufl.), S. 5. 11 Schapp, PdG (1. Aufl.), S. XIII. 9
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aber ist so viel, dass sie nicht auf Wissenschaften wie Mathematik oder Naturwissenschaften zu reduzieren sei, wie der Kant der Kritik der reinen Vernunft dies nahe legen würde. Bevor wir bei der vermeintlichen Sicherheit des wissenschaftlichen Wissens Zuflucht suchen, gilt es andere Evidenzen zu bedenken. Schapp findet sie in den Geschichten. Für ihn ist die Geschichte der »letzte in sich verständliche Teil eines mit ihm auftauchenden ungeschlossenen Ganzen«, das die Frage »nach Verstehbarkeit mit sich führt.« 12 Geschichten sind letzte Sinngebilde. Von ihnen, als den »sicheren Phänomenen«, ist auszugehen. Geschichten sind »Urphänomene«, »Urgebilde«, die als solche das Letzte und zugleich das Erste sind, zu dem die phänomenologische Methode vordringen kann. Geschichten sind weitaus älter als das Gebäude der Wissenschaft, dessen Fundamente nicht erneut mit einem Letztbegründungsanspruch gesichert werden sollten, etwa gegen Einwände des Skeptizismus oder nihilistischen Verdächtigungen. Die Anfänge der Geschichten verlieren sich im Ungewissen, einen Abschluss finden sie nie. Sie entziehen sich jeder objektivierenden Erkenntnis, ihr Verstehen steht nur den Mitverstrickten offen. Ihre Darstellung orientiert sich nicht an den Methoden der beweisenden Wissenschaften, ihre Untersuchung entzieht sich einem systematischen Zugriff. 13 Sie sind mehr als die Summe ihrer Teile, sie sind organische Gebilde. »Einheit«, »Ganzheit«, »Gewebe«, »Zusammenhang«, »Horizont« und »Welt« sind die entschiedenen Bestimmungen, welche im Konzept der ›Geschichten‹ zusammenlaufen, denn »alles lebt in Geschichten« 14 . Wenn man zu ihnen vordringen will, muss der »eiserne Ring, der um den modernen Menschen liegt […] erst durchbrochen werden […]« 15 . Schapp verspricht seinen Lesern etwas, was für ein philosophisches Buch recht ungewöhnlich klingt: Unterhaltung. Statt seine Leser zu belehren, will er sich mit ihnen unterhalten. Er inszeniert ein GeEbd., S. 48. In vielen Punkten ähneln Schapps Bestimmungen der Unhintergehbarkeit der Geschichten, in die wir schon immer verstrickt sind, der aristotelischen Analyse des ethos, der Gewohnheit und der Sitten im Sinne des immer schon Gegebenen. Die Frage nach dem »Gut-Sein«, der Orientierung an ihnen, die in der Wahl einer selbstbestimmten Lebensführung explizit gestellt wird, kann in der Schappschen Konzeption nicht thematisiert werden. 14 Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 312. 15 Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 41. 12 13
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spräch zwischen dem Autor, dem »Ichverstrickten« und den Lesern, den »Mitverstrickten«, die alle in »einem Wir« vereint sind. Selbst den Wissenschaften und der an ihrem Methodenideal orientierten Philosophie wird ein Platz in den Geschichten angewiesen. Jede Wissenschaft ist selbst ein »Wissen« in Geschichten. Nur so findet sie ihren Anschluss an die Welt der Geschichten und erhält einen praktischen Sinn. In Abwandlung eines berühmten Zitats eines Schapp gewiss nicht nahestehenden Philosophen könnte man formulieren: Ausgangspunkt der Betrachtung der Wissenschaften und ihrer Geschichte sind die wirklichen, lebendigen Individuen 16 , die immer schon in Geschichten verstrickt sind. Insofern gibt es auch keine Wissenschaft der Geschichten, sondern die Funktion der Geschichtenphilosophie besteht gerade darin, den festgefügten Bau der Wissenschaften zu unterminieren. Die »Kunstsprache« der »Philosophen, und der Einzelwissenschaften« soll in die lebendige Sprache zurückgeholt werden. Die Geschichten sind der »natürliche Ort«, an dem das Auftreten des Wissens und der argumentativen Rede beobachtet werden kann. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass Schapps Einschätzung seiner Geschichtenphilosophie als »vierte[r] Revolution« impliziert, dass der Platz der von seinem Lehrer Edmund Husserl begründeten Phänomenologie 17 in dieser RevolutionsgeschichVgl. Marx, Karl / Engels, Friedrich, Die deutsche Ideologie, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, hrsg. v. Institut für Marxismus / Leninismus, Berlin 1969, S. 43. Es wäre übrigens durchaus sinnvoll, Schapps Kritik des »Sachverhaltsdenkens« als eine Variante von Entfremdungskritik zu lesen und dabei auf einige Passagen der Ökonomisch-philosophische(n) Manuskripte einzugehen. 17 In der Analyse des desolaten Zustandes der Philosophie sind sich Schapp und Husserl in vielem einig. In den Vorschlägen zur Therapie unterscheiden sie sich fundamental. So wird in dem von Husserl 1911 in der Zeitschrift Logos (Heft 1) publizierten Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft eine deprimierende Bilanz der gegenwärtigen Lage in der Philosophie gezogen, die im nicht unerheblichen Maße Gemeinsamkeiten mit der von Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft vorgetragenen Kritik des Zustandes der Metaphysik zum Ausdruck bringt. Husserl betont, dass es in keiner Phase ihrer Geschichte der Philosophie gelungen sei, ihren selbstgesetzten Ansprüchen, »strenge Wissenschaft« zu sein, gerecht zu werden. Im Gegensatz zur Mathematik und den im Prozess der neuzeitlichen Wissenschaftsdifferenzierung aus der Philosophie entlassenen Einzelwissenschaften herrsche in dieser vollkommene Unklarheit bereits über Fragestellungen, Methoden und Aufgaben. Während Mathematik und Naturwissenschaften auf einen klar erkennbaren Erkenntnisfortschritt verweisen könnten, habe sich die Philosophie in der ständigen Produktion neuer Systeme, von denen jedes »gleichsam eine Minerva, die vollendet und gewappnet aus dem Haupte eines schöpferischen Ge16
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te relativiert wird. Sie wird in den Kontext der u. a. von Kant ausgehenden Bemühungen gestellt, Philosophie als »strenge Wissenschaft« zu begründen. In der wohl längsten Fußnote des Schappschen Œuvres wird dieser Gedanke deutlich akzentuiert. 18 Schapps Unternehmen ist – gemessen am »Übermut der Philosophentitanen, die den Himmel mit dem Donnerkeil der strengen Wissenschaft« 19 stürmen – eher bescheiden. Versprochen wird jedoch nichts Geringes: ein neuer Weg zum »Selbst des Menschen« soll freigelegt werden, jenseits vom Pathos der Suche nach apodiktischer Wahrheit und resignativer Einsicht in das Unabänderliche. »Kein Selbst ohne Geschichten« lautet kurz und prägnant und durchaus leserfreundlich die Quintessenz seiner philosophischen Bemühungen. Am Eingang in Schapps Philosophie der Geschichten steht nicht der Hinweis, dass nur dem Einlass gewährt wird, der der Geometrie kundig ist, sondern die schlichte Bemerkung: »Wer uns verstehen will, muß eine […] Geschichte bereithalten, eine Geschichte um Liebe, Ehre, Besitz, Ruhm, Haß, Rache, am besten eine private eigene Geschichte, mit der er abends zu Bett geht und morgens aufwacht […].« 20
Zu einigen Grundthesen der Schappschen Geschichtenphilosophie Im Folgenden werde ich Schapps explizit vorgetragenen Anspruch, einen neuen Zugang zum »Selbst« des Menschen gefunden zu haben, anhand weniger ausgewählter Probleme diskutieren. Das kann nur in gebotener Kürze erfolgen. Zum ersten Problem: Ausgangspunkt ist, dass Geschichten nichts Konstruiertes oder Erdachtes sind, sondern dass sie in der Lebenswelt nies entspringt – um dann in späteren Zeiten neben anderen solchen Minerven im stillen Museum der Geschichte aufbewahrt zu werden«, erschöpft. (Husserl, Edmund, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos 1911, Heft 1, S. 291.) 18 Husserls »enge Verbindung mit ihnen [den drei Revolutionen – K.-D. E]« wird von Schapp zwar hervorgehoben, diese ergebe sich aber aus dem »großen Respekt vor den traditionellen Wissenschaften«, d. h. der Mathematik, der Logik und den Naturwissenschaften. Schapp, PdG (1. Aufl.), S. XI. 19 Ebd., S. XIII. 20 Ebd., S. 3.
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vorgefunden werden. Das steht in deutlicher Nähe zu einem Diktum der Husserlschen genetischen Phänomenologie, dass schon jedes einzelne Bewusstseinserlebnis seine eigene »Geschichte« habe und in der »Allgemeinheit eines endlosen Lebenszusammenhanges« 21 steht. Der narrativen Phänomenologie Schapps geht es folglich um die Explikation und Sinnanalyse dessen, was im alltäglichen Leben immer schon geschieht, wo die alltägliche Praxis des Menschen in ihrer Vagheit immer schon gelingt. Die Frage, was sich ergibt, wenn diese Praxisvollzüge misslingen, wird von Schapp in der Regel nicht gestellt. Heidegger spricht in diesem Kontext von einer Störung des Verweisungszusammenhangs. Für Schapp bleibt die Möglichkeit einer objektivierenden Distanzierung zur Lebenswelt (sprich: den eigenen Geschichten) weitgehend ausgeschlossen. Die Erfahrung des Misslingens würde in einer Geschichte der Erfahrung des Misslingens zum Ausdruck gebracht werden. Dass der Mensch immer schon in Geschichten verstrickt ist, ist keine kontingente Bestimmung des ›Mensch-seins‹, sondern charakterisiert ihn essentiell; es ist eine unhintergehbare Voraussetzung des menschlichen Seins im Sinne eines Existenzials. Insofern wäre es möglich, von einer narrativen Ontologie zu sprechen. Menschsein erschöpft sich im Verstricktsein in Geschichten. Nur über Geschichten ist es möglich, den »ganzen Menschen« zu verstehen. Das Wesentliche, was wir von den Menschen kennen, scheinen ihre Geschichten und die Geschichten um und über sie zu sein. Durch diese kommen wir mit dem »Selbst« des Menschen in Berührung. »Der Mensch ist nicht der Mensch von Fleisch und Blut. An seine Stelle drängt sich uns seine Geschichte auf« 22 . Was der Mensch ist, das ist er in und durch seine Geschichten. Auch der Zugang zum anderen Menschen erfolgt nur über dessen Geschichten. »Die Geschichte steht für den Mann. Wir meinen damit, daß wir den letztmöglichen Zugang zu den Menschen über Geschichten von ihm haben.« 23 Was und wer wir jeweils sind, sind wir durch die Geschichten, in die wir verstrickt sind. Geschichten sind »meine«, sofern sie mir passiert sind. Darin, dass sie mir widerfahren sind, besteht meine Verstrickung in sie. Mein ›Verstrickt-sein‹ in GeHusserl, Edmund, Erste Philosophie [1923/24]. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion, Hua VIII, hrsg. v. Boehm, Rudolf, Den Haag 1959, S. 153. 22 Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 105. 23 Ebd., S. 103. 21
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schichten kann mir von niemandem stellvertretend abgenommen werden; ich habe deshalb je meine eigene Lebensgeschichte zu vollziehen. »Alle diese Geschichten haben nun das letzte Stigma, daß sie meine Geschichten sind […]« 24 . Woher der in Geschichten Verstrickte allerdings weiß, dass es seine Geschichten sind, in die er verstrickt ist – eine im Rahmen des Schappschen Ansatzes durchaus sinnvolle Frage –, scheint nicht hinreichend lösbar zu sein. Es heißt: »Ich gehöre der Geschichte, es ist nicht meine Geschichte.« 25 Das Bewusstsein über das ›Mein-sein‹ einer Geschichte setzt eine Identifikationsleistung voraus, die keinen Widerfahrnischarakter haben kann. Schapps Holismus stößt hier an seine Grenzen. Die Feststellung des ›In-seins‹ setzt ein ›Außerhalb-sein‹ voraus. In der Geschichtenphilosophie ist jedoch grundsätzlich kein Platz für ein Ich oder ein Subjekt. Geschichten sind a priori intersubjektiv erschlossene Sinngebilde. Wir geraten in sie hinein, sie geschehen uns oft ohne unser Zutun, in die Geschichten anderer werden wir mit hineingezogen. Über den Vorgang der Verstrickung verfügen wir nicht, er ist nicht direkt intendierbar. Wir können uns nicht aus den Geschichten befreien, die Befreiung wäre selbst wieder eine Geschichte. Deshalb kann man die Einheit von Verstrickt-sein und Geschichte nicht aufheben, das Verstrickt-sein kommt nicht zur Geschichte hinzu, sondern es macht die Geschichte erst zur Geschichte. Hier existiert ein essentieller Zusammenhang. Geschichten besitzen somit den Charakter einer Widerfahrnis. In vielen Punkten stimmen diese Aussagen mit den Beschreibungen von Situationen überein. Zwar kann das eigene Verstrickt-sein thematisiert werden, aber diese Thematisierung ist selbst wieder eine Geschichte, in die sich das thematisierende Selbst gerade verstrickt. Nach Schapp kann es keinen Unterschied geben zwischen dem Geschehen der Verstrickung und der Erzählung von ihm. »Wir können« nicht differenzieren zwischen »erlebten und erzählten Geschichten« 26 . »Erkennen und Verstricktsein ist eins« 27 . Um einen berühmten Vorgänger Schapps zu variieren: Erzählen ohne erlebtes Geschehen ist leer und Geschehen ohne Erzählung blind. Die Erzählung ist nicht imstande sich vom Geschehen zu lösen, da »auch die erzählten Geschich24 25 26 27
Ebd., S. 126. Ebd., S. 121. Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 278; vgl. S. 175, 267. Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 150, 175.
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ten miterlebt sind und in einem untrennbaren Zusammenhang mit den erlebten Geschichten stehen« 28 . Hier könnte man einwenden, und das ist in der Literatur auch schon des Öfteren geschehen 29 , dass jedes Erzählen mit dem Erzählten bricht. Das Erzählen unterbricht das Geschehen, in das ich verstrickt bin, der Reproduktionsakt setzt in der Erzählung eine Vergangenheit in eine vergegenständlichende Distanz zur Erzählung in der Gegenwart. Damit wird eine temporale Differenz gesetzt, auch wenn diese Differenz noch so gering sein mag. Nur so kann das vergangene Geschehen historisches Wissen werden. Zwischen dem Geschehen und der Geschichte steht der Erzähler in seiner Erzählsituation. Erzählen scheint vom Handeln suspendiert zu sein. Über das Erzählen kann das Erzählen nicht erzählen, erst über das Erzählthaben. ›Erzählen von mir‹ ist Selbstdistanzierung und vollzieht einen Bruch mit dem Kontinuum des gelebten Lebens. Da jedes Erzählen immer Erzählen von etwas ist, kann im Akt des Erzählens das Erzählen sich nicht selbst thematisieren. Das wäre nach Schapp wiederum eine andere Geschichte. Da Geschichten aber auch erzählbar sind und das Erfahrene mitteilbar, muss ich das mir Passierte irgendwie verstanden und als etwas erfahren haben, das mich in meinem Sein essentiell betrifft. 30 Eine wesentliche Bedeutung von Geschichten besteht darin, dass sie als erlebte und dann erzählte eine Funktion für die Konstitution individueller und sozialer Identität besitzen. In Geschichten »dokumentiert« sich somit auch immer die Erfahrung der Verstrickung des Menschen in die »Welt« 31 . Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 278. Vgl. Fellmann, Ferdinand, Das Ende des Laplaceschen Dämons, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hrsg. v. Kosseleck, Reinhard / Stempel, Wolf-Dieter, München 1973, S. 115–138 und Röttgers, Kurt, Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten, Freiburg / München 1982. 30 Da aber Erzählungen und die Geschehnisse, von denen erzählt wird, mindestens zwei Ebenen umfassen, und zwar die Geschehnisse selbst und ihre Darstellung, besitzt jede Erzählung eine Ausdrucks- und eine Inhaltsebene. Wie die Sprache hat die Erzählung eine Verweisungsfunktion, sie erzählt nicht von sich selbst, sondern von etwas anderem – mit der Möglichkeit zur Reflexivität –, sie kann auch von sich selbst erzählen, sich selbst zum Objekt haben. 31 Indem aber Geschichten erzählbar sind und von anderen verstanden werden sollen, um als Geschichten »anerkannt« zu sein, verfügt der Erzählende nicht über die Erzeugung des Sinns der Geschichte beim Hörenden. Hierin liegt ein Moment der Unverfügbarkeit. Niemand kann die Geschichten über sich, so wie sie dann tatsächlich erzählt werden, intendieren. Keiner hat Einfluss auf die Vergangenheitskonstitution künftiger Zukunftsperspektiven. Vgl. dazu Röttgers, Der kommunikative Text, S. 120. 28 29
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Zum zweiten Problem: Schapps Geschichtenphilosophie thematisiert in zentralen Punkten das »Auftauchen der Welt in Geschichten«. Die »Welt« wird gleichsam in Geschichten hervorgebracht. Es gibt nichts außerhalb von Geschichten, für Schapp fängt alles mit Geschichten an, alles endet mit ihnen. Keiner hat das Projekt einer narrativen Phänomenologie so radikal vorangetrieben wie Wilhelm Schapp. Seine phänomenologische Beschreibung des Menschen als eines in »Geschichten verstrickten« Wesens führt dazu, dass er jeden psychologischen Effekt – jede »Theorie der Seele« und jede »Theorie des Wissens« – verwirft. Für ihn lassen sich Gefühle, Willensakte, Vorgänge des Geistes nicht nur einzig in Geschichten erfassen, sondern sie besitzen keine andere Realität und keine andere Existenz als diejenige, die sie in Geschichten haben. Schapp dehnt diesen »Raum« der Geschichten sogar auf die Gesamtheit der Realität aus, mit dem sich die Naturwissenschaften befassen. Materie und Materialität (bei Schapp das »Aus-was« der »Wozu-Dinge«) tauchen nur in Geschichten auf 32, als ob die Geschichte die Realität hervorbringen würde. Ein Kapitel in Schapps Werk In Geschichten verstrickt trägt den Titel »Überlegungen zur Frage, ob es etwas außerhalb von Geschichten geben kann?«. Dies ist eine weitgehend rhetorische Frage. Die Antwort darauf ist: Nein. Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Gibt es ein Leben ohne Erzählung? Gibt es ein Leben im biologischen Sinne? Nach Schapp hat die biologische Erforschung der belebten Materie nur Sinn in Bezug auf die »Genese« des Menschen als ein »in Geschichten verstricktes« Wesen. Bezeichnenderweise bezieht er sich hier auf die Erzählung der Genesis. Die Biologie als Wissenschaft, so heißt es allegorisch, befasst sich mit dem dritten, vierten und fünften Tag der Genesis (mit der Erschaffung des Lebensprinzips), aber all ihre Untersuchungen sind auf den sechsten Tag ausgerichtet, auf die Erschaffung des menschlichen Wesens, während der erste Tag der ihrer eigenen Erschaffung ist; dies ist ja gerade Gegenstand der Erzählung der Genesis. 33 Die Materie tritt mit dem Anspruch des ewig Dagewesenen auf. »Es hat keinen Sinn, von einer Materie zu sprechen, die aller Geschichte vorausginge […]. [Den] Horizontcharakter gewinnt sie« nur in den Geschichten. »Es hat keinen Sinn nach einem Dasein außerhalb dieser Geschichten zu fragen.« Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 165 f. 33 Bei Schapp heißt es: »Der sogenannte Gegenstand der Biologie […] ist eine Abblendung.« Die Biologie hätte nicht »das geringste Interesse«, »kein Mensch [würde] auch nur einen Blick auf [sie] werfen […], wenn nicht fühlbar im Hintergrund immer der Mensch stände, der in Geschichten verstrickte Mensch, zu dem man auf irgendwelchem 32
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Daraus resultieren zwei prinzipielle Fragestellungen, eine bio-logische und eine bio-graphische. Beide Fragestellungen scheinen sich bei Schapp zu überlagern. Die erste, die biologische, fragt nach der Beziehung zwischen dem Prinzip des Lebens selbst, der belebten Materie, und der Erzählung und führt ihrerseits wiederum zu unterschiedlichen Fragestellungen, je nachdem, welche Bedeutung man dem ›Es gibt‹ verleiht: die erste Fragestellung steht im Kontext Heideggers und könnte so formuliert werden: Existiert ein Leben (im biologischen Sinne) außerhalb des Erzählten? Ist die Erzählung in dem Maße koexistent mit dem Leben, dass dieses ohne sie nicht ›sein‹ kann? Hier ergeben sich offensichtlich Beziehungen zu einer Theologie und Ontologie der Inkarnation des Wortes. Dann sind die Menschen nicht nur in Geschichten verstrickt, sondern sie sind Geschichten. Die zweite Art der Fragestellung, noch immer im Blickwinkel des Biologischen, scheint weniger ontologisch: Kann man Leben außerhalb von Erzählungen verstehen oder »erkennen«? Ist Leben außerhalb narrativer Formen zugänglich? Können menschliche Individuen ihr Leben außerhalb von Erzählungen leben? Kann das Leben gelebt werden, ohne erzählt zu werden? Gibt es ein menschliches Leben, das nicht schon immer in einer narrativen Beziehung zu sich selbst steht? Auf derartige Fragen antworten intuitiv die Mythologien, besonders die Entstehungsmythen, die den Ursprung der Dinge und der Wesen »erzählen«. Auf diesem Prinzip narrativer Verstehbarkeit baute schon Wilhelm Dilthey seine epistemologischen Überlegungen auf, indem er die Auto-Biographie zur Grundlage des Verstehens der »GeisWege oder Umwege über die Biologie Beziehungen aufzunehmen versucht. Dieser Mensch steht auch bei jeder Forschung über den Aufbau der Zelle oder den Aufbau der einzelligen Wesen im Hintergrund.« Man könnte also sagen, »daß der Biologe sich nur mit dem dritten, vierten und fünften Tag der Schöpfungsgeschichte beschäftigt, während er etwa den ersten und zweiten Tag dem Astronomen oder Physiker oder Geologen überläßt. Ebenso wie die Schöpfungsgeschichte aber erst ihren Sinn durch den sechsten Tag erhält […], ebenso wäre die Biologie sinnlos, wenn sie nicht irgendwie auf den in Geschichten Verstrickten lossteuerte und zu seinem Verständnis einen, wenn auch bescheidenen Beitrag liefern könnte. Bei allen positiven Kenntnissen im einzelnen kann die Biologie im ganzen und im Verhältnis zu einem übergeordneten Ganzen ein Stück handfester Aberglaube sein, ein Mythos, der aber jeden Zusammenhang mit den großen Mythen verloren hat und in der Gesamtgeschichte eine Dekadenzerscheinung bildet, weil sie aus der Abblendung nicht den Weg zu dem zurückfindet, wovon sie die Abblendung ist, weil sie anstatt nach diesem Weg zu suchen, von dem Abgeblendeten aus ins Blaue hinein eine Art Welt konstruiert, wie dies Häckel und seine Nachfolger versuchten.« Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 194 f.
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teswissenschaften« machte. Durch Erzählungen werden die Welt und unsere Erfahrungen mit ihr strukturiert und verstanden. Sie erhalten einen Sinn. Beziehungen zwischen den sinnlichen und mentalen Erfahrungen des Menschen und der Erzählung kann man formulieren. Die Erzählung transformiert Ereignisse, Aktionen und Personen des Lebens in Episoden, Handlungen und Protagonisten: Sie ordnet Ereignisse in der Zeit, konstruiert zwischen ihnen Beziehungen von Ursache, Folge und Zielen; sie weist so dem Gelegentlichen, dem Zufälligen, dem Heterogenen einen Ort und einen Sinn zu. Dies vollzieht sich in der Sprache. Das Leben findet in der Erzählung statt, es findet statt als Geschichte. Was dem Leben und der Erfahrung des Menschen Form gibt, sind die Erzählungen. Das Erzählen, so kann über Schapp hinausgehend gesagt werden, ist nicht nur das symbolische System, in dem die Menschen das Empfinden ihrer Existenz auszudrücken vermögen; das Erzählen ist die Stätte, wo die menschliche Existenz ihre Form erhält, wo sie sich in Form einer Geschichte ausarbeitet und entwirft. Die anthropologische Fähigkeit des Menschen, in Termini einer narrativen Vernunft ihr Leben zu verstehen und zu deuten, ihre Erfahrungen zu ordnen, ist somit eine primäre Einstellung des menschlichen Lebens. Noch bevor wir von unserem Leben eine schriftliche Spur hinterlassen, noch vor jedem Diskurs über uns selbst, sei es mündlich oder schriftlich, konfigurieren wir unser Leben gemäß der Syntax einer Erzählung. In der Sprache der Erzählung und gemäß einer narrativen Logik konstruiert sich der Raum der menschlichen Erfahrung. Es gibt kein menschliches Leben ohne Erzählung, der Mensch lebt sein Leben, indem er erzählt, sich selbst und den anderen. Das dritte Problem: Die »Lehre« vom »Auftauchen der Welt in Geschichten« verbindet Schapp mit einer Kritik der traditionellen Wahrnehmungsbestimmungen und der Theorie der Sinnesqualitäten. Hier setzt seine Wissenschafts- und Philosophiekritik an. Auch hier beginnt Schapp mit den Vorsokratikern. Schon in der frühgriechischen Philosophie soll unser Zugang zur Welt über das Modell der Wahrnehmung erklärt worden sein, verbunden mit der Trennung von Subjekt und Objekt. Dass dies nicht der Fall ist, kann hier nur als These formuliert werden. Ein Nachweis anhand konkreter Textanalyse kann nicht vorgenommen werden. 34 Allgemein kann jedoch gesagt werden, dass das 34
Die volle Ausprägung einer wissenschaftlich geprägten Weltsicht findet Schapp im
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vorsokratische Denken eher die Züge einer Reaktion auf die Lage darstellt, in der es selbst befangen ist, als dass es auf die theoretische Beobachtung einer objektiv zur Ansicht gebrachten unabhängigen Realität ausgerichtet gewesen wäre mit dem Ziel, diese möglichst genau auf den Begriff zu bringen. Das derart Gedachte bringt in einem besonderen Maße den Standort des Denkens und die Weise, wie es sich in der Situation findet, mit zur Sprache. Unser Sprechen und Sagen ist nach dieser Auffassung allemal ein Spiegel unseres eigenen Daseins und somit davon, wie wir in der Welt sind. Was das Bemerkenswerte am Denken der Vorsokratiker ist, sind nicht so sehr die Resultate ihres Denkens, sondern vielmehr die andere Weise des Denkens, sich in das zu finden und in dem auch wiederzufinden, was seine Welt ihm bedeutet. Das philosophische Denken unterscheidet sich von Beginn an vom primär sachlich-wissenschaftlich geleiteten dadurch, dass es seine eigene Stellung zur Sache und zur Welt, in der die Sachen auftauchen, stets mit im Blick hat. Unter diesem Aspekt kann das vorsokratische Denken nicht auf den Typ wissenschaftlichen Denkens reduziert werden. Es ist eminent philosophisch. Schapps undifferenzierte Behauptung, dass in der antiken Philosophie das Modell der Subjekt-Objekt-Trennung vorherrsche, ist zu korrigieren. Erst in der Philosophie der Neuzeit wird der Begriff der Selbsterkenntnis auf die innere Einkehr eines Subjekts bezogen, das sich losgelöst von seinen weltlichen und gesellschaftlichen Bezügen in seinem individuellen Sosein zum isolierten Gegenstand der Beobachtung und Analyse macht. Antike Selbsterkenntnis unterscheidet sich davon in mehrfacher Hinsicht von ihrem neuzeitlichen Pendant. Sie richtet sich erstens nicht auf die Individualität des erkennenden SubAtomismus Demokrits. Auch hier wären Einwände zu formulieren. Es wäre einem Vorsokratiker niemals eingefallen, was schon Aristoteles in seiner Fundamentalkritik im Buch IV der Metaphysik kritisch feststellt und was seither geradezu als Kriterium der Unterscheidung des vorsokratischen vom klassischen Denken fungiert. Er schreibt: »Überhaupt ist zu betonen, dass, wenn allein das Wahrnehmbare ist, gar nichts wäre, wenn nicht auch beseelte Wesen wären; denn sonst wäre ja keine Wahrnehmung.« (Metaphysik IV 5. 1010b 30 f.) Dieser Satz spricht ohne großes Bedenken aus, dass Aristoteles das Wahrnehmen für etwas hält, das vollkommen aus dem Rahmen des Wahrnehmenden herausfällt. Setzt man infolgedessen auf der einen Seite alles Wahrzunehmende, muss man noch dazu und darüber hinaus etwas Weiteres auf die andere Seite setzen, das – von gänzlich anderer Natur – sich gleichsam zum Wahrzunehmenden in Opposition verhält. Die Grundthese der Vorsokratik lautet allerdings: Gleiches wird durch Gleiches erkannt und wahrgenommen.
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jekts, sondern sucht eine allgemeine Wesensnatur des Menschen zu begreifen; sie verfährt zweitens nicht introspektiv, ermöglicht daher auch keine eindeutige Lokalisierung des menschlichen Selbst in einem gegenüber der Außenwelt abgegrenzten psychischen Innenraum; und sie vermeidet es drittens, das Selbst aus seiner Einbindung in überindividuelle Ordnungszusammenhänge herauszulösen. Der antiken Selbsterkenntnis fehlt somit im Wesentlichen das Moment der unmittelbaren Reflexivität. Sie erfasst ihren Gegenstand nicht im direkten Selbstbezug, sondern vermittelt die Einsicht in eine substantiell vorgegebene, teleologisch strukturierte Seinsordnung. Das Selbst erkennt sich als Bestandteil des Kosmos. Selbsterkenntnis ist von Welterkenntnis nicht zu trennen. Der Erkenntnis der Welt ist dabei immer ein reflexives Moment eingeschrieben, d. h. eine implizite Bezugnahme auf das Selbst des Erkennenden. Diese reflexive Komponente der Welterkenntnis ergibt sich konsequent aus der Annahme, dass die Wirklichkeit durchgängig nach teleologischen Gesichtspunkten organisiert ist. Nicht nur ist das Individuum von Natur aus dazu prädisponiert, die Weltordnung zu erkennen. Es gilt auch umgekehrt, dass die Dinge der Welt darauf hin angelegt sind, erkannt zu werden. Der Akt der Erkenntnis ist dann selbst ein Stück dieser Ordnung. Die Fürsorge, welche die Natur dem Menschen aufgrund dieser Zugemessenheit angedeihen lässt, bekundet sich unter anderem darin, dass sie ihm die Zweckmäßigkeit seines Handelns anzeigt. Die Einbindung in eine teleologische Struktur kennzeichnet auch die von Schapp kritisierte platonische Position. Es gibt in der Antike keinen größeren Kritiker des Weltverständnisses der frühgriechischen Philosophen als Platon. Ständig übt der platonische Sokrates Kritik am naturphilosophischen, kosmologischen Wissen. Diese ist jedoch keine prinzipielle Absage an die Natur- und Welterkenntnis. Sokrates verurteilt vielmehr eine bestimmte Form des Wissens, dasjenige, das den impliziten Selbstbezug des Erkennens aus dem Auge verliert. Er lehnt entschieden ein Wissen ab, das keine reflexive Komponente enthält. Andererseits hält er jede Selbsterkenntnis für suspekt, die keinen Weltbezug besitzt. Die Prüfung, die Sokrates unternimmt, um seine Gesprächspartner zu Einsichten zu führen, zielt nie direkt auf das Selbst der in Frage stehenden Person. Geprüft wird ein Wissen über etwas anderes. Geprüft werden Meinungen und Überzeugungen. Diese Verflechtung von Selbst- und Welterkenntnis verweist auf das Bestreben der antiken Philosophie, das Selbst und die Welt auf ein und derselben ontischen Ebene anzu116 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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siedeln. Sie propagiert eine Form der Erkenntnis, die den Erkennenden in die Weltordnung integriert. Das Selbst und die Welt sollen nicht als getrennte Subjekt-Objektsphären auseinandertreten. Sie meidet die Vorstellung eines Selbst, das dem Gegenstandsbereich der Welt als eine autonome Instanz gegenübertritt. Die angestrebte Synthese von Selbst und Welt findet ihren Niederschlag in dem wichtigen Prinzip, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt werden kann. Erkennen aktualisiert sich in Form einer Wesensverwandtschaft, als Teilhabe an einer übergreifenden Struktur vernünftigen Seins. Richtig bleibt jedoch die Schappsche These, dass unser Zugang zur Welt nicht über ein separiertes Vermögen der Wahrnehmung der Dinge in der Welt erfolgt. Jede Rede von Wahrnehmung muss deshalb ihren »Ausgang« nehmen beim alltäglichen Umgang des Menschen mit den Dingen, mit denen wir hantieren, vom Umgang der Menschen miteinander. Wird versucht, Wahrnehmung allein von den Sinnen her zu bestimmen und wird dabei von den Sinnesqualitäten (Farben, Tönen, Gerüchen) ausgegangen, so stellt das eine unzulässige Abstraktion dar. Wenn der Mensch in die Welt hineinhört und hineinschaut, hineintastet, so begegnen ihm nicht diese Abstraktionen, »sondern stets schon eine Art Welt, eine geordnete Welt […], aus der wir nicht die Sinnesqualitäten wie mit einem Löffel abschürfen können.« 35 Man muss von der Einheit der Phänomene ausgehen und davon, dass der Mensch immer schon in der Welt ist, bevor er die Dinge in ihr wahrnimmt oder über sie nachdenkt. 36 Dieses immer schon ›In-der-Weltsein‹ betrifft bei Schapp das immer schon ›Verstricktsein-in-Geschichten‹. Die auftauchenden Dinge der Welt lassen sich nicht aus ihren mitauftauchenden Horizonten herauslösen. Weltliches stellt sich dar, nur so ist es überhaupt verstehbar. Der wahrnehmbare Ausdruck des Dargestellten führt jedoch nicht zu etwas Exemplarischem und schließSchapp, PdG (1. Aufl.), S. 159. »Wahrnehmen« ist nach Schapp keine bewusste sinnliche Rezeption äußerer Reize. Das wird vorgeführt am Begriff der »deutlichen Vorstellung«. Er spricht davon, dass Gebilde in der Welt »deutlich gegeben« auftauchen. Deutlich ist die Wahrnehmung, sofern man von ihr sagen kann, dass man das, was einem begegnet, was auftaucht, verstanden hat. Etwas »verstanden haben« hat hier jedoch nicht die Bedeutung eines ersten Vorgriffs auf ein erst noch theoretisch zu Erschließendes, sondern ›verstanden‹ heißt verstanden in Hinsicht auf praktische Orientierung. Jedes Gebilde taucht auf in einer Geschichte und mit allem, was in Geschichten vorkommt. Wenn vom »Auftauchenden« die Rede ist, dann ist zugleich die jeweilige Geschichte mitgemeint, die dazu gehört.
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lich Gattungsmäßigem, etwa im Sinne der platonischen Ideen, sondern zunächst und unmittelbar ist das Dargestellte Ausdruck des Herstellens von und Umgehens mit den Dingen der Praxis. Die Menschen sind immer schon in Geschichten verstrickt, wenn sie wahrnehmen, verstehen und handeln. Damit weist Schapp die Vorstellung eines isolierten Subjekts zurück, das sich seine Welt autonom entwirft und in der »Welt« dasjenige erkennt, was der methodische Weg vorher hineingelegt hat. Unausgesprochen wird hier die von Descartes erzählte Geschichte von den zwei Welten, von der res extensa und der res cogitans und der damit verbundenen Dichotomie von Subjekt und Objekt, als Ausgangspunkt der modernen Erkenntnistheorie, zum Gegenstand fundamentaler Kritik: Da die Dinge immer im Kontext von Geschichten stehen, ist ein Wahrnehmen der Dinge im Sinne eines reinen Gegebenseins nicht mehr als ein bloßes Wunschbild. Zum Auftauchen oder Gegenständlichwerden gehören die Geschichten der Menschen und die Vorgeschichten der Dinge und Gebilde. Nur wenn es ein Sein außerhalb von Geschichten gäbe, könnten Dinge, Gebilde usw. isolierbare Gegenstände von Wahrnehmung und Erkenntnis sein. Wenn man mit Schapp davon ausgeht, dass wir selbst immer die in Geschichten Verstrickten sind, so ist sicher, dass man Geschichten nicht wahrnehmen kann. Sie sind aber auch nicht zu erkennen. Alles, was wir von der Welt erfahren und »wissen«, wird nicht wissenschaftlich methodisch erkannt, sondern kann nur beschrieben und gedeutet werden. Da jedes Erkennen selbst wieder eine eigene, einmalige Geschichte ist, also in eine Geschichte des Erkennens verstrickt ist, kann auch das, was eine Geschichte eigentlich ist, niemals definiert werden. Es »gibt« Geschichten nur in unseren vielfältigen »Auffassungen«. Somit gibt es keine Möglichkeit Geschichten und unser Verstricksein in sie, in einer Wissenschaft mit der Bezeichnung ›Wissenschaft von der Verstrickung in Geschichten‹, zum Gegenstand einer objektiven Betrachtung zu machen. Die Geschichtenphilosophie verzichtet auf das, was Philosophie im Allgemeinen auszeichnet, die Arbeit des Begriffs, die Ausdifferenzierung der Wissensformen, sie verzichtet weitgehend auf Geltungsansprüche und auf einen theoretisch-methodischen Weltentwurf. Deshalb hält Schapp daran fest, dass z. B. die Maßstäbe von wahr und falsch oder die Rede von der Wirklichkeit ausschließlich in den Geschichten einen Sinn haben; es existieren keine externen Beurteilungskriterien von Geschichten. Wahrheit, Falschheit und Wirklichkeit sind Ereignis118 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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se in Geschichten. Da es keine allgemeingültige situationsunabhängige Geschichte geben kann, ist das Verstricktsein ein irreduzibles Phänomen. Übergeschichtliche Wahrheiten sind obsolet. Die Frage, die sich dann stellt, ist die, wie es dann mit dem Wahrheits- und Geltungsanspruch der Geschichtenphilosophie selber steht. Schapps Antwort ähnelt der des Sextus Empiricus auf die Einwände der Dogmatiker. Diese unterstellen dem Skeptiker, er spreche assertorische Sätze aus: kurz, er behaupte etwas und zwar, dass man nichts behaupten könne. Die Antwort des Skeptikers lautet: »Davor aber wollen wir anmerken, dass wir bei keinem der Dinge, die wir sagen werden, mit Sicherheit behaupten, dass es sich in jedem Fall so verhalte, wie wir sagen, sondern dass wir jeweils nach dem, was uns jetzt erscheint, erzählend berichten.« 37 Der Skeptiker »berichtet erzählend«, wie ihm etwas jetzt (nun) scheint. Was der Skeptiker vollzieht, ist gewissermaßen eine situative Kundgabe, die keine propositionale Struktur besitzt. Situative »Kundgaben« sind keine Beschreibungen und Feststellungen über etwas, keine Beschreibungen eines inneren Seelenzustandes und Aussagen über Erlebnisse, sondern Äußerungen im Sinne Wittgensteins. Der Skeptiker – ähnlich wie der in Geschichten Verstrickte – könnte, wenn er seine Erlebnisse offen legt, lügen bzw. sich verstellen. Irren jedoch kann er sich nicht. Hier können weder Begründungen eingefordert, noch Irrtum unterstellt werden. Die Frage nach Wahrheit oder Falschheit kann nicht gestellt werden. Auf die Sätze, die der Pyrhoneer sprachlich hervorbringt, sind nicht die Wahrheitsprädikate, sondern die Prädikate aufrichtig und unaufrichtig anwendbar. 38 Das vierte Problem oder vom Ich zum Wir: Dieser Punkt ist insofern wichtig, als Schapp die Auflösung von »Wir-Erzählungen« oder »AllGeschichten« in der Regel recht undifferenziert mit dem Vordringen 37 Empiricus, Sextus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (pyrrhoneiai hypotypôseis), 4, eingeleitet und übersetzt v. Hossenfelder, Malte, Frankfurt a. M. 1985, S. 93. Etwas nur erzählend zu berichten (kundzugeben), statt zu behaupten, verweist auf die Nähe des Skeptizismus zu Erzählungen und zur Literatur. Man kann diese Bemerkung des Sextus als eine grundsätzliche Solidarisierung von Skepsis und Erzählung lesen. Skepsis ist dann diejenige Position der Philosophie, die aus philosophischer Überzeugung heraus Erzählung wird. 38 Vgl. dazu Joisten, Karen, Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 338. Hier wird in Bezug auf Schapps Begriff der Erzählung von »Wahrhaftigkeit« gesprochen.
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des Sachverhaltsdenkens »erklärt«. Es wäre jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass am Ende des 7. und Anfang des 6. Jahrhunderts v. u. Z. an der Westküste Kleinasiens, dem geographischen Raum der europäischen Philosophieentstehung, etwas stattfindet, was in der Sprache der Sozialphilosophen ›Übergang von traditional verfassten Gemeinschaften zu Gesellschaften‹ heißt. 39 Die Konstituierung eines Wir also nicht auf etwas Vorgegebenes rekurrieren kann, ja geradezu dessen Relativierung erforderlich macht. Was wird nun unter Mitverstrickt-sein verstanden? Das erfahren wir, wenn wir sehen, wie Schapp das Erzählen und Hören einer Geschichte beschreibt. Überhaupt ist das Modell mündlicher Kommunikation, die Unterhaltung, bei Schapp dominierend. Auf die Implikationen, die sich durch den Übergang von einer oralen zu einer schriftlichen Kultur ergeben, wird nicht gesondert eingegangen. 40 Das Vgl. dazu vor allem die Rekonstruktionsversuche der Entstehung vorsokratischer Philosophie in den Arbeiten von Günter Dux, der diesen Vorgang in eine Entwicklungslogik von Natur-, Gesellschafts- und Denkprozessen integriert. In Dux’ historisch-genetischer Theorie, die der genetischen Erkenntnistheorie Piagets stark verpflichtet ist, folgt die Herausbildung unterschiedlicher kognitiver Niveaus in der Geschichte der Menschheit durch eine in der Praxis situierte Handlungs- und Organisationskompetenz. Dabei verbindet er den »revolutionären« Einschnitt in der Geschichte der Entwicklung der Weltbilder mit der Entstehung der demokratisch verfassten griechischen Polis. Hier treten erstmals im Bewusstsein der Menschen Natur- und Sozialordnung auseinander (Differenzerfahrung). Die veränderte politische Gestaltungskompetenz der Politen trifft dabei mit zwei weiteren Entwicklungen zusammen, die zu einem Prozess der »abstraktiven Reflexion« führen. Zum einen ist es das Zusammentreffen verschiedener Kulturen im Gefolge von Bevölkerungs- und Siedlungsbewegungen im Mittelmeerraum, das zur Relativierung des eigenen Weltbildes führt und zum anderen ist es die Wissenszunahme über die Natur, die Prozesse der Säkularisierung und Dezentrierung initiiert. Philosophie verdankt ihre Entstehung somit einer »reflexiven Thematisierung« einer neuartigen sozialen Praxisform. Insofern interessiert hier der Zusammenhang zwischen soziokulturellen Formen und unterschiedlichen Kognitionsniveaus. In der Sprache der von Piaget entliehenen Entwicklungspsychologie fragt Dux also nach denjenigen sozialen Interaktionsformen, die so wirkmächtig waren, dass die ihnen entsprechende »reflexive Abstraktion« zu einer Forcierung der Anforderungen an das »konkrete operationale« Denken führt und Philosophie entstehen lässt. Vgl. dazu Dux, Günter, Die Zeit in der Geschichte – Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt a. M. 1992. Siehe auch Hallpike, Christopher, Die Grundlagen des primitiven Denkens, Stuttgart 1990 und Piaget, Jean, Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1989. 40 Hier ist vor allem auf die Arbeiten der amerikanischen Kulturanthropologen Jack Goody und Ian Watt zum Zusammenhang von Schrift und Philosophieentstehung hinzuweisen, die in ihrem paradigmatischen Aufsatz: Konsequenzen der Literalität, in: Li39
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heißt aber auch, das Phänomen der Zirkulation des durch Geschichten vermittelten Wissens nicht hinreichend zu beachten. Erst hier kommt es zu einer Trennung von Inhalt und Form der Erzählung. 41 Das Mitverstrickt-sein setzt ein Bekanntsein von Geschichten voraus. Dieses Bekanntsein »realisiert sich immer nur im Kopfe eines anderen« 42 , der einer Geschichte zuhört. »Realisierung« meint hier ein Entsprechen, nämlich insofern der Sinn einer erzählten Geschichte beim Hörer eine Fortsetzung findet. Von »Stichworten« aus, die der andere der erzählten Geschichte entnimmt, taucht die erzählte »Geschichte mit ihrem Horizont in einem Horizont auf« 43 , die den Hörenden umgibt. Man kann fremde Geschichten nur verstehen, wenn man selbst eine eigene Geschichte bereithält. Aber das Bekanntsein der Geteralität in traditionalen Gesellschaften, hrsg. v. Goody, Jack, Frankfurt a. M. 1981, um eine grundsätzliche Beschreibung der Differenz zwischen mündlichen und schriftlichen Kulturen in Bezug auf die Entstehung abstrakten, situationsinvarianten Denkens bemüht sind. Vgl. dazu auch Havelock, Eric A., Als die Muse schreiben lernte, Frankfurt a. M. 1992 und ders., Schriftlichkeit: Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990. Havelock spricht von der »Geburt der Philosophie aus dem Geist der Schrift.« (Havelock, Als die Muse schreiben lernte, S. 21). Er hat, so eine Bemerkung von Jan Assmann, die »Mythos-Logos Debatte auf eine empirische medienhistorische Basis gestellt.« Vgl. Assmann, Aleida / Assmann, Jan, Einleitung, in: Havelock, Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, S. 20. Zum Problem der Beziehung von Alphabetschriftgebrauch und Philosophie- und Logikentstehung siehe auch Totzke, Rainer, Buchstabenfolgen, Schriftlichkeit, Wissenschaft und Heideggers Kritik an der Wissenschaftsideologie, Weilerswist 2004. 41 Vgl. dazu Lurija, Aaron S., Die historische Bedingtheit individueller Erkenntnisprozesse, Weinheim 1986. Lurija, dessen in den 50er Jahren geschriebenen Arbeiten erst 1974 in der Sowjetunion publiziert werden konnten, thematisiert den Zusammenhang von mündlicher und Schriftkultur vor dem Hintergrund der Herausbildung »propositionalen Denkens«, das in der frühgriechischen Wissenschaft und Philosophie dominiert. Mündlich geprägtes Denken ist nach Lurija eher additiv als subordinativ, eher aggregativ als analytisch, eher redundant und nachahmend als konstativ, eher konservativ und traditionalistisch als kritisch, eher lebensnah als situationsinvariant, eher einfühlend und teilnehmend als objektiv-distanzierend und eher situativ als abstrakt. Vgl. dazu Meier, Christian, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980 und ders., Die Entstehung einer autonomen Intelligenz bei den Griechen, in: Kulturen der Achsenzeit, hrsg. v. Eisenstadt, Shmuel N., Frankfurt a. M. 1987, S. 89–128. Meier thematisiert, in kritischer Absetzung von Jean-Pierre Vernant und Geoffrey E. R. Lloyds Arbeit: Magic, Reason and Experience – Studies in the Origin and Development of Greek Science, London / New York 1979, den Zusammenhang von Polisdemokratie und Philosophieentstehung. 42 Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 116. 43 Ebd., S. 113.
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schichte, das Erzählen, Hören, Verstehen der Geschichte ist schon wieder eine neue Geschichte und kann nur im Rahmen einer Geschichte erfasst werden. Im Erzählen und Hören setzen sich Geschichten fort – im Rahmen einer Wir-Geschichte. 44 Prinzipiell setzt das Hören und Verstehen fremder Geschichten ein Vorbereitetsein und ein Mitwirken voraus. »In dem Hörer muß der Boden vorbereitet sein. Er muß empfänglich sein für die Geschichten. Die Geschichten müssen sich in die Horizonte, die bei dem Hörer vorhanden sind, einfügen […]. Die Geschichte kann nur eingebaut werden in vorhandene Horizonte.« 45 Geschichten können für einen anderen anscheinend nur dann deutlich gegeben auftauchen, wenn ein gemeinsamer Weltbezug von Erzähler und Hörer vorliegt. »Verständigung« setzt Mitverstrickung bzw. die entsprechende Befangenheit in einer gemeinsamen Geschichte voraus. Schapp geht offensichtlich davon aus, dass Verständigung nur vor dem Hintergrund einer Wir-Geschichte und einer Sprachgemeinschaft gelingen kann, in der Sprecher und Hörer verwurzelt sind: »Jede Verständigung setzt voraus, daß die, welche sich verständigen, schon in einer gemeinsamen Geschichte befangen sind und daß sie mit dieser Geschichte in Vorzeiten und Urzeiten verwurzelt sind.« 46 Wer den anderen verstehen will, muss Anschluss an dessen Geschichten finden, die wiederum in »eine große Geschichte verstrickt sind« 47 . Die »große Geschichte«, von der Schapp spricht, meint eine »Weltgeschichte«, in der uns das Wir als etwas Geschlossenes und Greifbares entgegentritt, »das Wir, zu dem wir selbst gehören.« 48 Die »geformte Weltgeschichte« oder »positive Großgeschichte« bildet eine Einheit. Wie jede andere ist sie eine einheitliche Geschichte, in der wir alle Platz haben und einen Ort einnehmen. Das Ganze muss einen Sinn haben, ähnlich wie die Einzelgeschichte, und dieser Sinn kann, wenn wir richtig sehen, nur anknüpfen an das Wir, zu dem jeder einzelne gehört. So wie jeder einzelne in seine Geschichte verstrickt ist, so ist er auch in die Weltgeschichte verstrickt, und zwar zusammen mit seinen Mitverstrickten als zugehörig zu einem Wir. 49
44 45 46 47 48 49
Ebd., S. 148. Ebd., S. 119. Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 275. Ebd., S. 275. Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 198. Vgl. ebd.
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Schapps Vorwurf gegenüber der nachhomerischen philosophischen Tradition besteht nun darin, dass sich der Philosoph nicht mehr als ein »In Geschichten-Verstrickter« fühlt und es vorzieht, die Welt von außen zu betrachten. An die Stelle der Geschichten treten die theoretisch konstruierten »Sachverhalte«, die von »Anfang an als Diktatoren des Universums auftreten und die Geschichten in den äußersten Winkel verjagen oder besser aus der Welt hinausjagen.« 50 Dies ist weitgehend dem Verlust eines Geborgenseins in einer von Göttern durchherrschten Welt geschuldet. 51 Schapps Geschichtenwelt ist konstitutiv an Gemeinschaften gebunden, Gemeinschaften sind verwandtschaftlich organisiert. Mit der Konstitution von Gesellschaften wird den Geschichten der Boden entzogen. Ihr Sinn wird nun über die Beantwortung der Frage nach ihrer Bedeutung erschlossen. 52 Mit der Schapp, PdG (1. Aufl.), S. 216. Schapp verweist in diesen Zusammenhängen immer wieder auf das Modell der Verwandtschaft und der Gemeinschaft hin. »Es mag sein, daß man bei den Gemeinschaften noch wieder unterscheiden muß zwischen den organisierten Gemeinschaften wie dem Staat, der Gemeinschaft der Dichter, der Philosophen, die mehr ein inneres Band zusammenhält. Im Verhältnis des Gemeinschaftswir zum Menschheitswir interessieren uns diese Unterschiede kaum. Den wichtigsten Unterschied zwischen den beiden Wir sehen wir darin, daß man in Gemeinschaften auf eine angebbare Art hineinkommt, und daß man aus der Gemeinschaft auch wieder ausscheiden kann, daß es sich hier gleichsam um historische Vorgänge handelt, während man in das Menschheitswir nicht eintritt und auch nicht austreten kann, oder daß Eintritt und Austritt hier einen ganz anderen Sinn haben. […] [M]an kann […] die Zugehörigkeit zum Wir [nicht] aufheben. Die Kette, mit der der Einzelne an das Wir angeschmiedet ist, mag einen kleinen Spielraum zulassen. Solange man sich innerhalb dieses Spielraums bewegt, fühlt man die Kette nicht. Sobald man aber ernsthaft entfliehen will, zeigt sich, daß die Kette bald abgelaufen ist.« (Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 195 f.) Von allen Gemeinschaften gibt es nur die eine, die in nächster Beziehung zur Wir-Beziehung steht, das ist die Gemeinschaft der Verwandtschaft, »und zwar meinen wir hier die leibliche Verwandtschaft, die aber nach unserer Auffassung mit dem Leibe nur wenig zu tun hat. Diese Verwandtschaft gibt es nur in ganz konkreten Verhältnissen als Mutter-Kind Verhältnis, als Vater-Kind-Verhältnis, wobei das Mutter-Kind-Verhältnis vielleicht das fundamentalste ist. Alle anderen Verwandtschaftsbeziehungen sind davon abgeleitet. Auf dieser Verwandtschaft gründen sich die Gemeinschaften der Geschwister, des Geschlechts, der Sippe, des Stammes, des Volkes, der Rasse, der verwandten Rassen. Hier kommt man auf natürlichem Wege zum Wir der Menschheit«. (ebd.) 52 Dies ist, um in der Sprache der Philosophie zu bleiben, ein Zustand der Entzweiung des Lebensvollzugs (Differenzerfahrung). Die Thematisierung eines Gesamt der Natur in der frühgriechischen Philosophie ist somit Moment eines Entfremdungsprozesses zwischen Mensch und Natur, so dass jeder Begriff von »Natur« die Entzweiung mit ihr voraussetzt. Deutlich wird dieser Zusammenhang bei Schelling in der Schrift: Über das 50 51
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Thematisierung der Erfahrung des Verlusts der in Gemeinschaften unmittelbar erfahrbaren Beziehung zum Wir als Ursache der Entstehung von Philosophie und wissenschaftlicher Weltauffassung variiert Schapp ein altes Motiv der Philosophiegeschichtsschreibung: das Motiv der »Entzweiung« 53 als Erfahrung einer Differenz im Lebensvollzug 54 : Diese ist in der Regel Resultat aus Objektivierungs- und Entfremdungstendenzen 55 , die das Bedürfnis nach Philosophie als dem Mittel ihrer Lösung und Mediatisierung entstehen lässt. Der Philosophie sind damit ihre Probleme vorgegeben, sie wurzeln in den Krisen menschlicher Praktiken, Erfahrungen und Einstellungen. Verhältnis der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt (Jena 1803), ausgesprochen: »Wie eine Welt außer uns war, wie eine Natur und mit ihr Erfahrung möglich sei, diese Frage verdanken wir der Philosophie, oder vielmehr mit dieser Frage entstand Philosophie. Vorher hatten die Menschen im (philosophischen) Naturzustande gelebt. Damals war der Mensch noch einig mit sich selbst und der ihn umgebenden Welt.« (ebd., S. 12 f.) Daher müsse die Philosophie »jene ursprüngliche Trennung voraussetzen, denn ohne sie hätten wir kein Bedürfnis zu philosophieren« (ebd., S. 14). Nur aufgrund der Entzweiung können wir uns von der Versöhnung einen Begriff machen, wie wir umgekehrt jene nicht denken können, ohne Versöhnung zu entwerfen. 53 Vgl. dazu Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Differenzen des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, in: ders., Werke in 20 Bänden, Bd. 2, hrsg. v. Michel, Karl Markus / Moldenhauer, Eva, Frankfurt a. M. 1986, S. 20. 54 Vgl. dazu Ritter, Joachim, Die Lehre vom Ursprung und Sinn der Theorie bei Aristoteles und die Vorsokratiker, in: ders., Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 2003. 55 So führt die Entstehung des privaten Eigentums an Grund und Boden zur ökonomischen Versachlichung der Beziehungen und zur Möglichkeit der Ausprägung eines kommerziellen Interesses an der Produktion. Die Zunahme der durch den Tausch vermittelten Produktion führt zur Herausbildung des Markts als einem universellen Leveller der konkreten Produkte. Insofern gibt es substantielle Analogien zwischen den intersubjektiven Beziehung des marktlosen Lebens und dem mythischen Denken sowie den intersubjektiven Beziehungen des Marktes und der ionischen Naturphilosophie. In einer am Gebrauchswert orientierten autarken Produktion erfolgen Produktion und Konsumtion in der Regel gemeinsam. Die Dominanz persönlicher Beziehungen zwischen den Individuen impliziert die Tatsache, dass die »Individuen« füreinander arbeiten. Die eigenen Bedürfnisse des Gemeinwesens bestimmen, was produziert wird, in keinem Moment seiner Bewegung ist das konkrete Gut als eine bloße Sache gegenüber seinen konkreten persönlichen Funktionszusammenhängen objektiviert. Die Konstitution der Sphäre einer öffentlich betriebenen Beratschlagung über die Angelegenheiten des Gemeinwesens in der Polis führt zur Versachlichung der Beziehungen zwischen den Politen, die ihnen als unabhängige Sphäre ihres Daseins gegenübertreten. Die Inthronisation der Dike als allgemeingültiges Prinzip der Regelung zwischenmenschlicher Beziehungen führt zur Abstraktion von den je verschiedenen Besonderheiten der Rechtssubjekte.
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Eine kurze Schlussbemerkung: In diesem Aufsatz wurde von einer narrativen Ontologie Wilhelm Schapps gesprochen und die von ihm diagnostizierte Geschichtenvergessenheit in die Nähe der Heideggerschen These von der Seinsvergessenheit gerückt. Die Verwendung des Attributs »narrativ« legt in der Regel nahe, es ginge Schapp um eine phänomenologische Theorie des Erzählens oder – und das ist übereinstimmende Auffassung vieler Schapp-Interpreten – um eine narrative Phänomenologie. Das letztere ist natürlich korrekt. Dass in den Erzählungen gleichsam die Welt hervorgebracht wird, verweist noch auf einen anderen Aspekt, der einen kurzen Ausflug zu Heideggers Analyse der »Weltlichkeit« notwendig macht. Es heißt: »Phänomenologische Interpretationen von Weltlichkeit der Welt besagt nicht erzählende Beschreibung des Aussehens von Weltdingen, […] wie all das beschaffen ist. […] Es geht […] nicht darum, was alles in der Welt vorkommen kann, sondern um das Wie des Seins eines solchen und jedes derartig Seienden: Worinheit als die Seinsmöglichkeit des Begegnenlassens des In-Seins, um eine transzendentale Aufweisung der Weltlichkeit aus dem Sein des Daseins qua In-Sein […].« 56 Das ›Verstrickt-sein-in‹ ist damit als die vorgängige Seinsmöglichkeit des Menschen zugleich Bedingung der Möglichkeit des Begegnenlassens von innerweltlichen Phänomenen.
Heidegger, Martin, Prologemena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Marburger Vorlesungen Sommersemester 1925, GA 20, hrsg. v. Jaeger, Petra, Frankfurt a. M. 1979, S. 228.
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Die Allgeschichte des Christentums – monistische Deutung und ethische Herausforderung Markus Pohlmeyer
»Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.« Gabriel Marcia Marquez 1
1.
»In Geschichten verstrickt« – eine Hinfhrung
Der Jurist und Philosoph Wilhelm Schapp (1884–1965) entwickelte in einer Reihe von Werken zur Geschichtenphilosophie eine Hermeneutik, die von der zentralen Metapher der Verstrickung bestimmt wird. Diese drückt die existentielle Befindlichkeit des Menschen aus, immer schon und unhintergehbar in Geschichten (verstrickt) zu sein – als Individuum wie auch als Gemeinschaft. »Weder gibt es hinter den Geschichten etwas Substanzielles wie Liebe und Haß, Freude und Trauer, das für sich etwas Selbständiges wäre und in Geschichten einginge, noch steigen sie als selbständige Gebilde aus den Geschichten auf. Sie sind nur in den Geschichten. Man kann das Verstricktsein in Geschichten nicht trennen von der Erkenntnis der Geschichten. […] Neben dem Verstricktsein oder im Verstricktsein hat der Unterschied von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, von Wahrheit und Falschheit keinen Platz. Man erkennt nicht irgend etwas und ist dann darin verstrickt, sondern Erkennen und Verstricktsein ist eins oder, wie wir uns lieber ausdrücken: Auftauchen und Verstricktsein ist eins. Es hat keinen Sinn zu sagen, das, worin wir verstrickt wären, sei nicht wirklich. […] Das Verstricktsein ist nicht etwas, was zur Geschichte hinzukommt, sondern es macht die Geschichte erst zur Geschichte. Ebensowenig hat es Sinn zu sagen, all das, worin man verstrickt wäre, sei nicht wahr. Solange und sowie man in die Geschichte verstrickt ist, ist sie wahr.« 2 Motto von: Garcia Marquez, Gabriel, Leben, um davon zu erzählen, aus dem Span. v. Ploetz, Dagmar, Köln 2002. 2 Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 150. 1
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Die Allgeschichte des Christentums
Verstrickung ist eine Metapher, die Schapp aber keineswegs negativ verwendet, sondern im Sinne einer Unausweichlichkeit: »Geschichte und In-Geschichte-verstrickt-sein gehören so eng zusammen, daß man beides vielleicht nicht einmal in Gedanken trennen kann. Die größten Werke der Menschheit haben Geschichten und Verstricktsein in Geschichten zum Gegenstande.« 3 Wir haben nicht nur Geschichten und Geschichte als ein Etwas, wir sind vielmehr Geschichte und Geschichten, und wir sind es immer. »Narrare necesse est: Wir Menschen müssen erzählen. Das war so und bleibt so. Denn wir Menschen sind unsere Geschichten, und Geschichten muss man erzählen. Jeder Mensch ist der, der …« 4 . Erst über Geschichten und über das Erzählen von Geschichten wird der Mensch sich seiner bewusst. Schapp hebt nicht nur beispielsweise die Trennlinie zwischen der Welt außerhalb und der Welt innerhalb eines Märchens auf, sondern auch die zwischen vermeintlicher Realität und allen vermeintlichen Formen der Illusion – seien es Träume, Halluzinationen usw. Diese Geschichten-Philosophie wäre von ihrer (holistischen) Anlage her als monistisch zu beschreiben, als ein All-Einheitskonzept: »Selbst die Götter sind auf ihre Weisen in Geschichten verstrickt, die Toten sind in Geschichten verstrickt gewesen, und alle zusammen gehören zu dem großen Allwir der In-Geschichten-Verstrickten.« 5 Die Differenz zwischen wahr und falsch einer Geschichte im Sinne einer ontologischen Abwertung wird verflüssigt, denn es gibt keine Wahrheit außerhalb der Geschichten, auf die wir uns beziehen könnten. Eine solche ontologische Relativierung bedeutet aber nicht zwangsläufig eine ethische Gleichgültigkeit oder Beliebigkeit. Schapp als erfahrener Jurist weiß um unsere Täuschungsanfälligkeit durch Geschichten: Ein Zeuge könnte ja durchaus lügen! Und wir wissen auch, wie oft Geschichte(n) politisch, ideologisch, ökonomisch etc. instruEbd., S. 1. Marquard, Odo, Narrare necesse est, in: ders., Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2001, S. 60–65, hier: S. 60. Vgl. auch ebd., S. 60 f.: »Geschichten müssen erzählt werden. Sie sind nicht prognostizierbar wie naturgesetzliche Abläufe oder wie geplante Handlungen, die zu Geschichten erst dann werden, wenn ihnen etwas dazwischenkommt. […] Erst wenn einem naturgesetzlich geregelten Ablauf oder einer geplanten Handlung ein unvorhergesehenes Widerfahrnis widerfährt, müssen sie erzählt werden und können sie auch nur erzählt werden: Geschichten sind Ablauf-Widerfahrnis-Gemische bzw. Handlungs-Widerfahrnis-Gemische. Und es gilt: Wir müssen erzählen, weil wir unsere Geschichten sind.« 5 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 10. 3 4
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mentalisiert und manipuliert wurde(n). Es können nun zwei Typen von Geschichten bei Schapp festgemacht werden: Täuschungsgeschichten und solche, die jenseits davon stehen. Es gibt Geschichten, die Wahrhaftigkeitsgehalt und Gutheit beanspruchen, die überzeugen und authentisch sind. Schapp analysiert dies anhand detaillierter phänomenologischer Untersuchungen zum Gebrauch der Personalpronomen, anhand von Familienbeziehungen und der großen Weltreligionen, wobei er den Schwerpunkt auf die Gleichnisse Jesu und das Zeugnis antiker Märtyrer legt. Als Ergebnis erarbeitet er ein Modell von Gleichheit, Pluralität, Toleranz und Demokratie – als seine philosophische Antwort auf die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Gleichheit, Pluralität, Toleranz und Demokratie sind jedoch politisch, theologisch und philosophiegeschichtlich semantisch hoch aufgeladene Begriffe, die hier besser in Anführungszeichen zu setzen wären, da Schapp ein kritisches Verhältnis zu bestimmten abendländischen Traditionen beansprucht. Die narrative Fundamentalanthropologie Schapps transzendiert sich regelrecht in Ethik, aus folgendem Grunde: der Mensch vollzieht einen Prozess der Selbstverständigung über sich und die Welt nur durch Geschichten, die er selbst erzählt oder auf die er trifft, kurz: in die er so oder so verstrickt ist. Immer-schon-in-Geschichten-verstricktSein ist ein hermeneutischer Zirkel, der Verstehen konstituiert. Dennoch: verweisen nicht in einem solchen Zirkel Zeichen auf Zeichen, Geschichten auf Geschichten – und diese wiederum auf andere usw.? Auch Schapps Hermeneutik gerät in Gefahr, sich in einem Endlosverfahren der Sinnverweisungen zu erschöpfen und in einen regressus ad infinitum abzustürzen. Außerdem weist die Metapher vom Verstricktsein keine inhaltlichen Bestimmungen auf. Eine prinzipielle GleichGültigkeit aller Geschichten provoziert den Verdacht von Sinnlosigkeit, es sei denn, es ließe sich eine Sinndimension aufweisen. Diese dürfte keinesfalls ideologisch oder willkürlich implementiert werden und somit eine Legitimation beanspruchen, die ihr nicht zukäme. Sie muss aus sich heraus diskursfähig und vernunftgemäß kommunizierbar sein. Ich formuliere diese Analysen relativ offen und vorsichtig, denn hier könnte ein transzendentaler Ansatz auftauchen, den Schapp im Zuge seiner Kant-Kritik gerade vermeiden will; ob er sich überhaupt vermeiden lässt, sei dahingestellt. Schapp hat das Problem gesehen und präsentiert einen durchaus provokativen Lösungsversuch, um einem skeptischen Endlos-Verfah128 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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ren à la Gadamer zu entgehen, dessen Hermeneutik 6 , zugespitzt formuliert, nur in einem Anders-Verstehen kulminiert. All-Geschichten sind Geschichten, die für alle Menschen Platz haben. Das mag harmlos und plausibel klingen, ist es aber keinesfalls. Positiv gewendet: Die AllGeschichten fungieren gewissermaßen wie ein kategorischer Imperativ der Geschichten-Hermeneutik: als Selbstverpflichtungen von Individuen und Gesellschaften, Staaten, Religionen … Ich würde die All-Geschichten vorsichtig als mit einer transzendentalen Funktion versehen interpretieren: als Bedingung der Möglichkeit, dass Fiktionen nicht eskalieren. Beispielsweise war die NS-Ideologie keine All-Geschichte, weil darin nur für bestimmte Menschen Platz war – mit den bekannten fürchterlichen Folgen. Schapps Hermeneutik plädiert im Grunde für eine Ontologie der Geschichten, die paradoxerweise keine Ontologie sein will, oder: für eine Geschichtlichkeit der Ontologie als Einspruch gegen Versuche, einen bestimmten Typ von Ontologie zu verabsolutieren. Ob Ding-, Ideen- oder eine gefrorene Ontologie z. B. parmenideischer Prägung 7 : Schapp löst jegliche statischen Koordinaten dieser Art zugunsten eines Prozesses auf. Mensch und Ding waren / sind / werden (gewesen sein) ihre Geschichte(n). Differenzierende bzw. implizit oder explizit wertende ontologische Abhängigkeitsverhältnisse, wie beispielsweise Idee / Urbild und Abbild oder absolutes Sein und endliche Welt, hat die Geschichten-Philosophie unterlaufen und für hinfällig erklärt.
2.
»In Geschichten verstrickt« … sind Wir Menschen 8
Schapp bestimmt zwei Arten der Wir-Verstrickung: »Es bedarf immer einer näheren Bestimmung innerhalb der Geschichte, um verständlich Vgl. dazu vor allem: Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, GW 1, Tübingen 6 1990. 7 Vgl. dazu: Parmenides, in: Die Vorsokratiker. I. Milesier, Pythagoreer, Xenophanes, Heraklit, Parmenides, gr. / deut., Auswahl der Fragmente, übers. u. erl. v. Mansfeld, Jaap, Stuttgart 1988, S. 284–333. 8 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auch auf das 6. Kapitel meiner Dissertation: Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Berlin 2 2008. Dort wird ausführlicher die Letztbegründung bei Schapp behandelt; zur Monismus-Problematik vgl. auch Kapitel 5. Wichtige Impulse zu dieser Problematik habe ich von dem Münsteraner Theologen Klaus Müller erhalten. Ferner äußerst empfehlenswert Henrich, Dieter, Das Selbst6
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zu werden, etwa in der Art ›Wir Athener, Wir Deutsche, Wir Franzosen, Wir Kegelbrüder vom Kegelklub X‹. Die umfassendste nähere Bestimmung ist ›Wir Menschen‹, wenn man Tiere und Pflanzen außer acht läßt.« 9 Nun existieren und existierten immer schon Gemeinschaften, in denen Ein- und Austritte, Konversionen (oder Exkommunikationen) vollziehbar sind. Aber eine Aufhebung der fundamentalen Konstante des Menschheitswirs ist keinesfalls möglich: »Man kann sich distanzieren von der Menschheit, man kann die Einsamkeit suchen, man kann die Menschheit verachten oder verfluchen und doch nicht die Zugehörigkeit zum Wir aufheben.« 10 Der Zugang zu diesem elementaren Wir ist nach Schapp über die konkrete leibliche Verwandtschaft erreichbar. Zentrale Bedeutung nimmt dabei das Verhältnis zwischen Mutter und Kind ein, als Grundlage aller anderen Verwandtschaftsbeziehungen. Auf diesem Hintergrund erschließt sich auch Schapps Kritik an patriarchalischen Religionsformen: »In allen Religionen, in welche[n] die mütterliche Göttin eine Rolle spielt, spiegelt sich dies Verhältnis wider. In den Religionen, in welchen Gott als Vater erscheint, fehlt irgendwie diese letzte Beziehung, die Urbeziehung zwischen Menschen, ist dieser Urquell nicht getroffen.« 11 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Wir I (so meine Klassifikation) umfasst Phänomene wie: meine Nationalität ist deutsch, meine Konfession katholisch, mein Beruf ist Lehrender an der Universität Flensburg usw. Diese Kategorien sind relativ, austauschbar, veränderbar. Wir II dagegen ist absolut: wir Menschen. Wir II fungiert als die geradezu unhintergehbare Bedingung der Möglichkeit (a priori) von Geschichten und Differenz (a posteriori). Dem Wir II – das macht seine intersubjektive Stärke aus – ist unhintergehbar grammatisch und semantisch der Aspekt von Vielheit eingeschrieben. Eine methodische Anmerkung: Das Operieren mit Kantischen Begrifflichkeiten bleibt in diesem Kontext wiederum problematisch, trifft aber die Sache und zugleich das Dilemma dieser Hermeneutik, zum einen mit Traditionen der Philosophiegeschichte brechen zu wollen und zum anderen ihnen bewußtsein und seine Selbstdeutungen. Über Wurzeln der Religionen im bewußten Leben, in: ders., Fluchtlinien. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1982, S. 99–124. 9 Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 191. 10 Ebd., S. 196. 11 Ebd., S. 198.
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verpflichtet zu sein. Man könnte hier aber auch variieren und gemäß aristotelischer Terminologie unterscheiden zwischen einem substantiellen und einem akzidentiellen Wir.
3.
Welt-Geschichte
Schapps Hermeneutik kritisiert die Engführungen von Volks- und Nationalgeschichten oder die Werke der großen Historiographen (von Herodot bis Mommsen), weil sie eben keinen Weg zum umfassenden Wir eröffnen. 12 Einen Zugang dazu erschließen vor allem »[…] andere »Weltgeschichten«, welche wir vorfinden.« 13 Jan Schapp erläutert: »Die Geschichten des Ich-Verstrickten sind eingebettet in eine positive Welt, in die der Ich-Verstrickte nach Wilhelm Schapp mitverstrickt ist. Diese Mitverstrickung in positive Welt zeigt sich vor allem als Mit-Verstrickung in ihre Gründungsgeschichten. Da diese meistens in literarischer Form überliefert sind, handelt es sich um Mitverstricktsein in erzählte Geschichten. Für den modernen Menschen der westlichen Tradition ist es die Geschichte des Christentums.« 14
Historisch wird ein Bruch diagnostiziert: »Entscheidend bleibt die Infragestellung der positiven Welt des Christentums durch die Welt der Sachverhalte, die er [= Schapp; MP] als ›Sonderwelt des Abendlandes‹ kennzeichnet. Sie hat seit der Renaissance – Schapp ist hier genauer: seit Dante – zu einem fortschreitenden Verlust der Gläubigkeit geführt.«15 Jan Schapp lässt aber offen, wie dieser zu bewerten sei. Als Welt der Sachverhalte aber verdränge die abendländische Sonderwelt die Möglichkeit, sich in die positive Welt des Christentums zu verstricken. Das komplizierte und differenzierte Verhältnis des Christentums zur griechischen Philosophie soll hier aber nicht entfaltet werden. Was versteht Schapp nun unter Sonderwelt? Die »[…] Sonderwelt des Abendlandes, welche die Erde und alle Sterne umfaßt, unter dem Leitbild des Atoms, ist negativ gekennzeichnet durch die Unabhängigkeit von Religion und vom Menschen und tritt dadurch in Gegensatz zu den positiven Welten von Homer bis Dante. […] Die positiven Welten oder etwas Vgl. ebd., S. 198 f. Ebd., S. 199. 14 Schapp, Jan, Verstrickung und Erzählung, in: Phänomenologische Forschungen (2007), S. 125–144, hier: S. 135. 15 Ebd., S. 136. 12 13
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Vergleichbares haben sich bis in unsere Tage erhalten, und wenn der Himmel teilweise hat abdanken müssen, so ist doch der Mensch geblieben.« 16
Schapp kritisiert die durch ihr Verhältnis zur (positiven) Religion negativ gekennzeichneten Sonderwelten, weil sie den universalen Bezug zum In-Geschichten-verstrickt-Sein aufgeben: »Wenn man mit uns die Geburtsstunde der Materie in den Geschichten sieht, und zwar insbesondere in dem Schaffen und Wirken, so mag sie hier in der Geburtsstunde schon immer in dem Horizont des Vorhergewesenseins auftauchen. Diesen Horizontcharakter gewinnt sie aber erst in den Geschichten. Es hat keinen Sinn, von einer Materie zu sprechen, die aller Geschichte vorausginge, sondern man kann nur von einer Materie sprechen, die in allen Geschichten schon als das immer Dagewesene in einem Horizont auftritt, der zur Geschichte gehört und nicht außerhalb der Geschichte liegt.« 17
Die Geschichten-Hermeneutik wäre auf diesem Hintergrund auch als (ontologische) Fundamentalanthropologie zu charakterisieren, die aber ihre Grenzen sehr weit, im Grunde all-umfassend, letztlich monistisch ausdehnt, so dass der Begriff einer Grenze sich in diesem Kontext als hinfällig erweisen muss; denn auch für kosmische Phänomene gilt eben ein In-Geschichten-verstrickt-Sein: »Man könnte z. B. fragen, ob diese Welt, ob Erde, Sonne, Mond und Sterne nicht auch sind, wenn sie nicht gedacht werden. Hier handelt es sich aber wohl um ein Scheinproblem, welches man leichter durchschauen kann. Bei uns trennt sich nicht Welt in Sein und Denken, sondern diese Welt ist zwar nur in Geschichten und über Geschichten, aber in der Weise dessen, was in Geschichten vorkommt, ist sie ständig im Horizont der Ich- und Wirgeschichten. Es hat keinen Sinn, nach einem Dasein außerhalb dieser Geschichten zu fragen.« 18
Auch Gott / die Götter sind nach Schapp immer schon in Geschichten verstrickt und nur über diese zugänglich. Die Frage nach einem allerersten Anfang, initiiert durch eine Schöpfungsgottheit, verliert sich deshalb in einer Gleichursprünglichkeit.
16 17 18
Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 29. Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 165. Ebd., S. 166; vgl. dazu auch S. 154 f. und 155–157.
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4.
All-Geschichte(n): monistisch
Von zentraler Bedeutung ist für Schapp das Christentum, das in seiner Deutung monistische Züge aufweist: »Die Weltgeschichte, von der wir hier sprechen, auch die jeweilige Weltgeschichte, hat das mit den Geschichten, von denen wir ausgehen, gemeinsam, daß sie eine Einheit bildet, daß sie von Anfang bis zum Ende eine einheitliche Geschichte ist, eine Geschichte, in der wir alle Platz haben oder einen Platz haben.« 19 Existieren nun mehrere Weltgeschichten? Besteht nicht die Gefahr, dass diese Hermeneutik in eine christliche Eurozentrik abgleitet? Und wird dem Christentum mehr oder weniger doch die Funktion einer Meta-Weltgeschichte zugewiesen? Das Werk Schapps zeichnet sich bisweilen, wie hier zu sehen, durch nicht geglättete Inkonsistenzen aus, die aber den Prozess des Denkens, Argumentierens markieren und den Anspruch des Autors illustrieren, eben kein geschlossenes System entwickeln zu wollen. (Vgl. dazu beispielsweise Schapps Kommentar: »Unser Bemühen geht lediglich dahin, die als Tier und Pflanze auftauchenden Gebilde unbeeinflußt von Theorien und wissenschaftlichen Vorstellungen festzuhalten. Dies Festhalten darf nicht zu einer Erstarrung, Versteinerung der Gebilde führen, oder jedenfalls muß diese Erstarrung, Versteinerung jederzeit als Gewalt 20 , die wir den Gebilden antun, gekennzeichnet bleiben. Der Leser muß jederzeit in der Lage sein, die Hilfszeichnungen als Hilfszeichnungen zu erkennen und fortzuradieren.« 21 ) Historisch gesehen scheint das Christentum Schapp näher zu liegen (hermeneutisch gesehen eher monistische Religionstypen), dennoch wird immer wieder eine Pluralität von Weltgeschichten befürwortet. Letztlich scheinen die Weltgeschichten ausdifferenzierte Sinnformationen zu sein, die im Menschheitswir verankert sind. Ersatz- oder Antiweltgeschichten wären z. B. die Naturwissenschaften. Sie verdanken ihre Genese mehr oder weniger einer Konstruktion, dennoch bleiben (rudimentäre) Bezüge zu anderen Weltgeschichten. 22 Weltgeschichten scheinen sich abzulösen und doch (im Hegelschen Sinne?) in den nachfolgenden (dialektisch?) aufgehoben zu werden. Das Christentum beinhaltet noch die homerisch-griechische 19 20 21 22
Ebd., S. 199. Hervorhebung durch MP. Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 136. Vgl. dazu ebd., S. 200.
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Welt, die Naturwissenschaften Aspekte des Christentums: die Puppe in der Puppe in der Puppe … »Es kommt nicht darauf an und man wird nicht dadurch ein Christ oder ein Anhänger des Christentums oder einer Kirche, daß man die Geschichten der ›Bibel‹ glaubt oder von ihrer Wahrheit überzeugt ist, sondern nur dadurch, daß man sich in diese Geschichten als eigenste Geschichte verstrickt fühlt, verstrickt ist, richtig verstrickt ist. In diesem Zusammenhang hat es keinen Sinn, von Wahrheit oder Falschheit zu reden oder vom Glauben oder Nichtglauben. Es handelt sich dabei um Fragen zweiten Ranges. Wer in die Geschichte verstrickt ist, dem fällt alles andere zu.« 23
Teil einer Weltgeschichte zu sein, das widerspricht offensichtlich aktuellen Phänomenen: der postmodernen Oberflächenverhübschungstendenz, dem postmodernen ›Multikulti‹, der postmodernen PatchworkBiographie und -Religiosität. Gleich-Gültigkeit droht in Gleichgültigkeit umzuschlagen. In diesem Zusammenhang sei auch der Dalai Lama zitiert, der eindrücklich warnt: »Der Buddhismus bedeutet für Europa eine neue Tradition, eine Religion, die es bisher hier nicht gab. Es ist ganz normal, daß jene, die sich für den Buddhismus in seiner tibetischen Form interessieren, sich daneben weiterhin über andere Traditionen, andere Religionen informieren und sie studieren. Jenen, die ernsthaft daran denken, zum Buddhismus überzutreten, sei Vorsicht angeraten. Man darf diesen Schritt nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn man vorher nicht reiflich überlegt hat, gerät man später oft in Schwierigkeiten und inneren Zwiespalt. Ich empfehle also allen, die zum Buddhismus übertreten wollen, sich dies vorher genau zu überlegen.« 24
Für die Hermeneutik Wilhelm Schapps sind also die maßgeblichen Kriterien einer Weltgeschichte ihr geschichtliches Gewachsensein und ihre Sinnmomente, um Einzel- und Wir-Geschichten zu verknüpfen, und der damit verbundene Universalismus – als Korrespondenz zur Wir-Verstrickung. Das historische Gewachsensein verschleiert das Problem, wie denn mit den Phänomenen von Offenbarung und den historischen Religionsstiftern umzugehen sei, und verweist hierin schon auf den eigentümlichen Umgang Schapps mit dem Christentum (s. u.). Und weiter: warum dienen gerade Religionen als Indikatoren von geformten Weltgeschichten? Sie werden vorgefunden und weisen die Ganzheit des absoluten, substantiellen Wir auf – im Gegensatz zum 23 24
Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 27 f. Dalai Lama, Der Wille zum Frieden, Frankfurt a. M. 2005, S. 155.
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relativen Wir: »Außerhalb der Bezirke dieser Religionen finden wir, wenn wir von dem Versuche Hegels absehen, keine Weltgeschichte vor, treffen wir auch das Wir nicht an in dem Sinne, wie es uns in diesen Weltgeschichten begegnet.« 25 Die Leistung einer solchen Kriteriologie liegt darin, dass z. B. das ideologische Konstrukt der Antiweltgeschichte des Nationalsozialismus als unhaltbar klassifiziert wird, weil es eben nicht für alle Menschen Platz hat. Schapp diagnostiziert: »Wir finden nur Nationalgeschichten vor, die nicht bis zum Wir vordringen. Dabei mag es nicht so sein, daß nicht eine Ahnung von einem Wir in den Gesichtskreis tritt. Dies Wir wird aber nicht lebendig, weil es sich in der Nation abschnürt gegen das umfassende Wir und keinen Kontakt zu dem umfassenden Wir erlangt. Die anderen Völker sind die anderen. Die Völker stehen sich feindselig oder gleichgültig gegenüber.« 26
Schapp illustriert den Kommunikationsabbruch im Aufeinandertreffen einer National- mit einer Allgeschichte am Fall des Jesus-Prozesses: »Pilatus ist aber in erster Linie der Vertreter eines Weltreiches. In diesem Weltreich – so könnte man sagen – hat auch Christus einen Platz. Da das Weltreich aber kein Wir kennt, ist für den eigentlichen Christus kein Platz in diesem Weltreich. Deshalb kann Pilatus auch Christus nicht verstehen.« 27 Zusammenfassend interpretiert Martin Wälde die Allgeschichten als »transzendentale Universalimplikationen« 28 , als (nicht-propositionale) Grundlagen einer Kommunikationsgemeinschaft: »Während aber die Einzelgeschichte ›provisorisch‹ zu einem Ende kommen kann, verbindet Schapp mit den Allgeschichten einen protentional gerichteten Zukunftshorizont, eine universale Eschatologie oder Teleologie geschichtlich gewordener Kulturzusammenhänge, die vornehmlich aus den großen Religionen (Juden- und Christentum, Buddhismus, Islam etc.) erwachsen sind, wobei religiöse Überlieferungen die Authentizität der Allgeschichten ausmachen. Die Geschichtenphilosophie mündet so, gleich dem Husserlschen und Heideggerschen Spätwerk, in eine Geschichtenteleologie und -metaphysik, ohne allerdings eine Allgeschichte zu paradigmatisieren.« 29 Und weiter: Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 204. Ebd. 27 Ebd., S. 205. 28 Wälde, Martin, Husserl und Schapp. Von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Philosophie der Geschichten, Basel 1985, S. 126. 29 Ebd., S. 124 f. 25 26
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»So verstanden sind Allgeschichten transsubjektive Praxisformen und geschichtlich gewachsene Großverweisungszusammenhänge, die wir mit anderen gemeinsam haben müssen, um ihre Handlungen und Worte zu verstehen, und um zu gemeinsamen Urteilen kommen zu können.« 30
5.
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Die ontologisch-hermeneutische Grundlage der Universalität des Christentums verbindet Schapp mit einem performativen Bild-Begriff: »Ein wichtiges Bild, in Wirklichkeit ist es mehr als ein Bild, besteht darin, daß Gott der Vater aller Menschen ist, daß alle Menschen Gottes Kinder sind, daß sie unter sich Brüder sind, daß sie Nächste untereinander sind, daß keiner mehr ist als der andere, daß Schwache, Kranke, mühselig Beladene als Kinder im Reich Gottes alle gleich sind […].« 31 Wie Schapp das Theorem der christlichen Gleichberechtigung charakterisiert, habe ich als aequalitas 32 oder, inhaltlich gefüllter, als Verantwortung bezeichnet – in methodischer Funktion, denn bei Schapp kommt dieser Begriff so nicht vor. In Schapps Perspektive scheint das Christentum die ›geschichtenphilosophienächste‹ Religion: »Die Weltgeschichte im christlichen Sinne ist eine einheitliche Geschichte. Sie hat einen Anfang, den man fast als absoluten Anfang bezeichnen könnte, und sie nimmt auch das Ende der Geschichte mit in die Weltgeschichte hinein, in dem sie erst mit dem jüngsten Tag abschließt, die aber kein eigentliches Ende bedeutet, oder allenfalls ein Ende der irdischen Geschichte.« 33 Jeder sei in dieser Weltgeschichte an seiner Stelle verstrickt, wobei die christliche Theologie von einer Verstrickung in die Sünde spreche, eine Parallele zur Verstrickungs-Metapher, die – in der Funktion eines Gegenbegriffes zu den Sachverhalten – aber eher (philosophisch) die Unausweichlichkeit und Unhintergehbarkeit der Verstrickung ausdrücken soll als (theologisch) deren
Ebd., S. 126. Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 203. 32 Vgl. dazu Georges, Karl Ernst, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 1. Band, Nachdruck der 8. Aufl., Darmstadt 1988, Spalte 185. 33 Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 202. 30 31
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Schuldhaftigkeit. Der Wechsel jedoch in eine andere Weltgeschichte ist konkret möglich; Schapp spricht von Bekehrung. Die performative Praxis Jesu (in seinen Wundern, in seinen Predigten und Gleichnissen, in seinem Umgang mit Menschen …), die gewissermaßen das Verhältnis Gott-Mensch in seiner Person absichert, kulminiert im Gleichnis vom verlorenen Sohn und barmherzigen Vater (Lk 15,11–32); für Schapp ist es das tiefsinnigste, von archetypischer Wucht: »Es handelt sich hier um eine Geschichte, die als wirkliche Geschichte in allen Zeiten sich wiederholt, und um eine Geschichte, die auch heute noch ähnlich sich in jedem Dorf und in jeder Stadt abspielt.« 34 Und weiter: »Im Munde des Herrn erhält die Geschichte einen gewaltigen Hintergrund durch die Übertragung des irdischen Vater-Sohn-Verhältnisses auf das Verhältnis zwischen GottVater und den Menschen oder dem Menschen. Jeder Mensch ist der verlorene Sohn. Auf jeden Menschen wartet in einer Heimat der himmlische Vater, der nichts voraussetzt als den Willen zur Rückkehr nach Hause.« 35 In der Rezeption des Jesus-Ereignisses wird Paulus formulieren: »Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus.« (Gal 3,26–28) Das jesuanische Gleichnis vollzieht sprachlich, was ist und sein soll: die Sohn-Vater-Beziehung koinzidiert mit der Mensch-Gott-Beziehung. Die Zuhörenden (und Lesenden) werden existentiell in den Text verstrickt und so zu einer ethischen wie theologischen Standortbestimmung und zu bestimmten Handlungsweisen nach diesem Modell herausgefordert. Klaas Huizing erklärt: »In den Gleichnissen, der wichtigsten ästhetischen Form des Neuen Testaments, malt sich Christus selbst vor Augen, genauer: er porträtiert und inkarniert sich in diesen Miniaturdramen.« 36 Die Gattung der Evangelien ist angelehnt an die antike Vita, deren Funktion der römische Historiker Tacitus im letzten Satz der Biographie (Historiographie?) seines Schwiegervaters Agricola treffend formuliert: »Agricola posteriati narratus et traditus Ebd., S. 186. Ebd. 36 Huizing, Klaas, Ästhetische Theologie. Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie, Bd. 1, Stuttgart 2000, S. 20. 34 35
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superstes erit.« 37 (Übers. v. Verf.: Agricola wird weiterleben – [weil / indem] der Nachwelt erzählt und überliefert.) Der Universalismus ist dem Christentum durch seine jüdischen Wurzeln eingeschrieben, korrespondiert mit dem sich im AT entwickelnden Konzept einer Tora für alle Völker: »›Der Monotheismus ist von seinem Ansatz her nicht partikular, sondern universal.‹ Das ließe sich gut an der Tora als dem Basismythos des biblischen Monotheismus aufzeigen. Der Gott des Mose ist eben auch und zuallererst der Gott aller Völker, wie durch Gen 1–9 als hermeneutischem Schlüssel auch der Exodus-Erzählung hervorgehoben wird.« 38
6.
Christliche Performativitt
»Die Kunst des Erzählens und insbesondere auch die Kunst der Apostel und Missionare besteht darin, […] Brücken zu schlagen für einen Zugang zu der Weltgeschichte, die sie verkünden. […] Man kann dabei wieder unterscheiden die Lehre und das Beispiel. In der Lehre mag der Apostel wie Paulus bei den Athenern anknüpfen an den unbekannten Gott. Am leichtesten öffnen sich aber die Herzen dem Beispiel. Über den Märtyrer mag sich ein Strom von Gläubigen in das neue Reich ergießen, in Zusammenhängen, die leichter mit dem Herzen und dem Gefühl als mit der Vernunft und dem Verstande zu fassen sind. Im Tod des Märtyrers liegt eine Erneuerung des Opfertodes Christi und zugleich eines Besiegelung des Wirgedankens in seiner letzten Konsequenz. So wie es in der ganzen Welt selbstverständlich sein mag, daß Vater und Mutter sich für die Kinder opfern, um sie zu retten, zeigt der Märtyrer, daß in dem Reich, zu dem er gehört, jeder Vater, jeder Mutter des anderen ist.« 39
Das Martyrium bildet performativ die Koinzidenz von christlicher Erzähltradition und Lebensgestalt. Dennoch ist hier einzuwenden, dass Schapp ein äußerst positives Konzept von Martyrium entwickelt. Fundamentalistisch und ideologisch aufgeladen, kann Martyrium in die Auslöschung von unschuldigem Leben umschlagen, was die gewesene
Tacitus, Agricola, in: Cornelii Taciti opera minora, hrsg. v. u. a. Winterbottom, Michael, Oxford 1987 (Nachdruck), S. 3–33, hier: S. 33. 38 Zenger, Erich, Was ist der Preis des Monotheismus?, in: Assmann, Jan, Die Mosaische Unterscheidung. Oder der Preis des Monotheismus, München / Wien 2003, S. 209–220, hier: S. 215 f. Vgl. dazu auch: Sacks, Jonathan, The Dignity of Difference. How to Avoid the Clash of Civilizations, London / New York 3 2003. 39 Schapp, IGV (3. Aufl.), S. 205 f. 37
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wie aktuelle Geschichte immer wieder leidvoll zeigt. 40 Und das positive Vater-Mutter-Konzept Schapps blendet Kindesmissbrauch oder Kinderarmut aus. Dennoch bleibt der Anspruch Jesu, der Apostel und Märtyrer als Zukunftshorizont bestehen, utopisch immer wieder einzulösen, eschatologisch noch ausstehend; die Geschichten-Philosophie plädiert zeitlos für eine Ethik eines verantworteten Miteinanders.
7.
Die All-Geschichte des Christentums: Implementierung eines Sinnkriteriums?
Aus der Philosophie der Geschichten 41 könnte hier andeutungsweise ergänzt werden: das Christentum steht auch in Front zur shame-culture 42 der homerischen Kriegerwelt oder zur naturwissenschaftlichen Sonderwelt des Abendlandes mit ihrer Eigentumsfixierung. Provokativ ließe sich Schapps Philosophie auch mit quasi-soteriologischen Zügen ausgestattet beschreiben – in ihrer hermeneutischen (Re)Konstruktion eines allumfassenden, aber toleranten und pluralen Christentums. Schapp hat intuitiv die Gefahren einer blanken, bis an den Rand der Inhaltslosigkeit geführten Hermeneutik verspürt. Die Absurdität einer aporetischen Autodestruktion droht in der Gestalt eines skeptischen Endlosverfahrens. Relativismus oder Beliebigkeit wären dann die (nihilistischen?) Konsequenzen. Also scheint die Implementierung eines Sinnkriteriums irgendwie geboten, ohne sich einem Ideologieverdacht auszusetzen. Christliche ›Verantwortung‹ fungiert in dieser Hermeneutik wie ein intuitives Moment von Letztbegründung, die zwar beispielsweise in einer transzendentallogischen Analyse von Schapp nicht entfaltet wird, aber einen prinzipiellen Skeptizismus vermeidet. Verstrickung bedeutet eben auch, unhintergehbar in Verantwortung verstrickt zu sein. In einem Brief vom 26. 09. 1945 43 an den Staats- und KirchenVgl. dazu auch vom Verf., Märtyrer: literarisch-hermeneutische Zugänge, in: Heilige: die lebendigen Bilder Gottes, hrsg. v. Verf. (Glauben und Leben 6), Münster 2002, S. 57–63. 41 Schapp, PdG (2. Aufl.), vor allem S. 173–266. 42 Vgl. dazu auch Angenendt, Arnold, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 2 2000, S. 522. 43 Jan Schapp, der Sohn von Wilhelm Schapp, gab mir freundlicherweise Einsicht in dieses Dokument. 40
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rechtler Rudolf Smend betont Schapp die Bedeutung der Phänomenologie und auch der Kirchen in der Suche nach (relativ unbeschadeten) Quellen für die kulturelle Neuorientierung. Schapp bittet Smend um Hilfe, den Nachlass von Alexander Pfänder zu sichern, durch dessen Lektüre 44 er wesentliche Impulse erhalten habe: »Ich glaube, daß die Werke [Pfänders; MP] sich von selbst durchsetzen werden, wenn es überhaupt nach diesem Kriege noch eine Fortsetzung der abendländischen Kultur gibt. Andererseits glaube ich, daß alle Berufenen ihr Bestes tun müssen, um zu retten, wo es noch zu retten gibt, um unverzagt weiterzubauen und neu zu bauen, solange noch die leiseste Aussicht auf Erfolg vorhanden ist. Ich kann mir denken, daß sowohl die evangelische wie die katholische Kirche hier eine Verbindung mit den Kulturwissenschaften findet, die ihrem eigenen Leben kräftige neue Anregungen und Sicherheiten auf dem eigensten Gebiet verschaffen […].« 45
Schapp steht in der vorgefundenen Weltgeschichte des Christentums. Der Verdacht eines deus ex machina (Kriterium von Außen) in Gestalt dieser Religion ist dennoch nicht so leicht von der Hand zu weisen. Es könnte sich dahinter auch implizit ein Absolutheitsanspruch des Christentums verbergen, der zur Abwertung und Ausgrenzung anderer Religionen führen würde. Dennoch wäre anzumerken, dass man vielleicht überhaupt erst biographisch in einer Weltgeschichte stehen muss, um andere zu verstehen. Auf keinen Fall darf hier unerwähnt bleiben, wie Schapp das Christentum präsentiert: kirchenhistorische Dimensionen und Machtgeschichte, seine Gewaltkarriere und Aufsplitterung in Konfessionen bleiben ausgeblendet. Das Phänomen der Dogmen ist auch nur von eher marginaler Bedeutung: »Überall, jedenfalls seit Plato, sehen wir die Versuche, die Geschichten nicht nur zu erzählen, sondern sie auch zu deuten. Die Geschichtenerzählungen gerinnen auf diesem Wege der Deutung zur Dogmatik. Der Dichter wird zum Propheten, Theologen, Philosophen, Theoretiker. Die Dogmatik scheint klarer und deutlicher als die Geschichte, aber sie hat nicht mehr deren Tiefe. Der Dogmatiker wird sich immer wieder auf die Geschichte zurückziehen, wenn seine Deutung trotz aller Klarheit nicht mehr überzeugend ist, blutleer wird. Das liegt daran, daß es dem Menschen gelingt, sich in der Geschichte wiederzufinden. Die Kon-
Z. B. Pfänder, Alexander, Die Seele des Menschen. Versuch einer verstehenden Psychologie, Halle a. S. 1933. 45 Bisher unveröffentlicht. 44
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sequenzen, die in der Dogmatik aus der Geschichte gezogen werden, sind ihm nur über die Geschichte zugänglich.« 46
Schapp schafft sich eine ausgesuchte Idealform des Christentums, zwar mit historischer Verwiesenheit (z. B. auf Jesus), aber es entsteht eine idealisierte Form, die absolut ist, ohne Absolutheit zu beanspruchen oder in Absolutismus zu verfallen. 47 Und hier wäre nun die Anschlussfrage zu stellen, ob es sich denn noch um Christentum handelt oder um eine Form von Meta-Religion (innerhalb der Grenzen der hermeneutischen Vernunft des In-Geschichten-verstrickt-Seins)?
Schapp, Jan, Freiheit, Moral und Recht. Grundzüge einer Philosophie des Rechts, Tübingen 1994, S. 291 f. 47 Vgl. zum Absolutheitsanspruch des Christentums: Werbick, Jürgen, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg / Basel / Wien 2000, S. 361–402. Und ferner auch Vattimo, Gianni, Glauben – Philosophieren, aus d. Italien. übers. v. Schultz, Christiane, Stuttgart 1997, S. 69: »Die Interpretation, die Jesus Christus von den Prophezeiungen des Alten Testamentes gibt, ja: die Interpretation dieser Prophezeiungen, die er selbst ist, enthüllt deren wahren Sinn, der am Ende nur einer ist: die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Und dieser ›letzte‹ Sinn ist eben dadurch, daß er die caritas ist, niemals der wahrhaft ›letzte‹, hat nicht die Letztgültigkeit des metaphysischen Prinzips, über das man nicht hinausgeht und vor dem jedes Fragen aufhört. Die im Verlauf des Nihilismus niemals abzuschließende Unendlichkeit ist vielleicht nur dadurch begründet, daß die Liebe als ›letzter‹ Sinn der Offenbarung keine wahre Letztheit hat […].« 46
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Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps und der Universalittsanspruch der Hermeneutik im 20. Jahrhundert Nicole Thiemer »Über die gegenwärtigen Geschichten können wir nichts Erschöpfendes sagen, ohne gleichzeitig auf die Sprache zu kommen. Es ist schwer auf den ersten Blick zu sagen, ob die Geschichten das Sprechen voraussetzen oder ob das Sprechen Geschichten voraussetzt.« Wilhelm Schapp 1
Geschichten werden erzählt; sie werden besprochen und mitgeteilt; über das, was Geschichten sind, wird geredet. Geschichten, Sprechen und Rede stehen somit immer schon in irgendeinem vagen Zusammenhang. Für Wilhelm Schapp gilt es in seiner Geschichtenphilosophie diesen Zusammenhang zu benennen, bewusst zu machen und das Verhältnis zwischen Geschichten und Sprechen sowie im Weiteren zwischen dem Wort, der Sprache und den Geschichten zu beleuchten. Der vierte Teil der Philosophie der Geschichten ist thematisch der Untersuchung dieses Verhältnisses gewidmet, womit Schapp die im einleitenden Zitat benannte Verhältnismäßigkeit zu klären sucht, d. h. auf die »Sprache« zu sprechen kommt und die Frage des ›Voraussetzungsverhältnisses‹ zwischen Sprechen und Geschichte behandelt. Schapp befasst sich hier mit einem Problemhorizont, der von der Sache her aus der philosophischen Tradition bekannt ist und zum Beispiel als die Frage nach der inneren Beziehung von Denken und Sprechen, von Wort und Gegenstand reflektiert wurde. Aus Schapps Perspektive können die Antworten der Tradition nicht befriedigend erscheinen. Denn diese Antworten berücksichtigen das seine Geschichtenphilosophie tragende Fundament der Geschichten, das ›In-Ge1
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Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps
schichten-verstrickt-Sein‹ als ›Sein des Menschen‹ schon in der Fragestellung nicht. Für die Philosophie Schapps stellt sich somit die Aufgabe, die Sprache und das Sprechen aus dem Horizont der Geschichten und im Verhältnis zu ihnen in den Blick zu nehmen, um Stellung, Bedeutung und Funktion der Sprache und des Sprechens zu erfassen. Erst vor diesem Hintergrund könnte sinnvoll – und das ist eine These der Geschichtenphilosophie – nach dem Status und der Bedeutung des Wortes, des Satzes oder der Grammatik gefragt werden. Schapp macht hierbei auf ein Phänomen aufmerksam, das er das »stille« bzw. »leise Sprechen« nennt und das im Weiteren den Mittelpunkt der Betrachtung bilden wird. Das »stille Sprechen«, das nie anhaltende »Sprudeln und Summen in unseren Köpfen« 2 – wie Schapp es nennt –, verweist auf einen Gedanken, der der philosophischen Hermeneutik vertraut ist und den man mit Jean Grondin als die Einsicht in die »hermeneutische Universalität« 3 benennen kann. Schapps Ausführungen zum Verhältnis von Sprache, Sprechen, Denken und Geschichten können meines Erachtens im Blick auf die Betonung der Bedeutung des leisen Sprechens mit einer Fragestellung verbunden werden, die innerhalb der hermeneutischen Tradition an verschiedenen Stellen hervorgehoben wurde. Sie zeigen sich aus dieser Perspektive als Stellungnahme zu einem hermeneutischen Grundproblem, dem eine philosophiehistorische Kontinuität angehörig ist, die in der bisherigen Auseinandersetzung mit Schapps Geschichtenphilosophie und ihrer Rezeption vernachlässigt wurde. Zwar wird vielerorts auf Bezugsmöglichkeiten für die narrative Philosophie verwiesen 4 , eine Aufarbeitung der hermeneutischen Anknüpfungspunkte steht jedoch noch aus. Im Folgenden wird an diesem Punkt angesetzt. Dazu gilt es zunächst die Bedeutung des »leisen Sprechens« in der Geschichtenphilosophie herauszuarbeiten. Es wird sich daran zum Beispiel zeigen, dass eine isolierte Betrachtung des Geäußerten nur einen verkürzten AufEbd., S. 273. Grondin, Jean, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 2 2001, S. 58. 4 Vgl. u. a.: Haas, Stefanie, Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität, Hildesheim / Zürich / New York 2002; Wolf, Thomas R., Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts, in: Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichten, hrsg. v. Nünning, Ansgar u. a., Berlin / New York 2003, S. 47–61; Wälde, Martin, Husserl und Schapp. Von der Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zur Philosophie der Geschichten, Basel / Stuttgart 1985. 2 3
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schluss über die Bedeutung des Wortes, der Sprache und des Sprechens bringen kann. Schapp erweist sich hierin einer philosophischen Denkhaltung zugehörig, die – wie er selbst – von der Phänomenologie Husserls Abstand nahm und in Kritik an der traditionellen Aussagelogik oder an der Lehre der idealen Bedeutungseinheiten den hermeneutischen Boden betrat. Zu erinnern ist hier insbesondere an Martin Heidegger, Hans Lipps, aber auch an Hans-Georg Gadamer, der gerade auf den darin zugrunde liegenden hermeneutischen Ansatz aufmerksam machte und ihn produktiv in seiner philosophischen Hermeneutik weiterführte. Im Rückgriff auf Gadamers Rezeption der augustinischen Lehre vom »inneren Wort«, seiner Sprachauffassung und dem hermeneutischen Universalitätsanspruch soll auf hermeneutische Implikationen in der Geschichtenphilosophie Schapps hingewiesen werden, die sich an der Zusammengehörigkeit und Gleichursprünglichkeit von ›InGeschichten-Verstricktsein‹, Sprechen und Verstehen wie der Einsicht in den derivativen Status der Aussage im Hinblick auf die Bedeutung des inneren Sprechens orientieren.
1.
Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie
Die Verhältnisbestimmung von Denken und Sprache, im weitesten Sinne die Ergründung des logos, bildet schon seit den Anfängen der abendländischen Philosophie ein beständig wiederkehrendes Thema. Oft wird hier seit bzw. mit Platon dem Denken eine Vorrangstellung vor der Sprache und vor dem Sprechen zugesprochen. Die Sprache ist ein Instrument des Denkens, sie übernimmt die Bezeichnungsfunktion des Gedachten. Die Worte der Sprache sind nur Zeichen für die Dinge. In all diesen Auffassungen liegt: die Sprache und das Sprechen sind ihrem Wesen nach von nachträglichem Charakter; sie reichen nicht an die Wahrheit heran, die durch das sprachlose Denken erfasst werden kann. Welchen Platz nehmen das Denken, die Sprache und das Sprechen jedoch in der Geschichtenphilosophie ein? Für Schapp übernimmt das ›reine‹ Denken keine Primärfunktion, denn der Mensch ist wesentlich nicht dadurch gekennzeichnet, dass er ein animal rationale ist, sondern dadurch, dass er in Geschichten verstrickt ist und das heißt, dass das »Verstricktsein […] das Sein ausmacht«. 5 Dies hat Konsequenzen auf 5
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die traditionelle Vorrangstellung des Denkens. Das Denken verliert in Schapps Geschichtenphilosophie »seinen angestammten Platz« und ist nunmehr als ein »Beschäftigtsein mit Geschichten« aufzufassen. Dies wirkt sich auch auf die Bestimmung der Sprache und ihrer Wertigkeit aus. So heißt es bei Schapp: »Wenn nun das Denken seinen alten Platz verliert, muß auch das Sprechen seinen Platz wechseln. Das Sprechen muß dann in Beziehung zu Geschichten gebracht werden, und die Urform des Sprechens wird wohl in dem leisen Sprechen gesucht werden müssen, von dem jede Geschichte in ihrem Verlauf begleitet ist. Vielleicht darf man nicht einmal sagen begleitet, sondern vielleicht ist die Verbindung eine viel innigere und das Sprechen so ewig, wie das In-Geschichten-verstrickt-sein […].« 6
Geschichten und Sprechen stehen nach diesen Worten in einer innigen Verbindung wie auch das Denken und die Geschichten. Der untrennbare Zusammenhang besteht nun aber nicht nur in der Zusammengehörigkeit von geäußerten Worten und Geschichten, z. B. in der Weise, dass Geschichten erzählt werden können, sondern in der Beziehung von leisem Sprechen und Geschichten. Im leisen Sprechen vollzieht sich immer schon ein Beschäftigtsein mit und in Geschichten und Geschichten sind ohne diesen Vollzug nicht fassbar. Dieser Gedanke weist implizit auf eine Einheit von Sprechen und Denken hin, was an eine hermeneutische Sprachauffassung erinnern lässt, wie sie schon Friedrich Schleiermacher vertreten hat. In der Einleitung der Vorlesungen Hermeneutik und Kritik ist zu lesen: »[E]s gibt keinen Gedanken ohne die Rede. Das Aussprechen der Worte bezieht sich bloß auf die Gegenwart eines andern und ist insofern zufällig. Aber niemand kann denken ohne Worte. Ohne Worte ist der Gedanke noch nicht fertig und klar.« 7
Auch Schleiermacher begreift das Denken als ein »inneres Sprechen« 8 wie Schapp die »Urform des Sprechens« als leises Sprechen. Wie hat man sich jedoch dieses leise Sprechen vorzustellen, worauf weist Schapp damit hin? Schapp beginnt seine Ausführungen zum leisen bzw. »stillen Sprechen« mit einer Betrachtung des Dramas. Das Drama stellt eine Ebd., S. 5 f. Schleiermacher, Friedrich, Hermeneutik und Kritik, hrsg. u. eingeleitet v. Frank, Manfred, Frankfurt a. M. 1977, S. 77. 8 Ebd., S. 78. 6 7
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Geschichte dar, ob es sich um ein aufgeführtes Schauspiel oder um eine Lebensgeschichte handelt, die sich in ihrem Verlauf als dramatisches Geschehen erweist. Das Drama lebt von den Zusammenhängen der Handlung, die erzählt oder durchlebt werden. Die Handlungen der Personen geschehen nun jedoch selten ad hoc. Sie werden reflektiert. Die Personen des Dramas bedenken, was zu tun oder zu lassen ist. Im Schauspiel kommt es nun häufig vor, dass gerade dieses Bedenken und Überdenken der Handlungen in Monologen der Protagonisten aufgeführt und das meint: laut ausgesprochen wird; die folgenden Szenen zeigen dann, wie diese Bedenken und Gedanken in Handlungen umgesetzt werden. Am Beispiel des Dramas ist somit leicht nachvollziehbar, wie sich Gedanken als Beschäftigtsein mit der Geschichte sprachlich vollziehen. Dieses Geschehen, das am Drama aufweisbar ist, bildet für Schapp die Brücke zur Nachvollziehbarkeit dessen, was er das »stille Sprechen« nennt. Denn nicht nur im Drama ist solches Bedenken erlebbar. Schapp erinnert hierzu an die alltägliche Situation vor dem Einschlafen. Die Tagesereignisse werden nochmals durchdacht, es wird geplant, was bald zu tun ist etc.; und »[d]ies erfolgt«, in Schapps Worten, »im stillen Sprechen« 9 . Die Frage ist jedoch, wie das quantitive und in einem weiteren Schritt das qualitative Verhältnis zwischen leisem und lautem Sprechen zu beschreiben ist. Schapp meint hierzu: »Wenn wir sagen sollten, wie sich dies stille Sprechen dem Umfange nach zum lauten Sprechen verhält, so würden wir sagen, daß von dem gesamten Sprechen noch nicht ein Tausendstel und auch nicht ein Zehntausendstel auf das laute Sprechen entfällt.« 10
Das laute Sprechen, die ausgesprochene Rede, bleibt diesen Zeilen zufolge immer hinter dem stillen Sprechen zurück. Das stille Sprechen ist die Voraussetzung oder radikaler ausgedrückt: die Bedingung des lauten Sprechens, weshalb das geäußerte Wort auch niemals die vorhergehenden Gedanken voll und ganz ›aussagen‹ kann. Daher ist das »laute Sprechen vielleicht nur Wellenkämmen auf dem Meer des inneren leisen Sprechens zu vergleichen« 11 . Das innere Sprechen ist so das Primärphänomen, das die Aussage als das Sekundäre (seiner selbst) mit sich führt und zu ihr hindrängt. Verliert sich – so ist zu fragen – jedoch Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 269. Ebd. 11 Ebd., S. 270. 9
10
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Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps
das leise Sprechen in dieser Aussage oder ist sein Zweck, nur in einer Aussage oder einer Rede aufzugehen? Schapp bezweifelt eine solche Relationsbestimmung, vielmehr erscheint ihm das Verhältnis solcher Art, dass das Geäußerte – wie es bei ihm heißt – »gelenkt wird von diesem leisen Sprechen, daß es nicht eine Eingebung des Augenblicks ist, sondern verwurzelt ist in vielem und oft wiederholtem leisen Sprechen. Dies laute Sprechen hat aber nicht nur Beziehung zu dem mehr oder weniger weit zurückliegenden leisen Sprechen, sondern ist auch im Augenblick noch, in dem gesprochen wird, getragen von diesem leisen Sprechen«. 12
Wenn das gesprochene Wort in dem inneren Sprechen verwurzelt ist, dann kann man das »laute Sprechen [auch nicht] als Fortsetzung, Nachmalung, Wiederholen eines leisen Sprechens« 13 verstehen. Eine Untersuchung des gesprochenen Wortes bzw. der Aussage erschließt somit niemals die Dimension dessen, was Sprechen und die Sprache ihrem Wesen nach sind. Schapp erteilt mit diesen Zeilen somit einer philosophischen bzw. geisteswissenschaftlichen Tradition, die anhand einer Aussagelogik die Sprache erfassen möchte, eine deutliche Absage. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass Schapp die Sprache nicht als ein selbstständiges Gebilde begreifen möchte. Sprache und Sprechen sind nur zu erhellen, indem auch der Horizont, in dem das Sprechen – ob leise oder laut – auftaucht, berücksichtigt wird und das meint: im lebendigen Zusammenhang in Geschichten. Schapp bleibt auch hier dem methodischen Anliegen seiner Geschichtenphilosophie treu, keine ›isolierende‹ Untersuchung durchzuführen. Denn eine ›isolierende‹ Betrachtung dessen, was Sprache ›an sich‹ ist, würde zur Voraussetzung haben, dass Sprache eine Selbstständigkeit besäße, die nach Schapps Meinung jedoch eine konstruierte wäre. In der Geschichtenphilosophie kann man sich dem ›Was‹ der Sprache und des Sprechens nur nähern, in dem beachtet wird, wie Sprache sich zeigt und das heißt: immer im Kontext, im Zusammenhang von Geschichten. Daraus folgt, dass für Schapp traditionell von Konstruktionen bzw. Abstraktionen ausgehende linguistische, sprachphilosophische, logische oder auch phänomenologische Versuche der Analyse von Wortbedeutungen oder der Sprachbestimmung nur als ungenügend zu bewerten und zu verwerfen sind, da – wie er sagt – »das Ganze, was hier
12 13
Ebd. Ebd., S. 271.
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vorliegt« nicht berücksichtigt wird. So schreibt Schapp deutlich gegen Ansätze, wie sie bspw. von Husserl, den Schapp hier namentlich und im Verweis auf seine Ausführungen in In Geschichten verstrickt 14 , oder von Saussure, den Schapp nur in seinem unveröffentlichten Nachlass namentlich nennt, bekannt sind: »Wenn wir hier von lebendigem Zusammenhang reden, so meinen wir damit den Zusammenhang innerhalb der Geschichte oder innerhalb der Geschichten, in die wir verstrickt sind. Wir können bei diesen Geschichten nicht eine Wortoder Sprechseite und eine andere Seite, etwa eine Geschehens-Seite unterscheiden und untersuchen, wie diese zueinander passen. Wir können das Ganze, was hier vorliegt, nicht so deuten, als wenn das Gesprochene oder die Worte das Geschehene treffen oder Vorstellungen von dem Geschehenen erzeugen. Wir können auch nicht fragen: Was ist die Funktion des Wortes in dem ganzen Zusammenhang oder die Funktion des Satzes? Indem wir so reden, reihen wir eine Gewaltsamkeit an die andere. Es ist zunächst nicht die Frage, was die Funktion des Wortes oder des Satzes ist, sondern es ist die Frage, was Wort und Satz selbst sind, ob sie sind und was sie sind.« 15
Nach Schapp ist der Ort, an dem bzw. von dem aus der Fragende in eine »unmittelbare Verbindung mit Sprechen, Sprache, mit Satz und Wort« 16 geraten kann, das leise Sprechen, das für ihn als tragendes Moment des Geäußerten das »eigentliche Sprechen« bildet. Dieses Verhältnis lässt sich noch genauer aufweisen, indem das Phänomen des Schweigens beachtet wird. Bedeutet zu schweigen, dass sich überhaupt kein sprachliches Geschehen vollzieht? Schapp verneint eine solche Auffassung, indem er daran erinnert, dass auch im Schweigen – sei es, dass einem das Wort verboten wird, oder man bspw. bei einem Streit aus Einsicht in die Lage lieber weitere Worte vermeidet – sich stets ein stilles Beschäftigtsein mit der Sache und d. h. mit der erlebten Geschichte fortsetzt und man dergestalt weiter darüber nachdenkt. So schreibt Schapp: »Man kann ein Meister im rechtzeitigen Schweigen sein und dafür doppelt diesem Weitersummen im Kopfe ausgeliefert sein.« 17 GeVgl. Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 170 ff.: »Kapitel 17: Überblick über das Verhältnis unserer Überlegungen zu der Forschung der Phänomenologie – Sachverhalt und Geschichte – Satz und Geschichte«, das die expliziteste Stellungnahme und Abkehr von der klassischen Phänomenologie am Beispiel der Bedeutung eines Übungssatzes und eines Satzes im Zusammenhang in Geschichten beinhaltet. 15 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 271. 16 Ebd., S. 272. 17 Ebd., S. 273. 14
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schichten und Sprechen und zwar das leise Sprechen tauchen so immer nur im gemeinsamen Verbund auf, wobei das leise Sprechen dem lauten Sprechen, der geäußerten Sprache immer in irgendeiner Weise voran und über sie hinaus geht. Schapp macht hiermit deutlich, dass eine verbindliche Zusammengehörigkeit zwischen dem Sprechen und dem Verstricktsein in Geschichten besteht. Diese Zugehörigkeit ist keine ›konstruierte‹, denn: »Es ist nicht unsere Art zu sein, daß wir in Geschichten verstrickt sind, so als wenn es daneben noch andere Arten zu sein gebe. Sondern es gibt nur das InGeschichten-Verstricktsein, und dies Verstricktsein ist begleitet von diesem Sprudeln und Summen von Anfang an. Man ist nicht erst in Geschichten verstrickt und lernt dann Sprechen, und man lernt auch nicht erst Sprechen und wird dann in Geschichten verstrickt, sondern beides ist gleich ursprünglich.«18
War das Verhältnis zwischen leisem und lauten Sprechen zwar ein inniges, so wurde jedoch festgehalten, dass das stille Sprechen das tragende Moment des lauten Sprechens ist. Die Beziehung zwischen leisem Sprechen und Geschichten wird nun von Schapp als gleich ursprünglich benannt. Diese Gleichursprünglichkeit ermöglicht es auch, dass Verstehen möglich ist, was bei einer Betrachtung der Sprache und des Sprechens nicht vernachlässigt werden darf. Für Schapp ist hierbei festzuhalten, dass man »Verständnis nicht an Mißverständnis aufklären kann oder umgekehrt« 19 . Verständnis und Mißverständnis tauchen erst in Geschichten auf und die bedingende Möglichkeit für Verständnis ist das Phänomen des Verstehens, dessen Möglichkeit im Verstricktsein des Menschen zu finden ist. Schapp schreibt hierzu: »Jede Verständigung setzt voraus, daß die, welche sich verständigen, schon in einer gemeinsamen Geschichte befangen sind […].« 20 »Wenn wir etwas Grundsätzliches über das Verstehen sagen wollen, so müssen wir schon auf die Geschichten zurückgehen. Eine Verständigung gibt es nur insoweit, als die Geschichten gemeinsam sind, nur soweit, als die, die sich verstehen wollen, in eine gemeinsame große Geschichte verstrickt sind.« 21
Die Gemeinsamkeit der Geschichten, d. h. das »Mitverstricktsein« in »Vor- oder Nachgeschichten«, im weitesten Sinne in eine »Allgeschich18 19 20 21
Ebd., S. 278 f. Ebd., S. 280. Ebd., S. 277. Ebd., S. 280.
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te«, ist es, aus der das Verstehen entspringt. Damit ist eine Offenheit, in Schapps Worten eine »Empfangsbereitschaft« gemeint, 22 die das InGeschichten-Verstricktsein Schapps kennzeichnet und den deterministischen bzw. stark passiven Klang des Begriffes von »Verstrickung«, wie er von Interpreten der Geschichtenphilosophie betont wurde 23, abschwächt. Obwohl der Einzelne immer in seine Geschichten verstrickt bleibt, bedeutet das nicht, dass er keinen Zugang zu anderen Geschichten und den in ihnen Verstrickten hätte, was an der Möglichkeit von Verstehen und des Verstehens deutlich wird. Wie und weshalb Andere zu verstehen sind, ist so aus dem Verstricktsein zu erschließen. Wie verhält es sich nun mit dem Selbst-Verstehen? Auch dies lässt sich nur aus dem Zusammenhang des Verstricktseins beantworten. Zu betonen ist nun, dass Schapp zur Beantwortung dieser Frage auf den Zusammenhang zwischen Geschichten und stillem Sprechen zurückgreift. Im stillen Sprechen, im ständigen Beschäftigtsein mit Geschichten, stellt sich nämlich gar nicht die Frage nach Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Verstehens. Es vollzieht sich immer schon ganz selbstverständlich: »In meinem stillen Sprechen kann die Frage nach dem, was Verstehen ist, kaum auftauchen. Es hat keinen Zweck zu sagen, daß ich verstehe, was ich still spreche, und noch weniger Sinn hat es, zu sagen, daß ich es nicht verstehe. Es kann hier wohl weder Verständnis noch Mißverständnis geben.« 24
Das Verstricktsein in Geschichten, und das meint das Leben des Menschen, ist ständig begleitet, sogar nur im Zusammenhang mit dem stillen Sprechen zu erfassen. Ist diese Zusammengehörigkeit erkannt, erweist sich auch, dass das stille Sprechen nur als Verständliches zu denken ist. Schapp expliziert im Weiteren dieses Gefüge zwar nicht näher, an seinen Ausführungen lässt sich aber als Konsequenz aufweisen, dass das, was traditionell unter dem Begriff des Denkens gefasst wurde, sich als ein stilles Sprechen erweist. Das stille Sprechen ist als die ErmögliVgl.: »Viel wichtiger ist uns, daß an der Verständigung nicht das wichtig ist, daß einer den andern versteht, sondern daß das Wunder der Empfangsmöglichkeit die Empfangsbereitschaft und diese Empfangsbereitschaft schon immer den ganzen Menschen mit seiner ganzen Geschichte innerhalb der Menschheit mit ihrer Geschichte voraussetzt.« Ebd., S. 278. 23 Vgl. bspw. Kemp, Peter, Das Unersetzliche. Eine Technologie-Ethik, Berlin 1992. 24 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 279. 22
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chungsweise des lauten Sprechens aufzufassen. Dass Gesprochenes verstanden oder missverstanden werden kann, liegt darin begründet, dass das stille Sprechen immer schon Verstehen impliziert. Das In-Geschichten-Verstricktsein, das Schapp als menschliche Seinsweise begreift, ist nach diesen Zeilen auch immer schon von einem Selbstverständnis getragen. Verstehen gehört dem Vertricktsein untrennbar zu. Gegenüber Anderen zeigt sich dies in einer Empfangsbereitschaft als Anschlussmöglichkeit an andere Geschichten, die zuletzt in der Gemeinsamkeit der Allgeschichte gründet, woraus folgt, dass Sprechen als inneres Sprechen, Verstehen und Verstricktsein nur als Einheit zu begreifen sind. Diese Einheit muss aus dem Angeführten in der Geschichtenphilosophie als ursprüngliche und zusammengehörige Relation gedacht werden.
2.
Das innere Sprechen und der Universalittsanspruch der Hermeneutik
Die Frage nach der Beziehung von Sprechen, Verstehen und Mensch, wie sie im letzten Teil der Philosophie der Geschichten auftaucht, gehört traditionell dem hermeneutischen Bereich an. Schon am Verweis auf die Parallelität des Gedankens zum Verhältnis von Denken und innerem Sprechen bei Schapp und Schleiermacher zeigte sich in der Geschichtenphilosophie ein aus der Hermeneutik bekanntes Gedankengut. Schapps Ausführungen nun aber als eine allgemeine Hermeneutik im Sinne Schleiermachers zu deuten, wäre völlig verfehlt. Die Geschichtenphilosophie zielt nicht auf etwas, was unter der Bezeichnung einer ›Kunstlehre des Verstehens‹ bekannt ist. Schapps Unterscheidung zwischen lautem und leisem Sprechen erinnert vielmehr der Begriffswahl nach an die stoische Unterscheidung des inneren und äußeren logos, des logos prophorikos und endiathetos. Der stoische innere logos, das innere Denken, meint aber einen in sich abgeschlossenen Denkprozess, dessen Veräußerlichung in der Aussage, d. h. in der gesprochenen Sprache, nur einen nachträglichen und eher imperfekten Status besitzt. 25 Die äußere Sprache bleibt sekundär im Verhältnis zum
Vgl. Grondin, Jean, Unterwegs zur Rhetorik, in: Hermeneutische Wege: Hans-Georg Gadamer zum Hundertsten, hrsg. v. Figal, Günter u. a., Tübingen 2000, S. 213.
25
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Raum des reinen Denkens und ihr wird ein instrumentaler Charakter zugewiesen. Die Geschichtenphilosophie Schapps widersetzt sich jedoch einer solchen Sprachauffassung, die allein die geäußerte Sprache in den Blick nimmt und die Beziehung zum inneren logos unberücksichtigt lässt. Aus meiner Sicht steht die Absage Schapps an einen Ort des vorsprachlichen Denkens in der Betonung der Bedeutung des »stillen Sprechens« in einer gedanklichen Kontinuität, die im 20. Jahrhundert in der philosophischen Hermeneutik beachtet wurde. Es handelt sich hierbei um eine gedankliche Kontinuität, die das Verhältnis bzw. den Zusammenhang zwischen innerem und äußeren Sprechen als fruchtbare Spannung thematisiert und sich – wie betont – begrifflich auf die stoische Unterscheidung des inneren und äußeren logos stützt sowie im Universalitätsanspruch der philosophischen Hermeneutik Niederschlag findet. Im Folgenden möchte ich auf diesen Gedanken zurückgreifen, da sich an ihm eine Nähe zwischen der Geschichtenphilosophie Schapps und der Entwicklung der modernen philosophischen Hermeneutik zeigen lässt. Diese Nähe beruht nicht auf einer Rezeptionsgeschichte. Vielmehr scheint es so, dass unterschiedliche Denker auf verschiedenen Wegen auf ein Phänomen aufmerksam wurden, dass sie als unterbelichtet bzw. sogar falsch gedeutet auffassen mussten. Es handelt sich hierbei darum, dass die Aussage bzw. das laut Geäußerte auf einen Bereich zurück verweist, den es in seiner Bedeutung zu erfassen gilt. Die Aussage reicht nämlich immer über sich hinaus. Ihr Gehalt geht nicht einfach im gesprochenen Wort auf, wie die Untersuchungen und Sprachauffassungen der traditionellen Aussagelogik es nahe legen. Der Horizont der Aussage und dessen Fundierungsbereich meint jedoch nichts der Sprache völlig Jenseitiges. Es handelt sich hier nicht um ein inneres Denken, sondern um ein inneres Sprechen und das bedeutet, dass sich das menschliche Denken und Verstehen immer schon sprachlich vollzieht. Der Bedeutung dieses Aspektes hat vor allem Jean Grondin in seiner Interpretation der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers Aufmerksamkeit geschenkt. Nach Grondin lässt sich nur aus dieser Perspektive der Universalitätsanspruch der Hermeneutik verstehen, wie er in Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode intendiert wurde. Grondin bezieht sich hierbei auf die Augustinus Rezeption Gadamers, die im dritten Teil von Wahrheit und Methode im 152 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps
Kapitel: Sprache und Verbum zu finden ist. 26 Was ist mit der hermeneutischen Universalität gemeint? Grondin zitiert einen Ausspruch Gadamers, der die Antwort präzise auf den Punkt bringt: »Die Universalität‹ […] liegt in der inneren Sprache, darin, daß man nicht alles sagen kann. Man kann nicht alles ausdrücken, was in der Seele ist, den logos endiathetos. Das kommt mir von Augustin, vom ›De trinitate‹ her. Diese Erfahrung ist universal: der actus signatus deckt sich nie mit dem actus exercitus.« 27
Für Gadamer ist die Sprache das universale Medium, in dem sich Verstehen und darin der Weltbezug des Menschen vollzieht. Betrachtet man die Sprache jedoch nur in ihrer Form von Aussagen und deren Wahrheitsgehalt, dann verliert sich eine umgreifende Dimension des Sprachlichen. Auf diesen Bereich hat nach Gadamers – und auch Heideggers – Ansicht Augustinus aufmerksam gemacht, indem er die prädikative Aussage von ihrem Nachvollzug unterschied.28 Gadamer betont an der augustinischen Position, dass sie die einzige sei, die nicht in der griechischen Sprachvergessenheit aufging, was problematisiert werden könnte. Besonders die augustinische Lehre von »verbum interius« wird für Gadamers Sprachkonzeption wichtig, wie er sie in seinem berühmt gewordenen Satz: »Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache« 29 festhält. Nimmt man nämlich Augustinus Erörterungen zur christlichen Inkarnation, die im Prolog des Johannes Evangeliums vom Wort aus beschrieben wird, als Basis einer philosophischen bzw. ontologischen ›Sprachlichkeitsauffassung‹, dann wird deutlich, dass die Materialität der Sprache und das gebildete Wort immer in Bezug zu einem inneren Sprechen stehen. Die Veräußerlichung eines Inneren in das Äußere bedeutet dann keinen Abfall; dies würde der christlichen Lehre widersprechen. So schreibt Gadamer: »Das größte Wunder der Sprache liegt nicht darin, daß das Wort Fleisch wird und im äußeren Sein heraustritt, sondern daß das, was so heraustritt und sich in der Äußerung äußert, immer schon Wort ist.« 30 Weiterhin ist am Inkarnationsgedanken zu verdeutlichen, dass das Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, GW 1, Tübingen 6 1990, S. 422–431. 27 Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, S. 9. 28 Ebd., S. 51. 29 Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 478. 30 Ebd., S. 424. 26
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innere und das äußere Wort sprachlich zu denken sind. Augustinus spricht vom ›verbum interius‹ bzw. ›verbum in corde‹ 31 . Für Gadamer liegt hierin ein deutliches Zeichen, dass der innere logos nicht mehr stoisch als reines Denken begriffen wird, sondern als sprachliches Phänomen. 32 Das äußere Wort verweist immer auf dieses innere Wort, dem es geformt entspringt. Damit ist gemeint, dass die konkreten Aussagen nie all das fassen, was zur Aussage bereit liegt. Dies steht bei Gadamer in Zusammenhang mit seiner Auffassung des Menschen, der für ihn durch seine Faktizität ein endliches, jedoch sprachliches und verstehendes Wesen ist. Dem Menschen kommt keine Vollkommenheit des Denkens zu, was Göttern entspräche. 33 Er ist ständig auf der Suche nach dieser Vollkommenheit, seinem Wesen nach vorgreifend auf Sinn ausgerichtet. Im inneren Wort liegt jedoch ein Fundus bereit, der universal ist und der den Menschen trotz seiner Endlichkeit an einem Unendlichen, nämlich des ›Zu-Sagenden‹, teilhaben lässt. So heißt es bei Grondin: »Aber dieses hinter der äußeren Sprache zu Hörende bleibt ein zu Sagendes, ein nach Sprache Ringendes. Es ist dieses innere Wort, das man hinter den äußeren Worten zu verstehen trachtet, aber sein Nachvollzug bleibt auf Sprache angewiesen, die nur unvollkommen und stammelnd sein kann. Dieses Stammeln liegt aber nicht an der Sprache als solcher […], sondern an unserer Endlichkeit, die auch die unseres Denkens ist. Augustin erlaubt es also zu sehen, inwiefern die Universalität des Mediums der Sprachlichkeit mit den Grenzen der (jeweils verwendeten) Sprache Hand in Hand geht.« 34
Dieser Grundgedanke ist mit dem hermeneutischen Universalitätsanspruch gemeint. Das Denken und das Verstehen vollziehen sich zum einen sprachlich; zum anderen eröffnet die Lehre vom inneren Wort eine Möglichkeit die Sprachlichkeit des Menschen ontologisch Vgl. hierzu Augustinus, Aurelius, De trinitate (Bücher VIII-XI, XIV-XV, Anhang: Buch V), lat.-dt., hrsg. v. Kreuzer, Johann, Hamburg 2001; insbes. Buch XV. 32 Vgl.: »Wir müssen vielmehr die Sache befragen, was dieses ›innere Wort‹ sein soll. Es kann nicht einfach der griechische Logos, das Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt, sein. Vielmehr ist die bloße Tatsache, daß ›logos‹ sowohl durch ›ratio‹ als auch durch ›verbum‹ wiedergegeben werden kann, ein Hinweis darauf, daß sich die Phänomenen [sic] der Sprache in der scholastischen Verarbeitung der griechischen Metaphysik stärker zur Geltung bringen wird, als bei den Griechen selbst der Fall war.« Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 425 f. 33 Ebd., S. 490. 34 Grondin, Jean, Einführung zu Gadamer, Tübingen 2000, S. 215. 31
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Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps
aufzufassen und damit nachvollziehen zu können, wie ›Sein verstanden werden kann‹, nämlich anhand der sprachlichen Manifestation, die sich in und durch die Sprache als verstehbar erweist. 35 Es handelt sich dabei nicht darum, alles zu verstehen, aber was für den Menschen zu verstehen ist, das ist es durch die Sprache. Nur der hermeneutische Blick ermöglicht es, diesen Aspekt zu erfassen, in dem die Bedeutung des inneren Sprechens für die Aussage und über die Aussage hinaus Beachtung findet. So heißt es treffend bei Gadamer: »Was ausgesagt ist, ist nicht alles. Das Ungesagte erst macht das Gesagte zum Wort, das uns erreichen kann.« 36 Gadamers Rückgriff auf die augustinische Lehre zeichnet sich insgesamt dadurch aus, dass er sich gegen eine in der philosophischen Tradition vorherrschende Verengung der Sprache auf die Aussage, auf den logos apophantikos richtet. Auch die Geschichtenphilosophie vertritt diesen Ansatz. Die geäußerten Worte verweisen immer wieder auf einen anderen Bereich, auf den Bereich des leisen Sprechens. Das leise Sprechen vollzieht sich nicht einfach etwas früher als das laute Sprechen, denn selbst das laute Sprechen ist immer in Begleitung des leisen Sprechens. Das Verhältnis kann in diesem Sinne nicht chronologisch gedacht werden. Das leise Sprechen ist im ständigen Geschehen, weshalb auch die Reflexion auf es im Versuch der Feststellung nur eine sich ständig selbst überholende sein kann. Schapp schreibt hierzu in Bezug auf das ständige Summen des leisen Sprechens im Kopf (beim Versuch sich von etwas abzulenken): »Es summt dabei fortwährend – nach altem Sprachgebrauch würden wir sagen – in schwer bestimmbarer ›Bewußtseinslage‹. Wir können jederzeit eine eigenartige Wendung machen und fragen: Was ist der letzte Satz, den ich soeben still gesprochen habe? Dann können wir den letzten Satz erhaschen. Wir können ihn ›wieder holen‹. Dabei ist er aber nicht mehr derselbe Satz oder er ist es und ist es auch nicht.« 37
Auch für Schapp bildet das leise Sprechen einen universalen Fundus an ›Zu-Sagendem‹, wie es für Gadamer im ›verbum cordis‹ verortet ist. Das Geäußerte weist auf ein Innerliches zurück, steht in ständigem Zusammenhang mit ihm. Dieser Zusammenhang und damit das in Vgl. hierzu den dritten Teil von Gadamer, Wahrheit und Methode. Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen – Register, GW 2, Tübingen 1986, S. 504. 37 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 273. 35 36
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Nicole Thiemer
den ›Blick-Geraten‹ eines universalen Bereichs kann jedoch nicht in einer Reflexion, die sich nur auf die geäußerten Worte bezieht, erfasst werden, denn sie verfehlt den Verweisungcharakter zwischen leisem, lauten Sprechen und dem Verstricksein. Für Schapp vollzieht sich im leisen Sprechen ständig das Beschäftigtsein mit und in Geschichten. Erzählte Geschichten vermögen bspw. nur einen Bruchteil dieses Geschehens in Worte zu fassen; jedoch ist festzuhalten, dass dieses Erzählen auch immer auf den Zusammenhang von Verstricktsein und Sprechen, den es für Schapp ins Bewusstsein zu rücken gilt, verweist. Denn wie »zwischen erlebten und erzählten Geschichten« kein definitiver Unterschied gemacht werden kann, da – wie Schapp betont – »auch die erzählten Geschichten miterlebt sind und in untrennbarem Zusammenhang mit den erlebten Geschichten stehen« 38 , so kann auch Geäußertes, leises Sprechen und Verstricktsein nur in einem untrennbaren Verhältnis bzw. als ein solches gefasst werden. Denn das Sprechen kommt »ohne In-Geschichten-Verstricktsein nicht« 39 vor. »Geschichtenerleben und stilles Sprechen« müssen in der Geschichtenphilosophie als Zusammenhang begriffen werden; da sie nämlich immer schon aufeinander bezogen sind. So heißt es: »Wenn Geschichtenerleben und stilles Sprechen seit Ewigkeiten eins gewesen sind, so werden wir nicht den Versuch machen, beides zu trennen in der Hoffnung, daß wir dann über den Zusammenhang zwischen beiden etwas sagen könnten.« 40
Schapp hält in diesem Sinne an einer Zusammengehörigkeit fest, die es zu bedenken gilt. Der Zusammenhang muss bewusst gemacht sowie – um ihn fassen zu können – auch vertieft werden, um so nicht ›Untrennbares‹ in einer ›isolierenden‹ Analyse zu verfehlen. Schapp bezeichnet diese Art der Zugangsweise in der Schrift In Geschichten verstrickt auch als eine »Versenkung« 41 . Dort kommt er auf das Ebd., S. 283. Ebd., S. 282. 40 Ebd., S. 282 f. 41 Vgl.: »Anscheinend können wir nur über unsere eigenen Geschichten, über die Art und Weise, wie wir sie bestehen, wie wir in ihnen verstrickt sind, wie die Verstrickungen zustande kommen, sich lockern oder unentwirrbar werden, zu uns selbst kommen. Es handelt sich dabei nicht um eine künstliche Selbstbetrachtung oder um das, was die Psychologen unter Selbstbetrachtung verstehen mögen, sondern um eine ›Versenkung‹ in die eigenen Geschichten in der Weise, daß auf diese Geschichten sich neue aufbauen.« Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 126. 38 39
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Das »stille Sprechen« in der Geschichtenphilosophie Wilhelm Schapps
›Versenken‹ zu sprechen, um zu verdeutlichen, wie zu dem ›Selbst‹ des Verstrickten als eines immer schon in Geschichten Verstrickten gelangt werden kann. Diese Zugangsweise lässt sich als eine Vertiefung in die Zusammenhänge deuten, die das Verstricktsein in Geschichten und damit auch das Verhältnis zwischen Verstricktsein und Sprechen bewusst werden lassen kann. Es taucht so ein universaler Bereich eines Zusammenhangs von Verstrickungen, Geschichten und Sprechen auf, den es nicht letztlich zu erklären oder zu ergründen, sondern in den es sich zu versenken gilt, was nie zu einem absoluten Ende gelangen kann. Schapp und Gadamer stimmen darin überein, dass der Ausgang vom geäußerten Wort nur eine verkürzte Dimension der Sprache und ihrer Verhältnismäßigkeit erschließen kann und sich auf diese Weise dem Verhältnis von Sprechen, Sprache und Denken nicht genähert werden kann. Die geäußerten Worte sind getragen von einem sich nicht verbrauchenden universalen inneren Bereich. Schapp kam zu dieser Einsicht, indem er darauf aufmerksam wurde, dass jede Reflexion auf die Sprache und auf die Geschichten immer schon getragen und begleitet ist von einem leisen Sprechen, was auch als inneres Sprechen bezeichnet werden kann. ›In-Geschichten-Verstricktsein‹, inneres Sprechen und Verstehen müssen als Einheit, als das ›Ganze, was vorliegt‹, in dem sich der Mensch immer schon bewegt, aufgefasst werden. Auch die Hermeneutik Gadamers bemüht sich um einen solchen einheitlichen Zugang zu dem Vorliegenden, in dem die Horizonte, in denen der Mensch sich zeitlich bewegt, bei der Verhältnisbestimmung von Mensch, Sein, Sprache und Verstehen berücksichtigt werden. In Gadamers Ansatz wird die Brüchigkeit des menschlichen Wesens als ein zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ausgerichtetes Wesen stärker in den Vordergrund gerückt als in der Geschichtenphilosophie. Strukturell gesehen liegen jedoch übereinstimmende Einheits- bzw. Zusammengehörigkeitsvorstellungen vor, die auf der Einsicht in die Bedeutung des inneren Sprechens und so dem hermeneutischen Universalitätsanspruch beruhen. Betrachtet man die Geschichtenphilosophie Schapps, so wird an keiner Stelle namentlich auf einen Hermeneutiker hingewiesen, was allgemein Schapps Vorgehensweise entspricht. In der Schrift Erinnerungen an Husserl wird zwar auf Dilthey verwiesen 42 , jedoch keine Äußerung zur philosophischen Position oder zu Einflüssen von dieser 42
Schapp, EE, S. 7.
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gemacht. Schapp selbst soll an dieser Stelle auch nicht von seinem Selbstverständnis her als Hermeneutiker ausgewiesen werden. Hingewiesen werden sollte jedoch auf Anknüpfungspunkte und Übereinstimmungen in der Intention von Geschichtenphilosophie und philosophischer Hermeneutik bzw. sogar hermeneutischer Philosophie 43, der es nicht nur um Textverständnis und Interpretationsmethoden, sondern prinzipiell um die Zusammenhänge von Mensch, Sprache und Verstehen geht. Der geschichtenphilosophische Umgang mit den Phänomenen, die es zu beschreiben und zu erfassen gilt, erweist sich nämlich einer solchen hermeneutischen Zugangsweise näher, als es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Sinnzusammenhänge werden verdeutlicht und nicht die ›objektivierende‹ Erkenntnis einer Sache in den Vordergrund gerückt, sondern die Deutung eines Zusammenhangs. Explizit schreibt Schapp in diesem Sinne: »Wir haben bei unseren Untersuchungen die Geschichte als Festung, auf die wir uns jederzeit wieder zurückziehen können, im Rücken die Geschichten, in die wir verstrickt sind, die wir selbst sind. Hier gibt es keine Erkenntnis, sondern nur Deutung.« 44
Die Geschichtenphilosophie ist sich der Zugehörigkeit des Menschen zu seiner und in seine Tradition, in die Geschichten, in die er verstrickt ist, bewusst und nimmt diese zum Ausgangs- und Zielpunkt des Untersuchens, wobei die Welt und deren Dinge in ihren Bezügen zur Geschichte auftauchen. Das Darinstehen, in einer Wendung Heideggers: das »In-Sein«, wird für eine philosophische Untersuchung in Geltung gesetzt. Die Beachtung dieser Geltung, die bei vielen der frühen Phänomenologen zu sehen ist, wirkt sich als ein Wendepunkt in der Hermeneutik aus und beeinflusst die Entwicklung der philosophischen Hermeneutik im 20. Jahrhundert. Zwar sind die Zielrichtungen und Untersuchungswege von Gadamer und Schapp wie die der anderen frühen Phänomenologen äußerst unterschiedlich. Es ist jedoch interessant, dass – wie auch an Schapps Position sichtbar – der Universalitätsanspruch der Hermeneutik leitend wird.
Zum Verhältnis philosophischer Hermeneutik und hermeneutischer Philosophie vgl. Pöggeler, Otto, Schritte zu einer hermeneutischen Philosophie, München 1994. 44 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 31. 43
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Im Netz des Lebens verstrickt Jenseits der Dinge und Sinnperspektiven der Naturwissenschaften Gian Maria Raimondi
»Jedes Geschöpf ist mit einem anderen verbunden und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten«. Hildegard von Bingen 1
Meinen Beitrag möchte ich mit diesem Satz einleiten. Hierbei handelt sich um ein bekanntes Zitat aus einem kosmologischen Werk eines der bedeutendsten Menschen dieses Landes und der ganzen Kultur des Mittelalters, der Äbtissin, Mystikerin und vor allem Naturwissenschaftlerin Hildegard von Bingen. Dem Thema »In-Geschichten-Verstricktsein« gänzlich entsprechend, wird uns dieses Zitat helfen, die Frage nach der Wissenschaft und insbesondere nach den Naturwissenschaften in Schapps Phänomenologie einzuführen. Wer eine systematisch aufgefächerte Darstellung oder gar Theorie zur Naturwissenschaftproblematik in Schapps philosophischem Werk zu finden hofft, wird enttäuscht werden. Schapp hat an keiner Stelle eine systematische Theorie zu diesem Punkt entworfen. Leitend ist für ihn der Gedanke, dass »sich die Vorstellung von der Welt im Laufe der Zeit ständig [ändert]« und somit der »Meinungsgegenstand Welt« von Homer bis Einstein in einer unaufhörlichen Entwicklung steht 2 . Ein wissenschaftliches Denken in Systembegriffen nach stark geregelten Schemata bleibt in dieser Entwicklung zumeist unangetastet und unreflektiert bis zu dem Zeitpunkt, an dem konkrete Anomalien auftreten, welche die jeweils konsolidierten wissenschaftlichen Erkenntnisse und deren herrschende Paradigmata durch neue Visionen und Forschungsergeb-
Hildegard von Bingen, Welt und Mensch / De operatione Dei, aus dem Genter Kodex übersetzt v. Schipperges, Heinrich, Salzburg 1965, S. 53: »creatura per creaturam continetur«. 2 Schapp, MN (3. Aufl.), S. 127. 1
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Gian Maria Raimondi
nisse relativieren, um sie vollständig in etwas anderes zu verwandeln 3 . Übereinstimmend mit Thomas S. Kuhns wissenschaftshistorischen Darstellungen zeigt uns Schapps Philosophie über die Naturwissenschaften, dass der Wechsel von Leitbildern keineswegs als rational kontinuierliches, eindimensional begründungsorientiertes Verfahren systematischen Erkenntnisfortschritts verläuft, sondern eher als eine ›verwobene‹ Implikation unzähliger, immer neu auftauchender Geschichten, die den Charakter eines sich ergänzenden, unwiederholbaren Verstricktseins unterschiedlicher Welten annimmt. Unter diesem Gesichtspunkt besser als jede abgeschlossene Theorie und jenseits vorgegebener Schemata ermöglicht uns Wilhelm Schapps narrative Phänomenologie bezüglich des Bereiches der Naturwissenschaften, die Grundsteine einer wissenschaftlichen Beobachtung bzw. einer wissenschaftlichen Erfahrung freizulegen, welche zur Erschaffung einer allgemeinen Weltanschauung taugt, die an einer holistischen Auffassung 4 von wissenschaftlicher Forschung ausgerichtet ist.
1. Aus Schapps Perspektive kann sich unser Verhältnis zu Phänomen nicht darauf beschränken, eine einseitige objektivierende Beziehung auf den beobachteten Gegenstand aufzubauen 5 . Ausgangspunkt ist Schapps grundlegende These, dass sich das methodische Verfahren der Phänomenologie nicht die Aufgabe stellt, die Gegenständlichkeit des Phänomens zu erklären, sondern die Phänomenalität des Phänomens innerhalb seines Sinnhorizontes, der aus einem inneren Zusammenhang zwischen seiner Geschichte und seiner Außenwelt entsteht, auftauchen zu lassen. Mit besonderer Hinsicht auf die Nahtstelle dieses Zusammenhanges, der die vielseitig erscheinende Gegebenheit des Gegenstandes mannigfaltig gestaltet, wird das von Menschen geschaffene, zu einem bestimmten Zweck geplante Ding hier als »Wozuding« beschrieben 6 . Vgl. Kuhn, Thomas S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M. 1967. 4 Rentsch, Thomas, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 1985, S. 3. 5 Schapp, MN (3. Aufl.), S. 4–6. 6 Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 13–18. 3
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Im Netz des Lebens verstrickt
Anders als der objektivierbare Gegenstand im Spektrum der traditionellen Naturwissenschaft zeigt uns der Begriff des Wozudinges, dass man weder eine apodiktische Einsicht des Objekts als solche noch eine einzelne Perspektive von ihm als abgegrenztem Forschungssachverhalt darstellen kann, sondern dass seine eigene Geschichte durch einen vielschichtigen aus vielen Geschichten zusammengesetzten Zusammenhang von Theorien, neuen theoretischen Gesichtspunkten und sogar von wissenschaftlichen Umwälzungen für uns entsteht. Jenseits seiner Erscheinung als rein objektiviertem Gegenstand erschließt uns das Wozuding die Möglichkeit, seine Wirklichkeit als Objekt der Wissenschaft durch jene unterschiedlichen Sinnbrücken zu rekonstruieren, die seine Geschichte verständlich und glaubwürdig für die Welt jedes Menschen machen. Um dieser Rekonstruktion stufenweise zu folgen, können wir uns an ein wichtiges Beispiel von Schapp halten, nämlich das des Tisches: »Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Tisch wenden«, sagt Schapp, merken wir erstens, dass »der makroskopische Tisch unserem starren Wozuding entspricht«. Allerdings »kann man versuchen diesem starren Wozuding über sägen, bohren, hämmern und alle anderen Arten handwerklicher Betätigung näher zu kommen. Man kann dann weiter versuchen, die Beziehung des menschlichen Körpers zu diesem starren Wozuding aufzuklären […]. Man kann sich auch Gedanken darüber machen, weswegen Ludwig«, also der Beobachter, »von einem Wozuding, dem Tisch ausgeht, weswegen geht er nicht von einem Felsblock aus? Das hat seine Gründe, wahrscheinlich müßte er doch erst aus dem Felsblock eine Art oder Abart von Wozuding machen nach Art des Tisches, um das zeigen zu können, was er braucht, die Ganzheit« 7 .
Ferner kann man sich nach dem Verhältnis von Tisch zu dem wirren Haufen von Atomkernen und Elektronen fragen, »ob nicht doch eine Einheit zwischen beiden Ebenen besteht oder ein sonstiger Zusammenhang und wie dieser Zusammenhang ist« 8 . Verbunden mit den verschiedenen Aspekten des Wozudinges gibt es genauso viele Horizonte, die gleichzeitig mit den betrachteten Seiten des Wozudinges emporsteigen. Von Horizont zu Horizont wird man von dem starren Wozuding zu dem Haufen von Atomkernen geführt. »Wenn es diese Horizonte 7 8
Schapp, MN (3. Aufl.), S. 11. Ebd., S. 12.
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nicht gäbe«, argumentiert Schapp, »würde es keine Naturwissenschaft geben. Mit Hilfe dieser Horizonte führt der Lehrer den Schüler in die Naturwissenschaft ein« 9 . So wird langsam eine Brücke aufgebaut, in Bezug auf die weder der Pylon an dem einem Ufer noch der Pylon an dem anderen wirklich von Belang sind, sondern der Brückensteg, d. h. der gesamte Mittelweg, der das Ganze umfasst. Mit Nachdruck erklärt Schapp, dass in Bezug auf den Aufbau der Kenntnis nicht die beiden Pole von Bedeutung sind, sondern das Verhältnis selbst, das sich zwischen den beiden Polen entwickelt. Er schreibt: »zuletzt steht also im Horizont des Haufens von Atomen der Tisch / wie im Horizont des Tisches der Haufen von Atomen steht. Eine ähnliche Betrachtung führt vom Wozuding zu den Elementen, zu der Ordnung der Elemente, ferner in die Gebiete der Mathematik und schließlich auch in die modernsten und entlegensten Gebiete der Physik, in die Frage nach den Wellen und ihrem Zusammenhang mit den Farben und dem Licht und der Wärme und den anderen Strahlen, schließlich«, fügt Schapp hinzu, »zu den Lehren von Raum und Zeit.« 10
Innerhalb dieses Vorgehens spielt der werdende Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Ebenen die Hauptrolle: »Solange man sich diesen Zusammenhang nicht klar gemacht hat«, behauptet Schapp, »ist keine Sicherheit gegeben« 11 . Neben der Bedeutung der Rolle des Wozudinges können wir an Schapps Vorgehen auch sehen, wie sich seine Beobachtung des Phänomens sorgfältig vom Auftauchen seiner Dimensionen und Seiten leiten lässt, ohne sich nach den starren Regeln eines erkenntnistheoretischen Systemgebäudes zu richten. Die Suche nach der Einheit des Phänomens besteht darin, getrennte Einzelmomente einer Ganzheit zu schildern, um danach einen möglichen Konjunktionspunkt zwischen ihnen ans Licht zu bringen; also keine mechanische Zerlegungen auszuführen 12 , womit die phänomenischen Aspekte des Phänomens, also seine Phänomenalität, den eindringenden Versuchen der experimentierfreudigen Wissenschaft nicht unterworfen werden. Auf dem Labortisch der nach Galileo und Newton benannten experimentellen Methode unseEbd. Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 75. 9
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Im Netz des Lebens verstrickt
rer traditionellen Wissenschaft würden viele Aspekte und Momente dieses Auftauchens für flüchtig und ungenau gehalten, und dementsprechend nicht in Anspruch genommen. Durch die galileische und cartesianische Methode entsteht jedoch folgendes paradoxale Dilemma: Erkenntnistheoretisches Ziel des Experimentators im Labor ist es, über die Geltungskraft von aufgestellten theoretischen Vermutungen Auskunft zu geben, indem sie durch die Beobachtung der Natur entweder für richtig erklärt oder entkräftet werden. Ein solches Vorgehen soll frei von wissenschaftlichen Vorurteilen sein, doch jede zu prüfende Hypothese wird von vorherigen Beobachtungen und deren hervorgehenden Ordnungsschemata beeinflusst. In diesem Sinne birgt eine exzessive Überbewertung der menschlichen »Ratio« das Risiko, dass der Wissenschaftler dazu verleitet wird, sich alle Fragen der Natur ohne entsprechende Untersuchung des natürlichen Feldes auszudenken. Wenn sich der tagelang im Labor stehende Experimentator nicht den unvorhersehbaren, reichhaltigen Problemen der Natur ausreichend widmet, besteht die Gefahr, dass er allzu leicht etwas Belangloses als Forschungsergebnis ans Licht bringen kann. Die methodische Analyse jeder Seite seines eigenen Forschungsobjekts nach vorhergehenden Ordnungsschemata ist natürlich allen Naturwissenschaftlern gemeinsam: Bei vielen Untersuchungen geht es allerdings um ein Vorgehen, das nicht die unabsehbaren Fragen der wahren, lebendigen Naturwelt berücksichtigt, sondern mit allzu abstrakten Modellen einer fiktiven Natur arbeitet – ein Fehler, den es ins Bewusstsein zu rücken gilt. Naturwissenschaftler sollten sich von unerwarteten Problemen bzw. Aspekten ihrer Naturbeobachtungen herausfordern lassen, die auf völlig neue Fragen hinweisen: es liegen nämlich jeweils Verstrickungen vor, die es zu beachten gilt. Möglicherweise nehmen viele Naturforscher die deskriptiven Methoden der Phänomenologie nicht auf, weil im Allgemeinen gerade die reine, umgreifende Wahrnehmung als umfassendes Umfeld und ursprüngliche Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis stark bezweifelt wird: Eine Tendenz, die fast zur »Religion« geworden ist und die der Wahrheit der wissenschaftlichen Forschung nicht entspricht 13 . Darüber hinaus ist festzuhalten, dass sich Schapps Ansicht nach die meisten wichtigen Wissenschaftler, die Bedeutendes in ihrem Fach geleistet ha-
13
Schapp, B (4. Aufl.), S. 125–128.
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ben, anfangs oft von der gesamten, »verstrickenden« Faszination ihres Forschungsobjektes und des dazugehörigen dargestellten Milieus zu Untersuchungen haben führen lassen 14 . Wäre dies nicht so, würden zahlreiche und sonst schwer feststellbare Seiten der unterschiedlichen Dimensionen des Phänomens den fest bedingten, konditionierenden Maßstäben eines traditionell wissenschaftlichen Systems entgehen und somit wegfallen. Viele Übergänge und ihre Mitverstrickung 15 würden fehlen. Daraus lässt sich schließen, dass es nicht möglich wäre, wieder zur Einheit des Phänomens zu gelangen.
2. Eine weitere Überlegung, die man anschließen kann, ist, dass Ausgangspunkt jeder Beobachtung immer die Einheit des Phänomens ist, welches stets schon in einen Welthorizont eingebettet ist, womit nicht Husserls, über die Reduktion vermeintlich gewonnene, evidente Selbstgegebenheit im reinen Jetztpunkt, der sich in einer Urimpression konstituiert, gemeint ist. Ein Phänomen muss sich konstant in seinem Horizont und zusammen mit seinem Horizont entfalten, der sich auf die grenzenlose Vielfalt zeitlicher Manifestationen und Aspekte in der Geschichte des Phänomens bezieht. Isolierte Daten eines Gebildes lassen sich erst in einer horizontalen Zeitspanne anordnen und damit verstehen, wenn sie sich konkret in einer Geschichte als Handlungselemente erfassen lassen. Deshalb kann Schapp Husserls reinen Jetztpunkt nicht akzeptieren und schließt diesen Begriff aus. Anstelle der Urimpression und dem abstrakten Begriff des Jetztpunktes spricht Schapp von einem wirklichen Inbegriff der »Jetztzeit«, bzw. einem »Verstrickt-sein-in-aktuelle-Geschichten« 16 . Auf diese Weise beinhaltet Schapps narrative Phänomenologie eine Annahme, auf deren Grundlage eine beschreibende Methodologie zu begründen möglich ist, die einen neuartigen Zugang zur Wissenschaft bereitstellt und fähig wäre, die Einheit des auftauchenden Phänomens umfangreich zu erfassen und so den objektivisti-
14 15 16
Schapp, MN (3. Aufl.), S. 125. Schapp, IGV (4. Aufl.), S. 136–137. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 298.
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schen Reduktionismus der modernen Wissenschaft überwinden könnte. Das Hauptargument für eine solche beschreibende Methodologie der Naturwissenschaft liefert der zentrale phänomenologische Gedanke, dass das Objekt der Erkenntnis nicht das Ergebnis einer Konvergenz vielfältiger Kausalitäten ist, die seinen Inhalt determinieren, sondern aus der a-kausalen Korrelation zwischen Bewusstsein und Welt erwächst. Deswegen ist es sinnlos, eine systematische Metasprache aufzubauen, um dieses Auftauchen zu erfassen, sondern viel wichtiger ist, dass sich die Sprache und die Werkzeuge zur Untersuchung vom Phänomen leiten lassen, ohne sich von irgendeiner Perspektive beinflussen zu lassen. Alles, was das Ich von der durch Wissenschaft vermittelten Welt kennt, ist solches, das es ursprünglich aufgrund von lebensweltlicher Erfahrung im Kontext von einer Zweckbezogenheit der Handlungen erfasst. Ohne vorhergehende Welterfahrung hätten alle Symbole der Wissenschaft keine Bedeutung, denn das System der Wissenschaft gründet für Schapp auf der Erlebniswelt des erfahrenden Subjekts, das das Vorkommen in Geschichten erlebt. Aus erlebten Geschichten werden Systeme gebildet. Es ist wichtig, mit dem Wechsel von Lebenswelterfahrungen auch nach einem Wechsel der Erkenntnis- und Wissensperspektiven zu fragen. Denn es ist nicht »festgeschrieben«, worum man sich wissenschaftlich bemüht. Gemäß der cartesianischen und postcartesianischen Weltanschauung sollte es in der modernen Wissenschaft den »Kosmos à la Mittelalter« nicht geben, in dem alles »feststeht«. Die Überspezialisierung der analytischen Wissenschaften hat das uns umgebende Gewebe unserer Kenntnis überlastet und parallel dazu unser Wissen unsicher gemacht. Wir wissen viel, aber wir können viel zu wenig, denn unsere Welt und deren Natur ist uns entfremdet worden: Unsere unumstößliche Welt der Genauigkeit ist zum Universum des Ungefährs geworden. Umso entscheidender ist es heute, dass die lebensweltlich bedeutsamen Inhalte, welche bspw. die Kinder in unsere Schulen mitbringen, die Studierende an den Hochschulen und später die Forscher im Labor interessieren, dass wir diese »Dinge« wieder inhaltlich und von der Sache her angehen und thematisieren: wissenschaftlich und didaktisch, insofern kritisch und ergebnisoffen reflektieren, ohne im kantschen Sinne analytisch-kategorische Vorurteile zu haben. Lebenswelterfahrungen aus der Alltagssituation sind Grundlage für neue Fragestellungen in fachwissenschaftlichen Forschungs165 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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kontexten. Das bedeutet für den Forscher, dass er sich auf unsichere Pfade begeben sollte, woran uns Schapp beständig erinnert 17 . Die ordnende Funktion von fachlichen Gesetzmäßigkeiten muss im Hinblick auf menschenwürdige Ordnungsbedürfnisse und Weltbildwünsche durch zusätzliche oder andere Ordnungs- oder Wertungskriterien als »nur wissenschaftliche« ergänzt werden. In diesem Zusammenhang zeigt uns Schapp, dass neben einer ›Apparate-Pädagogik‹ auch eine Theorie des ›gekonnten Umgangs‹ notwendig ist, wenn die theoretischen Lehrsätze der Naturwissenschaft nicht dogmatisch, sondern lebensdienlich sein wollen. Bildungsvorgänge, die wir in unserer Gesellschaft anstreben, die Forscher verantworten wollen als Wissenschaftspriester von Atlantis statt als Pädagogen, haben immer das Anliegen, der Selbstentfremdung des Menschen entgegenzutreten und menschengerechte Lebensordnungen mitzubegründen. Dort, wo der Mensch ernstgenommen wird in all seinen Möglichkeiten und Fähigkeiten, können technologische Strategien nicht alleinige Ordnungsstrukturen sein. Unter diesem Gesichtspunkt spricht Schapp von parallelen Weltzusammenhängen, d. h. von zwei unterschiedlichen, aber spezifischmenschlichen Erkenntnisweisen: der apriorischen, an Kants Vorstellungen orientierten, und der leiblichen, an uns, an dem Menschen als Ausgangspunkt orientierten Erkenntnisweise 18 . In der Welt für uns hat jede Sache ihre eigene Stimme. Das Abhören und das Betrachten jeder Sache in ihrer Stimme kann zunächst unmerkliche Details und kaum wahrnehmbare Situationen aus der Tiefe unserer Gegenwart hervorrufen. Diese Stimmen der Sachen bestimmen die Richtung unseres Weges im Leben vor allen Argumenten unserer reinen Vernunft und jenseits vorgefasster Vorurteile, die bei Kant und Newton, aber auf andere Art und Weise auch bei Homer, vorzufinden sind 19 . Genau diese Stimmen des – sozusagen – seelischen Zustandes der Sachen, die also unserer Stimmung entsprechen, bilden das einzige, wahre Apriori, das es gibt: Das Apriori unseres Bewusstseins, das nur in der ursprünglichen Zeit vor unseren beruhigenden klaren Begriffen Schapp, MN (3. Aufl.), S. 110 f.: »Es ist mit unserem heutigen Wortschatz wahrscheinlich nicht möglich, dies jederzeitige Aufgetauchtsein von Welt in aller Frische […] zu beschreiben«. 18 Ebd., S. 127 ff. 19 Ebd.: »In gewissen Sinne mag der Sternenhimmel Homers und der Sternenhimmel Kants derselbe Himmel sein, doch beginnt dann sofort im Horizont die Abweichung«. 17
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auftaucht. In der messbaren zeitlichen Reihenfolge von epiphänomenalen Ereignissen gibt es also eine ganze Welt zu erfassen. Unsere Sprache des Alltags entzieht sich nicht der Aufgabe, die uns das Leben stellt: Wenn wir nämlich annehmen, dass tò phainòmenon die urplötzliche Offenbarung einiger Seiten der wahren Natur der Sachen ist, dann ist es überhaupt nicht wichtig, dass sich die Sprache an ein analytisches Kriterium hält, um jede Seite des phainòmenou nach bestimmten Kategorien akribisch auszumessen. Diese leibliche, sinnlichganzheitliche Welterfahrung fordert den ganzen Menschen und sie bildet auch den ganzen Menschen. Ihr steht die methodisch strenge Konzentration auf die berechenbaren und technisch ineinander verstrickten Relations- und Funktionsgefüge gegenüber, die »hinter« und »vor« der sinnlichen Erscheinungswelt – auf jeden Fall stets in die Geschichte ihres Auftauchens verstrickt – erkennbar sind. Nach Schapp haben beide Sichtweisen ihre spezifische Berechtigung und Bedeutung; er versteht sie als komplementäre Auffassungen, die jeweils Anderes und Ungleichgewichtiges erschließen. Die Geltung und Bedeutung der beiden Erkenntnisweisen können auf philosophischer Ebene nur durch eine präzise, geduldige Narration »vermittelt« werden. Die Bemühungen um eine »Phänomenologie der Lebenswelt« haben also auch persönlich-psychoanthropologische Bestimmungsgrößen, individuelle Maßstäbe und Zielperspektiven in dieses alltagsrelevante Erkenntnisproblem der Wissenschaft der neueren Zeit eingebracht. Jede wissenschaftliche Beobachtung soll ihren Fokus also nicht nur auf die Erfahrung des vorhandenen Gegenstandes setzen, d. h. bpsw. auf Newtons mechanisch-physikalischen Sternenhimmel, sondern nach den Sinnzusammenhängen zwischen der überlieferten Geschichte und der von uns erlebten Erfahrung des zuhandenen Dinges, Homers und unseres göttlichen Sternehimmels, suchen. Darüber hinaus erinnert uns dieses phänomenologisch narrative Vorgehen deutlich daran, dass wissenschaftliche Theorien immer aus diversen originellen Intuitionen entstehen, die ihrerseits aus dem Zusammenhang zwischen ganz unterschiedlichen, anfangs voneinander abgeschlossenen Ideen aufkeimen. Statt einer einfachen Korrelation von Ideen entsteht etwas Neues, das nicht einfach die Summe seiner Teile ist und das ist die neue Theorie. Dies passiert, wenn der Forscher fähig ist, einen neuen, aus der vorherigen Korrelation auftauchenden Zusammenhang zu beschreiben, er also den narratologischen Aufbau dieser neuen Geschichte 167 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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rechtzeitig bemerkt. In prophetischer Übereinstimmung mit Schapps Auffassung von der wissenschaftlichen und metaphysischen Erkenntnis, die aus natürlichen Zusammenhängen auftaucht und im lebendigen Verstricktsein klar wird, schreibt schon Hildegard von Bingen: »Alle Elemente der Welt, mitsamt ihren Kräften in den Winden und den Gestirnen, werden das Firmament genannt. Es bildet den kosmischen Zusammenhalt, die Weltfeste. Dieses Weltgefüge ist im Feuer gefestigt, mit der Luft beweglich, mit den Wassern durchtränkt, von den Sternen erleuchtet und von den Winden gestützt. Jede dieser Weltsphären steht in einem inneren Verhältnis zu allen anderen und zum Ganzen. Mit allen Stoffen der Welt hat Gott den Menschen, gleichsam durchströmt; mit dem Geist der Vernunft hat Er ihn begabt, auf daß die ganze Welt dem Menschen zur Verfügung stehe, um mit ihm schöpferisch zu wirken. Gottes Plan mit dem Menschen (praescientia Dei) war, daß dieser, gewissermaßen als Kompendium aller Kreatur, Gott im kreativen Schaffen an der Welt (opus cum creatura) dienen sollte. Damit haben wir wie in einem Fadenkreuz die wesentlichen Elemente des Menschen im Kosmos erfaßt: seine kreatürliche Abhängigkeit (opus Dei), ein verbindliches Miteinander (opus alterum per alterum) wie auch seine Aufgabe in und an der Welt (opus cum creatura). Gehen wir diesen Verbindlichkeiten noch einmal in aller Kürze nach!« 20
Leider hat man lange warten müssen, um dieses wissenschaftlich ganzheitliche Verstehen und diese holistische Weisheit wiederzugewinnen. Im Falle der klassischen Mechanik (Galileo, Newton) dachte man, dass die damals ganz neu gefundenen Bewegungsgesetze universell wären, das heißt, dass sie sich in allen Fällen anwenden ließen. Und doch wurde die klassische Mechanik von der relativistischen überholt, was aber nicht heißen soll, dass die klassischen Gesetze ihren Wert verloren hätten. Immerhin benutzen wir sie weiterhin jeden Tag in unserem Alltagsleben. Lediglich das Anwendungsfeld der klassischen Mechanik hat die Relativität verringert, denn man weiß, dass die klassischen Gesetze nur dann anwendbar sind, wenn die im Spiel befindlichen Geschwindigkeiten der Geschwindigkeit des Lichts unterlegen sind. Oft scheinen die wissenschaftlichen Theorien gänzlich unabhängig voneinander zu sein, obwohl sie aus einer ursprünglichen Intuition und durch Wechselbeziehungen mehrerer Ideen heraus entstehen. Jedoch formt sich aus jenen Wechselbeziehungen der Ideen auch etwas, das mehr ist als die Summe der einzelnen Teile: die neue Theorie. Dies Bingen, Hildegard von, Der Kosmos, übersetzt v. Schipperges, Heinrich, München 2001, S. 41 ff.
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geschieht, wenn sich jemand als fähig erweist, Daten auf unübliche Art in Wechselbeziehung zueinander zu stellen und somit neue Visionen und innovative Ergebnisse hervorzubringen. Auf die gleiche Art formalisierte beispielsweise Maxwell die Gesetze des Elektromagnetismus, die zuvor von anderen Forschern, zum Beispiel Coulomb oder Pharaday theorisiert wurden. Die Gleichungen von Maxwell jedoch haben diese vorausgegangenen Forschungen nicht aufgehoben, sondern in neue »Geschichten« integriert, indem sie viel mehr die Bedeutung in einem allgemeinen Kontext erklären. Um zu verdeutlichen, dass jede Geschichte auf eine andere zurückführt und dass jede Figur in eine Geschichte verstrickt ist, die eine weitere impliziert, genügt es zu sagen, dass Maxwells Gleichungen die Ursprünge der Relativität bereits in sich enthielten 21 . Wenn wir beispielsweise eine schwere Infektion haben und der Arzt uns eine Kombination von zwei Antibiotika verschreibt, können wir den Rat des Arztes akzeptieren – schließlich ist er der Experte und wir die Laien – oder wir können verstehen, dass er einfach die Evolutionstheorie im praktischen Leben, als Verstrickter in unserer Geschichte, anwendet. Die Kombination der beiden (oder auch mehreren) Antibiotika hat das Ziel, die Bakterien zu zerstören, bevor diese sich so weit entwickeln können, dass sie resistent werden. Deshalb verwendet man heute lieber mehrere Antibiotika über einen kürzeren Zeitraum, als ein einziges Antibiotikum über eine längere Periode (wie es in der Vergangenheit – noch zu Schapps Zeiten – bevorzugt wurde. Wenn man will, war Schapps Phänomenologie unter diesem Gesichtspunkt somit sogar der Zeit voraus). Wer die Wissenschaft versteht, versteht, was um ihn herum passiert und ist in der Lage, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Wer wiederum die Wissenschaft nicht versteht, wundert sich über alles, was passiert und muss sich ständig den »Experten« anvertrauen, sich auf sie verlassen. Überraschenderweise besteht eine Besonderheit vieler erfolgreicher Theorien in der Naturwissenschaft darin, dass sie trotz der ›regionalen‹ Beschränkung ihres ursprünglichen Anwendungsfeldes zu neuen Zwecken und Funktionen auf ganz neuen Gebieten dienen, für die sie am Anfang nicht erdacht wurden. Ihr InGeschichten-Verstricktsein überschreitet ihre eigene Geschichte, die hierbei nicht verloren geht. Vgl. Mahon, Basil, The Man Who Changed Everything: The Life of James Clerk Maxwell, Chichester 2003.
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Gian Maria Raimondi
Das wohl berühmteste Beispiel betrifft die allgemeine Relativitätstheorie, die oft unangebracht zitiert und erwähnt wird: Alles ist relativ, sagt man normalerweise. Die allgemeine Relativitätstheorie zeichnet sich durch das allgemeine Relativitätsprinzip aus, das Einstein auch das Äquivalenzprinzip nannte. Es führt zu der mathematischen Form-Forderung für Naturgesetze, in allen möglichen Bezugssystemen die gleiche (tensorielle) Form zu haben (nach dem Kovarianzprinzip. Kovariant sind in der Physik Größen, die unter einer Gruppe von Transformationen – wie beispielsweise Lorentz-Transformationen oder Galilei-Transformationen – linear transformieren: die transformierten Größen, die daraus entstehen, sind Linearkombinationen der Ursprünglichen. Kurzum geht es um lineare Größen, deren Konstanz stets von bestimmten Faktoren abhängen). Diesbezüglich besteht die Relativität der Naturgesetze darin, dass sie der Bedingung des Kovarianzprinzips genügen muss. Damit aber wird in der allgemeinen Relativitätstheorie ein Absolutismus der Formprinzipien sichtbar, welches von dem ursprünglichen relativistischen Standpunkt freilich wieder kritisiert werden kann. Hier verstricken sich physikalische Konstanten in die Geschichte des Relativitätsprinzips und seinerseits das Relativitätsprinzip in die Geschichte der physikalischen Konstanten. Ein weiteres Beispiel betrifft die Evolutionstheorie, die heutzutage sowohl in der Informatik als auch in Wirtschaftssystemen eingesetzt wird. Diesbezüglich können wir an genetische Algorithmen denken, die sich an der biologischen Evolution orientieren, 22 um selbstverbessernde, einer zu perfektionierenden Informatikstruktur immer besser entsprechende Lösungsvorschläge zu generieren. Anders als in Poppers Falsifikationismus werden in den Naturwissenschaften bisher gängige Theorien nicht wegen neuerer Gedankengebäude aufgehoben, sondern durch die neuen ergänzt, erweitert und manchmal – wenn es sich um das gleiche Gebiet handelt – vervollständigt. Aktuelle Geschichten implizieren vorherige Geschichten, die nie ganz vergangen sind, und ihre Gegenwart ist schon in die nächste Geschichte verstrickt. Das Ganze bildet eine horizontale Temporalität, ein Zeitkontinuum bzw. einen immer deutlicheren Zeitraum, in dem das Anwendungsfeld der neu gewonnenen Theorie Platz findet. Ungern verrät die Natur ihre Geheimnisse: Jedesmal, wenn die Forscher etwas Neues entdecken, gehen wir davon aus, dass dies für 22
Vgl. Rechenberg, Ingo, Evolutionsstrategie ’94, Stuttgart 1994.
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Im Netz des Lebens verstrickt
immer so sein wird. Trotz seiner Relativitätstheorie dachte Einstein, dass das Universum statisch ist. Damit die Gleichungen dies auch beschreiben, führte er die kosmologische Konstante ein – ein Kunstgriff, um die Theorie mit der vermeintlichen Praxis in Übereinstimmung zu bringen. Als aber Edwin Hubble 1929 gerade dank Einsteins Beiträgen nachweisen konnte, dass sich das Universum ausdehnt, verwarf Einstein die kosmologische Konstante »als größte Eselei seines Lebens«. Ein verfrühtes und offenbar falsches Urteil des Genies, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Hätte Einstein akzeptiert, die Bruchstelle zwischen Expansion des Universums und alter newton-mechanischer Zustandsgleichung in eine Nahtstelle zwischen zwei Geschichten zu verwandeln, deren Elemente ineinander verstrickt sind, hätte er die phänomenologisch-narrativen Gewebe seiner Überlegungen bemerkt und diesen Fehler nie begangen. Was Einstein vergessen hat, besser gesagt: nicht machen wollte, war, dass er auf die eigene Geschichte seiner Intuition, in die er völlig verstrickt war, nicht vertrauen wollte. Letztendlich kann man sagen, dass keine Wissenschaft möglich ist, wenn nicht auf die Geschichten von Menschen geachtet wird; auf Bilder, Utopien, Anschauungen und Ideen, die alle ergreifen, die zu ihnen gehören. Wissenschaft ist auch dort nicht möglich, wo eine ihr entsprechende Geschichte aus dem Blick gerät, ob diese von Wissenschaftlern so bezeichnet wird oder nicht. Wie die oben erwähnten Beispiele zeigen, stammt die Identität der Wissenschaft aus Bildern einer ursprünglich stiftenden Geschichte und anderen Bildern, die ihr zugeordnet sind und sie umkreisen. Daher kann herausgestellt werden: Nur wo lebendige und gemeinsame Geschichten Menschen binden, bedeutet die Wissenschaft auch Wissen und Leben.
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Wilhelm Schapps unzeitgemße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums Grundzge und Gesprchsanlsse Karen Joisten
Wilhelm Schapps Buch Zur Metaphysik des Muttertums, das in den 30er Jahren entstanden ist und 1965 in Den Haag bei Martinus Nijhoff erschienen ist, 1 nimmt in seinem Werk thematisch, stilistisch und vom Charakter des Vorgehens her eine merkwürdige Sonderstellung ein. So ist es weder seinem frühen Werk verpflichtet, das in der Auseinandersetzung mit dem Denken Edmund Husserls steht und um eigene Antworten zu phänomenologischen Grundfragen ringt (wie z. B. die nach dem angemessenen Erfassen der Wahrnehmung in seiner Dissertation Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung), noch lässt es sich seinen rechtsphilosophischen Schriften zuordnen. Am ehesten kann man noch einen Bezug zu seiner sogenannten ›Geschichtentrilogie‹ herstellen, allerdings ist bei einer solchen Bezugnahme auch Vorsicht geboten. 2 Denn eindringlicher als in den drei Büchern seiner Geschichtenphilosophie legt Schapp im Buch über das Muttertum eine persönliche Stellungnahme vor. Ja, als Leserin hat man den Eindruck, es mit einem Bekenntnis zu tun zu haben, das sich durch Schapp hindurch Bahn bricht. Es verwundert daher nicht, im Klappentext vom Verfasser folgende Auskunft zu erhalten: »Das Buch über das Muttertum nimmt eine besondere Stellung ein. Man kann es nicht phänomenologisch nennen, es fällt auch nicht direkt unter die Philosophie der Geschichten. Es ist aus einer Stimmung heraus geschrieben, man kann vielleicht auch sagen, aus einer Urgewalt, die sich des Philosophen bemächtigt, und in deren Dienst sich der Philosoph bedingungslos stellt.« 3
Die Beschäftigung Schapps mit den Themenkomplexen des Mutter- und Vatertums, der Liebe und der Liebe Gottes erstreckt sich demnach über Jahrzehnte, wie nicht zuletzt der bisher unveröffentlichte Nachlass dokumentieren kann. 2 Vgl. etwa Schapps Ausführungen in IGV (3. Aufl.), S. 196 ff. 3 Schapp, MM, Vorwort, o. S. 1
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Wilhelm Schapps unzeitgemße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums
Diese Selbstauskunft Schapps ist keine Nebensache. Nimmt man sie ernst, wird durch sie der Text nämlich zu einer wörtlich zu verstehenden inspirierten Botschaft, bei dem der sogenannte Autor sich in einen Mittler verwandelt, durch den hindurch sich eine höhere Macht mit »Urgewalt« Ausdruck verleiht. Es geht dann nicht um die Aussagen eines Subjekts, sondern um eine gewaltige Botschaft, die sich voller Wucht Gehör verschaffen will und sich daher des Schreibenden bedient. In Entsprechung wandelt sich auch das Verständnis des Zuhörers / Lesers. Er ist nicht der kritisch-nüchterne Rezipient, der mehr oder weniger unbeteiligt eine objektive Angelegenheit aufnimmt und diese als Faktenwissen buchstäblich ›nach Hause tragen kann‹. Stattdessen hat er von sich abzusehen und die Haltung des Vernehmens, Ausrichtens und Hörens auf die höhere Botschaft einzunehmen, die diesem Buch Schapps zum Muttertum zugrunde liegt. Ein solches hermeneutisches Modell findet sich primär in theologischen und dichterischen Kontexten, in denen die dienende Funktion des Vermittlers angesichts der Dignität des Zu-Sagenden betont wird und zugleich der Appell an den Hörer ergeht, die dieser Botschaft gemäße behutsam-vernehmende Haltung einzunehmen. Die Chance eines derartigen Modells liegt darin, die Botschaft in der Weise aufzuwerten, dass ihr unbedingte Geltung zuzubilligen ist, ohne ihr vorschnell von Rezipientenseite ins Wort zu fallen. Das Problematische, das gewissermaßen die Kehrseite dieser einseitigen Betonung der Botschaft vor Augen führt, liegt bekanntlich in deren Immunisierung vor kritischen Einwänden. So ragt sie vermeintlich grundsätzlich über den Rezipienten hinaus und kann von seiner subjektiv-perspektivischen Kritik scheinbar überhaupt nicht tangiert werden. Vor dem Hintergrund meiner Kenntnisse des Lebens und Denkens Wilhelm Schapps halte ich dessen Selbstauskunft im Klappentext nicht für einen literarischen Topos. Im Gegenteil. Sie zeigt vielmehr die Wichtigkeit, die gerade dieses Buch über eine Metaphysik des Muttertums für Schapp persönlich gehabt haben muss. Denn er hat es nicht primär als Intellektueller, als Philosoph oder Denker geschrieben, sondern aus einer tiefen Betroffenheit heraus, die sich seiner bemächtigte und ihm buchstäblich die Hand beim Schreiben führte. Wozu diese einführenden Sätze? Wenn wir uns im Folgenden Schapp angemessen und das heißt, ihm entsprechend nähern wollen, haben wir den Status seines Redens angesichts dieser Selbstauskunft zu beachten. Es kann dann nicht darum gehen, ihm aus der heutigen 173 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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Sicht vorschnell ins Wort zu fallen, sondern es gilt zunächst die von ihm geforderte hörend-achtende Haltung angesichts einer »Urgewalt«, die in ihm wirksam ist, einzunehmen. Nur so können wir uns die Möglichkeit eröffnen, seine durch ihn hindurch mit Vehemenz zutage tretende Einsicht überhaupt erfassen zu können. Allerdings sollte man bei diesem Element der hermeneutischen Redlichkeit, die dem Text die Chance eines ihm entsprechenden Zugangs und Wirkens gewährt, nicht stehen bleiben. Denn zu einer hermeneutischen Redlichkeit gehört als weiteres Element die Redlichkeit des Rezipienten, die ein anderes Verstehen des Textes zulässt, indem dieser produktiv-schöpferisch anverwandelt wird. Der Rezipient versucht dann nicht nur eine kritische Inblicknahme des Verstandenen aus einer sicheren Distanz vorzunehmen, sondern – wie man in Anknüpfung an Paul Ricœurs Konzeption einer »reflexiven Hermeneutik« sagen kann – ein Selbstverständnis des Lesers angesichts des Textes zu evozieren, also »das Werk und seine Welt den Horizont des Verständnisses erweitern lassen, das ich von mir selbst gewinne.« 4 Um diese beiden Elemente einer hermeneutischen Redlichkeit gerecht zu werden, sollen zunächst Grundzüge und zentrale Gedanken des Textes dargelegt werden. Diese beziehen sich primär auf die Themenkomplexe: das Muttertum, das Vatertum und die Wesenheiten Mann und Frau. Im nächsten Schritt werden dann Gesprächsanlässe formuliert, die Schapps Text initiieren und die es ermöglichen, mit Schapp in ein kritisches Gespräch einzutreten. Sie bieten die Chance Schapp auf uns und die Herausforderungen unserer Zeit zu beziehen und mit ihm gemeinsam ein Stück weiter zu gehen.
1.
Grundzge der Metaphysik des Muttertums
Die Metaphysik des Muttertums besteht aus drei Büchern. Das erste Buch lautet: »Familie und Verwandtschaft«. Das zweite Buch: »Das Stromgebiet der Liebe, die Strömungen der Mutterliebe darin«. Das dritte Buch: »Die Zusammenhänge zwischen der Liebe Gottes und der Mutterliebe«. Achtet man auf den Umfang der drei Bücher, ist ein UngleichgeRicœur, Paul, Vom Text zur Person, in: ders., Hermeneutische Aufsätze (1970–1999), hrsg. v. Welsen, Peter, Hamburg 2005, S. 129.
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Wilhelm Schapps unzeitgemße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums
wicht festzustellen. Während nämlich das erste Buch über die Familie und die Verwandtschaft mit etwa 100 Seiten den größten Raum einnimmt, bestehen die beiden anderen Bücher über die Liebe und die Mutterliebe bzw. über die Liebe Gottes und die Mutterliebe jeweils aus ca. 30 Seiten. Wollte man aus dieser äußerlichen Seitenzahl unmittelbar auf die Wichtigkeit schließen, wäre das sicherlich verfehlt. Achtet man nämlich auf den Gedankengang, dringt man auf diesem immer weiter vor hin zu den verborgenen Tiefen der Liebe, die aus Schapps Sicht »für die begriffliche Erfassung für die Objektivierung so ungeeignet [ist], wie kaum ein anderer Gegenstand.« 5 So lotet Schapp zunächst die »Bedeutung der Gebilde Familie und Verwandtschaft für den Zusammenhalt und Aufbau des menschlichen Geschlechtes« aus, wobei er dem Muttertum und dem Vatertum besondere Aufmerksamkeit zollt. Vor diesem Hintergrund geht es Schapp um den Nachweis, dass die Mutterliebe das Grundprinzip ist, angesichts dessen alle anderen Prinzipien nur zweitrangig und nachgeordnet sind. Metaphorisch gesprochen: die Mutterliebe ist der gewaltige Strom, mit dem verglichen alle »anderen Liebesregungen oder Arten der Liebe nur Episoden, nur rinnende Bächlein sind«. 6 Geht man von hier aus mit Schapp einen Schritt weiter, wagt man mit ihm, wie er explizit schreibt, den »letzten Schritt«, kann schließlich sogar die Mutterliebe mit der Gottesliebe gleichgesetzt werden. Die drei äußerlich (von der Seitenzahl her betrachtet) ungleichen Bücher der Metaphysik des Muttertums führen daher den Leser in einer spiraligen Bewegung so weit wie möglich in die Tiefen hinab, bei der man des Dreiklangs von Gott, Mutter und Liebe als Grundlage von Mutter und Welt immer wieder aus einer anderen Perspektive ansichtig wird. Der Gedankengang hat, wie in der Vorbemerkung bereits angeklungen ist, dabei den Charakter einer Selbstvergewisserung, und das heißt, es ist der Versuch Schapps, sich auf das Vatertum, genauer gesagt, sich auf sein Vatertum zu besinnen. Nimmt der Weg dieser Selbstbesinnung seinen Ausgang vom Muttertum, geschieht dies, weil sich das Vatertum nur in Abhebung und im Unterschied zum Muttertum erfassen lässt. Denn das Vatertum setzt das Streben der Mutter voraus, Vatertum entstehen zu lassen, stellt also sachlich, zeitlich, aber 5 6
Schapp, MM, S. 168. Ebd.
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auch historisch die Voraussetzung für die Herausbildung des Vatertums dar. So verfolgt der Gedankengang zunächst im ersten Abschnitt das Muttertum (auf 20 Seiten), um dann weitaus ausführlicher im zweiten Abschnitt das Vatertum zu behandeln (80 Seiten). Um Missverständnisse bei den Worten ›Muttertum‹ und ›Vatertum‹ zu vermeiden, muss Folgendes beachtet und an den Anfang gestellt werden: Schapp geht es primär nicht um Rollen und Rollenverständnisse, die Mann und Frau in der Gesellschaft im Laufe der letzten Jahrtausende in unterschiedlicher Weise zugewiesen bekommen haben, nach dem Motto: die Frau als gute Gesellschafterin, der Mann als guter Geschäftsmann (obwohl diese Rollenverständnisse bei ihm sicherlich mitschwingen). Es geht ihm auch nicht vornehmlich um die unterschiedlichen zentralen Aufgabengebiete des Mannes und der Frau, in deren Perspektive die Frauen z. B. gestern noch das Priestertum verwalteten und nur der Mann das Amt des Richters ausüben durfte (obwohl er dieser Aufgabenverteilung wohl zustimmen würde). Stattdessen geht es ihm vor allem um Mann und Frau als Inbegriff »zweier seelischer Seinsarten«, die Mann und Frau prinzipiell zukommen: »Wir zielen darauf ab, ob es, […] eine ewige Art zu sein, als Frau zu sein, als Mann zu sein, gibt, und wieweit sich die Wurzeln dieser beiden Arten der seelischen Existenz aufdecken und unterscheiden lassen.« 7 Die Wendung »eine ewige Art zu sein, als Frau zu sein, als Mann zu sein« ist für Rezipienten im 21. Jahrhundert, die die Kritik gegen den sogenannten Essentialismus im Ohr haben, wie diese etwa von Karl Raimund Popper entschieden geäußert wurde, alles andere als unproblematisch. 8 Hören wir allerdings zunächst nicht auf mögliche Einwände gegen Versuche einer Wesensdeutung, sondern achten wir auf die Intention Schapps. Diese scheint darin zu liegen, solches in der Frau aufzuweisen, was als das Göttliche in ihr angesprochen werden kann: die Mutterliebe. Denn Himmel und Erde, das Himmlische und das Irdische, klaffen für Schapp ebenso wenig auseinander, wie sich im Irdischen lediglich Spuren des Himmlischen aufzeigen lassen; vielmehr durchströmt und erhält das Himmlische das Irdische, wie Muttertum und Mutterliebe es von Beginn der Tage getan hat. 9 Nimmt man diesen Ebd., Vorwort, o. S. Vgl. dazu etwa Popper, Karl Raimund, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 4 1984, S. 203. 9 Vgl. Schapp, MM, S. 168. 7 8
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Wilhelm Schapps unzeitgemße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums
Gedanken ernst, demzufolge das Himmlische im Irdischen präsent ist und diesem allererst Leben gewährt, ist das Göttliche und Gott auch dem Menschen immanent und ermöglicht sein Leben. Und hier sind wir wieder beim entscheidenden Punkt. Geht es nämlich darum, eine ewige Art ›als Frau zu sein‹ aufzuspüren und werden wir dabei unmittelbar zum Muttertum und zur Mutterliebe geführt, hat das seinen Grund darin, dass die Mutterliebe, wie Schapp wohl in Anlehnung an eine Wendung von Aurelius Augustinus formuliert, »aus den innersten Tiefen der Seele« hervordringt, 10 dort – so könnte man ergänzen – wo das Ewige in ihr zu Hause ist. 11 So ist die Besinnung auf das Muttertum letztlich zugleich eine Besinnung auf Gott, genauer gesagt, auf den christlichen Gott und auf die Liebe Gottes, die für Schapp sogar der »Grund- und einzige Pfeiler der christlichen Lehre« ist. 12 Die Deutung des Muttertums verwandelt sich unter den Händen Schapps dergestalt, wie der Titel bereits kenntlich macht, in eine Metaphysik des Muttertums, die den »ewigen Weg der Frau« in der »Verbindung mit dem Absoluten« nachspürt und uns unmittelbar zur Mutterliebe und zur Gottesliebe führt.
1
a) Das Muttertum
Versuchen wir mit Schapp das Muttertum genauer zu erhellen, ist es förderlich mit Schapp die Frau vom Weib, der Gebärerin, der Mutter und der Urmutter abzuheben, wobei wir uns im Folgenden auf das Weib, die Gebärerin und die Mutter beschränken. Ich bin mir nicht sicher, ob das Wort Weib in den 30er bzw. 60er Jahren negativ konnotiert war. Bei Schapp erhält das Wort aber insofern eine negative Komponente, als er das Weib durch Kinderlosigkeit gekennzeichnet sieht. Dies stellt für ihn ein Mangel dar, da jede Frau aus seiner Sicht mütterliche Kräfte und Regungen in sich birgt, der sie sich nicht verschließen kann. Findet eine kinderlose Frau in ihrer Kinderlosigkeit keinen entsprechenden Ersatz für das fehlende Kind, dem sie sich voll und ganz hingeben kann, wird sie, wie Schapp explizit
10 11 12
Ebd., S. 132. Ebd., Vorwort, o. S. Ebd., S. 158.
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schreibt, verkümmern. 13 So ist das Weib eine Frau, die ihre Mütterlichkeit als das genuin Weibliche (später werden wir sehen: als das genuin Menschliche) nicht ausleben und zur Entfaltung bringen kann und daher, kurz gesagt, als Inbegriff einer reduzierten Form der Weiblichkeit anzusehen ist. Vom kinderlosen Weib kann die Gebärerin unterschieden werden. Die Gebärerin ist eine Frau, die aus einer rein biologischen Perspektive ein Kind in die Welt setzt. Sie ist aber keine richtige ›Mutter‹, da sie keine mütterlichen Regungen an den Tag legt. In ihrer Kälte und Lieblosigkeit gegenüber dem Kind hat sie mit einer Mutter rein gar nichts zu tun, weshalb die Bezeichnung ›Rabenmutter‹ als Indiz, wie Schapp heraushebt, einer Selbstkorrektur der Sprache angesehen werden kann. Will man daher präzise sein, darf man Mutter nicht in »wahre Mütter« und in »Rabenmütter« einteilen (dann wäre eine Rabenmutter nämlich immer noch eine Mutter, wenn auch eine schlechte). Vielmehr kann »man nur sagen, dass ein Teil der Gebärerinnen Mütter sind und dass einem anderen Teil die Mütterlichkeit fehlt.« 14 Interessant ist, dass Schapp im Kontext dieser Überlegungen implizit eine normative Dimension zum Vorschein treten lässt, insofern die Bezeichnung Mutter, wenn man sie auf Rabenmütter anwenden kann, vielleicht so etwas wie »eine Forderung zum Ausdruck [bringt], dass jede Gebärerin eine Mutter sein sollte.« 15 Auch wenn sich diese normative Dimension durch das gesamte Buch zieht, wird sie aber als eine solche nicht eigens kenntlich gemacht und kritisch in den Blick genommen. Wendet man sich nun der Mutter zu, zeichnet sie sich durch die (klassischen) Wesenszüge des Dienens und der Opferbereitschaft aus: »Ja, diese Aufopferung macht ihren eigentlichen Lebensinhalt aus und macht es ihr leicht, auf alle anderen Glücksquellen zu verzichten oder diese gering zu schätzen.« 16 Sie stellt ihr ganzes Verhalten in den Dienst für das Kind, ohne die Entbehrungen, denen sie sich dabei aussetzt, selbst als Entbehrungen zu empfinden. Rückt man auf diese Weise die Opferbereitschaft ins Zentrum, darf allerdings nicht der umgekehrte Blick, der Blick auf das Verhalten der Kinder zu- und untereinander fehlen. Auch wenn nämlich die 13 14 15 16
Ebd., S. 15. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 14.
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Mutter alle Kinder mit demselben Muttertum empfängt und sich voll und ganz für diese einsetzt, ist die harmonische Entfaltung ihrer Mutterliebe doch davon abhängig, dass sich auch die Kinder untereinander in Liebe und Wohlwollen begegnen. Jedes andere Verhalten als das der Brüderlichkeit zwischen den Geschwistern würde – Schapp zufolge – nämlich unweigerlich die Mutter in einen Zwiespalt führen, der sie daran hindert, ihre Mütterlichkeit gegenüber den einzelnen Kindern zu entfalten. So lässt sich die Beziehung zwischen der Mutter und den Kindern als ein Resonanzphänomen lesen, bei dem die Entfaltung der beiden Seiten wechselweise zusammengehören und dergestalt abhängig voneinander sind. Versucht man das Muttertum, das mit Dienen und Opferbereitschaft auf Seiten der Mutter einhergeht und Brüderlichkeit auf Seiten der Kinder bewirkt, weiter zu kennzeichnen, lässt es sich als allgemeingültig bestimmen. Allgemeingültigkeit bedeutet in diesem Kontext, dass es zum Menschen als Menschen gehört und deshalb beim »ganzen Geschlechte der Menschen« angetroffen wird, und zwar zu allen Zeiten. Ja, Schapp geht sogar so weit, Muttertum mit Menschentum gleichzusetzen und im Muttertum die Repräsentation des Menschentums zu erkennen. Die Schärfe dieser Behauptung wird in ihrer Zuspitzung sichtbar: denn für ihn könnte es Sinn haben, »von einem Muttertum ohne Menschtum, ohne Humanität, ohne Urmenschlichkeit zu sprechen, dass es aber keinen Sinn hat, umgekehrt vom Menschtum ohne Muttertum zu sprechen.« 17 In der Konsequenz dieser Gedankenführung liegt es, auch jede Kultur und Zivilisation auf der Grundlage des Muttertums entstehen zu lassen. Allerdings wird das Muttertum, wie wir es bereits in der Gleichsetzung Menschtum-Muttertum gesehen haben, seinen letzten Inhalt auch ohne Kultur und Zivilisation erhalten, da es sich ja auch immer noch im engsten Kreise entfalten könnte, der in der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Kind zu sehen ist.
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b) Das Vatertum
Mit diesen genannten Kennzeichnungen des Muttertums (Dienen und Opferbereitschaft, Brüderlichkeit, Allgemeingültigkeit) hat Schapp 17
Ebd., S. 25.
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den Hintergrund konturiert, vor dem er das Vatertum abzuheben versucht. Dabei macht er die Einschränkung, dass er das Vatertum ausschließlich im Abendland zu betrachten beabsichtigt. Liest man diese Einschränkung, wie es Schapp selbst formuliert, als notwendige Konsequenz einer fehlenden oder mangelhaften Materialbasis, kann man sie getrost benennen, ohne sie weiter zu bedenken. Liest man sie aber als Einschränkung und Begrenzung des Vatertums auf eine bestimmte Kultur, nämlich unsere Kultur, klingt hier bereits eine wesentliche Differenz zur Allgemeingültigkeit des Muttertums an. Das Vatertum ist dann etwas, was in den unterschiedlichen Kulturkreisen differiert und je nach Raum und Zeit, in der es auftritt, seine Art verändert. Bevor dieser Gedanke vertieft wird, soll mit Schapp kurz ein Blick auf das Vatertum im Abendland seit Homer geworfen werden. Dabei ist der wesentliche Gesichtspunkt des Vater-Kind-Verhältnisses (und auch schon früher), dass es dem Muttertum als gleichbedeutend zur Seite gestellt wird. Die Grundauffassung ist, dass es sich beim Verhältnis der Mutter zum Kind und beim Verhältnis des Vaters zum Kind »um ein einheitliches Verhältnis zum Kind handelt, welches nur verschieden gefärbt ist. Bei dem Manne setzt man im Rahmen der Familie dieselbe Liebe voraus, wie bei der Frau, und umgekehrt, erwartet man von dem Kinde dieselbe kindliche Zuneigung zu beiden Elternteilen.« 18 Stellt man das Vatertum in dieser Weise dem Muttertum als gleichbedeutend zu Seite, besteht die Gefahr, das Spezifische des Vatertums nicht erfassen zu können. Man bleibt dann beim »Erscheinungsbild« stehen und dringt nicht zu seinem seelischen Gehalt vor. Und hier bringt Schapp endgültig seine Deutung des Vatertums zum Ausdruck. Wichtigstes Phänomen ist dafür vermutlich das, was man induzierte Väterlichkeit durch die Mutter nennen könnte, was er aber auf dem Umweg einer »induzierten Mütterlichkeit« oder auch einer »Induktionserscheinung des Muttertums« zu beschreiben versucht.19 Die Sache, die hinter diesen letztgenannten Wendungen steht, können wir uns recht gut mit seiner Hilfe veranschaulichen. Nimmt man etwa ein Kindermädchen, dem die kinderreiche Mutter notgedrungen ihre jüngsten Kinder zur Sorge überlässt, sieht man, dass das Kindermädchen die Mutter mehr oder weniger aus dem Herzen der Kinder verdrängt. Auf der Seite des Kindermädchens wird da18 19
Ebd., S. 26. Ebd., S. 38 und 39.
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Wilhelm Schapps unzeitgemße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums
bei so etwas wie Muttertum sichtbar, allerdings nicht das echte, sondern nur ein Abglanz davon. Schapp zufolge widerspricht dem nicht, dass das Kindermädchen »im Notfall ohne Besinnung ihr Leben für das Kind, das ihr anvertraut ist, [und] das sie in ihr Herz geschlossen hat«, opfert. 20 Denn der Einsatz für das Kind, den sie sogar mit ihrem Leben bezahlen würde, unterscheidet sich zwar äußerlich rein gar nicht von dem der Mutter, letztlich dringen aber, so die These Schapps, ihre mütterlichen Regungen nicht aus derselben Tiefe, wie bei der echten Mutter. Schapp gibt uns an dieser Stelle entsprechend dem Duktus seiner Selbstvergewisserung keine weiteren Plausibilitäten an die Hand, die diese These stützen könnten, sondern spricht lediglich davon, dass man ihm »ohne weiteres zugeben [wird], dass es sich nur um einen Abglanz des Muttertums handelt«. 21 Kann man ihm dies allerdings nicht zugeben, hilft vermutlich auch seine eigenwillige Deutung des Vorgangs der Selbstopferung des Kindermädchens für das Kind nicht weiter. In dieser glaubt er nämlich, die bereits genannte Induktionserscheinung des Muttertums zu erkennen, wodurch der Vorgang der Selbstopferung »so aufzufassen sein [wird], dass eine dem Kinde fremde Seele in die Wirbel des echten Muttertums gerät, und von diesen Wirbeln des echten Muttertums mit fortgerissen wird.« 22 Bezieht man diesen Aufweis auf das Vatertum, kann man dieses, auch wenn es Schapp nicht explizit formuliert, für dessen Verständnis fruchtbar machen und es, wie erwähnt, als ein induziertes Vatertum durch die Mutter zu fassen versuchen. Soll sich nämlich das Vatertum im vollen Sinne des Wortes entfalten, ist dazu, so Schapp, die Mutter erforderlich. Sie führt das Kind, wie es an verschiedenen Textstellen lautet, dem Vater seelisch zu, wird also gewissermaßen als Vermittlerin zwischen Vater und Kind tätig, indem sie ihn zum Kind in Beziehung setzt. Die Funktion, die der Mutter zugesprochen wird, ist demnach die der Induktion des Vatertums, wodurch der Mann aller erst in seine Vaterstellung hineingeführt wird. Wie bei der Induktionserscheinung des Muttertums demnach mütterliche Gefühle bewirkt werden, die deskriptiv nicht von denen des echten Muttertums unterschieden werden können, gerät auch beim Vatertum der Mann gewissermaßen in die 20 21 22
Ebd., S. 38. Ebd. Ebd.
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Wirbel des echten Muttertums und wird von diesen hin zum vollen Vatertum geführt. Die religiöse Dimension dieser Deutung wird von Schapp eigens herausgestellt. Achtet man nämlich auf die Gotteskonzeption bei den Griechen, steht der Gott-Vater Zeus den Menschen gegenüber. Springender Punkt ist, dass neben ihm eine Gottmutter fehlt und dadurch »das mütterliche Element im Verhältnis Gott-Mensch ausgefallen ist«. 23 Hieraus resultiert die Kühle und der Abstand zwischen Gott und Mensch, der Schapp zufolge »dem letzten Sinn von Religion noch nicht gerecht wird.« 24 Das unscheinbar Wörtchen ›noch‹, verweist auf die Gottvorstellung des Neuen Testamentes, in dem dieser Mangel behoben ist. Während nämlich im Alten Testament ähnlich wie bei den Griechen Gott und Mensch unüberbrückbar voneinander entfernt sind, wird erst im Neuen Testament dieser Abstand überwunden, indem Gott hier »unter dem Gesichtspunkt des Vatertums im Verhältnis zur Menschheit zu verstehen und zu fühlen« ist. 25 Die Pointe von Schapp liegt allerdings in seiner eigenwilligen Auslegung, die nun, salopp gesagt, die Mutter als Drahtzieherin ins Spiel bringt. Ausgangspunkt hierfür ist die Überlegung, dass die Familie aus der Dreiheit Vater-Mutter-Kind besteht. Nimmt man nun die Vorstellung von Gott als Vater, kann diese nicht von der Vaterseite ausgegangen sein – es sei denn es wäre eine Selbstverherrlichung Gottes. Sie muss vielmehr von der Kindseite aus erwachsen sein, bei der aber die Mutter an der Gestaltung mitwirkte. Sie war es nämlich, die »die Kindesseele von sich ab auf den Vater hinlenkte, auf das Vatertum, so dass all das Unsagbare sich über die Gestalt des irdischen Vaters auf den himmlischen Vater konzentrierte, auf den himmlischen Vater wandte, in den himmlischen Vater zusammengefasst wurde.« 26 Wie daher die Mutter den Vater im irdischen Leben zum Vatertum führt, so hat sie nach Schapp auch die Gestaltung Gottes als des Vaters bewirkt.
23 24 25 26
Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 45. Ebd., S. 45.
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1
c) Die Wesenheiten Mann und Frau
Überblickt man das bisher Gesagte und vertieft es dabei zugleich, sieht Schapp bei den beiden Wesenheiten Mann und Frau keine »Übereinstimmung, Gleichheit oder Ähnlichkeit« in ihrem Wesen. Während die Frau nämlich von Anfang an den Keim des Muttertums in sich trägt, auf den hin sie sich ausrichtet und entwickelt, hat sich erst allmählich im Laufe der Jahrhunderte das Vatertum herausgebildet, wodurch sich der Mann neben seinem Leben in der Gemeinschaft, auch eine private Sphäre erschaffen konnte. Schärfer gesagt: Während das Frauentum sich fast im Muttertum erschöpft, erschöpft sich das Mannestum nicht im Vatertum. 27 Ein Indiz für den Beleg dieser These glaubt Schapp, im unterschiedlichen Verhältnis des Vaters und der Mutter zum unehelichen Kind zu sehen. Blickt man auf die Mutter, macht sie keinen Unterschied zwischen dem ehelichen und dem unehelichen Kind. Die Substanz ihres Muttertums wird sich trotz der Schwierigkeiten, auf die sie in der Gesellschaft stoßen wird, davon nicht berühren lassen und ihr Muttertum wird »wie von einer Urgewalt getrieben auch unter diesen ungünstigen Verhältnissen« wachsen und sich entfalten. 28 Ganz anders ist dagegen die Sache beim unehelichen Vater einzuschätzen. Der Mann wird sich der Vaterschaft zu entziehen suchen, wird also nicht aus einem inneren Drang heraus die Sorge für das Kind übernehmen wollen. Dieser enorme Unterschied in der Stellung des unehelichen Vaters und der unehelichen Mutter zeigt, dass »das Vatertum nicht ähnlich wie das Muttertum einer Urgewalt seine Entstehung verdankt«, sondern sich erst allmählich herausbildete. 29 Die Wesenheiten Mann und Frau sind daher als von Grund aus Verschiedenes zu fassen, da ihre jeweiligen Seelenkräfte je spezifischen »Urgesetzen und Urrichtungen« unterliegen. So bleibt nur ein »Zusammenpassen von den beiden Wesenheiten Mann und Frau übrig, welches in den Wesenheiten Mann und Frau begründet ist, ohne dass dies Zusammenpassen Übereinstimmung, Gleichheit oder Ähnlichkeit im Wesen bedingte.« 30 27 28 29 30
Vgl. ebd., S. 51. Ebd., S. 49. Ebd., S. 50. Ebd., S. 54.
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2.
Gesprchsanlsse
Im Folgenden werden wir verschiedene Gesprächsanlässe, die der Text geboten hat, verfolgen. Diese Gesprächsanlässe erheben nicht den Anspruch der Vollständigkeit, da der Text bei weitem mehr Anregungen gegeben hat, als man jetzt verfolgen könnte. Auch wurden sie unter dem Gesichtspunkt der Strittigkeit ausgewählt, also daraufhin, ob von ihnen jeweils eine intensive Kontroverse ausgehen kann. Dass diese Auswahl subjektiv ist, muss nicht eigens betont werden, wohnt eine subjektive Begrenztheit doch jedem partikularen Gesichts- und Standpunkt inne. So geht es auch nicht darum, den Autor Schapp im Schleiermacherschen Sinne besser verstehen zu wollen, als er sich selbst verstanden hat, vielmehr soll die Möglichkeit eröffnet werden, ihn vor dem Hintergrund des zuvor im ersten Teil Herausgearbeiteten anders zu verstehen. Dieses Verstehen in Andersheit ist als produktiv-schöpferische Anverwandlung der Welt des Textes zu fassen, durch die wir in einem Gespräch mit Schapp und unseren Vor-Urteilen uns vielleicht selbst neu zu entdecken vermögen. Im komme zum ersten Anlass: die Botschaft Das Buch Die Metaphysik des Muttertums ist ein Bekenntnis, das einer Selbstvergewisserung dient. Diese steht im Dienst einer höheren Botschaft, durch die die Gleichursprünglichkeit von Mutter- und Gottesliebe vernommen werden kann. Die Besinnung auf den ewigen Weg der Frau erweist sich dergestalt als eine Besinnung auf den christlichen Gott, aber auch als eine Besinnung auf das Vatertum, das sich erst vermittelt durch die Frau voll entfalten kann. In dem Status des Bekenntnisses und der Vermittlung einer höheren Botschaft gewinnt der Text eine Immunität, die wir ihm zubilligen wollen. Wir sprechen von ihm dann als einem historischen Zeugnis, das höchste Relevanz hat. Heben wir allerdings in unserem Gespräch die Immunität auf, bleibt z. B. die Frage nach weiteren Deutungsmöglichkeiten der Mütterlichkeit. Eine davon wäre, die Mütterlichkeit als ein ethisches Prinzip zu verstehen. Mütterlichkeit als ethisches Prinzip wäre dann nicht Inbegriff einer weiblichen Mutterliebe, vielmehr wäre es eine geschlechtsneutrale Haltung, die der Frau und dem Mann zu eigen sein kann. Sie würde sich auch nicht allein auf das Verhältnis der Mutter zum Kind beziehen, sondern prinzipiell eine Hinwendung zum Anderen benen184 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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nen, in der der Mensch von sich selbst abzusehen vermag. 31 Von Mütterlichkeit durchdrungen, durchbricht der Mensch die (vermeintliche) Souveränität seiner Selbstbezogenheit und erfasst das ›Du‹ als den anderen seiner selbst, für den er sich rückhaltlos und bedingungslos einsetzt. Dieses Du verwandelt sich dann, wie man in Anlehnung an den Philosophen Karl Löwith formulieren kann, dabei in den unverwechselbar Einzigen in der Nähe, wodurch der andere »nicht in der Bedeutung des lateinischen ›alius‹« als ein »Fremd-Ich« oder als ein »anderes Ich« verstanden wird, sondern im Sinne des ›alter‹ oder ›secundus‹, der mir dort begegnet, wo wir »zu zweit« sind. 32 Die von Mütterlichkeit durchdrungene Haltung kann (ebenso wie die Mutterliebe Schapps) zu einer radikalen Einstellung werden, die den eigenen Tod billigend in Kauf nimmt, um den anderen meiner selbst zu schützen und vor Unheil zu bewahren. Eine weitere (Um-)Deutungsmöglichkeit der Mütterlichkeit kann im Anschluss an Hans Jonas in den Blick treten. In seinem wichtigen Buch Das Prinzip Verantwortung mit dem sprechenden Untertitel Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation hebt Jonas im Kontext seiner »Theorie der Verantwortung« die elterliche und die staatsmännische Verantwortung als »zwei eminente« Paradigmen voneinander ab. 33 Das Gemeinsame dieser beiden Verantwortungsarten lässt sich mit Hilfe der Begriffe der »Totalität«, der »Kontinuität« und der »Zukunft« aufzeigen, wobei wir diese lediglich im Blick auf die elterliche Verantwortung grob skizzieren. Während mit Hilfe der Totalität kenntlich wird, dass die elterliche Verantwortung das »Kind als ganzes und in allen seinen Möglichkeiten, nicht nur den unmittelbaren Bedürfnissen« zum Gegenstand hat, verweist die Kontinuität nicht nur auf die Konstanz elterlicher Zuwendung, sondern auch auf das »Anliegen« der »Kontinuität dieser betreuten Existenz selbst«. 34 Und die Kennzeichnung der Zukunft bringt schließlich zum Vorschein, dass die »Zukunft der ganzen Existenz, jenVgl. zum grundlegenden Prinzip der Mütterlichkeit meinen Aufsatz: Mütterlichkeit. Reichweite und Grenze eines ethischen Prinzips, in: ETHICA. Wissenschaft und Verantwortung, 3. Jg., 1995, Heft 2, S. 163–172. 32 Vgl. dazu Löwith, Karl, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Darmstadt 3 1969, S. 55. 33 Jonas, Hans, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984, S. 184–198. 34 Ebd., S. 189 und 196. 31
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seits der direkten Einwirkung des verantwortlichen und damit jenseits der konkreten Berechenbarkeit« von den Eltern berücksichtigt werden muss. 35 Im Rahmen der Verantwortungskonzeption wie sie Jonas vertritt, rückt der Sache nach das Paradigma der elterlichen Verantwortung an die Stelle der Mütterlichkeit und lässt dadurch Vater und Mutter untrennbar miteinander und gleichberechtigt (da niemals voneinander getrennt) als Träger der Verantwortung hervortreten. Ich komme zu einem weiteren Gesprächsanlass: das Verhältnis des Himmlischen zum Irdischen Man kann eine Medaille bekanntlich von zwei Seiten aus in den Blick nehmen und, wenn es sich um das Verhältnis des Göttlichen zum Irdischen handelt, eher vom Ewigen oder eher vom Wandelbaren ausgehen. Man kann aber auch sagen, dass das Bild der Medaille bereits verfehlt ist, da es sich nicht um zwei Seiten handelt, die man getrennt voneinander in den Blick nehmen kann. Vermutlich würde Schapp diesen Einwand formulieren, da für ihn Himmel und Erde untrennbar zusammengehören und das Himmlische das Irdische durchströmt und erhält. Von diesem Verständnis bleibt der Primat des Himmlischen unberührt, da dieses Bedingung der Möglichkeit des irdischen Lebens ist. Im Gespräch wäre zu betrachten, ob man bezüglich der Lebenswelt nicht eher auf hierarchische Anordnungen, die teleologisch ausgerichtet sind, weitestgehend verzichten müsste. Immerhin könnte es sein, dass »die eine Lebenswelt sich in ein Netz und eine Kette von Sonderwelten verwandelt, die sich vielfach überschneiden und überlagern«. 36 Wäre dem so – und damit wenden wir uns dem nächsten Gesprächsanlass der Wesenheiten Frau und Mann zu –, wäre es im nächsten Schritt auch problematisch vom »ewigen Weg der Frau« zu sprechen, der grundsätzlich von dem des Mannes differiert. Denn beide werden zwar bei Schapp über das Theoriestück »Zusammenpassen« vermittelt, was im Sinne der Komplementarität zu verstehen ist, letztlich sind sie aber prinzipiell als zwei Wesenheiten zu fassen. Vielleicht bin ich bescheidener, vielleicht bin ich aber auch einfach ein Produkt des 21. Jahrhunderts. Und so scheint mir in dieser Zuschreibung die Gefahr eines, wie ich es nennen möchte, mütterlichen 35 36
Ebd., S. 198. Waldenfels, Bernhard, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a. M. 2 1994, S. 27.
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Fehlschlusses zu liegen. Bei diesem schließt man von der Mutterliebe auf die Rolle, die dem Erfüllen der Mutterliebe entspricht, nämlich Mutter zu sein. Unter der Hand werden dabei die Frauen wieder (bzw. immer noch) auf die Tätigkeiten im Haus, die Männer auf die Tätigkeiten im öffentlichen Raum verwiesen, die ihnen für immer und ewig entsprechen sollen. Problematisch erscheint mir dabei nicht die Zuschreibung der Mutterliebe auf die Mutter zu sein (man könnte sie als ethisches Prinzip verstanden auch auf den Mann beziehen), im Gegenteil, sondern, wie gesagt, der mögliche Schluss: die treue Mutter hat im Haus die Sorge der Kinder zu übernehmen, während der kluge, ihr überlegene Mann, die Welt erobert. Dass Schapp dieser Gedanke nicht völlig fremd war, zeigt eine Textstelle: »wir geben nur das wieder, was wir täglich und stündlich sehen und erleben, wie die Mutter dem Vater das Kind zuführt, wie sie das Kind dahin erzieht, dass es den Vater als letzte Instanz, als letzte und höchste Zuflucht zu empfinden lehrt, den Vater, der der Mutter an Mütterlichkeit gleichsteht, aber an Kraft, Weisheit, Stärke so überlegen ist, dass er für die Mutter selbst wieder eine Zuflucht ist, wie es die Mutter für das Kind ist.« 37
Vielleicht können wir vor diesem Hintergrund neben Schapp auch noch den Philosophen Dieter Thomä zu unserem Gespräch hinzubitten. Er hat vor nicht allzu langer Zeit in dem evangelischen Magazin chrismon gesagt: »Es gibt zwei Szenarien: Frauen werden wettbewerbsfähige Individuen wie Männer, dann bekommen wir eine kinderlose Gesellschaft. Oder: Frauen entwickeln berufliche Ambitionen und Männer entdecken die Welt der Familie. Diese Variante favorisiere ich. Mit Glück bekommen wir eine neue Balance, einen beeindruckenden Wandel der Geschlechterrollen. Ohne Neuentdeckung der Familie landen wir in einer Welt, in der der Glanz des Lebens mit Kindern verblasst.« 38
Damit kommen wir zu einem weiteren Gesprächsanlass: die Familie Lassen sie mich diesmal umgekehrt mit einer Position, die von außen kommt, beginnen. Diese Position ist weder differenziert noch ausgewogen, sondern einseitig und zugespitzt. In ihrer Schärfe kann sie aber vielleicht etwas ansichtig werden lassen, was sonst übersehen werden könnte. 37 38
Schapp, MM, S. 45 und 46. Dieter Thomä im Gespräch, in: chrismon, 12. 2008, S. 40.
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Der Medienphilosoph Vilém Flusser zeigt in seinem Spätwerk Aspekte einer neuen Lebenseinstellung auf, die beim Schritt von der gutenbergschen in die elektromagnetische Kultur möglich werden. Im Zuge dieser neuen Lebenseinstellung kann der Mensch seine bisherige unterwürfige und unaufrichtige Rolle als sogenanntes »Subjekt« hinter sich lassen, er kann sich aufrichten und sich, wie er es nennt, in ein »Projekt«, in einen geistig-medialen Entwerfenden verwandeln. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum neuen Gestalten von Familien ist die Feststellung, dass das bisherige bürgerliche Familienhaus bzw. Familienmodell, das aus drei Stockwerken bestand, nämlich der Werkstatt im Erdgeschoss, dem Meister im ersten Stock und seinen Eltern im zweiten Stock, in eine heillose und Unheil verheißende Lage hineingeraten ist. 39 Denn zurück bleibt nur noch das erste Stockwerk zu Familienzwecken, da z. B. die Werkstatt »in Fabrik, Laboratorium und technologisches Institut« ausgesiedelt wurde und die Großeltern ins »Altersheim, Club Mediterranee und künstliche zweite Jugend« übersiedelten. Zudem ersetzt nun das Fernsehen für »die Kinder die Werkstatt und die Großeltern, was [wie Flusser in seiner drastisch-anschaulichen Art formuliert] den Eltern erlaubt, Stühlerücken zu spielen und Partner zu wechseln.« 40 Flusser bejammert diesen feststellbaren Zustand nicht, sondern begegnet ihm, was wir nicht weiter verfolgen können, mit einem Familienmodell, das an die Stelle von Blutsverwandtschaft die Wahlverwandtschaft setzt und dabei Klöster als »Hilfsfiguren für das Entwerfen künftiger Familien« verwendet. 41 Dieser Blick Flussers auf die faktische Familiensituation unserer Zeit entspricht sicherlich auch dem Bild, was uns vielerorts die Medien präsentieren. Gleichgültig, ob wir dieses für überzogen halten, gleichgültig, ob wir es beklagen oder vielleicht sogar begrüßen; es macht aber deutlich, dass wir bei unseren Beschreibungen und Deutungen der Familie das Brüchige und das Fragwürdige nicht vergessen dürfen. Denn Vgl. Flusser, Vilém, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, Bensheim / Düsseldorf 1993, S. 80. 40 Ebd., S. 79. 41 Ebd., vgl. ferner meine Ausführungen in dem Aufsatz: »Vom Subjekt zum Projekt«. Verluste des Mensch-Seins in der »Post-Anthropologie« Vilém Flussers, in: Anthropologie der Medien – Mensch und Kommunikationstechnologien, hrsg. v. Albertz, Jörg, Berlin 2002, S. 51–64. Und in meiner Untersuchung: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003, S. 273–316. 39
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Wilhelm Schapps unzeitgemße Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums
die traditionelle Familie, in der Konstellation, wie sie Schapp noch vor Augen haben durfte, mit Vater, Mutter, Kindern und Großeltern unter einem Dach, ist längst nicht mehr selbstverständlich. Und so müssen wir den Stachel des Versehrten und Verwundeten auch berücksichtigen und ihn in unsere Theorien ›einsetzen‹, um uns von der konkreten Lebenswelt mit ihren faktischen Gegebenheiten nicht allzu weit zu entfernen. Ich komme zum Schluss: Wilhelm Schapp hat uns mit seiner unzeitgemäßen, der heutigen Zeit ent-rückten Betrachtung Zur Metaphysik des Muttertums nicht nur eine Vielzahl von Grundeinsichten vermittelt, er hat auch eine Fülle von Gesprächsanlässen geboten, von denen einige herausgehoben wurden. Und das ist sicherlich das Größte, was ein Philosoph zu leisten vermag, unser Denken in Gang zu setzen, damit wir gemeinsam mit ihm weitergehen können. Dem Charakter seiner Schrift entspricht es, dass letztlich offene Fragen thematisch wurden, deren Antworten nicht feststehen, sondern verantwortet werden müssen. Dies geschieht, indem die Antworten in die Verbindlichkeit eigenen Tuns übernommen werden und sie sich dadurch zu bewähren und zu bewahrheiten haben. Denn, wie Schapp zu recht sagt, dass Liebe »zuletzt nur durch Liebe begriffen werden« kann, 42 so kann jeder von uns das Muttertum auch nur durch seine Mutterliebe be-greifen.
42
Schapp, MM, S. 169.
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten: eine vierte, stille Revolution der philosophischen Denkungsart? Jean Greisch
Im Nachwort zu meiner Übersetzung von Wilhelm Schapps In Geschichten verstrickt habe ich einen Vergleich zwischen dessen radikaler Phänomenologie des In-Geschichten-Verstricktseins und Paul Ricœurs, sich gleichfalls der Phänomenologie verdankender Philosophie der Narrativität, die er in seiner dreibändigen Untersuchung Zeit und Erzählung entfaltet, gezogen. 1 Dieser Vergleich soll im Folgenden so fortgesetzt werden, dass der Akzent nicht sosehr auf den Themenkreis des ersten Buches, das Schapp selbst als eine bloße »Vorarbeit« 2 bezeichnet, sondern auf sein Hauptwerk: Philosophie der Geschichten gelegt wird und sich der Blick auf die neueren Entwicklungen innerhalb der französischen Phänomenologie insgesamt ausweitet. Besonders interessant für unsere Überlegungen sind hier, neben Ricœurs Untersuchungen über die Philosophie der Narrativität, die Ansätze von Emmanuel Levinas, der den Begriff der »Verstrickung« (»intrigue«) in einem nicht-narrativen Sinn verwendet, Michel Henrys »materiale Phänomenologie«, die um den Schlüsselbegriff der »Selbstaffektion« des Lebens kreist, Jean-Luc Marions Entwurf einer Phänomenologie der Gegebenheit, Claude Romanos Konzept einer Ereignishermeneutik (»herméneutique événementiale«) und Jean-Louis Chrétiens Phänomenologie des lebendigen Sprechens. 3 Eine ausführliche Konfrontation dieser Ansätze mit Schapps Phänomenologie der Geschichten würde sicher eine ganze Monographie benötigen. Hier kann es sich daher nur darum handeln, im Rückgang auf die »Sachen selbst« die Notwendigkeit einer solchen Konfrontation Greisch, Jean, Empêtrement et intrigue. Une phénoménologie pure de la narrativité est-elle concevable?, in: Schapp,Wilhelm, Empêtrés dans des histoires. L’être de l’homme et de la chose, Paris 1992, S. 239–275. 2 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. XVI. 3 Vgl. hierzu: Greisch, Jean, Qui sommes-nous? Chemins phénoménologiques vers l’homme, Leuven-Paris 2009, S. 327–419. 1
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
nachzuweisen, die sich mit folgenden sechs Problemkreisen zu befassen hätte: 1. Was ist die beste Ausgangsbasis für eine Phänomenologie der Narrativität, die zugleich eine Hermeneutik ist? Ist es, wie Ricœurs Vorgehen nahe legt, das dreistufige Phänomen des Erzählens, d. h. die »narrative Mimesis«, die sich aus den Akten der Präfiguration (Handeln), Konfiguration (Gestalten) und Refiguration (Lesen) aufbaut, oder soll man mit Schapp vom dreifach gegliederten Urphänomen des In-Geschichten-Verstricktseins (»Ichverstrickung«, »Fremdverstrickung«, »Allverstrickung«) ausgehend, erst nachträgliche eine Theorie des Erzählens entwickeln? 2. Gelingt es Schapp nachzuweisen, dass »Gegebenheit« der Schlüsselbegriff der Phänomenologie ist, wie Jean-Luc Marion in seiner »phénoménologie de la donation« postuliert, und kann das Phänomen des In-Geschichten-Verstricktseins der Grundstein einer derart radikalisierten und erst noch zu begründenden Phänomenologie sein? 3. Falls, wie Schapp vorgibt, der Begriff des In-Geschichten-Verstricktseins an die Stelle des missverständlichen Begriffs des »Lebens« rückt, ist das In-Geschichten-Verstricktsein nur ein anderer Name für die »Selbstaffektion«, um die Michel Henrys »materiale Phänomenologie« in immer neuen Ansätzen kreist? Die Tatsache, dass in Schapps Augen der Tod der Angelpunkt jeder Geschichte ist, während Henry mit Spinoza den Tod als eine unwichtige Angelegenheit betrachtet, legt eine negative Antwort nahe. 4. Verlangt der Begriff des In-Geschichten-verstricktseins, der sich deutlich vom Begriffsraster des Sachverhaltes absetzt, nicht eine eindringlichere Analyse des Ereignisbegriffs, wie diejenige, die Claude Romano in kritischer Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit entworfen hat? 5. Welche Art von Ethik kann man auf Schapps Geschichtenphilosophie aufbauen? Ist es eine Verantwortungsethik im radikalen Sinn, den Levinas mit dem Begriff der »intrigue de l’altérité« bezeichnet? 6. Schapps im vierten Teil der Philosophie der Geschichten vorgestellte Überlegungen über die Sprache sprengen den Rahmen der Linguistik und der Sprachphilosophie. Worin besteht in diesem Fall das »lebendige Sprechen«, mit dem Jean-Louis Chrétien sich in zahlreichen Untersuchungen beschäftigt hat, und welchen Stellenwert muss man dem Phänomen des »inneren Sprechens« einräumen? Offensichtlich muss ein solcher Vergleich, abgesehen von allen 191 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Jean Greisch
inhaltlichen und stilistischen Differenzen, auch dem Generationenunterschied, der den deutschen und die erwähnten französischen Phänomenologen voneinander trennt, Rechnung tragen. Vierzig Jahre liegen zwischen Wilhelm Schapps Göttinger Dissertation: Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung und Ricœurs 1950 verteidigter und noch im selben Jahr publizierter Habilitationsschrift: Le volontaire et l’involontaire, dem Entwurf einer Phänomenologie des Willens, die neben Jean-Paul Sartres L’être et le néant, Maurice Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception, Emmanuel Levinas’ Totalité et infini und Michel Henrys Essence de la manifestation, zu den Quellentexten der französischen Phänomenologie des 20. Jahrhunderts zählt. Für beide Autoren ist der terminus a quo ihres Denkweges zugleich, mindestens im Rückblick des Interpreten, eine wichtige Vorgabe für ihre spätere Behandlung der Phänomenkomplexe: »Geschichten« und »Erzählen«. Schapps frühe Untersuchung über die Gegebenheitsweisen des Wahrnehmungsdinges, mit seinen Farb-, Ton- und Tastqualitäten, eine Untersuchung, die sorgfältig jede essentialistische Engführung vermeidet, setzt kurioserweise nicht mit einem Husserlzitat, sondern mit einem Hegelzitat ein: »Es liegt im Empirismus dies große Prinzip, dass, was wahr ist in der Wirklichkeit sein und für die Wahrnehmung da sein muss.« 4 Wollte man den phänomenologischen Duktus dieser Aussage verdeutlichen, die letzten Endes auf den Schlüsselbegriff der »Selbstgegebenheit« hinausläuft, könnte man sich auf einen früheren Passus der Hegelschen Enzyklopädie stützen: »Das Prinzip der Erfahrung«, liest man im Zusatz des 7. Paragraphen, »enthält die unendlich wichtige Bestimmung, dass für das Annehmen und Fürwahrhalten eines Inhalts der Mensch selbst dabei sein müsse, bestimmter, dass er solchen Inhalt mit der Gewissheit seiner selbst in Einigkeit und vereinigt finde. Er muss selbst dabei sein, sei es mit seinen äußerlichen Sinnen oder aber mit seinem tieferen Geiste, seinem wesentlichen Selbstbewusstsein.« 5
Dies ist der Grund, warum es in der Phänomenologie nicht so sehr auf die Warum-Frage, sondern vielmehr auf die Wie-Frage ankommt. Die Phänomenologie im Sinne Hegels, und noch nachdrücklicher und wesentlicher die Phänomenologie im Sinne Husserls, »prüft nicht nur, ob Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, § 38, Theorie Werkausgabe, Frankfurt a. M. 1970, Bd. 8, S. 108. 5 Ebd., S. 49 f. 4
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
sie jetzt wirklich den Gegenstand selbst hat, sondern auch, wie sie ihn hat und auch noch, wie sie dies Haben des Gegenstandes hat. Es zeigt sich da«, so Schapp, »daß Objektitäten verschiedener Sphären auf verschiedene Weise zur Selbstgegebenheit gebracht werden müssen.« 6 Gerade weil »Gegebenheit«, bzw. »Selbstgegebenheit« ein entscheidendes Stichwort jeder Phänomenologie ist, ist die Frage des frühen Heidegger: »Was heißt ›gegeben‹, ›Gegebenheit‹, dieses Zauberwort der Phänomenologie und der ›Stein des Anstoßes‹ bei den anderen?« 7 unausweichlich. Von hier aus gesehen ist es nicht verwunderlich, dass der erste Abschnitt von Schapps 1953 (also drei Jahre nach Ricœurs Habilitationsschrift) erschienenem Buch: In Geschichten verstrickt in einer ausführlichen phänomenologischen Beschreibung der Gegebenheitsweisen der »Wozudinge« besteht, die sich offenbar Heideggers Analyse der Zeughaftigkeit und ihrer Grundkategorien der »Bedeutsamkeit« und der »Bewandtnisganzheit« zu eigen gemacht hat. Was aber ist das »Wozuding«? Es ist ein vom Menschen geschaffenes Wahrnehmungsding, das schon allein aus diesem Grunde sich in den Kontext menschlicher Geschichten einschreibt, ohne allerdings an der spezifischen Gegebenheitsweise des Verstricktseins selbst Anteil zu haben. Selbst ein »Fallstrick« ist nicht in der Weise am menschlichen Verstricktsein beteiligt, wie es andere Menschen, Götter und, innerhalb bestimmter Grenzen, sogar Tiere sein können. Zum so verstandenen Wozuding »gehört seine Erschaffung, seine Beziehung zu dem Material, aus dem es erschaffen wird, sein eigenartiges Sein als Wozuding, mit all den Charakteren des Alltags, des Unmodernwerdens, oder des Brüchigwerdens bis zur Auflösung oder Zerstörung«8 . Dass auch Ricœur sich nicht zufälligerweise oder aus zeitbedingten Gründen mit dem Phänomen der Narrativität beschäftigt hat, ließe sich anhand einer immanenten Interpretation seines Denkwegs aufzeigen. Seine frühe Philosophie des Willens hatte als Fernhorizont das Projekt einer Poetik des Willens und der Freiheit, d. h. einer Untersuchung über den schöpferischen Gebrauch, den wir von unserem WilSchapp, B (4. Aufl.), S. 3. Heidegger, Martin, Grundprobleme der Phänomenologie [1919/20], Ga 58, hrsg. v. von Herrmann, Friedrich-Wilhelm, Frankfurt a. M. 1993, S. 5, wortwörtlich zitiert bei Jean-Luc Marion, Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997, S. 30. 8 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 41. 6 7
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lensvermögen, etwa in der Form der Einwilligung (»consentement«) und der Zustimmung zum Unabänderlichen, oder im Gebrauch unserer Freiheit machen, die, im Gegensatz zu Sartres hyperbolischem Freiheitsbegriff, zwar immer nur eine »rein menschliche« Freiheit sein kann, die sich aber gerade deshalb als eine »Freiheit im Licht der Hoffnung« verstehen kann. Obschon Ricœur selbst in seiner Autobiographie vorgibt, dass er das Projekt einer solchen Poetik fallen gelassen hat, gibt es solide werkimmanente Gründe für die Hypothese, dass dieses Projekt sich in ständig neuen Formen bis in die späte »Hermeneutik des Selbst« und die an sie anschließende »Phänomenologie des fähigen Menschen« durchgehalten hat. 9 Zwei besonders wichtige Stadien dieses Umwandlungsprozesses sind die »Zwillingswerke«: Die lebendige Metapher (1975) und Zeit und Erzählung I–III (1982–84). Die Fähigkeit, das Ähnliche im Unähnlichen zu erfassen, und die Fähigkeit des Erzählens stehen letzten Endes im Dienst einer »ontologischen« Aufgabe: einerseits die Erschließung einer »bewohnbaren Welt«, d. h. einer Welt, die Hölderlins Spruch: »… Voll Verdienst, doch dichterisch wohnet der Mensch, auf dieser Erde …« gerecht wird, andererseits ein Zeitbegriff, dank dessen die menschliche Zeiterfahrung und die Geschichtlichkeit einen menschlichen Sinn erhält, anstatt im Fluss des universalen Wandels zu versinken. Schapps erster entscheidender Beitrag erscheint 1953 unter dem Titel In Geschichten vestrickt. Der Untertitel: »Zum Sein von Mensch und Ding« lässt keinen Zweifel über die ontologische Zielsetzung des Buches aufkommen. Es handelt sich hier offenbar um ein Gegenstück zu Heideggers Entwurf einer Fundamentalontologie, deren phänomenologisch-hermeneutische Ausgangsbasis die im ersten Teil von Sein und Zeit dargelegte Daseinsanalytik bildet. Insofern könnte man sagen, dass Schapps dreifach differenzierter Begriff der »Verstrickung« (»Selbstverstrickung«, »Fremdverstrickung«, »Allverstrickung«) eine »Auflösung« des Heideggerschen Grundexistentials der »Sorge« darstellt, im Gefolge welcher die »Geschichtlichkeit« sich ins plurale tantum der »Geschichten« aufsplittert. Blickt man von hier aus auf Wissen in Geschichten, dann erscheint Vgl. hierzu: Greisch, Jean, Fehlbarkeit und Fähigkeit. Paul Ricœurs philosophische Anthropologie, Münster 2009.
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
die Gegenstandproblematik wiederum in einem anderen Licht. Dieser dritte, 1965 erschienene Band der Trilogie steht eindeutig im Zeichen der »Destruktion«, bzw. »Dekonstruktion« des Grundaxioms aller bisheriger Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, nämlich dass alles Erkennen und alles Wissen sich primär auf Tatsachen und Sachverhalte bezieht. Anhand von sechs phänomenalen Grundgebilden: der und die in Geschichten Verstrickte, der Leib, das Wozuding, das Auswas (Stoff) des Wozudinges, die innere Struktur des Atoms und die Wellenstruktur der Materie, versucht Schapp hier in einer ironischerweise Metaphysik der Naturwissenschaft betitelten Untersuchung, nachzuweisen, dass der primäre Ort jeder Selbstgegebenheit »in den Geschichten« und »nicht in Naturwissenschaft und Mathematik« 10 liegt.
1.
»Selbstgegebenheit in den positiven Welten«: eine neue Theorie der »Lebenswelt«
Weitaus schwieriger fällt es, den disziplinären Ort und die Funktion des Mittelstücks der Geschichtenphilosophie zu bestimmen: die 1965 erstmals erschienene Philosophie der Geschichten, die bezeichnenderweise im Gegensatz zu den beiden anderen Bänden mit keinem Untertitel versehen ist. Fast könnte man vermuten, dass Schapp hier mit seinen Lesern ein ziemlich hinterhältiges Katz-und-Maus-Spiel spielt und ihnen die Entscheidung darüber überlässt, worauf diese in vier Teile gegliederte weitaus umfangreichere Untersuchung eigentlich hinaus will. Der Systematiker, in dessen Augen die Gültigkeit einer Behauptung in entscheidender Weise davon abhängt, welchem Gegenstandsbereich man sie zuordnen kann, wird sich die erst im Schlusswort aufgeworfene Frage, wie sich Schapps Betrachtungen in die Philosophie und ihre Unterabteilungen einfügen 11 , längst zu eigen gemacht haben, und den ersten Teil der Philosophie der Geschichten als Entwurf einer neuartigen und sicherlich befremdenden »Kosmologie« verstehen, deren Grundpfeiler die Begriffe »Geschichten« und »Welt« bilden. Vergleicht man den hier entwickelten Begriff der »Geschichten« mit den in der Vorarbeit enthaltenen Ausführungen über die drei Grundmodi des 10 11
Schapp, MN (2. Aufl.), S. 5. Vgl. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 335.
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In-Geschichten-Verstricktseins – »Ichverstrickung«, »Fremdverstrickung« und »Allverstrickung« –, dann merkt man, dass dasselbe »Urphänomen« 12 einer neuen Reihe von phänomenologischen Variationen unterworfen wird, denen ebenso viele verschiedene Gegebenheitsmodi entsprechen: geformte oder erst noch in Formung begriffene Wachgeschichten, in denen sich der Sinn dessen, was Husserl »lebendige Gegenwart« nennt, entscheidet; mit unserer Geburt ererbte Geschichten, denen gegenüber »unsere eigenen Geschichten zunächst fast nichts bedeuten« 13 , und in die wir erst allmählich hineinwachsen; vergangene, d. h. längst »begrabene« Geschichten, die urplötzlich zu neuem Leben erwachen können; Traumgeschichten, in Hypnose, im Rausch, im Wahnsinn erzeugte Geschichten, die dennoch eine gespenstische und manchmal sogar überwirkliche Gewalt auf uns ausüben. Schließlich erwähnt Schapp noch »Märchen, Sagen, Mythos, Kunst, Religion und Philosophie«, d. h. Produkte der menschlichen Einbildungskraft, die ihre Entstehung dem literarischen Prozess verdanken, den Ricœur mit dem Begriff der »narrativen Konfiguration« bezeichnet. Überblickt man diese Aufzählung, versteht man gut, warum Schapp selbst zugibt, »wie schwierig es ist, das Urwort der Philosophie hier einigermaßen verständlich anzuwenden« 14 . Anstatt dass man dieses Bekenntnis als Argument gegen Schapps Versuch ins Feld führt, ist man gut beraten, wenn man sich zunächst fragt, ob solche Selbsteinwände nicht eine wichtige Rolle in der Geschichte der Philosophie selbst spielen. Dies deutet Schapp selbst an, wenn er auf eine ähnliche Schwierigkeit auf dem Gebiet der Lebensphilosophie verweist: »Mit einem gewissen Vorbehalt kann man […] von uns sagen, daß wir Geschichten spüren, wo andere vom Leben sprechen.« 15 An diesem Punkt könnte man darauf verweisen, dass die transzendentale Phänomenologie Husserls, wie auch die hermeneutische Phänomenologie Heideggers, den Anspruch erhebt, eine »Urwissenschaft vom Leben« an sich zu sein, die im Zeichen der »Lebenswelt« gerade dem eigentümlichen Phänomen der »Selbstgenügsamkeit« des Lebens Rechnung trägt.
»Für uns sind die Geschichten Urphänomene, Urgebilde, urhafter als die Gebilde der Wissenschaft. Die Geschichten bestehen in keiner Weise aus Sätzen, und das, was man für Sätze halten könnte, besteht wieder nicht aus Worten.« Ebd., S. XVI f. 13 Ebd., S. 4. 14 Ebd., S. 12. 15 Ebd., S. 13. 12
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
Schapps Beitrag zu dieser »Urwissenschaft« bestünde in diesem Fall darin, dass für ihn die »Selbstgenügsamkeit« des Lebens in nichts anderem als im In-Geschichten-Verstricktsein besteht. Diese Hypothese wirft bereits ein bestimmtes Licht auf Schapps Behandlung des Weltbegriffs im ersten Abschnitt, die ihm eine neue Gelegenheit bietet, sich mit dem Problemkreis »Gegenstand und Selbstgegebenheit« 16 zu befassen. Seine Hauptthese ist, dass der Zugang zum positiven Phänomen der Welt »nur über Geschichten möglich ist« 17 , und dass alle phänomenologischen Modifikationen, denen der Begriff der Welt fähig ist, sich nur auf diesem Wege erhellen lassen. Der hier vorausgesetzte Begriff der Positivität deckt sich meiner Ansicht nach mit dem Begriff der »Lebenswelt«. Dies deutet bereits das erste Beispiel an, das Schapp zum Beleg seiner These von der Selbstgegebenheit in den positiven Welten anführt: »Der Inderin, welche am Morgen das Feuer anzündete oder aus der Kohle zu Glut und Flamme entfachte, kam damit der Feuergott persönlich in die Hütte, da das Feuer und die Flamme nicht ein Symbol des Gottes, sondern der Gott selbst war.« 18 Besonders wichtig sind Schapps Überlegungen über die »Positivität« der in den großen monotheistischen Religionen vorausgesetzten »Allgeschichten«, denen wir die »Einordnung in den großen Zusammenhang und Verstricktsein oder Geborgenheit in diesen großen Zusammenhang« 19 verdanken. Von hier aus könnte man die von Schapp nicht erörterte Frage aufwerfen, ob damit nicht auch ein Licht auf den Begriff der »Weltanschauung« fällt. Eines ist jedenfalls klar: Der »wissenschaftliche Weltbegriff« im Sinne der Philosophie oder der Einzelwissenschaften erweist sich von hier aus gesehen als ein geistesgeschichtliches Sonderprodukt, bzw. eine »physikalische Sonderwelt«. Schapps Analysen dieser »Sonderwelt des Abendlandes« kann man insofern als Versuch verstehen, Husserls Theorie der Lebenswelt im Licht des In-Geschichten-Verstricktseins neu zu interpretieren, und zwar so, dass die Vorrangigkeit der »positiven«, d. h. geschichtenträchtigen Welt gegenüber der physikalischen Welt noch deutlicher wird. 16 17 18 19
Ebd., S. 23. Ebd., S. 16. Ebd., S. 22. Ebd., S. 20.
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Aus den offensichtlich an die frühen Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung anknüpfenden Untersuchungen über Wahrnehmung, Gegenständlichwerden, Selbstdarstellung und Selbstgegebenheit 20 greife ich ein einziges Motiv heraus: die unter dem Oberbegriff des Einzelgebildes vorgetragenen Überlegungen über die leibliche Erscheinung des Menschen und deren Verhältnis zu seinem Verstricktsein. Sie knüpfen an eine der Hauptthesen von In Geschichten verstrickt an: »Die Geschichte steht für den Mann« (oder für die Frau, etwa Homers Geschichte des Trojanischen Krieges) und zwar so restlos, »daß auch das leibliche Auftauchen des Menschen nur ein Auftauchen seiner Geschichten ist, daß etwas sein Antlitz, sein Gesicht, auch auf eigene Art Geschichten erzählt oder, was dasselbe wäre, Geschichten verdeckt oder zu verdecken versucht« 21 . In der Philosophie der Geschichten erläutert Schapp denselben Gedanken so, dass er das Gesicht des Anderen als ein Fenster beschreibt, das uns einen Einblick bzw. einen Durchblick auf die Fremdgeschichte verschafft: »Wir sehen durch das Gesicht wie durch ein Fenster auf die Geschichte. Für unsere eigenen Geschichten, mit denen wir morgens aufwachen und abends einschlafen, brauchen wir die Fenster nicht, wir kennen oft nicht einmal unser eigenes Antlitz, und soweit wir es kennen, verstehen wir oft nicht darin zu lesen, nicht so darin zu lesen, wie in den Geschichten der anderen.« 22 Dies ist sicherlich ein interessanter Gedanke, der freilich einen bestimmten Blickwinkel bevorzugt: der Blick, den ich, von meinem »Ichpol« her, auf das fremde Antlitz richte. Ein solcher Blick, so Schapp, bleibt nie und nirgends am Antlitz als Antlitz hängen, sondern er wird »weitergelenkt von dem Antlitz auf die Geschichten, ohne Halt machen zu können« 23 . Insofern ist das Phänomen »Antlitz«, das Levinas in Totalité et Infini als eine »Epiphanie« beschreibt, kein Urphänomen, sondern höchstenfalls ein Übergangsphänomen, das uns den Zugang zu anderen Phänomenen (etwa das Phänomen des »Alters«) und, letzten Endes, zum Urphänomen schlechthin der Verstrickung verschafft. Hier wäre allerdings mit Levinas zu fragen, ob Schapp dem originären Phänomen des Antlitzes gerecht wird, nämlich dem vom Ande20 21 22 23
Vgl. ebd., S. 36. Schapp, IGV (2. Aufl.), S. 100. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 85. Ebd.
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
ren Angeblicktsein, wodurch das erblickende Subjekt in den Akkusativ der radikalen Verantwortung versetzt wird. Dies impliziert eine ethische »Verstrickung« (»intrigue éthique«) besonderer Art, die zwar selber neue Geschichten auslöst, aber nicht in diese auflösbar ist. Die »diaphane« Interpretation des Antlitzes (das Antlitz als Fenster, das mir einen Ausblick oder einen Einblick in die dahinter liegende Geschichte verschafft), findet insofern in der Levinasschen »epiphanen« Interpretation des Phänomens des Angeblicktwerdens und der unzertrennlich damit zusammenhängenden ethischen Betroffenheit ein wichtiges Korrektiv, in dessen Licht auch die von Schapp kurz erwähnten leiblichen Phänomene des Herzklopfens und der Atemnot, die er mit den Fragen: »Was hast du gehabt, was hast du gemacht?« 24 verknüpft, eine neue Bedeutung gewinnen.
2.
Hundert Taler, hundert Bestandteile eines Wagens und ein Wachsstck: ein philosophisches Turnier mit Kant, Platon und Descartes
Im zweiten Teil der Philosophie der Geschichten blickt Schapp gleichsam seinen großen »Vorgängern« Platon, Descartes und Kant über die Schulter, um ihnen bei ihrer Denkarbeit zuzusehen und herauszufinden, warum »die Geschichten noch nicht in ihren Gesichtskreis gekommen waren« 25 . Der gemeinsame Nenner dieses »Turniers«26 sind wiederum die mit dem Begriff der Wahrnehmung zusammenhängenden erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen. In disziplinärer Sicht würde man wohl von »philosophiegeschichtlichen« Anmerkungen sprechen, die sich wie lose Blätter aneinander fügen. 1. Dass das Turnier entgegen der historischen Reihenfolge mit Kants Argument der 100 Taler im Rahmen seiner Kritik des ontologischen Gottesbeweises beginnt, mag damit zusammenhängen, dass Kant uns zwingt, den Begriff der Erfahrung, so wie er von der modernen Naturwissenschaft verwendet wird, neu zu überdenken. Dass sich damit der Akzent von vorneherein auf die Erfahrungen der Außenwelt verlagert, der erst sekundär auf die Innenerfahrung appliziert wird, ist 24 25 26
Ebd., S. 92. Ebd., S. 135. Ebd., S. 175.
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einer der Gründe die, Schapp zufolge, uns den Zugang zu den Geschichten erschweren und manchmal sogar versperren. Unter Berufung auf Hans Blumenbergs Lesbarkeit der Welt könnte man sagen, dass es Kant zwar darauf ankommt, unsere Eindrücke als Erfahrungen lesbar zu machen, dass diese Erfahrungen aber nicht mehr, oder nur in seltenen Fällen, als Geschichten gelesen werden können. Ein Standardbeispiel für diese Schwierigkeit ist Kants Umgang mit den »100 Talern«. Die These, dass die 100 Taler, die in meiner Westentasche klimpern, nicht mit der Vorstellung oder dem Begriff der 100 Taler zu verwechseln sind, illustriert bekanntlich Kants Grundthese, derzufolge Sein »kein reales Prädikat« ist. Demgegenüber fragt Schapp sich, wie wir einen Zugriff auf die »Wirklichkeit« »100 Taler« gewinnen können. Ihm zufolge kann dies nur im Rückgriff auf die Geschichten, in die wir verstrickt sind, geschehen. Es ist keine Eulenspiegelei, wenn er diese These anhand einer Nasr Eddin, dem türkischen Eulenspiegel, zugeschriebenen Anekdote und anschließend anhand von Don Quichottes Kampf mit den Windmühlen erläutert. Der springende Punkt in diesen Vergleichen ist, dass der Unterschied zwischen »wirklich« und »unwirklich« nicht mit dem Unterschied der »wirklich« geschehenen und der »fiktiven« Geschichte zusammenfällt. Dort, wo Don Quichotte Windmühlen für Riesen hält, bedarf es eines Sancho Pansa, um diese in Windmühlen zurückzuverwandeln. Nur nebenbei fügt Schapp an, dass in diesem Fall auch Kants Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises revisionsbedürftig wird, mindestens insofern als das Beispiel der 100 Taler höchstenfalls als Hinweis darauf verstanden werden kann, »daß Gott nicht so begegnen kann, wie uns 100 Taler begegnen« 27 , bzw., dass er uns nur in Geschichten und Erfahrungskontexten begegnet, die nichts mit der Frage nach einem möglichen Kapitalwert zu tun haben. Erst wenn man sich von der Frage frei gemacht hat, ob das »Göttliche« eine gute oder eine schlechte Investition ist, wird der Freiraum geschaffen für die Frage, mit der sich Schapp, wie bereits erwähnt, sehr eindringlich beschäftigt hat: Wie muss eine »positive« Welt aussehen, in der Götter und Menschen einander im Rahmen einer nicht nur gut erzählbaren, sondern allgemein verbindlichen »Allgeschichte« begegnen können? Das bedeutet natürlich nicht, dass die Hypothese, derzufolge »die Begegnung mit Gott in Geschichten und über Geschichten« erfolgt, zur 27
Ebd., S. 141.
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
Basis eines neuen, nicht mehr »ontologischen«, sondern »narrativen« Gottesbeweises gemacht werden könnte. Viel eher könnte man sagen, dass Schapps Frage nach dem »Platz, den Gott bisher in Geschichten eingenommen hat«, bzw., den er in solchen Geschichten einnehmen könnte 28, das Schwergewicht der Gottesfrage von der Frage nach der Existenz Gottes auf die Frage: »Wo ist Gott?« und die Frage: »Wer ist Gott?« verlagert. Beide Fragen verkreuzen sich gleichsam im Begriff der Verstrickung. 2. Schapps Auseinandersetzung mit Kant, die beansprucht »radikal« zu sein 29 , mündet in der Tat in eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Begriffen des Begriffs, des Urteils, der Vorstellung, des Gegenstands und des Satzes, die in einem zweiten Schritt zu Platon zurückführt. Sie wird durch eine überaus provozierende Behauptung eingeleitet, die eine der Hauptthesen der Philosophie der Geschichten überhaupt ist: »Es war vielleicht die größte Entdeckung, als man den Satz entdeckte. Dann mag die zweitgrößte Entdeckung sein, daß man seine Nichtexistenz nachweist, indem man ihn in Beziehung setzt zu Geschichten.«30 Um diese »zweitgrößte Entdeckung« geht es in der ausführlichen »Anmerkung zu Platon«, in der Schapp die im Theätet und im Sophistes entwickelte Theorie des Satzes und die damit verbundenen Ansichten über das Verhältnis von Rede, Gedanken, Meinung, Wahrnehmung, Vorstellung und Erkennen einer kritischen, von der Phänomenologie inspirierten Begutachtung unterzieht. Diese Begutachtung ist in zweifacher Hinsicht eine kritische. a) Einmal, weil Schapp im Namen der Phänomenologie den platonischen Beispielsatz »Theätet sitzt« als einen Scheinsatz entlarvt, dessen doxische Modalitäten (»Meinen«, »Glauben«, »Überzeugtsein«, »Behaupten«, »Fragen«, »Wünschen«, »Scherzen«, »Bezweifeln« usw.) absichtlich ausgeblendet werden. Sobald diese Klammer aufgehoben wird, tritt der Bezug zu einer sinnvollen Geschichte, sei es auch nur als Titel einer möglichen Geschichte ans Licht. »Wir müssen uns in Geschichten versenken, wenn wir versuchen wollen, zu etwas größerer Klarheit über Überzeugtsein, Zweifel, Glauben, Wünschen, Scherz,
28 29 30
Ebd., S. 143. Ebd., S. 146. Ebd., S. 147.
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Scheinbehauptung und alles, was in dieser Richtung liegt, klar zu werden.« 31 b) Von hier aus gesehen ist es ferner kein Zufall, dass der Fragekomplex der »inneren Rede« gerade in den erwähnten Spätdialogen eine wichtige Rolle spielt, ein Komplex der, wie wir später in Bezug auf den vierten Abschnitt der Philosophie der Geschichten noch deutlicher sehen werden, ein zentrales Thema von Schapps Spätphilosophie ist. Unter Anspielung auf Husserls grundlegende Unterscheidung zwischen der Funktion der »Ausdrücke im einsamen Seelenleben« und den Ausdrücken in der Funktion der Kundgabe, hält er fest, dass die Annahme, dass ein und derselbe Satz »in der menschlichen Seele oder in allen menschlichen Seelen alle möglichen Stadien durchlaufen« kann, »die Grundlage und der Ausgangspunkt des Phänomenologen« 32 ist. Eine Sprachphilosophie, die nur an der öffentlichen Grammatik der Sprachspiele interessiert ist, wird es sich schwer tun, die Hypothese, dass es viele Sätze gibt, »die von einem Tag zum anderen in der Seele des einzelnen Menschen oder in der Seele vieler Menschen ihr Kleid wechseln« 33 , zu unterschreiben. Genau an diesem Punkt grenzt Schapp sich von der klassischen Phänomenologie ab, indem er darauf pocht, dass es keinen einzigen wirklich gesprochenen Satz gibt, »der nicht irgendein Kleid dieser Art hätte« 34 . Hans Christian Andersens wunderschönes Märchen Des Kaisers neue Kleider, das im übrigen für eine Phänomenologie des In-Geschichten-Verstricktseins besonders ergiebig ist, kann auf keinen Fall als Einwand gegen diese These angeführt werden. Wirklich gesprochene Sätze, wie etwa der Satz: »Die Königin ist krank«, sind Schapp zufolge keine bloße Feststellungen, sobald man darauf achtet, dass sie im Kontext von Geschichten auftauchen, sich in diese einreihen und zugleich neue Geschichten auslösen. Denselben Gedanken könnte man mit Ricœur folgendermaßen abwandeln: Die Sätze: »Der König ist tot«; »Die Königin ist gestorben« kann man noch als reine Tatsachenaussagen betrachten. Sobald man den zweiten Satz durch ein »aus Trauer« ergänzt, hat man eine Geschichte en miniature vor Augen. Ein Platoniker mag hier einwenden, dass Platon in seinen Spät31 32 33 34
Ebd., S. 151. Ebd., S. 150. Ebd. Ebd., S. 151.
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dialogen hauptsächlich mit dem Problem der wahren und der falschen Sätze, und den ontologischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, ringt. Dies gibt Schapp auch durchaus zu, freilich mit dem entscheidenden Vorbehalt, dass die Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit uns letzten Endes auf den Gegensatz von wahren Geschichten und Lügengeschichten verweist, und mithin nur »innerhalb von Geschichten« und »eingeflochten in Geschichten« 35 einen Sinn erhält. Dass Platon dieser »Durchbruch in eine ganz neue Welt […], in die Welt der Geschichten« 36 nicht gelungen ist, mag damit zusammenhängen, dass es ihm darauf ankam, das Denken (den Logos) aus dem Verstricktsein in die Welt des Mythos zu befreien. Ihm, wie auch Aristoteles, war es darum zu tun, die »Ontologie« als strenge Wissenschaft zu begründen, was seiner Ansicht nach nur um den Preis des Verzichtes auf das Geschichtenerzählen (mython tina diègesthai) 37 erkauft werden kann. Diese geschichtliche Notwendigkeit des platonischen Durchbruchs ist allerdings kein Grund, uns nicht mit Schapp zu fragen, was Platon im Guten und im Bösen fehlen würde, wenn die Auseinandersetzung mit den Sophisten ihn nicht tief in Geschichten verstrickt hätte, ohne die seine Dialoge, insbesondere der Sophistes, saft- und kraftlos wären. Das Wagengleichnis im Theätet liefert Schapp eine neue Gelegenheit, den Begriff des Wozudinges in den Vordergrund zu rücken, und an diesem Punkt seinen phänomenologischen »Hauptschlag« 38 gegen Platon zu führen. Was man unter »Vorstellung« und »Wahrnehmung« zu verstehen hat und welche Rolle diese Bewusstseinsakte im Zustandekommen der Erkenntnis leisten, hängt in großem Maße davon ab, wie der Wagen als solcher wahrgenommen und vorgestellt wird. Dazu genügt nicht, dass man sich über die einzelnen Bestandteile des Wagens (hundert, Hesiod zufolge) Klarheit verschafft. Vielmehr handelt es sich darum, was man mit einem Wagen anfangen kann, d. h. unter welchen Bedingungen der Wagen als Wagen, als Wozuding in Erscheinung tritt. Dies kann nur so geschehen, dass man den »Wagenlenker« in Betracht zieht und umgekehrt diesen selbst in seinem Bezug zu diesem Wozuding versteht. Offenbar knüpfen sich an dieses Verhältnis 35 36 37 38
Ebd., S. 154. Ebd., S. 156. Sophistes 242 c, zustimmend von Heidegger in § 2 von Sein und Zeit zitiert. Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 160.
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unzählige Geschichten, in denen Autounfälle, Versicherungsagenten, Verkehrshindernisse, Advokaten und Richter usw. eine Rolle spielen. Dass diese Verlagerung der Wahrnehmungs- und der Vorstellungsproblematik auf das Gebiet der Wozudinge und den in Geschichten Verstrickten neue Schwierigkeiten nach sich zieht, ist Schapp klar bewusst: »Die große Schwierigkeit ist dabei, daß für uns die Wahrnehmung vielleicht ebenso schwierig zu fassen ist wie die Erkenntnis und dementsprechend noch schwieriger das mögliche Verhältnis zwischen beiden.« 39 In dieser Sache stellt sich Platon auf die Seite von Sokrates, dessen maieutische Bemühungen am Ende des Theätet in der Einsicht gipfeln, dass das ganze Problem noch in der Schwebe bleibt. Für Schapp, der sich an dieser Stelle in den platonischen Dialog selbst einschaltet (auch dies eine Weise der intellektuellen Verstrickung!) heißt das, dass wir »vorläufig nicht« wissen, was Wahrnehmung ist. 40 3. Wissen das die neuzeitlichen Denker etwa besser? Ein Blick auf die im Vergleich zu den Anmerkungen zu Platon sehr kurze Anmerkung zu Descartes, belehrt uns darüber, dass das in Schapps Augen keinesfalls der Fall ist. Seine Kritik stützt sich auf das Beispiel des Wachsstücks in der zweiten metaphysischen Meditation und auf das hieran anschließende Gleichnis der Hüte und Kleider, die der Denker von seinem Fenster aus betrachtet, und sich fragt, unter welchen Bedingungen er herausbekommen kann, dass es sich um wirkliche Personen und nicht um bloße Marionetten handelt. Descartes’ Umgang mit beiden Beispielen kehrt neues Wasser auf die Mühlen der Schappschen Phänomenologie. Descartes wirft er zurecht vor, »daß er das Stück Wachs nicht als Wozuding nimmt« (womit unweigerlich der Imker, der Kerzenhersteller, und der Käufer in den Blick kommen würden), sondern geradezu »ängstlich davon absieht« 41 , es als solches zu betrachten. Es genügt, dass man das »anonyme« Wachsstück durch eine Tasse ersetzt (eines der bevorzugten Beispiele Schapps), um zu verstehen, inwiefern jedes Wozuding auf eine Geschichte verweist. Das hieran anschließende cartesianische Gleichnis der vom Fenster aus betrachteten »Hüte und Kleider, unter denen sich auch Puppen verstecken könnten«, anhand dessen Descartes den Unterschied zwischen den bloßen Sinneseindrücken und dem Verstandes39 40 41
Ebd., S. 161. Vgl. ebd., S. 164. Ebd., S. 169.
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urteil veranschaulicht, bietet Schapp eine willkommene Gelegenheit, »Descartes gleichsam am Rockzipfel« festzuhalten, »und ihn darauf aufmerksam« zu machen, »daß er zu schnell gegangen ist«, weil er keine Rechenschaft darüber gibt, »was das Sehen oder Wahrnehmen von Hüten und Kleidern, von Puppen und schließlich von Menschen eigentlich ist« 42 . Das allgemeine Fazit aus diesen Anmerkungen lautet wie folgt: »Kant hätte ein anderes Verhältnis zum Taler gewonnen, Platon zum Wagen und Descartes zum Stück Wachs und insbesondere zur Puppe, wenn sie mit dem Gebilde Geschichte so, wie wir es festzuhalten versuchen, vertraut gewesen wären.« 43 4. Wie aber steht es mit Husserl, den Hans Blumenberg wiederholt als »der Cartesianer Husserl« 44 bezeichnet? Die obigen Bemerkungen über Schapps gespanntes Verhältnis zur Husserlschen Phänomenologie machen diese Frage fast unausweichlich. Daher möchte ich es auf den Versuch ankommen lassen, Schapps Anmerkungen durch eine kurze, im selben Stil gehaltene »Anmerkung zu Husserl« zu ergänzen. Besonders ergiebig sind hier zwei von Husserl selbst angeführte Beispiele. a) Das erste Beispiel liegt ganz auf der Linie von Descartes’ Gleichnis der mit Hüten und Kleidern versehenen Puppen. In seiner Berliner Studienzeit in den Jahren 1878 bis 1881 erblickte der Student Husserl, während eines Besuchs im Berliner Panoptikum, eine junge Dame am Eingang, die ihm zu seiner Verlegenheit zuwinkte, die sich aber im nachhinein als eine mechanische Puppe herausstellte. 45 Im Rückblick des späteren Phänomenologen zwingt das Jugenderlebnis des »im Panoptikum die Schaulust einmal befriedigenden« Studenten dazu, sich zu fragen, was in einem solchen Fall eigentlich vor sich gegangen ist. Die Antwort scheint auf der Hand zu liegen: Sobald man erkannt hat, »dass es eine bloße Figur war, eine auf Täuschung berechnete mechanische Puppe«, tritt ein intentionaler Bewusstseinswechsel Ebd., S. 170. Ebd., S. 171. 44 Z. B. Blumenberg, Hans, Beschreibung des Menschen, Frankfurt a. M. 2007, S. 35. 45 Husserl, Edmund, Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung, Hua XXIII, hrsg. v. Marbach, Eduard, Den Haag 1980, S. 40 f.; Husserl, Edmund, Analysen zur passiven Synthesis [1918–1926], Hua XI, hrsg. v. Fleischer, Margot, Den Haag 1966; vgl. hierzu die Interpretation Hans Blumenbergs, in: ders., Höhlenausgänge, Frankfurt a. M. 1989, S. 710–713. 42 43
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ein, in dem das Wahrnehmungsbewusstsein sich in ein »Bildlichkeitsbewusstsein« verwandelt. Aber nicht widerstandslos: »Wir ›wissen‹ zwar, dass es Schein sei, aber wir können uns nicht helfen, wir sehen einen Menschen«! Spätestens hier wäre zu fragen, wie sich dieses phänomenologische Urerlebnis darstellt, wenn man es im Licht des In-Geschichten-Verstricktseins betrachtet, innerhalb einer Geschichte, die offenbar eine Verführungsgeschichte ist. b) Ein zweites Schlüsselerlebnis findet man in § 100 des ersten Bandes der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Es ist auch insofern beachtenswert, weil Jacques Derrida es an einer entscheidenden Stelle von La voix et le phénomène gleichsam als Geheimwaffe benutzt, um die Husserlsche Phänomenologie der »lebendigen Gegenwart« im Namen eines radikalen Differenzdenkens (»la différance«) aus den Angeln zu heben. 46 Husserl selbst erwähnt dieses Beispiel im Kontext seiner Überlegungen über die verschiedenen Typen der Vergegenwärtigung, die sich ineinander verschachteln können. Zum Beleg stellt er eine Erwägung an, die offenbar auf ein persönliches Erlebnis zurückgeht. Jemand erwähnt den Namen der Dresdener Gemäldegalerie. Dieser Name löst unmittelbar eine Erinnerung an Husserls letzten Besuch in dieser Galerie aus. Während seiner Wanderung in dieser labyrinthähnlichen Galerie sticht ihm ein Gemälde Teniers in die Augen, das eine Gemäldegalerie abbildet. In einer Art von imaginativer Variation stellt Husserl sich vor, dass die Gemälde auf diesem Gemälde ihrerseits Gemälde mit entzifferbaren Inschriften darstellen würden. Das beunruhigende Gedankenexperiment wird abrupt mit dem Hinweis abgebrochen, dass es keiner derart komplizierter Beispiele bedarf, um eidetische Evidenzen zu illustrieren. Man kann gut verstehen, warum Derrida sich nicht mit dieser Flucht nach vorne zufrieden gibt und den Phänomenologen Husserl auf ewig ins Labyrinth der Zeichen verbannt. Eine andere Möglichkeit oder ein anderer »Ausweg« könnte darin bestehen, dass man mit Schapp auf das In-Geschichten-Verstricktsein des Besuchers der Gemäldegalerie rekurriert und darauf aufmerksam macht, dass die Art und Weise, wie Geschichten sich miteinander verschachteln, sich nicht auf die Vorstellung eines Zeichenlabyrinths zurückführen lässt. Vgl. hierzu: Mai, Katharina, Die Phänomenologie und ihre Überschreitungen: Husserls reduktives Philosophieren und Derridas Spur der Andersheit, Stuttgart 1996.
46
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3.
Eine »harte Nuss«: die »Allgeschichte« und das philosophische Problem der Universalitt
Rein stilistisch betrachtet, zeichnet sich der dritte Abschnitt der Philosophie der Geschichten durch einen neuen Wechsel im Tonfall aus. Die kriegerische und zugleich spielerische Sprache des Turniers, die man in etwa mit Platons Schilderung der Gigantomachie im Sophistes vergleichen könnte, weicht jetzt vor einem unzeitgemäßen »Gespräch« 47 mit Homer und Hesiod zurück. Auch hier fällt es auf den ersten Blick schwer, diese Erörterungen in eine bestimmte Fachdisziplin unterzubringen. Vielleicht könnte man sagen, dass Schapp die kulturelle Schwelle, welche die großen Vorsokratiker, Heraklit, Parmenides und Anaximander als erste überschritten haben, indem sie sich vom »Mythos« abwandten und sich zum »Logos« bekannten, unter neuem Vorzeichen in Augenschein nimmt, so zwar, dass er den Begriff des »Kosmos« als wohlgeordnetes Ganzes durch den Begriff der Geschichte ersetzt. Dass diese Umwertung keineswegs unproblematisch ist, zeigt sich schon allein daran, dass die »Geschichte«, so wie sie Schapp versteht, eigentlich ein plurale tantum ist. Damit scheint von vorneherein die einheitsstiftende Funktion des Kosmos-Begriffs gefährdet zu sein und das Universum sich in ein »Multiversum« im Sinne Odo Marquards zu verwandeln. Eine zusätzliche Schwierigkeit besteht darin, dass wir jenseits dieser kulturellen Schwelle leben und den »Schritt zurück« zur Geschichtenwelt nicht so vollziehen können, dass wir aus dem Homerischen und Hesiodischen Geschichtsbegriff alle jene Elemente streichen, die für uns unglaubwürdig geworden sind und uns als solche nicht mehr zur Verfügung stehen: Götter, Halbgötter, Heroen, die Toten in der Unterwelt usw. Schapp ist sich der Tatsache bewusst, dass »mit dem Abstrich der Götter und der Toten jeder Geschichte dieser Zeit das Mark aus den Knochen gesogen« 48 wird, so dass am Ende nichts mehr übrig bleibt. Deshalb kann die hermeneutisch entscheidende Frage nur lauten: »Wie steht es mit uns selbst? Was sind uns in den Geschichten Homers
47 48
Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 175. Ebd., S. 178.
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die Götter und die Toten?« 49 In ähnlicher Weise könnte man im Hinblick auf die zwei ersten Kapitel der Genesis fragen: »Wie steht es mit uns selbst? Was sind uns in der biblischen Urgeschichte Adam und Eva, die Elohim und die Schlange, und der Engel mit dem Flammenschwert?« Für Schapp löst sich die Grundfrage des Historikers nach der Vergangenheit, wie sie wirklich gewesen ist, in eine weitaus grundsätzlichere Frage auf: »In welcher Allgeschichte spielt sich die Einzelgeschichte ab und gehören immer zur Allgeschichte Götter und Tote, und zwar auch zu unserer Allgeschichte, so daß wir, wenn wir mit unseren Fragen gleichsam die verschiedenen Zeiten durchstreifen, wie in einem Palast von einem Saal in den anderen treten, aber stets unter demselben Dach bleiben?« 50 Diese Frage kann man auch so abwandeln, dass man sich fragt, ob ein Streifzug durch verschiedene Kulturräume das Bild vom gemeinsamen Dach bestätigt. Schapps »Versuch über die Bhagavadgita« 51 deutet an, dass dieses Bild, im Gegensatz zu einem überzogenen Kulturrelativismus postmoderner Prägung, für den der Begriff der »Allgeschichte« nur ein anderer Name für die »großen Erzählungen« (Lyotard) der Ideologien ist, seine Gültigkeit behält. Schapp selbst gibt zu, dass sein Versuch, »aus den Geschichten Mensch und Menschsein zu verstehen« 52 , insofern eine »harte Nuss« 53 ist, weil sie uns scheinbar zu einem Kommunitarismus verpflichtet, für den die Universalität nur eine Begriffschimäre ist. Insofern könnte man Schapps Philosophie der Geschichten als eine Vorwegnahme mancher Thesen der Theoretiker der Postmoderne verstehen. Eine solche Interpretation, die Wasser auf die Mühlen der »Multi-Kulti«-Gesellschaft kehrt, verliert allerdings zwei springende Punkte in Schapps Überlegungen aus den Augen. Einerseits seine These, dass es keine »Privatgeschichte« im strengen Sinn des Wortes gibt, insofern jede Einzelgeschichte »zugleich eine Wir-Geschichte« 54 ist. Für die Auseinandersetzung »Kommunitarismus oder Universalismus« ist noch entscheidender die Frage nach dem Umfang des »Wir«.
49 50 51 52 53 54
Ebd. Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 255–266. Ebd., S. 179. Ebd., S. 180. Ebd., S. 182.
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
Hier führt Schapp zwei Motive an, die man als Gegenargumente gegen einen überzogenen Kommunitarismus verwenden kann. »Es gehört nicht zur Geschichte, daß sie sich jedem Glied des Wir gleich darstellt« 55 , damit ist dem Argument: ›Ich bin ein Zugehöriger, also bin ich‹ die Spitze gebrochen. Wenn zum Beispiel Nietzsche den Ausdruck »Wir Hyperboreer« verwendet, dann bedeutet das nicht, dass er eine Jüngerschar um sich versammeln möchte, die ihm zum Verwechseln ähnlich sind. Das zweite Thema betrifft die Verwandlung der Wirgeschichte in eine Allgeschichte, bzw. die »Ausfüllung dieses All-Wir« 56 . Wenn man bedenkt, dass hierzu die Vorfahren, die Ahnen (»Ahnenkult«), die »Gemeinschaft der Lebenden und Toten« (christliche Theologie), Götter usw. benötigt werden, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Anzahl der Allgeschichten unbegrenzt ist. Gegenüber einem kulturellen Donjuanismus kann man aber mit Schapp darauf bestehen, dass es keine »mille e tre« Allgeschichten gibt, mit denen man liebäugeln kann, sondern dass ihre Anzahl begrenzt ist 57 . Die eigentliche Frage betrifft eher die minimalen Bedingungen, die es erlauben von einer Allgeschichte zu sprechen. Dazu gehört nicht, dass jedermann in ihr einen Platz findet, sondern auch, dass sie das Alpha des Ursprungs mit dem Omega des Endes verknüpft, anders gesagt, dass sie eine »Protologie« und eine »Eschatologie« (oder »Apokalypse«) enthält. Dazu kommt die Frage, welche Ereignisse die Bindung an den Ursprung und den Vorgriff auf das Ende gewährleisten, womit wiederum der Ereignisbegriff ins Spiel kommt.
4.
»Wellenkmme auf dem Meer«: das Phnomen des inneren Sprechens
Es passt gut zu Schapps »stiller Revolution«, dass der Schlussabschnitt der Philosophie der Geschichten sich mit dem Phänomen des »leisen Sprechens« befasst, bzw., dass er die alte auf Platon und Aristoteles zurückgehende Unterscheidung zwischen zwei Dimensionen des Redens, welche die Stoiker mit den Begriffen »logos endiathetos« und 55 56 57
Ebd., S. 183. Ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 185.
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Jean Greisch
»logos prophorikos« bezeichneten 58 , unter völlig neuen Voraussetzungen wieder aufgreift. Hier mag der Systematiker Schapp verdächtigen, dass die im vierten Abschnitt enthaltenen Gedanken eigentlich nur eilig zusammengeraffte sprachphilosophische Versatzstücke sind, um zu beweisen, dass der Phänomenologe, dessen früheste Arbeit in Beiträgen zur Phänomenologie der Wahrnehmung bestand, auch einen Beitrag zu einer Phänomenologie des lebendigen Sprechens leisten kann. Eine solche Interpretation läuft allerdings Gefahr, zu übersehen, wie eng in Schapps Sichtweise das Phänomen des lebendigen Sprechens, das JeanLouis Chrétien mit dem schönen Ausdruck: »la voix nue« 59 bezeichnet, mit dem In-Geschichten-Verstricktsein verbunden, fast könnte man sagen »verstrickt« ist. Bezeichnenderweise wird das Thema in allen Abschnitten der Philosophie der Geschichten angesprochen, wobei Zug um Zug die Hypothese, dass, falls in einer Phänomenologie der Geschichten »das Denken seinen alten Platz verliert«, »auch das Sprechen seinen Platz wechseln« muss, immer mehr an Relief gewinnt. Letzten Endes läuft dieser Platzwechsel, durch den das Sprechen in enge Beziehung zu Geschichten gebracht wird, auf eine sprachphilosophische Revolution hinaus, insofern die »Urform des Sprechens« im »leisen Sprechen gesucht werden« 60 muss. Im Gefolge dieser Revolution werden nämlich sämtliche Grundbegriffe der Sprachphilosophie und wohl auch der Linguistik, wie Nomen, Verbum, Satz, Aussage, Syntax, Semantik, Pragmatik, Flektion usw. zutiefst fragwürdig. Schapp selbst ist sich bewusst, dass er sich in dieser Sache wie ein Entdeckungsreisender in einer terra incognita verhält, der über keine bereits bestehende Landkarte verfügt, so dass er seine Selbsterfahrung ins Spiel bringen muss, auf die Gefahr hin, dass man ihm vorwerfen kann, dass er nur eine individuelle Idiosynkrasie beschreibt. Typisch für diese vorsichtige Ausdrucksweise ist die folgende Bemerkung: »Das Denken geht ohne Stimme vor sich. Wir würden von unserer ÜberEine vorzügliche Gesamtdarstellung dieses Themenkomplexes findet man bei Panaccio, Claude, Le discours intérieur, Paris 1999. Vgl.: Meier-Oese, Stephan, Die Spur des Zeichens. Das Zeichen und seine Funktion in der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Berlin 1997. 59 Chrétien, Jean-Louis, La voix nue. Une phénoménologie de la promesse, Paris 1990; L’Arche de la Parole, Paris 1998; L’appel et la réponse, Paris 1992. 60 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 5. 58
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
legung vielleicht sagen, das Denken ist vom leisen Sprechen begleitet. Wenigstens soweit wir das bei uns feststellen können. Dies leise Sprechen steht auch im engen Zusammenhang mit dem lauten Sprechen, welchem es vorangeht.« 61 Ebenso typisch für die phänomenologische Ausrichtung seiner Untersuchung ist, dass ihr Ausgangspunkt kein Lehrsatz, sondern eine von jedermann nachprüfbare urmenschliche Erfahrung ist: »Jeder, der in Geschichten befangen ist, weiß, wie er hin und her überlegt, einen Schritt vorwärts macht, einen Schritt zurückgeht, wie er in Traurigkeit versinkt, wieder Mut schöpft, umkehrt, vorangeht, sich wehrt.« 62 Dass alle diese »Gemütsbewegungen« sich in erster Linie im »stillen Sprechen, besonders eindrucksvoll vor dem Einschlafen« vollziehen, wird man Schapp ohne Weiteres zugestehen. Etwas problematischer ist freilich für den Kritiker der sogenannten »Privatsprache« die These, »daß von dem gesamten Sprechen noch nicht ein Tausendstel und auch noch nicht ein Zehntausendstel auf das laute Sprechen entfällt« 63 . Das antike Drama, auf das Aristoteles sich stützte, um nachzuweisen, dass der mythos die Seele der Tragödie ist, wird von Schapp zum Beleg dafür angeführt, dass die Geschichten, die im Reden und Handeln auf der Bühne aufgeführt werden, »in vielem und oft wiederholtem leisen Sprechen« verwurzelt sind. Gerade hier, wo der Zuschauer nur lautes Sprechen hört, bestätigt sich, »daß dies laute Sprechen vielleicht nur Wellenkämmen auf dem Meer des inneren leisen Sprechens« 64 vergleichbar ist. Damit wirft Schapp eine wichtige Frage auf, die noch auf ihre Lösung wartet: »In welcher Ebene bewegen wir uns nun, wenn wir das stille Sprechen mit dem lauten Sprechen vergleichen oder beide in Beziehung zueinander bringen?« 65 Diese Frage ist ihrerseits doppelbödig. a) Versteht man sie in einem methodologischen Sinn, dann lädt sie uns dazu ein, uns zu fragen, über welche Mittel die Phänomenologie verfügt, um an dieses komplexe Phänomen des »inneren Sprechens«
61 62 63 64 65
Ebd., S. 155. Ebd., S. 269. Ebd. Ebd., S. 270. Ebd., S. 271.
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heranzukommen, und wie sie das, was die strukturalistische Linguistik ihr als ihre Grundschwäche vorhält, nämlich die Unfähigkeit, »parole« und »langue« voneinander zu trennen, in eine Stärke verwandeln kann. b) Versteht man die Frage inhaltsbezogen, dann betrifft der kritische Punkt wohl das Problem, ob alle Erscheinungsweisen des lebendigen Sprechens, die in der inneren Rede wurzeln, nur ebenso viele Modi des In-Geschichten-Verstricktseins darstellen. Hier öffnet sich ein weites, erst noch zu erschließendes Feld phänomenologischer Untersuchungen. Schapps Überlegungen wollen nicht als eine schlüsselfertige Theorie, sondern als Einladung verstanden werden, »uns mit dem stillen Sprechen als dem eigentlichen Sprechen vertraut« 66 zu machen.
5.
Die Philosophie der Geschichten: eine nachhusserlsche Krisis-Abhandlung?
Im Vorigen habe ich nachzuweisen versucht, warum die einzelnen Abschnitte von Schapps Abhandlung sich jeder präzisen disziplinären Eingliederung sperren. Damit stellt sich aufs Neue die Frage, ob die Philosophie der Geschichten nicht ein neues Beispiel jener »Bilderbuchphänomenologie« ist, die man dem Göttinger Schülerkreis Husserls zum Vorwurf machte. In der Tat kann eine oberflächliche Lektüre des Buches den Eindruck erwecken, dass es sich um ein Geschichtenbuch handelt, das mehr Ähnlichkeiten mit Tausendundeine Nacht als mit Husserls Logischen Untersuchungen hat. Aber man kann das Buch auch anders lesen, etwa im Blick auf Husserls testamentarische Abhandlung: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Es handelt sich, wie der Untertitel zeigt, um die letzte der zahlreichen Einleitungen in die phänomenologische Phänomenologie, an denen Husserl bis zu seinem Lebensende gearbeitet hat. Unter neuen zeitbedingten und durch die Fragestellung einer genetischen Phänomenologie geschaffenen Voraussetzungen ringt Husserl hier erneut mit der Frage ob der Traum von der Philosophie als »ernstliche, strenge, und ja apodiktisch strenge Wissenschaft« nicht »ausgeträumt« 67 ist. 66 67
Ebd., S. 272. Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzenden-
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Phnomenologie als Philosophie der Geschichten
Es könnte sein, dass Schapp in seiner Philosophie der Geschichten genau diese Frage im Rahmen einer neuen Krisis-Abhandlung zu beantworten versucht. Ein wichtiger Fingerzeig auf die Möglichkeit einer solchen Interpretation versteckt sich bereits in den Überlegungen des Vorworts. Unter Rückgriff auf Kants Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft verweist Schapp hier auf Kants Darstellung der drei innerlich zusammenhängenden Revolutionen der Denkart, an denen sich jede Philosophie, die den Anspruch erhebt, eine »strenge Wissenschaft« – und zwar eine »apodiktisch strenge Wissenschaft«, wie Husserl unermüdlich betont – zu sein, sich messen muss: die Begründung der Mathematik als Wissenschaft bei den Griechen, die Begründung der modernen Naturwissenschaft durch Galileo Galilei und die noch ausstehende Begründung der Metaphysik als Wissenschaft durch Kant selbst. In der aufschlussreichen ersten Fußnote fragt sich Schapp, »in welchem Verhältnis der Begründer der Phänomenologie Husserl zu diesen drei Revolutionen stehen mag«. Die Frage beantwortet er, scheinbar in völliger Übereinstimmung mit Husserls Selbstinterpretation, durch den Hinweis auf eine »vierte Revolution«, die in diesem Falle mit Husserls Wende zur transzendentalen Phänomenologie koinzidiert. Allerdings fügt Schapp unmittelbar hinzu, dass seiner Ansicht nach, die Phänomenologie infolge zeitbedingter »ungünstiger Verhältnisse nicht ausgereift ist«. Wer sich die Idee der »Verstrickung« angeeignet hat, wird Schapps Urteil zustimmen, dass »diese Unterbrechung im Wachstum« sich »sowenig wie bei einem lebendigen Wesen oder in einer Geschichte« »rückgängig machen« lässt. Hieraus ergibt sich die verzwickte Lage eines Philosophen, der unermüdlich auf seine »phänomenologische Schulung« pocht, ohne »auch nur sagen zu können, was Phänomenologie eigentlich ist« 68 . Ein Punkt scheint allerdings fest zu stehen: Schapp möchte in der Tat durch seine heterodoxe Interpretation der Phänomenologie eine vierte Revolution einleiten, die im Gegensatz zu allen vorherigen Revolutionen eine stille Revolution zu sein beansprucht, insofern sie die tale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. v. Biemel, Walter, Nachdruck der 2. verb. Aufl., Den Haag 1976, S. 508. 68 Schapp, PdG (2. Aufl.), S. 135.
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Idee der Phänomenologie und das Urphänomen des In-GeschichtenVerstricktseins »gegen den Übermut der Philosophentitanen, die den Himmel mit dem Donnerkeil der strengen Wissenschaften und der Wahrheit stürmen, verteidigen« und die Ansprüche der Philosophie, »endgültig oder für einige Jahrhunderte, wenn nicht abweisen, so doch auf ein bescheidenes Maß zurückführen«69 . Im selben antiprometheischen Tonfall sind die Schlusssätze des Buches gesprochen: »Wenn man uns aber fragt, was wir mit unseren Überlegungen bezwecken, oder ob wir überhaupt etwas damit bezwecken, so mag man das, was wir vortragen, für den Entwurf einer Allgeschichte nehmen, in der alle Völker und Kulturen Platz haben. Es würde uns genügen, wenn wir alle fühlen würden, daß wir in einem Boot fahren, etwas mehr als Schiffbrüchige im Nichts und als solche zusammenhalten müssen.«70
Wenn man diese Sätze nicht nur in ihrer fundamentalphilosophischen, sondern auch in ihrer ethischen Tragweite überdenkt und ihre Konsequenzen auszuwerten versucht, dann darf man sich in der Tat fragen, ob die Philosophie der Geschichten nicht noch am ehesten als ein Gegenstück zu Husserls Krisis-Abhandlung zu verstehen ist. Auch hier würde sich eine Maxime bewähren, die ich in anderem Zusammenhang auf die eingangs erwähnten »häretischen« Neubegründer der Phänomenologie in Frankreich appliziert habe: »Sage mir, was Deine Krisis ist, und ich werde Dir sagen, was für ein Phänomenologe du bist!« 71
69 70 71
Ebd., S. XVIII. Ebd., S. 336 f. Greisch, Qui sommes-nous?, S. 334.
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Die Autoren des Bandes
Klaus-Dieter Eichler (geb. 1952), Prof. Dr. für Philosophie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Studium der Philosophie an der KarlMarx Universität Leipzig von 1971–1976 (fakultative Nebenfächer Griechisch, Religionstheorie, Alte Geschichte), Zusatzstudium in Moskau an der Akademie der Wissenschaften. Promotion 1978 »Die frühen platonischen Dialoge«, Habilitation 1987 »Genesis der antiken Philosophie«; von 1978–2001 unterschiedliche Anstellungen am Philosophischen Seminar in Leipzig. Ab 2002 Professur für Antike Philosophie an der Universität Mainz. Schwerpunkte Platon, Aristoteles, Philosophie der Freundschaft, DDR-Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Die Herausbildung der Sokratischen und frühen Platonischen Philosophie, Leipzig 1978; Die Genesis der frühen griechischen Philosophie, Leipzig 1987; Hoffnung kann enttäuscht werden – Ernst Bloch in Leipzig (mit V. Caysa, P. Caysa, E. Uhl), Hain / Frankfurt a. M. 1992; Hrsg. u. a. von: Philosophie der Freundschaft, Leipzig 2 2000; Russische Philosophie im 20. Jahrhundert (mit U. J. Schneider), Leipzig 1996. Jean Greisch (geb. 1942), emeritierter Professor der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique in Paris. Mitglied des Institut International de Philosophie. Zur Zeit Inhaber der Guardini-Stiftungsprofessur an der Humboldt-Universität in Berlin. Hauptveröffentlichungen: Herméneutique et Grammatologie, Paris 1977; L’Âge herméneutique de la Raison, Paris 1985; La Parole Heureuse, Paris 1987; Hermeneutik und Metaphysik, München 1993; Ontologie et Temporalité, Paris 2 2002 (übersetzt ins Japanische); L’arbre de vie et l’arbre du savoir, Paris 2000; Le Cogito herméneutique, Paris 2000 (übersetzt ins Spanische); Paul Ricœur. L’itinérance du sens, Grenoble 2001; Le Buisson ardent et les Lumières de la Raison. Bd. I–III, Paris 2002–2004; Entendre d’une autre oreille, Paris 2006; Qui sommes-nous? Chemins phénoménolo215 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Die Autoren des Bandes
giques vers l’homme, Leuven 2009; Fehlbarkeit und Fähigkeit. Paul Ricœurs philosophische Anthropologie, Münster 2009. Stefanie Haas (geb. 1971), Dr. phil.; Redakteurin, Dozentin, Autorin und Ethiklehrerin am Gymnasium. Veröffentlichungen u. a.: Kein Selbst ohne Geschichten. Wilhelm Schapps Geschichtenphilosophie und Paul Ricœurs Überlegungen zur narrativen Identität, Hildesheim 2002; Text und Leben. Goethes Spiel mit inner- und außerliterarischer Wirklichkeit in ›Dichtung und Wahrheit‹, Berlin 2006. Karen Joisten (geb. 1962), apl. Prof. Dr. für Philosophie, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Leiterin der Schapp-Forschung in Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Hermeneutik und Phänomenologie, narrative Philosophie, Ethik, Kulturphilosophie und Anthropologie. Veröffentlichungen u. a.: Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994; Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie, Berlin 2003; Aufbruch. Ein Weg in die Philosophie, Berlin 2007; Philosophische Hermeneutik, Berlin 2009. (= Reihe Akademie Studienbücher). Herausgeberin u. a. von: Zwischen Mensch und Übermensch. Nietzsche unterwegs, Sonderband der Synthesis philosophica (u. a. mit Beiträgen von V. Gerhardt, J. Salaquarda, W. Müller-Lauter), Zagreb 1996. (auch in kroatischer Übersetzung als Bd. 59 der Filozofska Istrazivanja, Zagreb 1995); (zusammen mit Celko Pavic) Abschied vom Ganzen? 2 Sonderbände der Synthesis philosophica, 25 und 26, Zagreb 1998. (auch in kroatischer Übersetzung als Bd. 66 und Bd. 67 der Filozofska Istrazivanja, Zagreb 1997); Vielerlei Ethik. Einsichten und Ansichten unserer Zeit, St. Augustin 1999; Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Berlin 2007. (= Sonderband 17 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie) Karl Kardinal Lehmann (geb. 1936), Dr. phil., Dr. theol., Dr. h. c. mult., seit 1983 Bischof von Mainz und von 1987–2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz; Honorarprofessor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Theologischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg i. Br. und am Fachbereich Katholische Theologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. 2001 wurde er von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal erhoben. Zahlreiche Veröffentlichungen und Herausgeberschaften; eine ausführliche Bibliographie findet sich im Internet unter: http://www.ub.uni-freiburg.de/ 216 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Die Autoren des Bandes
referate/04/lehmann/lehmann1.htm; aktuelle Texte unter: www.bistum-mainz.de/kardinal. Burkhard Liebsch (geb. 1959), apl. Professor für Philosophie, Universität Bochum; Arbeitsschwerpunkte: Praktische und Politische Philosophie sowie Sozialphilosophie in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Philosophie der Geschichte, Phänomenologie, Hermeneutik. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br. / München 1999; Moralische Spielräume, Göttingen 1999; Zerbrechliche Lebensformen, Berlin 2001; Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005; Revisionen der Trauer, Weilerswist 2006; Subtile Gewalt, Weilerswist 2007; Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie, Freiburg i. Br. / München 2008; Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br. / München 2008; Menschliche Sensibilität, Weilerswist 2008. (Mit-) Hrsg. u. a. von: Hermeneutik des Selbst, Freiburg i. Br. / München 1999; Vernunft im Zeichen des Fremden, Frankfurt a. M. 1999; Gewalt Verstehen, Berlin 2003; Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2004; Bezeugte Vergangenheit oder Versöhnendes Vergessen. Geschichtstheorie nach Paul Ricœur, Berlin 2009 (i. V.) (= Sonderband 24 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie); Kreuzungen – Brüche – Überschreitungen: Zwischen Hegel und Levinas (2009; i. V.) Markus Pohlmeyer (geb. 1969), Dr. Lic. theol.; Studium in Würzburg, Tübingen und London; Lizentiat und Promotion in Münster. Seit dem WS 2007/08 Lehrkraft für besondere Aufgaben der Abteilung Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Flensburg; zuvor Lehrtätigkeit an einem Gymnasium in Schleswig-Holstein mit den Fächern Latein, Griechisch, Deutsch und Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Poesie und Geschichte als Formen der Erkenntnis beim frühen Johann Gottfried Herder, Münster 2001; Geschichten-Hermeneutik. Philosophische, literarische und theologische Provokationen im Denken von Wilhelm Schapp, Münster 2 2008; Hrsg. u. a. von: Heilige: die lebendigen Bilder Gottes (mit Beiträgen v. A. Angenendt u. a.), Münster 2002; Als Anfang schuf Gott Echnaton – Kontexte, Konflikte und Konstellationen von Religionen, Flensburg 2009.
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Die Autoren des Bandes
Gian Maria Raimondi (geb. 1975); Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie an der Universität Pisa (MA-Arbeit über das Bewusstsein bei Kant und Hegel, 1999); 2006 Promotion; Forschungsstipendium an der Universität Florenz als Postdoctoral Fellow (2006–2007, Lehrstuhl Geschichte der Philosophie); Dozent am Studio Teologico Interdiocesano (Theologische Fakultät Lucca) und an der Universität Pisa (Fachbereich Medizin). Veröffentlichungen u. a.: Il nostos dello homo viator. Fenomenologia di Robert Walser, in: »I confini naturali della creatività«, a cura di S. Rodighiero, ETS, Pisa 2006–2007; Tra Kant e Hegel: filogenesi della coscienza hegeliana nella Fenomenologia dello Spirito, in: »Problemi in Psichiatria«, Rivista Quadrimestrale N 26/01; Oltre l’intelletto kantiano: struttura e logica dialettica della coscienza hegeliana. Ricognizione teoretica e prospettiva di senso, in: »Problemi in psichiatria«, Rivista Quadrimestrale N 27/02; »Coscienza infelice« e »anima bella«. Commentario della Fenomenologia dello Spirito di Hegel, in: »Teoria«, Pisa XXI/2001/1 (Nuova serie XI/1); Nella casa dell’Essere. Viaggio al centro della Persona (Dissertation 2006; i. V.) Jan Schapp (geb. 1940), emeritierter Professor der Justus-Liebig-Universität Gießen. 1959–1964 Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie in Göttingen und Münster. Nach Ablegung der beiden juristischen Staatsexamen und Promotion zum Doktor der Philosophie in Bochum Habilitation in Bürgerlichem Recht und Rechtsphilosophie in Münster 1977. Von 1978–2006 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Gießen. Zahlreiche Veröffentlichungen in Bürgerlichem Recht, juristischer Methodenlehre, Rechtsphilosophie und zur Philosophie der Geschichten seines Vaters Wilhelm Schapp, u. a.: Sein und Ort der Rechtsgebilde, Den Haag 1968; Das subjektive Recht im Prozeß der Rechtsgewinnung, Berlin 1977; Hauptprobleme der juristischen Methodenlehre, Tübingen 1983; Lehrbücher zum Sachenrecht, München 1989 und zur Einführung in das Bürgerliche Recht, München 1991 (spätere Auflagen zusammen mit Wolfgang Schur); Freiheit, Moral und Recht, Tübingen 1994; Methodenlehre des Zivilrechts, Tübingen 1998; Über Freiheit und Recht (rechtsphilosophische Aufsätze 1992–2007), Tübingen 2008; Methodenlehre und System des Rechts (Aufsätze 1992–2007), Tübingen 2009. Vorlesungstätigkeit auch im Ausland, vor allem in den Vereinigten Staaten, in Rußland und in Brasilien. Übersetzungen von Werken ins Russische, Spanische und Portugiesische. 218 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Die Autoren des Bandes
Hans Rainer Sepp (geb. 1954) lehrt Philosophie an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Karls-Universität Prag und ist Direktor des dortigen Instituts für Mitteleuropäische Philosophie. Er ist Mitglied des Executive Committee von O.P.O. (Organization of Phenomenological Organizations); er gibt die Buchreihe conFrontatio (2009 ff.) heraus und ist Mitherausgeber der Reihen Orbis Phaenomenologicus (1993 ff.) und Philosophische Anthropologie – Themen und Positionen (2008 ff.) sowie der Eugen Fink Gesamtausgabe (2006 ff.). Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Ethik, Ästhetik und Philosophie der Kunst, Interkulturelle Philosophie, Philosophische Anthropologie, Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Neuere Buchpublikationen: Über die Grenze. Prolegomena zu einer Theorie der Transkulturalität, 2009; Bild. Phänomenologie der Epoché I, 2010. Als Hrsg.: m. D. Gottstein: Polis und Kosmos. Perspektiven einer Philosophie des Politischen und einer Philosophischen Kosmologie, 2008; m. A. Neschke: Philosophische Anthropologie. Ursprünge und Aufgaben, 2008; m. A. Wildermuth: Konzepte des Phänomenalen, 2009; m. H. Blaschek-Hahn: Heinrich Rombach, 2009; m. C. Nielsen: Welt denken. Annäherungen an die Kosmologie Eugen Finks, 2009; Bildung und Politik im Spiegel der Phänomenologie, 2009; Nietzsche und die Phänomenologie, 2009; m. L. Embree: Handbook of Phenomenological Aesthetics, 2009. Nicole Thiemer (geb. 1981), M.A.; Studium der Philosophie und Deutschen Philologie in Mainz und Dijon; seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Wilhelm Schapp-Forschung der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Veröffentlichungen u. a.: ›Narrativität und Ethik‹ – Ein bibliographischer Kommentar, in: Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, hrsg. v. Karen Joisten, Berlin 2007, 293–301 (= Sonderband 17 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie); Philosophie erzählt?! Ein Blick auf McCullers ›Ballade vom traurigen Café‹ im Kontext von Nietzsches Analyse des Ressentiment, in: Friedrich Nietzsche – Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment. Nietzscheforschung – Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, Band XIII, hrsg. v. Reschke, Renate / Gerhardt, Volker, Berlin 2006, 183–191; Das Verstehen vor dem Erkennen. Zu Heideggers fundamental-gnoseologischer Perspektive, in: Räume des Wissens. Philosophische Perspektiven, hrsg. v. Dreyer, Mechthild / Joisten, Karen, Bielefeld 2010 (i. V.).
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 104 f. Althusius, Johannes 81 Anaximander 207 Andersen, Hans Christian 202 Angenendt, Arnold 139, 217 Aristoteles 81, 92, 104, 115, 124, 203, 209, 211, 215 Assmann, Aleida 121 Assmann, Jan 121, 138 Augustinus, Aurelius 144, 152 ff., 177 Bacon, Francis 13, 102 Bernet, Rudolf 31 Biemel, Walter 22, 57, 213 Bingen, Hildegard von 159, 168 Bloch, Ernst 103, 215 Blumenberg, Hans 25, 31, 33 ff., 45 ff., 200, 205 Chrétiens, Jean-Louis 17, 190 f., 210 Dante, Alighieri 131 Demokrit 115 Derrida, Jacques 206 Descartes, René 31, 48, 118, 199, 204 f. Dilthey, Wilhelm 12, 41, 113, 157 Dux, Günter 120 Eichler, Klaus-Dieter 15 f., 102, 215 Einstein, Albert 159, 170 f. Empiricus, Sextus 119 Engels, Friedrich 107 Fellmann, Ferdinand 87, 111 Figal, Günter 151 Fink, Eugen 29, 46, 52, 60 ff., 219
Fleischer, Margot 34, 205 Flusser, Vilém 188 Frank, Manfred 145 Gadamer, Hans-Georg 21, 129, 144, 151 ff. Galilei, Galileo 162, 168, 213 Genette, Gérard 87 Georges, Karl Ernst 136 Goethe, Johann Wolfgang 86, 88, 98 ff., 216 Goody, Jack 120 f. Graumann, Carl Friedrich 20, 35 Greisch, Jean 17, 87, 190, 194, 214 f. Grondin, Jean 143, 151 ff. Haas, Stefanie 15, 86 f., 92, 98, 143, 216 Hallpike, Christopher 120 Havelock, Eric A. 121 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 42, 52, 81, 124, 133, 135, 192, 217 f. Heidegger, Martin 19 f., 24, 31 ff., 40, 44, 52, 63, 104 f., 109, 113, 121, 125, 135, 144, 153, 158, 160, 191, 193 f., 196, 203, 219 Held, Klaus 29, 32 Henke, Wilhelm 76 Henrich, Dieter 129 Henry, Michel 17, 190 ff. Heraklit 129, 207 Herodot 131 Hesiod 203, 207 Hiltbrunner, Otto 42 Hobbes 34 Homer 88, 95, 131, 133, 139, 159, 166 f., 180, 198, 207
221 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Personenregister Horkheimer, Max 104 f. Hubble, Edwin 171 Huizing, Klaas 137 Husserl, Edmund 12 f., 19 f., 22 ff., 52, 54, 57, 60, 65, 67, 103, 105, 107 ff., 135, 143 f., 148, 157, 164, 172, 192, 196 f., 202, 205 f., 212 ff. Joisten, Karen 11, 19, 39, 68, 102, 119, 172, 216, 219 Jonas, Hans 185 f. Kant, Immanuel 13, 31, 43, 102, 106 ff., 128, 130, 165 f., 199 ff., 205, 213, 218 Keller, Gottfried 95, 101 Kemp, Peter 150 Kreuzer, Johann 154 Kuhn, Thomas S. 160 Lama, Dalai 134 Landesman, Peter 22 Lehmann, Karl 14, 21, 216 Levinas, Emmanuel 17, 30, 43, 190 ff., 198 f., 217 Liebsch, Burkhard 14 f., 22, 217 Lipps, Hans 12, 144 Lloyds, Geoffrey E. R. 121 Löwith, Karl 31, 185 Lübbe, Hermann 20, 30, 33, 42 Lukács, Georg 104 Lurija, Aaron S. 121 Mahon, Basil 169 Mai, Katharina 206 Marbach, Eduard 205 Marion, Jean-Luc 17, 24, 190 f., 193 Marquard, Odo 96, 99, 127, 207 Marquez, Gabriel Marcia 126 Marx, Karl 107 Maxwell, James Clerk 169 Meier, Christian 121 Meier-Oese, Stephan 210 Merleau-Ponty, Maurice 33, 44, 48, 192 Mommsen, Theodor 131 Müller, Klaus 129 Musil, Robert 39
Newton, Isaac 105, 162, 166 ff., 171 Nietzsche, Friedrich 41, 49 ff., 60, 104 f., 209, 216, 219 Nünning, Ansgar 143 Panaccio, Claude 210 Parmenides 129, 207 Patocˇka, Jan 23 Pfänder, Alexander 72, 140 Piaget, Jean 120 Platon 35, 116, 118, 144, 199, 201 ff., 209, 215 Pöggeler, Otto 31 f., 158 Pohlmeyer, Markus 15 f., 19, 21, 68, 126, 217 Popper, Karl Raimund 170, 176 Raimondi, Gian Maria 15, 17, 100, 159, 218 Rechenberg, Ingo 170 Reinach, Adolf 12, 27, 66, 71 Rentsch, Thomas 160 Ricœur, Paul 17, 30, 39, 86 f., 91 ff., 143, 174, 190 ff., 196, 215 ff. Ritter, Joachim 124 Rolf, Thomas 12, 20 Romano, Claude 17, 190 f. Röttgers, Kurt 111 Sacks, Jonathan 138 Sartre, Jean-Paul 192, 194 Schapp, Jan 12 f., 15, 18 f., 21, 27, 65, 87, 95, 100, 102, 131, 139, 141, 219 Scheler, Max 67 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 123 f. Schipperges, Heinrich 159, 168 Schleiermacher, Friedrich 145, 151, 184 Sepp, Hans Rainer 15, 19, 49, 219 Smend, Rudolf 140 Sokrates 105, 116, 204 Tacitus, Cornelius 137 f. Taylor, Charles 34 Thiemer, Nicole 15 ff., 19, 142, 219 Thomä, Dieter 187 Totzke, Rainer 121
222 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
Personenregister Vattimo, Gianni 141 Vernant, Jean-Pierre 121 Wälde, Martin 19, 135, 143 Waldenfels, Bernhard 30, 33 ff., 186 Wallon, Henri 31 Watt, Ian 120 Welsen, Peter 174
Werbick, Jürgen 141 Wittgenstein, Ludwig 20, 25, 33, 104 f., 119, 160 Wolf, Christa 101 Wolf, Thomas R. 143 Zenger, Erich 138
223 https://doi.org/10.5771/9783495997390 .
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